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German Pages 358 Year 2017
Forschungsschwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft« (Hg.) Vielfältig verflochten
Human-Animal Studies
Forschungsschwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft« (Hg.)
Vielfältig verflochten Interdisziplinäre Beiträge zur Tier-Mensch-Relationalität
Gedruckt mit Unterstützung der Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. LOEWE-Schwerpunkt »Tier–Mensch–Gesellschaft: Ansätze einer interdisziplinären Tierforschung« an der Universität Kassel
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Inhalt Vielfältig verflochten? Zugänge zur Tier-Mensch-Relationalität Eine Einleitung Winfried Speitkamp | 9
G renzziehungen Umwelt der Tiere und Welt der Menschen Dichotomie oder Relationalität? Francesca Michelini | 35
Sand im Getriebe der ›anthropologischen Maschine‹ Kim Jones’ Rat Piece Stephanie Milling | 49
Vegetarische Löwen und sprechende Esel Beziehungsgefüge im Alten Testament Yvonne Sophie Thöne | 65
Tier-Mensch-Beziehungen Einblicke in die Bevölkerungsmeinung Ulf Liebe, Benedikt Jahnke und Ulrike Heitholt | 85
Insekten und die Regeneration des Lebendigen in der Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts Thomas Ruhland | 103
Tier-Mensch-Beziehungen in Barock und Aufklärung Empirische Spurensuche in der hessischen Kunstgeschichte Christian Presche | 123
I nterak tionen Wärter und Tiere zwischen Hochnatur und Populärkultur in der Geschichte Zoologischer Gärten Wiebke Reinert | 141
›Gewöhnliche‹ Erfahrung in der Wissenschaft vom Tier Christopher Hilbert | 157
Die Erforschung tierlichen Wohlbefindens als Spiegel der Mensch-Tier-Beziehung Birgit Benzing und Ute Knierim | 173
Identifikation und Entwicklung geeigneter Messgrößen zur routinemäßigen Beurteilung der Reaktivität von Milchkühen gegenüber dem Menschen Asja Ebinghaus, Silvia Ivemeyer, Julia Rupp und Ute Knierim | 189
In den Augen der Betrachter Ein aktueller Blick auf Tier, Bild und Theorie im 18. Jahrhundert Daniel Wolf | 207
»Wolfsbegegnung mit Folgen« Interspezifische Fürsorge-Relationen in der Wolfdietrich-Epik Susanne Schul | 223
(A)s ymmetrien Beziehungs(un)fähig? Zur Rezeption einer mythologischen Tier-Mensch-Relation im Wiedehopf-Exempel Konrads von Megenberg Anna-Theresa Kölczer | 243
Tierliche Materialien als ›Indizienparadigma‹ tierlicher Lebendigkeit Silke Förschler | 259
Heimkehr ins Neuland Die erste Auswilderung von Schimpansen und ihre Kontexte im postkolonialen Tansania, 1965-1966 Felix Schürmann | 275
Schaurinder und deren Menschen Die Kuh im Wandel der deutschen Zuchtziele Diana Krischke | 293
Mensch-Tier-Beziehungen als Merkmal in zukünftigen Zuchtprogrammen Relationalität von Verhaltensmerkmalen mit Merkmalen der Produktion Laura Santos, Kerstin Brügemann und Sven König | 309
Legaler und illegaler Tierrechtsaktivismus Eine empirische Annäherung Ulf Liebe und Benedikt Jahnke | 327
Bildnachweis | 347 Zu den Autor_innen | 351
Vielfältig verflochten? Zugänge zur Tier-Mensch-Relationalität Eine Einleitung Winfried Speitkamp
Wenn über den Umgang mit Tieren, über Tierschutz und Tierrechte gestritten wird, wenn von exotischen Tieren im Zirkus oder von Massentierhaltung die Rede ist, dann scheint immer ein Bild des Tieres die Folie zu bilden.1 Das Tier mag demnach zwar in verschiedenen Erscheinungsformen auftreten, etwa als Heimtier, Wildtier, Zootier oder Nutztier, aber es wird doch mit gleichen Kategorien gemessen – genauer: mit derselben Kategorie. Und diese Kategorie ist der Mensch.2 Am Menschen, an dessen Selbstverständnis, aber auch an dessen Interessen und Wertvorstellungen wird gemessen, was ein Tier ist, welche Rolle ihm in der Gesellschaft zukommt, welchen Schutz es genießen soll. Am Menschen wird gemessen, wo Natur aufhört und Kultur beginnt. Und erst recht das gezüchtete oder gezähmte, quasi akkulturierte Tier bleibt ein Wesen, das sich am Menschen orientieren und vor dem Menschen bewähren muss: Entweder entspricht es der Intention, gliedert sich also in die menschengesteuerte Welt dienend ein, als Haus- und Heimtier, als Betreuungstier oder als Familienmitglied. Oder es leistet sich Abirrungen vom Weg der menschlichen Tugend, es fällt in tierische, also als wild, ungebändigt und natürlich interpretierte Verhaltensweisen zurück – das Pferd, das den Reiter abwirft, der Hund, der unvermittelt zubeißt, die Katze, die kratzt –, kurz: Es versagt vor seiner Aufgabe, sich
1 | Vgl. H. Grimm: Das Tier an sich; H. Grimm/C. Otterstedt: Einführung. 2 | Vgl. H.W. Ingensiep/H. Baranzke: Das Tier, S. 8.
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menschengerecht zu verhalten. Dann kommt neuerdings der – menschliche – Tierflüsterer zum Einsatz.3 Einer solchen Sichtweise liegt die Vorstellung zugrunde, dass im Begriff des Tieres tatsächlich eine Vielheit gebündelt werden kann, von wirbellosen Tieren bis zu Primaten. Es muss in dieser Perspektive etwas Gemeinsames geben, das alle Tiere essentiell vom Menschen unterscheidet, und umgekehrt etwas Spezifisches, das alle Menschen von Tieren unterscheidet. Eine große Zahl von Aspekten ist schon diskutiert worden, etwa der aufrechte Gang, Sprache, Spielfähigkeit, Religion oder Zukunftsbewusstsein. Alle wurden wieder infrage gestellt. Im Kontext einer Forschung zu Tier-Mensch-Beziehungen interessiert freilich nicht, ob es solche grundsätzlichen, quasi wesenhaften Differenzen tatsächlich gibt. Bemerkenswert ist vielmehr, dass und wie immer wieder danach gesucht wird. Denn dies versteht sich keineswegs von selbst. Die Suche nach essentieller Differenz impliziert die Vorstellung einer Binarität von Mensch und Tier. Mensch und Tier stehen dabei für im Kern unvereinbare, getrennte oder doch trennbare Welten, für die Welt der Kultur und die Welt der Natur. Eine reale Grenzüberschreitung ist demnach nur durch menschliche Eingriffe in die Natur der Tiere und begrenzt möglich, nämlich durch Züchtung, Zähmung und Dressur – drei Varianten, die jeweils vom menschlichen Akteur aus gedacht und terminologisch gefasst sind – kein Tier dressiert, zähmt oder züchtet Menschen. Eine Grenzüberschreitung ist darüber hinaus nur in der Fiktion und Imagination möglich – als Hoffnung oder Angsttraum, in Utopie oder Dystopie. Auch eine anthropozentrische Sichtweise ist folglich nicht ohne Aporien. Denn sie dient zwar dazu, Tiere dem Menschen nutzbar zu machen, und sie steht in der Tradition philosophischer oder religiöser Deutungen, und sei es nur unter Verweis auf das Alte Testament (Gen 1,28): Der Mensch sei aufgerufen, sich die Erde mitsamt der Natur und den Tieren untertan zu machen. Im Grunde wäre es aber konsequenter, würde eine anthropozentrische Herangehensweise auf eine völlige Trennung der Sphären und auf Autonomie der Tiere setzen. Denn jede Annäherung impliziert Vermittlungen und Transfers, die das Besondere des Menschen, das allein Anthropozentrismus begründet, wieder unterlaufen. Trennung und Beziehungslosigkeit zwischen Menschen und Tieren sind freilich weder historisch nachweisbar noch theoretisch denkbar. Vielmehr 3 | Das Thema der ›Tierflüsterer‹ ist seit dem Film D er P ferdeflüsterer (USA 1998, R: Robert Redford) populär geworden und hat zu einer entsprechenden Ratgeberliteratur geführt; siehe z.B. H. Welz: Pferdeflüstern kann man lernen. Heimtiere zu verstehen und artgemäß wie auch individuumsgemäß zu behandeln erscheint dabei als neue Stufe der Mensch-Tier-Annäherung, für die Experten der Vermittlung zwischen den Spezies gefragt sind. Doch fehlt es noch an einer näheren ethologischen und soziologischen Untersuchung des Phänomens. Vorerst befassen sich eher Wissenschaftsjournalisten damit; siehe etwa Ch. Hucklenbroich: Das Tier und wir, S. 99-129.
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können Menschen und Tiere immer nur in Beziehungen beobachtet werden: zueinander, zu anderen Menschen oder zu anderen Tieren, und sei es in der Beziehung zum Beobachter; Menschen und Tiere sind in dieser Perspektive relationale Wesen. Dies ist der Ausgangspunkt des Forschungsschwerpunkts »Tier – Mensch – Gesellschaft«, der im Januar 2014 seine Arbeit an der Universität Kassel aufgenommen hat und durch das hessische Landesprogramm LOEWE (»Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz«) gefördert wird. Der LOEWE-Schwerpunkt befasst sich mit Beziehungen zwischen Menschen und Tieren in Geschichte und Gesellschaft. Er ist interdisziplinär angelegt, beteiligt sind Agrarwissenschaften, Germanistik, Geschichtswissenschaften, Kunstwissenschaften, Philosophie und Theologie. Im Blick stehen Menschen und Tiere als relationale Wesen.4 Empirische Zwischenbefunde aus den insgesamt sechzehn Teilprojekten wurden im Oktober 2015 auf einer Tagung präsentiert; die Vorträge der Tagung werden hier in ergänzter Form veröffentlicht. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des LOEWE-Schwerpunkts haben die Tagung gestaltet und geben diesen Band heraus.
D as N ahe und das F erne Binarität, Polarität, Dichotomie – wer in Kategorien von Mensch und Tier denkt, muss hier seinen Ausgangspunkt suchen. Und tatsächlich wird die Frage der Binarität immer wieder zum Gegenstand von Erörterungen. Nähe und Ferne, Eigenes und Anderes, Vertrautes und Fremdes, Heimisches und Exotisches – in diesen Dichotomien werden Tier-Mensch-Verhältnisse in der Öffentlichkeit verhandelt, dies einesteils im Blick darauf, ob das Anderssein, das Fremdsein des Tieres bzw. der Tiere überwindbar ist, anderenteils im Blick auf die oftmals wie selbstverständlich wirkende, fast zum Topos gewordene Feststellung, Tiere, jedenfalls Heimtiere, seien im Laufe der letzten rund 200 Jahre immer näher an die Menschen herangerückt, zu deren vertrauten Gefährten und Freunden, sogar zu Familienmitgliedern geworden.5 Mit der vermeintlich oder tatsächlich zunehmenden Nähe zu einigen, besonders ausgewählten Tieren wuchsen freilich auch Zweifel und Unsicherheiten, und dies nicht nur, weil andere Tiere, Nutztiere, Zugtiere, gar Tiere, die für den Verzehr in immer größerer Zahl und Standardisierung gezüchtet wurden, davon ausgeschlossen blieben, weil ihre Haltung immer stärker dem Gesichtsfeld der Menschen entzogen wurde, weil
4 | Zu methodologischen Überlegungen des Schwerpunkts siehe: Forschungsschwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft« (Hg.): Den Fährten folgen. 5 | Vgl. C. Wischermann: Tiere und Gesellschaft, S. 106f., 111. Vgl. auch Ders. (Hg.): Von Katzen und Menschen.
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die Widersprüche der Beziehung zu Tieren also zunahmen.6 Unsicherheiten wuchsen vielmehr, weil Tier-Mensch-Verhältnisse immer auch als Selbstvergewisserung über Grenzen und Grenzüberschreitungen erscheinen. Sie werden im Spannungsfeld von Annäherung und Entfremdung ausgehandelt. Wie nah also wollen Menschen Tieren überhaupt kommen, wie weit wollen sie Tiere in ihre Gesellschaft integrieren? Das Verhältnis zu Heimtieren, so die angesprochene geläufige Deutung, hat sich zunehmend in Richtung auf Freundschaft hin entwickelt. Tiere sind demnach Lebensbegleiter, die als Lebensgefährten und Freunde wahrgenommen und behandelt werden. Menschen reden mit ihnen, erzählen ihnen Dinge, die sie anderen Menschen gerade nicht anvertrauen. Menschen geben Tieren Namen, und zwar nicht mehr, wie im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Namen, die auf Äußeres oder Eigenschaften hinweisen, sondern vermehrt Namen, die dem Reservoir menschlicher Namensgebungen entnommen sind.7 Menschen entwickeln Emotionen gegenüber Tieren und nutzen dafür dieselben Begriffe, die für Gefühle zwischen Menschen üblich sind, etwa Mitleid, Freundschaft und Liebe. Menschen bestatten verendete Heimtiere in individuellen Gräbern – und sprechen dann auch nicht von Verenden oder Eingehen, sondern von Sterben –, sie errichten Grabsteine, auf denen neben Geburt und Todestag nicht selten besondere Eigenschaften verzeichnet sind.8 Bei genauer Betrachtung finden sich aber Besonderheiten heutiger MenschHeimtier-Beziehungen, die keineswegs mit der Mensch-Mensch-Beziehung kongruent sind: Tierbesitzer reden mit ihren Tieren, erwarten aber keine verbalisierte Antwort. Sie finden sich problemlos damit ab, dass Tiere nicht ihrerseits erzählen können. Sie heben auf Grabsteinen Eigenschaften hervor, etwa Treue und Kameradschaft, die man bei verstorbenen Menschen gerade nicht (oder nicht mehr) auf dem Grabstein oder in Todesanzeigen verzeichnen würde – allenfalls bei Soldaten, die im Kampf gefallen sind. »Der treue Kamerad« – das kann ein Tier sein, aber auch ein Soldat, vielleicht noch ein Mitglied in derselben Sportmannschaft (»Sportskamerad«). Die Vermutung liegt nahe, dass tierische Freunde hier eine Rolle ausfüllen, die menschliche Freunde gerade nicht (mehr) ausfüllen können: nicht bloß Freundschaft, sondern Kameradschaft,9 die durch Treue und bedingungslose Loyalität definiert ist. Tierliebe ist insofern latente Kritik an Entfremdung und Vereinzelung. Tiere erscheinen in dieser Perspektive trotz vermeintlich freundschaftlicher Annäherung gerade nicht als vertraute 6 | Zum im Blick auf eine wachsende Tierfreundschaft gegenläufigen Trend, nämlich der Trennung von Tieren, siehe für den Fall der Pferde U. Raulff: Das letzte Jahrhundert. 7 | Vgl. E. Schaab: Von »Bello« zu »Paul«. 8 | Siehe – mit etwas anderer Deutung als der folgenden – C. Wischermann: Tiere und Gesellschaft, S. 113-121. 9 | Vgl. auch D. Haraway: The Companion Species Manifesto.
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Verwandte, sondern als Verkörperungen des Anderen, Eigentlichen, Natürlichen, Authentischen, Unmittelbaren, kurz: des als verloren Empfundenen, als Vertreter einer imaginierten anderen, besseren Welt. Wer an Tiere denkt, denkt also – eher unwillkürlich – oft an Natur und Authentizität – so schillernd und unscharf die Begriffe sind.10 Dies auch, wenn er weiß, dass Heim- und Nutztiere Produkte langer Züchtungsprozesse sind, dass sie in der Natur so nicht vorkommen und dort nicht überleben könnten. Dies auch, wenn er weiß, dass viele frei lebende Tiere keineswegs in der Natur leben, sondern Kulturfolger sind und die Nähe menschlicher Siedlungen brauchen und suchen, ob Raben, Ratten oder Waschbären. Dies sogar, wenn er weiß, dass ›Natur‹ eine bloße Imagination oder nostalgische Erinnerung an nie Dagewesenes oder zumindest nie Gesehenes ist. An die Stelle von Natur ist – nicht nur in Westeuropa – längst gestaltete Landschaft getreten. Die Suche nach Natur, nach dem Authentischen und nicht Verformten, nicht Verfremdeten, nicht Entfremdeten, ist Ausdruck von Zivilisationsskepsis, manchmal wohl auch Zivilisationsüberdruss, jedenfalls Ausdruck der Sehnsucht nach einer Parallelwelt des Eigentlichen und Authentischen. Der Zivilisierte träumt von dem Anderen, dem edlen Wilden, dem nicht Korrumpierten. Und das ist – in seiner Sicht – das Tier. Es wirkt gewissermaßen wie der Überrest einer fernen Zeit – auch wenn es sich in Wechselwirkung mit kulturellen Entwicklungen selbst gewandelt hat. Das Tier besetzt die Grenze zum anderen Leben, es weist den Weg in eine andere Welt. Das vor allem dann, wenn es nicht den Gesetzen der Leistungsgesellschaft unterworfen ist, ob als preisgekröntes Zuchttier, als prämiertes Edelkaninchen, als schnellster Windhund oder als Hochleistungskuh. Einstellungen ändern sich hier in jüngerer Zeit rapide.11 Mehr denn je geht es bspw. gegenwärtig Menschen, die Heimtiere halten, darum, ihren Tieren ein sogenanntes artgemäßes Leben zu ermöglichen, sie gerade nicht mehr nur als Dienstleister am Wohlbefinden des Menschen anzusehen und zu nutzen, sondern den Auftrag des Menschen darin zu sehen, Tiere nach ihren eigenen Interessen leben zu lassen, ihnen ein ›gutes Leben‹ zu ermöglichen, sie vielleicht zu beobachten, aber keine Antwort von ihnen zu erwarten, keinen Dank und keine Anhänglichkeit – anders ausgedrückt: das Tier als frei zu imaginieren. Was aber ›artgemäß‹ oder ›artgerecht‹ bei Tieren heißen kann, bleibt in dem Bereich der populären Verwendung des Begriffs recht offen. Außerdem steht diese Tendenz bei der Heimtierhaltung offenkundig in Widerspruch zur (Aus-) Nutzung von Tieren als Begleit- und therapeutische Tiere, wobei die ›Natür10 | Zum Begriff der Natur siehe: Th. Kirchhoff/L. Trepl (Hg.): Vieldeutige Natur; ferner O. Löfgren: Natur, Tiere und Moral. Zum Authentizitätskonzept siehe: A. Saupe: Authentizität. 11 | Vgl. dazu aus Sicht einer Wissenschaftsjournalistin auf neue Alltagsphänomene und gesellschaftliche Befindlichkeiten Ch. Hucklenbroich: Das Tier und wir.
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lichkeit‹, das Kontingente von Tieren geradezu als therapeutisches Instrument gegen menschliche Ungeduld und Machbarkeitsvorstellung verstanden werden kann, aber doch in der Regel über Tiere eher Beständigkeit, Verlässlichkeit und Sorgebedarf vermittelt werden. Die mehr oder weniger latenten Vorstellungen von Tieren als Teil der Sphäre des Natürlichen unterstreichen die Beharrungskraft des Denkens in binären Gegenüberstellungen, in Kontrastierungen von Erlebtem und Ersehntem. Der Natur-Kultur-Dualismus12 ist dabei nach wie vor ein zentrales Signum der Moderne, selbst und gerade in Bezug auf Tier-Mensch-Grenzen, die eben nur scheinbar infrage gestellt werden. Für Zugänge zu Tier-Mensch-Beziehungen heißt das erstens zu reflektieren, was als ›natürlich‹ und ›authentisch‹ in Bezug auf Tiere definiert wird, inwiefern überhaupt zwischen Zähmungs- und Zuchtmerkmalen und vermeintlich authentischen Merkmalen geschieden wird. Zweitens ist keineswegs geklärt, warum und inwiefern das Authentische eine besondere Aura erhält oder besonders geschützt wird, was bspw. sinnvoll oder reizvoll daran ist, wenn ›ausgestorbene‹ bzw. verdrängte Tiere wieder zurückkehren oder angesiedelt werden. Drittens ist von Interesse, wie Räume des Authentischen geschaffen, imaginiert, simuliert werden. Derartige Fragen richten sich an Konzepte und Praktiken von Zoologischen Gärten, Nationalparks und Auswilderungsprogrammen, aber auch an Stadt- und Landschaftsplanung, die jeweils Raum für Tiere oder mit Tieren entwerfen. Und viertens stellt sich die Frage nach der Substituierung des Biologischen durch künstlich erzeugte Organismen, durch künstliche Tiere und Roboter, die schon die Formen und Funktionen von Begleit- und Heimtieren übernehmen und offenbar auch emotionale Bedürfnisse befriedigen können. Wenn Künstliches nach natürlichem Vorbild geschaffen wird, scheint der Weg zur ›künstlichen‹ Erschaffung von ›Natur‹ bzw. zum zunehmenden Ersatz von ›Natur‹ einschließlich der Tiere geöffnet. Das kann indes am Ende auch die Ersetzung des Menschen selbst bedeuten – in der Substituierung durch Maschinen nähern sich Tiere und Menschen insofern wieder an. Wird die binäre Sicht auf Tiere und Menschen derart unterlaufen, indem beide gleichermaßen einen Prozess zunehmender (Partial-)Substituierung erleben, so brechen auch bisherige Gewissheiten über Trennlinien weg. Das gilt bspw. für das Recht. So gilt das Tier nach einer Novellierung des Tierschutzgesetzes von 1986 zwar als ein »Mitgeschöpf«13. Folgt man aber dem Bürgerlichen 12 | Vgl. J. Latimer/M. Miele (Hg.): Naturecultures; L. Kreye/C. Stühring/T. Zwingelberg (Hg.): Natur als Grenzerfahrung. 13 | §1 Tierschutzgesetz, Bundesgesetzblatt I, S. 1309: »Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.«
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Gesetzbuch, so sind Tiere wie Sachen zu behandeln.14 Sie können gekauft und verkauft werden, und sie können vererbt werden. Mängel können nach einem Kauf sogar reklamiert werden. Auch bei Ehescheidung und Güteraufteilung muss entschieden werden, wem ein Tier zugesprochen wird und ob der andere Partner ein Umgangsrecht erhält. Das scheint eine Grenze des Objektverständnisses von Tieren anzudeuten. Denn anders als bei leblosen Objekten, die vom Eigentümer beliebig behandelt werden können, tritt bei Tieren der Tierschutz hinzu, der den Gebrauch begrenzt und einem höherrangigen Recht unterwirft. Doch bleibt das Tierschutzrecht im Grunde dabei, Tiere als Objekte zu sehen. Über den Grad des Schutzes entscheidet der Mensch; die Dichotomie und Hierarchie von Tier und Mensch wird verfestigt. Zunehmend wird allerdings gefordert, Tiere als Rechtssubjekte zu verstehen. Radikale Tierrechtsorganisationen wie PETA (People for the Ethical Treatment of Animals) setzen sich dafür ein. Auch in jüngeren politischen, philosophischen und wissenschaftlichen Debatten wird gefragt, ob Tieren nicht nur Agency im Sinne von Handlungsmacht und Wirkmächtigkeit zukommt, sondern auch Subjektcharakter, und zwar in einem Maß, das eine grundsätzliche Trennung von Menschenrechten und Tierrechten fragwürdig erscheinen lässt.15 Hier kann seit Darwin biologisch argumentiert werden, dass Tiere eben nicht, wie Descartes proklamierte, empfindungslose Maschinen sind, sondern dem Menschen mehr oder minder nah verwandt, und dass die tierischen Primaten sich genetisch nur geringfügig vom Menschen unterscheiden.16 Hinzu kommt, dass alle bislang vorgebrachten, vermeintlich essentiellen Differenzen zwischen dem ›Objekt Tier‹ und dem ›Subjekt Mensch‹, wie eingangs angedeutet, empirisch und theoretisch widerlegt werden konnten, von Spieltrieb über Werkzeuggebrauch bis sogar zu Sprachvermögen, Zukunftsvorstellung und religiösem Empfinden. Über die Schlussfolgerung, dass man Tieren, oder zumindest Primaten, dann gleich Kultur zusprechen sollte, wird kontrovers geurteilt.17 Dagegen werden Empfindungs- und Leidensfähigkeit bei Tieren wohl kaum noch in Abrede gestellt. Und schließlich wird auch in medizinischen Experimenten, die auf der Annahme einer wechselseitigen Übertragbarkeit von Ergebnissen zwischen Tier und Mensch basieren, ein essentieller Unterschied zwischen beiden gerade für die jeweils verwendeten Labortiere und Modellorganismen beständig 14 | So nach dem 1990 eingefügten §90a BGB: »Tiere sind keine Sachen. Sie werden durch besondere Gesetze geschützt. Auf sie sind die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist.« Zum Rechtsstatus von Tieren: M. Michel/S. Stucki: Vom Recht über Tiere. 15 | Vgl. S. Donaldson/W. Kymlicka: Zoopolis; R. Garner: A Theory of Justice for Animals; G.L. Francione: Animals as Person. 16 | Vgl. M. Linnemann: Brüder – Bestien – Automaten. 17 | Siehe die skeptische Position von J. Fischer: Affengesellschaft, S. 121-126.
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negiert oder relativiert; ohne eine wenigstens partielle Übertragbarkeit von Befunden zwischen den Spezies wären derartige Experimente ohne Aussagewert.18 Manche Staaten wie Neuseeland haben daraus die Konsequenz gezogen und bestimmten Tieren, nämlich den Großen Menschenaffen, menschenrechtsadäquate Tierrechte zugesprochen. Andere wie die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2002 haben sich bislang darauf beschränkt, den Tierschutz in die Verfassung aufzunehmen, im Fall des Grundgesetzes als Staatsziel und ausdrücklich außerhalb des Grundrechtsteils – wenn auch unmittelbar daran angeschlossen –, um eine Auflösung der Tier-Mensch-Grenze zu vermeiden.19 Doch philosophische Debatten, etwa die von Peter Singer angestoßene um die Vergleichbarkeit des Lebensrechts von Säuglingen, behinderten Menschen und Primaten,20 machen deutlich, dass das Thema auf der Tagesordnung bleiben wird. Weiterungen der Debatten beziehen sich auf die Tierhaltung im Zirkus und besonders im Zoo, wo Tieren zunehmend quasi-natürliche Lebensräume, Entfaltungsmöglichkeiten und Handlungssituationen zugestanden werden, bspw. die Chance zum selbstbestimmten Rückzug aus dem von Besuchern einsehbaren Raum. Während im Zoo früher Zaun, Graben oder Mauer deutlich erkennbar eine Grenze zwischen dem Tier, dem betrachteten Objekt, und dem Menschen, dem betrachtenden Subjekt, zogen, also beruhigende Sicherheit nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinne gaben, werden die eindeutigen Zuordnungen insofern jetzt schwieriger. Auf beiden Seiten der realen und symbolischen Grenzen im Tierpark bewegen sich souveräne Subjekte in ihren Lebensräumen. Und dennoch bleiben Tiere Teil der dinglichen Welt. Schon im Zoologischen Garten beruht die geschilderte Konstellation auf einer künstlich erzeugten Illusion von Autonomie und Handlungsfreiheit, die Tieren eben doch nicht zugestanden werden; die Entscheidung über die (Um-) Gestaltung von Zoos treffen nach wie vor Menschen. Nicht nur im Tierschutz sind Tiere also primär Objekte, selbst bei der Zuweisung von Rechten und Lebensräumen sind sie auf Menschen angewiesen, die überdies entscheiden, welchen Tiergattungen welche Rechte zugesprochen werden, die also den Grad an Dinglichkeit und Handlungsfreiheit einzelner Tiere definieren. Noch im Tierrechtsdiskurs bleiben Tiere unvermeidlich Objekte menschlicher Standards und Argumentationen. 18 | Vgl. zu Tieren als Substitute des Menschen in der Experimentalkonstellation aus historischer Perspektive B. Bühler: Experimentalobjekte. 19 | Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 20a: »Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.« 20 | Siehe P. Singer: Rassismus.
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Dies lenkt den Blick auf den zentralen, vielfach beachteten, aber doch noch nicht aufgelösten oder auch nur erklärten Widerspruch: Einerseits leben Menschen seit Zehntausenden von Jahren mit Tieren zusammen und sind auf sie angewiesen – als Haus- und Schutztiere, Jagdgehilfen, Milch-, Fleisch- und Kleidungslieferanten, Zug- und Tragtiere. Andererseits haben Menschen Tiere immer instrumentalisiert, ausgebeutet, gequält und grausam getötet, ob bei der Jagd, für Tierversuche oder bei der massenhaften Nutztierhaltung. In vielfältiger und widersprüchlicher Weise haben Menschen von Tieren profitiert oder diese für sich eingesetzt: als Zeugnis und Sinnbild göttlichen Wirkens in der Welt, als Medium von Wissen und Bildung, als Symbol in Kunst und Literatur, als Instrument von Repräsentation und Herrschaft. Sammlungen und Ausstellungen lebender und toter Tiere sind markanter Ausdruck einer solchen Objektivierung und Verdinglichung von Tieren. Dieser Widerspruch ist fortwährend akut; das unterstreicht die Spannung zwischen Massentierhaltung und der Ausrottung der von Menschen als Schädlinge definierten Tiere einerseits und der extremen Tierliebe andererseits, wie sie sich ausdrückt in Aktivitäten rund um Tier-›Kinder‹ wie den Berliner Eisbären Knut oder in der öffentliche Erregung nach der Tötung von – bestimmten, individualisierten – Tieren wie im Fall des jungen Giraffenbullen Marius im Kopenhagener Zoo 2014.21 In der Vielfalt der Ausdeutungen einer als binär verstandenen Mensch-TierOpposition verbergen sich insofern keine scharf getrennten Entitäten, sondern vielfältige Varianten von Beziehungen, die sich nur in ihrer Wechselseitigkeit erklären lassen. Dabei spielt die Tieren zugeschriebene besondere Aura eine Rolle: Auf der einen Seite stehen sie für Schöpfung und Natur; sie wecken Imaginationen von Unberührtheit und Reinheit, von Freiheit und Wildheit. Und auf der anderen Seite gefährden Tiere die stets brüchigen, stets wandelbaren, aber stets vom Menschen gesuchten Abgrenzungen zwischen Tier und Mensch.22 Tiere stehen in dieser Perspektive für die Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und seinem Menschsein.
A nnäherungen Die Spannung von Tier-Mensch-Beziehungen zwischen Nähe/Vertrautheit und Distanz/Fremdheit hat die Frage nach dem Akteursstatus von Tieren aufgeworfen. Die neueren Human-Animal Studies, die im angelsächsischen Raum seit rund zwei Jahrzehnten etabliert sind23 und im deutschsprachigen Raum seit 21 | Vgl. zu diesem Fall B. Benzing: Konflikte über Zootiere. 22 | G. Agamben: Das Offene. 23 | Vgl. M. DeMello: Animals and Society; G. Marvin/S. McHugh (Hg.): Routledge Handbook of Human-Animal Studies; L. Kalof/G.M. Montgomery (Hg.): Making animal
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einigen Jahren einen enormen Aufschwung erleben,24 sprechen auch solchen Tieren, die bloß noch als Objekte von Nahrungsbedarf, Wissensgier oder Repräsentationsbedürfnis der Menschen erscheinen, Subjektcharakter zu, dies durchaus und nicht zufällig analog zu postkolonialen Ansätzen, die den vermeintlich hilflosen Objekten kolonialer Unterdrückung Agency und Subjektcharakter zurechnen. Die Debatten über die Akteur-Netzwerk-Theorie und über Menschen, Tiere und Dinge als »Aktanten« (Bruno Latour) soll hier indes nicht erneut vertieft werden. Für die Human-Animal Studies jedenfalls handeln Tiere unabhängig von der Frage nach Bewusstsein und Intention eigenständig und wirkmächtig und beeinflussen dadurch menschliches Handeln. Jenseits der Grundsatzdiskussion steht außer Frage, dass Tiere in menschlich-tierischen Beziehungen handeln, z.B. mit Menschen interagieren und auf Zumutungen reagieren, sich etwa der Instrumentalisierung für Experimente oder dem Schlachter zu entziehen suchen. Ob dies als Agency der Tiere gedeutet oder sogar als ›Widerständigkeit‹ aufgewertet werden sollte, ist kontrovers diskutiert worden.25 Die Handlungsoptionen von Tieren sind nicht anders als die von Menschen vielfältig, und welche in der Interaktion gewählt werden, hängt wiederum von wechselseitigen und wechselnden Mensch-Tier-Wahrnehmungen ab. Ungeachtet der Positionierung in der Agency-Debatte hat diese doch das bleibende Verdienst, unmissverständlich und nachhaltig den Blick darauf gelenkt zu haben, dass Menschen und Tiere nur in ihrer Relationalität und Pluralität zu betrachten sind. Damit ergibt sich freilich eine Vielzahl von auch reziproken Beziehungen, die eher als Vernetzung zu beschreiben und analytisch schwer zu fassen sind. In diesem Band geschieht das in drei Hinsichten: Grenzziehungen, Interaktionen und (A)Symmetrien. Das betrifft mithin drei zentrale und beständige Herausforderungen, die das Leben von Menschen mit Tieren begleitet haben und menschliche Kulturen und Gesellschaften unvermeidlich auszeichnen. Es geht bei den drei Hinsichten freilich nicht um getrennte Bereiche
meaning; C. Freeman/E. Leane/Y. Watt (Hg.): Considering Animals; L. Kalof/B. Resl (Hg.): A Cultural History. 24 | Aus der jüngeren Literatur: R. Borgards (Hg.): Tiere; R. Spannring et al. (Hg.): Disziplinierte Tiere?; Dies. et al. (Hg.): Tiere, Texte, Transformationen; G. Krüger/A. Steinbrecher/C. Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte; Mensch und Tier; Chimaira (Hg.): Tiere, Bilder, Ökonomien; Chimaira (Hg.): Über die gesellschaftliche Natur; D. Brantz/ Ch. Mauch: Tierische Geschichte; R. Pöppinghege: Tiere im Krieg; J. Ullrich/ F. Weltzien/H. Fuhlbrügge (Hg.): Ich, das Tier. Siehe auch schon: S. Becker/A. Bimmer (Hg.): Mensch und Tier; P. Münch, Tiere und Menschen. 25 | Kritisch dazu zuletzt M.G. Ash: Tiere und Wissenschaft, S. 282. Zur Agency-Debatte: C.J. Castricano: Animal Subjects; S.E. McFarland/R. Hediger (Hg.): Animals and Agency; zuletzt: K. Balgar et al. (Hg.): Das Handeln der Tiere.
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der Tier-Mensch-Vernetzung, sondern um drei mögliche Perspektiven auf TierMensch-Gesellschaften. Grenzziehungen stehen dabei an erster Stelle. Versuche der Herausarbeitung und Festschreibung von Unterschieden zwischen Menschen und Tieren oder zwischen Mensch und Tier begleiten die Geschichte menschlicher Gesellschaften, und sie finden Niederschlag in philosophischen Konzepten von der Antike bis zur Gegenwart. Dabei konkurrieren verschiedene Modelle, etwa Stufenmodelle, die wie bei Helmuth Plessner vom Pflanzlichen über das Tierische zum Menschlichen führen, oder ontologische Modelle, die wie bei Martin Heidegger eine prinzipiell unüberwindbare Lücke zwischen Tieren und Menschen unterstellen (→ Francesca Michelini in diesem Band). Das Modell allein erklärt allerdings die jeweilige Position der Relationalität noch nicht. Auch durch Stufen und Grenzen können unterschiedliche Weltbezüge ausgedrückt werden, die das jeweils Besondere der Beziehungen kennzeichnen. Sofern Menschen und unterschiedliche Tiergattungen auch unterschiedliche Umweltwahrnehmungen haben, aufgrund von Lebenszeit, Sinnesorganen und Bewegungsmöglichkeiten, sind Grenzen vorgegeben, Grenzen freilich, die zugleich flexibel sind und immer neu genutzt und gedehnt werden können. Taxonomien, also Klassifizierungen, wie sie v.a. seit der frühneuzeitlichen Naturforschung, begleitend zur europäischen Globalexpansion, zum Instrument der Naturdurchdringung wurden, schienen das fluide Gefüge einzufrieren. Tatsächlich allerdings trugen gerade die Taxonomien des 18. Jahrhunderts dazu bei, systematisch und streng methodisch kontrolliert Vielfalt und Beziehungsgefüge der Tiere und, hier am Beispiel der Insekten vorgeführt, deren Standort als ›Modellorganismen‹ zwischen Unbelebtem und Belebtem zu erfassen und über den Einzelfall hinaus naturphilosophisch einzuordnen (→ Thomas Ruhland). Der Charakter der Insekten als Modellorganismen machte die Grenzen, aber eben auch die Parallelen der Naturgesetzmäßigkeiten gattungsübergreifend und geradezu unfreiwillig deutlich. Parallelen und Grenzziehungen zugleich ergeben sich, wenn im Blick auf die Bibel mit Gott oder dem Göttlichen ein dritter Akteur hinzutritt, dem die Menschen qua Ebenbildlichkeit a priori näher stehen – was sie insofern unabweisbar über die Tiere erhebt. Gleichzeitig freilich erscheinen in neuen Deutungen des Alten Testaments auch die Tiere als eigenständige Wesen mit unmittelbarer Beziehung zu Gott, insofern den Menschen nicht bloß untergeordnet, aber doch von ihnen genau geschieden (→ Yvonne Sophie Thöne). Noch anschaulicher wird die Korrelation zwischen Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Feld der Kunst, wenn Tiere zum Gegenstand oder Teil von Kunst werden oder gar als Akteure präsentiert und repräsentiert werden. Dann werden gesellschaftliche Verhältnisse reflektiert, variiert, verfremdet oder gestaltet, werden Praktiken der Abgrenzung und Eingrenzung vorgeführt. Allerdings werden auch die Grenzen der Kunst vorgeführt, wenn Tiere – und hier
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konkret Tiere, die getötet werden –, dazu dienen, menschliche Erfahrungen – hier im Fallbeispiel den Vietnamkrieg – zu verarbeiten (→ Stephanie Milling). Die Kunst bleibt insofern hier, was sie in der Geschichte war: Menschenwerk (→ Christian Presche). Aber die Verunsicherung, ob die Grenzen zwischen Menschen und Tieren noch gelten, und v.a.: was es bedeutet, wenn die Grenzen nicht mehr gelten – diese Verunsicherung sitzt tief. Viele Menschen meinen heute, dass Tiere Menschen nicht mehr fern stehen, was Merkmale und Eigenschaften angeht, und insofern Tierschutz und Tierwohl beachtenswerte Handlungsnormen sind. Aber Tierrechte in Parallele zu Menschenrechten befürwortet nur eine Minderheit (→ Ulf Liebe/Benedikt Jahnke/Ulrike Heitholt). Das vielleicht auch, weil die Konsequenzen eines solchen Paradigmenwechsels zu verstörend wären. Ebenso auffallend sind freilich die Fluidität der Haltungen und die Vielfalt der Einstellungen. Das mag mit der Vielfalt an Erfahrungen in Tier-Mensch-Relationalitäten zu tun haben: Einstellungen sind Konsequenz von Relationalität, sie bilden sich im Netzwerk der Interaktionen zwischen Tieren und – unterschiedlichen – Menschen. In dieser Perspektive gilt also: Menschliches Handeln entsteht in Interaktionen mit Tieren, Tier-Handeln in Interaktionen mit Menschen; Menschen und Tiere sind unweigerlich relationale Wesen. Insofern ist auch die forschende Betrachtung des Verhaltens oder des (Wohl-)Befindens von Tieren, ob auf Erfahrung beruhend oder wissenschaftlich-methodisch geleitet, ob subjektives Erleben und Erleiden der Tiere vermutend oder wissenschaftlich voraussetzend (→ Christopher Hilbert), schon selbst ›ein Spiegel der Mensch-Tier-Beziehung‹; Forschungsmethoden beeinflussen das Verhalten der beobachteten Tiere, dieses wiederum beeinflusst die Ergebnisse und führt zur Weiterentwicklung der Methoden. Gerade Tier-Mensch-Forschung erscheint so als Prozess in der TierMensch-Interaktion (→ Birgit Benzing/Ute Knierim). Das bestätigt sich erst recht, wenn konkrete Fallbeispiele wie die Rolle der Mensch-Tier-Beziehung bei der Milchrinderhaltung in den Blick genommen werden; Interaktionen zwischen Menschen und Tieren, etwa Emotionen, Erregung und Furcht, beeinflussen hier unmittelbar das Resultat (→ Asja Ebinghaus/Silvia Ivemeyer/Julia Rupp/Ute Knierim). Der Begriff der Interaktionen deckt über die Forschung hinaus eine große Spannbreite an Tier-Mensch-Konstellationen ab. Steht die Konstellation der Forschung für größtmögliche Distanz, so steht die Aufnahme eines Exemplars der einen Spezies in eine Gruppe der anderen für größtmögliche Nähe, ja Verschmelzung. Immer wieder Gegenstand von Erzählungen und Mythen sind dabei die Wolfsjungen, die Kinder, die im Wald verloren gehen oder ausgesetzt werden und dann von Wölfen aufgenommen und großgezogen werden, von wilden Tieren also, die gar nicht so wild sind, sondern sich sehr zivilisiert verhalten; nicht selten will dann das Kind nicht mehr in die Menschengesellschaft zurück, wie es paradigmatisch in Rudyard Kiplings Dschungelbuch (1894) um
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den Jungen Mowgli in Indien dargestellt wird. Gleichzeitig bietet eine derartige Geschichte auch eine Parabel über die Natur, über Freundschaft und über den Wert von Tier-Mensch-Beziehungen, die ihrerseits Mensch-Mensch-Beziehungen repräsentieren. Die Grundkonstellation ist freilich nicht von Kipling erfunden worden. Wölfe als Zieheltern für Menschenjunge stellen geradezu einen Mythentopos dar. Das Medium der Darstellung erlaubt Experimente: Im Raum der Fiktion öffnen sich neue Möglichkeiten für das Nachdenken über wechselseitige Beziehungen zwischen Tieren und Menschen, über Emotionen und Verantwortung. Zugleich ermöglicht die imaginierte Konstellation das Nachdenken darüber, was eigentlich Mensch und Tier, Kultur und Zivilisation einerseits, Natur und Wildnis andererseits, ausmacht, ob die Grenzen tatsächlich so klar erkennbar bleiben, wenn die Lebenswelten sich vermengen. Umso schwieriger wird die Rückführung des von Wölfen erzogenen Menschenkindes, wird die Re-Zivilisierung des verwilderten Menschen, die hier gewissermaßen der Gegenpol zur Auswilderung von Tieren ist. Das ›wilde‹ Kind, dem Wildtier gleich, muss mühsam gezähmt werden. Parallelen, Grenzen und Grenzüberschreitungen werden in der simulierten Interaktion gleichermaßen sichtbar (→ Susanne Schul). Umso aufschlussreicher ist im Vergleich die reale grenzüberschreitende Interaktion zwischen Menschen und exotischen oder wilden Tieren im Zoologischen Garten. Der Zoo ist der paradigmatische Begegnungsraum zwischen Menschen und Tieren schlechthin. Doch wie Begegnung hier gedacht und inszeniert wurde, das wandelte sich in erstaunlicher schneller Folge seit dem Entstehen der modernen bürgerlichen Zoologischen Gärten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Freizeitgestaltung, Bildungsanspruch und Erhaltungsinteresse wurden gleichermaßen angestrebt, aber immer neu arrangiert und gewichtet. In der jüngsten Wendung schließlich bieten Zoos Lebenswelten von Tieren und Menschen, die interagieren können, sich aber im engen Sinn nie begegnen, denn sie bewegen sich in getrennten, wenn auch miteinander verwobenen Räumen, etwa auf Wegen, die durch Tiergehege verlaufen, aber dank geschickt arrangierter und kaschierter Barrieren nicht mit den Laufwegen der Tiere kollidieren. Natur (freilich künstlich erzeugte) wird hier mit Kultur in Beziehung gesetzt. Allein die Wärter überschreiten die Grenzen und interagieren, scheinbar gleichberechtigt, mit Vertretern beider Welten. Und die Interaktion der Wärter mit Tieren ist zugleich, zumal wenn sie vor den Augen des Publikums stattfindet, auch Teil der Interaktion zwischen Wärtern, anderen Wärtern und Besuchern. In der Relation zu ›ihren‹ Tieren finden Wärter ihre Position in der menschlichen Gesellschaft (→ Wiebke Reinert). Freilich ist der Zoo nicht einfach nur Raum realer Tier-Mensch-Begegnungen. Er ist zugleich ein Konstrukt, ein Bild, eine Simulation, wie sie nicht anders auch in der bildenden Kunst und Malerei erzeugt werden können. Bilder sind dabei ›nicht bloß
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Substitute für Objekte‹, sondern auch für Beziehungen; Tiere werden dort nicht nur abgebildet, sondern in ihren Relationen entworfen (→ Daniel Wolf). Wie Zoologische Gärten, die auf engem Raum Tiergattungen zusammenbringen, die sich in der ›Natur‹ nie begegnet wären, erlauben auch Bilder und fiktionale Texte, unwahrscheinliche Beziehungen zu imaginieren und zu simulieren. Nicht nur Tier-Mensch-Mischwesen, Tier-Mensch-Verwandlungen und Tier-Mensch-Grenzüberschreitungen können dabei quasi nach Belieben modelliert werden. Vielmehr können neben Beziehung, Annäherung und Symmetrie auch Beziehungsunfähigkeit, Distanz und Asymmetrie zum Gegenstand der Darstellung werden. Und noch in der Tier-Mensch-Metamorphose können Grenzen der Tier-Mensch-Beziehung ausgelotet und veranschaulicht werden (→ Theresa Kölczer). Die Simulation von Symmetrie und Asymmetrie findet ihren Höhepunkt freilich nicht in der Literatur, sondern in realen Prozessen der Erschaffung von Tieren. Das gilt einmal für die Zucht von Rindern. Rinder konnten nach dem Aussehen oder nach Leistungsmerkmalen (Milch, Fleisch, Arbeit) gezüchtet und bewertet werden. In der Milchkuhzucht geht es um Leistung, neben anderem spielen die Merkmale der Tier-Mensch-Beziehung dabei eine Rolle. Umgekehrt wird bei der Rinderzucht auch das Verhalten der Tiere in Reaktion auf Melkroboter und Landwirt beachtet, Tier-Mensch-Relationalitäten sind also Bedingung, Begleiterscheinung und Ziel der Tierzucht zugleich (→ Laura Santos/Kerstin Brügemann/Sven König). Für Schaukühe wurde die Leistung dagegen zunehmend irrelevant, auf Nutztierschauen geht es mittlerweile um anderes: um Gemeinschaft, die Erhaltung bestimmter Rinderrassen und öffentliche Wirkung. Rinder, allerdings von Menschen gezüchtete, bestimmen hier ihrerseits wiederum menschliche Vorstellungen von Tradition und Landwirtschaft (→ Diana Krischke). Umgekehrt verhält es sich im Fall der Auswilderung, die hier beispielhaft vorgestellt wird: Eine bis dahin unscheinbare, von Tieren und wenigen Menschen bewohnte Insel im Viktoriasee, nämlich die Insel Rubondo (Tansania), wurde binnen Kurzem zum Tierschutzgebiet, in dem Wildnis simuliert wurde mit ausgewilderten Tieren unterschiedlicher Gattungen, etwa Nashörnern und Schimpansen. Der gewachsene, von Menschen und Tieren gestaltete, als ›Natur‹ verstandene Raum wurde so durch menschliche Eingriffe zur neuen Natur umgestaltet. Zweierlei Arten von Natur überlagerten sich (→ Felix Schürmann). Diese eigenartige Symmetrie des Asymmetrischen kulminiert in künstlerischen Arrangements, die lebendige Tiere einsetzen, sie zum Gegenstand einer Ausstellung machen und zugleich ihre materiellen Hinterlassenschaften, konkret ihren Kot, zur künstlerischen Gestaltung nutzen (→ Silke Förschler). Natur und Kultur überlagern sich auch hier in einer Weise, die wie im Fall der Tierzucht und der Auswilderung eine präzise Unterscheidung unmöglich macht. Am Ende wird die Grenze zwischen Natur und Kultur oder Natur und Gesellschaft irrelevant, weil sie keine Erklä-
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rungs-, Deutungs- oder Veranschaulichungskraft mehr hat. Relationalität von Menschen und Tieren bedeutet v.a. auch, dass die Räume der Begegnung, der Annäherung und Entfremdung, beständig neu geschaffen werden, sich verändern, sich neu füllen, konkurrierenden oder sich überlappenden Nutzungen unterworfen sind. ›Natur‹ und ›Kultur‹ sind Hilfsbegriffe der Raumkonstruktion. Das erhellt schließlich die systematische Grenzverletzung, die von Tierrechtsaktivisten ausgeht. Diese können von ethischen Vorstellungen motiviert sein, v.a. aber auch von der Idee der Menschenähnlichkeit oder Menschengleichheit der Tiere. Konkretisiert wird dies mit einem Bündel an Argumenten, die vom Emotionalen (›Tierliebe‹) bis zum Politischen (›Politikversagen‹) reicht. Namentlich Tier-Eigenschaften wie Empfindungs- und Leidensfähigkeit werden als Beleg der Nähe oder Gleichheit von Tieren und Menschen angeführt. Daran anknüpfend, werden Tierrechte nicht nur eingefordert, sondern auch zu erzwingen gesucht durch Aktionen, die dem geltenden Recht widersprechen, bis hin zum Einbruch in Ställe und zur gewaltsamen Tierbefreiung. Und diese Rechtsverletzungen finden offenbar Akzeptanz weit über den Kreis der hier Aktiven hinaus (→ Ulf Liebe/Benedikt Jahnke). Aktiv werden können die Vertreter der Tierrechtsbewegung freilich immer nur als Stellvertreter der gemeinten Spezies, die sich in Bezug auf beanspruchte Rechte nicht sprachlich zu artikulieren weiß und für die die Rechtsbegriffe gerade nicht gelten – diese immanente Asymmetrie des Symmetrischen ist den Aktivisten durchaus bewusst.
V erflechtungen Die Problematik von Grenzziehungen, Interaktionen und (A)Symmetrien schlägt sich schließlich nicht nur im Zivilrecht nieder, das Tiere wie Sachen behandelt, sondern auch im Strafrecht, das Tiere als Subjekte, als Täter, nicht kennt, höchstens als Werkzeuge bei einer Tat oder eben als Opfer. Tierprozesse (Strafprozesse gegen gefährliche Tiere oder ›Schädlinge‹) gab es zwar bis in die Frühneuzeit,26 und die Vorstellung moralischer Qualitäten von Tieren prägte noch das Natur- und Tierverständnis im späten 19. Jahrhundert, so paradigmatisch in Alfred Brehms weit verbreitetem und einflussreichem Tierleben.27 Aber nach heutigen Rechtsvorstellungen können Tiere keine (Straf-)Täter sein, sie können in diesem Sinn nicht schuldig gesprochen werden. Auch der Gewalt26 | Zum Phänomen der Tierprozesse, deren Historizität allerdings nicht unumstritten ist, vgl. P. Dinzelbacher: Das fremde Mittelalter. 27 | So etwa bei der Darstellung des Leoparden; Brehms Tierleben, S. 466f.: »Der Leopard ist verschlagen, boshaft, wild, mordlustig, rachsüchtig und dabei nichts weniger als feig. […] Er mordet alle Geschöpfe, welche er bewältigen kann, gleichviel, ob sie groß oder klein sind, ob sie sich wehren oder ihm ohne Abwehr zur Beute fallen.«
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begriff sieht Tiere als Akteure nicht vor; Tiere sind möglicherweise wild, aggressiv, gefährlich, bissig, aber nach juristischem Verständnis und Begriffsgebrauch nicht gewalttätig, vielmehr wird ihr Verhalten ihrer unentrinnbaren Naturanlage zugeschrieben. Wenn Tiere nach Angriffen auf Menschen oder befürchteter Bedrohung eingeschläfert oder auf andere Art getötet werden, ist das keine ›Strafe‹, sondern gewissermaßen präventive Gefahrenabwehr – wie fragwürdig im Einzelfall auch immer (Abschuss des ›Problembären Bruno‹ im Juni 2006 in Bayern). Gewalt (verstanden als physische Gewalt) bleibt definitorisch eine Domäne des Menschen.28 Alles andere wäre schon deshalb fragwürdig, weil sonst nicht nur Tier-Mensch-Gewalt (Löwe frisst Mensch), sondern auch TierTier-Gewalt (Löwe frisst Gazelle, Katze frisst Maus) sanktioniert werden müsste. Umgekehrt praktizieren Menschen gegenüber Tieren eine Fülle von Vorgehensweisen, die in zwischenmenschlichen Beziehungen als Ausdruck von Gewalt interpretiert würden: Gefangennahme, Verfügung über den Aufenthaltsort, Einsperren, Sterilisierung, Kastration, Tötung – diesen Formen menschlicher Gewaltausübung sind dabei wenig Grenzen gesetzt, oder genauer: Die Grenzen werden hier anders gezogen und Gewalt wird anders definiert. Abgelehnt wird bei Tieren nur – und auch erst in jüngerer Zeit – als übermäßig, unnötig oder quälend verstandene Gewalt, also das, was unter Menschen als Grausamkeit bezeichnet würde.29 Daran erhellt sich schlaglichtartig, wie ambivalent die Diskurse und Praktiken um Nähe und Ferne, um Annäherungen und Entfremdungen der Tiere sind. Wer Tierrechte fordert, fordert in der Regel keine Tierpflichten,30 schon gar keine Menschenpflichten für Tiere, keine Schulpflicht, keine Steuerpflicht und keine Militärdienstpflicht, wie sie für Menschen gelten,31 auch keine Achtung der Menschenrechte durch Tiere, nicht einmal Verantwortung von Tieren für Menschen. Wo Tiere – dem Anschein nach – Verantwortung übernehmen, indem sie hilflosen Menschen zu helfen oder verzweifelte Menschen zu trösten scheinen, wird das umso emphatischer als außergewöhnliche individuelle Charakterleistung herausgestellt. Offenbar stößt man hier an Grenzen vernünftiger Gleichsetzung. Tiere und Menschen verbleiben in unterschiedlichen Kommunikations- und Wertewelten. Kann man da tatsächlich von Verflechtungen sprechen? Vielfältig verflochten, die Titelformulierung dieses Bandes, wirkt auf den ersten Blick als schwache Metapher. Von Verflechtung und Verflechtungsgeschichte 28 | Zum gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Gewaltbegriff: K.-G. Faber/K.-H. Ilting/Ch. Meier: Macht, Gewalt; G. Schwerhoff: Gewalt; Ch. Gudehus/M. Christ (Hg.): Gewalt; T. von Trotha (Hg.): Soziologie der Gewalt; J.Ph. Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. 29 | Vgl. T. von Trotha/J. Rösel (Hg.): On Cruelty. 30 | Siehe zu dieser Debatte K. Petrus: Tierethik, S. 165-168. 31 | Wenn Pferde z.B. in Kriegen requiriert wurden, hatte das nichts mit Tierpflichten zu tun, sondern mit Menschenpflichten. Vgl. allgemein R. Pöppinghege: Tiere im Krieg.
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ist gegenwärtig ständig die Rede, und Begriffe wie Vielfalt, Heterogenität, Transfer und Reziprozität werden dabei ebenso ubiquitär eingesetzt. Daher bedarf die Verwendung der Begrifflichkeit für die Tier-Mensch-Beziehungen in Geschichte und Gesellschaft noch einer Begründung und Spezifizierung. Wer Tier-MenschRelationen und hier besonders Relationalität in den Fokus rückt, entfernt sich von Essentialisierungen. Er entfernt sich auch von naturkundlichen und naturwissenschaftlichen Kategorien und Taxonomien. Vielmehr muss er sich auf gesellschaftliche und kulturelle Konstellationen einlassen, Wechselseitigkeit anerkennen und Mehrdimensionalität der Relationen berücksichtigen. In diesem Sinn spricht der Forschungsschwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft« im Aufgreifen einer Formulierung des Kasseler Philosophen Kristian Köchy von »kulturellen Tiertypen«. Dabei sind nicht die Tiere bzw. Tiergattungen zu klassifizieren, sondern die Beziehungstypen. Das kann sich auf Formales und Äußeres beziehen. Dann sind bspw. Beziehungstypen der Gleichrangigkeit, der Wechselseitigkeit, der Abgrenzung oder der Hierarchisierung zu unterscheiden. Das kann sich auch auf Qualitatives beziehen. Dann sind Typen der Nutzung und Deutung (von Tieren durch Menschen) zu isolieren, etwa Heimtiere, Begleittiere, Zootiere, Labortiere oder Nutztiere. Im Blick auf kulturelle Tiertypen ist die Einordnung allerdings nicht statisch, sowohl was Tiergattungen oder Tierarten angeht als auch was individuelle Tiere betrifft. Hunde können Hütehunde, Begleittiere, therapeutische Tiere, Familienmitglieder, Sorgeobjekte (Straßenhunde, Tierheimhunde), politische Symbole, politische Botschaften (Bismarcks Doggen, Kaiser Wilhelms II. Dackel, Hitlers Schäferhund), Waffen (›Kampfhunde‹) oder Feinde sein. Almrinder können als bloße Nutztiere, als gequälte Kreaturen (Schweizer Debatte um die Belastung durch Kuhglocken) oder als traditionsvermittelnde Möblierung idyllischer Alpenlandschaften wahrgenommen werden. Ratten können als Schädlinge bekämpft, als Heimtiere verniedlicht und als Labor- und Versuchstiere (aus-)genutzt werden. Waschbären, Luchse oder Wölfe können als willkommene Einwanderer oder als bedrohliche Fremdlinge angesehen werden. Die Kategorisierungen werden ›ausgehandelt‹, sie sind fluid, und sie sind im Beziehungsnetz vor allem mehrdeutig, je nach Perspektive und je nach Relationsstrang, der in den Blick genommen wird. Menschen und Tiere sind eben vielfältig verflochten. Sie bewegen sich bspw. in denselben Räumen, nehmen diese aber unterschiedlich wahr und nutzen sie anders, geraten dabei aber in Konkurrenz, agieren, reagieren, interagieren.32 Ihre Beziehungen lassen sich nur jeweils am konkreten Fall erfassen. Tiere und Menschen müssen in dieser Perspektive immer konkret und als Glieder eines Beziehungsgefüges betrachtet werden, sie existieren nicht als bloß biologische, sozial abgekapselte Entitäten. Das Tier gibt es ebenso wenig wie den Menschen. 32 | Vgl. J.R. Wolch/J. Emel (Hg.): Animal Geographies; Ch. Philo/Ch. Wilbert: Animal Spaces; W. Speitkamp/S. Zehnle (Hg.): Afrikanische Tierräume.
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Insofern sind Menschen immer mit Tieren und Tiere immer mit Menschen zu betrachten. Kategorisierungen freilich, die mit Menschen lebende Tiere von abseits der Menschenwelt autonom lebenden Wildtiere scheiden und als dritte Kategorie Schwellenbereichstiere einführen, sind vielleicht in Bezug auf die Praktikabilität von Tierschutz und Tierrecht nützlich. In der Befassung mit Tier-Mensch-Relationalitäten helfen sie dagegen weniger, weil auch Wildtiere erst dann von Menschen als solche kategorisiert werden können, wenn sie von diesen erkannt, beobachtet und bewertet worden sind – man befindet sich dabei schon mitten in einem Beziehungsgefüge zwischen Menschen und nur mehr scheinbar autonomen Tieren. Was heißt das nun in einer Situation, in der zunehmend über die Gestaltung der Zukunft mit Tieren nachgedacht wird?33 Sogenannte Massentierhaltung wird infrage gestellt, artgerechte Haltung von Nutztieren eingefordert. Tierische Nahrung wird nicht nur vermehrt durch vegetarische oder vegane ersetzt, sondern auch durch im Labor kreiertes, industriell gefertigtes Ersatzfleisch, das nie ein Tier gewesen ist. Die Haltung von exotischen Tieren im Zoologischen Garten und v.a. im Zirkus wird kritisiert, Kommunen erwägen Auftrittsverbote. Medizinische Tierversuche stehen schon lange immer wieder in der Kritik, die digitale Substitution durch virtuelle Präsentationen wird vorangetrieben. Und auch im Familienalltag gewinnen Tiersubstitute an Bedeutung. Robotertiere werden erschaffen, die Dienstleistungen verrichten oder sogar, täuschend echt mit Fell, Augen sowie Bewegungs- und Reaktionsfähigkeit ausgestattet, emotionale Bedürfnisse befriedigen können. Zugespitzt ausgedrückt, scheint ein Ende des alltäglichen Zusammenlebens von Menschen mit Tieren denkbar. Das heißt umgekehrt: Die Diskussion über Tiere und über die Tiere der Zukunft berührt die Gesellschaft der Zukunft, die Frage, wie menschliches Zusammenleben organisiert werden soll und werden wird, wie Ressourcen und Rechte verteilt werden, und eben auch, welche Grenzen zwischen den Spezies aufgeweicht werden. Mit der Veränderung der Gesellschaft werden sich die Tiere wandeln, wie sie sich schon seit Jahrhunderten durch ökonomische und kulturelle Einflüsse gewandelt haben. Sie verändern nicht nur ihre Gestalt, wie etwa an Nutztieren seit dem 18. Jahrhundert im Zuge agrarischer Modernisierung ablesbar. Vielmehr verändern sie auch ihr Verhalten, die Art und Weise ihrer Nahrungssuche, ihren Umgang mit Menschen und den von diesen geformten Landschaften. Und Menschen nehmen intensiv Einfluss auf Aussehen, Verhalten, Eigenschaften von Tieren durch Zähmung, Züchtung, Auswilderung, Gestaltung von Landschaft und Lebensräumen. In Umbruchszeiten entstehen Gegen- und Alternativentwürfe vom Leben mit Tieren, wird über Grenz- und Mischwesen geforscht und nachgedacht, spielen in literarischen oder filmischen Aneignungen Tiere zentrale Rollen als Vermittler von Zukunftsentwürfen (Animal Farm von George 33 | Vgl. A. Bühler-Dietrich/M. Weingarten (Hg.): Topos Tier.
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Orwell, Planet der Affen). Auf der Ebene der Utopie dienen Tiere als Metaphern zur Verdeutlichung idealen Zusammenlebens – oder auch – in der Dystopie – des Gegenteils, der bedrohlichen Umkehr aller Verhältnisse. Freilich wird auch die Gesellschaft der Zukunft Tiere brauchen. Sie wird insofern weiterhin Nutztiere haben. Allerdings möglicherweise nicht mehr, um sie als materielle Ressource auszubeuten, um Ernährung, Kleidung oder anderes im Interesse von Menschen daraus zu gewinnen, sondern um mentale und emotionale Bedürfnisse von Menschen zu befriedigen. So meint man jedenfalls den optimistischen Vorstellungen über Tiere als Begleiter, über Tiere in der Kindererziehung, über Tiere als mentale Unterstützung alter Menschen und über Tiere in Therapien zu entnehmen.34 Tiere erscheinen in all diesen Kontexten als Ergänzung des Menschen, ausgerichtet auf das menschliche Wohlergehen. Als Kaufmotiv bei Heimtieren rangiert der erzieherische Nutzen mittlerweile an erster Stelle. So setzt sich schrittweise ein neuer gesellschaftlicher Entwurf unter Einschluss von Tieren durch. Tiere unterstützen demnach den Weg zu gelingender Lebensführung, helfen bei sozialen und mentalen Problemen ebenso wie bei Krankheit von Kindern und Erwachsenen – wobei noch bestimmte Gattungen für bestimmte Krisen oder Krankheitsbilder als besonders geeignet erscheinen – oder sind überhaupt Teil eines zwischen Arbeit, Familie und Freizeit ausbalancierten Lebens. Gerade in einer durchschnittlich älteren Gesellschaft mit vielen allein lebenden älteren Menschen ist die Begleitung durch Tiere naheliegend und von beiden Seiten – von der Gesellschaft wie von den Alleinlebenden – erwünscht. Die Zukunft der Heimtiere ist insofern auch eine Antwort auf sozialpolitische Belange. Bereits heute werden Heimtiere im Blick auf ihre Emotionalität und Soziabilität gezüchtet und ausgesucht; es gibt passende Hunde für Sport, Ältere oder Kinder, es gibt ›familienfreundliche‹ Hunde ebenso wie auf Merkmale der Bedrohlichkeit gezüchtete Tiere. Die Zukunft wird erweisen, welche Erwartungen die Gesellschaft an die Tiere hat, welche Tiere sie sich züchten oder ›konstruieren‹ lässt und wie sie lernt, damit umzugehen. Zukunftsentwürfe mit Tieren fordern die Tierethik heraus. Die jüngere Diskussion über Tier-Mensch-Beziehungen hat immer auch eine ethische Dimension. Das betrifft schon seit langem und nach wie vor die Grenze(n) zwischen Menschen und Tieren, mehr denn je aber auch die Grenzen unter Tieren, nämlich Klassifikationen, Hierarchisierungen und Abstufungen. Ethische Ansätze sind darauf zu befragen, welches Bild von Menschen und welches Bild von Tieren ihnen zugrunde liegen. Wie werden Tiere und Menschen kategorisiert und differenziert? Unter welchen Bedingungen können welche Tiere als Rechtssubjekte mit eigener Handlungsmacht und Verantwortung verstanden werden? Sind Tiere ›frei‹ im Sinne der Philosophie, muss die in jüngerer Zeit 34 | Vgl. z.B. S. Greiffenhagen/O.N. Buck-Werner: Tiere als Therapie; E. Hegedusch/ L. Hegedusch: Tiergestützte Therapie.
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im Kontext der Hirnforschung neu erörterte Frage von Willensfreiheit und Determination auch an ihnen diskutiert werden? Wie werden solche Zuschreibungen von Rechtsstatus, Handlungsmacht und Verantwortung abgeleitet und begründet und was folgt daraus für den Umgang mit Tieren? Immer aber muss dabei die Frage aufgeworfen werden, welche Tiere eigentlich einbezogen, welche ausgeklammert werden sollen, welche Abstufungen vorgenommen, welche Grenzen gezogen werden. Und immer bleibt es bei einer Hierarchisierung von Tieren im menschlichen Auge. Das unterstreicht die Beharrungskraft und in gewissem Maß auch Unvermeidbarkeit binärer Wahrnehmungen der MenschTier-Differenz und eines Kultur-Natur-Gegensatzes. Menschen und Tiere sind in der Gesellschaft ohne Frage ›vielfältig verflochten‹. Doch schon diese Aussage basiert darauf, dass bis auf Weiteres eine Polarität von ›Mensch‹ und ›Tier‹ das Denken und Handeln von Menschen bestimmt.
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Grenzziehungen
Umwelt der Tiere und Welt der Menschen Dichotomie oder Relationalität? Francesca Michelini
E inführung Im Laufe der Geschichte der westlichen Philosophie ist auf viele Kategorien oder Fähigkeiten zurückgegriffen worden, um die Unterschiede zwischen dem Menschen und dem Tier zum Ausdruck zu bringen, so z.B. auf die Konzepte »Vernunft«, »Sprache«, »Kultur«, »Politik«, »Kunst«, »Geist«, »Mangel« usw. Im 20. Jahrhundert wurde insbesondere auf die beiden Grundkategorien »Welt« und »Umwelt« zurückgegriffen. Die Unterscheidung zwischen den »tierischen Umwelt(en)« und der »menschlichen Welt«, zwischen dem »Tier« als umweltgebunden und dem Menschen als einzigem Inhaber einer »Welt«, hat v.a. in der deutschen Philosophischen Anthropologie sowie im Existentialismus eine sehr wichtige Rolle gespielt. Eine solche Unterscheidung wird heute u.a. im Rahmen der Human-Animal Studies stark kritisiert oder als obsolet betrachtet:1 Sie wird oft auch als eine Art Remake oder als Variation der traditionellen Dichotomie zwischen Tier und Mensch interpretiert, wonach dem ersteren nur Instinkt, blinde Triebe oder höchstens der unmittelbare Ausdruck von Emotionen zukämen und lediglich der zweite die Fähigkeit besitze, sich durch Sprache ausdrücken und seine Triebe und Willen durch die »Vernunft« regulieren zu können. Der Mensch sei das einzige »weltoffene« oder »welt-bildende« Wesen; dagegen seien Tiere in ihrer eigenen Umwelt eingeschlossen oder – um es mit dem berühmten und scharf kritisierten Wort Heideggers zu sagen – »weltarm«.2 Viele der aktuellen natur1 | Man denke z.B. an das neue Buch von F. Cimatti: Filosofia dell’animalità. Siehe dazu meine Kritik in F. Michelini: Filosofia dell’animalità. 2 | M. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 261.
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wissenschaftlichen Studien in Verhaltens- und Kognitionsforschung haben hingegen die Komplexität und Vielfältigkeit der tierischen (und pflanzlichen) Umwelten immer eindeutiger bewiesen und daraus folgend aber auch die Schwierigkeit, klare Trennlinien zwischen bestimmten »natürlichen Reichen« zu ziehen. Nicht zuletzt aus diesem Grund plädieren die meisten anti-speziesistischen und posthumanistischen Positionen dafür, den Unterschied zwischen Umwelt und Welt aufzugeben: Es gebe keine klare Trennung, keine Zuordnung oder Hierarchie zwischen den beiden Bereichen, so wie es überhaupt keine »menschliche Natur« im Gegensatz zu einer tierischen gebe.3 In Abgrenzung vom allgemeinen Trend, der die Human-Animal Studies beherrscht, möchte ich hier hingegen betonen, dass eine solche Unterscheidung viel komplexer und nuancierter ist, als sie die simple dualistische oder dichotomische Gegenüberstellung der Welt der Menschen und der Umwelt(en) der Tiere zum Ausdruck bringt. Der so thematisierte philosophische Hiatus lässt sich allerdings nicht einfach durch ein (womöglich gar rein biologisch begründetes) Kontinuitätspostulat abschaffen. Er kann vielmehr erst dann angemessen gewürdigt werden, wenn nicht mehr dichotomisch oder einfach kontinuierlich, sondern gerade in »Relationalität(en)« gedacht wird. Unter Relationalität verstehe ich dabei etwas anderes als eine bloße »Relation«: Ich bezeichne damit ein System, in dem die Relata nur von ihrer Relation gebildet werden. Jedes Relat ist die gesamte Relation und zugleich ein Moment dieser Relation und impliziert deswegen das andere Relat als einen Moment seines Selbstverständnisses, obgleich es von der Selbstständigkeit seines anderen wiederum dementiert wird. Um besser zu erläutern, was ich mit dieser Überlegung meine, werde ich mich im Folgenden exemplarisch auf eine historische Konstellation konzentrieren, die man die »Uexküll-Plessner-Heidegger«-Konstellation nennen könnte. Ich werde mich zuerst kurz auf die Überlegungen des Zoologen Jakob von Uexküll beziehen, der bekanntlich der erste war, der die Tiere als »Subjekte« ihrer eigenen Umwelt betrachtete. Anschließend werde ich zwei Philosophen würdigen, deren Reflexionen über das Mensch-Tier-Verhältnis stark von Uexkülls theoretischer Biologie und Verhaltensforschung inspiriert wurden: Martin Heidegger und Helmuth Plessner. Obwohl deren Perspektiven in der »posthumanistischen« Kritik oft als gleichwertig gelten, besteht zwischen ihrer jeweiligen Behandlung der Welt-Umwelt-Beziehung ein tiefgreifender Unterschied: Während Heidegger dichotomisch die Welt der Menschen und die 3 | Der Mensch sollte besser als eine Art ständiger Prozess des Übergriffs und der Hybridisierung mit seiner (tierischen) »Andersheit« verstanden werden (man denke z.B. an Deleuze und Guattaris berühmtes Thema des »Tier-Werdens«, das einen wichtigen Einfluss auf verschiedene posthumanistische Vorstellungen des Menschen hatte, auch wenn dieser Begriff häufig nicht richtig verstanden worden ist). Siehe G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus.
Umwelt der Tiere und Welt der Menschen
Umwelt der Tiere einander gegenüberstellt, liefert die Reflexion von Helmuth Plessner gerade die begrifflichen Mittel, um ihren Relationalitätscharakter zu untersuchen. Mein Ziel ist es, mit diesem historischen Rückgriff zu einem besseren allgemeinen Verständnis der angesprochenen komplexen Thematik beizutragen.
J akob von U exkülls I dee von U mwelt Jakob von Uexküll (1864-1944) war der erste, der systematisch und konsequent den Begriff der Umwelt in der Biologie verwendet hat.4 Der Ausdruck »Umwelt« war zuvor kaum alltagssprachlich geläufig und wurde meistens in einer soziologischen Bedeutung in Bezug auf historische und kulturelle menschliche Kontexte angewendet: Von dem Zoologen wird sie hingegen zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Lebenswelt der Tiere gebraucht. Für Uexküll ist bekanntlich die »Umwelt« von der »Umgebung« eines Organismus zu unterscheiden. Der Begriff »Umgebung« betrifft die Objekte im Außenmedium eines Lebewesens, die ein externer menschlicher Beobachter konstatiert, die »Umwelt« hingegen bezieht sich auf die von den Lebewesen selbst gestalteten Erfahrungen und Beziehungen. Die Umwelt ist deswegen subjektiv, d.h. von einem Subjekt abhängig, und in das gegliedert, was Uexküll die »Merkwelt« und die »Wirkwelt« nennt: »Alles, was ein Subjekt merkt, wird zu seiner Merkwelt, und alles, was es wirkt, zu seiner Wirkwelt. Merkwelt und Wirkwelt bilden gemeinsam eine geschlossene Einheit, die Umwelt«.5 Zwischen diesen beiden, Merkwelt und Wirkwelt, besteht eine von Uexküll »Funktionskreis« genannte Wechselwirkung,6 auf die hier nicht detailliert eingegangen werden kann. Wichtig ist aber, an die grundlegende Bedeutung dieser Idee Uexkülls in der Geschichte der Ethologie zu erinnern, da sie definitiv ein anthropozentrisches Vorurteil untergräbt, und zwar die Vorstellung, dass die verschiedenen Tierarten in einem sinnlich-motorischen Raum leben, der mit dem menschlichen identisch ist, als ob die menschlichen Sinnes- und Handlungsmodalitäten den Bezugspunkt für das Leben eines jeglichen Organismus darstellten. Uexküll beschreibt hingegen sowohl in seinen experimentellen als auch in seinen theoretischen Werken die Art und Weise, 4 | Siehe J. von Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere, erste Auflage 1909, aber insbesondere die zweite Auflage 1921, und J. von Uexküll: Umwelt (1910). Über die Entwicklung des Begriffs »Umwelt« in der Forschung Uexkülls siehe C. Brentari: The Discovery of the Umwelt. Über die Umwelt allgemein siehe u.a. R. Tonnessen/R. Magnus/C. Brentari: The Biosemiotics Glossary Project: Umwelt. 5 | J. von Uexküll: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 21. 6 | J. von Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere, 1921, S. 63ff.
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auf die jede Lebensform ihre eigene Umwelt entsprechend der sie auszeichnenden Wahrnehmungs- und Handlungsformen bildet: Es gibt demnach genauso viele Umwelten wie es Tierarten gibt. Für den Hund hat der Raum v.a. eine Geruchsstruktur, die seine Umwelt in Gebiete gliedert, in denen er duftende Spuren hinterlässt; und die Orte, über die die Fliege fliegt, erfährt nur die besondere Morphologie ihrer Augen. Am bekanntesten ist Uexkülls Beispiel der Zecke:7 Zecken können nur drei Aspekte ihrer Umwelt ›bemerken‹: oben – unten, warm – kalt, Buttersäure – keine Buttersäure. Diesem sinnlichen Vermögen entsprechen Organe, die etwas in die Tat umsetzen, also bewirken können, was letztlich der Fortpflanzung und Arterhaltung dient: Krabbeln, Warten, Zupacken. Die Umwelt der Zecke wird einfach aus diesen drei Bestandteilen gebildet. Ihre subjektive Zeit ebenfalls: Sie kann über Jahre leben, ohne dass etwas geschieht, plötzlich erscheint ein Warmblüter, die Zecke erfüllt ihre Mission und stirbt alsbald. Revolutionär an Uexkülls Ansatz ist deswegen hauptsächlich die Einsicht, dass das Lebewesen nicht isoliert betrachtet werden darf. Jeder Organismus hat nicht nur eine enge Beziehung zu seiner eigenen Umwelt, sondern er befindet sich mit ihr in einem Verhältnis der »ursprünglichen Harmonie«; jede Umwelt entspricht dem, was Uexküll den »Bauplan« des Lebewesens nennt.8 Heute würde man von einer ökologischen Nische sprechen, in die sich die jeweilige Tierart eingliedert und für die sie entsprechende organische Anlagen ausgeprägt hat, obwohl der Begriff der Nische, im Vergleich zu dem der Umwelt, nicht mit der Annahme einer »Subjektivität« der Lebewesen verbunden ist.
H eidegger : D er » ontologische A bgrund « zwischen W elt und U mwelt Als sich Heidegger in den Jahren 1929/1930 in seinen Vorlesungen Die Grundbegriffe der Metaphysik direkt mit Uexküll auseinandersetzt,9 greift er noch nicht auf das berühmte Beispiel der Zecke zurück, das er zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennen konnte, weil es von Uexküll selbst erst später (1934) eingeführt wurde. Er benutzt hingegen als Modellorganismen für seine Thesen die Bienen, deren Verhalten Uexküll schon im Jahr 1920 in seiner Theoretischen Bio-
7 | J. von Uexküll: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 23. 8 | Der Begriff »Bauplan« wurde von J. von Uexküll sehr früh entwickelt und hat seine gesamte theoretische Biologie begleitet; siehe dazu C. Brentari: The Discovery of the Umwelt. 9 | M. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 344.
Umwelt der Tiere und Welt der Menschen
logie untersucht hatte.10 Heidegger bezieht sich u.a. auf Uexkülls Beispiel einer sammelnden Arbeitsbiene, die auf einer Frühlingswiese von einer Kleeblüte zur anderen fliegt, auf der Suche nach »Honig« (Heidegger benutzt wörtlich Honig und nicht Nektar, und dieser Fehler allein beweist, wie wenig ihn die konkreten naturwissenschaftlichen Beispiele interessieren).11 Heidegger erklärt Uexkülls Ausführungen folgend, dass dieses Fliegen, das einem äußeren Beobachter beliebig erscheinen könnte, ganz im Gegenteil nicht beliebig ist; es ist kein Herumfliegen, sondern ein Hinfliegen zum Duft: Heidegger nennt dieses ein »Benehmen«12 der Biene, weil es sich innerhalb dessen abspielt, was Uexküll den Funktionskreis des Tieres genannt hatte. Der Blütenduft ist, mit Uexkülls Worten, der Merkmalträger, der in der Welt der Biene dem Wirkmalträger Nektarsaugen entspricht. Wenn die Biene nach Duft und Farbe eine Blüte wählt und sich schließlich auf ihr niederlässt, um deren Nektar zu saugen, scheint sie mit ihr eine Beziehung einzugehen, aber in Wirklichkeit geht sie – laut Heidegger – keine wesentliche Beziehung mit der Blüte als solcher ein. Da sie in den Funktionskreis der Nahrung eingefügt ist, wird die Blüte in die Erfahrung der Biene immer nur als Auslöser der zum Nektar führenden Handlung eingehen. In diesem Sinne wird die Blüte nicht als Blüte vernommen, als selbstständiges Wesen mit eigenen Merkmalen: Die Blüte ist für die Biene nur Nahrung, Nektar. Aber im Übrigen kann die Biene, Heidegger zufolge, noch nicht einmal den Nektar als vorhanden feststellen. Nachdem sie ihn nämlich einmal gesaugt hat und weiterfliegt, tut sie das nicht, weil sie das Nichtmehrvorhandensein des Nektars festgestellt hat. Um das zu beweisen, bezieht sich Heidegger auch auf ein weiteres Experiment, bei dem der Unterleib einer Biene abgeschnitten wird.13 Das Tier saugt den Nektar weiter, ohne zu bemerken, dass er aus ihrem Körper wieder heraustritt. Die Biene ist von dem Nektar – schließt Heidegger daraus – »hingenommen«. Oder um es besser zu sagen: Sie hat »kein Vernehmen des Honigs als ein Vorhandenes, sondern ein eigentümliches Benommensein«.14 Der Zweck von Heideggers Rückgriff auf dieses Beispiel und andere ähnliche15 ist also offensichtlich: Er benutzt es als Bestätigung der Tatsache, dass dem Tier nicht das, was Heidegger die »Als-Struktur« nennt, zugänglich ist. Das heißt: Die Biene kann nicht die Blüte als Blüte, den Nektar als Nektar erfassen, eben weil die Beziehung, die sie zu den Seienden hat, die ist, von ihnen »be-
10 | Heidegger bezieht sich daher v.a. auf Uexkülls Theoretische Biologie von 1920 und auf Umwelt und Innenwelt der Tiere von 1921. 11 | M. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 351. 12 | Ebd., S. 344. 13 | Ebd., S. 352f. 14 | Ebd., S. 354. 15 | Ebd., S. 356f.
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nommen« zu sein.16 Diese Benommenheit ist für Heidegger kein momentaner Zustand des Tieres, sondern seine »Wesensstruktur«. Das Tier ist benommen, da es von etwas »eingenommen« wird, das natürlich weder mit dem Tier selbst noch lediglich mit dem ihm Anderen identifiziert werden kann, das aber diese beiden Glieder der Beziehung vereint. Es handelt sich um ein Gebundensein durch die Kette der Impulse, die das Tier vollständig absorbieren und die seine Lebensform kennzeichnen. Im Gegensatz zum Benehmen der Tiere, das laut Heidegger nur »ein Treiben« ist, ist für ihn nur das Verhalten des Menschen ein Tun und ein Handeln.17 Benommen zu sein, keine Als-Struktur zu haben, hat für Heidegger dieselbe Bedeutung wie keine »Welt« zu haben, oder mit den Worten seiner Vorlesungen ausgedrückt: welt-arm zu sein.18 Heidegger verwendet »Weltarmut«, um das Tier im Gegensatz zur anorganischen Natur nicht als völlig zugangslos zum Seienden zu definieren und gleichzeitig die Tatsache zu bezeichnen, dass das Tier einen auf seinen Funktionskreis (Heidegger nennt ihn »Enthemmungsring«19) beschränkten Zugang hat.20 Somit erscheint der Rückgriff auf Uexkülls Untersuchungen entscheidend, eben um diese Ursprünglichkeit der Verbindung zwischen Tier und Umwelt zu bekräftigen. Was jedoch Heidegger am meisten an Uexküll interessiert, ist nicht so sehr die Spezifität der jeweiligen tierischen Umwelten oder deren Vielfalt, sondern vielmehr die Tatsache, dass »das Tier« in seinen Funktionskreis eingeschlossen oder – wie er sagt – »eingesperrt« ist.21 Anders gesagt: Heidegger treibt die von Uexküll entdeckte Spezifität der tierischen Umwelten bis zum Äußersten, um sie zu einem radikalen Trennungsfaktor (anders als bei Uexküll) zwischen Tier und Mensch zu erheben: Hier – so Heidegger – »handelt [es] sich nicht einfach nur um eine qualitative Andersheit der tierischen Welt und der Welt des Menschen und erst recht nicht um bloß quantitative Unterschiede der 16 | Ebd., S. 360f. 17 | Ebd., S. 346. 18 | Die Anwendung der Idee der Weltarmut auf das Tier ist eigentlich der damaligen Biologie nicht fremd. Man findet sie z.B. in einer Schrift von 1929 von F.J.J. Buytendijk: »Das Tier (hat) nichts als das Notwendige – seine Umwelt –, das heißt es ist arm. Der Mensch hat mehr als er braucht – seine Welt –, das heißt er ist reich«. F.J.J. Buytendijk: Zur Untersuchung des Wesensunterschieds von Mensch und Tier, S. 65. 19 | M. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 360. 20 | In den späteren Schriften Heideggers wird aber das Tier nicht mehr als »welt-arm« definiert, sondern als »weltlos«. Siehe z.B. M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie, S. 277. 21 | Dieses Vorurteil Uexküll gegenüber findet man auch in Hans Blumenbergs Vergleich der Umwelt Uexkülls mit einer Packung Makkaroni. Vgl. H. Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 285.
Umwelt der Tiere und Welt der Menschen Weite, Tiefe und Breite. Es geht nicht darum, ob und wie das Tier das Gegebene anders wahrnimmt, sondern ob das Tier überhaupt etwas als etwas, Seiendes als Seiendes vernehmen kann oder nicht. Wenn nicht, dann ist das Tier durch einen Abgrund vom Menschen getrennt.«22
Zwischen Welt und Umwelt, zwischen menschlichem Verhalten und tierischer Benommenheit, existiert für Heidegger ein solcher »Abgrund«, sodass er von einer »ontologische[n] Differenz« sprechen kann. Diese Idee, dass zwischen Mensch und Tier kein qualitativer oder quantitativer Unterschied existiert, sondern eben eine »ontologische« Trennung, ist einer der am meisten kritisierten Punkte der Philosophie Heideggers, u.a. von Hans Jonas.23 Allerdings präsentiert diese These des strukturellen Unterschieds auch eine »positive« Seite, die insbesondere von Jacques Derrida unterstrichen wurde: Sie habe den Vorzug, die traditionellen Hierarchien der Unterscheidung zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem infrage zu stellen; sie habe die Vorstellung eines Gradunterschieds aufgegeben und dadurch den Anthropozentrismus vermieden.24 Matthew Calarco hat kürzlich diese Idee von Derrida aufgegriffen und behauptet, man müsse Heidegger zumindest einräumen, eine metaphysische und phänomenologische Untersuchung des Tierseins »vom Tier selbst her« versucht zu haben.25 Von Heideggers Standpunkt aus gesehen, wäre es kontraproduktiv, eine komparative Untersuchung der weltlichen Beziehungen der Menschen und der Tiere vorzunehmen, falls man dabei der Annahme folgte, dass die Tiere »einfacher« oder »niedriger« seien. Heidegger ist sich natürlich auch dessen bewusst, dass zahlreiche Tierarten in vielerlei Hinsicht in der Lage sind, außerordentlich komplexe und reichhaltige Beziehungen zu unterhalten, Beziehungen, die auch die Komplexität verschiedener menschlicher Beziehungen übertreffen (wie der Geruchssinn des Hundes oder die Sicht der Vögel). Aber gerade aus diesem Grund hat für ihn die Idee einer Stufenfolge oder Stufenreihe überhaupt keinen Sinn. Selbst wenn man allerdings – und das ist der entscheidende Punkt – Heidegger einräumen würde, dass seine Absicht bei der vollständigen Trennung zwischen Welt und Umwelt darin gelegen habe, eine phänomenologische 22 | M. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 383f. 23 | Hans Jonas zufolge hätte Heidegger vehement gegen die Vorstellung gekämpft, dass das Sein des Menschen »überhaupt in irgendeine Stufen- oder Seinsordnung, d.h. in einen Zusammenhang der Natur« eingeordnet werden könne, eben unter Verlust des ontologischen Unterschieds zwischen ihm und den anderen Lebewesen. Aus diesem Grund hätte Heidegger, weiterhin Jonas zufolge, auch die aristotelische Definition des Menschen als »rationalem Tier« zurückgewiesen. H. Jonas: Das Prinzip Leben, S. 365. 24 | J. Derrida: Vom Geist, S. 61. 25 | M. Calarco: Zoographies, S. 28.
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Untersuchung des Tierseins »vom Tier selbst her« vorzunehmen, verweisen die wichtigsten von ihm verwendeten Begriffe, um die wesentliche Seinsart des Tieres zu bezeichnen – wie gerade Weltarmut und Benommenheit – auf eine privative und negative Zugangsweise zum Tier. Das Tier wird ausgehend von dem, was ihn vom welt-bildenden oder welt-offenen Menschen unterscheidet, interpretiert, und nicht – wie Heidegger es gerne hätte – von seiner eigenen »Seinsart«. Im Übrigen darf dieses Resultat nicht weiter überraschen: Es gliedert sich in jene »privative« Interpretation des Lebens ein, die Heidegger spätestens seit Sein und Zeit bekundet hat und die an dieser Stelle wunderbar zum Ausdruck kommt: »Leben ist eine eigene Seinsart, aber wesenhaft nur zugänglich im Dasein. Die Ontologie des Lebens vollzieht sich auf dem Wege einer privativen Interpretation; sie bestimmt das, was sein muss, dass so etwas wie Nur-noch-leben sein kann«.26
H elmuth P lessner : D ie R el ationalität von U mwelt und W elt Für Helmuth Plessner stellt genau diese Art von »privativem Zugang« zum Leben einen der wichtigsten Kritikpunkte an der Philosophie Heideggers dar, die er nicht einfach ablehnt, sondern die er in gewissem Sinne mit seiner gesamten Reflexion zu beantworten versucht. Für ihn ist dieser privative Weg eng mit dem allgemeinen Verlust der Leiblichkeit »im Existenzialismus« und der »natürlichen« Dimension des Menschen verbunden. Das Heidegger’sche Dasein bleibt für Plessner eine »freischwebende Existenz«,27 in der es sich von seiner Leiblichkeit entfernt, von der »unübersehbare[n] Verklammerung der menschlichen Art zu sein mit dem menschlichen Organismus«,28 von jenem Schicksal, das der Mensch mit allen anderen Lebewesen teilt, kraft der natürlichen Tatsache, dass er geboren wird, lebt und stirbt. Mit dieser Auswertung der Leiblichkeit wendet sich Plessner zugleich gegen die Idee einer »ontologischen Differenz« zwischen Mensch und Tier. Für Plessner macht sich jede einfache Zuordnung des Tieres zum Konzept einer geschlossenen Umwelt und des Menschen zur Weltoffenheit die Sache »zu einfach«: »Als lebhafte Wesen von artspezifischer Prägung sind wir nicht« – schreibt Plessner – »in der Situation des Engels, der endlich, aber körperlos ist. Wo ein Körper ist, muss Umwelt sein.«29 26 | M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 50. 27 | H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. XIV. 28 | H. Plessner: Immer noch eine philosophische Anthropologie?, S. 244. 29 | H. Plessner: Der Mensch als Naturereignis, S. 277. Plessners Kritik an Heidegger ist allerdings indirekt und richtet sich hauptsächlich gegen Schelers Trennung zwischen Umwelt und Welt.
Umwelt der Tiere und Welt der Menschen
Plessners Wiederaufnahme von Uexkülls Begriff der Umwelt30 unterscheidet sich in diesem Sinne von Heideggers: Wesentlich ist v.a., dass Plessner einsieht, dass nicht nur die Tiere, sondern auch der Mensch – dank seiner Leiblichkeit – konstitutiv und ursprünglich mit einer Umwelt verbunden sind. In seiner technischen Sprache formuliert, stehen Mensch und Tier auf demselben »positionalen« Niveau. Die »Positionalität« ist für Plessner ein »Leitfaden«, ein allgemeineres Merkmal, durch das sich belebte von unbelebten Naturgebilden unterscheiden. Er schreibt: »In seiner Lebendigkeit unterscheidet sich also der organische Körper vom anorganischen durch seinen positionalen Charakter oder durch seine Positionalität.«31 Der Begriff der Positionalität folgt aus der Konzeption der »Verwirklichung der Grenze«, die Plessner in seinem Hauptwerk erläutert: Denn »Positionalität« drückt im Grunde nichts anderes aus, als die besondere Weise, auf die ein Körper seine eigene »Grenze« realisiert. Das Lebewesen sei nämlich per definitionem ein positioniertes Wesen: Ein Organismus, so Plessner, erfüllt nicht einfach einen Raum, wie es unbelebte Dinge tun, sondern er nimmt sich »seinen« Platz. Er hat also nicht einfach einen Platz, innerhalb bestimmter raum-zeitlicher Koordinaten, sondern besitzt und realisiert vielmehr jenen Standort. Er verfügt über seine Umwelt in dem Sinne, dass er mit ihr ein Verhältnis des Austauschs (und auch der Gegensätzlichkeit) unterhält: »In dem Bezogensein von Organismus und Umgebungsfeld, die beide gegensinnig zueinanderstehen, liegt das den lebendigen vom unbelebten Körper unterscheidende Kennzeichen der Positionalität.«32 In diesem Sinne ist »Positionalität« keineswegs ein statisches Konzept – wie man meinen könnte, wenn man dabei nur an das Vorhandensein eines Körpers im Raum denkt. Es ist vielmehr Ausdruck der Aktivität des Lebewesens, oder besser gesagt: Es ist etwas, das sowohl die statischen als auch die dynamischen »Kennzeichen« des Lebewesens umfasst. Außerdem ist die Positionalität für Plessner »psychisch und physisch neutral«: Das positionale Prinzip wählt weder die physische noch die psychische Seite als bevorzugten Standpunkt zur Auffassung des Lebewesens, sondern es hat ganz im Gegenteil das Ziel, sowohl die »physischen« als auch die »psychischen« Phänomene des Lebewesens zu erklären. Ganz im Sinne einer in Jakob von Uexkülls Beitrag entwickelten Naturphilosophie mit aristotelischem Ursprung umreißt Plessner auf dieser Grundlage im Wesentlichen »zwei positionale Formen«: Pflanze und Tier. Ihre unterschiedliche Entwicklungsstufe ist schlicht der unterschiedliche Ausdruck der Realisierungsform der eigenen Grenze vonseiten des Lebewesens: Je vermittelter und 30 | Siehe dazu K. Köchy: Helmuth Plessners Biophilosophie als Erweiterung des Uexküll-Programms. 31 | H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. IXI. 32 | Ebd., S. 157.
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indirekter das Verhältnis des Organismus zur Umwelt ist, desto größer werden seine Trennung von der Außenwelt und seine Selbstständigkeit oder »Autonomie«. Plessner bezweifelt folglich, dass die Pflanze als ein Selbst verstanden werden kann: Er behauptet, es wäre besser, sie als ein Dividuum33 zu definieren, eben dank ihrer Offenheit und ihrer unmittelbaren Stellung im Lebenskreis. Nur durch die Positionalform des Tieres wird aber eine neue »Existenzbasis« gegründet, welche für Plessner dieselbe ist, auf der der Mensch steht. Er definiert das Tier im Gegensatz zur Pflanze als eine »geschlossene Form«: »Geschlossen ist diejenige Form, welche den Organismus in seinen Lebensäußerungen mittelbar in seine Umgebung eingliedert und ihn zum selbstständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises ausmacht.«34 Der Mensch, wie auch einige Tiere, repräsentiert hingegen eine zentralistische geschlossene Form. Wie Plessner sagt, muss er »körperlich Tier bleiben«.35 Besser gesagt, bewahrt der Mensch in sich selbst jene positionale Unterscheidung zwischen Körper und Leib, die schon für einige Tiere typisch ist36 – und aus diesem Grund wird hier von zwei Positionalformen gesprochen und nicht von drei, wie mit Blick auf Plessners Überlegungen gemeinhin behauptet wird. Das führt für Plessner jedoch nicht einfach zu einem biologistischen oder evolutionistischen Reduktionismus des Menschen auf seine Umwelt. Ganz im Gegenteil: Wenn Plessner also Uexkülls Lehre von der Umwelt übernimmt, dann nicht ohne hervorzuheben, dass die biologische Umwelt als Grundlage einen Begriff der »extrabiologischen Welt« voraussetzt, dessen Ausarbeitung Aufgabe einer philosophischen Anthropologie ist.37 Plessner richtet unter diesem Gesichtspunkt seine gesamte Kritik gegen Uexkülls Auffassung: Dessen Neigung zu einer gleichwertigen Betrachtung der menschlichen Welt und der tierischen Umwelten ist es, die Plessner kritisiert: »Daß der Mensch ein Bilderbuch der ihm unsichtbaren Welten der anderen Lebewesen schreiben kann, dass er darzustellen versucht, wie Fliegen, Spinnen, Hunde, Katzen unser Zimmer sehen, ist eine erlaubte Konzession Uexkülls gerade an dem menschlichen Weltbegriff, der eben mehr bedeutet als den Inbegriff aller auf den Menschen relativen Dingen. Von diesem Mehr kommt auch Uexküll nicht los.«38 33 | Ebd., S. 220. Die Idee der Pflanze als eines ›Dividuums‹ geht auf die entsprechenden Reflexionen zum Status der Pflanze in den Gedanken Goethes und Hegels zurück. Der Begriff ›Dividuum‹ wird in diesem Zusammenhang bereits von Novalis verwendet. 34 | Ebd., S. 226. 35 | Ebd., S. 293. 36 | Über die Beziehung zwischen Körper und Leib in Plessner siehe insbesondere V. Schürmann: Max Scheler und Helmuth Plessner. 37 | H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 226. 38 | H. Plessner: Mensch und Tier, S. 59.
Umwelt der Tiere und Welt der Menschen
Aber im Unterschied zu Heidegger, für den ein unermesslicher Hiatus zwischen Welt und Umwelt besteht, ist der Mensch nach Plessner auf einer prekären und beständigen Suche nach einem stets unerreichbaren Gleichgewicht zwischen diesen beiden Dimensionen, die sich gegenseitig beeinflussen und miteinbeziehen: Die Umweltgebundenheit beeinflusst die Weltoffenheit und umgekehrt die Weltoffenheit die Umweltgebundenheit. Mit Plessners Worten »kollidieren« beim Menschen Umweltgebundenheit und Weltoffenheit miteinander und gelten »nur im Verhältnis einer nicht zum Ausgleich zu bringenden gegenseitigen Verschränkung [d.h. Relationalität; F. M.]«, und diese ist »eine Möglichkeit, die durch seine zugleich tierische und nichttierische ›Natur‹ nahegelegt ist«.39 Es handelt sich hierbei um eine »konstitutive Disharmonie« des Menschen, die Plessner mit dem Begriff ›Exzentrizität‹ ausdrückt.40 Die Behauptung, der Mensch sei exzentrisch (ex-zentrisch), bedeutet einerseits, dass er sich im Gegensatz zum Tier der ihn von seinem eigenen Körper trennenden Distanz bewusst ist;41 andererseits kann er sich niemals von seiner »zentrischen«, tierischen Basis lösen. Innerhalb der tierischen Sphäre hat er diese Besonderheit, sich der sie tragenden Gesetze zu entziehen: Er ist ein Tier, das seine Tierheit verleugnet hat, das sie hinter sich lässt; gleichzeitig macht seine Lebensform – die Exzentrizität – keine neue Organisationsform möglich, da der Mensch für Plessner »körperlich Tier bleiben« muss. Das darf aber wiederum nicht missverstanden werden. Ex-zentrisch zu sein impliziert, an keine besondere Gestalt gebunden zu sein und unter jeder anderen beliebigen Gestalt existieren zu können.
S chluss Während also Heidegger den Menschen künstlich von seiner organischen Umwelt trennt, indem er ihn in seiner existenziellen Position isoliert, lebt der Mensch für Plessner immer auch in seiner natürlichen Dimension, die unlösbar mit seiner Exzentrizität verbunden ist. Das kommt u.a. daher, dass Heidegger einen privativen Zugang benutzt, der von der menschlichen Existenz ausgeht (und nicht von seiner Leiblichkeit), um im Wesentlichen – in der Annahme eines ontologischen Abgrunds – das tierische Benehmen vom Verhalten des Menschen zu unterscheiden. Plessner hingegen greift eine Auffassung der »Stufen« auf, die heute als gänzlich unzeitgemäß anmutet: Er geht von der »Stufe« des Pflanzlichen und des Tierlichen aus, um zum Menschen zu gelangen. Dieser 39 | H. Plessner: Über das Welt–Umweltverhältnis des Menschen, S. 80f. 40 | H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 63. 41 | »Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber erlebt sich nicht als Mitte.« (Ebd., S. 288)
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Gedanke ist jedoch mitnichten unzeitgemäß, denn einerseits dürfen die Stufen weder mit einer empirischen Taxonomie noch mit dem erneuten Vorbringen einer »Naturleiter« verwechselt werden, sondern sie sind typologische Organisationsformen und stellen die verschiedenen Trennungsgrade des Lebewesens von der Umwelt dar. Andererseits ist es für Plessner, allgemeiner betrachtet, unmöglich, irgendeine philosophische Anthropologie unabhängig von einer Lebensphilosophie, oder besser gesagt einer Naturphilosophie, zu begründen (»Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen«42). Die Aufgabe von Plessners philosophischer Anthropologie ist deshalb ganz anders als die von Heidegger formulierte, und sie besteht im Grunde genommen darin, die Folgen der exzentrischen Positionalität – in der die Umweltverbundenheit und die Weltoffenheit »kollidieren«43 – für die menschliche Existenz und für deren Beziehung zu den anderen Lebewesen zum Ausdruck zu bringen. Dabei wird das physisch-organische Leben in die philosophische Reflexion über den Menschen integriert, ohne in einen radikalen Naturalismus oder Biologismus zu verfallen.
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42 | Ebd., S. 63. 43 | Die besten Beweise für diese Kollision der beiden Dimensionen der Umweltverbundenheit und der Weltoffenheit in der conditio humana sind für Plessner die Phänomene vom Lachen und Weinen. Siehe H. Plessner: Lachen und Weinen.
Umwelt der Tiere und Welt der Menschen
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Sand im Getriebe der ›anthropologischen Maschine‹ Kim Jones’ Rat Piece Stephanie Milling
Die Verhandlung der Beziehungen zwischen Tieren und Menschen, der TierMensch-Konstellationen erfolgt entlang der Grenzen des Menschlichen und des Tierlichen: Im Zusammenspiel von Grenzziehungen und -überschreitungen wird die anthropologische Differenz definiert. Sie ist in den Human-Animal Studies zum kleinsten gemeinsamen Nenner geworden. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass diese Differenzierung beständig neu ausgehandelt, affirmiert, verschoben und aufgebrochen wird. Ihre Komplexität zeigt sich in der geschichtlichen Dimension der Tier-Mensch-Grenze: Die Unterscheidungsmerkmale zwischen Mensch und Tier sind nicht dauerhaft, sondern historisch und lokal bedingt. In der Praxis wie in der Theorie, in der Zusammenarbeit von Philosophie, Biologie und Ethologie ebenso wie in der Nutzung von Tieren in der Landwirtschaft, in ihrer Rolle als Haustiere oder Akteure und Materialien der Kunst – kurz: im Kontakt von Menschen und Tieren in verschiedenen Strukturen und Zusammenhängen verändert sich, wer Subjekt sein darf und wer Objekt, was wir ein Tier und damit auch, wen wir einen Menschen nennen. Die Tier-Mensch-Relationalität bezeichnet diesen Aushandlungsprozess. Sie bestimmt die Begriffe, die wir uns von Menschen und Tieren und den Beziehungsgeflechten machen, in denen sie sich begegnen.1 Wie ist sie aber selbst bestimmt? Sie ist abhängig von den zeitlichen und räumlichen Konfiguratio1 | Diese Geflechte können von sehr unterschiedlichen Maximen geprägt sein, die von der Kooperation bis zum Gewaltverhältnis reichen und von den Rollen der einzelnen Akteur_innen abhängen, die als ›Tier‹ oder ›Mensch‹ nicht ausreichend definiert sind – man denke als naheliegendes Beispiel etwa an die gemeinsame Tätigkeit von Schäfer_innen
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nen, in deren Rahmen sie verhandelt wird. Das heißt zunächst ganz banal: In den 1970er-Jahren gestaltet sie sich anders als heute, im einen Land anders als im anderen. In der Kunst schlägt sich dieser Diskurs nieder. Wann immer Tiere Teil von Kunst werden, spielt auch die Tier-Mensch-Relationalität eine Rolle, einerseits werkimmanent – in welchem Zusammenhang stehen die Tiere innerhalb des Werks mit anderen Elementen und Akteur_innen? –, andererseits auch in der Spiegelfunktion des Kunstwerks für die Gesellschaft: Wie ist das TierMensch-Verhältnis geartet, aus dem heraus es entstanden ist? Der vorliegende Beitrag geht aus von einer werkanalytischen Betrachtung der Performance Rat Piece des US-amerikanischen Künstlers Kim Jones. In Verbindung mit Rat Piece wird anschließend der von Giorgio Agamben geprägte Begriff der ›anthropologischen Maschine‹ als Konzept und Werkzeug verstanden, mit dessen Hilfe die Tier-Mensch-Relationalität, wie sie sich in dieser Performance zeigt, beschrieben werden kann. Die Mechanismen der Ein- und Ausschließung, mittels denen ›das‹ Tier von ›dem‹ Menschen in beständiger gesellschaftlicher Praxis getrennt wird, werden auf die Kunst und ihre politischen und sozialen Relationen übertragen. In der Zusammenschau lässt sich untersuchen, inwiefern das Ziehen einer Tier-Mensch-Grenze eine problematische, auch politisch aufgeladene Angelegenheit ist. Vorauszuschicken bleibt, dass der vorliegende Beitrag schon mit einem Manko beginnt: Im Mittelpunkt steht der Mensch, in diesem Fall das KünstlerAlter Ego Mudman und nicht die Tiere, die der Künstler für die Performance getötet hat, wie sie auch nicht im Mittelpunkt der Arbeit stehen2 – ein Dilemma, das in der Analyse solcher Kunst kaum aufzulösen ist, wenn man sie nicht allein durch diese Problematik völlig diskreditiert sieht.
und Hütehunden, um eine Herde Schafe zu treiben und die Binnendifferenzierungen, die zu ihrer Beschreibung notwendig sind. 2 | Dies zeigt sich schon in der Benennung: Rat Piece meint weder, dass die Ratten Kunst produzieren, noch, dass es eine Arbeit über Ratten ist. Vielmehr nennt der Titel die Tiere als künstlerisches Material, ganz ähnlich wie Raphael Montañez Ortiz neben Mattress und Chair Destructions auch Chicken Destructions durchführte. Der Versuch, den Tieren, die in diesen und anderen Performances getötet werden, eine Form von Agency zuzusprechen, erscheint mir vor dem Hintergrund dessen, was ihnen durch die Künstler_innen widerfährt, zumindest fragwürdig, wenn nicht sogar unangebracht.
Sand im Getriebe der ›anthropologischen Maschine‹
K im J ones , M udman und die P erformance R at P iece Der US-amerikanische Künstler Kim Jones3 hat es mit Rat Piece 1976 zu zweifelhafter Berühmtheit gebracht. Kern der Performance, die in der Union Gallery auf dem Campus der California State University stattfand, war die Verbrennung von drei Ratten in einem Käfig, die er als sein Alter Ego Mudman vor Publikum durchführte. Die Rezeption damals wie heute war und ist weitgehend von Ablehnung ob der Brutalität der Arbeit geprägt. Insbesondere im Kontext der oben beschriebenen Tier-Mensch-Grenzziehungen lohnt sich jedoch ein genauerer Blick auf die Performance und ihre Komplexität. Die Persona Mudman entwickelte Jones bis etwa 1975, um sie danach immer wieder in seinen Arbeiten einzusetzen. Die Kernelemente standen bis dahin weitgehend fest: Die sperrige Lattenkonstruktion aus Fundmaterial für den Rücken ist das wohl auffälligste Merkmal. Es ist meist aus sich überlagernden, zu Dreiecken gebundenen Zweigen oder Latten gebaut und kann von einer relativ einfachen geometrischen Form bis hin zu hochkomplexen Gebilden reichen. Robert Storr vergleicht sie mit einem »collapsed cage that simultaneously contains and displays otherwise intangible feelings«.4 Das Gestell ist die Leinwand, vor der Mudman in Erscheinung tritt. Daneben gehört die Unkenntlichkeit der Gesichtszüge durch das Überziehen eines Damenstrumpfes, manchmal auch eine Art Maske aus Bauschaum dazu, sowie das Tragen von schweren Militärstiefeln und der schlammbeschmierte, meist nackte oder teilweise nackte Körper.5 Mudman ist eine lebende Skulptur, aber auch ein monströses Wesen, das sich in der Öffentlichkeit präsentiert. Eine der ersten Performances, in denen er seinen Auftritt hat, war der zwei Mal durchgeführte Wilshire Boulevard Walk6, der ihn zwölf Stunden lang von Osten nach Westen durch Los Angeles führte, einmal tagsüber von sechs Uhr morgens bis 6 Uhr abends, einmal nachts. Jones berichtet von zahlreichen Begegnungen während dieser Zeit, etwa mit 3 | Jones (*1944) begann seine künstlerische Ausbildung nach eigener Aussage Anfang der 1960er-Jahre mit einzelnen Kursen und studierte zwischen 1964 und 1966 am Chouinard Art Institute, einer der Vorgängerinstitutionen des California Institute of the Arts in San Francisco. Von 1966 bis 1969 verpflichtete er sich als Soldat. Nach seiner Rückkehr schloss er seine Ausbildung am California Institute for the Arts (1971) und am Otis Art Institute (1973) ab. Er war also schon Veteran, als er seine künstlerische Karriere ernsthaft zu verfolgen begann. Vgl. Jones im Interview, S. Maine: Kim Jones. 4 | R. Storr: Acting Out, S. 90. 5 | In einigen Performances tritt Mudman allerdings auch bekleidet auf, dann meist mit einem längeren Militärmantel und den bereits erwähnten schweren -stiefeln. 6 | Es ist dies, wie Julie Joyce betont, die erste öffentlich angekündigte und gesponserte Performance von Kim Jones; vgl. J. Joyce: Sunset to Sunrise, S. 37.
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Polizisten, aber auch vom gescheiterten Versuch, eine Tankstellentoilette aufzusuchen.7 Für Jones ist die Widersprüchlichkeit eine zentrale Eigenschaft des Mudman; einerseits wirkt er unheimlich und erschreckend, andererseits aber auch verwundbar in seiner Unübersehbarkeit und Unbeweglichkeit: »For one thing, because I’m not a large man, it makes me larger. And it makes me scarier because I’m more threatening looking with all the sticks and mud and sometimes shit attached and put on my whole body. But also it kind of cripples me in a certain way; for one thing, I can’t see very well since my face is covered with panty hose and I can’t move swiftly because I have this heavy and awkward structure on me.«8
Mudman tritt auf als ein halbmenschliches Wesen, eingeschränkt durch das Gewicht, das auf ihm lastet, und den Blicken ausgesetzt, die ihn unweigerlich treffen. Sein Äußeres erinnert an postapokalyptische Film- oder Romanszenarien. In einigen Aufnahmen ist er halbnackt in einer öden, menschenleeren Landschaft zu sehen, als entspringe er einer anderen Welt oder stamme von einem anderen Planeten (Abb. 1). Dennoch steht die Begegnung mit Menschen im Mittelpunkt. Mudman ist ein Fremdkörper, aber er tritt als solcher mitten in der Gesellschaft auf. Dabei ist er nicht unzugänglich: Wenn er angesprochen wird, dann antwortet er freundlich oder zeigt kurz sein Gesicht. Die Figur ist nicht angelegt auf Aggression. Jones versetzt sie in das Alltagsleben, wo sie eine Funktion ähnlich einem Kristallisationskeim erfüllt – sie kann der Startpunkt für Begegnungen und Erlebnisse sein, an ihr kann sich Kommunikation und Auseinandersetzung entzünden. Nur kurze Zeit nachdem Mudman durch das Zentrum von Los Angeles gewandert war, zeigte Jones eine dunklere Seite seiner Kunstfigur. Die Performance Rat Piece fand auf Einladung des damaligen Leiters der Union Gallery Frank Brown am 17. Februar 1976 statt.9 Zu Beginn entkleidete sich der Künstler und vollzog die Verwandlung zum Mudman: Er beschmierte sich mit Schlamm, zog einen Damenstrumpf über sein Gesicht und lud sich eine Lattenkonstruktion 7 | Vgl. Artist Talk am Vermont Studio Center, 08.04.2014: https://www.youtube.com/ watch?v=wotwPZPaXzY. 8 | S. Maine: Kim Jones. 9 | Brown wurde infolge der öffentlichen Kontroverse entlassen, vgl. u.a. J. Joyce: Sunset to Sunrise, S. 28; siehe auch M. Harries: Pain of Rats, S. 161. Ihm war durchaus bekannt, was Jones plante, so erinnert sich der Künstler jedenfalls: »It initially got started as a design project in 1972 when I was at Otis. […] Basically, what I did was I burned some rats to death in the sculpture garden and filmed it with a little Super 8 camera. Then later, Frank Brown, whom I met through Lowell Darling, offered to let me do it at Cal-State in L.A. That’s when I did the more or less official rat piece.« S. Maine: Kim Jones.
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Abb. 1: Kim Jones als Mudman im Dezember 1975 in Venice, Kalifornien. aus verschiedenen Materialien wie Zweigen und Bauholz, zusammengehalten von Kabeln, Bauschaum und Schlamm, auf den Rücken. Er rezitierte einen einleitenden Text aus der Perspektive des Mudman, der sich mit seiner Nacktheit, dem Gestell auf seinem Rücken, seinem physischen und psychischen Zustand beschäftigte: »[…] feelings about his nakedness, the structure on his back, reactions to his performance and to himself as though the structure were part of his physical being, feeling like a mad thing caught in the wind, trying to escape and to identify his feelings.«10 Dann enthüllte er einen Käfig mit drei männlichen11 Ratten, übergoss sie mit brennbarer Flüssigkeit und zündete sie an. Er wiederholte dies mehrere Male, bis die panisch im Kreis rennenden Ratten schließlich starben. Gegen Ende stimmte er, so die Berichte der Beobachter, kurz in die Todesschreie der Tiere ein. Danach bedeckte er die Überreste der Ratten mit Sand, setzte die Lattenkonstruktion auf seinem Rücken ab, zog sich an, ohne die Strumpfhose zu entfernen, und beendete die Performance.12 10 | Zuschaueraussage, zitiert in dem von Jones selbst zusammengestellten Band Rat Piece, in dem er die Folgen der Performance, Reaktionen von Zuschauern und Polizei sowie eigene Texte dokumentiert;zitiert nach K. Stiles: Concerning Consequences, S. 176. 11 | Vgl. S. Maine: Kim Jones. Jones scheint demnach bewusst männliche Ratten ausgesucht zu haben, gibt aber keinen konkreten Grund für diese Wahl an. 12 | Vgl. M. Harries: Pain of Rats, S. 160; sowie K. Stiles: Concerning Consequences, S. 178.
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Verbindungen von Rat Piece mit den Erfahrungen des Künstlers als Soldat in Vietnam, wohin er sich 1966 freiwillig verpflichtet hatte, sind von Jones selbst gezogen worden: »The one piece that I did which was directly related to the Vietnam War was when I burned the three male rats to death in ’76. That was directly related to the fact that we used to burn rats to death in Vietnam. [...].«13 Jones war wohl nicht direkt in Kampfhandlungen verwickelt, er arbeitete als Zusteller für die Feldpost. Im Gespräch mit Kristine Stiles spricht er von einem Gefühl der Schuld: »Some of those battles were pretty fierce. So there is guilt about that – not being sent out to those places.«14 Im Januar 1968 wurde er ausgeflogen und erlebte die heftigen Auseinandersetzungen und die Zerstörung von Dong Ha, wo er stationiert gewesen war, im April 1968 nicht mit.15 Allerdings, so Jones im Gespräch mit Stiles: »[…] the base at Dong Ha was always getting hit by rockets and artillery […]«,16 Jones kam also durchaus mit dem Krieg in Berührung, etwa auch auf Zustellungsmissionen zu anderen Posten. Die Zeit, in der Jones im Vietnamkrieg war, wird durch einige Selbstäußerungen illustriert. Insbesondere ein Text ist in Bezug auf Rat Piece relevant, der auch in dem Künstlerbuch abgedruckt ist, das die Performance und ihre Nachwirkungen dokumentiert. Jones schreibt: »vietnam dong ha marine corps our camp covered with rats they crawled over us at night they got in our food we catch them in cages and burn them to death I remember the smell // some enjoyed watching the terrified ball of flame run // vietnam dong ha marine corps feel sorry for one and let it go my comrades attack me verbally // vietnam dong ha marine corps guard duty it was my turn to sleep a duck was quacking bothered me threw a rock at the duck hit its head next morning it was staggering around crippled I couldn’t kill it a friend crushed its head with his boot«17
Jones wiederholt in Rat Piece Handlungen, die er und seine Kameraden anscheinend mehr oder weniger gewohnheitsmäßig auf ihrem Posten in Vietnam durchführten. Offenbar gab es eine große Menge Ratten, die das Camp als Schädlinge heimsuchten. Das Töten der Tiere erscheint in Jones’ Rückschau als ein Mittel der Ablenkung von Langeweile und der Ausgesetztheit im Krieg in einem fremden Land, auch als Möglichkeit der Aktivität, die sich der Frustration 13 | Kim Jones im Gespräch mit Susan Swenson, zitiert nach M. Harries: Pain of Rats, S. 161. 14 | K. Stiles: Concerning Consequences, S. 186. 15 | Vgl. ebd., S. 185. 16 | Ebd., S. 186. 17 | K. Jones: Rat Piece, S. 7, zitiert nach K. Stiles: Concerning Consequences, S. 179. Auch Martin Harries zitiert diesen Text (allerdings ohne den letzten Absatz) und datiert ihn auf etwa 1977; vgl. M. Harries: Pain of Rats, S. 162.
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und Passivität im Camp entgegensetzen ließ. In Rat Piece wird diese Handlung gleich dreifach grenzüberschreitend, dreifach transgressiv, weil die Performance eine dreifache Versetzung bewirkt: einerseits auf einen anderen, den Heimatkontinent, andererseits in Friedenszeiten und drittens in die Sphäre der Kunst. Die emotionale Ablehnung des Publikums spiegelt diese Transgressionen wider, wenn auch niemand Jones an der Ausführung hinderte.18 Um Grenzen und ihre Wirkung soll es auch im folgenden Exkurs gehen, der sich mit Giorgio Agambens ›anthropologischer Maschine‹ befasst. Für die anschließende Zusammenschau mit Rat Piece muss aufgrund des Platzmangels ein kursorischer Überblick über die von Agamben herausgearbeiteten Mechanismen der Trennung von Humanem und Animalischem genügen.
A usgrenzen und E inhegen : G iorgio A gambens › anthropologische M aschine ‹ Praktisch von Beginn an wird in den Human-Animal Studies über Grenzen und ihre Aufhebung nachgedacht.19 In einer philosophisch breit angelegten Relektüre sucht man nach den Tieren – und wird von Aristoteles bis Heidegger (und weit über sie hinaus) fündig, denn zur Beantwortung der Frage nach dem Menschen ziehen sie ein Gegenüber heran, einen Anderen: das Tier. Die Humanität des Menschen wird der Animalität des Tiers entgegengesetzt: »Rather than acknowledging the disparate modes of being, relation, and language to be found among animals, most philosophers have sought instead to determine what constitutes animality as such, or the being of ›The Animal,‹ understood in the general plural.«20
Die Abkehr vom Tier im generischen Singular geht auf Jacques Derrida und seinen Neologismus animot zurück, mit dem einzelne Tiere in der Philosophie
18 | Die Hälfte des Publikums verließ die Performance. Jones selbst behauptet, er hätte sie beendet, wenn ihn jemand energisch genug gehindert hätte, allerdings ist die Hürde, den Rahmen einer Kunstperformance zu sprengen, für das Publikum hoch. Auf die Rolle der Zuschauer_innen geht der letzte Abschnitt des vorliegenden Beitrags näher ein. 19 | Ihre Unterströmungen lassen sich auch anhand ihres Verhältnisses zur anthropologischen Differenz bestimmen: Einige möchten sie aufgelöst sehen (Critical Animal Studies), andere verfolgen einen eher deskriptiven Ansatz im Sinne einer Verkomplizierung der Grenzziehungen. Einen kurzen Überblick der Forschungsansätze mit zahlreichen Literaturhinweisen bietet z.B. M. Roscher: Human-Animal Studies; ebenso A. Krebber/ M. Roscher: Spuren suchen. 20 | M. Calarco: Zoographies, S. 4.
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sprachlich überhaupt erst sichtbar werden.21 Derrida diskutiert weniger die praktische Existenz der Grenze zwischen Menschen und Tieren, sondern ihre Verfasstheit: »Die Sache ist erst dann der Diskussion wert, wenn es darum geht, die Zahl, die Form, den Sinn, die Struktur und die blättrigen Schichtungen dieser abgründigen Grenze, dieser Randungen, dieser pluralen und mehrfach gefalteten Grenze zu bestimmen. Die Diskussion wird interessant, wenn man weniger fragt, ob es eine diskontinuierliche Grenze gibt oder nicht, sondern stattdessen zu denken versucht, was aus einer Grenze wird, wenn sie abgründig ist, wenn die Grenze nicht eine einzige unteilbare Linie bildet, sondern mehr als eine Linie, die sich in weiteren Linien verabgründigt; und wenn sie sich folglich nicht mehr als eine und unteilbare ziehen (tracer), objektivieren oder zählen läßt.«22
Zwischen Menschen und Tieren liegt demnach nicht eine Linie, die trennscharf zu ziehen wäre, sondern eine ›mehrfach gefaltete Grenze‹, die gar nicht objektiv und positivistisch festgelegt werden kann. Für die Philosoph_innen des Posthumanismus lässt sich eine ähnliche Abkehr von festen Grenzen feststellen. Mit dem Humanismus lösen sich auch seine Ränder auf.23 Die grundlegenden theoretischen Texte der Human-Animal Studies kreisen – man möchte sagen: alle – auf die eine oder andere Weise um (den Modus der) Grenzziehungen zwischen den Menschen und den anderen Tieren. Die Mechanismen der ›sauberen‹ Trennung des Menschlichen vom Tierischen (und umgekehrt) hat Giorgio Agamben in Das Offene beschrieben, ihre politischen Ergebnisse in den ersten Bänden von Homo Sacer.24 Durch die Ausgrenzung des Animalischen einerseits und seine Einhegung andererseits ist gekennzeichnet, was Agamben die »anthropologische Maschine«25 nennt. Er unterscheidet die der »Alten« und die der »Modernen«, deren Mechanismen je21 | Vgl. J. Derrida: Das Tier, S. 58ff. 22 | Ebd., S. 57. 23 | Vgl. C. Wolfe: What is Posthumanism?; ebenso D. Haraway: Simians, Cyborgs, and Women. 24 | Wobei es Agamben in Das Offene weniger um Tiere geht, sondern vornehmlich um die (politischen) Mechanismen der Animalisierung und Humanisierung von Menschen: »Wir müssen hingegen lernen, den Menschen als Ergebnis der Entkoppelung dieser zwei Elemente [nämlich des Humanen und des Animalen] zu denken und nicht das metaphysische Geheimnis der Vereinigung, sondern das praktische und politische der Trennung zu erforschen.« (G. Agamben: Das Offene, S. 26). Dass die Essaysammlung trotzdem zu einem der Grundlagentexte der Human-Animal Studies wurde, verdankt sich vermutlich ihrem grundlegend posthumanistischen Charakter und der Übertragbarkeit dieser Mechanismen für andere Kontexte. 25 | Ebd., S. 42ff.
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weils spiegelverkehrt funktionieren.26 Während erstere »das Innen mittels Einschließung eines Außen« hervorbringt, »de[n] Nichtmensch mittels Humanisierung eines Tieres: […] vor allem de[n] Sklaven, de[n] Barbaren, de[n] Fremden als Figuren des Animalischen mit menschlichen Formen«,27 schließt letztere »ein Schon-Humanes als (noch) Nicht-Humanes aus sich aus[ ]« und »animalisiert«28 damit den Menschen. Die beständigen Entscheidungen über Einschluss und Ausschluss des Animalischen aus dem Humanen konstituieren und perpetuieren, was Agamben an anderer Stelle das ›nackte Leben‹ im Gegensatz zum politischen Leben, zōḗ im Gegensatz zu bíos nennt. Agamben führt diese Unterscheidung historisch weit zurück: auf eine Figur des altrömischen Rechts, den homo sacer, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie »getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf«29 – sie ist ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, ihre Tötung bleibt ungestraft. Gleichzeitig lässt Agamben keinen Zweifel an der Relevanz dieser Ideengeschichte für die moderne Politik, die Biopolitik ist: »[…] vielmehr ist es notwendig, sich zu fragen, warum die abendländische Politik sich vor allem über eine Ausschließung (die im selben Zug eine Einbeziehung ist) des nackten Lebens begründet«.30 Die anthropologische Differenz ist in dieser Perspektive die Voraussetzung für die Produktion von ›nacktem Leben‹, dem, so Agamben, »in der abendländischen Politik das einzigartige Privileg [zukommt], das zu sein, auf dessen Ausschließung sich das Gemeinwesen der Menschen gründet«.31 Aus der kontinuierlichen Existenz dieser Mechanismen zieht er den Schluss, dass »die Frage nach dem Menschen – und dem ›Humanismus‹ – als solche neu gestellt werden«32 muss: »Was ist der Mensch, wenn er stets der Ort – und zugleich das Ergebnis – von unablässigen Teilungen und Zäsuren ist? Diese Teilungen zu untersuchen, sich zu fragen, auf welche Weise der Mensch – im Menschen – vom Nichtmenschen und das Animalische vom Humanen abgetrennt worden ist, drängt mehr, als zu den großen Fragen, den sogenannten menschlichen Werten und Menschenrechten, Stellung zu beziehen.«33
26 | Vgl. ebd., S. 47. 27 | Ebd. 28 | Agamben spricht hier als Beispiel über »den Juden, den im Menschen erzeugten Nichtmenschen«. Spätestens hier wird klar, wie problematisch das Funktionieren der ›anthropologischen Maschine‹ nicht nur in Agambens politischer Theorie ist. Vgl. ebd. 29 | G. Agamben: Homo sacer, S. 18. 30 | Ebd., S. 17. 31 | Ebd. 32 | G. Agamben: Das Offene, S. 26. 33 | Ebd.
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In der Beziehung zwischen den politischen Ausgrenzungs- und Einhegungsmechanismen und der Produktion des ›nackten Lebens‹ lässt sich ein Kreuzungspunkt von Agamben und den Human-Animal Studies entdecken: im Bemühen, die »Funktionsweise [der anthropologischen Maschine] zu begreifen, um sie gegebenenfalls zum Stillstand zu bringen«,34 um also die anthropologische Differenz zu nivellieren oder ihre beständige performative Aufrechterhaltung zumindest infrage zu stellen. Agambens Philosophie ist anthropozentristisch in dem Sinne, dass es ihm um die Animalität im Kontext des Humanismus geht. In Verbindung mit seiner Humanismuskritik allerdings, davon geht z.B. Matthew Calarco aus, kann sein Ansatz für die Human-Animal Studies fruchtbar gemacht werden, denn: »[…] there are no clear-cut criteria for distinguishing animal modes of exposure from human modes; what we encounter, rather, are complex networks of relations, affects, and becomings into which both human beings and animals are thrown«.35
Menschen und Tiere sind also als Teil von Beziehungsgeflechten den gleichen Mechanismen ausgesetzt, und diese existieren nicht je Spezies nebeneinander her, sondern es sind geteilte Beziehungsgeflechte, die veränderlich sind. Das Stillstellen der anthropologischen Maschine und ihrer Grenzziehungen, wie es Agamben als Ziel formuliert, geschieht im Rahmen dieser Beziehungsgeflechte und betrifft daher beide Spezies. Die Funktionsweise der anthropologischen Maschine ist damit in aller Kürze beschrieben. Wie sie ins Stocken gerät, lässt sich in der künstlerischen Praxis, konkret in Rat Piece, beobachten, wie ich im Folgenden zeigen möchte.
S and im G etriebe Einige Kritiker_innen sahen Rat Piece als Performance, die nicht nur in der Wahl ihrer Mittel ins Extrem abgleitet, sondern damit auch noch Jahre zu spät kommt, nachdem bereits in den 1960er-Jahren nicht selten Tiertötungen zum Bestandteil künstlerischer Werke geworden waren.36 Diese Arbeiten standen allerdings häufig im Kontext der Protestbewegungen dieser Zeit und sind insofern nicht einfach als Vorläufer von Rat Piece zu verstehen. Rat Piece unterscheidet sich von solchen Werken, weil es die Vietnamerfahrungen eines Veteranen 34 | Ebd., S. 48. 35 | M. Calarco: Zoographies, S. 89. 36 | Vgl. zur Rezeption auch M. Harries: Pain of Rats, S. 163. Ähnlich brutale Tötungen führte etwa Raphael Montañez Ortiz in seinen Chicken Destructions schon Ende der 1960er-Jahre durch.
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verarbeitet – eine Perspektive, die erst später und nur langsam Eingang in die Kunst fand: »It may be that few artists went to Vietnam, a war largely fought by the poor and undereducated. More likely, art about the American conflict in Vietnam has, like the nation’s coming to terms with the complex implications of the war itself, taken a long time to evolve.«37
Den Worten des Künstlers ist zu entnehmen, wie wichtig es ihm war, die Praxis aus der Zeit des Kriegs in den Rahmen der Kunst zu versetzen: »People still get upset about it. I can understand that because I tortured the animals to death, but it was important for me to have that experience as an art piece. Instead of just talking about killing something, or burning something, to actually have the audience that went to see this experience the smell of death and to actually have control in a certain way. They could have stopped me.«38
Rat Piece sollte erklärtermaßen als Kunst verstanden werden, nicht als Wiederholung tierquälerischer Praktiken, die Phasen der Untätigkeit im Krieg füllen halfen. Die Anwesenheit des Publikums scheint für Jones ein wichtiger Punkt zu sein. Als Teil des Staates, der seine Soldaten in den Krieg schickte, dessen Auswirkungen aber lange verdrängte, wird den Zuschauer_innen der Krieg zurückgespiegelt. Jones führt ihnen ganz konkret vor Augen, was im Krieg Praxis im Umgang mit Tieren war – und sie erhalten die Chance, Einfluss zu nehmen, die sie ungenutzt verstreichen lassen. Da der Inhalt der Performance wohl nicht vorher öffentlich bekannt war, ist eine Überforderung des Publikums allerdings kaum von der Hand zu weisen.39 Jones erinnert sich, dass etwa die Hälfte der Anwesenden gegangen sei: »Half of the audience left, half stayed. Some did get very disturbed by it, and one woman ran out screaming ›you’re sick, you’re sick!‹«40 Um die Performance zu stoppen, reichte Jones die Abscheu, die ihm entgegenschlug, aber nicht. Ein körperliches Eingreifen wäre nötig gewesen: 37 | R. Smith: Vietnam War ricochets. In anderen Medien, so Smith, habe die Thematik deutlich schneller Niederschlag gefunden, etwa 1979 im Film Apokalypse N ow als vielleicht bekanntestes Beispiel; vgl. ebd. 38 | Conversation with Kim Jones: April 25, 2005. With Susan Swenson, in War Paint [Ausst.-Kat.], S. 4-18. Brooklyn: Pierogi 2005, zitiert nach M. Harries: Pain of Rats, S. 161f. 39 | In der Konfrontation mit einer unvorhergesehenen, überfordernden Situation lässt sich wiederum eine Parallele mit der Situation der Soldaten im Krieg ziehen. Für diesen Hinweis danke ich Daniel Wolf. 40 | S. Maine: Kim Jones.
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Der Ausschnitt aus dem Kriegsalltag lässt sich als Verweis auf ein größeres Bild deuten, nämlich den Vietnam-Krieg und den Umgang der US-amerikanischen Öffentlichkeit mit ihm und den heimkehrenden Veteranen, die mit der Verarbeitung weitgehend alleingelassen waren. So erklärt sich, dass das Versetzen der Verbrennung in einen künstlerischen Kontext Jones’ ein zentrales Anliegen war. Seine Handlung verändert sich dadurch grundlegend: Vor allem wird sie überhaupt erst sichtbar. Kristine Stiles beschreibt die Situation der Kriegsrückkehrer als problematisch, auch weil sie auf eine Schweigeübereinkunft der USGesellschaft trafen: »[…] while Jones never named Vietnam directly in the performance or book, he nonetheless documented the hysteria by which the public displaced its metaphors as a way to avoid examining the impact and lasting effect of Vietnam on veterans of that war.«42
Jones’ Wunsch, Künstler und Publikum mögen verschmelzen (»would have been one«), kann insofern auch gelesen werden als Wunsch nach Wiederaufnahme eines Veteranen in die Gesellschaft, und zwar im Bewusstsein der Handlungen, die er im Krieg durchführte und die Jones mit Rat Piece auf eine nicht zu ignorierende Weise sichtbar machte – ein Wunsch nach einem Anhalten der ›Maschine‹, die so fundamental zwischen denen unterschied, die in Vietnam gekämpft hatten, und jenen, die zu Hause das Ende des Kriegs gefordert hatten. Für ihr Funktionieren ist die ›anthropologische Maschine‹ auf kategorische Eindeutigkeit angewiesen. Wird sie mit einem ›sowohl … als auch‹ konfrontiert, muss sie ins Stocken geraten. Betrachtet man Rat Piece, so kommt die zentrale Rolle hier dem Mudman zu, der in seiner Uneindeutigkeit, im Changieren zwischen den Kategorien, eine Scharnierfunktion erfüllt. Der Mudman ist NichtMensch, eine Eigenschaft, die er mit den Ratten teilt. Martin Harries beschreibt eindrücklich, wie Jones in die allzu menschlich klingenden Todessschreie der Ratten einstimmte und liest daraus eine Tierwerdung des Künstlers ab:
41 | Kim Jones: Rat Piece, S. 64, zitiert nach M. Harries: Regarding the Pain of Rats, S. 162. Die Tageszeitung The Dispatch druckte am 20. März 1976 eine Meldung über die Entlassung von Frank Brown, in der auch ein Sprecher der Universität zitiert wird: »There were about 30 persons in the gallery at the time. None did anything to stop Jones because they were too shocked to act, a university spokesman said.« (The Dispatch: Rat Burner Fired.) 42 | K. Stiles: Concerning Consequences, S. 182f.
Sand im Getriebe der ›anthropologischen Maschine‹ »The allegorical shuttling of Rat Piece moved between assigning a human meaning to the suffering of rats and insisting on the suffering of rats as the suffering of rats. These dying rats took on human qualities and became the sudden object of a usually absent human sympathy and even outrage: if Rat Piece humanized rats, perhaps it also ratified humans.«43
Als ›ratification‹ von Menschen hat Jones wohl auch das Leben der Soldaten in Vietnam empfunden: »vietnam dong ha marines its summer time 125 degrees heat sweat like pigs work like dogs live like rats red dust covered everything«,44 so zitiert er im Rahmen einer Performance aus seinem Künstlerbuch Teaching a Dead Hand to Draw Versatzstücke, deren Verbindung mit Rat Piece offensichtlich ist. Dennoch ist der Mudman zwar ein Fremdkörper, aber kein Tier und steht ganz offensichtlich in (menschlichen) gesellschaftlichen Zusammenhängen – er kommuniziert mit den Menschen, zeigt sich ihnen vor der ›Leinwand‹ des Gestells auf seinem Rücken und lässt sich nicht eindeutig als ein kategorial Anderes einordnen. Obwohl er Teil der Gesellschaft ist, handelt er brutal und moralisch fragwürdig. Was ist also der Mudman, was ist der Künstler? Mit Agamben könnte man sagen, er ist »der Ort – und zugleich das Ergebnis – von unablässigen Teilungen und Zäsuren«.45 Er ist der Sand im Getriebe der ›anthropologischen Maschine‹.
F azit Die ›anthropologische Maschine‹ lief im Vietnamkrieg auf Hochtouren. Sie ermöglichte es denen, die vermeintlich moralisch ›sauber‹ blieben, sich von den Kriegshandlungen abzugrenzen. Einhegung und Ausschließung sind die Mechanismen, die das Funktionieren der ›anthropologischen Maschine‹ garantieren. Beides kann nur über Grenzziehungen geschehen. Das bedeutet aber auch: Wo Grenzziehungen schwierig werden, wo man die »mehrfachen Faltungen«,46 wie sie Derrida konstatiert, nicht mehr übersehen kann, gerät die Maschine ins Stocken. Gerade in der Kunst, die oft keine eindeutige Lesart nahelegt und deren Bedeutungsebenen sich in den meisten Fällen überlagern oder sogar widersprechen, finden sich dafür die Voraussetzungen.
43 | M. Harries: Pain of Rats, S. 165. 44 | https://www.youtube.com/watch?v=RfMiSs19mYkK; vgl. auch K. Stiles: Concerning Consequences, S. 191f. 45 | Siehe Anm. 13; G. Agamben: Das Offene, S. 26. 46 | J. Derrida: Das Tier, S. 57.
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L iteraturverzeichnis Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Calarco, Matthew: Zoographies. The Question of the Animal from Heidegger to Derrida, New York (NY): Columbia University Press 2008. Derrida, Jacques: Das Tier, das ich also bin, Wien: Passagen 2010. Firmin, Sandra Q./Joyce, Julie (Hg.): Mudman The Odyssey of Kim Jones, Cambridge (MA): MIT Press 2007. Haraway, Donna: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, London: Free Assoc. Books 1991. Harries, Martin: »Regarding the Pain of Rats. Kim Jones’s Rat Piece«, in: The Drama Review 51 (2007), S. 160-165. Joyce, Julie: »Sunset to Sunrise. Kim Jones in Los Angeles«, in: Sandra Q. Firmin/Julie Joyce (Hg.), Mudman The Odyssey of Kim Jones, Cambridge (MA).: MIT Press 2007, S. 17-43. Krebber, André/Roscher, Mieke: »Spuren suchen, Zeichen lesen, Fährten folgen«, in: Forschungsschwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft« (Hg.), Den Fährten folgen. Methoden interdisziplinärer Tierforschung [Human-Animal Studies], Bielefeld: transcript, S. 11-27. Maine, Stephen: Kim Jones with Stephen Maine, brooklynrail.org/2006/11/art/ kim-jones, 02.11.2006 (letzter Zugriff: 20.05.2016). Milling, Stephanie: »Vorhang auf! Ein Blick auf Marius’ Sektion, verstanden als Aufführung«, in: Forschungsschwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft« (Hg.), Den Fährten folgen. Methoden interdisziplinärer Tierforschung [Human-Animal Studies], Bielefeld: transcript, S. 269-276. o.A.: Rat Burner Fired, The Dispatch, 20. März 1976, S. 5. Roscher, Mieke: Human-Animal Studies, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.1.2012, http://docupedia.de/zg/Human-Animal_Studies? oldid=106301 (letzter Zugriff: 15.05.2016). Smith, Roberta: Vietnam War ricochets into the art galleries, Spartanburg Herald Journal, 21. Januar 1990, S. C6. Stiles, Kristine: Concerning Consequences. Studies in Art, Destruction, and Trauma, Chicago (IL)/London: University of Chicago Press 2016. Storr, Robert: »Acting Out«, in: Sandra Q. Firmin/Julie Joyce (Hg.), Mudman The Odyssey of Kim Jones, Cambridge (MA): MIT Press 2007, S. 85-105. Ullrich, Jessica: »›Animals were Harmed in the Making of this Artwork‹. The Visibility of Death in Artworks«, in: Kassandra Nakas/Jessica Ullrich (Hg.),
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»Uns aber ist von Anfang an alles, was wir brauchen, von Gott, dem Erhabenen, eingegeben worden – ohne die Vermittlung eines Gesandten und ohne dass Er uns hinter einem Schleier aufgerufen hätte.«1
T heologische R el ationen Während die geistes- und kulturwissenschaftlichen Human-Animal Studies die vielgestaltigen Tier-Mensch-Relationen untersuchen, mischt sich in der Tierforschung theologischer Provenienz ein weiterer Agent in das Beziehungsfeld ein: das Göttliche. Damit erweitert sich das kulturell, sozial und politisch relevante dyadische Feld auf eine Trias, bestehend aus tierlichen, menschlichen und göttlichen Akteur_innen. Was kennzeichnend für die Human-Animal Studies ist, nämlich in Abkehr von einer anthropozentrischen Weltsicht Tiere als individuelle Subjekte mit eigener Handlungs- und Wirkungsmacht (Agency) statt als auswechselbare Objekte oder anonyme Kollektive zu betrachten,2 ist auch Aufgabe der entsprechend orientierten Theologie. Schon früh widmeten sich vereinzelte theologische Veröffentlichungen dem Thema »Tier«.3 Insbesondere seit den 1990er-Jahren ist ein Anstieg von tier-
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1 | Ihwan as-safaʾ : Mensch und Tier, S. 146. 2 | Vgl. K. Petrus: Human-Animal Studies, S. 156. 3 | Vgl. etwa M.L. Henry: Das Tier im religiösen Bewußtsein. Dieser bereits 1958 veröffentlichte Aufsatz ist einer der ersten zum Thema. Henry betont hier insbesondere die aus einem religiösen Weltgefühl heraus resultierende Verbundenheit der alttestamentlichen
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bezogenen Publikationen v.a. in der Bibelwissenschaft zu verzeichnen.4 Auch wenn diese Arbeiten häufig aus einem ethischen Impetus heraus entstanden sind, wobei sie gegenwärtige Umgangsweisen mit nichtmenschlichen Tieren einem biblischen Ideal gegenüberstellen, sind sie weder innerhalb der HumanAnimal Studies verortet, noch vollziehen sie – quasi avant la lettre – einen Perspektivwechsel vom Tier als Objekt hin zum Subjekt. Erst in jüngster Zeit und – verglichen mit anderen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft oder der Soziologie, wo die Human-Animal Studies schon länger verortet sind –, eher zaghaft ist solch ein speziesgerechter Zugang in der deutschsprachigen Theologie im Kommen.5 Für die Exegese ist der von dem australischen Bibelwissenschaftler Norman C. Habel entwickelte Ansatz der Ecological Hermeneutics herauszuheben. Dieser hermeneutische Zugang – darum bemüht, konventionelle anthropozentrische Lesarten zu vermeiden – stellt die »Erde« als Subjekt in den Fokus und identifiziert sich mit dieser, um so die biblischen Texte neu zu lesen.6 Als »Earth« werden dabei nicht nur die durch die hebräischen Substantive ( אֶ ֶרץErde, Land) und ( אָ דָ מָ הErde, Ackerboden) repräsentierten Entitäten begriffen, sondern auch nichtmenschliche Tiere, Pflanzen sowie die unbelebte Natur und Naturgewalten, die alle in den biblischen Texten als handlungs- und sprachmächtige Subjekte mit intrinsischem Wert wahrgenommen werden können.7
Menschen mit der sie umgebenden Tierwelt, was sich grundsätzlich von der gegenwärtigen (menschlichen) Wahrnehmung unterscheidet. 4 | Siehe etwa B. Janowski/U. Neumann-Gorsolke/U. Gleßmer: Gefährten und Feinde des Menschen; F. Schmitz-Kahmen: Geschöpfe Gottes; P. Riede: Im Spiegel der Tiere; S. Schroer: Die Tiere in der Bibel. 5 | Für einen historischen Überblick siehe J.E. Wannenmacher: Theologie. Tiere als Subjekte spielen mittlerweile in verschiedenen theologischen Sub-Disziplinen eine Rolle: Im Bereich der Religionspädagogik forscht J. Eichler (Wien) zur Rolle von Tieren und Tierethik in Lehrplänen und Schulbüchern; in der systematischen Theologie sind jüngst zwei Monographien mit tierethischen Gesamtentwürfen erschienen: M. Rosenberger: Der Traum vom Frieden und K. Remele: Die Würde des Tieres ist unantastbar. Herauszuheben ist ebenfalls das breit gefächerte, populärwissenschaftliche Engagement R. Hagencords, der – gemeinsam mit A. Rotzetter – 2009 das Institut für Theologische Zoologie in Münster mitbegründet hat, vgl. R. Hagencord: Die Würde der Tiere. Auch in der islamischen Theologie wird das Thema aufgegriffen, so forscht etwa A. El-Maaroufi (Münster) zur islamischen Tierethik. 6 | Siehe N.C. Habel: Birth, S. 1-16. 7 | Siehe dazu insbesondere die sechs Prinzipien der Ökologischen Hermeneutik, die Wert, Aufgabe, Stimme, Verbundenheit, Verantwortung und Widerstand von »Earth« proklamieren, vgl. ebd., S. 2.
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Werden Tiere als Subjekte und literarische Handlungsträger_innen ernst genommen, entfaltet sich Relationalität im Alten Testament auf verschiedenen Ebenen: Zum einen sind Beziehungen zwischen Tier(art)en auszumachen, z.B. als Bewohner_innen eines vernetzten Ökosystems, in dem etwa Wildesel und Vögel, Steinböcke und Junglöwen friedlich koexistieren (Ps 104), oder in der systematischen Abgrenzung von reinen gegenüber unreinen Tieren (Lev 11; Dtn 14). Die Tier-Mensch-Beziehung rückt dezidiert in den Fokus, wenn Menschen als Besitzer_innen von sogenannten Nutztieren (Ex 21,28-32) oder Herrscher_innen über die Tierwelt als Ganzes (Ps 8,7-9) erscheinen, wenn sie wilde Tiere töten (1 Sam 17,34-37) oder umgekehrt Raubtiere zur Gefahr für Menschen werden (2 Kön 2,24). Bereits in der Namensgebung kann eine positive tierlich-menschliche Beziehung deutlich werden, wenn Frauen Kuh (Lea) oder Mutterschaf (Rachel) und Männer Hund (Kaleb) oder Taube (Jona) genannt werden.8 Darüber hinaus kommt die Tier-Mensch-Beziehung in der alttestamentlichen Bildsprache lebhaft zum Ausdruck: Im Jakobssegen wird Juda als Löwe bezeichnet (Gen 49,9f.), jener Mann, der sich mit der fremden Frau einlässt, stürzt sich wie ein Vogel ins Fangnetz (Spr 7,23), im Hohelied erscheinen die Augen der Geliebten wie Tauben (Hld 4,1), die Locken des Geliebten wie ein Rabe (Hld 5,11).9 Die Beziehung zwischen Tieren und Gott ist vielfältig: Nicht nur wird Tieren ein Sinn für das Göttliche nachgesagt, etwa wenn sie JHWH um Nahrung bitten (Hi 38,41) oder ihn lobpreisen (Ps 148,7.10). Auch Gott wendet sich seinen tierlichen Geschöpfen liebevoll zu (Ps 147,9). Von besonderem Interesse sind jene Texte, in denen das Tierliche und das Göttliche sich vermischen und Gott theriomorph als Geier, Löwe oder Bärenmutter auftritt (Ex 19,4; Dtn 32,11; Jes 31,4; Hos 5,14; 13,8).10 Mehrheitlich sind im biblischen Zusammenhang alle drei Akteursgruppen der Triade involviert und miteinander verwoben. Beispielsweise ist im Fall der Kategorisierung der Tierarten als rein bzw. unrein (Lev 11; Dtn 14) ein deutlicher Rückbezug auf Gott und Menschen auszumachen, denn – textintern – geht die Einteilung auf JHWH zurück und tangiert unmittelbar die kulinarischen wie kultischen Gewohnheiten der Menschen, gelten doch nur die reinen Tiere als ess- und opferbar. Die menschliche Herrschaft über die Tierwelt wird durch JHWH legitimiert (Ps 8) und die Gottbezogenheit der Tiere sowie die Tierbezogenheit Gottes dienen der Belehrung der Menschen (Hi 38-39; Ps 147.148). Dieser dezidierte Blick auf Relationen entspricht der alttestamentlichen Anthropologie, die – anders als gegenwärtige Konzepte – weniger individualisiert, sondern vielmehr konstellativ ist. Der oder die Einzelne wird stets als beziehungshaftes, sozial eingebundenes Wesen gedacht, als Teil einer Gemeinschaft 8 | Vgl. S. Schroer: Tiere, S. 15. 9 | Zur humanimalen Bildsprache im Hohelied siehe Y.S. Thöne: Female Humanimality. 10 | Siehe dazu Y.S. Thöne: ›Wie eine Bärin, der Kinder beraubt…‹.
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wahrgenommen.11 Diese Feststellung gilt nicht nur innerhalb der sozialen Gefüge der Spezies Mensch, sondern jener ist auch eingebunden in die Weltgemeinschaft mit Gott und Tierwelt. Als grundlegend für eine poetisch-narrative Entfaltung der Tier-MenschGott-Beziehung ist die erste Schöpfungserzählung, Gen 1,1-2,4a, anzusehen. Das Narrativ vom Siebentagewerk Gottes entwirft eine dreigliedrige Kosmologie, welche alle Lebewesen – tierliche und menschliche – den Bereichen Himmel, Wasser oder Erde zuordnet und zueinander sowie mit Gott in Beziehung setzt. Weniger bekannt ist die Erzählung von Bileam und seiner Eselin (Num 22,21-35), in der menschliche, tierliche und göttliche Figuren auf unerwartete Weise miteinander interagieren und einem sonst real und literarisch marginalisierten Tier eine tragende Rolle zugewiesen wird. Beide Texte sollen im Folgenden unter dem Aspekt der Relationalität analysiert werden.
G ott , T ier und M ensch in der ersten S chöpfungserzählung (G en 1,1-2,4 a ) Die strukturell herausgehobene Stellung von Gen 1 als Eröffnungstext des Kanons weist auf seine herausragende Bedeutung hin. Die Schöpfungserzählung ist dabei Bestandteil der sogenannten Urgeschichte (Gen 1-11), deren Kennzeichen ihre ahistorische Universalität ist. Ihre Texte »erzählen nicht Einmaliges, sondern Erstmaliges als Allmaliges. Sie erzählen, was niemals war und immer ist, sie decken auf, was jeder weiß und doch nicht weiß, und sie wollen helfen, mit diesem vorgegebenen Wissen und Wesen das Leben zu bestehen«.12 Entsprechend ist auch der untersuchte Text nicht als wissenschaftlich-naturkundliche Abhandlung zu verstehen,13 sondern vielmehr als eine theologische Darstellung, in der die Erkenntnis im Mittelpunkt steht, dass alles von Gott gewollt und geschaffen wurde.
11 | Wegweisend in dieser Hinsicht H.W. Wolff: Anthropologie des Alten Testaments. 12 | E. Zenger: (Gen 4,10). Gestalt und Aussageabsicht, S. 11. 13 | Insofern verfehlen ›bibeltreue‹, kreationistische Interpretationen die Pointe des Textes, wenn sie ihn wortwörtlich nehmen und historisieren, wie B. Janowski: Schöpfung, S. 505 treffend bemerkt. Jüngst hat die bibelwissenschaftliche Zeitschrift Welt und Umwelt der Bibel ein Themenheft zum Verhältnis von biblischem Schöpfungsglauben und modernen Naturwissenschaften herausgebracht (Bibel kontra Naturwissenschaft? Die Schöpfung, 2/2016).
Vegetarische Löwen und sprechende Esel
Der Zusammenhang von Struktur und Inhalt Die erste Schöpfungserzählung ist geprägt von charakteristischen Wendungen, die den Text deutlich strukturieren und als formaler Ausdruck des auf inhaltlicher Ebene vorfindlichen minutiösen Ordnungsdenkens zu verstehen sind.14 Dabei sind die einzelnen Schöpfungstage kunstvoll aufeinander bezogen. Zunächst einmal strukturieren der erste, vierte und letzte Schöpfungstag mit der Etablierung von Licht, Gestirnen und Schabbat den Text durch die Dimension der »Zeit als grundlegende Ordnungskategorie von Leben«.15 Über diese zeitliche Rahmung hinausgehend fällt eine konsequent parallele Gestaltung der Schöpfungstage auf. Während an den Tagen eins bis drei jeweils ein Lebensraum im »Erden-Haus« erschaffen wird, wird dieser innenarchitektonisch an den Tagen vier bis sechs mit passender »Einrichtung« und Lebewesen ausgestattet.16 So wird in Gen 1,6-8 (Tag 2) das Himmelsgewölbe erschaffen und Wasser und Himmel voneinander getrennt. Äquivalent dazu werden in Gen 1,20-23 (Tag 5) die Wasser- und Himmelstiere geschaffen. Gen 1,9-13 (Tag 3) liefert mit der Trennung von Wasser und Land sowie der Erschaffung der Pflanzen die Voraussetzung für die Erschaffung der landlebenden Lebewesen in Gen 1,24-31 (Tag 6), den Landtieren und den Menschen. Zudem werden die Pflanzen, die am dritten Tage von der Erde hervorgebracht werden, am sechsten Tag ihren Lebewesen von Gott zur Nahrung zugeteilt.17 Am siebten Tag vollendet Gott sein Werk, um anschließend von seiner Arbeit zu ruhen und diesen Ruhetag zu segnen und zu heiligen. Die Sonderstellung des Schabbat wird deutlich durch das Fehlen der üblichen Formeln (»Und Gott sagte…«; »Es wurde Abend, es wurde Morgen…«), was strukturell diesen Tag als einen »ganz anderen« kennzeichnet.18 Das bedeutet auch, dass nicht der Mensch Abschluss und Krönung der Schöpfung ist, sondern »(d)er siebente Tag, der Sabbat, ist die Krone der Schöpfung. Daraufhin ist sie ausgerichtet.«19
14 | Vgl. R. Rothenbusch: Struktur, S. 50. In historisch-kritischer Perspektive – die hier jedoch nicht eingenommen wird – kann der geradezu exzessive Gebrauch formelhafter Wendungen selbstverständlich als typisch priesterschriftliche Vorliebe gewertet werden. 15 | E. Zenger: Anfang, S. 143; vgl. B. Janowski: Schöpfung. 16 | Vgl. E. Zenger: Anfang, S. 145. 17 | Vgl. N. Habel: Birth, S. 25. 18 | Vgl. H. Seebass: Genesis, S. 87. 19 | R. Hagencord: Würde, S. 107; siehe dazu auch B. Janowski: Schöpfung, S. 502; R. Rothenbusch: Struktur, S. 51; H. Schüngel-Straumann: Genesis 1-11, S. 9; E. Zenger: Anfang, S. 158.
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Schöpfer und Schöpferin: Gott und Erde Bereits im ersten Vers eröffnet Gott als Hauptakteur von Gen 1 das Geschehen, indem er Himmel und Erde erschafft. Dieser tritt jedoch nicht als alleiniger Schöpfer auf, denn er bezieht punktuell die Erde in diese Tätigkeit mit ein. Die Erde ( )אֶ ֶרץist damit zugleich Handlungsraum und handelnde Figur. Das Schöpfungshandeln Gottes ist durch seine verbalen Äußerungen gekennzeichnet, was durch die Dominanz des Verbs ( אמרsagen, sprechen; Gen 1,3.6.9.11.14.20.24.26.28.29) belegt wird. Auf eine mündliche Ankündigung Gottes folgt stets dessen handelnde Verwirklichung, ausgedrückt durch »erschaffen« ()ברא, »machen« ( )עׂשהoder »trennen« ()בדל. בראund עׂשהwerden auch außerhalb von Gen 1 synonym gebraucht (vgl. Gen 5,1; 6,7; Ex 34,10; Jes 41,20; 43,7; 45,7.12.18; Am 4,13), woraus sich ableiten lässt, dass in Gen 1 kein qualitativer Unterschied ihrer Handlungsobjekte zu erkennen ist. Das Trennen ( )בדלinitiiert binäre Oppositionen in der Schöpfungsordnung, wodurch bereits die Möglichkeit einer Hierarchisierung angelegt ist. Zugleich garantiert es die Weltordnung. So wird auch die bereits existente, aber von Wasser bedeckte und von Dunkelheit umhüllte Erde durch Gottes trennendes Handeln sichtbar und funktionsfähig gemacht (Gen 1,9f.).20 Infolge ihrer Benennung tritt die Erde in 1,11 erstmals als handelndes Subjekt auf. Zunächst wird sie in der Rede Gottes angewiesen, eine Varietät von Pflanzen grünen zu lassen ( דׁשאHif.). Ihre Agency zeigt sich in 1,12, wo sie die verschiedensten Pflanzen hervorgehen lässt ( יצאHif.). Diese Verbvariation hebt ihre Eigenständigkeit hervor.21 In 1,24 wird die Erde erneut von Gott aufgefordert, ihren Lebensraum auszugestalten: So wie sie bereits die Pflanzen hervorgebracht hat, soll sie nun die Landtiere hervorgehen lassen ( יצאHif.). Im folgenden Vers ist dann schließlich Gott das handelnde Subjekt, wenn er die Landtiere macht ()עׂשה. Dabei wird jedoch mehrfach betont, dass es sich um Lebewesen der Erde handelt ()חַ ּיַת הָ אָ ֶרץ. Synonym zu אֶ ֶרץwird in 1,25 der Begriff ( אֲדָ מָ הErdboden) gebraucht, der in der folgenden Erzählung Gen 2 eine wichtige Rolle spielt und eine Verbindung zwischen den Texten herstellt: In Gen 2 werden der Mensch als »Erdling« und die Tiere aus dem Erdboden von JHWH geformt (2,7.19), in Gen 1 ist die Erde selbst die Generatorin von Pflanzen und Tieren. Hinter dieser Co-Schöpferinnenschaft der Erde verbergen 20 | Vgl. A.J. Soggin: Genesis, S. 36; H. Seebass: Genesis, S. 66. Das Konzept der Präexistenz der Erde erinnert an die Gestalt der Weisheit in Spr 8,22-31 und Jesus Christus als Gottes logos im Johannesprolog des NT. 21 | In Gen 1,20 übernimmt das Wasser eine ähnliche Funktion, wenn Gott befiehlt, das Wasser solle wimmeln ( )ׁשרץvon Lebewesen. Im folgenden Vers ist es jedoch nicht das Wasser, welches das Leben explizit hervorbringt, sondern Gott selbst schafft die Wasserwie auch die Himmelstiere.
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sich im Alten Orient weit verbreitete Vorstellungen der Entstehung von Leben aus der Erde, die als mütterliche »Gebärerin alles Lebendigen«22 erscheint (vgl. Ps 104,14; Jes 61,11; Hag 1,11). Die Erde in Gen 1 erfüllt somit die Funktion der erd-assoziierten »Muttergöttinnen, die die Schöpfung aus sich heraus gebären, nachdem sie mit einem Schöpfergott zusammengekommen sind.«23 Entsprechend finden sich im Alten Orient zahlreiche bildliche Darstellungen der von Pflanzen umgebenen Göttin, die das Leben hervorbringt, der sogenannten Zweiggöttin (Abb. 1).
Abb. 1: Der Skarabäus aus der Mittelbronzezeit IIB (1650-1500; Geser) zeigt die nackte, nur mit Halskette und Hüftgürtel geschmückte Zweiggöttin. Die Zweige, die sie in der Hand hält und die ihre Scham umranden, charakterisieren die Göttin als Mutter Erde, die die Vegetation hervorbringt.
22 | C. Westermann: Genesis 1-11, S. 174. 23 | O. Keel/S. Schroer: Eva, S. 10.
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Die Erschaffung der Menschheit dagegen wird explizit nur mit Gott in Verbindung gebracht; die Erde tritt hierbei nicht mehr als Mitschöpferin auf. Gottes rätselhafte Ankündigung im grammatischen Plural in Gen 1,26 »( ַנעֲׂשֶ ה אָ דָ םLasst uns die Menschheit machen«) kann jedoch als Anrufung um schöpferische Beihilfe durch die Erde verstanden werden. Neben den klassischen Deutungsversuchen24 erscheint es in synchron-narrativer Hinsicht plausibel, dass der Hauptschöpfer Gott hier die Erde, die bereits in 1,11f. und 1,24 als Co-Schöpferin aufgetreten ist, erneut anspricht und zur Mithilfe auffordert. Insgesamt erscheint Gott in Gen 1,1-2,4a als der dominierende Aktant, der in Verbindung zu allen Figuren steht und auf diese handelnd einwirkt. Die anderen Figuren wiederum handeln nie an Gott. Auffällig ist der hohe Redeanteil Gottes. Dieses Reden bewirkt Handeln – sei es sein eigenes oder das seiner Geschöpfe. So findet die Weltschöpfung durch Gott – mithilfe der Erde – statt, was die Abhängigkeit der Geschöpfe von ihrem Schöpfer und zugleich deren Einbettung in den Lebensraum Erde betont. Dabei ist es Gott, der alle grundsätzlichen Welt- und Lebensordnungen erst herstellt. Indem der gesamte Text durch die Perspektive Gottes fokalisiert wird, sind die Leser_innen in dessen Pläne einbezogen und erfahren von Gottes Evaluierung seiner Schöpfung als (sehr) gut (1,31).25
Geschöpfe: Tiere und Menschen Noch vor Auftreten der Menschheit erscheinen die tierlichen Figuren ab Gen 1,20. Ihre Erschaffung in zwei Phasen und drei Klassen entspricht der kosmologischen Ordnung von Wasser, Himmel und Erde am zweiten und dritten Schöpfungstag (s.o.), wobei der Textaufbau zeigt, dass die Unterscheidung dieser drei Lebensräume grundlegender ist als die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier.26 Im Gegenteil drückt die Erschaffung von Menschen und (anderen) Tieren am gleichen Tag ihre Nähe zueinander aus. Nicht nur teilen sie sich einen Lebensraum, auch können die Menschen keinen separaten Tag für sich beanspruchen.
24 | Die klassischen Lösungsvorschläge lauten, dass 1. Gott hier eine Art Selbstberatung mit sich führt, 2. Gott sich hier selbst im Pluralis Majestatis anspricht oder 3. Gott in seinem Thronrat zu den himmlischen Wesen spricht, vgl. M. Weippert: Tier und Mensch, S. 38. Zu verwerfen ist die christozentrische Deutung, Gott würde zu Jesus Christus bzw. zu seiner eigenen Dreifaltigkeit sprechen, da diese Lesart die Hebräische Bibel unangemessen christlich vereinnahmt. 25 | Vgl. B. Schmitz: ›Krone der Schöpfung‹, S. 21. 26 | Vgl. A. Schellenberg: Bild Gottes?, S. 39.
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Mit der Erschaffung der ersten Tiere am fünften Tag wird eine neue Dimension im Schöpfungswerk eröffnet: das Leben.27 Während die bisher erschaffenen Pflanzen nach hebräischer Auffassung nicht als Lebewesen, sondern als Lebensraum gelten, werden die Tiere mehrfach explizit als lebendig bzw. Leben bezeichnet ()חַ ּיָה. Vier Mal taucht in Gen 1 חַ ּיָהin der Kombination mit ( ֶנפֶׁשKehle, Person, Leben, Seele) auf. Als »lebendige Kehle« werden in 1,20 und 1,21 die Wassertiere bezeichnet, in 1,24 meint die Verbindung Landtiere, in 1,30 im Rahmen der Nahrungszuweisung alle Tiere der Erde. Solch eine lebendige KehleSeele ( ) ֶנפֶׁשzu sein, stellt ein gemeinsames Charakteristikum von Tieren und Menschen innerhalb des Alten Testaments dar (vgl. Gen 2,7; 12,5; Lev 23,30). Durch die Betonung des Status der Tiere als Lebewesen in Gen 1 eröffnet sich ein Blick auf die Similarität von Menschen und (anderen) Tieren, die »wesenhaft zusammengehörig«28 sind. Dem entspricht, dass die Agilität der Wassertiere als wimmelnde, schwärmende Wesen mehrfach betont wird ( ׁשרץund ;רמׂש1,20f.), was als Ausdruck ihrer Lebendigkeit zu verstehen ist. Auch die Himmelstiere werden, mittels einer figura ethymologica (וְ עֹוף יְ עֹופֵף: und Flugtiere sollen fliegen), als bewegte, vitale Wesen vorgestellt (1,20). Als erstes von Gottes Werken überhaupt werden Wasser- und Himmelstiere von diesem gesegnet ( ברךPi.; 1,22), d.h. mit heilschaffender Kraft29 ausgestattet. Dieser erste Segen beinhaltet gleichzeitig eine göttliche Anweisung: Die angesprochenen Tiere sollen fruchtbar sein ()פרה, sich mehren ( )רבהund das Wasser im Meer bzw. die Erde füllen ( – )מלאdie Lebensräume also mit weiteren Exemplaren ihrer Art bereichern. Dies entspricht den alttestamentlichen Belegstellen, an denen menschliche Figuren Objekt von ברךsind; auch dort steht das Verb häufig in Verbindung mit Fruchtbarkeit und Vermehrung (Gen 17,20; Dtn 7,13; 30,16). Bei der Erschaffung der landlebenden Tiere am sechsten Tag unterscheidet Gott in seiner Figurenrede verschiedene Kategorien von Tieren: Die Wendung ( ֶנפֶׁש חַ ּיָהlebendige Kehle/Seele) kann hier als Oberbegriff für alle Lebewesen des Habitats begriffen werden. Die drei Unterkategorien von Landtieren können als domestizierte Tiere, wie Schafe, Ziegen, Esel, Rinder ()ּבְ הֵ מָ ה30, krabbelnde 27 | Vgl. F. Schmitz-Kahmen: Geschöpfe, S. 29. 28 | Ebd., S. 31. 29 | CA. Keller/G. Wehmeier: Art. ברך, S. 355. 30 | Das Substantiv ּבְ הֵ מָ הmuss nicht zwangsläufig domestizierte Tiere bezeichnen; es kann die gesamte Tierwelt als solche meinen (Gen 3,14; Ps 49,13; Spr 30,30; Koh 3,19) oder die vierfüßigen Landtiere unter Ausschluss der Wasser- und Lufttiere (Gen 6,7; Hi 12,7; Jer 12,4). In der auch hier vorfindlichen Gegenüberstellung mit den »Lebewesen der Erde« (oder auch »des Feldes«) sind jedoch in der Regel sogenannte »Nutztiere« gemeint.
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und kriechende Tiere, wie etwa Mäuse, Eidechsen, Geckos ( ֶ;רמֶ ׁשvgl. Lev 11,2930), und wilde Tiere, also Löwen, Bären, Gazellen, Hirsche ( )חַ יְ תֹו־אֶ ֶרץaufgefasst werden. Alle geschaffenen Tiere sind »als Wesen für sich«31 erschaffen, unabhängig von jedem Nutzen für und auch unabhängig von jeder Relation zum Menschen; sie erscheinen »zunächst und grundlegend als Geschöpfe im Gegenüber zu Gott«.32 Bevor die Tierwelt also in eine Beziehung zur Menschheit gesetzt wird, tritt sie in Relation zu ihrem Schöpfergott auf. Diese Geschöpflichkeit verbindet Tiere und Menschen grundsätzlich. Von der Erschaffung der Menschen an (1,26f.) verengt sich die Perspektive des Textes anthropozentrisch. Im Unterschied zur Tierschöpfung erklärt Gott hier, die Menschheit (» )אָ דָ םnach/in unserem Bild« ( )ּבְ צַ לְ מֵ נּוund »wie unsere Gestalt« ( )ּכִ ְדמּותֵ נּוmachen zu wollen. Dieses sogenannte imago dei-Konzept stellt ein Differenzkriterium den Tieren gegenüber dar, da explizit nur die Menschheit als Bild Gottes erschaffen wird. Die Substantive ( צֶ לֶםBild, Abbild, Statue) und ( ְּדמּותGestalt, Aussehen, Vergleich) zielen auf die Wesensähnlichkeit, Repräsentanz und die »wirkmächtige Vergegenwärtigung«33 des Abgebildeten ab. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen besteht somit nicht im Aussehen, sondern in seiner Funktion. Die Metapher vom Menschen als Bild Gottes rückt in die Nähe altorientalischer Königsideologie. Typischerweise gilt der amtierende Herrscher als Bild und damit Repräsentant Gottes auf Erden. Wird die Gottebenbildlichkeit nun vom König auf alle Menschen ausgeweitet, bedeutet dies eine »Demokratisierung altorientalischen Gedankenguts«,34 hat doch nun jeder Mensch als legitimer Stellvertreter Gottes eine quasi königliche Qualität. Insofern wohnt Gen 1,26 eine durchaus herrschaftskritische Komponente mit der Utopie einer egalitären (menschlichen) Gesellschaft inne – einer Gesellschaft, aus der Tiere als vollwertige Mitglieder ausgeschlossen sind. Gen 1 zufolge haben Tiere zwar einen direkten Gottesbezug, sind aber nicht gottebenbildlich. Insofern verbirgt sich hinter dieser Vorstellung eine stark anthropozentrische Theologie. Bemerkenswert ist jedoch, dass Männern und Frauen gleichermaßen der Status als Bild Gottes zukommt.35 Eng verbunden mit der Eigenschaft der Menschheit als Bild Gottes ist der Herrschaftsauftrag (1,28): »Macht sie [die Erde] euch untertan ( ;)כבׁשund herrscht ( )רדהüber die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde wimmeln!« Bei dem Verb כבׁשmit sei31 | A. Schellenberg: Bild Gottes, S. 38. 32 | Ebd., S. 42. 33 | O. Keel/S. Schroer: Schöpfung, S. 179. 34 | Ebd., S. 180. 35 | Vgl. H. Schüngel-Straumann: Genesis 1-11, S. 9; M. Weippert: Tier und Mensch, S. 47; E. Zenger: Anfang, S. 147.
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ner Grundbedeutung »den Fuß auf etwas setzen« handelt es sich um einen rechtssymbolischen Terminus für die Inanspruchnahme von Land.36 Dem entspricht die altorientalische Körpersymbolik des Fußes, der im Kontext von »Unterwerfung, machtvoller Domination und Besitzergreifung« steht.37 Den Fuß auf etwas zu setzen ist Ausdruck von Besitz, Bezwingung und Herrschaft. Dies muss nicht zwangsläufig eine brutale oder willkürliche Unterwerfung bedeuten, sondern kann dabei auch den Schutz des Schwächeren vor dem Stärkeren implizieren, wie zahlreiche, symbolisch aufgeladene Siegeldarstellungen des Alten Orients zeigen.38 Die Erde, eben noch Mitschöpferin, soll also verantwortungsvoll von den Menschen in Besitz genommen werden (Abb. 2).
Abb. 2: Neuassyrisches Rollsiegel aus dem Irak (9.-7. Jh. v. Chr.). Der mit Krummschwert ausgestattete Held stemmt dem schwächeren, beherrschten Tier seinen Fuß als Gestus der Macht auf. Gleichzeitig verteidigt er die Capride gegen den angreifenden, stärkeren Löwen. Die Semantik des Verbs רדהist breit diskutiert worden.39 Plausibel ist, von der Grundbedeutung »leiten, regieren« auszugehen, als deren Hintergrundfolie die altorientalische Hirten- und Königsideologie dient, d.h. ein guter, verantwortungsvoller Herrscher ist wie ein Hirte für sein Volk.40 Solch eine königliche Funktion des Menschen, die durch רדהAusdruck findet, entspricht der obenge36 | Vgl. F. Schmitz-Kahmen: Geschöpfe Gottes, S. 17; E. Zenger: Anfang, S. 150. 37 | S. Schroer/T. Staubli: Körpersymbolik, S. 147. 38 | Vgl. O. Keel/S. Schroer: Schöpfung, S. 181. 39 | Ausführlich dazu siehe B. Janowski: Herrschaft. 40 | Vgl. ebd., S. 39; F. Schmitz-Kahmen: Geschöpfe, S. 22f.; siehe auch U. NeumannGorsolke: Herrschen, S. 207-236.
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nannten herrschaftskritischen Vorstellung vom Menschen als Bild Gottes, die nicht nur eine royale Elite, sondern jeden Menschen als herrschaftsfähig erachtet. Eine Beherrschung der Tierwelt durch den Menschen im Sinne einer rücksichtslosen Gewaltherrschaft ist also nicht angemessen; dennoch werden an dieser Stelle die Hierarchien im Binnengefüge der Geschöpfe deutlich gemacht: Menschliche stehen grundsätzlich über tierlichen Wesen. Wie den Wasser- und Himmelstieren wird auch den Menschen der Mehrungssegen zuteil (Gen 1,28). Die landlebenden Tiere sind nicht explizit Adressat_innen dieser Rede, da sie im zweiten Teil als Objekt der Beherrschung erscheinen. Plausibel erscheint, dass der Segen aus strukturellen Gründen ausbleibt, d.h. an den Tagen fünf, sechs und sieben wird formal paritätisch nur ein Segen pro Tag ausgesprochen, womit einerseits das Segenshandeln Gottes als solches hervorgehoben wird und andererseits die Tage fünf bis sieben als besonders bedeutsam gekennzeichnet werden. Die Nahrungszuweisung in Gen 1,29-30 stellt einen weiteren wichtigen Abschnitt hinsichtlich der Tier-Mensch-Beziehung dar. In 1,29 erklärt Gott, welche Nahrungsmittel er den Menschen zur Speise gibt, in 1,30, welche er für die Tiere vorsieht. Similarität und Alterität von Menschen und (anderen) Tieren stehen hier erneut nah beieinander. Gottes Geschöpfe gleichen sich darin, dass sie allesamt ausschließlich pflanzliche Nahrung zugewiesen bekommen. Die Unterschiede liegen im Detail: Alles Kraut, das Samen trägt ()ּכָל־עֵׂשֶ ב זֹ ֵר ַע ז ֶַרע, und alle Baumfrüchte, die Samen tragen ()אֲׁשֶ ר ּבֹו פְ ִרי־עֵץ זֹ ֵר ַע ז ַָרע ּכָל־הָ עֵץ, gibt Gott den Menschen (1,29), den Tieren des Himmels und der Erde alles grüne Kraut ( ;ּכָל־י ֶֶרק עֵׂשֶ ב1,30). Die Differenz liegt offenbar darin begründet, eine unmittelbare Nahrungskonkurrenz von Menschen und Tieren als Bewohner_innen des gemeinsamen Lebenshauses »Erde« zu vermeiden.41 Bei dem Gebot einer veganen Weltfamilie handelt es sich freilich um eine Utopie, die an Jesajas Tierfrieden erinnert (Jes 11,6-9), wo in der messianischen Endzeit die vegetarischen, strohfressenden Löwen und friedlichen Wölfe einträchtig neben Lämmern und Kühen lagern. Entsprechend ist die pflanzliche Nahrungszuweisung keine zoologische Aussage, sondern ein theologisches Statement:42 Ein veganes Essverhalten macht das gegenseitige Töten überflüssig. Vielmehr ist ein friedliches Miteinander aller Lebewesen im Lebenshaus des Schöpfergottes intendiert.43 Eine Freigabe tierlicher Körper zum menschlichen Fleischkonsum erfolgt erst – in Anpassung an reale Verhältnisse – nachsintflutlich in Gen 9,2f., allerdings mit deutlich kritischen Untertönen.
41 | Vgl. E. Zenger: Anfang, S. 157. Siehe auch U. Neumann-Gorsolke: Herrschen, S. 231f. 42 | Vgl. A. Soggin: Genesis, S. 53. 43 | Vgl. E. Zenger: Anfang, S. 157.
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G ott , T ier und M ensch in der B ileamerzählung (N um 22,21-35) Die kurze Erzählung in Num 22,21-35 ist eine Geschichte über menschliches Versagen und tierliche Sensibilität gleichermaßen und unterläuft damit gängige Leser_innenerwartungen. Mensch und Tier sind hier beide mit dem Göttlichen konfrontiert, doch nicht dem berühmten Seher, sondern der Eselin wird ein religiöses Sensorium zuerkannt.
Das Göttliche: Elohim und Bote JHWHs Im Gegensatz zur Figur des Bileam, zu Beginn des Kapitels eingeführt, wird die Figur Gott stillschweigend als bekannt vorausgesetzt. Dies entspricht dem gesamtbiblischen Befund, nach dem Gott – im Unterschied zu menschlichen Aktant_innen – in Einzeltexten nicht stets neu entworfen, sondern innerhalb des kanonisch-intertextuellen Referenzrahmens entwickelt wird.44 Dass umgehend nach dem Aufbruch Bileams der Zorn bzw. wortwörtlich die Nase Gottes entbrennt (22,22), verleiht der Figur anthropomorphe Züge. Stellvertretend für Gott stellt sich sodann der Bote JHWHs ( )מַ לְ אַ ך יְ הוָהmit gezücktem Schwert auf den Weg, um Bileam anzuklagen ( ;ׂשטן22,22f.). Kennzeichnend für einen alttestamentlichen Boten ist, dass dieser nicht aus eigenem Antrieb handelt und seine eigene Botschaft verkündet, sondern »seine Funktion und Botschaft sind vielmehr abhängig von dem Willen seines Senders«,45 d.h. der Bote ist eine literarische Figur ohne eigene Agency. Häufig – so auch in Num 22 – verschmelzen JHWH und sein Bote derart, dass es kaum möglich ist, diese zu unterscheiden.46 Entsprechend kann der göttliche Bote – vulgo »Engel« – als temporäre, anthropomorphe Erscheinungsform Gottes angesehen werden.47 Ausgestattet mit gezogenem Schwert hat der Gottesbote die Funktion eines Antagonisten, der sich dem Menschen entgegenstellt, von diesem jedoch nicht wahrgenommen wird. Die Eselin, die der göttlichen Erscheinung gewahr ist und dieser ausweicht, wird von ihrem Reiter dafür mit körperlicher Gewalt bestraft. Am Höhepunkt der Gewalt greift Gott ein und öffnet der Eselin den Mund. Die entsprechende Phrase wird auch verwendet, wenn JHWH Propheten dazu befähigt, seine Botschaft zu verkünden (vgl. Ez 3,27; 33,22), sodass der Mund der Eselin hier als »Offenbarungsinstrument«48 betrachtet werden kann. So wie 44 | Vgl. U. E. Eisen/I. Müllner: Gott als Figur – eine Einführung, S. 21. 45 | D.N. Freedman/B.E. Willoughby: Art. מַ לְ אָ ְך, S. 888. 46 | Vgl. ebd., S. 898. 47 | Vgl. G.B. Gray: Commentary on Numbers, S. 333. 48 | E. Toenges: Eselin, S. 104.
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Gott der Eselin zum Sprechen verholfen hat, öffnet er anschließend Bileam die Augen, damit der Seher nun endlich in der Lage ist, den Boten Gottes zu sehen. Dieser befragt Bileam nach seinen Beweggründen für die körperliche Gewalt gegenüber seiner Eselin und macht Bileam deutlich, dass er – wäre die Eselin nicht ausgewichen – Bileam getötet, die Eselin aber am Leben gelassen hätte. Bileams Verhalten wird durch die göttliche Instanz damit harsch kritisiert. Hier wird das Bild eines kämpferischen, ja gefährlichen Gottes transportiert, der sich gegenüber den Schwachen jedoch als gerechter Helfer erweist. Insgesamt wirkt der göttliche Aktant JHWH, auch in seiner temporären menschlichen Erscheinung als Bote, durch sein nichtsprachliches und sprachliches Handeln sowohl auf die menschliche als auch die tierliche Hauptfigur ein und beeinflusst wiederum deren Handeln. Damit ist Gott innerhalb der Hierarchie des Textes den anderen Figuren überlegen.
Begegnung mit dem Göttlichen: Bileam und Eselin Die Eselin ()אֲתֹ ן, die keinen Eigennamen trägt, wird in 22,21 erstmals erwähnt und als ein relationales und passives Objekt eingeführt: Das Possessivsuffix verdeutlicht, dass sie Bileam gehört, der zunächst als Subjekt an ihr handelt ( חבׁשsatteln, רכבreiten). Reiten ist in symbolischer Hinsicht ein herrschaftlicher Akt, welcher im Ersten Testament häufig Autoritäten, etwa dem König, zugeschrieben wird (vgl. Ri 5,10; 10,4; 2 Sam 16,2). Dementsprechend ist das Reiten auch als hegemonialer Akt gegenüber den gerittenen Tieren zu verstehen, drückt diese Handlung doch die Dominanz des menschlichen Wesens gegenüber dem tierlichen aus. So reitet denn auch Bileam ( עַל־אֲתֹ נֹוauf seiner Eselin), womit er über der räumlich wie sozial-hierarchisch subordinierten Eselin – als typisches Reit- und Lasttier das Taxi der Antike – positioniert wird. Als sich im Verlauf der Reise der göttliche Bote der kleinen Reisegruppe in den Weg stellt, kehren sich die konventionellen Leser_innenerwartungen ins Gegenteil um: Während jener Mann, der die Zukunft sehen und ein ganzes Volk verfluchen soll und dessen Schauen im weiteren Verlauf der Geschichte stark betont wird (22,41; 23,9; 24,15.16), den Boten JHWHs nicht wahrnimmt, sieht die Eselin das bedrohliche Szenario. Ihr Sehen ist nicht nur ein oberflächliches Erblicken, »sondern führt auch zum Verständnis, dass die Eselin dem Boten Gottes ausweichen muss«.49 Während sich nun der Bote in immer enger werdenden räumlichen Verhältnissen auf dem Weg positioniert, passt die Eselin ihr Ausweichverhalten differenziert der jeweiligen Situation an: Während sie in 22,23 noch raumgreifend auf das Feld ausweicht, drückt sie sich – und damit auch Bileams Bein bzw. Fuß ()רגֶל ֶ – in der beengteren Raumumgebung von 22,24f. gegen die Mauer. In äußerster Zuspitzung der räumlichen Bedrängung 49 | Ebd.
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durch den Gottesboten in 22,26f. schließlich legt ( )רבץdie Eselin sich unter Bileam nieder. Bileams Verhalten hingegen ist monoton und gewalttätig: Ohne das Handeln seiner Eselin zu hinterfragen, schlägt ( )נכהer sie jedes Mal mit stärkerer Intensität. In 22,27 schließlich entbrennt gar Bileams Zorn bzw. Nase analog zum eingangs entbrannten Gotteszorn (22,22); so ist im Subtext herauszulesen »wie verfehlt dieser Zorn angesichts des Gotteszorns«50 ist. Am Höhepunkt ihrer Demütigung öffnet Gott der Eselin den Mund. Im Folgenden spricht sie in zwei Redegängen zu Bileam. Rhetorisch geschickt setzt sie Suggestivfragen ein, um Bileams Verhalten zu kritisieren und zu korrigieren, wobei sie sich als eloquent und intelligent gegenüber dem unverständigen Propheten erweist. In seiner ersten Antwort wirft Bileam seinem Reittier vor, Mutwillen mit ihm zu treiben ( )עללund wünscht sich ironischerweise ein Schwert, um die Eselin zu töten – nicht wissend, dass tatsächlich er derjenige ist, der von dem Schwert des Boten gefährdet ist. Auf die zweite rhetorische Doppelfrage der Eselin, die ihr zeitliches und soziales Empfinden zum Ausdruck bringt (»Bin ich nicht deine Eselin, auf welcher du geritten bist seit du bist bis zu diesem Tag? Habe ich jemals die Gewohnheit gehabt dir so zu tun?«), erwidert Bileam nun einsichtig schlicht »nein«. Erst an diesem Punkt öffnet JHWH Bileams Augen, sodass dieser nun auch den Boten Gottes auf dem Weg stehen sieht und sich demütig auf seine vormals zornig entbrannte Nase wirft. Insgesamt wird die Eselin als handlungsmächtige Figur gezeichnet, die eine große Varianz an Verben aufweist und situationsangepasst agiert. Die Erzählstimme lässt die Leser_innen ebenfalls sehen, was die Eselin erblickt, sodass diese der Figur Bileam das Wissen um den göttlichen Hinderer voraushaben. Die Sprachfähigkeit der Eselin wird dadurch, dass JHWH ihr den Mund öffnet, als Besonderheit mit quasi prophetischer Bedeutung gekennzeichnet. Bileam verfügt über weniger Handlungsvarianz als seine Eselin, insbesondere im Hinblick auf seine monotone Reaktion des Schlagens, dem das differenzierte Handeln der Eselin gegenübersteht. Ebenso erweist er sich im Dialog mit der Eselin als gedanklich unflexibel und unverständig. Die Wertung des Verhaltens Bileams obliegt in der Figurenrede den Akteur_innen Eselin und Gottesbote und wird darin als unangemessen kritisiert. Hinsichtlich der Relationalität der tierlichen, menschlichen und göttlichen Aktant_innen ist festzuhalten, dass die Eselin formal Bileam zugeordnet und diesem auch inhaltlich als sein Handlungsobjekt (satteln, reiten und v.a. schlagen) subordiniert ist; in der Qualität ihrer Handlungen ist sie Bileam innerhalb des Textabschnitts jedoch überlegen. Die Textpragmatik zielt also klar auf die Aufwertung der Eselin bei gleichzeitiger Abwertung Bileams.
50 | H. Seebass: Numeri 22,2-36,13, S. 78.
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R el ationen als K onstell ationen »Alles ist miteinander verbunden.«51
Die an Interspezies-Relationen interessierte Analyse von Gen 1,1-2,4a und Num 22,21-35 macht deutlich, dass die konstellative Anthropologie der hebräischen Vorstellungswelt Niederschlag findet in der narrativen Gestaltung der Texte. Es steht »weniger die einzelne Figur in ihrer Individualität im Zentrum, sondern die Figur als Teil einer Konstellation«.52 Dabei besteht diese konstellative, dargestellte Sozialsphäre nicht nur aus menschlichen, sondern auch aus göttlichen und tierlichen Akteur_innen. Gott, Menschen und Tiere sind miteinander verwoben, wobei Hierarchien offenbar werden: Gott wird als privilegierte Figur präsentiert, die innerhalb eines kanonisch-intertextuellen Referenzrahmens als bekannt vorausgesetzt wird. Gott ist jener handlungsmächtige Aktant, der grundsätzliche Ordnungen setzt, in der Lage ist, an allen anderen Figuren zu handeln und das Geschehen bewertet. Ihm zur Seite gestellt sind mit Erde oder Bote theologisch aufgeladene Figuren, die in ihrem Handeln häufig mit Gott verschmelzen. Menschen und Tiere stehen in Beziehung zu Gott. Als Ebenbild Gottes nehmen Menschen eine hierarchisch höhere Position ein, die sich abstrakt im Herrschen über die Tiere (Gen 1) oder konkret in deren Verfügbarmachung (Num 22) niederschlagen kann. Doch die prima facie untergeordneten Tiere stehen nicht nur in einer direkten Beziehung zu Gott, sondern erweisen sich als selbstständig, selbstbewusst und sensibel für das Transzendente (Num 22) sowie als überaus vitale Wesen mit einem Recht auf Leben im kosmologischen Gefüge mit den Menschen (Gen 1).
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Vegetarische Löwen und sprechende Esel
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Vegetarische Löwen und sprechende Esel
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83
Tier-Mensch-Beziehungen Einblicke in die Bevölkerungsmeinung Ulf Liebe, Benedikt Jahnke und Ulrike Heitholt
Der stetig zunehmende Diskurs über das Verhältnis zwischen Tier und Mensch findet nicht nur, aber ganz überwiegend in den ›akademischen Studierstuben‹ statt. Obwohl für philosophische, ethische bzw. normative Argumente zu diesem Thema die Meinung der Bevölkerung nicht zwingend relevant ist1, scheint es jedoch naheliegend und wünschenswert zu erfahren, was die Bevölkerung über Tier-Mensch-Beziehungen denkt und inwieweit sich soziale Gruppen in ihren Einstellungen zu Tier-Mensch-Beziehungen unterscheiden. An dieser Stelle setzt unser Beitrag an und berichtet einige Ergebnisse einer allgemeinen Bevölkerungsbefragung zum Thema Tier-Mensch-Beziehungen, die 2015 in Deutschland durchgeführt wurde. Diese umfangreiche Befragung enthielt zahlreiche Unterthemen, von denen in diesem Beitrag drei vertieft werden, um sich einem (repräsentativen) Gesamtbild der Bevölkerungsmeinung zu Tier-MenschBeziehungen anzunähern. Erstens befassen wir uns mit der Frage, wie Personen die Ähnlichkeit zwischen Tieren und Menschen bewerten. Dabei können zwei Extrempositionen unterschieden werden. Auf der einen Seite ist ein strikter Anthropozentrismus denkbar, bei dem Tieren »menschliche« Eigenschaften und Menschen »tierische« Eigenschaften gänzlich abgesprochen werden.2 Auf der anderen Seite ist ein strikter Biozentrismus möglich, bei dem kein Unterschied zwischen Tieren und Menschen gemacht wird bzw. Tieren dieselben Rechte wie Menschen zugestanden werden. Letzteres ist ein viel und kontrovers diskutiertes Thema in der philosophisch-ethischen Auseinandersetzung über Tier-Mensch-Beziehungen.3 1 | Für eine Einführung siehe D. DeGrazia: Animal Rights. 2 | Für eine Begriffsbestimmung siehe G. Steiner: Anthropozentrismus. 3 | Für einen kurzen Überblick siche K.P. Rippe: Tierethik.
86
Ulf Liebe/Benedikt Jahnke/Ulrike Heitholt
Zweitens untersuchen wir das Bewusstsein der Bevölkerung für das Tierwohl. Dieses Tierwohlbewusstsein sollte als allgemeine Einstellung einen Erklärungsgehalt für verschiedene spezifische Bereiche der Tier-Mensch-Beziehung besitzen (z.B. den Fleischkonsum). In unserer empirischen Untersuchung haben wir darüber hinaus ein neues Messinstrument zur Erfassung des Tierwohlbewusstseins entwickelt. Drittens analysieren wir, inwieweit, neben soziodemographischen Merkmalen wie Geschlecht und Bildung, die beiden genannten Einstellungen – TierMensch-Ähnlichkeit und Tierwohlbewusstsein – einen Erklärungsgehalt besitzen und somit handlungsrelevant sind, zum einen mit Blick auf die Zahlung eines Mehrpreises für Fleisch, das unter besonderer Berücksichtigung des Tierwohls produziert wurde, sowie zum anderen hinsichtlich der Entscheidung, sich fleischfrei zu ernähren. Zudem gehen wir noch auf Ergebnisse einer Vignettenanalyse ein, in der die Befragten Aktionen von Tierschützer_innen und Tierrechtler_innen bewertet haben. Im Folgenden stellen wir zunächst die Datenbasis unserer Untersuchung vor und gehen dann auf die Maße für die zwei betrachteten Einstellungen und die Handlungsrelevanz ein. Neben beschreibenden Analysen berichten wir jeweils auch die Ergebnisse multivariater Regressionsmodelle, die Zusammenhänge zwischen soziodemographischen Merkmalen, den Einstellungen und der Handlungsrelevanz aufzeigen. Der Beitrag schließt mit einem Fazit ab, in dem ein Gesamtbild der Bevölkerungsmeinung zum Thema Tier-Mensch-Beziehungen skizziert wird.
D atensatzbeschreibung Im Rahmen des Teilprojektes D2 »Einstellungen der Bevölkerung zu (Nutz-) Tieren« des LOEWE-Forschungsschwerpunkts »Tier – Mensch – Gesellschaft« an der Universität Kassel wurde in Kooperation mit dem LINK Institut für Markt- und Sozialforschung eine Online-Befragung der Bevölkerung durchgeführt. Dazu wurden im Oktober und November 2015 unter Rückgriff auf das Access-Panel 6.663 Personen zur Teilnahme an der Befragung eingeladen. Daraus gingen 2.299 verwertbare Fälle hervor, was annähernd einer Ausschöpfungsquote von 34,5% entspricht. Die aus der Online-Befragung resultierende Stichprobe der Bevölkerung soll im Folgenden anhand einiger soziodemographischer Angaben charakterisiert werden (siehe Tab. 1). Männer (51%) und Frauen (49%) sind im Datensatz beinahe zu gleichen Teilen vertreten. Das Durchschnittsalter liegt bei 43 Jahren, wobei die Männer geringfügig älter sind als die Frauen. In Bezug auf das Bildungsniveau, gemessen am höchsten Bildungsabschluss, verfügen 22% der
Tier-Mensch-Beziehungen
Befragten über einen Volks- bzw. Hauptschulabschluss, 43% über einen Realschul- oder gleichwertigen Abschluss und 35% über Fachhochschul- oder Hochschulreife, sodass die Befragten im Durchschnitt 11 Bildungsjahre vorzuweisen haben. Eine weitere statistische Kenngröße zur Beschreibung des Datensatzes ist die Haushaltsgröße. Die am häufigsten im Datensatz vorkommende Haushaltsgröße ist der Zweipersonenhaushalt (38%), gefolgt vom Dreipersonenhaushalt (22%). Einpersonenhaushalte sowie Haushalte mit vier Personen sind mit 18 bzw. 17% annähernd gleich häufig vertreten. Der Anteil der Personen, die in einer Stadt leben, liegt bei 67%. Zur Bestimmung des Haushaltsnettoäquivalenzeinkommens teilen wir das Haushaltsnettoeinkommen durch die Quadratwurzel der Anzahl aller Haushaltsmitglieder und erhalten einen Mittelwert von 1.962 Euro pro Monat. Im Lichte der Thematik Tier-Mensch-Beziehung ist noch der Anteil der sich vegetarisch oder vegan ernährenden Personen von Interesse. Dieser liegt im Datensatz bei 5,8 bzw. 1,2% (zusammen 7%). Ein Vergleich dieser soziodemographischen Angaben mit den Daten des statistischen Bundesamtes zur gesamtdeutschen Bevölkerung zeigt, dass es im Hinblick auf viele soziodemographische Parameter nur geringe Abweichungen gibt. Größere Unterschiede sind v.a. beim Bildungsniveau (Verzerrung hin zu höher Gebildeten) und der Haushaltsgröße (weniger Einpersonenhaushalte im Datensatz als in der Bevölkerung) zu verzeichnen.
Tabelle 1: Übersicht zu den soziodemographischen Angaben der Befragten im Datensatz Variable
Mittelwert
SD
Min
Max
N
0
1
2.299
Gender (1 = Frau)
0,49
Alter in Jahren
42,39
13,34
18
69
2.299
Bildungsjahre
11,30
3,19
7
18
2.299
1,18
Haushaltsgröße
2,57
Urbanisierungsgrad (1 = Stadt)
0,67
Nettohaushaltsäquivalenzeinkommen
1.961,62
Ernährung (1 = vegan/vegetarisch)
0,07
969,44
1
9
2.292
0
1
2.299
190
8.944,27
1.836
0
1
2.298
87
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Ulf Liebe/Benedikt Jahnke/Ulrike Heitholt
E rgebnisse zur A nimal -H uman C ontinuit y S cale Die Frage nach Unterschieden zwischen Mensch und Tier ist eine grundlegende und betrifft das menschliche Selbstverständnis. Sie wird daher schon lange und intensiv in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, darunter Philosophie, Psychologie und Ethologie, diskutiert und beforscht.4 Templer et al.5 haben eine Skala zur Messung der Kontinuität zwischen Mensch und Tier (Animal-Human Continuity Scale) entworfen, mit der sich anhand von Selbsteinschätzungen befragter Personen graduelle Unterschiede in deren Positionierung zu diesem Thema feststellen lassen. Die in Tabelle 2 aufgeführten acht Items stammen in großen Teilen (Item A bis F) aus dieser von Templer et al. entworfenen Skala. Außerdem wurde auf die Animal Attitude Skala von Herzog et al.6 zurückgegriffen (Item G) sowie bei Item H eine eigene Formulierung entwickelt. Zur Beantwortung der Items wurde eine vierstufige Skala mit den Endpunkten »Stimme voll und ganz zu« und »Stimme überhaupt nicht zu« verwendet, sowie »Weiß nicht« als fünfte Antwortkategorie angeboten. Die Ergebnisse in Tabelle 2 zeigen, dass die Mehrheit der Befragten Tieren verschiedene in der Regel mit Menschen in Verbindung gebrachte Attribute zuschreibt. So besitzen Tiere nach Meinung der Befragten die Fähigkeiten zu denken (80%), zu lieben (70%), und sie fürchten sich vor dem Tod (63%). Haustiere als vollwertige Familienmitglieder zu betrachten, trifft ebenso auf breite Zustimmung (77%) wie die Vorstellung, dass Menschen Tiere sind (53%). Trotz dieser wahrgenommenen Parallelen besitzen Tiere nach Auffassung der Mehrheit der Befragten nicht dieselben Rechte wie Menschen (58%) und sie dürfen für menschliche Dienste genutzt werden (68%). Allerdings sind dabei gewisse Grenzen zu berücksichtigen, wie aus der mehrheitlichen Ablehnung des Items G (77%) ersichtlich wird, das auf ein grundsätzliches Nutzungsrecht von Menschen abstellt. Mittels einer Faktorenanalyse, die dazu dient festzustellen, inwieweit verschiedene Items eine oder mehrere zugrundeliegende gemeinsame Dimensionen repräsentieren (d.h. latente Konstrukte/Faktoren, die durch starke Zusammenhänge zwischen den entsprechenden Items angezeigt werden), wurden aus den Items in Tabelle 2 zwei Faktoren mit einem Eigenwert über Eins ermittelt. Alle Aussagen mit Ausnahme von E und G bilden den ersten Faktor und folglich E und G gemeinsam den zweiten Faktor. Während der erste Faktor die Einschätzung der Ähnlichkeit von Tier und Mensch misst, bezieht sich der zweite Faktor auf das wahrgenommene Recht der Menschen, Tiere für 4 | D. DeGrazia: Animal Rights. 5 | D.I. Templer/H.J. Conelly/L. Bassmann/J. Hart: Construction and Validation. 6 | H.A. Herzog/N.S. Betchart/R.B. Pittman: Gender.
14 17 29
2 9
41
7
29
D) Tiere können sich verlieben.
33
56
30
C) Tiere fürchten sich vor dem Tod.
28
11
Stimme eher zu
12
25
B) Menschen sind Tiere.
E) Es ist in Ordnung, Tiere für menschliche Dienste zu nutzen. F) Es ist verrückt, Tiere als Familienmitglieder aufzufassen. G) Menschen haben grundsätzlich das Recht, Tiere nach eigenem Ermessen zu nutzen. H) Tiere besitzen dieselben Rechte wie Menschen.
4
A) Menschen können denken, Tiere nicht.
Stimme voll und ganz zu
39
44
32
21
11
13
20
34
Stimme eher nicht zu
19
33
45
7
4
4
22
46
Stimme überhaupt nicht zu
Tabelle 2: Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Tier und Mensch(alle Angaben in Prozent)
4
4
2
4
15
20
5
5
Weiß nicht
2.298
2.297
2.297
2.297
2.298
2.298
2.297
2.297
N
Tier-Mensch-Beziehungen
89
90
Ulf Liebe/Benedikt Jahnke/Ulrike Heitholt
sich zu nutzen. Wir bilden zwei additive Indizes aus den Antworten zu den beiden Faktoren und kodieren diese so, dass höhere Werte auf dem Index eine stärker wahrgenommene Tier-Mensch-Ähnlichkeit und ein geringeres wahrgenommenes Tiernutzungsrecht bedeuten. Abbildung 1 zeigt die Ergebnisse einer linearen Regression mit den beiden »Animal-Human Continuity Scales« als abhängigen Variablen. Es zeigt sich, dass Frauen höhere Werte auf der Tier-Mensch-Ähnlichkeits-Skala und der Skala zum Tiernutzungsrecht erzielen als Männer. Diese Unterschiede sind statistisch höchst signifikant. Ältere Befragte und jene mit einer höheren Bildung haben hingegen statistisch signifikant geringere Werte auf den beiden Skalen. Lediglich mit Blick auf das Tiernutzungsrecht finden wir schwache Stadt-LandUnterschiede (statistisch signifikant auf dem 10%-Niveau). Befragte aus Großstädten sprechen Menschen ein Nutzungsrecht eher ab als Befragte, die im ländlichen Raum leben. Eine naheliegende Erklärung ist der stärkere landwirtschaftliche Bezug der Landbevölkerung im Vergleich zur Stadtbevölkerung.7
Frau (vs. Mann) Alter in Jahren Bildung in Jahren Einkommen Kleinstadt (vs. Dorf) Großstadt (vs. Dorf) -.1
0
.1
.2
.3
.4
Tier-Mensch-Ähnlichkeit Kein Tiernutzungsrecht Tierwohlbewusstsein
Abb. 1: Ergebnisse multivariater Analysen zu Einstellungen. Erläuterung: Berichtet werden unstandardisierte Koeffizienten sowie 95%-Konfidenzintervalle von linearen Regressionsmodellen zu drei Einstellungsmaßen. Das angepasste R2 der Modelle liegt bei 0,075 (TierMensch-Ähnlichkeit), 0,062 (Kein Tiernutzungsrecht) und 0,063 (Tierwohlbewusstsein). 7 | Für ähnliche Befunde zur Naturnutzung siehe U. Liebe/P. Preisendörfer: Für oder wider die Natur?
Tier-Mensch-Beziehungen
E rgebnisse zum T ierwohlbewusstsein Tierwohl im engeren Sinne wird im politisch-wirtschaftlich-gesellschaftlichen Diskurs oftmals mit einer artgerechten Haltung gleichgesetzt, wobei es eigentlich ganz grundlegend um die Frage geht, was ein gutes Leben für Tiere ausmacht und wie man dies wissenschaftlich greifbar machen kann.8 Im Rahmen unseres Forschungsprojektes haben wir uns zum Ziel gesetzt, eine Skala zu entwickeln, die eine allgemeine Einstellung von Menschen gegenüber Tierwohl und Tierschutz erfasst. Eine Einstellung entspricht der inneren Disposition einer Person in Bezug auf ein »Objekt«. Sie ist nicht im Vorhinein gegeben, sondern wird erst herausgebildet, wenn eine Person auf ein »Objekt« in einer affektiven, kognitiven oder konativen Weise bewertend reagiert: »Attitude is a psychological tendency that is expressed by evaluating a particular entity with some degree of favor or disfavor.«9 Bezogen auf Tierwohl und Tierschutz beinhaltet die kognitive Einstellungskomponente das Wissen über Tiere und rationale Bewertungen bzw. die Einsicht, dass Tiere gefährdet sind. Die affektive Komponente subsumiert Gefühlsäußerungen in Reaktion auf als problematisch eingestufte Zustände von Tieren bzw. die Betroffenheit in Bezug auf Tierzustände. Die konative Komponente bezieht sich auf eine Handlungsbereitschaft, die Lebensqualität von Tieren zu verbessern. Im Anschluss an Studien zum allgemeinen Umweltbewusstsein10 haben wir auf Basis der von Diekmann und Preisendörfer11 entwickelten Aussagen eine Skala zum allgemeinen Tierwohlbewusstsein entwickelt (siehe Tab. 3). Wie im Original von Diekmann und Preisendörfer soll auch diese Skala mit je drei Items den affektiven (Item A bis C), kognitiven (Item D bis F) und konativen (Item G bis I) Bereich menschlicher Einstellungen ansprechen. Den drei affektiven Aussagen wird von den Befragten mit großer Mehrheit zugestimmt. Der heutige Umgang mit Tieren wird als besorgniserregend empfunden (74%), auf Berichterstattungen über Tierquälerei wird mit Wut und Empörung reagiert (90%) und auch die Zukunftsaussichten werden negativ eingeschätzt, da ohne Umdenken das Leiden unerträglich werde (70%). Im Vergleich dazu werden die drei kognitiven Aussagen von den Befragten heterogener beantwortet. Zwar wird Politikern zu wenig Engagement für den Tierschutz bescheinigt (75%) und das Streben nach Wirtschaftswachstum als 8 | D. Fraser/D.M. Weary/E.A. Pajor/B.N. Milligan: Ethical concern; D.M. Broom/A.F. Fraser: Domestic animal behaviour and welfare. 9 | A.H. Eagly/S. Chaiken: The Psychology of Attitudes, S. 1. 10 | P. Preisendörfer: Umweltbewußtsein. 11 | A. Diekmann/P. Preisendörfer: Umweltbewußtsein und Umweltverhalten.
91
30
52
27 30 39 8 22
4
14
A) Es beunruhigt mich, wenn ich daran denke, wie wir heutzutage mit Tieren umgehen.
B) Wenn ich Zeitungsberichte über Tierquälerei lese oder entsprechende Fernsehsendungen sehe, bin ich oft empört und wütend.
C) Wenn wir weiter so machen wie bisher, wird das Leiden der Tiere unerträglich.
D) Es ist noch immer so, dass die Politiker viel zu wenig für den Tierschutz tun.
E) Das Streben nach wirtschaftlichem Wachstum geht zu Lasten der Tiere.
F) Die Problematik des Tierschutzes wird in seiner Bedeutung von vielen Tierschützern stark übertrieben.
G) Zugunsten des Tierschutzes sollten wir alle bereit sein, unsere Lebensgewohnheiten umzustellen.
H) Wissenschaft und Technik werden Fragen des Tierschutzes so lösen, ohne dass wir unsere Ernährungsweise ändern müssen.
I) Tierschutzmaßnahmen sollten auch dann durchgesetzt werden, wenn dadurch Arbeitsplätze verloren gehen.
Stimme voll und ganz zu
47
23
52
31
43
45
43
38
44
Stimme eher zu
Tabelle 3: Skala zum allgemeinen Tierwohlbewusstsein (alle Angaben in Prozent)
26
42
19
40
11
15
19
7
19
Stimme eher nicht zu
5
16
3
14
2
2
3
1
4
Stimme überhaupt nicht zu
8
15
4
7
5
8
8
2
3
Weiß nicht
2.298
2.297
2.298
2.298
2.298
2.299
2.298
2.298
2.299
N
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Tier-Mensch-Beziehungen
belastend für Tiere eingeschätzt (82%), jedoch ist man sich in der Art und Weise der Darstellung aus dem Bereich des Tierschutzes unsicher, ob die Situation nicht übertrieben dargestellt wird. Dies zumindest vermuten 39%, wohingegen 54% der Meinung sind, dass die Darstellungen die Realität mehr oder weniger gut abbilden; 7% sehen sich außerstande, dies zu beurteilen. Die abschließenden drei konativen Aussagen zeigen erneut kein einheitliches Bild. Zwar besteht unter den Befragten mehrheitlich die Bereitschaft, zugunsten des Tierschutzes die eigenen Lebensgewohnheiten zu verändern (74%), doch ob dafür eigene Anstrengungen erforderlich sind, wird unterschiedlich beurteilt. Denn 27% der Befragten sind der Meinung, dass sich durch Fortschritte in Wissenschaft und Technik die Situation so verbessern wird, dass zumindest bei den Ernährungsgewohnheiten keine Veränderungen nötig sind. Dieser Sichtweise widersprechen 58%, und weitere 15% wagen es nicht, eine Prognose abzugeben. Eine ähnliche Verteilung der Antworten zeigt sich auch in Bezug auf die letzte Aussage. Circa 30% lehnen es ab, wenn aufgrund von Tierschutzmaßnahmen Arbeitsplätze verloren gehen, wohingegen knapp über 60% eine solche Entscheidung prinzipiell mittragen würden. Der Anteil derjenigen, die sich dazu nicht eindeutig positionieren, liegt hier bei 8%. Eine Faktorenanalyse der Items in Tabelle 3 ergibt einen Faktor mit einem Eigenwert über Eins. Alle Items haben Faktorladungen über 0,6; einzig Item H zur Bedeutung von Wissenschaft und Technik hat eine Faktorladung unter 0,5. Dennoch und nicht zuletzt aus konzeptionellen Gründen, bilden wir einen Summenindex auf Basis aller Items in Tabelle 3 (Summe der Skalenpunkte geteilt durch die Anzahl der neun Items). Die Reliabilität der Skala ist mit einem Cronbach’s Alpha von 0,86 zufriedenstellend. Der Mittelwert der Skala liegt bei 3,05 mit einem Minimum von 1,33 und einem Maximum von 4. Dies deutet auf ein hohes Tierwohlbewusstsein hin. Abbildung 1 enthält die Ergebnisse einer linearen Regression zum Tierwohlbewusstsein. Es ist ersichtlich, dass der Gender-Effekt die größte Erklärungskraft besitzt. Frauen haben ein signifikant deutlich höheres Bewusstsein für das Tierwohl und den Tierschutz als Männer. Dies steht in Einklang mit etlichen anderen Studien.12 Wiederum sehen wir einen negativen Bildungseffekt, der statistisch schwach signifikant ist: Höher Gebildete haben ein geringeres Tierwohlbewusstsein als niedriger Gebildete. Die anderen Merkmale zeigen keine nennenswerten Effekte.
12 | H.A. Herzog/N.S. Betchart/R.B. Pittman: Gender; M.G.S. McKendree/C.C. Croney/ N.J.O. Widmar: Effects; G.A. María: Public perception.
93
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E rgebnisse zur H andlungsrelevanz Internalisierte Werte und gefestigte Einstellungen beeinflussen unser Handeln. Um dies näher zu beleuchten wurden im Verlauf der Befragung u.a. auch Fragen zu gezeigtem Verhalten bzw. Verhaltensabsichten gestellt, von denen einige Ergebnisse im Folgenden beschrieben werden. Zum einen wurde von den Befragten die Zahlungsbereitschaft für Fleisch ermittelt, bei dessen Produktion das Tierwohl explizit berücksichtigt wurde.13 Die Zahlungsbereitschaftsfrage hat sich dabei an der etablierten Methode der »Kontingenten Bewertung« orientiert.14 Um etwaige Verzerrungen in den Zahlungsbeträgen zu untersuchen, haben die Befragten im Rahmen eines SplitSample-Designs entweder ihre Zahlungsbereitschaft offen angegeben oder auf einer sogenannten Zahlleiter gewählt. Am Beispiel eines Schweinekoteletts (250g), das an der Frischetheke im Supermarkt 2,49 Euro kostet, wurde erfragt, was man für dieses Stück Fleisch bereit wäre zu bezahlen, wenn es unter besseren Haltungsbedingungen produziert wird (Zugang zu einem Außenbereich statt permanenter Stallhaltung). Das Ergebnis hierbei zeigt, dass die Befragten im Durchschnitt 4,40 Euro (SD 1,30) für das Schweinekotelett zu zahlen bereit wären, was einem Aufschlag von über 75% im Vergleich zum Ausgangspreis von 2,49 Euro entspricht. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass 1.796 und somit nicht alle der 2.299 im Datensatz vorliegenden Fälle in die Auswertung einbezogen wurden, denn eine Vielzahl an Befragten gab an, dass sie das Schweinekotelett gar nicht kaufen würden oder ohnehin kein Fleisch essen. Weiterhin haben einige wenige Befragte auch eine Zahlungsbereitschaft unterhalb des Ausgangspreises von 2,49 Euro angegeben.
Tabelle 4: Zahlungsbereitschaft für Tierwohl und fleischfreie Ernährung Mittelwert
SD
Median
Min
Max
N
Zahlungsbereitschaft in Euro
4,40
1,30
4,24
2,49
16
1.794
Zahlungsbereitschaft in Euro ohne oberste 5%
4,21
0,90
4,00
2,49
6,74
1.714
Fleischfreie Ernährung (vegetarisch/vegan)
0,07
0
1
2.298
Anmerkungen: Da der Ausgangspreis bei 2,49 Euro lag, wurden alle Werte kleiner 2,49 Euro nicht berücksichtigt. Für die metrische Berechnung wurden Mittelwerte der Preisstufen auf der Zahlleiter verwendet (2,49 → 2,74).
13 | Für einen Überblick siehe C.J. Lagerkvist/S. Hess: Consumer Willingness. 14 | Für einen Überblick siehe U. Liebe: Zahlungsbereitschaft.
Tier-Mensch-Beziehungen
Ergebnisse eines linearen Regressionsmodelles zur Zahlungsbereitschaft sind in Abbildung 2 dargestellt. Mit Blick auf die Handlungsrelevanz unter Kontrolle der weiter oben betrachteten Einstellungsmaße finden wir keine statistisch bedeutsamen Genderunterschiede. Vielmehr sind ältere Befragte, höher Gebildete und Befragte mit einem höheren Haushaltseinkommen für Fleisch, das unter Berücksichtigung des Tierwohls produziert wurde, mehr bereit zu zahlen als Jüngere, weniger Gebildete und einkommensschwächere Befragte. Dies deutet auf die Bedeutung von ökonomischen Restriktionen und, bemessen an der Bildung, von Wissen über die Tierwohlproblematik hin. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch andere Studien.15 Nunmehr ergeben sich zudem deutliche und statistisch bedeutsame Stadt-Land-Unterschiede: Personen aus Klein- und Großstädten sind für das Tierwohl bereit mehr zu zahlen als Personen aus dem ländlichen Raum. Analog zu den Modellen zum Tierwohlbewusstsein scheint die Landbevölkerung (im Mittel) ein eher instrumentelles Verhältnis zu Tieren zu haben (der Nutzungsaspekt steht im Vordergrund), dies auch bei Kontrolle der Einstellungsmaße. Während die Tier-Mensch-Ähnlichkeits-Skala und die Tiernutzungs-Skala keine signifikanten Zusammenhänge mit der Zahlungsbereitschaft für Tierwohl zeigen, sehen wir einen signifikant positiven und deutlichen Effekt des Tierwohlbewusstseins. Wir wollen noch eine weitere Verhaltensebene in den Blick nehmen, nämlich inwieweit die Merkmale in Abbildung 2 in der Lage sind, den Verzicht auf Fleischkonsum zu bestimmen. Dies ist bei 7% der Befragten der Fall (siehe Tab. 1 und 4). Die Ergebnisse sprechen eine klare Sprache: Unter Kontrolle der Einstellungen haben höher gebildete Befragte und Städter, insbesondere Großstädter, eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit sich fleischlos zu ernähren als weniger Gebildete und Befragte, die auf dem Land wohnen. Darüber hinaus sind jetzt auch die Tier-Mensch-Ähnlichkeits-Skala und die Tiernutzungs-Skala von Bedeutung. Befragte, die dazu tendieren, Tieren und Menschen dieselben Eigenschaften zuzuschreiben und die einer Nutzung von Tieren durch den Menschen eher skeptisch gegenüberstehen, haben eine weitaus höhere Wahrscheinlichkeit fleischfrei zu leben.16 Diese Ergebnisse erscheinen sinnfällig, da sie eine Kongruenz zwischen Einstellungen und Handlungen bei jenen Personen erkennen lassen, die bei einem wichtigen Teil ihres Lebensstils – den Essgewohnheiten – das Tierwohl und Tierrechte berücksichtigen. Die Befragung beinhaltete auch ein sogenanntes Factorial Survey Experiment bzw. Vignetten-Experiment.17 Bei dieser Art des Experiments treffen die 15 | C.A. Glass/W.G. Hutchinson/V.E. Beattie: Value to the Public; J.L. Lusk/F.B. Norwood: Direct Versus Indirect Questioning; R. Weinrich/S. Kühl/A. Zühlsdorf/A. Spiller: Consumer Attitudes in Germany. 16 | Vgl. M. Bilewicz/R. Imhoff/M. Drogosz: Conceptions of Human Uniqueness. 17 | K. Auspurg/T. Hinz: Factorial Survey Experiments.
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Frau (vs. Mann) Alter in Jahren Bildung in Jahren Einkommen Kleinstadt (vs. Dorf) Großstadt (vs. Dorf) Tier-Mensch-Ähnlichkeit Kein Tiernutzungsrecht Tierwohlbewusstsein -1
0
1
2
3
Zahlungsbereitschaft für Tierwohl Fleischfreie Ernährung
Abb. 2: Ergebnisse multivariater Analysen zur Handlungsrelevanz. Erläuterung: Berichtet werden unstandardisierte Koeffizienten sowie 95%-Konfidenzintervalle eines linearen Regressionsmodells zur Zahlungsbereitschaft für Tierwohl, d.h. Fleisch, das unter besseren Haltungsbedingungen produziert wird (Euro-Werte ohne oberste 5%, n = 775, angepasstes R2 von 0,088) und ein binäres Logitmodell zum Fleischkonsum (0 = Fleischkonsum, 1 = fleischfreie Ernährung, n = 1.026, Pseudo-R2 von 0,283). Befragten auf Grundlage einer vorgegebenen Situationsbeschreibung ihre Antwortentscheidung, wobei verschiedene Varianten der Situationsbeschreibung (= Vignetten) zum Einsatz kommen, die sich in Bezug auf relevante, von der Fragestellung abgeleitete Situationsmerkmale unterscheiden. Die im Zuge dieser Befragung integrierten Vignetten beschreiben allesamt eine dem Gesetz nach illegale Handlung von drei nicht weiter definierten Personen, wobei jede Vignette aus drei Merkmalen (Ort – Handlung – Konsequenz) bestand, die wiederum drei unterschiedliche Ausprägungen annehmen können: (1) Ort: Einbruch in einen Mastbetrieb, Forschungslabor, Zirkus; (2) Handlung: Parole »Freiheit für die Tiere« an die Wand sprühen, Haltungsbedingungen filmen, Tiere befreien; (3) Konsequenz: den Ort unbemerkt verlassen, vom Wachdienst gestellt, von der Polizei festgenommen. Bei Berücksichtigung aller möglichen Merkmalskombinationen ergeben sich 27 verschiedene Vignetten, von denen zur Illustration eine im Original lautet:
Tier-Mensch-Beziehungen »Drei Personen brechen nachts in den Stall eines Mastbetriebes ein und befreien dort gehaltene Tiere. Während sie den Ort verlassen, werden sie von der Polizei entdeckt und festgenommen.«
Alle Befragten haben eine solche Vignette bewertet und die sich an die jeweilige Situationsbeschreibung anschließenden Fragen beantwortet, wie stark man diese Aktion der drei Personen befürwortet und inwieweit man sich vorstellen könnte, selbst daran teilzunehmen. Die Beantwortung erfolgte jeweils auf einer fünfstufigen Skala entsprechend des Grades der Befürwortung (»sehr stark«, »stark«, »mittel«, »wenig«, »überhaupt nicht«) bzw. Vorstellung der Teilnahme (»sehr gut«, »gut«, »mittel«, »schlecht«, »überhaupt nicht«). Im Ergebnis zeigt sich, dass über alle Situationsbeschreibungen hinweg rund 20% der Befragten die Aktionen überhaupt nicht und demzufolge rund 80% die Aktionen der Aktivist_innen mindestens ein wenig befürworten, wobei eine starke und sehr starke Befürwortung bei 25% und eine mittlere Befürwortung bei 31% liegt (siehe graue Balken in der Abbildung 3). Wenig überraschend können sich 60% der Befragten überhaupt nicht und 23% schlecht vorstellen, an den beschriebenen Aktionen selbst teilzunehmen (siehe schwarze Balken in Abbildung 3); 10% wählen hingegen die Mittelkategorie und ca. 5% der Befragten können sich sehr gut bzw. gut vorstellen, aktiv teilzunehmen. Zusammengenommen wird sichtbar, dass die Bevölkerung zwar mehrheitlich die Aktionen der Aktivist_innen befürwortet, aber selbst nicht aktiv werden würde. Tiefergehende Analysen zeigen, dass ein Vignettenmerkmal für die Bewertung der Situationsbeschreibungen von besonderer Bedeutung ist. Die Befürwortung der beschriebenen illegalen Aktionen steigt deutlich, wenn es um das Filmen der Haltungsbedingungen von Tieren geht. Hier liegen die starke und sehr starke sowie die mittlere Befürwortung bei jeweils 35% (zusammen 70%) gegenüber 16% sowie 29% (zusammen 45%) bei den beiden anderen Aktionen »Tierbefreiung« und »Parole an die Wand sprühen«. Diese Unterschiede sind statistisch hoch signifikant.
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Ergebnisse Vignetten 70
60
50
40
% 30
20
10
0 Überhaupt nicht
Wenig/ Schlecht
Mittel
Stark/ Gut Sehr stark/ Sehr gut
Wie stark befürworten Sie diese Aktion der drei Personen? (N=2299) Inwieweit könnten Sie sich vorstellen, selbst an einer solchen Aktion teilzunehmen? (N=2298)
Abb. 3: Ergebnisse des Vignetten-Experiments.
F azit Ist der Mensch ein Tier? Leben wir in unserer Gesellschaft auf Kosten der Tiere? Wären und sind wir bereit, aktiv etwas für das Wohlergehen von Tieren zu tun? Die Ergebnisse unserer Befragung sind recht eindeutig. Einerseits ist die Mehrheit unserer über 2.000 befragten Personen der Meinung, dass Tiere Eigenschaften haben, die in der Regel Menschen zugeschrieben werden (und vice versa). Direkt gefragt ist eine ganz überwiegende Mehrheit zudem überzeugt, dass man sich um das Wohl der Tiere sorgen muss und dass die heutige Gesellschaft erhebliche Defizite dahingehend aufweist. Jedoch schreibt nur eine Minderheit Tieren dieselben Rechte wie Menschen zu, und während durchaus eine nennenswerte Zahlungsbereitschaft für Fleischprodukte mit höheren Tierwohlstandards besteht, ist nicht einmal ein Zehntel der Befragten bereit, sich fleischfrei zu ernähren, sich damit (in einem bestimmten Sinne) nicht über das Tier zu stellen und einem den eigenen Einstellungen entsprechenden Lebensstil zu folgen. Auch wenn die Daten deutliche Zusammenhänge zwischen Einstellun-
Tier-Mensch-Beziehungen
gen und Handeln zeigen, bleibt doch, wie bei anderen ethisch bedeutsamen gesellschaftlichen Themen auch, eine erhebliche Einstellungs-Verhaltens-Lücke.18 Wir haben in diesem Beitrag mit dem allgemeinen Tierwohlbewusstsein ein neues Messinstrument zur Erfassung von allgemeinen Einstellungen gegenüber Tierwohl/-schutz entwickelt und in der Anwendung erfolgreich getestet. Es ist nicht nur in sich konsistent, d.h. die kognitiven, affektiven und konativen Bereiche hängen stark miteinander zusammen, sondern es besitzt auch eine Erklärungskraft für spezifische Handlungsweisen (Zahlungsbereitschaft für ein bestimmtes Produkt mit einem höheren Tierwohlstandard und eine fleischlose Ernährung). Auch wenn in Umfragen in der Regel Handlungsabsichten und kein ›echtes‹ Handeln erfasst werden und zwischen hypothetischem und realem Handeln eine Lücke besteht (der hypothetische Bias), so lässt sich dennoch stets ein positiver Zusammenhang zwischen beiden Maßen feststellen. Ergänzend dazu hat sich gezeigt, dass für private Güter wie Lebensmittel der hypothetische Bias wesentlich geringer ist als für kollektive, weniger gut vertraute Güter.19 Im Folgenden erscheint es bedeutsam, unser Maß für das allgemeine Tierwohlbewusstsein auch international vergleichend zu erproben. Wir haben bereits erste Anzeichen, dass sich diese Einstellungsmessung in unterschiedlichen (kulturellen) Länderkontexten bewährt. Wie bei der Tier-Mensch-ÄhnlichkeitsSkala hat unser Messinstrument den analytischen Vorteil einer allgemeinen Einstellung, die einen hohen Erklärungsgehalt für spezifische Handlungsweisen haben sollte. Freilich muss dieser Erklärungsgehalt nicht ›allgemeingültig‹ sein, und es scheint lohnend zu prüfen, inwieweit kontextabhängige Erklärungen wie die Low-Cost-Hypothese der Einstellungs-Verhaltens-Forschung auch beim Tierwohlbewusstsein zutreffend sind. Dies würde bedeuten, dass sich das Tierwohlbewusstsein eher in entsprechendes Handeln umsetzt, wenn die Handlungskosten vergleichsweise niedrig sind.20 Eine konkurrierende Sichtweise, die mit dem Modell der Frame-Selektion motiviert werden kann, wäre jedoch, dass bei stark internalisierten Normen und Einstellungen – einem sehr hohen Tierwohlbewusstsein – die Handlungskosten keine Rolle spielen.21 Dies könnte etwa auf vegan lebende Menschen zutreffen. Solche empirischen Analysen würden demnach auch wichtige Hinweise für die Auseinandersetzung mit soziologischen Handlungstheorien liefern. Dieser Beitrag ist zusammengenommen ein Werben für die gesellschaftswissenschaftliche Sichtweise auf Tier-Mensch-Beziehungen, die u.a. Einstellungen und konkrete Handlungsweisen der Bevölkerung betrachtet und nicht vernachlässigt werden sollte. Ein Brückenschlag aus dem akademischen Diskurs 18 | A. Kollmuss/J. Agyeman: Mind the Gap. 19 | J.J. Murphy/P.G. Allen/T.H. Stevens/D. Weatherhead: Hypothetical Bias. 20 | A. Diekmann/P. Preisendörfer: Umweltbewußtsein. 21 | H. Best/C. Kroneberg: Die Low-Cost-Hypothese.
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ins gesellschaftliche Leben kann nur gelingen, wenn man sich der gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung, aber auch der Meinungs- und Einstellungsvielfalt zum Thema Tier-Mensch-Beziehungen bewusst ist.
L iteraturverzeichnis Auspurg, Katrin/Hinz, Thomas: Factorial Survey Experiments. Applications for the Social Sciences (= SAGE Series: Quantitative Applications in the Social Sciences Nr. 175), Thousand Oaks (CA): Sage Publications 2015. Best, Henning/Kroneberg, Clemens: »Die Low-Cost-Hypothese: Theoretische Grundlagen und empirische Implikationen«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 64 (2012), S. 535-561. Bilewicz, Michal/Imhoff, Roland/Drogosz, Marek: »The humanity of what we eat: Conceptions of human uniqueness among vegetarians and omnivores«, in: European Journal of Social Psychology 41 (2011), S. 201-209. Broom, Donald M./Fraser, Andrew F.: Domestic animal behaviour and welfare, Wallingford: CAB International 2007. DeGrazia, David: Animal Rights. A Very Short Introduction, Oxford: Oxford University Press 2002. Diekmann, Andreas/Preisendörfer, Peter: »Umweltbewußtsein und Umweltverhalten in Low- und High-Cost-Situationen. Eine empirische Überprüfung der Low-Cost-Hypothese«, in: Zeitschrift für Soziologie 27 (1998), S. 438-453. Eagly, Alice H./Chaiken, Shelly: The Psychology of Attitudes, Fort Worth (TX) u.a.: Harcourt College Publishers 1993. Flury, Andreas: Der moralische Status der Tiere. Henry Salt, Peter Singer und Tom Regan, Freiburg i.Br.: Verlag Karl Alber 1999. Fraser, David/Weary, Daniel M./Pajor, Edmond A./Milligan, Barry N.: »A scientific conception of animal welfare that reflects ethical concerns«, in: Animal Welfare 6 (1997), S. 187-205. Glass, C.A./Hutchinson, W. George/Beattie, Violet E.: »Measuring the value to the public of pig welfare improvements: a contingent valuation approach«, in: Animal Welfare 14 (2005), S. 61-69. Herzog, Harold A./Betchart, Nancy S./Pittman, Robert B.: »Gender, Sex Role Orientation, and Attitudes toward Animals«, in: Anthrozoös 4 (1991), S. 184-191. Kollmuss, Anja/Agyeman, Julian: »Mind the Gap: Why do people act environmentally and what are the barriers to pro-environmental behavior?«, in: Environmental Education Research 8 (2002), S. 239-260.
Tier-Mensch-Beziehungen
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Insekten und die Regeneration des Lebendigen in der Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts Thomas Ruhland
»Die Historia Insectorum hält viel grössere Merckwürdigkeiten in sich, als man bey den grossen Thieren antrifft, und dergleichen niemand vermuthen würde.« C. Wolff: Hochwohlgebohrner R**, Halle 1745, S. 49.
I nsek tomania Insekten sind ›in‹ und sie sind interdisziplinär. Die Biologin Andrea Grill veröffentlichte kürzlich eine Naturgeschichte1 der Schmetterlinge, Michael Ohl wählte Insekten für seine Einführung in die Taxonomie und der Stern sieht in ihnen die Lösung des Welternährungsproblems.2 Sie sind fester Bestandteil der Wissens- und Kunstgeschichte, werden in der Anthropologie wahrgenommen und haben sich, nach dem sie lange nur als Randgebiet der Frömmigkeitsgeschichte existierten, in den Mainstream der Aufklärungsforschung eingeschrieben.3 Bei genauerer Betrachtung der Konstellation verdeutlicht sich allerdings, dass Insekten, welche mit ca. einer Million beschriebener Spezies die zahlenmäßig bei Weitem artenreichste Klasse des Tierreiches darstellen, nicht erst neuerdings im Fokus stehen. Bereits in der Frühen Neuzeit wurden sie zu einem 1 | Zur Naturgeschichte vgl. A. Guerrini: Natural History; B.J. Strasser: Collection; B. Dietz: Aufklärung; A. t. Heesen/E.C. Spary: Sammeln; N. Jardin/J.A. Secord/E.C. Spary: Cultures. Mein besonderer Dank gilt Silke Förschler und Wiebke Reinert für die kritische Lektüre und ihre Kommentare zu früheren Versionen dieses Beitrages. 2 | Vgl. A. Grill: Schmetterlinge; M. Ohl: Benennung; S. Simon: Fliege. 3 | Vgl. J. Neri: Insect; B.W. Ogilvie: Order; Ders.: Bible; H. Raffles: Insektopädie; A.-C. Trepp: Glückseligkeit; S. Martus: Aufklärung, S. 340-370.
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Forschungsgegenstand eigener Qualität und führten sowohl in der Naturgeschichte als auch in der Philosophie zu grundlegenden Überlegungen. Es war gerade ihre taxonomische Breite, die im 18. Jahrhundert zu einer umfassenden Beschäftigung mit Insekten als einer spezifischen Lebensform4 führte und zugleich traditionelle Vorstellungen hinwegfegte, wie sich Leben konstituiert, vermehrt und welche Formen von Leben und Seelenvermögen denkbar sind.5 Als Modellorganismen dienten sie zur Neujustierung der Relationalität zwischen Belebtem und Unbelebtem, Pflanzen und Tieren, Beseeltem und Unbeseeltem – standen am Beginn einer »Philosophie vom Leben«6. Theologen, Philosophen und Naturkundler gleichermaßen bezogen sich auf sie und wendeten dabei die empirischen Methoden der Naturgeschichte an.7 Ziel dieses Beitrages ist es, ausgehend von der Frage der Klassifikation von Insekten, die Verbindung zwischen Insekten und der im 18. Jahrhundert äußerst vielschichtigen Debatte um bisher unbekannte Fortpflanzungsarten zu verdeutlichen. Dazu wird die Bedeutung der Insektenexperimente von Abraham Trembley und Charles Bonnet analysiert und am Beispiel Christian Gottlieb Kratzensteins, Christian Wolffs und Johann Salomo Semlers deren Einfluss im deutschen Sprachraum aufgezeigt.
D ie V ermehrung der I nsek ten und die O rdnung der N atur Methodische Innovationen, wie die Erfindung des Mikroskops und empirische Beobachtung sowie erste bahnbrechende Experimente, führten im 17. Jahrhundert zu neuen Erkenntnissen über den Aufbau einzelner Insektenarten und erneuerten das Wissen über die Metamorphose als Grundlage ihres Lebenszyklus’.8 Damit einher ging die immer konkretere Bestimmung der Taxa der Insekten und ihre Abgrenzung als tierische Lebensform sui generis.9 Die Vorstellungen, was ein Insekt sei oder besser, welche Lebensformen unter dem Begriff Insekten zu einer Einheit gefasst werden sollten, variierten dabei sehr. Diese Diversität verdeutlicht die große Herausforderung, mit der sich die Naturgeschichte im 18. Jahrhundert konfrontiert sah – Ordnung zu schaffen in der Flut von Informationen über die drei Reiche der Natur, diese gegeneinander
4 | Vgl. B.W. Ogilvie: Beasts, S. 297-299. 5 | Vgl. zur Bedeutung der Polypen für die Anthropologie der Aufklärung: T. v. Hoorn: Hydra. 6 | M. Foucault: Ordnung, S. 208; vgl. T. Cheung: Ordnung, S. 108. 7 | Vgl. S. Foerschler/A. Mariss: Verfahrensweisen; K. Köchy: Grenze. 8 | Vgl. B.W. Ogilvie: Order. 9 | Vgl. I. Jahn: Kommentar.
Insekten und die Regeneration des Lebendigen
abzugrenzen und die Formen des Lebendigen zu systematisieren.10 Unterschiedliche Praktiken und Verfahrensweisen wurden dafür konstitutiv11 und es konkurrierten diverse Systeme, wobei heute das von Carl v. Linné (1707-1778) am bekanntesten ist.12 Die Zeitgenossen konzentrierten sich nach den Erfolgen von Linnés systema naturæ13 auf das hier eingeführte Ordnungsschema. So forderte der Entomologe und Pfarrer Jacob Christian Schaeffer (1718-1790) bereits 1764 ein Ende immer neuer Systeme in der Naturgeschichte, empfahl dringend, bei Linnés Klassifikation zu bleiben, und verlangte zugleich die komplette Übersetzung von Linnés Publikation ins Deutsche.14 Eine Durchsetzung dieser Vereinheitlichung ließ jedoch noch auf sich warten und so entwarf bspw. der Medizinprofessor Johann Peter Eberhard (1727-1779) kurz darauf ein System, das Tiere nach sinnlichen Werkzeugen unterschied und Spinnen als siebente Klasse der Insekten entsprechend ihrer Umwelt systematisierte: u.a. als Hausspinnen, Gartenspinnen und Kellerspinnen.15 Für die Frage der Binnendifferenzierung dieser Systeme – zwischen den höheren Taxa sowie generell zwischen den Naturreichen – dienten die von Benjamin Bühler als »Störfall« bezeichneten Spezies oder Gruppen: Lebewesen, welche die vorhandenen Klassifikationskriterien sprengten und dabei zugleich die gängigen Vorstellungen vom Lebendigen überhaupt infrage stellten.16 Das wohl bekannteste Beispiel war die spektakuläre Entdeckung der Süßwasserpolypen (Hydra) durch Abraham Trembley (1710-1784).17 Unsicher, ob er wirklich Pflanzen in seinem Glas beobachtete, hatte er begonnen, umfangreiche Zerteilungsexperimente durchzuführen, um dadurch die klassifikatorische Frage der Zuordnung dieser Lebewesen entweder zum Pflanzen- oder zum Tierreich zu klären.18 Seine bahnbrechende Erkenntnis, dass sich Polypen, wenn sie zerschnitten wurden, wieder regenerieren und aus jedem Einzelteil ein neues Lebewesen entsteht, deutete auf die vegetative Vermehrung von Pflanzen hin. Ihre Lebensweise, ihr Fressverhalten und ihre zielgerichtete Bewegungsfähigkeit sprachen jedoch dagegen. Die »Lösung d[ies]es systematischen Problems lautet[e]« für Trembley, so fasst Bühler zusammen: »[n]icht Annahme einer Mittelklasse,
10 | Vgl. B.W. Ogilvie: Books; S. Müller-Wille/I. Charmantier: Natural history. Speziell zu Insekten vgl. B.W. Ogilvie: Order; M.S. Engel/N.P. Kristensen: History. 11 | Vgl. S. Foerschler/A. Mariss: Verfahrensweisen; B. Dietz: Aufklärung. 12 | Vgl. B. Dietz: Restless System. 13 | C. v. Linné: Systema naturæ (1735). 14 | J.C. Schaeffer: Vorschläge, S. 19. 15 | Vgl. J.P. Eberhard: Versuch, »Vorbericht« sowie S. 226. 16 | Vgl. B. Bühler: Störfall. 17 | Vgl. K. Köchy: Grenze, S. 48-51. 18 | Vgl. ebd.; A. Trembley: Abhandlungen, S. 11-20; T. Cheung: Bonnet, S. 180.
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sondern Änderung des Begriffs vom Tier«.19 Diese Verschiebung der Grenzen des Tierlichen ergab sich, weil Trembley keine Zwischenklasse zwischen die bekannten Konzepte von Tier und Pflanze einfügte, sondern die Polypen als eine neue Kategorie innerhalb des Tierreichs auffasste und den »Insekten«20 zuordnete (Abb. 1).
Abb. 1: Kupferstich zum fünften Kapitel der Naturgeschichte »Von Insecten und Gewürmen«, in: Robert Dodsley: Der Lehrmeister oder ein allgemeines System der Erziehung [...], Bd. 2, hg. v. Hanns Ernst von Teubern, Leipzig: in der Heinsiußischen Buchhandlung, 2. vermehrte. Aufl. 1767, Tab. II (ETH-Bibliothek Zürich, Alte und Seltene Drucke, Rar 6577). Dodsleys vielfach aufgelegtes Lehrbuch veranschaulicht die Bedeutung, die Polypen bei der populären Verbreitung des Wissens über Insekten einnahmen und unterstreicht die Diversität dieser Lebensform im 18. Jahrhundert. Anders löste Trembleys Freund und Cousin,21 der durch Untersuchungen an Blattläusen bekannte Charles Bonnet (1720-1793), diese Systematisierungsfrage: »Für ihn belegt der Polyp nichts anderes als die Existenz eines Übergangs zwischen Pflanzen und Tieren«22 – das Vorhandensein einer Mittelklasse zwischen Pflanzen und Tieren. Wie vielfältig Naturkundler in dieser Hinsicht agierten, unterstreicht Johann Ephraim August Goeze (1731-1793), der Übersetzer von Trembley und Bonnet, 1775 in der ersten deutschen Ausgabe von Trembleys 19 | B. Bühler: Störfall, S. 26; vgl. K. Köchy: Grenze, S. 70. 20 | A. Trembley: Abhandlungen, S. 4. 21 | Vgl. K. Köchy: Grenze, S. 58. 22 | B. Bühler: Störfall, S. 26.
Insekten und die Regeneration des Lebendigen
Schriften. Hier stellt er im Unterschied zum Verfasser fest, dass »der Polyp nicht zu den Insekten«23 gezählt werden kann. Dabei formuliert er die ontogenetische Begründung, »weil ihm der wesentliche Karakter [der Insekten; T. R.], die Verwandelung fehlt«24. Nicht die Verschiebung der Grenze zwischen Tieren und Pflanzen, sondern eine weitere Differenzierung der Taxa des Tierreichs wurde hier zur Lösung des Systematisierungsproblems.
F ormen der V ermehrung als E pistem Süßwasserpolypen Im 18. Jahrhundert standen Insekten nicht nur im Mittelpunkt taxonomischer naturkundlicher Debatten, sondern sie wurden darüber hinaus auch zu Kristallisationspunkten, zu Modellorganismen, an denen sich grundlegende philosophische und theologische Aussagen über Lebens- und Seelenvermögen verdichteten.25 Christian Gottlieb Kratzenstein (1723-1795) sah in ihnen das Hauptargument gegen die mechanistische Philosophie René Descartes’ (15961650) und den Beweis des Seelenvermögens von Tieren – inklusive Insekten –, welches diese zu willkürlichen Bewegungen und Gedächtnisleistung befähige.26 Im Anschluss an die Versuche Trembleys verortete Kratzenstein den Impuls für die Regeneration der Polypen in deren Seele, welche, als »ein verständiges Wesen«27, den Körper nach jeder Zerteilung ordnungsgemäß wieder ergänzen könne. Die Grundannahme der Experimentalphysik, dass Versuche wiederholbar sein müssen, führten den Entomologen René Antoine Ferchault de Réaumur (1683-1757) dazu, Zerteilungsexperimente auch bei anderen als Insekten kategorisierten Tierarten durchzuführen.28 So wurde z.B. an »Erdwürmern«29 diese Form ungeschlechtlicher Vermehrung bestätigt. Zudem wurde von Experimenten mit Insekten auf Menschen geschlossen. Kratzenstein dienten die Polypen dazu, »den Hauptsatz der Stahlianischen Arzneygelartheit zu beweisen«, dass
23 | A. Trembley: Abhandlungen, S. 1. 24 | Ebd. 25 | Vgl. K. Köchy: Grenze, bes. S. 50f. 26 | Vgl. C.G. Kratzenstein: Beweiß, S. 36; T. v. Hoorn: Hydra, S. 32; K. Köchy Grenze, S. 58, 60. 27 | C.G. Kratzenstein: Beweiß, S. 37. 28 | Zur Bedeutung der Experimente an Polypen für den Professor für Experimentalphysik Georg Christoph Lichtenstein (1742-1799) vgl. K. Köchy: Grenze, S. 67-69. 29 | C.G. Kratzenstein: Beweiß, S. 33.
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»auch die Seele ihren Cörper« baut.30 Ein weiterer führender Vertreter der Experimentalphysik, der Philosoph Christian Wolff (1679-1754), sah durch die Insektenexperimente seine 1723 aufgrund empirischer Beobachtung getätigte Feststellung, »daß Menschen und Thiere durch den Beyschlaff eines Männleins und eines Weibleins erzeuget werden«,31 grundlegend infrage gestellt. Gerade anhand von Insekten hatte er für die Idee der ausnahmslos sexuellen Fortpflanzung votiert und die »vielerley Verwandlung […,] [welche] das Ungezieffer […] leidet«32, als Beweis für seine Theorie der »Saamen=Thierlein«33 angeführt. Mitnichten zweifelte er Trembleys Experiment an, sondern er versuchte seine eigene Präformations- und Seelenlehre anzupassen und stellte mit Réaumur die grundsätzliche metaphysische Frage: »woher die Seelen so vieler Thiere kommen, da doch das Thier, welches zerschnitten wird, nur eine Seele hat, hingegen diese sich nicht, wie dessen Leib zerschneiden lässet«.34 Die nach Wolff im Sperma jedes männlichen Tieres enthaltenen unzähligen Samentierchen sind als Vorform schon im Blut existent und besitzen jeweils eine Seele. Eine Seele, die sich in prästabiler Harmonie gemeinsam mit dem Körper in »harmonicis Mutationibus«35 entwickelt. Demnach kann aus Teilen eines zerschnittenen Insektes ein neues vollständiges Individuum entstehen, da in dessen Blut viele dieser Samentierchen enthalten sind. Die im Samentierchen inhärente Seele verfügt einerseits über den Bauplan für die zu ergänzenden Körperteile, wie sie sich andererseits zeitgleich mit den körperlichen Veränderungen gleichsam in ihrer Perzeption vervollkommnet.36 Dennoch war sich Wolff der Herausforderung durch die Insekten bewusst und resümierte: »Ich sehe wohl ein, daß diese Theoriea Generationis noch nicht completa ist, […] sowohl in Ansehung des Leibes, als der Seele.«37 Denn offensichtlich funktioniert diese Form der Vermehrung bei den meisten Lebensformen nicht. Das ließ ihn nach den »Requisita« oder Nebenbedingungen fragen. Als Antwort kam er zur taxonomischen Einschränkung seiner Erklärung auf die »Insectis aquaticis«, die er auch in weiteren Experimenten u.a. mit Seesternen bestätigt sah.38 Im letzten Nachwort des hier wiederholt zitierten Briefes vollzog er dann eine grundsätzliche Wende, weg von seiner zweigeschlechtlichen Generationstheorie hin zu der von 30 | Ebd., S. 34, S. 32. 31 | C. Wolff: Deutsche Physik, § 439. 32 | Ebd.; vgl. S. Borchers: Samenkörner. 33 | C. Wolff: Hochwohlgebohrner R**, S. 45. 34 | Ebd., S. 43; vgl. J. Stolzenberg: Edition, S. 60; S. Borchers: Samenkörner, S. 82f.; S. Borchers/J. Bronisch: Christian Wolff; kritisch dazu K. Köchy: Grenze, S. 59. 35 | C. Wolff: Hochwohlgebohrner R**, S. 46. 36 | Vgl. S. Borchers: Samenkörner, S. 78-80. 37 | C. Wolff: Hochwohlgebohrner R**, S. 46. 38 | Ebd.
Insekten und die Regeneration des Lebendigen
Aristoteles stammenden Konzeption einer »Generationem äquivocam« (generatio æquivoca), nach der Insekten sich ohne sexuellen Verkehr von männlichen und weiblichen Tieren fortpflanzen.39 Kleinstlebewesen und ihre Regenerationsfähigkeit spielten für Wolff auch in methodologischer Hinsicht eine besondere Rolle. Für ihn waren die Erzählungen von Fischern, dass Seesternen abgetrennte Arme selbstverständlich nachwachsen würden, Ausdruck dafür, dass »alle Wahrheiten ursprünglich aus der allen gemeinen Leuten beywohnenden Erkenntniß hergeleitet worden [sind; T. R.], und hergeleitet werden müssen«40.
Blattläuse Die Vermehrung der Blattläuse ist ein weiteres Beispiel für das Interesse an Insekten im 18. Jahrhundert sowie an Fragen nach der Regenerations- und Fortpflanzungsfähigkeit des Lebendigen. Linné bemerkte schon 1739 in seiner »Rede von den Merkwürdigkeiten der Insekten«, dass »diese kleine Thierchen den ersten Grundsaz der Naturforscher über den Hauffen [werfen; T. R.], nach welchem sie alle Thiere in Eyer legende und lebendig gebährende eintheilen«.41 Als Bonnet 1740 erstmals Ergebnisse seiner im Anschluss an Réaumur durchgeführten Experimente mit Blattläusen veröffentlichte, stellte er die Frage: »Is there therefore no Copulation among Pucerons?«42 Seinen Ausgangspunkt bildete die experimentelle Erkenntnis, dass Blattläuse, die sofort nach der Geburt solitär erzogen werden, ohne geschlechtliche Fortpflanzung Nachwuchs zeugen. Bonnets Experiment griff die neuesten Methoden der Naturgeschichte auf. Er kontrollierte die Umgebungsbedingungen, achtete auf die Isolation seiner Modellorganismen und beobachtete diese täglich über Monate von vier Uhr am Morgen bis zehn Uhr am Abend. In einem Journal vermerkte er jede Veränderung der Tiere und weitere Umstände, wie Nahrungsaufnahme und Bewegung. Zudem erfasste er alle Geburten mit Uhrzeit und Datum in einer Tabelle. Bonnet wiederholte sein Experiment dreimal mit gleichem Ergebnis und konnte somit eine Folge von vier Generationen ohne Befruchtung nachweisen, was ihn zum Entdecker und Erstbeschreiber der bei vielen Arten der Überfamilie Aphidoidae anzutreffenden Parthogenese (Jungfernzeugung) macht, der 39 | Ebd., S. 50. In wieweit Wolff hier auf die Unterschiede zwischen generatio æquivoca (lat. mehrdeutige Zeugung), der Zeugung eines Lebewesens aus einem Lebewesen einer anderen Art, und generatio spontana (lat. plötzliche Zeugung), der später sogenannten Urzeugung eines Lebewesens ohne Eltern aus anorganischer oder organischer Materie, abhebt, bleibt in dem Brief offen. Vgl.: P. McLaughlin: Generation. 40 | Ebd., S. 48. 41 | C. v. Linné: märkwärdigheter; hier zitiert nach der Übersetzung von J.H. Sulzer, in: C. v. Linné: Kennzeichen, S. 1-27, hier S. 13. 42 | C. Bonnet: Abstract, S. 466; vgl. R.A.F. de Réaumur: Mémoires, S. 15, S. 329.
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Abb. 2: »Blattlaus von der Rose«, in: Carl von Linné: Die Kennzeichen der Insekten, hg. v. Johann Heinrich Sulzer, Zürich: bei Heidegger und Comp. 1761, Tab. XII, Fig. 79 (Zentralbibliothek Zürich, NNN 828). Sulzer bildet mit b. und c. eine geflügelte und eine ungeflügelte Blattlaus ab, für die er jeweils die Jungfernzeugung einräumt. Lebendgeburt von weiblichen Individuen (Abb. 2).43 Dennoch zeigten sich für Bonnet bei unterschiedlichen Blattlausarten auch Überraschungen, welche die ausschließliche Kategorisierung nach der Art der Fortpflanzung wieder infrage stellten. Er beobachtete eine Spezies, bei der es nach der »ordinary Distinction of the Sex«44 identifizierbare Männchen mit Flügeln gab. Diese kopulierten mit großer Ausdauer und die Weibchen legten Eier wie Schmetterlinge.45 Im gleichen Beitrag geht Bonnet auf die zeitgleich stattfindenden Experimente Trembleys ein und berichtet, mangels eigener Erreichbarkeit von Polypen, von seinen Zerteilungen eines Wurmes. Dessen Teile hätten sich wie vollständige Würmer bewegt: »there are really Insects to which Nature has given that strange Prerogative of beeing multiplied, as it were, by Cuttings«.46 Dabei gilt auch ihm die freiwillige und gerichtete Bewegungsfähigkeit als das entscheidende Kennzeichen von tierischem Leben. Darüber hinaus ist sich Bonnet aber auch der philosophischen und naturkundlichen Konsequenzen dieser »wigtigsten [sic!]
43 | Vgl. C. Bonnet: Abstract, S. 466-467. 44 | Ebd., S. 467. 45 | Vgl. ebd. 46 | Ebd., S. 468.
Insekten und die Regeneration des Lebendigen
Entdeckungen der Insektenlehre«47 bewusst. Für ihn sind sie die Bestätigung der von der »neue[n] Philosophie« hervorgebrachten »Theorie von den Keimen, […] die ineinander enthalten sind, und sich allmälig entwickeln«48 und führen in letzter Konsequenz zur Annahme gleichartiger Entwicklungsvorgänge bei Insekten und Menschen, welche heftige Kritik erfahren sollte.49 Die deutschen Übersetzungen der Werke Bonnets veranlassten einen der bedeutendsten deutschen Aufklärungstheologen, den Halleschen Theologieprofessor und Mitbegründer der historisch-kritischen Bibelwissenschaft Johann Salomo Semler (1725-1791) zu eigenen mehrmonatigen empirischen Untersuchungen und Sektionen50 von Blattläusen.51 Diese bilden die Grundlage seiner Veröffentlichung zu Insekten.52 Der philosophisch-theologische Stellenwert dieser empirischen Arbeiten wird freilich erst in dessen Nachlese zur Bonnetischen Insektologie deutlich. Dort charakterisiert er den Inhalt von Bonnets Vorrede als »historisch unrichtig«53 und kritisiert zugleich, dass die Mehrzahl der neuen Naturkundler die Arbeiten des Aristoteles nicht kennen. Ganz im Stil einer gelehrten theologischen Abhandlung zitiert Semler im Weiteren fünf Hauptsätze der Vorrede, erklärt vier für falsch und den letzten für grundlegend erweiterungsbedürftig.54 Gegen Bonnet behauptet er, dass es keiner neuen oder »Verbesserung der Philosophie« bedurfte, um ab dem 17. Jahrhundert »die Natur in ihr selbst zu studieren«.55 Es seien hingegen die neuen Verfahren der Mikroskopie und der Kupferstecherei gewesen, welche die neuen Erkenntnisse ermöglichten. Mit Insekten hatten sich die Menschen Semler zufolge auch davor beschäftigt, nur mit anderen Mitteln und Methoden. Diese hätten die Erkenntnis begrenzt. Zudem hätte auch schon Aristoteles den Lebenszyklus der Insekten genau so gekannt, wie Jan Swammerdam (1637-1680)56 ihn beschrieben hat. Gleiches gelte für das Phänomen des Fortlebens von Insekten nach Zerschneidung. Nur sei dieses Wissen in Vergessenheit geraten – »historische Unwissenheit!«57 Hier 47 | C. Bonnet: Traité; hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: C. Bonnet: Abhandlungen, S. 45. 48 | Ebd., S. 45, S. 51. 49 | Vgl. ebd., S. 52f. 50 | Vgl. J.S. Semler: Nachlese, S. 107. 51 | Vgl. S. Ehrhardt-Rein: Glaubenslehre, S. 129-154. 52 | Vgl. J.S. Semler: Diarium im Winter. 53 | J.S. Semler: Nachlese, S. XIII. 54 | Vgl. ebd., S. 2f. Dabei erfolgt ein wörtlicher Bezug zu Bonnet: Abhandlungen, S. 37f. 55 | J.S. Semler: Nachlese, S. 3f. 56 | Vgl. J. Swammerdam: Bibel. Zur langwierigen Veröffentlichungsgeschichte dieses bereits 1679 vollendeten, aber erst 1737 veröffentlichten Werks vgl. M. Cobb: Reading, S. 125. 57 | J.S. Semler: Nachlese, S. 5.
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wird Semlers historisch-kritischer Ansatz deutlich, auf dessen Grundlage er der kirchlichen Tradition, wegen ihres »Aberglaube[ns]«, vorwirft, dass sie »das Buch der Natur gleichsam zuschloß«58 und »daß die Zeitgenossen sich nicht einmal erkünen konten, über natürliche Begebenheiten frey und richtiger zu denken«59. Neben historischer Kritik, die Bonnet und die traditionelle Kirche gleichermaßen trifft, richtet sich Semler aber hauptsächlich gegen den wichtigsten Punkt Bonnets – den Erkenntniswert der Fortpflanzungsarten von Insekten für das System des Lebendigen.60
Scala naturæ bei Bonnet und Semler Bonnet wird innerhalb der Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts als Hauptvertreter der scala naturæ beschrieben, dem durch Fülle, Kontinuität und graduelle Abstufung charakterisierten, dominierenden Ordnungskonzept der Welt.61 Eine erste Abbildung seiner »Leiter der natürlichen Dinge« veröffentlichte er 1745 als Anhang zu seinen Experimenten an Blattläusen.62 Diese zeigt alle drei Reiche der Natur – belebt wie unbelebt – und verbindet durch Zwischenglieder die Elemente, wie Feuer und Wasser auf der untersten Ebene mit den Menschen an der Spitze der Leiter (Abb. 3).63 Diese systematische Ordnung verdeutlicht, so Bonnet, »wie unter allen Theilen des Ganzen eine Stufenfolge sey […,] daß sich zwischen denen von verschiedenen Klassen […] gewisse Dinge finden, die in der Mitte zu stehen scheinen, und also gleichsam […] Verbindungsmittel ausmachen. Dieses siehet man vornemlich an den Polypen […,] daß sie das Band sind, welches das Pflanzen und Thierreich vereiniget.«64
58 | Ebd., S. 9. 59 | Ebd., S. 8. 60 | Vgl. Köchy: Grenze, S. 50f. 61 | Vgl. F.S. Bodenheimer: Geschichte, Bd.1, S. 477; B. Bühler: Störfall, S. 17f., S. 30f. Umfassend zur scala naturæ vgl. Lovejoy: Kette, dort insbesondere S. 234f., S. 278, S. 281, S. 341-344 zu Bonnet. 62 | Vgl. C. Bonnet: Traité, nach S. 32, dort mit »échelle des êtres naturels« (Stufenleiter der natürlichen Wesen) überschrieben. Goeze bringt sie 1773 in oben zitierter deutscher Übersetzung heraus. Vgl. Ders.: Abhandlungen, S. 57-58. Nach Kritik durch Bonnet druckte Goeze anschließend die französische Tabelle Bonnets ab. Vgl. C. Bonnet: Abhandlungen, Bd. 2, S. 24-27. 63 | Ebd. 64 | C. Bonnet: Abhandlungen, S. 53.
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Abb. 3: »Entwurf einer Leiter der natürlichen Dinge«, in: Charles Bonnet: Abhandlungen aus der Insektologie (1. Bd.), hg. v. Johann August Ephraim Goeze, Halle: J.J. Gebauers Witwe und Joh. Jacob Gebauer 1773, Vorrede, S. 57f. (Bibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle/Saale, 182 C 3).
Die Anordnung auf der Stufenleiter wird dabei durch den Vollkommenheitsgrad aller anorganischen und organischen Körper hinsichtlich des Verhältnisses von Einheit und Vielfalt ihrer Einzelteile bestimmt.65 In Rückgriff auf die Begriffe eines »organisierte[n] Körper[s]« und des »Organismus« sowie auf das Modell einer »organismischen Ordnung« von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) integriert Bonnet in der Folge diese Stufenleiter in seine »organismische[ ] Systemtheorie[ ]«, die als historischer Beginn der Betrachtung »organische[r] Körper als sich selbst entwickelnde, organisierte Entitäten« verstanden wird.66 Er arbeitet aber weniger die Übergänge der Stufenleiter aus, sondern entwickelt »eine Theorie der ›Evolution‹ von Keim-Faser-Einheiten« als Grundlage der allgemeinen Entwicklung von Pflanzen, Tieren und Menschen.67 Diese scheinbar widersprüchliche doppelte Verortung des Lebendi65 | Vgl. T. Cheung: Bonnet, S. 199-202. 66 | Ebd., S. 178. Vgl. T. Cheung: Ordnung, S. 87-89, S. 101-104; K. Köchy: Grenze, S. 49f., S. 60. 67 | Ebd., S. 183.
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gen, des Organischen einerseits in der Stufenleiter aller natürlichen – belebten, wie unbelebten – Dinge und andererseits im »organische[n] Körper«68 in Abgrenzung gegenüber allen anderen Körpern, findet ihre Basis für Bonnet in den Ordnungsprinzipien, die den Vollkommenheitsgrad der Körper bestimmen, und ist eng verbunden mit Fragen nach dem Funktionieren von Wachstum, Regeneration und Fortpflanzung.69 Ähnlich wie Wolff mit seinem oben skizzierten Konzept der Samentierchen, sieht Bonnet die Antworten auf die Frage der Entwicklung organischer Körper in der Anlage von Keimen, von »organisierten Teilen […], die bereits vor ihrer ›Evolution‹ in sich das ›Prinzip ihrer Reproduktion‹ tragen«70 und deren Existenz er nun aufgrund seiner und Trembleys Insektenexperimente voraussetzt. Dabei sind es die unterschiedlichen Fortpflanzungsarten, welche als Spezifikum für die Relationalität der Lebewesen angesehen werden und zugleich »asexuelle Reproduktionsmechanismen« zur Grundlage der allgemeinen organischen Ordnung machen.71 Es ist »dasselbe ›Gesetz‹ der ›Evolution‹«, fasst Tobias Cheung zusammen, »gemäß dem nicht allein ›aus der Raupe der Schmetterling erwächst, der Flusskrebs seine neuen Füße und der Polyp seinen Kopf hervorbringt‹, sondern durch das sich auch Blattläuse ohne Paarung und Pflanzen ohne Samen vermehren«.72 Die Relationalität des Belebten und des Unbelebten ist nach Bonnets Theorie durch die Abwesenheit dieser Keime in unbelebten Körpern bestimmt. Zwar wachsen auch unbelebte Körper wie Kristalle, weshalb diese gleich neben den Pflanzen in der Stufenleiter eingeordnet sind, aber in derartigen Fällen führen die für alle Körper geltenden »Gesetze der Bewegung und Anziehung zur Vereinigung verschiedener Moleküle«73 und damit zu Wachstum, aber nicht die nur in belebten Körpern anzutreffenden Keime. Diese Unterscheidung, wie alle anderen von Menschen festgelegten taxonomischen Ordnungen, die Klassen von Wesen und Arten systematisieren, sind für Bonnet »nominale« Setzungen.74 Dabei können Übergänge oder Störfalle bestimmt werden, welche die Relationalität der Ordnung alles Seienden bestätigen ohne dem »vollkommenen Systemcharakter jeder einzelnen Ordnungsform«75 zu widersprechen. In diesem Sinn kann Bonnet auch Leibniz als ›Propheten‹ für die Entdeckung der Polypen anführen, da die-
68 | Ebd., S. 178. 69 | Ebd., S. 190, S. 199-202. 70 | Ebd., S. 181, S. 190. 71 | Ebd.; vgl. K. Köchy: Grenze, S. 50. 72 | Ebd., S. 187. 73 | C. Bonnet: Contemplation, Bd. 4/2, S. 360, zitiert nach T. Cheung: Bonnet, S. 202. 74 | T. Cheung: Bonnet, S. 203. 75 | C. Bonnet: Contemplation, Bd. 4/1, S. 36, zitiert nach T. Cheung: Bonnet, S. 203.
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ser, nach dem Gesetz »die Natur thue keinen Sprung«76, die Existenz eines Lebewesens, das diesen Übergang eines Kettenglieds zum nächsten belegt, vorhergesagt hatte.77 Der Theologe Semler kritisierte die metaphysischen, naturkundlichen und methodologischen Schlussfolgerungen, die Bonnet aus den neuentdeckten Vermehrungsformen der Insekten zog und griff dabei »den Begriff von Vermehrung«78 an, wie ihn Bonnet nutzte. Semler sah keinen Grund, wegen der Erkenntnisse an Polypen und Blattläusen die herkömmlichen Annahmen der »ordentliche[n] Generation […] durch Begattung«79 zu hinterfragen. Als Begründung führte er nicht nur metaphysische und theologische Gründe an. Vor allem widersprach er Bonnets empirischen Befunden zur ungeschlechtlichen Vermehrung der Blattläuse. Die methodische Grundlage bildeten Semlers eigene empirische Untersuchungen an Insekten.80 Er selbst hatte im Frühjahr nie eine geschlechtliche Fortpflanzung von Blattläusen beobachtet sondern nur Lebendgeburten. Mit seiner daraus abgeleiteten Annahme, dass bereits im Herbst davor ineinander verschachtelte Eier über Generationen im Voraus im Mutter- bzw. Großmutter-, oder Urgroßmuttertier usw. begattetet wurden, versucht er, die geschlechtliche Fortpflanzung der Blattläuse zu beweisen.81 Dabei argumentiert Semler mit dem Lebenszyklus der Insekten. Dieser erlaubt bei vollständiger Metamorphose je nach Art zwar eine Überwinterung in allen vier Lebensstadien, aufgrund seiner empirischen Befunde gesteht Semler Blattläusen allerdings nur eine Überwinterung im Eistadium zu.82 Um das Prinzip der Fortpflanzung durch Befruchtung bei Tieren aufrechtzuerhalten, interpretiert Semler zudem die von Bonnet in die Stufenleiter eingeführten Zwischenglieder neu. Durch die Nähe der Insekten zu den Pflanzen müsse logischerweise auch die Regel ihrer Erzeugung von der der vollständigen Tiere abweichen.83 Folgerichtig gehören die Insekten in Semlers Klassifikation »nur zu den Halbthieren«84. Mit Verweis auf Aristoteles sieht Semler in den Arten der Fortpflanzung von Insekten deren niedrige Stellung auf der scala naturæ begründet und lässt die sexuelle oder »vollkommene[ ]« Vermehrung nur bei
76 | C. Bonnet: Betrachtung, Bd. 1, S. 241. 77 | Vgl. K. Köchy: Grenze, S. 58f. 78 | J.S. Semler: Nachlese, S. 106. 79 | Ebd., S. 38. 80 | Vgl. ebd., S. 102-157; vgl. Ders.: Diarium im Winter; Ders.: Diarium im Sommer. 81 | Vgl. J.S. Semler: Nachlese, S. 45f., S. 104-112, S. 124f., S. 133-138. 82 | Vgl. ebd., S. 105. 83 | Dieser Argumentationsweise folgt u.a. auch Johann Gottfried Herder (1744-1803), vgl. K. Köchy: Grenze, S. 61. 84 | Ebd., S. 39.
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»vollkommenen Tieren«85 als Naturgesetz bestehen.86 Den von Bonnet vorgenommenen Vergleich der Fortpflanzungsarten alles Lebendigen lehnt Semler mit Verweis auf die »grosse Stufenordnung des Thierreichs«87 rigoros ab. Derartige Analogien würden die »weiseste Ordnung der Natur den ganzen Unterschied der Stufen umstossen«88. Ihre untergeordnete Stellung in der scala naturæ macht es für Semler völlig unmöglich, Insekten mit »vollkommenen Thieren«89 zu vergleichen, oder gar entsprechende experimentelle Erkenntnisse auf den Menschen zu übertragen.90 Der Theologe verbindet Vollkommenheitsstufen und den Schöpfungsplan mit dem Argument, dass Insekten als Nahrung anderer dienen und sich somit schnell und massenhaft vermehren müssten.91 Letztlich schwankt er sogar bei der Zuschreibung von Polypen und Blattläusen zur Klasse der lebendigen Geschöpfe und verweist auf ihre Nähe zum »unbelebten Pflanzenreich« und ihre »pflanzenartige[ ]« Vermehrung.92 Bei Semler, so fasst Susanne Erhardt-Rein zusammen, »können die Wahrheiten der christlichen Religion nicht in Widerspruch stehen zur Natur als Schöpfung und ihrer Erkenntnis«.93 Mit seinen Untersuchungen zu Blattläusen und der damit verbundenen Anwendung neuester naturkundlicher Methoden sowie der Anwendung seiner historisch-kritischen Methode auf die naturkundlichen Texte Bonnets unterstreicht Semler die von ihm empfundene Notwendigkeit der Verbindung von Naturgeschichte und schöpfungstheologischen Aussagen.94 Das Lesen im Buch der Natur und dessen kritische Aneignung verdeutlicht die »Absicht der Schöpfung«95. Dabei stellt die Entdeckung von Neuem, wie die ungeschlechtliche Fortpflanzung von Tieren, für Semler durchaus ein Problem dar, da sie sich nicht in die »alte ewige Ordnung der Natur«96 einpasst. Eine Natur, welche nach Semler bei kritischer Hinterfragung als Materialisierung von Gottes Schöpfungsplan doch Antworten auf alle dem Menschen zugänglichen Fragen liefern müsse.
85 | Ebd., S. 42. 86 | Vgl. ebd., S. 47, S. 75, S. 117, S. 153. 87 | Ebd., S. 80. 88 | Ebd., S. 41. 89 | Ebd., S. 75. 90 | Vgl. ebd., S. 77, S. 79f., S. 121f. 91 | Vgl. ebd., S. 113. 92 | Ebd., S. 48, S. 115. 93 | S. Ehrhardt-Rein: Glaubenslehre, S. 147f. 94 | Vgl. ebd., S. 16. 95 | J.S. Semler: Nachlese, S. 129. 96 | Ebd., S. 139.
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F azit Bei aller verbleibenden Uneindeutigkeit zeigt sich die grundlegende Bedeutung, die die Gelehrten des 18. Jahrhunderts Insekten für fundamentale Erkenntnisse zum Prozess der Entstehung und Weitergabe von Leben zumaßen. Mit Bezug auf Insekten konnten Aussagen zum Menschen und zum Aufbau aller Lebewesen gemacht oder abgelehnt werden. Die Einordnung der Insekten in die scala naturæ, deren Erweiterung oder Verteidigung brachte selbst Theologen wie Semler dazu, neueste naturkundliche und experimentalphysikalische Methoden anzuerkennen und selbst anzuwenden. Die entscheidende Relevanz taxonomischer Fragen für die Tier-Mensch-Relationalität beschränkte sich nicht auf die Subsumierung der Menschen unter die Säugetiere in der zehnten Auflage von Linnés systema naturæ.97 Von ebenso großer Bedeutung waren die neuen Konzepte des Lebendigen und seiner Reproduktionsformen, die anhand von Insekten im 18. Jahrhundert erarbeitet wurden. Damit blieb der Mensch als die Krone der biblischen Schöpfung unangefochten. Die Vielfalt der Lebensformen verdeutlichte jedoch mehr und mehr, dass sich alle Lebensformen nach gleichen organismischen Gesetzen erklären lassen.
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Tier-Mensch-Beziehungen in Barock und Aufklärung Empirische Spurensuche in der hessischen Kunstgeschichte Christian Presche
Dass Kunstwerke Tier-Mensch-Beziehungen widerspiegeln und damit Auskunft über gesellschaftliche Entwicklungen und Sichtweisen geben, scheint auf den ersten Blick ganz selbstverständlich zu sein. Wer kennt nicht Gemälde mit Hirten- oder Bauernszenen, Porträts mit Schoßhunden, Singvögeln oder Papageien, Stadtansichten mit Reitpferden und Kutschen, Schlachtenbilder mit Reiterei oder Reiterstandbilder. Doch bereits bei solchen scheinbar realitätsnahen Darstellungen ist zu hinterfragen, ob nicht vielmehr allegorische Bedeutungen, zeitgenössische Idealisierungen, Erwartungshaltungen oder Statussymbole die Einbindung von Tieren bestimmten.1 Häufig sind Tiere auch allein dargestellt, als Tierporträts, Porzellanfiguren oder inmitten ornamentaler Bauplastik – doch sind dafür persönliche Vorlieben des Auftraggebers oder Künstlers, Modeerscheinungen oder symbolische Bedeutungen maßgebend? Und selbst das konsequente Fehlen von Tieren in bestimmten Kontexten kann wichtige Hinweise auf Konventionen geben: wann das Darstellen von Tierarten als angemessen, ›schicklich‹, galt und wann nicht. Es gibt also vielfältige, oft indirekte, hintergründige Arten und Weisen, in denen sich Tier-Mensch-Beziehungen in Kunstwerken niederschlagen. Zur Untersuchung dieser Beziehungen ist es zunächst notwendig, innerhalb der jeweiligen Epoche einen möglichst umfassenden Überblick über die relevanten Kunstwerke und Geschichtsquellen zu gewinnen; gleichwohl muss 1 | Vgl. zur Symbolik z.B. S. Dittrich/L. Dittrich: Lexikon der Tiersymbole; C. Zerling: Lexikon der Tiersymbolik; zur damit verbundenen Deutungsproblematik vgl. z.B. J. Lange: Affe, Hund, Papagei, S. 7-9.
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aber auch vermieden werden, sich in einer unüberschaubaren Masse an Material zu verlieren oder Kulturräume unterschiedlicher Voraussetzungen unbedacht miteinander zu vermischen.2 Das vorliegende Projekt ist deshalb auf Hessen eingegrenzt, mit besonderem Fokus auf der Haupt- und Residenzstadt Kassel und den umliegenden Sommerresidenzen. Der Untersuchungszeitraum beginnt 1677 mit dem Regierungsantritt Landgraf Carls, der das Land durchgreifend modernisierte,3 und endet 1806 mit der napoleonischen Besetzung Hessens; diese Auswahl folgt historischen und stilgeschichtlichen Kriterien, wobei in Einzelfällen auch noch etwas jüngere Objekte berücksichtigt sind. Die Materialerhebung und erste Auswertungen sind nun Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes.4
E rmittlung relevanter K unst werke Die ermittelten Werke umfassen die Bereiche Bauplastik/Skulpturen im öffentlichen Raum, Raumdekorationen und -ausstattungen,5 die fürstlichen Prunksärge6 sowie Stadt- und Ortsansichten,7 weitere Gemälde, Druckgraphiken und Handzeichnungen (auch Architekturentwürfe), Skulpturen, Porzellan und Steingut, verschiedenartige Kleinkunst und einzelne Textilien (v.a. Judaica).
2 | Besonders in Baukunst bzw. Raumdekorationen sind große regionale Unterschiede festzustellen; was etwa im süddt. Rokoko üblich war, kann innerhalb der hessischen Bau- und Raumkunst bereits als unangemessen gegolten haben. Augenfällig ist dies v.a. im Sakralbau (vgl. die reformierte Schlichtheit hessischer Kirchen), gilt aber auch im Profanbau. 3 | Zu Landgraf Carl vgl. H. Philippi: Landgraf Karl; zu den wirtschaftlichen Modernisierungen vgl. M. Lasch: Untersuchungen; zu den architektonischen/baukünstlerischen Modernisierungen vgl. C. Presche: Architektur der französischen Einwanderer um 1700. 4 | Zur Methodik der Untersuchungen vgl. C. Presche/D. Wolf: Leoparden. 5 | Ausschließlich erfasst für Kassel sowie für die nahen Sommerresidenzen Weißenstein/Wilhelmshöhe und Wilhelmsthal. 6 | Beisetzungen in der Fürstengruft der Kasseler Martinskirche; heute z.T. nur noch in Fragmenten erhalten, der Vorkriegszustand aber fotografisch gut dokumentiert. 7 | In erster Linie Kassel und die nahe Sommerresidenz Weißenstein/Wilhelmshöhe sowie Druckgraphikserien für die Bäder Gesundbrunnen (Hofgeismar) und Wilhelmsbad (Hanau).
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Zur Erschließung dienten Bestands- und Ausstellungskataloge,8 die historischen Inventarbände der Bau- und Kunstdenkmäler,9 weitere VorkriegsFotografien,10 eigene Bestands- und Objektsichtungen,11 zeitgenössische Reisebeschreibungen,12 Landeskunden und Reiseführer,13 sonstige Berichte aus dem 18. Jh.,14 Künstlerbiographien und Werkverzeichnisse15 sowie Archivalien. Um zumindest thematisch einen möglichst umfassenden Überblick über das Vorkommen von Tierdarstellungen zu erhalten, sind auch einzelne verschollene und zerstörte Objekte aufgenommen,16 selbst wenn über ihr 8 | Zu nennen sind v.a. Best.-Kat. Gemäldegalerie Alte Meister der MHK; Best.-Kat. Architekturzeichungen der MHK; Best.-Kat. Malerei 19. Jh. der MHK; Ausst.-Kat. Aufklärung und Klassizismus 1979; Ausst.-Kat. J.H. Tischbein 1989; Ausst.-Kat. Wilhelmshöhe 1993; Ausst.-Kat. Nahl 1994; M. Wienert: Kasseler Porzellan. 9 | A. Holtmeyer: Cassel-Land; Ders.: Cassel-Stadt; F. Bleibaum: Wilhelmsthal. 10 | Vgl. z.B. Foto Marburg (www.bildindex.de) u.a. zum historischen Baubestand, zu einzelnen Kunstwerken (auch aus Privatbesitz) und zur ehem. Judaica-Sammlung (vor 1933) des Hessischen Landesmuseums Kassel. 11 | Siehe z.B. erhaltene Bauplastik etc. sowie Archivalien wie das Skizzenbuch J.A. Nahls d. J. (um 1786?), U.B. Kassel, Murhardsche und Landesbibliothek Kassel, 2° Ms. Hass. 658[19. 12 | Siehe z.B. Z.C. von Uffenbach: Merkwürdige Reisen; J.F.A. von Uffenbach: Tagbuch einer Spazierfahrth; C. Knetsch (Hg.): Hessisches aus alten Reisebeschreibungen; F. Weilbach: Kassel im Jahre 1729; F.J. von Günderode: Briefe eines Reisenden; L. Lindenmeyer: Kassel. 13 | Siehe z.B. J.-J. Winkelmann: Gründliche und warhafte Beschreibung der Fürstenthümer Hessen, und Hersfeld; R. Engelhard: Erdbeschreibung der Hessischen Lande Cassellischen Antheils […]; F.C. Schmincke: Cassel; D.A. von Apell: Cassel und die umliegende Gegend; J.W. Döring: Beschreibung des Kurfürstlichen Landsitzes Wilhelmhöhe. 14 | Siehe z.B. eine Beschreibung der Radierungs-Sammlung von J.H. Tischbein d. J., in: Johann Georg Meusel, Museum für Künstler und für Kunstliebhaber, 18 Stück, Mannheim: C.F. Schwan und G.C. Götz, 1787-1792, hier: 9. Stück (1797), S. 264-274. 15 | Siehe z.B. F. Bleibaum: Nahl; J.F. Engelschall: Johann Heinrich Tischbein; P. TiegelHertfelder: Historie war sein Fach; S. Francksen-Liesenfeld: Ludwig Philipp Strack; H. Gruber: Wilhelm Böttner; I. Koszinowski/V. Leuschner: Ludwig Emil Grimm. 16 | Dies betrifft z.B. die von zwei Löwen begleitete Statue des Fürstenruhms auf den Kolonnaden der Rennbahn (vor 1778; als Teil des Figurenprogramms und als Parallelbeispiel [Vorbild?] für einen Entwurf von H.C. Jussow zum Wilhelmshöher Tor um 1805); die Überlieferungen zu den Grotten in Wilhelmsthal und im Kasseler Garten des Erbprinzen Friedrich sowie den chinoisen Entenhäusern in Wilhelmsthal; zu den mythologischen Gruppen im Weißensteiner Park (als wichtige Beispiele für die antiken Themen in der Gartengestaltung unter Friedrich II.); zudem z.B. einzelne, durch andere Quellen überlieferte Tierporträts.
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Aussehen wenig oder gar nichts bekannt ist. Besonders zu bedauern ist dabei, dass eine verschollene, 145 Blatt Zeichnungen umfassende Dokumentation der Menagerie-Tiere unter Landgraf Friedrich II. nun endgültig als Kriegsverlust eingestuft werden muss; so konnte sie anhand der historischen Signatur der Kasseler Landesbibliothek dem 1941 verbrannten Hassiaca-Bestand zugeordnet werden.17 Die ermittelten Werke wurden in Arbeitslisten verzeichnet, die nach Kunstgattungen und ggf. nach Örtlichkeiten gegliedert sind, in Sonderfällen auch nach Künstlern.18 Dies erleichtert den Zugriff und bietet eine erste Orientierung im Hinblick auf Überlieferungsschwerpunkte. Eine chronologische Reihenfolge in jeder Liste lässt eventuelle Häufungen in bestimmten Zeiträumen leichter erkennen. Die Tabellen enthalten jeweils den Künstler, den Titel bzw. Gegenstand des Objekts, Provenienz/Kontext und den heutigen Standort, die Datierung, außerdem Hinweise auf Publikationen/Literatur, im Einzelfall auch weitere Anmerkungen und Querverweise (z.B. auf literarische Vorlagen). Insgesamt wurden in den Arbeitslisten ca. 670 verschiedene Positionen verzeichnet, die z.T. auch mehrere zusammengehörende Einzelobjekte umfassen.
A llgemeine A uswertungen der B efunde Die weitaus meisten dargestellten Arten sind Tiere der heimischen Fauna und der klassischen Antike. Betrachtet man insgesamt die Porträts, so beschränken sich die enthaltenen Tierdarstellungen hauptsächlich auf Pferde, Hunde und Vögel; differenziert man nach Männern, Frauen und Kindern sowie Familienbildern, so zeigt sich erwartungsgemäß eine voneinander abweichende Verteilung der Tierarten.19 Ein Blick auf mythologische Skulpturen und auf Historienbilder 17 | Gezeichnet von Johann Wilhelm Kammann, vgl. A. Holtmeyer: Cassel-Stadt, S. 409; H. Kramm: Die Kasseler landgräflichen Menagerien. Ehemals Landesbibliothek Kassel, Hass. h. nat. 8° 69 38596, gemäß freundl. Auskunft von Frau Heike Homeyer, U.B. Kassel, Handschriftensammlung. Zum Kriegsverlust des Hassiaca-Bestands, der am 9.11.1941 beim Luftangriff auf Residenzpalais und Landesbibliothek verbrannte, vgl. H.-J. Kahlfuß: Landesbibliothek, S. 23-61, S. 31-36, v.a. S. 34. 18 | I. Architektur, Raumausstattungen und Skulpturen im öffentlichen und halböffentlichen Raum [einschließlich der Prunksärge] / II. Ortsansichten; jeweils untergliedert nach Gebäuden bzw. Örtlichkeiten / III. Weitere Werke Kasseler bzw. hessischer Künstler; untergliedert nach Genres und Künstlern / IV. Aus- und Weiterbildung / V. Kunstgewerbe; untergliedert nach Materialien und Objektarten / VI. Textilien. 19 | In Männerporträts dargestellte Tiere sind ausschließlich Pferde (besonders in Staatsporträts von Fürsten). In Frauenporträts sind es zu rund 2/3 Hunde, ansonsten Vögel (Singvögel, Papageien, Tauben), einmal auch eine Darstellung als Schäferin; Kinder
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offenbart eine etwas größere Artenvielfalt, wobei etliche Spezies aber nur einmal vorkommen.20 Allerdings wurde der Großteil der Porträts und Historiengemälde erst nach der Mitte des 18. Jhs. geschaffen, von einigen wenigen Künstlern. Gleiches gilt auch für Stadtansichten, Architekturentwürfe und künstlerische Studienblätter,21 ebenso für Porzellan und Steingut, entsprechend der Bestandsdauer der Kasseler Manufakturen.22 Raumausstattungen, Mobiliar und viele Kunstwerke des Kasseler Landgrafenschlosses sind in der napoleonischen Zeit zerstört worden oder verschollen, und auch in anderen Gebäuden gab es im Laufe der Zeit z.T. erhebliche Verluste.23 Kunstwerke aus Privatbesitz sind kaum fassbar. sind mit Schaf (bei einem Mädchen), Hund, Vogelkasten (jeweils bei Jungen) kombiniert. Das gleiche Verhältnis Hunde – Vögel (Singvögel, Papageien) ist auch in Familienporträts anzutreffen; die Hunde sind meist kleine Rassen, in einigen Fällen sind zugleich auch Jagdhunde dargestellt, seltener ausschließlich. Vereinzelt sind in Familienporträts auch Reiter wiedergegeben. Zu berücksichtigen ist bei allen Porträts aber auch ihre Intention, ob als privates Erinnerungs- oder Ausstattungsstück oder als Teil herrschaftlicher bzw. dynastischer Repräsentation. – Gruppenporträts von Jagdgesellschaften zeigen Pferde und Hunde sowie Falken (Reiherbeize). 20 | Am häufigsten sind Hunde (in rund 1/4 der ermittelten Historiengemälde mit Tieren; Jagd-, Hirtenhunde; selten: Höllenhund und Schoßhunde), dann Pferde (als Reit- und Wagentiere, auch in Kriegsszenen; auch Neptuns Rosse, Sonnen- und Mondwagen), der Adler (bei Zeus/Jupiter), Tauben (bei Venus), Schlangen (Kleopatras Tod; Zeus/Jupiter; Polyeidos und Glaukos; Python), seltener sind z.B.: Schwäne (v.a. Zeus/Jupiter; auch bei Venus), Löwen (bei Herkules; Pyramus und Thisbe), Frösche (lykische Bauern, bei Latona), Hahn (bei Ganymed), Hirschkuh (bei Diana), Rinder (Geschichte Telemachs) bzw. Stier (Zeus/Jupiter), Schafe (Joseph und seine Brüder; Daniel und Abigail) bzw. Widder (Opferung Isaaks), Wildschwein (Tod des Adonis), außerdem Elefant (Alexander der Große in Babylon) und Kamel (Kleopatra-Zyklus). Zeichnungen und Skulpturen zeigen noch weitere Spezies in Szenen v.a. antiker Mythologie. – In einigen Fällen handelt es sich also auch nur um Tiergestalten als Ergebnis von Verwandlungen. 21 | Zu nennen sind v.a. die Maler Johann Heinrich Tischbein d. Ä. und Johann August Nahl d. J., der Bildhauer Johann August Nahl d. Ä., die Architekten Simon Louis du Ry, Johann Heinrich Wolff sowie Heinrich Christoph Jussow. 22 | Eine Porzellanmanufaktur: 1766-1788. Zwei Steingutfabriken: 1771 und 1772 gegr., 1774 geschlossen; eine erneute Gründung 1776. 23 | Landgrafenschloss: im Königreich Westphalen 1807-1811 neu ausgestattet, 1811 ausgebrannt. Orangerieschloss: Raumdekorationen 1828-31 und 1872 weitgehend vernichtet. Palais des Statthalters Wilhelm (VIII.), Frankfurter Straße 33: nach 1811 neu ausgestattet, nur der Festsaal bis 1943 erhalten geblieben; Palais von Jungken: nach 1814 neu ausgestattet. Weitere Bauten wurden ohne Dokumentation des Inneren abgebrochen (z.B. 1790 das Lustschloss Weißenstein) oder 1943 zerstört.
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Damit erweist sich das Gesamtbild der Tierdarstellungen in der hessischen Kunst als eher ausschnitthaft, abhängig von der jeweiligen Überlieferung, aber auch ganz grundsätzlich abhängig vom jeweiligen Kontext, von den Auftraggebern und von den Arbeitsschwerpunkten einzelner Künstler. Hinzu kommt der Ankauf auswärtiger Kunstwerke, der in diesem Rahmen unberücksichtigt bleiben muss, aber unter Wilhelm (VIII.; reg. 1730/51–60) sogar einen Großteil der Neuanschaffungen ausmachte: darunter Werke Wouwermans sowie Potters »Pissende Kuh« und das »Gericht der Tiere über den Jäger«.24 Längerfristige Vergleiche innerhalb eines Genres sind daher nur sehr bedingt möglich. Besonders aussagekräftig sind dagegen mehrere in sich geschlossene Werkbestände wie das barocke Marmorbad des Kasseler Orangerieschlosses, die vollständig erhaltenen Raumdekorationen im Wilhelmsthaler Schloss, die Porträts der dortigen Schönheitsgalerie, einzelne Gemäldezyklen zu historischen oder mythologischen Themen, Serien druckgraphischer Ortsansichten, Kataloge der Porzellanmanufaktur etc. Denn hier besteht keine Gefahr, dass Überlieferungszufälle den Anteil der dargestellten Tierarten verzerren, und mögliche Zusammenhänge und Konventionen können für den jeweiligen Bestand besser erkannt werden. Insgesamt lässt die Analyse des vorhandenen Materials mehrere eindeutige Tendenzen erkennen. So sind Löwen und Adler als Elemente der Herrschaftsrepräsentation erwartungsgemäß zeitunabhängig (Löwen zudem als hessisches Wappentier), und Gleiches gilt in Porträts für Pferde als Rang- und Statussymbole; aber auch Hochwild und Schwäne stehen mehrfach im Kontext der Herrschaftsrepräsentation, vereinzelt auch Fasane. Als Allegorien folgen Tierdarstellungen entweder antiken Traditionen oder naheliegenden natürlichen Zuordnungen (Jahreszeiten, Elemente).25 Überhaupt dienen Tierdarstellungen in erster Linie als Informationsträger, um z.B. mythologische Figuren und Gottheiten eindeutig identifizierbar zu machen26 oder um Hinweise auf das Terri24 | Zu Landgraf Wilhelm VIII. vgl. W. von Both/H. Vogel: Landgraf Wilhelm VIII., hier S. 130-147 und v.a. S. 140. Zum Schicksal beider Gemälde Potters (heute: St. Petersburg, Eremitage) und weiterer Werke, die in der napoleonischen Zeit geraubt wurden, vgl. A. Franz/D. Reupke: Der Lagrange’sche Kunstraub. 25 | Siehe z.B. zwei Kuppelreliefs im Kasseler Marmorbad, Frühling: zwei schnäbelnde Tauben; Luft: Adler und zwei weitere Vögel. Siehe z.B. auch Kasseler Porzellan, Frühling (Figurengruppe): junger Mann mit Blumen, ein Kind, das ein Vogelnest betrachtet, und schnäbelnde Tauben. Zu Hintergründen vgl. frühneuzeitliche, mittelalterliche und antike Autoren wie z.B. Cesare Ripa, Conrad Gesner, Konrad von Megenberg, Aelianus und Plinius d. Ä. 26 | In dieser Attributfunktion (z.B. der Adler bei Zeus, die Tauben bei Venus) entsprechen die Tiere damit den Attributen christlicher Heiliger (z.B. ein Messer bei Bartholomäus oder der Adler des Evangelisten Johannes).
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torium oder auf Eigentümer oder Nutzung eines Gebäudes zu geben.27 Diese Attributfunktion gilt selbst in scheinbar naturalistischen Stadt- und Ortsansichten, die z.T. – als Druckgraphiken – gezielt für Marketingzwecke angefertigt wurden (Abb. 1). Darin zeigen Tiere den Status von Personen an und weisen auf gesellschaftliche Gruppen hin, sodass mit ihrer Hilfe bestimmte Informationen über den jeweiligen Ort vermittelt werden; sie tragen zu gewünschten Stimmungen bei oder dienen wiederum als Hinweis auf Eigentumsverhältnisse. 20 18 16 14 12 10
gesamt; davon:
8
fürstlich
6
mit Kindern
4 2
Jagdhunde
0
Abb. 1: Anzahl druckgraphischer Kasseler Stadtansichten, die Tiere enthalten (die Oberneustadt, das Schloss oder den Auegarten zeigend, Gesamtansichten hier nicht berücksichtigt); insgesamt 18 Ansichten als Einzelblätter, letztes Drittel des 18. Jhs., verschiedene Künstler. Arbeitspferde und landwirtschaftliche Nutztiere sind innerhalb der Stadt gar nicht dargestellt. Schon anhand der Relationen ahnt man, dass hier ein bestimmtes Bild der hessischen Residenzstadt vermittelt wird. Dagegen zeigen einzelne Ansichten des Weißensteiner Parks Anklänge an Landschaftsbilder mit arkadischen Hirtenszenen.
27 | Vgl. etwa zwei Pferdeköpfe auf den Torpfosten des Gartentors des landgräflichen Oberstallmeisters und Kammerherrn Julius Jürgen von Wittorf (Garde-du-Corps-Platz, nach 1767); zwei Pferdeköpfe am Marstall der Löwenburg in Wilhelmshöhe (nach 1795), jeweils als symmetrische Paare.
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Besonders im Rokoko stehen Vögel bisweilen auch im Zusammenhang mit Putten bzw. kindlichem Spiel,28 sind v.a. aber auch Teil chinoiser Gestaltungen. Fremdländische Arten assoziieren in Bauplastik und Raumausstattungen jener Zeit in erster Linie Exotik (Papageien, Kraniche, aber auch heimische Reiher, z.T. kombiniert mit chinoisen Drachen oder Affen)29 und lebende exotische Enten knüpften als lebendige Gartenstaffagen an chinoise Bildszenen an.30 Muscheln, ›Insekten‹, Schnecken, Salamander etc. gehörten zur Ausstattung von Grotten dazu.31 Und allegorische Bedeutungen von Tierarten konnten – je nach Kontext – verschiedenartig durch neue Bedeutungen abgelöst werden: Im Rokoko gilt dies etwa für jene Tiere, die Exotik vermitteln, und im Klassizismus kann das Antikenzitat eine eigenständige inhaltliche Aussage darstellen – entweder als Verweis auf den antiken Verwendungskontext32 oder als bloßes Zeichen für die klassische Bildung eines Bauherrn.33 28 | Vgl. J. Cressant: Mädchen mit Taube und Kind mit Glucke und Küken, Wilhelmsthal, allegorische Figuren an der Grotte (1747/48 geliefert; F. Bleibaum: Wilhelmsthal, S. 22f., S. 126, S. 131; zudem Kinder mit weiteren Tierarten); J.H. Tischbein d. Ä.: Allegorie der Luft (Putten bei der Vogeljagd), Schloss Wilhelmsthal, Südwohnung im EG, Vorzimmer (um 1760?, vgl. ebd., S. 66); J.A. Nahl d. Ä: Putto, einen größeren Vogel im Arm haltend, Carlsaue, ehem. auf der Umfriedung der Voraue (1767; vgl. F. Bleibaum: Nahl, S. 146, S. 232; A. Holtmeyer: Cassel-Stadt, Tafel 218,1). 29 | Vgl. v.a. in Wilhelmsthal die Innenausstattungen des Schlosses (langhalsige Vögel, Drachen, Papageienkabinett) und die Dekorationen der chinoisen Entenhäuser (vgl. die folgende Anm.). 30 | Vgl. die Wilhelmsthaler Menagerie mit exotischen Enten und chinoisen Entenhäusern; dazu F.C. Schmincke, Cassel, S. 433; F. Bleibaum: Wilhelmsthal, S. 26; F. Bleibaum: Schloß Wilhelmsthal und François Cuvilliés d. Ä., S. 15-25, v.a. S. 20 und S. 25; H. Vogel in: W. von Both/H. Vogel: Landgraf Wilhelm VIII., S. 201f. 31 | Grotte in Wilhelmsthal, 1743/44 (vgl. F. Bleibaum: Wilhelmsthal, S. 20f., S. 24, S. 124; H. Vogel in: W. von Both/H. Vogel: Landgraf Wilhelm VIII., S. 198 und S. 200); Grotte im Garten des Erbprinzen Friedrich am Kasseler Auehang (vgl. F.C. Schmincke: Cassel, S. 310f.; A. Holtmeyer: Cassel-Stadt, S. 385). – Der Begriff ›Insekten‹ schloss damals z.B. auch Spinnen und diverse Kriechtiere ein. 32 | Vgl. den umkränzten römischen Legionsadler in SS. Apostoli in Rom, den H. Chr. Jussow z.B. 1789 im Entwurf für das Paradebett Landgraf Wilhelms IX. im neuen Weißensteiner Schlossbau (Wilhelmshöhe, Weißensteinflügel) zitiert – als Herrschaftssymbol, obwohl das hessische Wappentier der Löwe ist. Vgl. Best.-Kat. Architekturzeichnungen der MHK, Nr. 2.3.6.1 bis 2.3.6.3; den Adler in SS. Apostoli hatte Jussow 1785/86 während seiner Romreise vor Ort gezeichnet: ebd., Nr. 8.17.9.1. 33 | Vgl. C. Presche/D. Wolf: Leoparden, Anm. 38, zu Entwürfen H. Chr. Jussows für ein Palais des Freiherrn von Veltheim, um 1800 (vgl. Best.-Kat. Architekturzeichnungen der MHK, Nr. 4.12.2).
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Schmetterlinge waren anscheinend bei Landgräfin Maria Amelia als Motive für Schmuck beliebt (vgl. ihr Nachlassinventar 171234), während Vögel, Käfer etc. um 1770 als gemalte Dekorationen von Geschirr häufig sind und heimische Vögel im späten 18. und frühen 19. Jh. auch vereinzelt in Skizzen und Zeichnungen vorkommen.35 Eher gering ist der Anteil autonomer Tierdarstellungen, die oftmals persönliche Vorlieben der Künstler oder der Auftraggeber widerspiegeln. So waren sie unter Landgraf Carl (reg. 1677-1730) zumeist naturkundlich motiviert, wenn sie verschiedene Tierarten und Kuriositäten zeigten, während nach der Mitte des 18. Jhs. unter Friedrich II. (reg. 1760-1785) Falken an der Spitze liegen, die bei der Reiherbeize eingesetzt wurden.36 Zeichnungen und Stiche zeigen Menagerie-Tiere, Porträts bestimmter ›Charaktere von Hunden‹, Jagdbeute und abermals Seltenheiten.37 Einige Gemälde von Menagerie-Tieren wurden in herrschaftlichem Auftrag angefertigt,38 während eine ganze Graphik-Serie, die u.a. zahlreiche Tierbilder enthält, aus eigenen Vorlieben des Künstlers entstand.39 In Porzellan oder Steingut überwiegen Menagerie-Tiere bzw. andere herrschaftliche Tiere (Pfau, Fasan), aber auch Haus- und Nutztiere sind häufig (Hunde, Katzen, Pferde, Rinder, Schweine, Ziegen).40
34 | U.B. Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek, Handschriftensammlung, 2° Ms. Hass. 147. 35 | Zum Porzellan vgl. M. Wienert: Kasseler Porzellan; J.W. Kobold/G.W. Weise (aquarellierte Umrissradierung): der Friedrichsplatz in Kassel, 1789, am Himmel mehrere Vögel; zwei Zeichnungen L.E. Grimms 1806: der Steinauer Gärtner Amend, einen Vogel haltend, und die Kasseler Wohnung der Familie Grimm mit Vogelbauer und Tauben (I. Koszinowski/V. Leuschner: Ludwig Emil Grimm, K1 und P1). 36 | Mehrere Gemälde aus Carls Zeit sind im Naturkundemuseum Kassel erhalten. Zu den Falkenporträts unter Friedrich II. vgl. F. Bleibaum: Nahl, S. 25; L. Lindenmeyer: Kassel, S. 143: Demnach hingen im Jagdschloss Wabern (Ort der beliebten Reiherbeize) im Gang des 1. OG »eine ganze Sammlung von Bildnissen berühmter Falken, nach dem Leben gemalt und mit einer kurzen Beschreibung ihrer Schicksale versehen«. 37 | Vgl. z.B. die oben, in Anm. 17 genannten Zeichnungen J.W. Kammanns der Kasseler Menagerie-Tiere; J.H. Tischbein d. J.: »Kurzgefasste Abhandlung über die Aetzkunst …«, Cassel 1790 (vgl. hierzu Anm. 14); Ders.: Trimm, der Lieblingshund des Fürsten von Waldeck, 1794 (Foto Marburg, Aufnahme-Nr. 1.500.776); Ders.: Rehbock, 1769 im Schmalkaldischen geschossen (ebd., Aufnahme-Nr. 425.687). 38 | Vgl. J.H.W. Tischbein: Aus meinem Leben, S. 127, wo er erwähnt, dass er für Landgraf Friedrich II. mehrere Tiere der Kasseler Menagerie malte. Der Verbleib der Gemälde ist unbekannt. 39 | J.H. Tischbeins d. J. Abhandlung über die Aetzkunst (wie Anm. 14). 40 | Vgl. M. Wienert: Kasseler Porzellan, v.a. S. 84f.
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E inbeziehung historischer Q uellen Eine weitergehende Einordnung der Kunstwerke ist häufig erst durch die Auswertung zusätzlicher Quellen möglich: In Einzelfällen sind dies Angaben zu den Objekten selbst, aus Archivalien oder zeitgenössischen Berichten, aber auch Vergleiche mit außerhessischen Kunstwerken41 sind wichtig. Zudem erlauben historische Stadt- oder Lagepläne eine räumliche Verortung mancher Darstellungen, wobei Abweichungen zwischen realer und abgebildeter Topographie Rückschlüsse auf bestimmte Intentionen ermöglichen können.42 In vielen Fällen lassen aber auch diese Quellen offen, wie weit die Darstellungen dem alltäglichen Tier-Mensch-Verhältnis entsprechen, zumal sich der größte Anteil der Kunstwerke im Rahmen lang überlieferter Konventionen bewegt (Allegorien, Attribute etc.). Daher sind auch allgemeine historische Quellen von entscheidender Bedeutung. Die hessischen Landesordnungen43 spiegeln über den gesamten Zeitraum hinweg die landesherrschaftliche Auseinandersetzung mit privater und fürstlicher Tierhaltung sowie der Bekämpfung von Tierarten wider; sie ermöglichen Rückschlüsse darauf, welchen Stellenwert die jeweiligen Tiere zu verschiedenen Zeiten hatten und wie der Umgang mit ihnen – z.T. abhängig von Personengruppen und Örtlichkeiten – beschaffen war. Zugehörende Aktenbestände der Behörden liefern wichtige Hintergrundinformationen für die Verordnungen und Avertissements und dokumentieren indirekt z.B. auch Hundehaltung und Vogelfang der Untertanen. Und die häufige Wiederholung mancher Avertissements bietet zumeist Hinweise auf ihre unzureichende Befolgung.44 Zeitgenössische Bücher, Lexika und Zeitschriftenaufsätze helfen wiederum dabei, die hessischen Quellen in größere Zusammenhänge einzubetten – dies betrifft etwa die Rolle der Tollwut bei der vergeblich versuchten Eindämmung der Hundehaltung oder sich wandelnde Diskussionen darüber, wie Schädlingsbekämpfung theologisch zu rechtfertigen sei oder ob derartige Eingriffe das Räderwerk der Schöpfung aus dem Gleichgewicht brächten. Aus den Quellen und einzel41 | Vgl. z.B. ältere Werke J.A. Nahls d. Ä. und anderer Künstler in Potsdam und Berlin. 42 | Vgl. C. Presche: Tiertötungen, S. 169-171, zu J.H. Tischbein d. Ä.: Hirschhatz am Großen Bassin in der Carlsaue (Abb. 2 und 4). 43 | So etwa Verordnungen, Regierungsausschreiben, Avertissements etc., nachträglich in mehreren Bänden zusammengestellt und publiziert (HLO). Zu Verfügungen, Tiere zu töten, vgl. C. Presche: Tiertötungen. 44 | Siehe z.B. wiederholte Ermahnungen an die Untertanen, Raupen an Gartenbäumen einzusammeln, mit zunehmend schärferen Sanktionen bei Nichtbefolgung: HLO III, S. 667 (1711); HLO IV, S. 4 (1730), S. 617 (1739); HLO VI, S. 1151 (1784), S. 1184 (1785); HLO VII, S. 178 (1787), S. 644f. (1795); HLO VIII, S. 17 (1801), S. 156 (1804).
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ner aktueller Forschungsliteratur45 ergeben sich somit verschiedene kulturgeschichtliche Entwicklungen, in die die ermittelten hessischen Kunstwerke nun eingeordnet werden können – ergänzt um außerhessische Vergleiche. Hinzu kommen Reiseberichte, die weitere zeitgenössische Sichtweisen überliefern und beispielweise (damit kommen wir wieder auf die Stadtansichten zurück) die Erwartungshaltungen gegenüber einer vornehmen Residenzstadt ausdrücken – wozu etwa Kutschen und Reiter als Zeichen von Wohlstand gehörten.46 Und die Lebenserinnerungen einzelner Künstler47 bieten den konkreten biographischen Hintergrund bestimmter Darstellungen und lassen unmittelbare Einblicke in den persönlichen Umgang mit Tieren zu. Weitere persönliche Aufzeichnungen wie die Chroniken Kasseler Familien ergänzen diese Quellenbestände.48 Auf diese Weise wird es möglich, die künstlerischen Darstellungen in die zeitgenössischen Sichtweisen einzuordnen und z.B. zu beurteilen, wie weit sie vorherrschenden kulturgeschichtlichen Entwicklungen entsprechen.
F azit Kunstwerke mit Tierdarstellungen konnten auf mehrere Weisen umfänglich ermittelt werden, ebenso historische Quellen zu Kunstwerken, Künstlern und Tier-Mensch-Beziehungen des Bearbeitungszeitraums 1677-1806. Bereits die Häufigkeit dargestellter Tierarten in den jeweiligen Genres und ihre Kontexte lassen erste Schlüsse auf Sichtweisen und Konventionen zu, sowie auf Vorlieben einzelner Auftraggeber oder Künstler. Der territoriale, auf die Landgrafschaft Hessen-Kassel bezogene Blickwinkel der Untersuchungen bedeutet für einzelne Genres zwar zeitliche Lücken; für die Gesamtbetrachtung von Kunstwerken, Künstlern, Auftraggebern und Geschichtsquellen erweist er sich aber als überaus vorteilhaft, wenn es gilt, die Darstellungen in den kulturgeschichtlichen Kontext der Tier-Mensch-Beziehungen einzuordnen.
45 | Vgl. z.B. S. Windelen: Ungeziefer. 46 | Vgl. z.B. hierzu C.G. Küttner: Reise, S. 55 (zu Hamburg) und dagegen S. 315f. (zu Kassel). – Zum Nachtigallengesang an der Bellevue (Schöne Aussicht) vgl. F.J. von Günderode: Cassel, S. 28f. und S. 37f. 47 | A. Stoll: Ludwig Emil Grimm, S. 63 zu: I. Koszinowski/V. Leuschner: Ludwig Emil Grimm, V3-4 (zwei Schmetterlinge); A. Stoll: Ludwig Emil Grimm (ergänzende Quelle Jacob Grimms), S. 549f. zu: I. Koszinowski/V. Leuschner: Ludwig Emil Grimm, P1 (Tauben des Bruders Ferdinand in der Wohnung); J.H.W. Tischbein: Leben (Autobiographie). 48 | Vgl. P. Losch: Zwei Kasseler Chroniken.
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A rchivalische Q uellen Bildarchiv Foto Marburg, www.bildindex.de. U.B. Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek, Handschriftensammlung. 2° Ms. Hass. 147: Nachlassinventar der Landgräfin Maria Amelia, 28.04.1712. 2° Ms. Hass. 658[19: Skizzenbuch des Malers Johann August Nahl d. J., um 1786 (?).
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Interaktionen
Wärter und Tiere zwischen Hochnatur und Populärkultur in der Geschichte Zoologischer Gärten Wiebke Reinert
W iederaufführung Zoologische Gärten blicken inzwischen auf eine Geschichte von über anderthalb Jahrhunderten zurück. Die Selbstdarstellung des »Erlebnis-Zoo« in Hannover verknüpft diesbezügliche Referenzen mit unterhaltsamen Praktiken der Tierpräsentation in historisierender Kulisse u.a. im Rahmen einer Show, in der kalifornische Seelöwen als Tänzerinnen eine tragende Rolle spielen. Die Tiere, die von mehreren Pflegerinnen zweimal am Tag animiert werden, ihre Körper zu Kool & The Gang’s »Celebration« oder »A Sky full of Stars« von Coldplay zu bewegen, bieten ein unterhaltsames Spektakel, an dem Besucher_innen gerne teilhaben. Während dieser Animation geben die Tierpflegerinnen einige Informationen zu Eigenschaften (Alter, Fressvorlieben, durchschnittliche Schwimmgeschwindigkeit) der Spezies. Im Rückblick auf das 19. Jahrhundert wird in einem auf Band gesprochenen Text, der den Tanz der Robben in der Erlebnislandschaft ›Yukon Bay‹ einleitet, das Verhältnis von Menschen und Tieren sowie die auf ihm basierende Funktion des Zoos wie folgt beschrieben: »Immer weiter, immer schneller breiten sie sich mit ihren Maschinen und Fabriken, aber auch mit ihrem Müll über den Planeten aus. Die Lebensräume der Tiere werden immer kleiner, die Bestände gehen zurück. Innerhalb weniger Jahrzehnte sind vormals riesige Populationen ausgerottet, oder vom Aussterben bedroht: die Bisons und Karibus, die Seebären, die Weißkopfseeadler – und unzählige andere Arten. Doch langsam beginnen die Menschen zu begreifen: so darf es nicht weitergehen. Etwa zur selben Zeit entstehen auf der ganzen Welt die ersten Zoologischen Gärten, in denen
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Wiebke Reinert Tiere gehegt und wissenschaftlich erforscht werden sollen. Mit dem Ziel, mehr über sie zu erfahren, zu lernen. Für viele Tierarten werden diese Zoos schon bald zum letzten, sicheren Ort.«1
Abb. 1: Robbenshow: Eine Reise durch die Zeit, Yukon Stadium, Erlebnis-Zoo Hannover, 31.03.2015. Das präsentierte Narrativ zur Entstehung Zoologischer Gärten mag etwas verkürzt daherkommen; es funktioniert in einem (nach)modernen Vergnügungsbetrieb dennoch oder deshalb ziemlich gut, zumal es die für die Geschichte des guten Zoos gegenwärtig wesentlichen Aspekte Artenschutz, Bildung und Forschung enthält. Dass Unterhaltung und Vergnügen in dieser Erzählung keinen prominenten Platz haben, ist als Zwischenergebnis von Kontroversen zu werten, die bis zu frühen Aufklärungsbewegungen zurückzuverfolgen sind.2 Sie betreffen über die Legitimität von Wildtierhaltung hinaus ein ›positives Freizeitverständnis‹, bei dem v.a. der Einfluss der Pädagogik auf diskursive Gestimmtheiten bezüglich der Sinnhaftigkeit der Nutzung freier Zeit zu beachten ist. Die Gründung erster bürgerlicher Zoos war meist durch Überzeugungen von »vernünftiger Erholung«3 in einer Bildungsinstitution getragen. Nicht für alle potentiellen Zoobesucher_innen, die man für den wirtschaftlichen Erfolg der durch Aktiengesellschaften getragenen Betriebe vorsah, bedeutete »Bildung« jedoch gleich »Vergnügen«. »Sehr bald«, wie Oliver Hochadel pointiert zusam1 | Sprechertext zur Robbenshow in der Erlebnislandschaft ›Yukon Bay‹ im Erlebnis-Zoo Hannover, 31.03.2015, Transkript eigener Filmaufnahmen. 2 | C. Kleinschmidt: Konsumgesellschaft, S. 52. 3 | K. Maase: Grenzenloses Vergnügen, S. 25ff.
Wärter und Tiere zwischen Hochnatur und Populärkultur
mengefasst hat, »mussten die Popularisierer einsehen, dass die ganz überwältigende Mehrheit der Besucher nicht zwecks zoologischer Belehrung, sondern auf der Suche nach kurzweiliger Unterhaltung in den Tiergarten strömte.«4 Im Folgenden sollen das urbane Setting Zoologischer Garten und die in dieser Rahmung agierenden Tiere und Menschen auf zweierlei, miteinander verwobene Relationalitätskomplexe hin befragt werden. Zum einen wird es um das grundlegende Spannungsfeld von Bildung und Vergnügungskultur gehen, das auch im Zusammenspiel von Bildungsanspruch und kurzweiliger Unterhaltung durch tanzende Seelöwen und populäre Musik aufgehoben ist. Das Verfolgen dieser beiden Ziele, das Publikum zu bilden und zu belehren, gleichzeitig aber Erholung und Vergnügen im städtischen Raum zu bieten, ist seit Gründungszeiten ein zootypischer, kontroverser Aushandlungsprozess gewesen. In diesem waren unterschiedliche Rollen und Rollenverständnisse von Tieren und Menschen in einem umfassenden Beziehungsgeflecht miteinander verbunden – die sich wandelnden Relationalitäten städtischer Massenkultur und bürgerlicher Bildungsbemühungen sind für die Analyse von wesentlicher Bedeutung. Zum anderen soll sodann aufgezeigt werden, wie sich dies konkret auf das Verhältnis zwischen Tieren und jenen, die ihnen qua Profession am nächsten waren, auswirkte. Freilich handelte es sich hierbei nicht um einen linearen Prozess; es entstanden nicht nur machtvolle Diskurse nebst inklusiver und exklusiver Effekte, sondern auch Widerständigkeiten, Anpassungs- und Aneignungsstrategien menschlicher und tierlicher Akteure – »in der anhaltenden Auseinandersetzung zwischen Zuweisung von außen und Erfahrungsinterpretation der Gruppe[n] selber«.5
U raufführung Der Übergang von der fürstlichen Menagerie zum bürgerlichen Tiergarten und schließlich zum conservation center des 3. Jahrtausends, wie er noch in jeder jüngeren Institutionsgeschichte beschrieben wurde,6 bestand möglicherweise hauptsächlich darin, den Luxus der Wildtierhaltung von der Standesgesellschaft in die Klassengesellschaft zu überführen. Praktiken mobiler Tierschauen und das Monopol (das Kaspar Maase für die Kulturvermittlung beschrieben hat7) 4 | O. Hochadel: Im Angesicht, S. 32; vgl. C. Wessely: Künstliche Tiere, S. 99. 5 | K. Maase: Spiel ohne Grenzen, S. 86f. 6 | Siehe z.B. É. Baratay: A history of zoological gardens; N. Rothfels: Savages and Beasts; L. Dittrich (Hg.): Kulturgeschichte des Zoos. Für die zahlreichen Jubiläumsschriften der Zoos gilt dies ohnehin: M. Haikal/W. Gensch: Der Gesang des Orang-Utan; M. Reckewitz/T. Pagel: Der Kölner Zoo; J. Kurz: Vom Affenwerner zur Wilhelma. 7 | K. Maase: Grenzenloses Vergnügen, S. 172; vgl. C. Wessely: Künstliche Tiere, S. 11.
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über eine Natur, deren Vorführung und Popularisierung bis dato Gastwirte wie »Affenwerner«8 und »Wandermänner der Wissenschaft« arrangierten,9 wurden in urbane Zentren bürgerlicher Gesellschaften geholt. In ihrem Fortbestehen waren sie, bei aller Betonung der Volksbelehrung, grundlegend getragen und abhängig von moderner, populärer Unterhaltungskultur. Dass »Staunen in bare Münze [zu] wandeln«10 war, konnte den neuen städtischen Eliten als Wirtschaftsfaktor, den die Freizeitmassenvergnügungen der Jahrmärkte, Zirkusse und Wandermenagerien darstellten, kaum verborgen geblieben sein. »Affenwerner« in Stuttgart und Ernst Pinkert in Leipzig sind Beispiele für Gastronomen des 19. Jahrhunderts, die zur Steigerung der Attraktivität ihrer Gaststätten ebendort Tiere zur Schau stellten. Die Idee eines edukativen Tier-Erlebens lag allerdings oft quer zu Bedürfnissen nach Unterhaltung und Vergnügen. Im Sinne des klassischen Gegensatzes von ›Hochkultur‹ und ›Populärkultur‹ sei in Bezug auf die Narrative des Zoos als Bildungsinstitution an dieser Stelle das Konzept der ›Hochnatur‹ vorgeschlagen. Denn im Zoologischen Garten zeigte sich die Inszenierung von Natur als besonders wertvolles Gut, was sie gewissermaßen zum Kulturgut, zu kultivierter und kulturalisierter Natur11 werden ließ. Zeitgenössische Zooführer und Reiseberichte lassen erkennen, dass von einer ›richtigen‹ Möglichkeit, durch den Zoo zu spazieren ausgegangen wird; nur über die rechte Abfolge in Raum und Zeit ließe sich die Natur sinnvoll erleben.12 Die Inszenierung dieser erhabenen, belehrenden Natur für die Massen wurde gleichwohl beeinflusst von den »Vergleichsmöglichkeiten urbanen Lebens« wie auch durch die egalisierende Wirkung entstehender Konkurrenzen zwischen verschiedenen städtischen Freizeit-Orten.13 Als Orte urbaner Freizeitgestaltung waren Zoos (nicht zuletzt über den Tierhandel) verbunden mit Tierhaltungs- und Tierschaupraktiken, die zuvor 8 | Unter einer Zeichnung vom Stuttgarter Wirtshaus- und Tiergartenbesitzer Gustav Friedrich Werner wird dessen Tierhaltung ›Der Zoologische Garten in Stuttgart‹ genannt (vgl. Ueber Land und Meer, Allgemeine Illustrierte Zeitung Bd. 12, Stuttgart 1865, S. 165). Siehe auch F. Wiedermann: Bubenbad. Vom Zimmermeister Johannes Nill übernommen ging die Tiersammlung schließlich in die Leitung dessen Sohnes und Tierarztes Adolf über, der auch Beiträge in der Fachzeitschrift Der Zoologische Garten veröffentlichte, z.B. A. Nill: Fortpflanzung. 9 | O. Hochadel: Wandermänner der Wissenschaft. 10 | Ebd. 11 | Zur Problematik von Kulturalisierungsprozessen siehe den aufschlussreichen Sammelband von I. Schneider/M. Sexl: Unbehagen. 12 | Siehe z.B. F. Knauer: Der Zoologische Garten. 13 | K. Maase: Grenzenloses Vergnügen, S. 79 und S. 95. Christina Wessely hat darauf hingewiesen, dass die Trennung von Kultur und Natur im Zoo nie richtig funktioniert habe, da sich die beiden viel mehr durchdrangen. C. Wessely: Künstliche Tiere, S. 12, S. 140.
Wärter und Tiere zwischen Hochnatur und Populärkultur
und parallel existierten. Damit Zootiere für ein Massenpublikum, dessen es der baren Münze halber ebenso bedurfte wie zur Legitimation des Zoos als Volksbelehrungsinstitut, relevant und berührend werden konnten, mussten Besucher_innen auch emotional angesprochen werden. Denn der Konsum von Vergnügungsangeboten ist eine kulturelle Praxis, »die mit Wünschen, Sehnsüchten, Hoffnungen und Ängsten besetzt ist«.14 Sowohl für die Seite der Produzierenden und diejenige der Konsumierenden bestehen damit verbundene Erwartungen, die Wechselwirkungen und Dynamiken aufweisen. Geschmacksfragen und Konsumgewohnheiten konnten zeitgenössisch potentiell jedoch auch als etwas wahrgenommen werden, das Jakob Tanner »kulturelle Reliktgebiete« genannt hat.15 Der Zoologische Garten ist in diesem Sinn als ein Ort der (nur teilweise glückenden) Transformation volkstümlichen Umgangs mit Tieren in bürgerliche Bedeutungssysteme zu verstehen. Während in folkloristischen Inszenierungen mit Tieren (literarisch oder in Zirkussen, auf Tierschauen und Wettkämpfen) stets eine burleske Komponente enthalten war, sollten im sich formierenden und definierenden Bürgertum Präsentationen v.a. moralischen und erzieherischen Zwecken dienen.16 Anders als im Zirkus, der eher ein Ort von Grenzüberschreitungen und Konversationen zwischen menschlichen und tierlichen Athleten war,17 kam im Zoologischen Garten der Grenzziehung zwischen Mensch und Tier eine kategorische Bedeutung zu. Die Distanznahme zum Tier als Objekt naturwissenschaftlicher Betrachtung und die klare räumlich-materielle Abgrenzung durch die Gestaltung der Gärten und Gehege materialisierten ganz bestimmte Vorstellungen von ›richtigen‹ Tier-Mensch-Kontakten. Wärter und Pfleger_innen sind in diesem Setting stets grenzüberschreitende Figuren gewesen, da sie in menschlichen (z.B. bei der Aufsicht vor Gehegen auf Zoowegen) und tierlichen (ob zum Ausmisten der Ställe und Gehege, zum Füttern oder zum Spiel mit Tieren) Gefilden gleichermaßen agierten. 14 | J. Tanner: Industrialisierung, S. 586. 15 | Ebd., S. 594. 16 | O. Löfgren: Our Friends in Nature, S. 209. Dass sich Tierführer des 17. und 18. Jahrhunderts keinesfalls selbst den ›Komödianten‹ zurechneten wird deutlich bei A. RiekeMüller: ein Kerl mit wilden Thieren, S. 170. 17 | Für die US-amerikanische Zirkusgeschichte ist die These eines ›dialogischen Prozesses‹ zwischen Tieren und Menschen im Zirkus sorgfältig ausgearbeitet und belegt worden von J.M. Davis: The Circus Age, siehe z.B. S. 28. Für die europäische Zirkusgeschichte siehe S. Kirschnick: Manege frei!, die auch herausgestellt hat, wie der Zirkus als Format mit Theater und Pferdedressur wie auch populären Bilderbogen verknüpft ist. Eine Zoogeschichte wäre ohne Geschichte anderer Tierdarstellungen und populäre Vergnügungen mit Tieren sowie als ›nationale‹ Geschichte in diesem Sinne ebenso wenig zu schreiben wie die des Zirkus ohne dessen Verflechtungen.
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In einer Perspektive, die dezidiert Diskurse und Praktiken von Bildungsund Unterhaltungskultur, ihre Verbindungen, Wechselwirkungen und Kontroversen18 in den Blick nimmt, lässt sich z.B. die Ausstellung einer möglichst großen Anzahl verschiedener Spezies nicht ausschließlich als belehrende Demonstration von Vielfalt und Veränderbarkeit der Natur in einem wissenschaftlichen Sinn deuten,19 sondern muss ebenso im Kontext eines wachsenden Markts städtischen Massenvergnügens betrachtet werden. Auf diesem musste mit anderen Institutionen durch Aufsehen erregende Schau- und Vergnügungsmöglichkeiten konkurriert werden.20 Neue Tiere wurden auch im Zoo untergebracht und dort (re)produziert, um immer wieder Geschichten von Eingewöhnung, Annäherung (zumal von Wärter und Tier), Fortpflanzung, drolligem Jungtierspiel, Fütterung, Anlernen (Dressieren) usf. ausstellen zu können – mit variierenden, gefiederten oder gefleckten, gestreiften oder behörnten Hauptdarsteller_innen.21 Zwecks kurzweiliger Unterhaltung kam Spiel und Spielerischem mit Tieren und somit den direkten Interaktionen zwischen Wärter und Tier eine grundlegende Bedeutung zu. Parallel dazu wurde nun das spielende Tier und das Spiel zwischen Mensch und Tier auch in die Rahmung einer Bildungsinstitution integriert und zum Garant naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Zwei Jahre nach Eröffnung des Frankfurter Zoos hatte David Friedrich Weinland, von 1858 bis 1863 dortiger Direktor und Herausgeber der Zeitschrift Der Zoologische Garten, die Bedeutung eines Wärters bei der Präsentation der lebenden Ausstellungsstücke folgendermaßen umrissen: »Der Wärter muss seine Thiere lieben, dann denkt er nicht nur daran, sie stets auf’s Beste zu nähren u.s.f., sondern er wird ganz von selbst zu seiner eigenen Freude auch Aueßerungen seelischer Eigenschaften ihnen zu entlocken suchen, die die Thiere für jeden Beobachter interessant machen. Alles dies ist übrigens eine alte Wahrheit; wenigstens finde ich in dem großen Foliowerke von G. Cuvier und J. Geoffrey über die Menagerie des ›Jardin 18 | T. Becker/J. Niedbalski: Die Metropole der tausend Freuden. Siehe auch W. Speitkamp: Jugendschutz und kommerzielle Interessen und nachgerade klassisch K. Maase: Kinder der Massenkultur. 19 | S.M.P. Benbow: Zoos, S.14. 20 | K. Maase: Grenzenloses Vergnügen, S. 83. Rosseaux hat den »Trend zu immer exotischeren Geschöpfen aus immer weiter entfernten Gegenden« bereits für Tierschauen im frühneuzeitlichen Dresden ausgemacht, U. Rosseaux: Freiräume, S. 176. Der dortige Zoologische Garten ging nebenbei bemerkt aus einem Hühnerzuchtverein hervor, der an Schau- und Nutztieren gleichermaßen interessiert war, der zweite Direktor des Zoos in Hannover war Landwirt; vgl. L. Dittrich/A. Rieke-Müller: Der Löwe brüllt nebenan, S. 125140, S. 169. 21 | Vgl. zum Zoo als Ort inszenierter »Geschichten« C.K. May: Geschichte des Zoos.
Wärter und Tiere zwischen Hochnatur und Populärkultur des Plantes‹ […] nicht etwa das Portrait von Cuvier, sondern von ›Bijou‹, d.h. dem ersten Wärter des Gartens, nach dem Bilde zu schließen, irgend eines ungebildeten Auvergnaten, der aber durch seine Liebe zu den Thieren und umgekehrt durch die Anhänglichkeit seiner Pfleglinge an ihn berühmt geworden war.«22
Das konsumierbare Naturerlebnis, das im Zoo produziert wurde, war unmittelbar mit räumlichen, wirtschaftlichen und sozialen Tier-Mensch-Gefügen verknüpft. Bei der Präsentation der lebendigen Ausstellungsstücke, im Spannungsfeld von Unterhaltung, Belehrung und Ökonomie, kam Wärtern und Pfleger_innen dabei eine Schlüsselrolle zu: Sie kontrollierten Begegnungen zwischen Tier und Mensch, das Leben und Wohlbefinden der Zootiere sowie ganz allgemein die Inszenierungen von Tier-Mensch-Beziehungen. Wartung und Pflege dienten nicht nur dem Erhalt des wertvollen Tierbestands, sondern auch dem Ausbau des ›Schauwerts‹ der einzelnen Spezies. Und dieser konnte durch eine geglückte Annäherung von Wärter und Tier, durch die sich jenes überhaupt erst präsentabel verhalten würde, gesteigert werden. Die Animation der Zootiere, die gemäß den formulierten Erwartungen wesentlichen Anteil am ›Staunen‹ des Publikums haben würde, oblag den für die Tierwartung eingestellten Arbeitern, die die exklusive Nähe zum exklusiven Ausstellungstier bis zur ›Berühmtheit‹ ausbauen konnten. Es bleibt zu bemerken, dass Wärter und Pfleger_innen in Zoos somit nicht nur »die einzigen Personen« waren, die »in ein intimes Verhältnis mit den ihnen anvertrauten Lebewesen treten durften«,23 sondern dies auch auf ganz bestimmte Weise mussten. So würde, schrieb Weinland weiter, mithilfe des Wärters »ein zutrauliches Thier eine Menge von seelischen Eigenthümlichkeiten zur Schau tragen, die an einem scheuen Tier nie zu Tage treten. Ja, man mag lächeln über die sogenannten Kunststücke der Elephanten u.s.f., die man in den Menageriebuden auf den Messen sieht; allein es wird doch Niemand läugnen, daß der Zuschauer, der einen Elephanten zwei Dutzend Kunststücke hat ›durcharbeiten‹ sehen, mehr von den körperlichen und seelischen Eigenthümlichkeiten, von seinem ganzen Charakter und Wesen versteht, als jener andere, der ihn hinter einer Barriere sich hin und her wiegen oder in einem kleinen Park hat hin und wieder gehen sehen.«24
Das, was Direktoren und andere Beobachter als ›gutes Verhältnis‹ zwischen Wärter und Tier(en) beschrieben, war nun über die Funktion der Wärter als 22 | D.F. Weinland: Was wir haben, S. 203f. Hässlin wiederholt u.a. diese Erzählung 1960 in einer Jubiläumsschrift für den Kölner Zoo, in: J.J. Hässlin: Der Zoologische Garten zu Köln, S. 73. 23 | C. Wessely: Künstliche Tiere, S. 64. 24 | D.F. Weinland: Was wir haben, S. 202f.
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Wächter hinaus auch zur Demonstration des Bildungsanspruchs und zur Belehrung wie auch zur Erhöhung der Einnahmen durch gefälligen und unterhaltsamen Mensch-Tier-Kontakt bedeutsam. Da die Haltung und Ausstellung von Tieren in städtischen Parkanlagen von jeher ein immens aufwändiges Unternehmen gewesen ist, haben sich die meisten Zoologischen Gärten wiederkehrend in ökonomischen Krisensituationen befunden. 1922 sah sich die Stadtverwaltung Hannover, in deren Regie sich der dortige Zoo seit 1920 befand, mit einer derart desolaten finanziellen Lage konfrontiert, dass die Stadtoberen den Betrieb zum Ende des Jahres schließen ließen.25 Mit dem Verkauf des Tierbestands wurden schließlich auch die Zooarbeiter aufgabenlos. Im November 1922 war allen verbliebenen Wärtern zum Ende des Jahres gekündigt worden, die auf der Suche nach neuer Arbeit vereinzelt den Zootieren folgten.26 Kaspar, der seinerzeit einzige Elefant im Zoo Hannover, wurde im Frühjahr 1923 an den Jardin d’Acclimatisation in Paris-Neuilly verkauft. Am 9. Dezember 1907 war er in Kopenhagen geboren worden und als erstes in einem Zoologischen Garten geborenes Kalb eine Sensation.27 Wärter Friedrich Duensing begleitete ihn nach Frankreich, um den neuen Wärter anzulernen.28 Unklar ist, ob Duensing tatsächlich dazu angewiesen wurde. Da es unmöglich gewesen sei, wie er 1924 in einem Brief mitteilte, Kaspar dem neuen Wärter zu überlassen, habe er sich auf Bitten der Direktion des Pariser Zoos entschlossen dort im Dienst zu bleiben. Erhaltene Personalunterlagen aus dem Zoo Hannover lassen darauf schließen, dass Duensing zuvor nicht primär mit der Elefantenpflege betraut war, sondern Wärter und Betriebsrat Heinrich Homeyer, der seit Februar 1891 im Zoo beschäftigt war.29 Positionen der Wärter und Pfleger_innen nahe belieb25 | L. Dittrich/A. Rieke-Müller: Ein Garten für Menschen und Tiere, S. 90-96. 26 | Vgl. Personal-Aufstellung des Zoologischen Gartens, Oktober 1922; Entwurf eines Kündigungsschreibens nebst Aufstellung des noch im Zoo beschäftigten Personals, StdA Hannover Magistratsakten, HR 1563. 27 | So zumindest rückblickend: Nachrichten aus Zoologischen Gärten: Kopenhagen, Der Zoologische Garten N.F. 1930, Bd. 2, Heft 7-9, Januar 1930, S. 93; K.M. Schneider: Mit Löwen und Tigern unter einem Dach, S. 22f. und L. Dittrich/A. Rieke-Müller: Ein Garten für Menschen und Tiere, S. 70. 28 | Brief an Sekretär Hornig, 4.3.1924, StdA Hannover, Magistratsakten HR 10/1563, ebenso: Auszug aus dem Protokoll der Magistratssitzung vom 24.03.1924, StdA Hannover, Magistratsakten HR 10/1563; ebenso erwähnt in »Das letzte vom Zoo«, Niederdeutsche Zeitung vom 16.03.1923. Am 14.12.1922 war Kaspar als Tierbestand gelistet für 10902,268 Mark, Magistratsakten HR 10/1521, Inventarlisten. 29 | In einem nicht datierten Aktenvermerk wurde aufgeführt, dass der Wärter Homeyer zur Pflege und Betreuung des Elefanten auch über die Schließung des Zoos hinaus in dessen Dienst bleiben müsse. StdA Hannover, Magistratsakten HR 10/1563.
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ten oder unbeliebten Zootieren korrelierten häufig mit deren Position innerhalb der Betriebshierarchie. Warum schließlich nicht Homeyer anstelle Duensings mit dem Elefanten reiste, ist nicht überliefert. Er besaß ein eigenes Grundstück und die in einer Ausführung für die städtische Ausgleichsstelle von Zooinspektor Martin angemerkte Notwendigkeit seiner nächtlichen Anwesenheit dort mag ihn auf andere Weise lokal gebunden haben.30 Da Kaspar als Sensation präsentiert und gut dressiert wurde, gab es über eine intime Wärter-TierBeziehung hinaus vielleicht zusätzliche Gründe für Duensing, in des Elefanten ruhmreicher Nähe zu bleiben. In benanntem Brief schrieb Duensing, dass seine Frau (die in Hannover geblieben war) ihm mitgeteilt habe, dass der Zoo wiedereröffnet würde. Er bat darum, doch wieder eingestellt zu werden, er sehne sich sehr nach seiner Heimatstadt und habe vieles »nachgelernt« bezüglich Pflege und Dressur. In Neuilly würde jedes Tier »ausgenutzt«, das bringe gute Extraeinnahmen und er sei mittlerweile geübt in Bezug auf Ponyreiten, dem Führen von Lamas und Kamelen und der Dressur von Seelöwen. Gerne würde er sich mit seiner »ganzen Kraft und Kenntnisse[n] den [sic] Zoologischen Garten witmen [sic] und fördern das [sic] er […] blühen und gedeien [sic] möge«.31 Die Angabe der Absenderadresse verrät etwas über sein (neues) Selbstverständnis: »Friedrich Duensing (Domtör)«.32 Er verlieh seinem Ansuchen Nachdruck und schrieb keine vierzehn Tage später an Senator Lindemann, dem er sich ebenfalls mit verfeinerten Kompetenzen empfahl und damit zugleich finanziellen Erfolg für den Zoo in Aussicht stellte.
(S ich ) ins G ehege kommen Jutta Buchner-Fuhs hat auf den wichtigen Aspekt hingewiesen, dass sich an Pflegerpersönlichkeiten Verbindungslinien zwischen Zoologischen Gärten, Wandermenagerien und dem Zirkus ziehen ließen.33 Eine Übernahme von Prä30 | Erklärung von Zooinspektor Martin zur Notwendigkeit der Beibehaltung einer Nachtwache, 13.7.1923, StdA Hannover, Magistratsakten HR 10/1563. 31 | Brief an Sekretär Hornig, 4.3.1924, StdA Hannover, Magistratsakten HR 10/1563. 32 | Brief an Senator Lindemann, 16.3.1924, StdA Hannover, Magistratsakten HR 10/ 1563. 33 | J. Buchner-Fuhs: Gebändigte Wildheit im Stadtraum, S. 297. Der Tierhandel war eine weitere Branche, die mit Zoologischen Gärten im Personalaustausch stand. Drouad, einer der ersten Wärter im Hannoveraner Zoo, hatte vor dieser Anstellung seinem Vetter und Wandermenagerist Lorenzo Casanova bei Tiertransporten geholfen (vgl. Der Zoologische Garten 4/1863, S. 196). Wärter Lüders, von dem noch die Rede sein wird, war den Zooverantwortlichen vom Tierhändler Ruhe empfohlen worden, bei dem jener zuvor
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sentationspraktiken aus diesen Kontexten wird dabei konkret sichtbar. Die Wärter, die ständig zwischen Publikum und Tieren agierten, waren bisweilen selbst in Zirkus oder Wandermenagerie tätig gewesen. Sie wussten allem Anschein nach das Bedürfnis der Besucher_innen nach unterhaltsamer, überraschender, spektakulärer Freizeit-»Kultur mit Tieren«34 zu verstehen und zu bedienen, wenngleich dies nicht überall Anklang fand. Viele von ihnen blieben mehrere Jahrzehnte im Zoo – was auch mit der Rentabilität einer guten Bekanntschaft mit den Zootieren zusammenhängen mag. Aus dem Frankfurter Zoo ist die Legende überliefert, dass der langjährige Raubtierwärter Neiß diese Bekanntschaft nutzte, indem er mit einer Großkatze in das Büro des Direktors spazierte, um ein höheres Gehalt zu erbitten. Die Demonstration einer Akteursgemeinschaft endete, so berichtet Chronist Scherpner, mit dem Raubtier auf dem Schrank und einem Verweis für Karl Neiß.35 1927 erreichte die Leitung des Zoos Hannover eine Beschwerde des Verbandes der Gemeinde- und Staatsarbeiter: Wärter Lüders würde angesichts seiner Zusatzbelastung durch die Dressur der Raubtiere und der Lebensgefahr, der er sich dabei aussetze, nicht angemessen entlohnt. »Wir gestatten uns, in der Anlage einige Fotografien beizufügen, die den Pyramidenbau der Löwengruppen zeigen. Es dürfte sich empfehlen, letztere den Herren Mitgliedern der Kommission des Zoo’s [sic] vorzulegen, damit sie imstande sind, die Tätigkeit des Dompteurs gerecht zu bewerten.«36
im Dienst stand. Aufstellungen der vorgesehenen Wärter für den neu eröffneten Zoo zur Vorlage beim Magistrat, StdA Hannover, HR 10/1563. 34 | J. Buchner-Fuhs: Kultur mit Tieren. Als zeitgenössisches Beispiel: »›Aus einem Schreiben des Herrn Dr. W. Stricker dahier an den Herausgeber‹, Dresden, 12. September 1864«, in: Der Zoologische Garten, Zeitschrift für die gesamte Tiergärtnerei 5 (1864), S. 417. 35 | C. Scherpner: Von Bürgern für Bürger. Die Geschichte könnte natürlich möglicherweise auch vom Direktor selbst zwecks Demonstration der Notwendigkeit von Disziplinierungsmaßnahmen erzählt worden sein. Diese stellt Burkhardt bereits für die Pariser Menagerie fest: R. Burkhardt: Akteure und Interessen in der Pariser Menagerie. 36 | H. Müller für den Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter, Ortsverwaltung Hannover, an Senator Lindemann, 28.10.1927, StdA Hannover, Magistratsakten HR 10/1568.
Wärter und Tiere zwischen Hochnatur und Populärkultur
Abb. 2: Lüders’ Löwenpyramide, Hannover 1927, Stadtarchiv Hannover, HR 10/1568. Direktor Müller erläuterte der städtischen Verwaltung am 29. Oktober 1927, dass derlei Zahlungen wohl gerechtfertigt wären, allerdings wiederum zu neuen Konflikten führen würden: »Wenn Lüders 1000.- M. jährlich erhält, so wird dieses die Missgunst der anderen Wärter erregen, da der Zufall Lüders auf diesen Platz gestellt hat. Die anderen Wärter würden sagen, dass sie ebensogut diese Einnahme haben könnten. Ausserdem trainieren noch Hesse II die Elefanten und das Nilpferd und Stellmann und Friedrichs II den Schimpansen. Diesen Wärtern ist keine Einnahmemöglichkeit geboten.«37
Derlei Zwistigkeiten bezüglich der Beliebtheit oder Art der Inszenierung des jeweils gepflegten Tieres und damit verbundenen sozioökonomischen Stellungen der Wärter sind bereits aus den 1870er-Jahren überliefert.38 Im »Zufall«, durch den Lüders Raubtierwärter geworden sei, taucht weder ein ›gutes Verhältnis‹ auf, noch Talent oder Fertigkeiten, die Lüders sich im Pro37 | Direktor Müller an Senator Lindemann, 29.10.1927, StdA Hannover, Magistratsakten HR 10/1568. Die »II« zeigt an, dass im Betrieb jeweils zwei Wärter mit diesen Nachnamen angestellt waren, was sich anhand zahlreicher Unterlagen aus dem Zeitraum nachvollziehen lässt. 38 | A. Schöpf: Nachrichten aus dem Zoologischen Garten zu Dresden, S. 188. Zur Praxis des Trinkgeldgebens als gesellschaftlichem Aushandlungs- und Distinktionsprozess im Kontext entstehender urbaner Dienstleistungen siehe W. Speitkamp: Der Rest ist für Sie!
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zess des Trainings der Löwen selbst antrainiert hätte. Die Dethematisierung von Dressur und Vorführungskompetenzen seitens der Pfleger und Wärter hing mit der Betonung der Ernsthaftigkeit des Zoos als Bildungsinstitution zusammen – und auch damit, dass die Anerkennung der Gemeinnützigkeit wiederholt herausgefordert wurde. Angesichts der Frage, nach welchem Tarif die Wärter als städtische Angestellte bezahlt würden, schrieb Inspektor Wache 1926 an das Lohnbüro des Magistrats, ein Tierpfleger brauche erhöhte dienstliche Pflicht unabhängig von Zeit und Ort, die Arbeit setze »ein Herz für seine Pfleglinge« voraus, eine anständige Gesinnung und die Bereitschaft, sich vor keiner Arbeit zu scheuen. »Die Vielseitigkeit der Bepflegung einer exotischen Tiersammlung für die Anforderungen an Kopfarbeit und die hinzukommende ausgedehnte körperliche Bewegung erfordern Eigenschaften, die sich sogar bei Durchschnittsmenschen selten finden lassen, ganz abgesehen bei Arbeitern.«39
Gerade dem Magistrat wurde der Zoologische Garten als Bildungsinstitution präsentiert, konnte die Befreiung von der Vergnügungssteuer durch Anerkennung der Gemeinnützigkeit des Betriebs in der Zwischenkriegszeit schließlich über dessen Fortbestehen entscheiden. Tierpfleger_innen in Zoologischen Gärten bewegen sich bis heute im Spannungsfeld verschiedener Praktiken der Tierhaltung, Bildung wie auch Unterhaltung.40 Die zahlreichen Zoo-Doku-Serien der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender geben davon Zeugnis, dass die Unterhaltungskomponente tragendes Element ist – ebenso wie gegenwärtige Inszenierungspraktiken in den »Erlebniswelten« und Immersionslandschaften der Zoos. So altbewährt die Animation der Zootiere ist, gewandelt haben sich manche Gruppen der tierlichen Akteure. Während Dressuren oder Reittouren mit Elefanten, Großkatzen und Schimpansen, die Wärtern und Pfleger_innen in der Betriebsgeschichte des Zoos lange Zeit eine zusätzliche (Trinkgeld-) Einkommensquelle boten, mittlerweile undenkbar sind, bleiben Seelöwen bewährte Bühnenstars. Ob die Hannoveraner Seelöw_innen ihre Tanzkünste ohne Animation durch ihre Tierpflegerinnen überhaupt zur Schau stellen würden und ob die Tierpflegerinnen in diesem nicht zu beendenden »Konflikt über Sinn und Wert von kulturellen Traditionen, Erfahrungen und Praktiken«41 Sonderzahlungen dafür bekommen, dass sie zweimal täglich mit den Robben tanzen, ist noch nicht überliefert. 39 | Inspektor Wache an den Magistrat der Stadt Hannover (Lohnamt), 08. Januar 1926, StdA Hannover, Magistratsakten HR 10/1563, Hervorhebungen im Original. 40 | Ausführlich wie aufschlussreich hierzu O. Hochadel: Im Angesicht, S. 32-38. 41 | K.H. Hörning/R. Winter: Widerspenstige Kulturen, S. 9f.
Wärter und Tiere zwischen Hochnatur und Populärkultur
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›Gewöhnliche‹ Erfahrung in der Wissenschaft vom Tier Christopher Hilbert
Von der Konsolidierung der ethologischen Tierforschung und der komparativen Psychologie im ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Kognitionsforschung sowie zu den Untersuchungen zum tierlichen Wohlbefinden in der »Tierschutzforschung«1 der Gegenwart scheint die lebensweltliche Gewissheit darüber, dass Tiere über ein subjektives Erleben verfügen, zu den Grundüberzeugungen der Tierforschung zu gehören. Unter lebensweltlicher Gewissheit sei an dieser Stelle die gewöhnliche Erfahrung des Menschen im Umgang mit dem Tier verstanden. Gemeint ist damit der praktische Erfahrungstyp der Alltagswelt. Die Rede ist von derjenigen Erfahrung, von der ausgehend Konrad Lorenz für sich und seine damalige Forschungsgemeinde am Max-Planck-Institut in Seewiesen festhält, dass sie »alle glauben, daß Tiere ein Erleben haben«.2 Diese Gewissheit gewöhnlicher Erfahrung ist in der methodischen Erfahrung der Wissenschaft allerdings nicht aufgehoben.3 Im Gegenteil bilden diese Erfahrungstypen in der ethologischen Tierforschung und in anderen Wissenschaften den seit der griechischen Antike bestehenden Kontrast zwischen Doxa, der bloßen Meinung, und Episteme, dem begründeten Wissen. Entsprechend führt Lorenz weiter aus, dass Wissenschaft sich nicht auf Glauben stützt, sondern ihr Fundament in dem Komplex von Verfahren und Aussagen hat, welches »Dinge voraussagbar macht«.4 Eine objektive und stabile Untersuchung der tierlichen Subjektivität gilt in der Tierforschung aus epistemologischen Gründen aller-
1 | L. Schrader: Methoden der Nutztierethologie, S. 210. 2 | K. Lorenz: Haben Tiere ein subjektives Erleben?, S. 360. 3 | Vgl. M. Jung: Gewöhnliche Erfahrung, S. 3ff. 4 | K. Lorenz: Haben Tiere ein subjektives Erleben?, S. 360.
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dings als ausgeschlossen.5 Im Umschlag von gewöhnlicher in wissenschaftliche Erfahrung verwandelt sich daher das alltägliche Erlebnis tierlicher Subjektivität für Lorenz in die Analyse der »Gesetzlichkeiten der Reizsummation«.6 Exemplarisch wird somit an der doppelten Erfahrungsstellung von Lorenz deutlich, dass die Unterscheidung der Erfahrungstypen Auswirkungen auf die Gegenstandsauffassung hat. In der Historie der Ethologie und der komparativen Psychologie lässt sich im Allgemeinen verfolgen, wie sich durch die Unterscheidung von vortheoretischer und wissenschaftlicher Erfahrung die tierliche Subjektivität von einem Gegenstand lebensweltlicher Gewissheit in eine epistemologische Herausforderung transformiert. Für die Tierschutzforschung, welcher dieser Aufsatz seine Perspektive verdankt, stellt die Trennung von gewöhnlicher und methodischer Erfahrung ein methodologisches Problem dar, da das subjektive Erleben von Tieren ein bedeutsames Element ihres Forschungsauftrages darstellt. Ihren Forschungsauftrag hat diese angewandte Forschungsrichtung in Deutschland durch die Tierschutzgesetzgebung von 1972 erhalten. Unter anderem wurde die Tierschutzforschung beauftragt, die psychischen Auswirkungen der jeweiligen Haltungsumgebung auf die Tiere zu qualifizieren.7 Im Unterschied zur Grundlagenethologie ist die Subjektivität des Tieres damit kein allein möglicher, aber letztlich nicht wissenschaftlich zu erforschender Gegenstand, sondern das tierliche Erleben ist vielmehr durch eine Setzung zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung erklärt worden. Dies zieht selbstverständlich methodologische Schwierigkeiten nach sich: »Wann empfindet […] ein Tier Schmerzen, wann leidet es? […] Die naturwissenschaftliche Bearbeitung dieser Frage steht vor einem grundsätzlichen Problem. Schmerzen und Leiden sind nicht unmittelbar messbar, da sie subjektive Empfindungen bei den Tieren darstellen.«8
Um dieser Herausforderung zu begegnen, wurden in der Tierschutzforschung verschiedene Verfahrensweisen entwickelt.9 Unter diesen Verfahrensweisen kommt dem durch Françoise Wemelsfelder initiierten »Qualitative Behaviour Assessment« (QBA) eine herausragende Stellung zu, da dieses die gewöhnliche 5 | Siehe exemplarisch: N. Tinbergen: Instinct, S. 4. 6 | Ebd. 7 | Einen Überblick und eine kritische Diskussion zur Tierschutzgesetzgebung von 1972 sowie zur Rolle der Tierschutzforschung bietet Ph. v. Gall: Tierschutz als Agrarpolitik. Einen Überblick auf die (internationale) Entwicklung der Tierschutzforschung bietet U. Knierim: Methoden und Konzepte der angewandten Ethologie und Tierschutzforschung. 8 | L. Schrader: Methoden der Nutztierethologie, S. 210. 9 | Vgl. dazu den Beitrag von Benzing/Knierim im vorliegenden Band.
›Gewöhnliche‹ Erfahrung in der Wissenschaft vom Tier
Erfahrung tierlicher Subjektivität als distinkte Wissensquelle der Tierschutzforschung anerkennt. Sie scheint dem Umstand Rechnung zu tragen, dass »die Totalität dessen, was Gegenstand von Wissenschaft werden kann, […] eben nicht mit der Totalität menschlicher Erfahrung zusammen[ fällt]«.10 In einer der wenigen Besprechungen der »qualitativen Verhaltensbeurteilung« heißt es, dass diese methodisch »auf der Annahme [beruht], dass BeobachterInnen in der Lage sind, den Verhaltensausdruck von Tieren (›Körpersprache‹) zu erfassen und mit geeigneten qualitativen Begriffen zu beschreiben. […] Sie stellt einen möglichen Zugang zur Erfassung der Gestimmtheit von Tieren in spezifischen Situationen bzw. zur Beschreibung des allgemeinen emotionalen Status dar.«11
Der Verdacht, dass die Aussagen, die im Rahmen des QBA über das tierliche Erleben getroffen werden, vornehmlich auf Anthropomorphismen beruhen, liegt nahe und aufgrund seiner Orientierung an der gewöhnlichen Erfahrung wird es in einer der wenigen Kritiken als »Rückfall in das Archaikum der Ethologie«12 betrachtet. Die Absicht dieses Aufsatzes ist es, die Gegenstandsauffassungen der methodischen Erfahrung der Tierforschung und der gewöhnlichen Erfahrung des QBA zu vergleichen. Durch einen Rückgriff auf Positionen und Überlegungen des 19. Jhs. (Ch. Darwin, G. Romanes und C.L. Morgan) soll dafür zunächst die historische Konstellation und die sie kennzeichnende systematische Fragestellung aufgesucht werden, in der die genannten Erfahrungstypen auseinandergedriftet sind. Die Darstellung dieser intellektuellen Problemlage soll den Hintergrund bieten, um Wemelsfelders Kritik an der Methodologie der Grundlagenethologie ebenso wie ihren eigenen theoretischen und methodischen Ansatz darzustellen. Den Abschluss dieses Beitrags bildet die Diskussion über die Aussagekraft der Reliabilitäts- und Validierungstests, die am QBA vorgenommen wurden.
10 | M. Jung, Gewöhnliche Erfahrung, S. 3. 11 | C. Winckler: Qualitative Verhaltensbeurteilung, S. 13. Winckler weist in seinem Aufsatz darauf hin, dass es zwei weitere Methoden zur Erfassung von Temperament und Persönlichkeit sowie affektiver Zustände in der Tierschutzforschung gebe, die auf der subjektiven Einschätzung der Beobachterinnen beruhen. Diese werden im vorliegenden Artikel nicht behandelt. 12 | K. Zeeb: Vorwort, S. 3.
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V om A usdrucksverhalten zum physiologischen V erhalten In der Historie der Tierforschung wurde dem Verständnis des tierlichen Verhaltens als Ausdrucksbewegung bereits von Charles Darwin (1809-1882) ein eigener Untersuchungsbereich eingeräumt. In seiner Untersuchung Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren (1872) widmet sich Darwin unter dem Paradigma der evolutionären Entwicklung, dem »körperliche[n] Ausdruck der Seelenbewegung«.13 Unter dem Gesichtspunkt evolutionärer Entwicklung weist Darwin das naturtheologische Verständnis des Lebendigen zurück und vertritt die These, dass bestimmte menschliche Ausdrucksbewegungen wie Mimik und Körperhaltungen ontogenetisch angeboren und phylogenetisch aus zweckmäßigen Handlungen hervorgegangen seien.14 Für Darwin war die Ausdruckshaftigkeit körperlicher Bewegungen nicht dem Menschen vorbehalten, sondern erstreckte sich auch auf das Reich der Tiere. Seine Untersuchungen und Beschreibungen der Ausdrucksbewegungen bei Mensch und Tier illustrierte er mit Fotografien und Holzstichen. Diese Ausdrucksbilder sollten die Universalität der aggressiven, überraschten, höhnischen, traurigen menschlichen Ausdrucksformen nachweisen, während die Abbildungen von Hunden, Katzen, Primaten und Schwänen, die demütigen, zärtlichen, aggressiv-feindseligen Stimmungen der Tiere verdeutlichen sollten. Vor allem die Universalität und Kulturunabhängigkeit der menschlichen Mimik und Gestik hat zunächst im 20. Jh. wenige Anhänger gefunden. Erst ab den späten 1960erJahren hat die Auseinandersetzung mit der Universalität des mimischen Ausdrucks von Menschen sowohl zu einer Reihe von empirischen Untersuchungen als auch zu verschiedenen theoretischen Überlegungen über die Bedeutung und Funktion von Ausdrucksbewegungen geführt. Während im Ausgang von Darwins Ausdrucksschrift die experimentelle Erforschung der menschlichen Ausdrucksbewegung im 20. Jh. neu eingesetzt hat,15 ist dies für die Untersuchung des Ausdruckphänomens bei Tieren unterblieben. Ein entscheidender Grund dafür liegt in der methodologischen Konsolidierung der Ethologie und komparativen Psychologie. Ein wesentliches Element dieses Konsolidierungsprozesses bildete die Anthropomorphismuskritik, unter welche auch Darwins Ausdrucksschrift fiel. Von der nachfolgenden Tierforschung, so Ekman, sei Darwin v.a. dafür kritisiert worden, dass er sich der »Sünde des Anthropomorphismus schuldig gemacht hatte – er schrieb Tieren 13 | C. Darwin: Der Ausdruck, S. 7. 14 | Siehe exemplarisch: ebd., S. 17. Dazu auch P. Ekman: Einführung, XXVIII. 15 | Eine gründliche Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Forschungsstandes der Humanpsychologie zum Thema Ausdrucksforschung findet sich bei: N. Meuter: Anthropologie des Ausdrucks, insbesondere S. 229-272.
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menschliche Gefühle und Gedanken zu«.16 Paradigmatisch17 für die methodologische Konsolidierung der Tierforschung und das nachlassende Interesse am Phänomen der Ausdrucksbewegung ist die für die Ethologie und komparative Psychologie wirkmächtige Debatte zwischen John George Romanes (1848-1894) und dem in späteren Jahren als Gründungsvater18 dieser Disziplinen benannten Conwy Lloyd Morgan (1852-1936). Vor dem Hintergrund der Annahmen der noch jungen Evolutionstheorie Darwins waren die Zoologen Romanes und Morgan davon überzeugt, dass Tiere über psychische und mentale Vermögen verfügen, die systematisch erforscht werden könnten.19 In zahlreichen Artikeln und Notizen, die in den 1880er-Jahren in Nature erschienen sind, entwickelte sich zwischen Romanes und Morgan allerdings eine Kontroverse um die Frage nach den Bedingungen und Verfahren, unter denen es wissenschaftlich möglich sei, Aussagen über die Subjektivität und Psyche von Tieren zu treffen. Die Kontroverse zwischen Romanes und Morgan beruht vornehmlich darauf, dass Romanes für die Erforschung der tierlichen Psyche keine methodologisch disziplinierte Verfahrensweise angestrebt hat. In seinen tierpsychologischen Studien geht Romanes einerseits davon aus, dass die psychischen und mentalen Vermögen von Tieren nicht unmittelbar erschlossen werden können, hält es aber andererseits für unproblematisch, die Aktivitäten von Tieren nach Maßgabe der Motive menschlicher Handlungen zu interpretieren.20 Dieses unkritisch psychologisierende Vorgehen schlägt sich in seinem Werk Animal Intelligence (1884) nieder, bei dem es sich im Wesentlichen um eine Sammlung von Tierbeobachtungen und Experimenten verschiedener Autor_innen handelt: »Mrs. Hubbard tells me of a cat which she possessed, and which was in the habit of poaching young rabbits to ›eat privately in the seclusion of a disused pigsty‹. One day this cat caught a small black rabbit, and instead of eating it, as she always did the brown ones, brought it into the house unhurt, and laid it at the feet of her mistress. ›She clearly recognized the black rabbit as an unusual species, and apparently thought it right to show it to her mistress.‹ Such was ›not the only instance this cat showed of zoological discrimination‹, for on another occasion, ›having caught another unusual animal – a stoat – she also brought this alive into the house for the purpose of exhibiting it‹.«21
Solche anthropomorph psychologisierenden Deutungen von tierlichem Verhalten gaben den Ausschlag dafür, dass Morgan eine disziplinierte Methodologie 16 | P. Ekman: Einführung, XXV. 17 | Vgl. V. Schurig: Problemgeschichte Ethologie, S. 113ff. 18 | Vgl. W.H. Thorpe: The Origins and Rise of Ethology, S. 26. 19 | Vgl. L.C. Morgan: Animal Intelligence, S. 185. 20 | G.J. Romanes: Animal Intelligence, S. 2. 21 | Ebd., S. 414.
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für die Tierforschung forderte und danach suchte, die Grundlagen einer solchen wissenschaftlichen Konzeption zu legen. Die erkenntnistheoretische Grundlage, die Morgan für die methodologische Disziplinierung der Tierforschung einnimmt, gründet auf der Prämisse, dass subjektive Vorgänge nicht objektiv erforschbar sind. In cartesianischer Tradition ist für ihn allein die äußere, körperliche Erscheinung anschaubar und objektiv zu erforschen, während alles Psychische als räumlich Inneres der Untersuchung entzogen bleibt. Gegenüber Romanes insistiert er daher darauf, dass »animal minds« allein als subjektive Projektionen, als »distorted images of our own minds«,22 verstanden werden könnten. Die Evolutionstheorie gebe zwar zwingenden Anlass zu der Überzeugung, dass Tiere ebenfalls über mentale und psychische Vermögen verfügen; über die Beschaffenheit dieser Vermögen ließe sich aber allenfalls spekulieren. »We may speculate as to the character – and in the case of higher mammalia our speculations are probably by no means worthless – but we cannot construct a science of these psychoses because the results we obtain ejectivly [(subjectively)] are incapable of direct verification.«23
Im Verhältnis zu Romanes zeichnet sich Morgans Position vornehmlich durch ihre Skepsis gegenüber anthropomorphen Deutungen des tierlichen Verhaltens aus. Allerdings ist auch für ihn, zumindest in späteren Jahren,24 das Fremdpsychische der Tiere nicht grundsätzlich unerforschbar, sondern unter der Bedingung einer Korrelation von Physis und Psyche durchaus »attainable through physiological research«.25 Im Gegensatz zu Romanes stellt Morgan jedoch deutlicher heraus, dass dieser indirekte Weg für die Forschung immer auch bedeutet, dass die tierliche Psyche »has to be interpreted not only by, but in terms of, human consciousness«.26 Innerhalb der ethologischen Wissenschaftsgeschichte wird die Debatte zwischen Romanes und Morgan als Wendepunkt betrachtet, durch welchen die Ethologie und komparative Psychologie die Grenze von einer anekdotischen Naturgeschichtsschreibung hin zu einer modernen Wissenschaft überschreitet.27 Wie für andere Wissenschaften und Lebensbereiche lässt sich auch der Übergang der Ethologie und komparativen Psychologie in die Moderne als Teil der
22 | C.L. Morgan: Instinct b, S. 452. 23 | C.L. Morgan: Instinct a, S. 371. 24 | In An Introduction to Comparative Psychology (1894) erachtet Morgan die wissenschaftliche Untersuchung der mentalen und psychischen Vermögen für möglich. 25 | C.L. Morgan: An Introduction, S. 39. 26 | C.L. Morgan: Animal Intelligence, S. 178. 27 | Vgl. W.H. Thorpe: The Origin and Rise of Ethology, S. 30.
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»Entzauberung der Welt«28 begreifen. Vor dem Hintergrund der unkontrollierten Anthropomorphisierung tierlichen Verhaltens durch Romanes drückt sich diese in der Auseinandersetzung zwischen Romanes und Morgan als methodologische Rationalisierung der Tierforschung aus. Diese wird von Morgan wegweisend in dreierlei Hinsicht angestoßen: a) durch die Reduzierung des objektiv beobachtbaren Phänomenbereichs auf die Physis,29 b) durch die funktionale und auf kausale Mechanismen sowie evolutionäre Zwecke ausgerichtete Deutung des tierlichen Verhaltens,30 sowie c) durch das Primat experimenteller Forschung.31 Durch diese methodologische Ausrichtung gewinnt die Tierforschung im Ausgang von Morgan ein Forschungsparadigma, durch das sie sich bis in die Gegenwart gegenüber psychologisierenden Deutungen des tierlichen Verhaltens als objektive Verhaltenswissenschaft behauptet. Unter diesem Forschungsparadigma wird die alltägliche Gewissheit tierlicher Subjektivität, auf der die tierpsychologischen Deutungen von Romanes und das ausdruckspsychologische Verständnis des tierlichen Verhaltens bei Darwin beruhen, ausgeklammert. Dies geschieht allerdings nicht, weil die moderne Tierforschung die mentalen oder psychischen Vermögen von Tieren negiert, sondern weil sie sich unter der erkenntnistheoretischen Prämisse einer räumlich differenten Innen- und Außensphäre des Lebendigen dazu gezwungen sieht, den erscheinenden und erforschbaren Phänomenbereich auf die Physis festzulegen, und sich dementsprechend verpflichtet, Aussagen über subjektive Vorgänge zu vermeiden. Im Horizont dieser erkenntnistheoretischen Prämisse fallen die methodische Erfahrung der Tierforschung und die gewöhnliche Erfahrung der Alltagswelt auseinander. Die gewöhnliche Erfahrung, welche das tierliche Verhalten als intentionale Ausdrucksbewegung versteht, wird allein als subjektive Projektion verstanden, als grundsätzlich anzweifelbares Pseudowissen, – als bloßes Dafürhalten. Die Unterscheidung dieser Erfahrungstypen bewirkt letztlich eine formale Verdopplung des erfahrbaren Tieres. Es kann einerseits in seiner anschaubaren Subjektivität lebensweltlich erfahren werden und andererseits als lebendiger Körper, dessen Subjektivität allein als evolutionsbiologische Hypothese vorgestellt werden kann.
28 | M. Weber: Wissenschaft als Beruf, S. 594. 29 | Vgl. C.L. Morgan: An Introduction, S. 8; sowie C.L. Morgan: Instinct a, S. 372. 30 | Vgl. C.L. Morgan: Animal Intelligence, S. 184. 31 | Vgl. C.L. Morgan: Animal Intelligence: An Experimental Study?, S. 249.
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V om physiologischen V erhalten zum A usdruck In den eth(n)ologischen32 Studien von Jane Goodall haben die Untersuchungen des tierlichen Verhaltens als intentionalem Ausdrucksverhalten wieder einen prominenten Stellenwert in der Tierforschung erhalten. Gegenwärtig können darüber hinaus Romanes’ Animal Intelligence und Darwins Ausdrucksschrift wieder positive Resonanz verzeichnen, insoweit die Deutung tierlichen Verhaltens mit intentionalem Vokabular dabei als Möglichkeit eines qualitativen, verstehenden Verfahrens im Kontrast zu rein physiologischen und evolutionsbiologischen Erklärungen bemüht wird.33 In der jüngeren Tierforschung ist es v.a. Françoise Wemelsfelder, die sich mit dem Verhalten als Ausdrucksphänomen auseinandersetzt. Dies erfolgt allerdings in deutlicher Differenz zu den mentalistischen Deutungen, die Romanes in Animal Intelligence angeführt hat, und ebenso in Abgrenzung zu den Ausdrucksbildern von Darwin. Im Forschungskontext der Tierschutzforschung ist es für Wemelsfelder entscheidend, »the animal’s point of view«34 in der Erforschung des Tierlichen zu berücksichtigen. Untersuchen lasse sich dieser am Verhaltensausdruck des Tieres. Der Verhaltensausdruck stellt für sie eine »psychological dimension that is immediately present« dar, welche es den Beobachter_innen ermögliche, »to judge the quality of an animal’s experience directly and in considerable detail«.35 In der qualitativen Verhaltensbeurteilung des QBA soll der Verhaltensausdruck der Tiere durch frei gewählte Empfindungsqualitäten wie etwa Freude, Langeweile oder Angespanntheit bezeichnet werden. Dieses Untersuchungskonzept berührt den dargestellten Gründungskonflikt der Ethologie und der komparativen Psychologie und fordert mit der qualitativen Verhaltensbeurteilung die vermeintliche Alternativlosigkeit der methodologischen und epistemologischen Grundannahmen der modernen Tierforschung heraus. In verschiedenen Studien hat Wemelsfelder strukturell den durch Morgan eingeleiteten Rationalisierungsprozess der Tierforschung und die erkenntnistheoretische Prämisse einer räumlich differenten Innen- und Außensphäre des Lebendigen kritisiert. In unterschiedlichen Varianten hebt sie hervor, dass die Schwierigkeit, die die Tierforschung mit der Erforschung und Qualifizierung des subjektiven Erlebens von Tieren hat, keineswegs alternativlos ist, sondern sich historisch entwickelt hat. Als Kernelement dieser Entwicklung betrachtet 32 | Diesen Ausdruck verdanke ich einem Aperçu von Wiebke Reinert: die Ethologie trennt von der Ethnologie nur ein ›n‹. 33 | Vgl. R.E. Wiedemann: Tiere, Moral und Gesellschaft, S. 126; sowie D. Fraser: The scientific study of affect, S. 109. 34 | F. Wemelsfelder: Investigating, S. 73. 35 | F. Wemelsfelder: How animals communicate, S. 28.
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sie die in »guter dualistischer Tradition«36 stehende Konzeption des tierlichen Verhaltens unter der Perspektive eines mechanistischen Paradigmas. Die Problematik dieses Paradigmas liegt für sie darin, dass das subjektive Erleben von Tieren in mechanistischen Modellen nicht als Ausdruck des Verhaltens untersucht werden kann, sondern einen allein spekulativen Tatbestand darstellt, da das Tier in diesen Modellen als physisches Objekt konzeptionalisiert werde und seine Subjektivität allein »as a hidden, internal cause […], as a mental state driving behaviour from ›within‹«37 verstanden wird. Für Wemelsfelder gilt es, diese metaphysischen Hinterlassenschaften des Cartesianismus unter Bezugnahme auf unsere gewöhnlichen Erfahrungen im Umgang mit Tieren zu überwinden. »The immunity of subjective concepts to empirical observation is not something naturally given, but follows only from the supremacy attributed to the mechanistic paradigm. To question this supremacy is not to assert that mechanistic models are in themselves wrong or inadequate; it is merely to argue that such models cannot encompass all aspects of reality as we know and live it.«38
Die gewöhnliche Erfahrung entspricht für Wemelsfelder einem Monismus des Lebendigen, in welchem das sich verhaltende Tier als »integriertes Ganzes«39 erscheint und erfahren wird. Unter dieser Perspektive betrachtet sie Verhalten nicht allein als physikalisches Geschehen, sondern als affektives Ausdrucksverhalten. Das Ausdrucksverhalten der Tiere und deren subjektives Erleben sind ihrer Ansicht nach isomorph. In der Verhaltensbeobachtung werde das subjektive Erleben des Tieres als »body language«40 verständlich, durch die und in der sich das Lebewesen bedeutungsvoll auf seine Umwelt beziehe und mit dieser interagiere. Das Untersuchungskonzept von Wemelsfelder basiert damit im Unterschied zu Darwin nicht auf isolierten Ausdrucksbildern, sondern auf der Annahme eines subjektiven Sinngefüges zwischen Lebewesen und Umwelt, welches sich mittels der »body language« ausdrücken würde. Entsprechend will Wemelsfelder die »body language« auch nicht komplementär zu den Untersuchungsgegenständen verstanden wissen, welche die klassische Ethologie als »behavioural style[s]« oder »behavioural signals« in Ethogrammen erfasst.41 Ihrer Ansicht nach werde in diesen das Verhalten der Tiere lediglich in quantifi-
36 | F. Wemelsfelder: Wie fühlt man sich als Sau, S. 11. 37 | F. Wemelsfelder: Investigating, S. 76. 38 | Ebd. 39 | F. Wemelsfelder: Wie fühlt man sich als Sau, S. 14. 40 | F. Wemelsfelder: Friendly Pigs, S. 235. 41 | Vgl. F. Wemelsfelder: Investigating, S. 84.
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zierbare »pattern[s] of movement«42 zergliedert, während die daraus gewonnen Verhaltensstile und -signale allein in Rücksicht auf ihre evolutionäre Funktion betrachtet würden. Das klassische Ethogramm erfasse somit gerade nicht das subjektive Sinngefüge der Interaktion zwischen Lebewesen und Umwelt und qualifiziere darüber hinaus das Verhalten auch nicht als Ausdruck des subjektiven Erlebens der Tiere. Die evolutionären Funktionen tierlichen Verhaltens will Wemelsfelder allerdings nicht bestreiten. Vielmehr soll die Subjektivierung der Kategorie des Verhaltens ebenso wie die Kritik am klassischen Ethogramm ein Angebot darstellen, durch welches der Status des Tieres in der Tierforschung vom passiven Objekt zum lebendigen Subjekt verschoben werden könne.43 Der Untersuchungsgegenstand wäre dann nicht mehr das Verhalten des Tieres, sondern das sich verhaltende Tier. Wird das Verhalten des Tieres als Ausdrucksbewegung betrachtet, dann, so Wemelsfelder, werde das Tier zum »›behaver‹, an agent, who performs ›behaviour‹ in a certain manner, with a certain expression«.44 Wemelsfelders QBA rehabilitiert auf der Grundlage der gewöhnlichen Erfahrung das Verständnis des tierlichen Verhaltens als Ausdruck von Empfindungsqualitäten. Die gewöhnliche Erfahrung von der Subjektivität des Tieres gilt ihr als distinkte Wissensquelle, die sie der vermeintlichen Alternativlosigkeit der methodischen Erfahrung entgegensetzt. Die Urteile, die sie ausgehend von dieser Erfahrung über das subjektive Erleben von Tieren trifft, stellen für sie keine Projektionen dar.
R el ativ zueinander aber rel ational zum G e g enstand Von Darwin über Romanes, Morgan und Lorenz sowie schließlich zu Goodall und Wemelsfelder war es möglich aufzuzeigen, dass der Umgang mit der tierlichen Subjektivität ein konstitutives methodologisches Moment für die Konsolidierung der ethologischen Tierforschung bezeichnet hat und bis in die Gegenwart der Tierforschung hinein bezeichnet. Durch den genealogischen Rückgriff auf die Phase der Konsolidierung der Tierforschung hat sich eine Perspektive eröffnet, unter der kenntlich gemacht werden konnte, dass die Verschiebung von der lebensweltlichen zur wissenschaftlichen Deutung des tierlichen Verhaltens mit der epistemologischen Frage nach der Erforschbarkeit der tierlichen Subjektivität einhergeht. Ausgehend von der epistemologischen Problemstellung des Cartesianismus zeigte sich analog zur Verschiebung von der Alltagswelt zur Wissenschaft, dass der erforschbare Gegenstandsbereich 42 | F. Wemelsfelder: How animals communicate, S. 28. 43 | F. Wemelsfelder: Wie fühlt man sich als Sau, S. 9f. 44 | Ebd.
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der Tierforschung vom intentionalen Ausdruck zum physiologischen Verhalten transformiert wurde. In Rücksicht auf diese Transformation lassen sich die lebensweltliche und die wissenschaftliche Fragerichtung an das tierliche Verhalten dadurch unterscheiden, dass jene erfragt, unter welchem affektiven oder intentionalen Motiv sich Verhalten verstehen lässt, während diese danach fragt, wie sich Verhalten evolutionsbiologisch erklären lässt. Die Frage nach dem affektiven Motiv des tierlichen Verhaltens hat seit den 1970er-Jahren wieder an Bedeutung zugenommen und sich innerhalb des Arbeitsgebietes der Tierschutzforschung aufgedrängt. In dem dargestellten Untersuchungsansatz von Wemelsfelder kommt es zu einer Erneuerung der Ausdrucksforschung und einer Rehabilitierung der gewöhnlichen Erfahrung in der Deutung tierlichen Verhaltens. Für Wemelsfelder stellt die gewöhnliche Erfahrung keine subjektive Projektion dar, sondern eine Wissensquelle, die eine qualitative Verhaltensbeurteilung ermöglicht. In der Tierschutzforschung ist das QBA mittlerweile eine etablierte Untersuchungsmethode, für welche einige Reliabilitätsprüfungen und Kriteriumsvalidierungen vorliegen:45 Grundsätzlich konnte in den Reliabilitätskontrollen eine signifikante Übereinstimmung zwischen den Urteilen der Beobachter_innen nachgewiesen werden. Allerdings wurde auch offenbar, dass die Reliabilität der Untersuchungen in Korrelation zu den Professionen der Beobachter_innen variiert und dass die Beobachtungsergebnisse abhängig sind von bestimmten Erwartungshaltungen gegenüber der Haltungsumgebung der Tiere. Da darüber hinaus die Versuche zur Kriteriumsvalidität, welche anhand ethologischer und physiologischer Korrelate erhoben wurden, eine geringe Korrelation zu den Urteilen der qualitativen Verhaltensbeurteilung aufweisen, bestehen innerhalb der Forschungsgemeinde Zweifel daran, ob die Aussagen der Beobachter_innen über das subjektive Erleben der Tiere zuverlässig und angemessen sind. Allgemein erfolgt deshalb die Forderung nach vermehrter Validierung durch ethologische und physiologische Korrelate ebenso wie die Empfehlung, über »adäquate Trainingsansätze«46 für die Beobachter_innen nachzudenken. Vor dem Hintergrund der Historie der Tierforschung und in Anbetracht der politischen und ökonomischen Gemengelage, innerhalb derer sich die Tierschutzforschung bewegt, muss die Forderung nach einer Standardisierung der qualitativen Verhaltensforschung immer auch als Versuch gewertet werden, das Verdachtsmoment der Anthropomorphisierung und der grenzenlosen Projektion einzuhegen. Gleichfalls ist diese Forderung problematisch: Sollen durch diese Standardisierung der Beobachter_innenperspektive lediglich die Varianzen der Reliabilitätsprüfungen eingeschränkt und zudem die Abweichungen der Validierungen begrenzt werden, dann könnte das bedeuten, dass dies nur umgesetzt werden kann, indem das QBA nach Maß45 | Vgl. zu einer Überblicksdarstellung C. Winckler: Qualitative Verhaltensbeurteilung. 46 | Ebd., S. 22.
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gabe der methodischen Erfahrung der modernen Tierforschung ausgerichtet wird. Das Ergebnis dessen wäre ein qualitatives Ethogramm, das vergleichbar zur Ausdrucksforschung Darwins mit Ausdrucksbildern arbeitet und sich vom klassischen Ethogramm allein durch die Subjektivierung der Bewegungsabläufe unterscheiden würde. Ein elaboriertes ethologisches und physiologisches Tierwissen ist für die Tierschutzforschung zweifellos erstrebenswert. Programmatisch drängt die qualitative Verhaltensforschung von Wemelsfelder allerdings ausgehend von der gewöhnlichen Erfahrung auf eine Reformulierung dieses Tierwissens und verlangt weder nach einem standardisierten methodischen Verfahren noch nach einer Identifikation des tierlichen Verhaltens gemäß verschiedener Ausdrucksbilder, sondern danach, die »dynamische Qualität«47 des tierlichen Verhaltens – den subjektiven Bedeutungswandel48 im Sinngefüge Lebewesen-Umwelt – zu verstehen. Der qualitative Unterschied, der durch die Einbindung der gewöhnlichen Erfahrung in die Tierschutzforschung Einzug erhalten hat, sollte nicht leichtfertig durch eine Formalisierung des Verfahrens nivelliert werden. Denn dass die Validierungen keine, wenige oder abweichende Ergebnisse hervorgebracht haben, muss nicht als Beleg dafür gewertet werden, dass die qualitative Verhaltensbeurteilung allein auf subjektiven Projektionen beruhen würde. Im Gegenteil gilt es zu behaupten, dass dies dadurch begründet ist, dass der gewöhnlichen Erfahrung eine andere Beobachter_innenperspektive zugrunde liegt und sie dadurch einen anderen Gegenstandsbereich abdeckt. Im Unterschied zur methodischen Erfahrung geht der Deutungsrahmen der gewöhnlichen Erfahrung nicht aus der methodologischen Disziplinierung und Stabilisierung der Erfahrung hervor, sondern er entwickelt sich in der Situation der Beobachtung. Im Gegensatz zur methodischen Erfahrung ist die Situation der gewöhnlichen Erfahrung nicht äußerlich, sondern sie bildet vielmehr dies- und jenseits sozio-historischer Kontextualisierungen deren Deutungsrahmen. Gegen Wemelsfelder muss allerdings eingewendet werden, dass der Gegenstand der gewöhnlichen Erfahrung in einer spezifischen Situation nicht das Artefakt – ›psychologische Dimension des tierlichen Verhaltens‹ – ist, sondern eine spezifische Lebewesen-Umwelt-Relation.49 In dieser tritt die ›psychologische Dimension‹ des Verhaltensausdrucks zwar auf, wird aber weder am Lebewesen als isolierte Entität noch als Artefakt erfahren, sondern vielmehr wird der Lebensvollzug des Tieres in einer Situation sinnhaft erlebt und als Motiv des Tieres gedeutet. Die spezifische Situation ist sowohl der Horizont sinnhafter Lebensvollzüge des Tieres als auch die Begrenzung sinnvoller Aussagen über das Erleben des Tieres. Einschränkend gilt selbstverständlich, dass, ungeachtet dessen, dass die Situation eine Begrenzung sinnvoller Aussagen darstellt, diese 47 | F. Wemelsfelder: Wie fühlt man sich als Sau, S. 17. 48 | Vgl. ebd., S. 16. 49 | Vgl. M. Böhnert/K. Köchy/M. Wunsch: Einleitung.
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Situation für den Menschen immer auch auf spezifische Weise sozio-historisch kontextualisiert ist.50 Die grundlegende Schwierigkeit der Deutung des tierlichen Verhaltens liegt – unabhängig davon, ob es unter dem Gesichtspunkt seines Motives oder seiner evolutionsbiologischen Funktion betrachtet wird – darin, dass es allein vermittelt vollzogen werden kann, weshalb die gewöhnliche ebenso wie die methodische Erfahrung gleichermaßen in eine Repräsentationsschleife aus Erkennendem und Erkanntem eingebettet sind. Durch dieses Vermittlungsgeschehen stehen die Gegenstandsauffassungen in einem für alle Beteiligten unbefriedigenden Relativismus zueinander, welcher sich schlussendlich nicht auflösen lässt. Allerdings lässt er sich unter Rückgriff auf Webers Kategorie der »objektiven Möglichkeiten«, welche »unsere an der Wirklichkeit orientierte und geschulte Phantasie als adäquat beurteilt«,51 präzisieren und auf den Gegenstand – die lebendige Erscheinung – zurückführen. Wird weder die gewöhnliche Erfahrung ausschließlich als Konglomerat subjektiver Projektion noch das wissenschaftliche Wissen als die exklusive Erfahrung eines an-sich-seienden Gegenstandes begriffen, sondern als »objektive[ ] Möglichkeiten« sozio-historischer Gegenstandsauffassung, dann wird deutlich, dass der Relativismus der Gegenstandsauffassungen seinerseits aus dem relationalen Bezug auf den gemeinsamen empirischen Gegenstand hervorgeht und in diesem fundiert ist. Vor dem Hintergrund des unterschiedlichen relationalen Bezuges auf den einen Gegenstand wird ersichtlich, dass die durchgeführten Validierungen von Wemelsfelders Deutung tierlichen Verhaltens keineswegs aussagekräftig sein mussten, weil versucht wurde, die gewöhnliche Erfahrung nach den Kriterien der methodischen Erfahrung zu qualifizieren. Was an dieser Stelle dagegen allein im Rahmen des Möglichen liegt, ist ein Vergleich der unterschiedlichen Erfahrungstypen sowie ihrer verschiedenen Gegenstandsauffassung entsprechend ihrer Relation zum Gegenstand. Während diese Relation für die gewöhnliche Erfahrung den Charakter einer teilnehmenden Beobachtung hat, in der die Situation den Horizont sinnvoller Lebensvollzüge und Interpretationen darbietet, ist die Relation der wissenschaftlichen Gegenstandsauffassung dadurch ausgezeichnet, dass sie von einem externen Standpunkt ausgehend ein rein körperliches Geschehen beurteilt, dessen Sinn formal allein für den Beobachtenden besteht und erst nachträglich mit der Idee der Evolutionsbiologie erklärt werden kann. Das Kriterium eines Vergleichs dieser Relationen kann konsequenterweise nicht in der Empirie liegen, sondern darin, ob die angewandte Methodik das zu untersuchende Phänomen adäquat, d.h. in Kohärenz zur eigenen Methodologie, darstellt und ob diese Darstellung mit der allgemeinen Forschungsfrage sowie der daran geknüpften Wertidee übereinstimmt. 50 | Siehe dazu den Beitrag von Michelini in diesem Band. 51 | M. Weber: ›Objektivität‹, S. 194.
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Um dem nach wie vor in dieser Unterscheidung liegenden Relativismus der Gegenstandsauffassungen begegnen zu können, müssten allerdings nicht die unterschiedlichen Erfahrungstypen miteinander verglichen werden, sondern es wären am Phänomen der Lebenserscheinung, als dem Fundament der Erfahrung, die Bedingungen der Möglichkeit der unterschiedlichen relationalen Bezugnahmen herauszustellen.
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Die Erforschung tierlichen Wohlbefindens als Spiegel der Mensch-Tier-Beziehung Birgit Benzing und Ute Knierim
E inleitung Seit Jahrzehnten befasst sich die angewandte Ethologie mit der Frage, wie das Wohlbefinden von Tieren wissenschaftlich untersucht und bewertet werden kann. In dieser Zeit wurden viele Kenntnisse darüber gewonnen, welche Faktoren für das Wohlbefinden relevant und welche Indikatoren besonders aussagekräftig und verlässlich erhebbar sind. Von wissenschaftlichen Ansätzen zur Beurteilung des Wohlbefindens wird erwartet, dass diese möglichst ›objektiv‹ erfolgt. Gleichwohl beeinflussen Vorannahmen und Wertekonzepte sowohl die Auswahl als auch die Interpretation der Indikatoren.1 Die Interaktion zwischen empirisch belegten Fakten, Wissenskonzepten und Werten kann besonders klar herausgearbeitet werden, wenn die Entwicklung des Methodengerüsts der Tierwohlforschung über die letzten Jahrzehnte näher betrachtet wird. Aus Sicht der Mensch-Tier-Studien stellt sich die Frage, welche Aussagen aus der sich wandelnden methodischen Praxis über die Beziehung zwischen Menschen und (Nutz-)Tieren und über Tierkonzepte in den Naturwissenschaften getroffen werden können. Ziel dieses in die Thematik einführenden Beitrags ist es erstens, eine Übersicht über Indikatoren, Methoden und Testverfahren zur Bewertung tierlichen Wohlbefindens zu geben. Dabei soll zweitens anhand einiger Beispiele herausgearbeitet werden, welche Tierkonzepte in der Wissenschaft abgebildet werden und was sich über die Beziehung zwischen Menschen und Tieren ableiten lässt. Zunächst befasst sich der Beitrag aber mit der grundlegenden Frage, warum eine Vielzahl an Indikatoren existiert und weitere Indikatoren entwickelt werden. 1 | D. Fraser: Assessing animal welfare.
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W arum es ein breites S pek trum an I ndikatoren gibt Die meisten Menschen haben eine intuitive Vorstellung davon, was Wohlbefinden ist. Der Versuch, dies in wissenschaftliche Konzepte zu fassen und für die Datenerhebung zu operationalisieren, erweist sich jedoch als komplex – umso mehr, wenn es um das Wohlbefinden von nicht-menschlichen Tieren geht. Dies hat mehrere Gründe, von denen einige nachfolgend erläutert werden. Um Indikatoren für Wohlbefinden zu bestimmen, muss zunächst geklärt werden, was darunter eigentlich zu verstehen ist. Ob es einem Tier gut geht, zeigt sich in vielen Facetten: Wie steht es um die Körperfunktionen und die Gesundheit? Empfindet das Tier Schmerzen, Furcht, Übelkeit, Hunger, Durst oder Freude? Während einige Forscher_innen sowohl die physische als auch emotional-psychische Dimension als relevant erachten,2 konzentrieren sich andere Konzepte auf einen bestimmten Bereich. So postulierte Ian Duncan in einem einflussreichen Aufsatz: »welfare is solely dependent on what animals feel«.3 Andere Konzepte konstruieren eine Hierarchie oder lassen die Dimensionen ineinander aufgehen: »a more unified orientation has now emerged where biological functioning is taken to include affective experiences, affective experiences are recognised as products of biological functioning«.4 Neben den grundsätzlich-methodologischen Annahmen entscheiden auch operational-pragmatische sowie ethische Annahmen darüber, welches Konzept vertreten wird.5 Im deutschen Sprachgebrauch wird den konzeptuellen Differenzen entsprechend zwischen ›Wohlergehen‹ und ›Wohlbefinden‹ unterschieden; ersteres umfasst die physische und psychische Ebene, während letzteres sich explizit auf die emotional-psychische Ebene bezieht.6 Im englischen Sprachgebrauch werden ›welfare‹ und ›well-being‹ meist synonym verwendet, wobei ›welfare‹ bevorzugt wird.7 Aber auch innerhalb dieser übergeordneten Dimensionen gibt es eine große Zahl von Facetten, die Wohlbefinden ausmachen und für die es verschiedene Systematisierungsansätze, z.B. in Listen wie den Five Freedoms8 oder den vier Grundsätzen und zwölf Kriterien von Welfare Quality® 9, gibt. Das breite 2 | Brambell Committee: Report of the Technical Committee; U. Knierim/C. Winckler: Möglichkeiten und Probleme. 3 | I. Duncan: Animal welfare, S. 21. 4 | P. Hemsworth et al.: Scientific Assessment. 5 | D. Fraser et al.: Ethical Concerns. 6 | U. Knierim: Methoden und Konzepte. 7 | M.C. Appleby et al.: Introduction, S. xi; vgl. jedoch differenzierter U. Knierim: Wissenschaftliche Untersuchungsmethoden. 8 | FAWC: Press statement. 9 | EU-Projekt Welfare Quality ®, http://www.welfarequality.net.
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Spektrum an Indikatoren erklärt sich also zu einem wesentlichen Anteil damit, dass die vielfältigen Facetten des Wohlbefindens erfasst werden sollen. Damit das Konzept des Wohlbefindens mit seiner Betonung der psychischemotionalen Dimension stark gemacht werden konnte, musste das Problem der Zugänglichkeit subjektiver Bewusstseinszustände reflektiert werden: Wenn gerade die subjektive Qualität affektiver Zustände wesentlich für die Bewertung des Wohlbefindens ist, wie kann sie über eine (natur-)wissenschaftliche, objektive Messung erfasst werden? In der Ethologie herrschte lange Zeit ein allgemeiner »Argwohn«10 gegenüber der Idee, Tieren »Befindlichkeiten« zuzuschreiben. Beispielsweise entstand Anfang der 1990er-Jahre im deutschsprachigen Raum das Konzept der Bedarfsdeckungs- und Schadensvermeidung, das den Rückgriff auf Befindlichkeiten vermied, jedoch bereits wenige Jahre später um gerade diese Befindlichkeiten vorsichtig erweitert wurde.11 Neuere Publikationen sehen einen naturwissenschaftlichen Zugang als möglich an: »Many recent publications show that an understanding of the subjective feelings of animals is now widely accepted to be amendable to scientific investigations.«12 Dabei bildeten sich zwei Ansätze heraus. Beim vorherrschenden Ansatz bleibt das Problem, subjektive Zustände zu erfassen, zwar bestehen, über Indikatoren aber lassen sich Aussagen über den Zustand des Tieres ableiten: »Animal welfare science in its purest sense is an attempt to assess what an animal experiences. This is impossible, so studies investigate how an animal functions biologically (…), and how it behaves in a range of environments and different circumstances (…). These results are interpreted and conclusions made about what the animal is experiencing (…).«13
Einen anderen Ausgangspunkt nehmen qualitative Ansätze, denen zufolge ein menschlicher Beobachter unmittelbar erfassen kann, was ein Tier durch Körpersprache und -haltung über sein Befinden ausdrückt.14 Auch innerhalb eines Konzepts können sich im Laufe der Zeit Veränderungen oder neue Blickwinkel entwickeln. Im Jahr 1979 stellte das Farm Animal Welfare Council die bereits genannten Five Freedoms zusammen, in denen v.a. die Freiheit von negativen Zuständen hervorgehoben wurde. Tatsächlich konzentrierte sich die Forschung über viele Jahre auf negative Emotionen, bis ungefähr ab dem Jahr 2000 zunehmend auch positive Emotionen Beachtung fanden: Gutes Wohlbefinden bestehe nicht nur in der Vermeidung von leidvollen Zu10 | A.B. Lawrence: Applied animal behaviour science, S. 3f. 11 | B. Tschanz et al.: Befindlichkeiten von Tieren. 12 | L. Keeling et al.: Understanding Animal Welfare, S. 19. 13 | K. Stafford: Animal welfare, S. 1. 14 | Zur qualitativen Verhaltensbewertung siehe z.B. F. Wemelsfelder: How animals communicate quality of life; siehe den Beitrag von C. Hilbert in diesem Band.
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ständen, sondern auch in der Ermöglichung von Freude.15 Ebenso entwickeln sich neue Indikatoren, je mehr kognitive Fähigkeiten Tieren zugesprochen oder zumindest für erforschenswert gehalten werden. Beispielsweise werden seit wenigen Jahren Ansätze der Einschätzungs- oder Bewertungstheorien (appraisal theories) aus der kognitiven Psychologie für die Ethologie fruchtbar gemacht.16 Neben den diversen definitorischen, methodologischen und konzeptuellen Gründen spielt auch die Güte von Indikatoren eine Rolle dafür, dass weiterhin an Indikatoren geforscht wird.17 Mit Güte sind die Validität, also Richtigkeit und Gültigkeit, und die Reliabilität, also Präzision, Zuverlässigkeit, Wiederholbarkeit gemeint. Es besteht ein grundsätzliches Problem der Validierung von Indikatoren etwa darin, eine vom Menschen unabhängige Beurteilung einer Situation – etwa als aversiv oder nicht aversiv für das Tier – zu erlangen, da die menschliche Einschätzung falsch sein kann. So wird üblicherweise erwartet, dass Futtergabe einen angenehmen affektiven Zustand beim Tier hervorruft. Einem Erregung anzeigenden Verhalten des Tieres wird daher unterstellt, dass es diese emotionale Valenz aufweist, was aber zunächst zu belegen wäre. Hinsichtlich der Reliabilität ist es eine häufige Herausforderung, dass Indikatoren, insbesondere im Bereich des Verhaltens oder physiologischer Reaktionen, so sensitiv auf eine Vielzahl von Einflussfaktoren reagieren, dass sie nur bei sehr häufiger Messung eine grundlegendere Aussage zum Wohlbefinden erlauben. Ihre Wiederholbarkeit bei erneuten Messungen ist somit gering. Indikatoren, die weniger derartige Schwierigkeiten aufweisen, sind für viele Fragestellungen wünschenswert. Herausforderungen bei der Interpretation von Messergebnissen bezüglich verschiedener Indikatoren entstehen darüber hinaus dadurch, dass diese nicht notwendigerweise in die gleiche Richtung weisen müssen. Bezüglich eines Aspektes kann ein Indikator auf ein verringertes Wohlbefinden verweisen, während zeitgleich in Bezug auf einen anderen Aspekt ein unverändertes oder gar gesteigertes Wohlbefinden festzustellen ist. Dies erklärt sich daraus, dass Wohlbefinden, wie oben ausgeführt, viele Facetten aufweist, und die jeweiligen Indikatoren verschiedene Aspekte des Wohlbefindens abbilden, auch wenn sich diese verschiedenen Aspekte sicherlich gegenseitig beeinflussen. Aus den genannten und weiteren Gründen sind Forscher_innen stets daran interessiert, zum einen ›bessere‹ Indikatoren zu entwickeln, d.h. Indikatoren, die sowohl valide als auch möglichst reliabel und gleichzeitig besonders prak15 | Z.B. A. Boissy et al.: Assessment of positive emotions; L. Keeling et al.: Understanding Animal Welfare; quantitative Daten präsentieren H. Proctor et al.: Searching for Animal Sentience. 16 | A. Boissy et al.: Emotions and cognition. 17 | G. Mason/M.T. Mendl: Measuring animal welfare.
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tikabel sind.18 Dabei ist angesichts der Multidimensionalität von Wohlbefinden und der verschiedenen möglichen Fragestellungen nicht zu erwarten, dass sich irgendwann ein Standardkanon an wenigen Indikatoren herausbilden wird. Aus praktischen Gründen, z.B. für den Einsatz auf landwirtschaftlichen Praxisbetrieben, wird andererseits immer der Wunsch danach bestehen, die Zahl der eingesetzten Indikatoren möglichst gering zu halten. Der folgende Abschnitt unternimmt den Versuch, einen Überblick über die verschiedenen bislang verwendeten Indikatoren zu geben.
I ndikatoren , M ethoden und T est verfahren Für diese Übersicht wurden ethologische Indikatoren, Methoden und Testverfahren zusammengestellt, die zur Erfassung des Wohlbefindens landwirtschaftlicher Nutztiere verwendet werden. Die Informationen stammen aus verschiedenen Quellen: Hauptsächlich wurden Reviews in wissenschaftlichen Zeitschriften und Tagungsbänden verwendet, die sich mit mehr oder minder spezifischen Themenbereichen wie positiven Emotionen, Furcht, kognitiven Ansätzen usw. befassten.19 Weiterhin lieferten einige Dissertationen sowie Fachund Lehrbücher gute Übersichten.20 Daneben wurden Hinweise aus anderen Quellen, wie bspw. Originalarbeiten und konzeptionelle Artikel, aufgenommen. Die identifizierten Indikatoren und Testverfahren zur Bewertung tierlichen Wohlbefindens bewegen sich auf verschiedenen Ebenen, von der Erfassung autonomer Verhaltensweisen (bspw. Harnen und Koten) über die Verwendung von Position und Bewegung einzelner Körperteile (Ohrenspiel) sowie von ganzen Funktionskreisen des Verhaltens (Spielverhalten, Erkundungsverhalten) bis hin zu Verhaltensreaktionen in Testsettings. Die Indikatoren dienen dazu, positive oder negative Befindlichkeiten bzw. das Ausmaß der Erregung zu ermitteln. Manche Indikatoren sind tierartspezifisch und andere werden bei mehreren Tierarten angewandt. Mit manchen Indikatoren wird auf den aktuellen affektiven Zustand des Tieres (Emotionen) geschlossen, mit anderen auf den langfristigen affektiven Zustand (Stimmung). Einige Testverfahren können nur
18 | Siehe hierzu U. Knierim/A. Ebinghaus: Methodische Ansätze zur Qualitätssicherung; A. Ebinghaus et al. in diesem Band. 19 | Siehe u.a. L. Désiré et al.: Emotions in Farm Animals; G. Manteuffel: Positive Emotionen bei Tieren; A. Boissy et al.: Assessment of positive emotions; A. Boissy et al.: Emotions and cognitions; B. Forkman et al.: Critical review of fear tests; J.W. Yeates/D.C.J. Main: Assessment of positive welfare. 20 | Siehe z.B. M. Appleby et al.: Animal welfare; D. Broom/A.F. Fraser: Domestic animal behaviour and welfare.
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in experimentellen Studien eingesetzt werden, andere sind für die Beurteilung des Wohlbefindens auf Praxisbetrieben geeignet. Um die Indikatoren zu systematisieren, wurde eine Kategorisierung anhand der Verhaltensebene vorgenommen. Jede Systematisierung und Kategorisierung stellt einen Ansatz dar, das vorgefundene Material zu ordnen, einzuteilen und in Bezug zueinander zu setzen. Je nach Forschungsinteresse sind diverse Ordnungssysteme möglich und sinnvoll. Jedes System weist mehr oder weniger Probleme in der Trennschärfe zwischen den Kategorien auf. Für diese Untersuchung wurden mehrere mögliche Kategoriensysteme gebildet und erprobt. Am geeignetsten erwies sich eine Einteilung anhand der Verhaltenskategorien mit den Oberkategorien »Spontanverhalten« und »testinduziertes Verhalten« (Tab. 1). Unter Spontanverhalten wird hier Verhalten verstanden, das die Tiere in ihren normalen Tagesabläufen zeigen (bspw. Ohrenspiel, Fellpflege oder soziales Lecken, Tab. 1, I.a), während testinduziertes Verhalten in experimentellen Testsituationen provoziert wird. Als Messgrößen dienen bei letzteren wiederum Verhaltensweisen wie Lokomotion oder Fressverhalten bzw. Änderungen in deren Häufigkeit und Dauer oder Latenzzeiten, bis ein bestimmtes Verhalten gezeigt wird. Daher werden einige Verhaltensweisen, etwa die Annährung an Objekte, Menschen oder Artgenossen, zum einen als aussagekräftiges Spontanverhalten aufgezeichnet, zum anderen in Testsituationen sowohl in unkonditionierten als auch erlernten Reaktionen beobachtet. Um die Liste der Indikatoren und Testverfahren übersichtlich zu gestalten, wurden sich ähnelnde Ansätze sowie Spezifizierungen zusammengefasst, z.B. Ohren- und Schwanzspiel oder Fellpflege und Bürstennutzung. Die Liste bildet die Grundlage für spätere ausgewählte systematische Literaturreviews zu vertiefenden Fragestellungen (in Vorbereitung). Zum einen sollen quantitative Analysen durchgeführt werden: Wann, wie häufig und in welchen thematischen Kontexten wurden die Indikatoren eingesetzt? Zum anderen sollen qualitative Analysen den konzeptuellen und methodologischen Unterbau in einem späteren Schritt rekonstruieren. Ein Indikator ist ein Anzeichen für einen bestimmten Zustand. Für die Erhebung eines Indikators kann es mehrere Methoden oder Testverfahren geben. Methoden sind Handlungsanleitungen; sie beschreiben, wie vorgegangen wird. Einige Autoren_innen21 unterscheiden Arbeitsmethoden (z.B. verschiedene Beobachtungsmethoden wie Fokustier- oder Gruppenbeobachtungen) von technischen Methoden (Direktbeobachtung, Kamera, Automaten usw.); in dieser Übersicht werden nur die sogenannten Arbeitsmethoden betrachtet. Testverfahren oder Tests bezeichnen Versuchsanordnungen oder Forschungsdesigns, für welche die Versuchstiere oft aus ihrer gewohnten Umgebung entnommen 21 | Siehe z.B. S. Hoy: Methoden der Nutztierethologie.
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werden. Sie können als eine Subgruppe der Methoden aufgefasst werden. Letztlich gemessen wird in beiden Fällen eine bestimmte Messgröße. Der Zusammenhang bzw. die Abgrenzung dieser Begriffe soll am Beispiel der Vokalisation verdeutlicht werden. Je nach Befindlichkeit gibt ein Tier die eine oder andere Art der Lautäußerung von sich, darunter diejenigen, die bei Furcht geäußert werden. Die Vokalisation ist in diesen Fällen also ein Indikator für Furcht. Zur Erfassung der Vokalisation werden verschiedene Messgrößen eingesetzt, bspw. die Dauer, Häufigkeit oder Frequenz der Vokalisation. Die Methode »Erfassung der Vokalisation mittels X« wird aber auch in Testverfahren eingesetzt, bspw. dem Novel Object Test, in dem den Versuchstieren ein unbekannter Gegenstand vorgeführt und ihre Reaktionen beobachtet werden. Je nach Perspektive ist ›Vokalisation‹ also ein Indikator für den Zustand des Tieres sowie die Kurzbezeichnung einer Methode mit mehreren Messgrößen, die entweder als spontan gezeigtes Verhalten oder in einem Test eingesetzt werden kann. Indikatoren müssen interpretiert werden, da Verhaltensäußerungen stets in einem situations- und umweltlichen Kontext erfolgen. In der Folge kann ein Tier zittern, weil es sich fürchtet oder weil ihm kalt ist. Viele Indikatoren geben nicht durch das absolute Maß ihre Bedeutung preis, sondern durch die Änderung der Dauer oder der Frequenz; hier ist der Vergleich mit einem Referenzwert bedeutsam. Es gibt Indikatoren, die vergleichsweise leicht objektiv messbar sind, aber deren Interpretation schwierig ist (bspw. Ohrenspiel) oder deren zugrundeliegende Theorie kontrovers diskutiert wird (bspw. Bewertungstheorien). Andererseits gibt es Verhaltensweisen, deren Interpretation recht leicht ist, im Gegensatz zu ihrer objektiven Erfassung, auch wenn sie intuitiv erkennbar scheinen (bspw. Spiel). Wichtige Faktoren bei der Interpretation von Indikatoren sind zudem zeitliche Aspekte: Schreckreaktionen als unmittelbare Reaktionen auf ein Ereignis können herangezogen werden, um die Aversivität des Ereignisses zu beurteilen. Aber stärkere Schreckreaktionen zeigen auch eine erhöhte Furchtsamkeit an, mit der ein langfristig beeinträchtigtes Wohlbefinden verbunden ist und die möglicherweise auf beeinträchtigende Erfahrungen in der Vergangenheit hinweisen. Mithilfe des Ausmaßes an Schreckreaktionen werden darüber hinaus individuelle Unterschiede in der Reaktivität der Tiere erforscht.
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Tabelle 1: Liste der Indikatoren und Testverfahren I. Spontanverhalten a) Verhaltensweisen und Funktionskreise Körperhaltung; Ohrposition und -bewegung, Schwanzposition und -bewegung, Gesichtsausdrücke Spielverhalten Komfortverhalten: Fell-/Gefiederpflege, Bürstennutzung Soziopositives Verhalten: z.B. soziales Lecken, Synchronität Agonistisches Verhalten Erkundung- und Annäherungsverhalten Antizipatorisches Verhalten Aufmerksamkeit Bewegungsaktivität Ruheverhalten, Liegepositionen, Liegezeit Vokalisation b) Abweichungen vom Normalverhalten und Verhaltensstörungen Änderungen der Tagesrhythmik; Abweichungen von Aktivitätsmustern; Zeitbudgets Leerlaufhandlungen, umorientiertes Verhalten, schädigendes Verhalten, Stereotypien verändertes Aggressionsverhalten scheinbar grundloses Flucht- und Panikverhalten Apathie c) autonome Verhaltensweisen Anteil des Augenweiß Harnen, Koten d) Qualitative Verhaltensbeurteilung
II. Test-provoziertes Verhalten 1. Reaktionstests a) Unkonditionierte Verhaltensreaktionen Schreckreaktion, Überraschungstest Handling-Tests: tonische Immobilität, Backtest, restrain test, tethering test, docility test open field / novel arena test (NAT), novel object test open door / emergence test
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(Reaction to) presence of a human / human interaction tests: forced approach test (FAT), voluntary approach test (VAT), stationary human test (SHT) predator-human, predator model, predator test erhöhter Labyrinthtest (elevated plus maze) hole board, black and white box test sozialer Interaktionstest, sozialer Isolationstest novel food test b) erlernte Verhaltensreaktionen Konditionierte Diskrimination / Diskriminationsaufgabe Meidungstest kognitive Verzerrung 2. Präferenz- und Motivationstests Präferenztests, Wahlversuche Consumer Demand, Arbeitsbereitsschaftstests, work load Hindernistest, (Reaktion auf) Hindernis zu etwas Begehrtem Aversionstests
W ie T ierkonzepte in der M ethodenent wicklung aufscheinen Forschungsinteressen und zugehörige Methoden im Humanbereich und in der Ethologie weisen gewisse Parallelen auf. Beide Bereiche beachteten über viele Jahrzehnte vorwiegend negative Emotionen und wandten sich erst später der Erforschung positiver Emotionen zu.22 Daraus ergibt sich die Forschungsfrage, wie sich die zeitliche Entwicklung der beiden Bereiche vollzogen hat, auf welche Weise und in welchem Umfang sie sich möglicherweise gegenseitig befruchtet haben. Insbesondere ist zu fragen, welche Ähnlichkeiten oder analogen kognitiven Kapazitäten und psychisch-emotionalen Prozesse zwischen Menschen und Tieren – oder bestimmten Tiergruppen – angenommen werden, sodass zum einen die Erforschung solcher Vermögen und Prozesse bei Tieren als erkenntnistheoretisch möglich und wissenschaftlich fruchtbar erscheint. Zum anderen werden verschiedene Tierarten als Modelle und Substitute für die Humanforschung eingesetzt, was ohne die Annahme der Übertragbarkeit der Ergebnisse fragwürdig erschiene. Letzterer Punkt spielt in der Forschung zu Wohlbefinden von Nutztieren jedoch eine geringere Rolle als ersterer, da diese selten als Modelle für die Humanforschung eingesetzt werden. 22 | R. Haynes: Animal welfare, S. 73; A. Linley et al.: Positive Psychology.
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Sowohl in der angewandten als auch in der Grundlagenforschung werden Testverfahren eingesetzt, die hohe theoretische und interpretative Voraussetzungen mit sich bringen, bspw. die kognitive Verzerrung (Tab. 1, II.1.b), die aus der kognitiven Psychologie stammt, oder Ansätze aus der ökonomischen Consumer Demand-Theorie (Tab. 1, II.2) zur Erforschung von Präferenzen und Bedürfnissen. Kognitive Verzerrung beschreibt den Einfluss von affektiven Zuständen auf kognitive Prozesse und wird seit wenigen Jahren auch bei Nutztieren, v.a. Schafen und Schweinen, erforscht.23 Dieser Ansatz richtet sich sowohl auf kurzfristige Zustände (Emotionen) als auch langfristige Zustände (Stimmungen). In unterschiedlichen Versuchsdesigns wird die Erwartungshaltung der Tiere in ambivalenten Situationen erfasst. Dabei wird davon ausgegangen, dass negative affektive Zustände zu sozusagen pessimistischen Erwartungen und positive zu optimistischen Erwartungen führen. Neben Schwierigkeiten der Validierung wird derzeit diskutiert, ob das Vorhandensein von Bewusstsein24 bei der kognitiven Verzerrung als notwendig angenommen werden muss, zumal es auch Hinweise auf dieses Phänomen bei Wirbellosen gibt. Damit spiegelt die Diskussion um diesen methodischen Ansatz unmittelbar, welche kognitiven und emotionalen Kapazitäten Tieren zugeschrieben werden. Trotz immer neuen und komplex entworfenen Versuchsdesigns bleibt die grundlegende Frage bestehen, in welchem Ausmaß Tiere ihre Befindlichkeiten bewusst wahrnehmen und unter unangenehmen Zuständen tatsächlich leiden oder angenehme genießen. Die Consumer Demand-Theorie wird seit den späten 1970er-Jahren in der Wohlbefindensforschung eingesetzt; verwandte Methoden der Präferenz- und Motivationsforschung gab es bereits früher.25 Es handelt sich weniger um ein konkretes Testverfahren, sondern um eine vielfältig ausgestaltete Herangehensweise, bei der Tiere den Wert eines Objekts für sie dadurch zu erkennen geben, wie stark sie dafür zu arbeiten bereit sind oder welche Einschränkungen sie für den Zugang zu ihm in Kauf zu nehmen bereit sind. Typische Untersuchungsfragen zielen darauf ab, für wie wichtig Hennen ein Staubbad bewerten (und ob dies folglich bei der Stallgestaltung zu berücksichtigen ist) oder in welchen Situationen der Zugang zu Futter oder zu einem Sozialpartner begehrt wird. Es gibt eine Reihe von Schwierigkeiten bei der Interpretation der Ergebnisse, etwa wie sich der jeweilige ›Preis‹, den die Tiere zu zahlen bereit sind, durch Jahreszeit, Hormonstatus, andere Bedürfnisse und weitere Faktoren verändert. Vertrautheit mit dem Testobjekt, Vorerfahrungen und Lernfähigkeit nehmen 23 | Z.B. S. Düpjan et al.: Cognitive bias. 24 | Ungeachtet dessen, dass sich ›Bewusstsein‹ auf viele verschiedene Erfahrungen beziehen kann, von Fußschmerzen bis zu Vorstellungen vom Universum. 25 | M.S. Dawkins: Leiden und Wohlbefinden bei Tieren; D. Fraser/C. Nicol: Preference and motivation research.
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ebenfalls Einfluss auf das Verhalten der Tiere in der Testsituation. Kritisch hinterfragt wird zudem, inwieweit die Tiere die langfristigen Folgen ihrer Bewertung antizipieren können (denken wir an Erkrankungen oder langfristige Störungen aufgrund von schmackhafter, aber gesundheitsschädlicher Nahrung). Dennoch handelt es sich um einen attraktiven Forschungsansatz, insofern er darauf abzielt, wie die Tiere selbst ihre Umwelt und Objekte bewerten. Es ist eine spannende Frage, inwieweit dieser und ähnliche Forschungsansätze davon ausgehen, dass Tiere Handlungsmacht erfahren und welche Auswirkungen unterschiedlich erlebte Quantitäten und Qualitäten auf ihr Wohlbefinden haben könnten. Ob ein Tier als passiv reagierendes oder aktiv handelndes Wesen gesehen wird, wirft ein Licht auf unsere Vorstellungen von Tieren und auf unsere Beziehung: Welchen Gestaltungsspielraum gestehen Menschen den Tieren zu und inwiefern werden sie als aktiver Bestandteil einer LebewesenUmwelt-Beziehung verstanden?
S chlussbetrachtung Der Philosoph B.E. Rollin zeigte Ende der 1980er-Jahre ausführlich das Paradox auf, dass Naturwissenschaftler davor zurückschreckten, Tieren die Fähigkeit zu Furcht oder Leiden zuzuschreiben, zugleich aber beachtliche Studien durchgeführt wurden, um ihre Schmerzen zu beenden oder Furcht zu verringern.26 In den knapp 30 Jahren seit seiner Publikation hat sich die Wohlbefindensforschung ein gutes Stück gewandelt. Die Anzahl an Publikationen zu tierlichem Wohlbefinden erfuhr einen enormen Zuwachs.27 Viele Ethologen bezweifeln nicht mehr, dass Nutztiere empfindungsfähige Wesen sind und Schmerzen, Leiden und emotionale Zustände erleben, vielmehr wird über Detailfragen wie Ausmaß und Art von Befindlichkeiten oder den Einfluss bestimmter Haltungsbedingungen auf das Wohlbefinden debattiert und geforscht. Dies erscheint auch nur folgerichtig, da die Wohlbefindensforschung zumindest die Möglichkeit tierlicher Empfindungsfähigkeit bejahen muss, um sich nicht selbst aufzuheben. Dass Vorannahmen und Konzepte inklusive der ihnen innewohnenden Werte Einfluss auf die Auswahl und die Interpretation der Indikatoren nehmen, ist ebenfalls nicht umstritten. In welchem Umfang sie die wissenschaftlich begründeten Empfehlungen für die Tierhaltung bestimmen, bleibt im Einzelfall zu prüfen. Keeling und Koautoren kommen zum Schluss, dass die Differenzen in den Konzepten nicht überwertet werden sollten und nennen Beispiele, dass 26 | B.E. Rollin: The unheeded cry. 27 | A. Lawrence: Applied animal behaviour science; H. Proctor et al.: Searching for animal sentience.
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Konsens bei der konkreten Beurteilung von Wohlbefinden möglich ist.28 Fraser hingegen berichtet, wie Unterschiede in den Konzepten zur gegensätzlichen Bewertung von Kastenständen bei Sauen führten.29 Deutlich wird dabei – und dafür plädieren alle genannten Autor_innen –, dass die zugrunde gelegten Konzepte und Werte transparent gehalten werden sollten. Aus wissenschaftstheoretischer Perspektive stellt sich die Frage, ob wesentliche Fortschritte in der Wohlbefindensforschung und in ihrer Anwendung eher durch methodologische als durch methodische Neuerungen erreicht werden können. Dazu können Fallanalysen Auskunft geben, wie sie in diesem Beitrag mit der kognitiven Verzerrung und Consumer Demand nur angerissen werden konnten. Bereits die kurze Darstellung der Fallbeispiele hat gezeigt, dass sich Indikatoren, Methodologien und das Bild vom Tier gegenseitig befruchten: Wenn wir Tieren bestimmte Vermögen – hier: Befindlichkeiten – zuschreiben, entwickelt die Forschung Indikatoren, um deren Vorhandensein und Umfang zu überprüfen und treibt damit die Indikatoren-Entwicklung voran. Die Ergebnisse der Forschung wiederum beeinflussen unsere Ansichten, inwieweit Tiere (oder bestimmte Tierarten) zu (spezifischen) Empfindungen in der Lage sind. Die Methodendiskussion spiegelt also unsere Annahmen und Zweifel wider, was man an Vermögen von Tieren ›erwarten‹ kann. Daher gibt der jeweilige, d.h. zu einem Zeitabschnitt verwendete Katalog an Indikatoren und Testverfahren Auskunft über das Bild vom Tier in der Wissenschaft und damit über einen wichtigen Aspekt unserer Beziehung zu Tieren.
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Identifikation und Entwicklung geeigneter Messgrößen zur routinemäßigen Beurteilung der Reaktivität von Milchkühen gegenüber dem Menschen 1 Asja Ebinghaus, Silvia Ivemeyer, Julia Rupp und Ute Knierim
Z usammenfassung Verhaltensindikatoren der Mensch-Tier-Beziehung (MTB) werden bisher überwiegend im Kontext der Tierwohlforschung genutzt. Die Reaktivität der Tiere ist jedoch aufgrund der geschätzten moderaten Heritabilität auch für die Milchrinderzucht von Interesse. Zuchtverbände ziehen bislang routinemäßig den durchschnittlichen Milchfluss pro Minute und teilweise eine subjektive Beurteilung des Melktemperaments durch die Tierhalter_innen heran, um eine verbesserte Melkbarkeit und leichtere Handhabung der Kühe zu erreichen. Informationen über Reliabilität und Validität hinsichtlich der MTB dieser Zuchtmerkmale liegen nur unzureichend vor. Dagegen wird die Ausweichdistanz (AD) der Kühe gegenüber einer unbekannten Person in einem standardisierten Test als etablierter Verhaltensindikator zur Beurteilung der MTB angesehen.
1 | Eine frühere Version wurde auch publiziert als: A. Ebinghaus/S. Ivemeyer/J. Rupp/ U. Knierim: »Identifikation und Entwicklung geeigneter Messgrößen zur routinemäßigen Beurteilung der Reaktivität von Milchkühen gegenüber dem Menschen«, in: Aktuelle Arbeiten zur artgemäßen Tierhaltung. KTBL-Schrift 510, Darmstadt: KTBL 2015, S. 36-47. Wir danken den teilnehmenden Landwirt_innen für ihre Offenheit und Hilfsbereitschaft bei den Datenerfassungen und Françoise Wemelsfelder für ihre Unterstützung bei der Entwicklung des QBA zur Beurteilung der MTB.
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Asja Ebinghaus/Silvia Ivemeyer/Julia Rupp/Ute Knierim
Ziel der vorliegenden Untersuchungen war es, Messgrößen zu identifizieren bzw. zu entwickeln, die reliable Rückschlüsse hinsichtlich der MTB bei Milchkühen unter unterschiedlichen Management- und Haltungsbedingungen zulassen und die zur Anwendung als Zuchtmerkmal praktikabel sind. Auf drei nordhessischen Milchviehbetrieben mit Laufstallhaltung und Herdengrößen zwischen 45 und 195 Kühen der Rassen Holstein-Friesian und Deutsches Schwarzbuntes Niederungsrind wurden dazu AD am Fressgitter und im Laufstall gemessen sowie innovative MTB-Messgrößen angewendet und bezüglich ihrer InterObserver-Reliabilität (IOR) und Inter-Test-Zusammenhänge untersucht. Innovative Messgrößen waren eine Qualitative Verhaltensbeurteilung (QBA) in der MenschTier-Interaktion, die Berührungstoleranz (BT), das Verhalten beim Freilassen aus der Fixierung (VF) und die Position und Form der Stirnhaarwirbel (HW). Die IOR wurde mittels Spearman-Rang-Korrelations- bzw. Kendalls-W-Koeffizient (bei QBA drei Beobachterinnen) und PABAK (bei nominalen HW-Daten) untersucht. InterTest-Zusammenhänge zwischen der AD am Fressgitter und den HW wurden mit einem Generellen Linearen Modell und zwischen allen anderen Messgrößen mittels Spearman-Rang-Korrelation untersucht. Die IOR lag für alle Messgrößen im guten bis sehr guten Bereich: AD Fressgitter rs = 0,79 (n = 84, p < 0,01); AD Laufstall rs = 0,83 (n = 36, p < 0,01); BT rs = 0,93 (n = 55, p < 0,01); VF rs = 0,90 (n = 54, p < 0,01); QBA W = 0,95 (n = 32, p < 0,01); HW PABAK = 0,77 – 0,83 (n = 58). Hohe Inter-Test-Zusammenhänge zeigten sich zwischen AD Fressgitter und AD Laufstall (rs = 0,77, n = 44, p < 0,01), zwischen BT und VF (rs = 0,78, n = 52, p