Vertrauen und Politik im Alltag: Die Arbeiterbewegung in Leipzig und Lyon im Moment der Krise 1929-1933/38 9783666370281, 9783525370285, 9783647370286


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Vertrauen und Politik im Alltag: Die Arbeiterbewegung in Leipzig und Lyon im Moment der Krise 1929-1933/38
 9783666370281, 9783525370285, 9783647370286

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© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann

Frühere Herausgeber Helmut Berding und Hans-Ulrich Wehler (1972–2011)

Band 210

Vandenhoeck & Ruprecht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

Joachim C. Häberlen

Vertrauen und Politik im Alltag Die Arbeiterbewegung in Leipzig und Lyon im Moment der Krise 1929–1933/38

Vandenhoeck & Ruprecht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

Mit 5 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-37028-5 ISBN 978-3-647-37028-6 (E-Book) Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Umschlagabbildung: Demonstration der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) auf dem Alten Meßplatz, Januar 1933, Foto: Fritz Schneider. Stadtarchiv Leipzig (Signatur BA 1988/27597). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Teil I Misstrauen und politische Feindschaft im Alltag. Die Arbeiterbewegung in Leipzig, 1929–1933 1. Politische Gewalt in Arbeitervierteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1.1 Gewaltsame Politik und politisierte Gewalt . . . . . . 1.2 Akteure und Situationen der Gewalt . . . . . . . . . . 1.3 »Die Rote Epa-Ecke ist unser!« – Territoriale Gewalt . 1.4 Harte Proletarierfäuste oder Primitive Blutrache . . .

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2. Politik als Belästigung im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2.1 Familien und Nachbarschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2.2 Politik und Arbeitervereine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2.3 Beziehungen am Arbeitsplatz und Politik . . . . . . . . . . . . . . . 114 2.4 Politisierte öffentliche Wohlfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3. Misstrauen und frustrierende Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 3.1 Oppositionelle Sozialdemokraten und Kommunistische Spitzel . . 149 3.2 Denunziationen und die Formierung der lokalen Arbeiterklasse . 158 3.3 Misstrauen, Autonomie und Passivität: Die KPD in Leipzig . . . . 170 Epilog: Die Zerstörung der Arbeiterbewegung in Leipzig . . . . . . . . . 182

Teil II Politisierung, Aufstieg und Zerfall. Die Arbeiterbewegung in Lyon, 1929–1938 4. Autonomie und Politik vor 1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 4.1 Das Cartel Autonome du Bâtiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 4.2 Streikbewegungen im Baugewerbe und anderswo . . . . . . . . . . 212 4.3 Autonomie oder Politik: Der Konflikt zwischen Cartel und CGTU . 219 4.4 Politik und politischer Alltag in der Arbeiterbewegung Lyons . . . 227 5 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

5. Krise und Aufstieg der Volksfront . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 5.1 Der Weg zur Einheit in Lyon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 5.2 Die Wirtschaftskrise und ihre Folgen in Lyon . . . . . . . . . . . . 258 5.3 Niedergang des Cartels und Aufstieg der Kommunistischen Partei . 266 5.4 Die Sommerstreiks 1936 in Lyon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 6. Der Niedergang der Volksfront . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 6.1 Die Gegenoffensive der Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 6.2 Der Zerfall der Volksfront . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 6.3 Die internationale Situation im lokalen Rahmen Lyons . . . . . . . 301 6.4 Der gescheiterte Bauarbeiterstreik im Herbst 1938 . . . . . . . . . 306 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Orts- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358

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Einleitung Historische Einsichten kommen manchmal in ungewöhnlichen Momenten zustande, nicht in der Bibliothek oder im Archiv, sondern, im Falle dieser Studie, beim Ansehen von Videoclips aus dem Propagandafilm »Führer seiner Klasse«. Bei dem 1955 in der DDR fertig gestellten Film handelt es sich um ein heroisierendes Porträt Ernst Thälmanns, des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) seit 1925, seiner heroischen Mission für die Befreiung »seiner« Arbeiterklasse und seines Leidensweges unter dem nationalsozialistischen Regime, der mit seiner Ermordung im Konzentrationslager Buchenwald 1944 endet.1 Der Film ist eine scharfe, polemische Kritik an der sozialdemokratischen Führung und ihres, so die kommunistische Lesart, Verrats an der Arbeiterklasse. Im Gegensatz zur sozialdemokratischen Führung werden die einfachen Parteimitglieder allerdings als »ehrlich« gegen die Nationalsozialisten ankämpfend dargestellt. Ein entscheidender Augenblick dieses sozialdemokratischen »Verrats« war der so genannte Preußenschlag im Juli 1932, als die legitime sozialdemokratische Regierung Preußens von Reichskanzler von Papen unter Androhung militärischer Gewalt aus dem Amt gejagt wurde. Für Sozialdemokraten stellte dies eine Katastrophe ersten Ranges dar, hatte doch die Macht in Preußen bedeutet, dass die preußischen Polizeikräfte Sozialdemokraten unterstanden und, so die Erwartung der Sozialdemokratischen Partei (SPD), ein Bollwerk zum Schutz der Republik bilden würden. Die SPD kündigte zwar Klage beim Staatsgerichtshof gegen die Amtsenthebung an, versuchte aber nicht einmal, so der Vorwurf der Kommunisten, ernsthaften Widerstand zu leisten. Es war, aus der Perspektive des Films, ein weiteres Zeichen der Schwäche und des Verrats der SPD. Im Propagandafilm dient der Preußenschlag als ein Beispiel dafür, wie die sozialdemokratische Führung ihre Anhänger von einem Zusammengehen mit den Kommunisten abhielt. Die Szene beginnt damit, dass sich ein alter sozialdemokratischer Arbeiter bei der Berliner Verkehrs-AG (BVG) namens Dell­hagen, begleitet von einigen Kollegen, dem Innenministerium nähert. Direkt vor dessen Türen werden sie von einer Gruppe von SA-Männern angerempelt, die Dellhagens Drei-Pfeile-Abzeichen, Symbol der Eisernen Front, abreißen.2 Ein vor 1 Maetzig. 2 Bei der Eisernen Front handelte es sich um ein Bündnis zwischen dem Reichsbanner Schwarz Rot Gold (einer Organisation, die von der SPD, der liberalen DDP und dem katholischen Zentrum getragen wurde), dem reformistischen Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB), seiner Schwesterorganisation für Angestellte, dem Allgemeinen freien Angestellten Bund (AfA-Bund), und dem Arbeiter Turn- und Sportbund (ATSB) das im September 1931 zur Bekämpfung der radikalen Rechten gegründet worden war. Zum Reichsbanner Rohe, Reichsbanner; Voigt, Kampfbünde.

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dem Ministerium Dienst tuender Polizist schaut dem Angriff tatenlos zu. Von Dellhagen deswegen angegangen, antwortet der Beamte, er habe Anweisung, in solchen Situationen nicht einzugreifen. »Was soll ich denn machen? Ich bin doch auch Sozialdemokrat«, sagt er hilflos. Im Büro des preußischen Innenministers Severing verlangt Dellhagen, sichtlich empört über den Zwischenfall, eine härtere Gangart gegenüber den Nationalsozialisten. Man sei sich ja seines Lebens nicht mehr sicher in den Straßen, so Dellhagen. Severing aber fertigt ihn ab, er solle nicht auf kommunistische Propaganda hereinfallen. Mit der preußischen Polizei hinter ihm sei nichts zu befürchten. Just in diesem Moment betritt ein Armeeoffizier mit zwei Soldaten das Büro und erklärt Severing, dass er des Amtes enthoben sei. Severing ist schockiert. Er werde sich beim Staatsgerichtshof beschweren, erklärt er dem Offizier, der lächelnd antwortet: »Tun Sie’s, wenn’s Ihnen Spaß macht…« »Ich weiche nur der Gewalt«, entgegnet Severing noch, bevor er das Büro verlässt, nicht ohne dass ihm der Offizier noch seine Amtsmappe abnimmt. Dellhagen und seine Kollegen schauen sprachlos zu. In der nächsten Szene spricht ein enttäuschter Dellhagen vor einer Versammlung von BVG-Arbeitern. Erst habe Severing sich mit der Macht gebrüstet, aber dann habe er sie nicht eingesetzt und sich stattdessen »kläglich ergeben«, so Dellhagen. »Das übersteigt alles, was ich für möglich hielt«, fügt er hinzu. »Sang- und klanglos, vor einem Leutnant und drei Mann, Pfui Deibel«, murmelt ein älterer Arbeiter. Dann taucht Thälmann auf, bahnt sich seinen Weg durch die Menge. »Und nun?«, fragt ein anderer BVG-Arbeiter. Dellhagen seufzt, sagt aber kein Wort. Die Sozialdemokraten sind offenbar mit ihrem Latein am Ende. In dieser Situation blickt Thälmann in die Gesichter der verwirrten und per­ spektivlosen Sozialdemokraten und ergreift das Wort. »Was soll geschehen, Kollegen?« Er steigt auf eine kleine Plattform und erklärt, er komme gerade von den Siemenswerken und habe auch zu den Arbeitern bei Borsig gesprochen. Die Arbeiter seien bereit, so Thälmann, von Papen, »Hitlers Steigbügelhalter«, die Stirn zu bieten. »Alle wollen es, und doch geschieht nichts.« Warum? Weil der Parteivorstand der SPD ein kommunistisches Angebot zum »gemeinsamen Kampf gegen Papen und die Reaktion« abgelehnt habe. Die Menge murmelt empört. Gegenüber den Arbeitern, seinen »Klassengenossen«, wiederholt er noch einmal sein Angebot: Die Kommunisten stellten keine Bedingungen für ein Zusammengehen, bis auf eine, wie er mit erhobener Faust sagt: »Entschlossener Kampf gegen die Reaktion, gegen Faschismus und Krieg. Uns trennt kein Parteibuch. Klassenbrüder, schlagt in unsre Hand ein.« Die Menge jubelt. Am Ende der kurzen Rede fragt Dellhagen Thälmann skeptisch: »Meint ihr’s aber auch ehrlich, Kollege Thälmann?« Während ein kommunistischer Arbeiter Dellhagen kurz anschnauzt – »das ist aber starker Tobak« –, ermutigt ihn Thälmann: »Jeder soll fragen was ihn bedrückt. […] Angesichts der drohenden Gefahr, dass aus Deutschland durch den Faschismus ein Land der Galgen und Scheiterhaufen werden kann,…«, sagt er zur Menge, bevor er sich an Dellhagen wendet und mit leiser Stimme fortfährt: »… sollten wir es nicht ehrlich meinen?« Wieder zur Menge gewandt betont er die Gefahr von Krieg und Faschis8 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

mus in Europa, angesichts derer die Kommunisten »die geschlossene Kampf­ aktion der Arbeiterklasse« nur »ehrlich« meinen könnten.3 Zweifellos wird weder Thälmann noch die kommunistische Politik im Film auch nur annähernd wahrheitsgetreu dargestellt. Gleichwohl, in einem Aspekt treffen die Szene und vor allem Dellhagens skeptische Frage, vielleicht ungewollt, die historische Realität. Sozialdemokraten hätten sehr wohl die Ehrlichkeit der Kommunisten infrage stellen können. Dellhagens Frage verweist auf ein zentrales Problem der Beziehungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten an der Basis, um das es in dieser Arbeit gehen wird: Sozialdemokraten hatten allen Grund, nicht auf kommunistische Ehrlichkeit zu vertrauen.4 Ein Ziel dieser Arbeit ist es zu verstehen, warum es in den letzten Jahren der Weimarer Republik nicht zu der »Aktionseinheit von SPD und KPD« kam, von der Thälmann sprach. Ein Grund hierfür war, so eine These der Arbeit, ein Mangel an Vertrauen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten wie auch innerhalb der jeweiligen Parteien. Dabei war den Akteuren zutiefst bewusst, wie wichtig Vertrauen war und welches Problem Misstrauen darstellen konnte. Sie realisierten, dass Parteien und Organisationen nur funktionieren konnten, wenn in ihnen Vertrauen herrschte, dass gegenseitiges Vertrauen eine Grundvoraussetzung für jede Zusammenarbeit an der Basis war. Gleichwohl, die Situation war eher durch Misstrauen denn Vertrauen geprägt. Dieses Misstrauen stellte, so die These, einen zentralen Faktor für die »kampflose Kapitulation« der deutschen Arbeiterbewegung dar, um Manfred Scharrers polemische Wendung zu gebrauchen.5 Mit dieser Fragestellung versucht die Arbeit, einen Beitrag zum Verständnis eines entscheidenden Moments in der jüngeren deutschen Geschichte zu leisten: dem Zusammenbruch der Weimarer Republik und dem Aufstieg der Nationalsozialisten.6 Wie es »dazu kommen konnte« ist eine Frage, die einer komplexen und multikausalen Antwort auf verschiedenen Ebenen bedarf. Historikerinnen und Historiker, und nicht nur sie, haben spätestens seit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft zahlreiche Faktoren genannt, die zu einer Erklärung beitragen können. Dabei verglichen sie die Situation in Deutschland oft impli3 Die Szene stellt eine kommunistische Broschüre mit dem Titel »Ernst Thälmanns Antwort auf 21 Fragen von SPD-Arbeitern« dramatisiert dar. Thälmanns Antwort auf die Frage Dellhagens stimmt wörtlich mit der fiktiven Frage eines SPD-Arbeiters »Meint die KPD die Einheitsfront ehrlich« überein, Thälmann. 4 In dieser Arbeit wird die jeweilige Basis der Parteien im Vordergrund stehen. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Beziehungen zwischen den Parteiführungen und die gleichsam »offizielle« Feindschaft zwischen ihnen bedeutungslos waren. 5 Scharrer. 6 Zur umfangreichen Historiographie zu Krise und Kollaps der Weimarer Republik beispielsweise Kershaw; Bessel, Gewalt; Abraham. Zur Krisenkonzeption sowie einer Kritik dieses Ansatzes Peukert, Weimarer Republik; Föllmer u. Graf. Eine Kritik am Begriff der »gescheiterten Republik« bietet Fritzsche, Did Weimar Fail? Zum Aufstieg der Nationalsozialisten vor 1933; Evans, Coming; Fritzsche, Germans; Schmidt, Terror; Allen; Bruhns. Speziell zu Sachsen Lapp; Szejnmann, Nazism.

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zit, seltener explizit mit derjenigen Frankreichs und Großbritanniens.7 Einen umfangreichen Literaturüberblick über den Aufstieg und die Machtergreifung der Nationalsozialisten zu bieten, würde hier zu weit führen.8 Es mag genügen, auf einen Aspekt zu verweisen: das »Versagen« der Arbeiterbewegung, den Aufstieg der NSDAP zu stoppen, allen voran der SPD, die proklamierte, die Republik verteidigen zu wollen, und der KPD, die sich den Antifaschismus auf die Fahnen geschrieben hatte und am heftigsten in gewaltsame Auseinandersetzungen mit den Nationalsozialisten verwickelt war.9 Die »Erfolgsgeschichte« der Nationalsozialisten ist gleichzeitig eine Geschichte des Scheiterns der Arbeiterbewegung.10 Die Forschung hat hierzu wichtige Ergebnisse vorgelegt. Mit Blick auf die Organisationen als ganzes, insbesondere die pro-republikanische SPD und ihre politischen Strategien, wurde etwa argumentiert, dass ihr Verhalten alternativlos war. Nach dem Preußenschlag 1932 zu einem Generalstreik aufzurufen wäre aussichtslos gewesen, waren doch die reformistischen Gewerkschaften Gegner einer solchen Strategie, zumal die hohe Arbeitslosigkeit einen Erfolg ohnehin unwahrscheinlich gemacht hätte.11 Es war, so ein verbreitetes Argument, keine mit dem Kapp-Putsch von 1920 vergleichbare Situation. Jeglicher Versuch, Widerstand zu leisten, hätte daher in einem blutigen Bürgerkrieg enden müssen, den die Arbeiterbewegung kaum hätte gewinnen können.12 Ein wichtiger Teilaspekt dieser Argumentation betrifft die Spaltung der Arbeiterbewegung. So wurde mit Blick auf die offizielle Parteipolitik argumentiert, der bittere »Bruderkampf« zwischen SPD und KPD, insbesondere die kommunistische Sozialfaschismusthese, habe die Arbeiterbewegung auf fatale 7 Dies bezieht sich auf die Sonderwegsthese, wobei deutsche Geschichte oftmals implizit oder asymmetrisch mit derjenigen anderer, zumeist westeuropäischer Nationalstaaten verglichen wurde, klassisch Wehler. Eine Kritik dieses Ansatzes stammt von Blackbourn u. Eley. Eine exzellente dezidiert vergleichende Studie, die über die Sonderwegsthese hinausgeht, wurde von P. Weber vorgelegt. 8 Einen guten Überblick bietet Evans, Coming. 9 Zur SPD Pyta. Speziell zu Leipzig Vogel. Zum Verhältnis von KPD und SPD Dorpalen; Aviv. Zur KPD vor allem Eumann; Mallmann, Kommunisten. 10 In Anbetracht dessen, dass sowohl SPD wie auch KPD ausdrücklich versuchten, den Aufstieg der NSDAP zu verhindern, erscheint es mir in der Tat angebracht zu sein, von einem Scheitern der linken Arbeiterbewegung zu sprechen. Zu nationalsozialistischer Gewalt gegen die Arbeiterbewegung Reichardt, Kampfbünde, S. 58–73. Zur Debatte, warum die Arbeiterbewegung (oder die Arbeiterschaft allgemein) den Nationalsozialisten nicht erfolgreicher Widerstand leistete, beispielsweise Herbert; Lüdtke, Rote Glut; Mason; ders. u. Caplan; Scharrer; Zollitsch, Vertrauensratswahlen; ders., Arbeiter; Peukert, KPD. Alf Lüdtke etwa bemerkt, S. 225: »Es ist oft beklagt worden: Dieser Tag [der Tag einer »roten Glut«, eines proletarischen Aufstandes] kam nicht.« Zu Beziehungen zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten jüngst Brown. 11 Zu den Gewerkschaften Deppe; Deppe u. Roßmann; Heer. 12 Beispielhaft Winkler, Spielräume; ders., Weg; Pyta; Alexander. Historiographische Über­ blicke finden sich bei Kolb; Grebing, Flucht; Sywottek; Winkler, Vermeidung. Eine detailliertere Besprechung dieser Literatur findet sich in meinem Aufsatz Häberlen, Scope.

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Weise gelähmt.13 Über Parteipolitik hinausgehend wurde darauf verwiesen, dass die deutsche Arbeiterklasse nicht nur politisch, sondern auch sozial in Arbeitslose und noch Arbeitende gespalten war.14 Diese Fragmentierung habe eine zutiefst entsolidarisierende Wirkung gehabt, was sich politisch im Gegensatz zwischen KPD, die zur Partei der Arbeitslosen wurde, und SPD, die noch in Arbeit stehende Arbeiter repräsentierte, manifestierte.15 Über die Analyse politischer Strategien der Arbeiterbewegung hinausgehend, rückten in der Forschung Auseinandersetzungen mit den Nationalsozialisten und insbesondere der SA in den Vordergrund.16 Während die NSDAP insgesamt versuchte, für Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterschaft attraktiv zu werden, versuchte die SA, sich mit den berüchtigten Sturmtavernen auf Dauer in den Arbeitervierteln zu etablieren.17 Diese regelrechten Einmärsche in von Kommunisten für sich reklamierte Arbeiterviertel führten zu massiver Gewalt, was unter Zeitgenossen die Angst vor einem Bürgerkrieg nährte.18 Jüngere Studien, oftmals mit einem lokalen Fokus, heben die destruktive Wirkung dieser Gewalt auf nachbarschaftliche Strukturen hervor.19 So argumentierte beispielsweise Pamela Swett, dass der Kollaps der Weimarer Republik in den Straßen und Hinterhöfen Berlins stattfand. Da staatliche Institutionen und politische Parteien zunehmend geschwächt wurden, »fanden Männer und Frauen Autorität in sich selbst, in nachbarschaftlichen Tätigkeiten und

13 Bahne, KPD; Winkler, Weimar. Eine ausgewogenere Perspektive bieten Dorpalen; Aviv. Der sogenannte Blutmai in Berlin (1. Mai 1929) trug besonders zur Entfremdung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten bei, wie wiederholt argumentiert wurde. Zum Blutmai Bowlby; Schirmann; Kurz. 14 Geary, Employers; Zollitsch, Arbeiter; ebenso Peukert, Lost Generation; Rosenhaft, Un­ employed; McElligott, Mobilising. 15 Winkler, Weg, S. 11 ff. Zu kommunistischen Versuchen, die Arbeitslosen in Deutschland, Großbritannien und den USA zu organisieren, Croucher. Weiterhin Andersen; Huber-Koller, Erwerbslosenbewegung; dies., Gewerkschaften; Caspar, Politik. 16 Ein frühes Beispiel stellt das Werk von Conan Fischer dar, Fischer, Communists; ders., Rise; ders., Class Enemies; ders., KPD; Geary, Response; ders., Nazis. Zur Anziehungskraft der NSDAP auf Arbeiter Falter u. Hänisch; Mai; Bons. 17 Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus; Reichardt, Kampfbünde. 18 Blasius. Diese Arbeit wird zeigen, wie auch Weitz, Communism, und Swett betont haben, dass »Linke« keineswegs nur defensiv Gewalt anwandten, sondern sich auch immer wieder in die Offensive begaben, etwa wenn sie bürgerliche Viertel »erobern« wollten. Zu Gewalt Bessel, Militarismus; ders., Political Violence; ders., Violence and Propaganda. Laut Striefler versuchte die KPD, eine gewaltsame Revolution vorzubereiten, wogegen die SA tapfer einschritt. Dabei stützt Striefler sich vollkommen unkritisch auf Polizeiquellen. Zu Konzeptionen (politischer) Gewalt in breiterer Perspektive schließlich Schumann, Europa; ders., Gewalt. 19 Rosenhaft, Gewal; dies., Life; dies., Beating; dies., Links gleich rechts; Schmidt, Terror; ders., KPD; McElligott, City; Bruhns.

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Moralvorstellungen«.20 Lokale Autonomie ersetzte, so Swett, die Autorität zentraler Institutionen. Ein Vergleich mit Frankreich stellt einige der für Deutschland vorgebrachten Argumente infrage.21 Im Gegensatz zur deutschen Linken war die fran­zösische Linke nach den gewaltsamen Ausschreitungen bei einer Demonstration der radikalen Rechten in Paris im Februar 1934, die von Zeitgenossen als faschistischer Putschversuch wahrgenommen wurde, in der Lage, in kaum erwarteter Weise Arbeiter zu mobilisieren. Zwar nicht sofort, aber doch relativ schnell einigten sich Sozialisten und Kommunisten in Frankreich auf die Formierung einer »Einheitsfront« [Front Unique], die dann unter Einschluss der Parti Radical zur »Volksfront« [Front Populaire] erweitert wurde. Historiographische Debatten über die französische Volksfront haben sich in erster Linie auf die Rolle der Kommunistischen Internationale (Komintern) und der Entscheidungen in Moskau konzentriert. Einem Argumentationsstrang zufolge realisierte die kommunistische Führung in Moskau, dass eine weitere Fortführung der »Klasse gegen Klasse«-Strategie, die Sozialdemokraten zum Hauptfeind erklärt hatte, die kommunistische Position nur schwächen würde. In dem Wunsch, einerseits den französischen Kommunisten das Schicksal ihrer Genossen jenseits des Rheins zu ersparen, andererseits einen weiteren »faschistischen Staat« in der Mitte Europas zu verhindern, ermutigte die Kominternführung in Moskau die Führung der Parti Communiste Français (PCF), eine breite Allianz gegen den Faschismus zu bilden. In dieser Interpretation der Ereignisse lag die eigentliche Entscheidungsgewalt in Moskau und nicht in Paris oder gar auf den Straßen Frankreichs.22 Auf der anderen Seite hingegen wurde in der Forschung zur Volksfront der Wunsch nach Einheit an der Basis, sowohl unter Sozialisten als auch Kommunisten, hervorgehoben. Ihr Verlangen nach Einheit, so dieser Argumentationsstrang, habe den entscheidenden Anstoß zur Formierung der Volksfront gegeben.23 Ohne die Bedeutung von Entscheidungen in Moskau völlig zu verneinen, wird die Diskussion der Volksfront in Lyon in dieser Arbeit weitere Belege für die Relevanz lokaler Dynamiken bieten. In vergleichender Perspektive wirft dies die Frage auf, warum es kein ähnliches (erfolgreiches) Verlangen nach Ein20 Swett, S. 7. Englisch: »[…] men and women found authority in themselves and neighborhood activism and ethics.« 21 Methodologische Ansätze zur Komparatistik finden sich bei Sewell, Bloch; Haupt u. Kocka; Kaelble; Arndt u. a. Einen interessanten Vergleich zwischen deutschen und britischen Gewerkschaften bietet C. Kaiser. Sie argumentiert, dass es den britischen Gewerkschaften besser gelang, ihre Mitglieder zu integrieren, was eine gesellschaftlich stabilisierende Wirkung hatte. Dabei betont Kaiser auch, wie politisiert die Situation in Deutschland im Vergleich mit Großbritannien war. 22 Harr; Jackson, Popular Front. 23 Prost, Front populaire, S. 68; Wolikow; Margairaz u. Tartakowsky; Vigna u. a.; Alexander u. Graham; Brunet, Histoire; Kergoat, La France; Tartakowsky u. Willard; Tartakowsky, Front Populaire; Rioux; Wardhaugh.

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heit in der Mitgliedschaft von SPD und KPD gab. Diese Frage ist umso dring­ licher, als jüngste Forschungen zur KPD, vor allem jene von Klaus-Michael Mallmann, meines Erachtens überaus erfolgreich das Bild einer von oben gelenkten, bolschewisierten Partei, die, einer kleinen Armee ähnlich, jeglichen Befehlen von Moskau gehorchte, zerstört haben.24 Diese Studie geht daher der Frage nach, weshalb es in Frankreich zu einer solch breiten und parteiübergreifenden Mobilisierung gegen eine zumindest so wahrgenommene faschistische Bedrohung kam, während es in Deutschland keinen vergleichbaren Druck seitens der Basis auf die jeweiligen Parteiführungen gab. Aber wie vergleichbar sind diese beiden Fälle? Zweifelsohne gibt es wichtige Unterschiede zwischen der Situation in Deutschland und Frankreich. Die französische Dritte Republik existierte seit 1871 und hatte sowohl die Dreyfus-Affäre als auch einen desaströsen Ersten Weltkrieg überstanden, unter dem Frankreich wie kaum ein zweites Land zu leiden hatte, auch wenn es am Ende auf der Gewinnerseite stand.25 Die Weimarer Republik hingegen war das Ergebnis einer Revolution am Ende eines verlorenen Krieges. Sie konnte, so eine verbreitete Auffassung, weder auf Seiten der Linken noch der Rechten zahlreiche überzeugte Anhänger finden: Eine »Republik ohne Republikaner«, wie es immer wieder hieß und heißt.26 In Frankreich hingegen hat die historische 24 Mallmann, Kommunisten. Dieser argumentiert gegen das Bild einer durchbolschewisierten KPD, wie es etwa H. Weber, Wandlung, zeichnet. Mallmanns Thesen wurden im Wesent­ lichen bestätigt von Eumann. Kritisch gegenüber Mallmann hat sich vor allem Wirsching, Stalinisierung, geäußert. Meines Erachtens überzeugte die Erwiderung Mallmann, Parteisoldaten. Andreas Wirsching, Weltkrieg, legte selbst eine vergleichende Studie über politischen Extremismus in Berlin und Paris vor, die sich totalitarismustheoretischer Ansätze bedient. Wirschings Ansatz, von hierarchisch organisierten Parteien auszugehen, die von oben gelenkt wurden, trägt meines Erachtens nicht, wie die Arbeiten von Klaus-Michael Mallmann und Ulrich Eumann zur KPD und Sven Reichardt zur NSDAP gezeigt haben. Dies zeigt auch ein Blick in die Forschungen zu kommunistischen Parteien weltweit, diskutiert in Häberlen, Aspirations. Hier ist jedoch nicht der Ort für eine ausführliche Kritik der Studie Wirschings. Angemerkt sei einzig, dass sie zwar einige für die hier gestellten Fragen interessante empirische Beobachtungen bereit hält, auf methodischer Ebene jedoch nicht zur Klärung dieser Fragen beiträgt, weshalb sich hier keine detaillierte Auseinandersetzung mit ihr finden wird. Zur KPD weiterhin Weitz, Communism; Epstein, Revolutionaries. Beide vermitteln jedoch ein zu totalisierendes Bild von der KPD. Weitz etwa schreibt, S. 233: »To be a Communist in the Weimar Republic meant to live a life in the party.« Auch Epstein behauptet, »Weimar Communism« wäre »a whole new way of life« gewesen (S. 6). Kommunisten, so behauptet Epstein, lasen nur die Parteipresse, schickten ihre Kinder in die Jugendgruppen der Partei oder nahmen Arbeitslosigkeit für ihre politischen Überzeugungen in Kauf. Dies mag für eine schmale Elite der Partei gegolten haben, aber nicht für die breite Mehrheit. Eine Kritik an Epstein bietet Kössler. 25 Zur dritten Republik grundsätzlich Bernard u. Dubief; Borne u. Dubief; Dubief; Berstein. 26 Die Weimarer Republik wird oft schulbuchhaft als »Republik ohne Republikaner« beschrieben. Pyta bietet eine Variation dieses Arguments, indem er betont, es habe nicht genügend Republikaner in verantwortlichen Positionen gegeben. Für ein ähnliches Argument mit Blick aufs Bürgertrum, Schumann, Gewalt, S. 368; Wirsching, Weltkrieg, S. 611. Dieser ar-

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Forschung einen tief verwurzelten Republikanismus ausgemacht, der im Falle einer politischen Krise in Form eines »republikanischen Reflexes« gleichsam aktiviert werden konnte.27 Republikanismus war, wie das Beispiel Lyons zeigen wird, sicherlich ein wichtiger Faktor, der zur Mobilisierung im Frühjahr 1934 beitrug. Dennoch, Unterschiede sollten nicht überzeichnet werden. Deutsche Sozialdemokraten waren sicherlich nicht weniger pro-republikanisch als ihre französischen Genossen,28 während französische Kommunisten die Republik, in ihren Augen vor allem ein kapitalistisches Regime, nicht weniger verabscheuten als ihre Genossen in Deutschland. Der Verweis auf einen angeblichen Antirepublikanismus in Deutschland beziehungsweise einen republikanischen Reflex in Frankreich ist daher unzureichend, um die unterschiedlichen Reaktionen der jeweiligen Arbeiterbewegungen zu erklären.29 Eine zweite wichtige Differenz betrifft die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in beiden Ländern.30 Verglichen mit Deutschland wurde Frankreich erst relativ spät und dann bei weitem nicht so dramatisch von der Krise getroffen wie Deutschland. Zahlen zur Arbeitslosigkeit in Leipzig und Lyon, den beiden Fallstudien dieser Arbeit, sind in dieser Hinsicht aufschlussreich. In Lyon selbst waren auf dem Höhepunkt der Krise 1934 5.477 Menschen ohne Arbeit, in der gesamten Rhôneregion waren es 12.411, was gerade einmal ca. 2 % der Bevölkerung entspricht. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass erstens zahlreiche ausländische Arbeiter, die ihre Stellen verloren, Frankreich verließen und zweitens die verbreitete Kurzarbeit nicht erfasst wurde. Deshalb dürften die Zahlen die tatsächliche Arbeitslosigkeit nicht adäquat wiedergeben.31 In Leipzig dagegen waren im Juli 1932 102.357 Menschen offiziell als arbeitsuchend gemeldet, immerhin 14 % der Gesamtbevölkerung, einschließlich der Kinder und gumentiert in der Tradition von Totalitarismustheorien, dass die Demokratie sowohl in Deutschland als auch Frankreich durch »politischen Extremismus« gefährdet war und, so ist hinzuzufügen, in Deutschland durch diesen zerstört wurde. 27 Beispielsweise Prost, Front populaire. 28 Beispielsweise Ziemann, Kriegserinnerung. Zu Leipzig Vogel. Er betont den äußerst prorepublikanischen Charakter der SPD in Leipzig, was ein Blick in die Leipziger Volkszeitung (LVZ), das Organ der örtlichen SPD, bestätigt. 29 Abgesehen davon erscheint mir der Verweis auf einen gleichsam natürlichen Reflex problematisch und zu einfach. Der Verweis selbst mag Ausdruck eines in Frankreich herrschenden Republikanismus sein. 30 Zur Wirtschaftskrise in Deutschland Balderston, Origins; ders., Economics; Borchardt, Zwangslagen; ders., Wachstum; ders., Scheitern; von Kruedener, Überforderung; ders., ­Crisis. Eine internationale Perspektive bieten Kindleberger; Clavin. Zu Frankreich Jackson, Politics; Kemp; Sauvy u. Hirsch. 31 Ochandiano, Formes, S. 134; Fauvet-Messat, S. 61; grundsätzlich Noiriel, Workers, S. 159 f. Noiriel betont, die Arbeiterschaft sei »französischer« und männlicher geworden, da sowohl Einwanderer als auch Frauen zuerst entlassen wurden. Anders Lewis, S. 57. Diese behauptet, Ende 1931 seien 20.000 Personen im Gebiet von Lyon ohne Arbeit gewesen. Lewis und Ochandiano beziehen sich dabei auf unterschiedliche Quellen, dieser auf ADR 10/ MPD/27/28, jene auf ADR 10/MPD/5.

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Alten.32 Gleichwohl, auch wenn die Dimensionen sicherlich unterschiedlich waren, so bedeutet dies nicht, dass Lyon und seine Vororte von der Krise verschont blieben. Insbesondere die mächtige Bauarbeitergewerkschaft, die in dieser Studie im Detail vorgestellt werden wird, hatte aufgrund von Arbeitslosigkeit mit massiven Problemen zu kämpfen. Auch dieser sicherlich wichtige Unterschied kann daher die unterschiedlichen Reaktionen auf die Bedrohung von Rechts nicht ausreichend erklären. Ein dritter Unterschied betrifft die »Bedrohung«, die Nationalsozialisten in Deutschland sowie die rechten Ligen in Frankreich für die Arbeiterbewegung darstellten. Dabei kann die in der Forschung ausführlich debattierte Frage, ob die französischen Ligen oder die Parti Social Français als »faschistisch« anzu­ sehen sind, offen gelassen werden.33 Wichtiger demgegenüber ist erstens, was die »Bedrohung« praktisch für die Linke bedeutete. In Deutschland, und Leipzig ist hier keine Ausnahme, stellte die SA eine physische Gefahr für Leib und Leben von Mitgliedern der Arbeiterbewegung dar.34 Die SA marschierte regelmäßig in die »roten« Viertel Leipzigs und schuf sich dort mit ihren Sturmtavernen eine dauerhafte Präsenz, von denen immer wieder Gewalt ausging. Auch in Lyon organisierten die Ligen »Expeditionen« auf Motorrädern in kommunistisch regierte Vororte Lyons, die ähnlich als Invasionen begriffen wurden.35 Darüber hinaus kam es auch in Lyon zu politischer Gewalt. Insbesondere in den Frühjahrsmonaten 1934 führten Demonstrationen im Zentrum Lyons immer wieder zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Rechten und Linken, auch wenn das Niveau an Gewalt in Lyon niemals ähnliche Ausmaße wie in Leipzig annahm.36 Zweitens ist die Wahrnehmung der Bedrohung von Bedeutung. In Deutschland unterschätzten Sozialdemokraten und, mit Einschränkungen, auch Kommunisten die nationalsozialistische Bedrohung.37 Die französische Linke hingegen, das warnende Beispiel Deutschlands und auch Österreichs vor Augen, überschätzte wohl eher die Gefahr, die von den Ligen ausging. Aber dies lässt sich im Nachhinein leicht sagen. Insgesamt wird wohl eher die Wahrnehmung als die physische Realität der Bedrohung von Rechts die Reaktion der französischen Linken erklären können. 32 Statistisches Amt Leipzig, Monatsbericht Juli 1932. 33 Aus der umfangreichen Literatur zur radikalen Rechten Frankreichs sei verwiesen auf Passmore, Croix de Feu; ders., Boy Scouting; ders., Liberalism; Sick; Müller, Fascism; ders., Protest; ders., Faschisten; Soucy, First Wave; ders., Second Wave; ders., French Fascism; Machefer; Noiriel, Origines; Paxton, Peasant Fascism. Einen Überblick über die »Faschismus«-Debatten in Frankreich bietet Jenkins. 34 Über die bereits erwähnte Literatur hinaus Longerich. Das erste Kapitel dieser Studie wird sich der politischen Gewalt in Leipzig en detail widmen. 35 Tartakowsky, Raum. Sie betont, dass die »Einfälle« der radikalen Rechten in proletarische Viertel als feindliche Provokation aufgefasst wurden. Eine Ausarbeitung dieses Arguments findet sich in dies., Manifestations. 36 Passmore, Liberalism; Fauvet-Messat; Kap. 5 dieser Arbeit 37 Mallman, Kommunisten, S. 365–371. Zur SPD Pyta.

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Ein letzter wichtiger Unterschied schließlich betrifft die organisatorische Stärke der beiden Arbeiterbewegungen. Die französische proletarische Linke war zumindest ebenso zersplittert wie die deutsche; rein numerisch war sie deutlich schwächer als ihr deutsches Gegenstück. Die deutsche Sozialdemokratie hatte ein ganzes Netz aus Vereinen geknüpft, von der Forschung oftmals in Kombination mit Gewerkschaften und Partei als Milieu bezeichnet, das, zumindest in der Theorie, alle Lebensbereiche der Arbeiter abdecken sollte: »Sozialdemokraten von der Wiege bis zur Bahre«, wie es pointiert hieß.38 Französische Sozialisten hatten niemals etwas Vergleichbares geschaffen.39 Auch die Schwäche der deutschen Gewerkschaften relativiert sich mit Blick nach Frankreich, wo noch weniger Arbeiter gewerkschaftlich organisiert waren. Nach den großen aber gescheiterten Eisenbahnerstreiks 1919/20 blieben dort größere Streikbewegungen eine Seltenheit.40 Ein Blick auf die kommunistischen Parteien zeigt ein ähnliches Bild. Mit 252.000 zahlenden und 360.000 eingeschriebenen Mitgliedern war die KPD die stärkste kommunistische Partei weltweit, sieht man von der Sowjetunion ab.41 Die französische PCF hingegen verwandelte sich kurz nach dem Spaltungskongress von Tours 1920 in eine politische Sekte.42 Sie wurde, zumindest vor der Epoche der Volksfront, nie zu einer 38 Zum Milieu im Kaiserreich, Roth; Lidtke; zum Milieu in der Weimarer Republik Lepsius, Parteiensystem; Rohe, Wahlen; Weichlein. Walter u. Lösche hingegen sprechen sich gegen den Begriff »Milieu« aus und plädieren stattdessen für denjenigen der »Sozialdemokratische Solidargemeinschaft«. Speziell zu Leipzig, wo es besonders ausgeprägte Milieustrukturen gab, Adam. Damit soll selbstredend nicht behauptet werden, dass alle oder gar die meisten Arbeiter zur SPD, KPD oder zum Milieu gehört hätten. Der Milieubegriff in dieser Studie bezieht sich somit nicht etwa auf alle Arbeiter in einem Viertel, sondern auf das »linksproletarische« Milieu im Sinne Mallmanns. 39 Verglichen mit der Historiographie zur deutschen SPD ist diejenige zur französischen SFIO eher dünn, was bereits andeutet, dass politische Parteien in der französischen Arbeiterbewegung eine geringere Rolle spielten. Zur SFIO Lefranc, Mouvement; Willard. Frankreich ist insbesondere bekannt für den Munizipalsozialismus in sozialistisch oder kommunistisch regierten Kommunen, wie etwa in Villeurbanne bei Lyon, dazu Meuret. Dies war allerdings nicht mit dem dichten Vereinsnetz in Deutschland zu vergleichen. Siehe in diesem Kontext auch die Studie zu den Colonies des Vacances von Downs. 40 Die Schwäche der französischen Arbeiterbewegung in der Zwischenkriegszeit wird etwa von Noiriel, Workers, S. 142–157, geschildert. Einer der Gründe für diese Schwäche lag, so Noiriel, in der Entwurzelung der französischen Arbeiter, die, verglichen mit ihren deutschen Kollegen, nicht in den Traditionen der Arbeiterbewegung verankert waren. Weiterhin Ochandiano, Lyon, S. 225. 41 Weitz, State Power; ders., Communism, ders., Popular Communism. Weitz argumentiert, dass sich die Stärke der deutschen KPD vor der Periode der Volksfront, als die meisten europäischen kommunistischen Parteien zu Massenparteien wurden, aus den massiven Interventionen des deutschen Staates in die soziale Sphäre im Anschluss an den Weltkrieg erklären lässt. Da die KPD die Interessen von Arbeitern gegenüber dem Staat verteidigte, wurde sie für Arbeiter attraktiv. In Frankreich hingegen konnte die PCF erst dann an Unterstützung gewinnen, als der Staat massiv in soziale Beziehungen eingriff. 42 Unmittelbar nach der Spaltung der sozialistischen Partei 1920 hatte die PCF etwa 110.000 Mitglieder. Bis 1932 sank diese Zahl auf, je nach Quelle, 25.000 (Mortimer, S.  113) oder

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»sozialen Bewegung« wie die KPD in Deutschland.43 Selbst in Regionen in denen die PCF stark war, wie etwa im »banlieue rouge« von Paris, nahm ihre Mitgliedschaft erst im Verlauf der Krise der 1930er Jahre massiv zu.44 In Anbetracht dieser unterschiedlichen Ausgangssituation ist das Ergebnis – eine massive Mobilisierung in Frankreich, keine vergleichbare Mobilisierung in Deutschland – umso mehr erklärungsbedrüftig. Daher sollen im Folgenden in vergleichender Weise die beiden Arbeiterbewegungen und ihre internen Dynamiken untersucht werden. Damit soll zu einem Verständnis der Mobilisierungserfolge in Frankreich und deren Ausbleiben in Deutschland beigetragen werden. Um die Dynamiken an der Basis im Detail nachvollziehen zu können, wird sich die Arbeit auf zwei Städte, Leipzig und Lyon, konzentrieren, wobei die erste Fallstudie mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 endet, die zweite mit dem Ende der Volksfront 1938. Zwei Einwände ließen sich gegen diese Vorgehensweise erheben. Trifft es überhaupt zu, dass sich deutsche Sozialdemokraten und Kommunisten nicht nach einer Art Einheitsfront sehnten? Klaus-Michael Mallmann, der so überzeugend gegen das Bild einer bolschewisierten KPD argumentiert hat, be­hauptet, 32.000 (Harr, S. 13) Mitglieder. Genaue Zahlen für Lyon existieren nicht. Mann, Forging, S. 148–150, behauptet, die PCF in Lyon hätte in den 1920er Jahren etwa 1.500 Mitglieder gehabt. Allerdings scheint mir diese Zahl zu hoch zu sein, nicht zuletzt weil er behauptet, die Partei hätte 1936 nur 894 Mitglieder gehabt. Seine Studie zu »politischen Identitäten« von Seiden- und Metallarbeitern in Lyon, und vor allem den kommunistischen Präferenzen der letzteren, hat meines Erachtens keine ausreichende Quellenbasis, nicht zuletzt weil er die Akten der lokalen PCF, die sich in den Archives Départementales Seine-Saint-Denis (AD SSD) befinden, nicht konsultiert hat. In Marseille, einer ähnlich großen Stadt, gab es 1932 gerade mal 1.000 Kommunisten; an einer assemblée générale der PCF am 11. Februar 1934 nahmen gerade mal 83 (!) Kommunisten teil, Daumalin u. Domenichino, S.  55. Die KPD demgegenüber hatte im August 1921 157.613 Mitglieder, eine Zahl, die bis September 1923 auf 294.230 stieg, bevor sie wieder auf 121.394 im April 1924 abfiel. Erst 1930 nahmen die Zahlen wieder zu, und Ende 1932 zählte die KPD 360.000 eingeschriebene und 252.000 beitragszahlende Mitglieder, Mallmann, Kommunisten, S. 87. In Leipzig hatte die KPD 1932 6.634 Mitglieder, die SPD 1930 29.171, was bedeutet, dass 3,7 % der Bevölkerung Leipzigs in der SPD organisiert waren; die SAJ hatte 1.602 Mitglieder (1,4 % der Jugend), der ADGB 115.219, darunter 23.076 Frauen – alle Zahlen nach Vogel, S. 669f, 677, 728 f. Schreiber jedoch behauptet, die KPD in Leipzig hätte 1932 13.635 Mitglieder gehabt. Im März 1932 gab es 63 kommunistische Fabrikzellen und 206 Straßenzellen in Leipzig, Mallmann, Kommunisten, S. 155. Angesichts dieser Zahlen ist die Behauptung von Passmore, Liberalism, S. 166, die deutsche Arbeiterbewegung sei verglichen mit der französischen schwach gewesen, über­ raschend und irreführend. 43 Zur PCF Brunet, Parti Communiste; Tartakowsky, Histoire du P. C. F.; dies., Réflexsions; Kriegel, Congrès; dies. Communistes; Fauvet; Mortimer; Mischi; Dhaille-Hervieu; Courtois; Courtois u. Lazar. Zur PCF in Lyon Olivieri; Mann, Forging. 44 Siehe insbesondere die brillante Arbeit von Fourcaut, Bobigny. Zur selben Kommune ­Stovall. Allgemein zur Verankerung der PCF Girault, Implantation; Depretto u. Schweitzer. Girault und seine Ko-Autoren und Ko-Autorinnen betonen, dass die PCF erst 1935 während der Mobilisierungsphase der Volksfront zu wirklicher Stärke gelangte. In sozialhistorischer Perspektive hierzu Noiriel, Workers.

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unter anderem mit Verweis auf Leipzig, dass das »links-proletarische Milieu«, das sowohl KPD als auch SPD umfasste, die offiziellen partei-politischen Grabenkämpfe relativ intakt überstand. Im alltäglichen Umgang, in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz, interagierten Sozialdemokraten und Kommunisten relativ konfliktfrei, so das von Mallmann gezeichnete Bild. Wenn es darum ging, einen gemeinsamen Feind, namentlich die Nationalsozialisten, auch mit physischen Mitteln abzuwehren, schlossen sich Kommunisten und Sozialdemokraten gar zusammen. In Leipzig etwa gab es, wenn wir Mallmann Glauben schenken, nichts als Harmonie zwischen SPD und KPD.45 Demgegenüber wird diese Arbeit zeigen, wie sehr Konflikte den Alltag von Sozialdemokraten und Kommunisten prägten. Gewaltsame Zusammenstöße zwischen Anhängern beider Parteien, in einem Fall gar die Ermordung eines jungen Sozialdemokraten durch Kommunisten, waren keine Seltenheit in Leipzig. Nur gelegentlich kämpften Kommunisten und Sozialdemokraten gemeinsam gegen Nationalsozialisten. In Lyon dagegen schlossen sich Arbeiter verschiedener Richtungen im Frühjahr 1934 zusammen, um gegen die radikale Rechte vorzugehen. Aber hätte eine bessere Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten an der Basis überhaupt irgendeinen Unterschied gemacht, ließe sich zweitens kritisch fragen. Ist dies nicht eine gleichsam romantisierende Suche nach verpassten Möglichkeiten, wie Mallmann argumentiert? Seiner Auffassung nach konnte die (für ihn existierende)  Kooperation zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten keinen wirklichen Unterschied machen. Die »politische Großwetterlage« war diesbezüglich eindeutig, die Parteiführungen zu weit voneinander entfernt, um irgendeine Art von Übereinkunft zu erreichen. Darüber hinaus hatten sich die Gewerkschaften von der SPD gelöst, so dass etwa ein Generalstreik nach dem Preußenschlag unmöglich wurde. Kurz gesagt, selbst eine Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten auf lokaler Ebene hätte keinerlei Unterschied gemacht.46 45 Mallmann, Kommunisten, S. 262, 377. Ähnlich argumentiert Harsch, S. 103, 196 f. Harsch behauptet, allerdings kaum mit Belegen, dass sich Sozialdemokraten nach einer Einheitsfront mit den Kommunisten sehnten. Die Ergebnisse dieser Studie zu Leipzig sprechen eine andere Sprache. Weiterhin H. Weber, Wandlung, S. 239. Auch er behauptet ohne viele Belege, die Massen einfacher KPD-Mitglieder hätten sich nach einer Einheitsfront mit Sozialdemokraten gesehnt, die einzig wegen der kommunistischen Führung nicht zustande kam. Demgegenüber betont Vogel, S. 587, 651, zurecht die wachsende Entfremdung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, wobei er behauptet, die kommunistischen Parteimitglieder hätten sich dabei die antisozialdemokratische Linie der Parteiführung zueigen gemacht. In Vogels pro-sozialdemokratischer Darstellung scheiterten sozialdemokratische Versuche, eine Übereinkunft mit der KPD zu erzielen, einzig am Widerstand der Kommunisten. Aber auch er führt kaum Belege an. Auf der anderen Seite überschätzt LaPorte, Communist Party, S. 329–344, die Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten auf den Straßen während der »Antifaschistischen Aktion« im Frühjahr und Sommer 1932. Hierzu auch Voigt, Antifaschistische Aktion, sowie, zu Kreuznach in RheinlandPfalz, Schwindt. 46 Mallmann, Kommunisten, S. 365–380; Grebing, Flucht; Sywottek; Scharrer; Deppe.

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Mir scheinen solche Schlussfolgerungen voreilig zu sein. Als Gegenbeispiel mag etwa der berühmte Generalstreik gegen Hitler im »Roten« Mössingen dienen, auch wenn es sicherlich seine Gründe hatte, dass der Streik auf Mössingen beschränkt blieb und schnell zusammenbrach.47 Selbstredend sind Überlegungen in der Art von »was wäre nur gewesen, wenn…« hochgradig spekulativ. Das gleiche gilt allerdings auch für Argumente, dass eine Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten keinerlei Unterschied gemacht hätte. Vielleicht hätte ein versuchter Generalstreik in einem Bürgerkrieg mit anschließender Militärdiktatur (und nicht der NS-Herrschaft) geendet, vielleicht wären die Nationalsozialisten anders vorgegangen, hätten sie nicht die Arbeiterbewegung so einfach besiegt  – vielleicht. Gegenüber auf die »politische Großwetterlage« abzielenden Argumenten sei eine andere Spekulation erlaubt. Was wäre geschehen, hätte die Komintern etwa 1932 verstanden, wohin die fortgesetzten Angriffe auf die SPD führten und daher die KPD-Führung in Berlin angewiesen, ein Bündnis mit der SPD gegen die Nationalsozialisten anzustreben? Hätte eine solche Änderung der »politischen Großwetterlage« eine Massen­mobilisierung wie in Frankreich bewirken können? Die Ergebnisse der vorliegenden Studie geben jedenfalls Anlass zur Skepsis.48 Die Beziehungen zwischen einfachen Sozialdemokraten und Kommunisten waren zu konfliktbelastet. Vermutlich hätte es für eine andere Reaktion der deutschen Arbeiterbewegung einer Kombination verschiedener Faktoren, sowohl an Parteispitzen als auch im lokalen Rahmen, bedurft, ebenso wie es in Frankreich einer Kombination verschiedener Faktoren bedurfte, um die Formierung der Volksfront zu ermöglichen. Diese Arbeit wird daher bewusst nur eine Teilantwort auf ein komplexes historisches Problem bieten können. Dabei soll weder nach »verpassten Möglichkeiten« gefragt noch das Handeln der lokalen Akteure als alternativlos dargestellt werden.49 Vielmehr geht es darum, die Dynamiken zu verstehen, die zu einer Mobilisierung in Lyon und deren Ausbleiben in Leipzig beitrugen. Die folgende Analyse der Arbeiterbewegung in Leipzig und Lyon wird insbesondere auf zwei Faktoren abheben: erstens die Rolle von Vertrauen und Misstrauen und zweitens die Bedeutung von Politik und der Politisierung des Alltags in Leipzig und Lyon. An dieser Stelle sind einige konzeptionelle Bemerkungen zum Thema »Vertrauen« angebracht. Studien über Vertrauen erlebten in den letzten Jahren einen 47 Althaus u. a. 48 Anders jedoch Peukert, KPD, S. 30–36. Ihm zufolge kam es zur spontanen Mobilisierung von Kommunisten und Sozialdemokraten, die »ihre« Viertel im Februar 1933 gegen SA und Polizei schützten. Da die sozialdemokratische Führung jedoch warten wollte, bis die neue Regierung einen Gesetzesbruch begangen hatte, und die kommunistische Führung warten wollte, ob die SPD willens war, sich einem Generalstreiksaufruf anzuschließen, was nicht der Fall war, kam es zu keiner breiteren Mobilisierung. Damit macht Peukert vor allem Entscheidungen an den Parteispitzen für die Entwicklungen verantwortlich. 49 Zu Fragen des »Emplotments« der Weimarer Republik Ziemann, Weimar.

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regelrechten Boom, zunächst in der Soziologie und Politologie, dann auch in der Geschichtswissenschaft.50 Diese Debatten können hier nicht im Detail rekonstruiert werden. Stattdessen soll anhand der anfangs geschilderten fiktionalen Rede Thälmanns und der Reaktion Dellhagens erläutert werden, worum es beim Vertrauen geht. Dabei soll zum Zwecke der Argumentation für den Moment ignoriert werden, dass es sich um eine konstruierte und fiktionale Begebenheit handelt. Die skeptische Frage Dellhagens – »aber meint ihr’s auch ehrlich, Kollege Thälmann« – deutet an, was auf dem Spiel stand: Ehrlichkeit und Wahrheit. Offensichtlich fiel es Dellhagen schwer zu glauben, dass Thälmann Sozialdemokraten dazu aufforderte, sich den Kommunisten im Kampf gegen den Faschismus anzuschließen, ohne dabei verborgene, sinistere Motive zu haben, die nicht zur Sprache kamen. Allerdings hatte Dellhagen keine Möglichkeit nachzuprüfen, ob Thälmann es ehrlich meinte oder nicht: Er musste sich entscheiden, ihm zu vertrauen, oder eben nicht. Vertrauen wird, wie die Szene zeigt, in Situationen relevant, in denen man entscheiden muss, ob ein Gesprächspartner ehrlich meint, was er sagt, und die Wahrheit spricht, ohne dass man eine Möglichkeit hat, seine Behauptungen wirklich zu überprüfen.51 In diesem Sinne stellen sowohl Vertrauen als auch Misstrauen Umgangsweisen mit einem Mangel an (verlässlicher) Information über die Aussagen des anderen, seine Identität, Motive oder Vergangenheit, dar.52 »Vertrauen« lässt sich somit wie folgt definieren: Jemandem zu vertrauen bedeutet zu glauben, dass sie oder er die Wahrheit sagt; jemandem zu misstrauen bedeutet nicht zu glauben, dass er oder sie die Wahrheit sagt. Diese Definition deutet an, von welch fundamentaler Bedeutung Vertrauen (wie auch Misstrauen) ist: Vertrauen organisiert das Wissen um die soziale Welt; es hat eine epistemische Qualität.53 Vertrauen ist daher in einer großen Anzahl von Situationen von Bedeutung, wenn nicht gar, wie manche Soziologen behaupten,

50 Soziologische und politikwissenschaftliche Literatur zu Vertrauen ist äußerst umfangreich. Diese Studie stützt sich vor allem auf Frevert, Vertrauen; dies., Annäherung; dies., Perspektive; Hartmann u. Offe; Reemtsma; Sztompka; Giddens; Luhmann. 51 Dies bedeutet, dass sich Vertrauen immer auf etwas Spezifisches bezieht, in Bezug auf das man vertraut oder nicht. Annette Baier beschreibt dies so: A vertraut B in Bezug auf X, wobei X die »Behauptung« ist, die sowohl implizit als auch explizit sein kann, der vertraut wird, Baier, S. 41–46. 52 Hartmann, S. 15; Endreß, 174 f. Hartmann bezieht sich auf Simmel, Endreß auf Giddens als theoretische Rahmung. Endreß bemerkt zurecht, dass, wer alles wüsste, nicht vertrauen müsste. Luhmann kritisierend meint Giddens, S.  31–33, Vertrauen sei nicht das Ergebnis eines Mangels an Macht, sondern eines Mangels an Information. 53 Niklas Luhmann, von dem eine zentrale soziologische Studie zu Vertrauen stammt, betont, dass Vertrauen ein »Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität« ist, da es hilft, Erwartungen über das Verhalten anderer Menschen in der Zukunft zu formulieren. Hier soll nicht gegen Luhmann argumentiert werden; vielmehr soll durch die Betonung von »wahr« und »falsch« der Unterschied zwischen Vertrauen und Misstrauen betont werden, die in Luhmanns Analyse »funktionale Äquivalente« sind.

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in allen Formen menschlicher Interaktion.54 Soziologen wie Niklas Luhmann betonen, dass »Vertrauen« immer von der Zukunft handelt. Da wir nicht wissen, ob Menschen so handeln werden, wie sie sagen, müssen wir ihnen entweder vertrauen oder misstrauen.55 Ähnlich argumentiert Jan Philipp Reemtsma, der notiert, jemandem zu vertrauen, bedeute zu glauben, dass er oder sie sowohl implizite als auch explizite Versprechen (in der Zukunft) halten werde.56 Mir erscheint eine solche Beschränkung von Vertrauen auf die Zukunft allerdings problematisch und zu restriktiv zu sein. Nicht nur muss man glauben, dass Menschen so handeln, wie sie es ankündigen, sondern ebenso, dass sie die Wahrheit über ihre Gegenwart und Vergangenheit sagen, etwa ihre Identität: Ist die Person wirklich ein Genosse, wie sie es vorgibt, oder ist sie nicht in Wahrheit ein Polizeispitzel? In allen diesen Situationen wird Vertrauen relevant. Wie können wir aber wissen, ob wir vertrauen können?57 Vertrauen ist nicht nur ein Weg, mit einem Mangel an Information umzugehen; es bedarf gleichzeitig einer Art »sekundärer« Information, die erlaubt zu entscheiden, ob man vertrauen soll oder nicht.58 In der Formulierung von Niklas Luhmann: »Vertrauen wird, weil die Wirklichkeit für eine reale Kontrolle zu komplex ist, mit Hilfe symbolischer Implikationen kontrolliert, und dazu dient ein grob vereinfachtes Gerüst von Indizien, die nach Art einer Rückkopplungsschleife laufend In­formationen darüber zurückmelden, ob die Fortsetzung des Vertrauens gerechtfertigt ist oder nicht.«59 Ob man vertrauen soll oder nicht, muss erlernt werden. Thälmanns Antwort auf Dellhagens skeptische Frage mag als Versuch interpretiert werden, Dell­ hagen mit »rationalen« Argumenten »beizubringen«, dass dieser ihm vertrauen könne. Wie erfolgreich eine solche »Lektion« in der historischen Realität allerdings gewesen wäre, muss mehr als zweifelhaft bleiben. Ein zentrales Ziel dieser Arbeit ist es, solche »Lernprozesse« zu untersuchen. Hierzu sollen Praktiken, die gleichsam als »Vertrauens-« beziehungsweise »Misstrauensbeweise« funk­ tionierten, analysiert werden. 54 Sztompka, S. ix. »Cutting across all those differences there is the emerging recognition of ›the necessity for and the ubiquity of trust in human relations and the impossibility of building continuing social relations without some element of trust and common meaning‹« Er zitiert Eisenstadt u. Roniger, S. 16 f. 55 Luhmann, S. 20 ff. 56 Reemtsma, S. 34. 57 Dabei ist umstritten, ob Vertrauen einer bewussten Entscheidung bedarf. Luhmann beispielsweise meint, Vertrauen sei etwas »prä-reflexives«; wer überlegen muss, ob er vertraut oder nicht, vertraut nicht wirklich, Hartmann, S. 25. Dieser bezieht sich auf Luhmann, S. 5. Ich halte diese Unterscheidung für zu strikt: entweder man vertraut oder nicht. Im Gegensatz dazu soll hier argumentiert werden, dass man sich durchaus entscheiden kann, jemand anderem in Bezug auf eine bestimmte Angelegenheit zu vertrauen, aber in Bezug auf anderes misstrauisch zu bleiben. 58 Endreß, S. 174 f., betont nicht nur, dass, wer alles wüsste, nicht vertrauen müsste, sondern ebenso, dass, wer nichts wüsste, nicht vertrauen könnte. 59 Luhmann, S. 35 f.

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Diese Lernprozesse fanden stets in sozialen Strukturen statt. Es handelte sich nicht um rein individuelle, sondern um kollektive Lernprozesse, da Erfahrungen von gerechtfertigtem oder ungerechtfertigtem Vertrauen und Misstrauen auf verschiedene Weise – in Zeitungen, Gerüchten, Reden, oder symbolischen Codes wie bestimmten Kleiderordnungen – kommuniziert wurden. In diesem Sinne wurde Vertrauen beziehungsweise Misstrauen im Milieu institutionalisiert. Sozialdemokraten in Leipzig lernten beispielsweise, nicht nur einzelnen Kommunisten zu misstrauen, sondern auch, dass sie Kommunisten grundsätzlich besser kein Vertrauen schenken sollten; Bauarbeiter in Lyon hingegen hatten gelernt, bestimmten Symbolen wie auch einem Slang zu vertrauen, gleichsam als Zeichen, dass Vertrauen gewährt werden konnte. Politische Aktivisten in Leipzig, sowohl in der SPD als auch in der KPD, hatten zahlreiche Möglichkeiten, wie diese Arbeit zeigen wird, Misstrauen sowohl gegenüber Mitgliedern der anderen Partei als auch gegenüber eigenen Parteigenossen zu lernen. Auch in Lyon hatten Sozialisten gute Gründe, an der Ehrlichkeit der Kommunisten zu zweifeln. In beiden Städten standen Anhänger der Arbeiterbewegung daher vor der Herausforderung, dieses institutionalisierte Misstrauen zu überwinden. In Lyon, so die These dieser Arbeit, hatten Aktivisten die Lektion zu misstrauen weniger nachhaltig verinnerlicht. Sozialisten und Kommunisten gelang es, Misstrauen zu überwinden. In Leipzig stellte sich dies als unmöglich heraus. Warum ist Vertrauen für das hier behandelte historische Problem so zentral? Folgt man Luhmann, so ist Vertrauen eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Kooperation, während Misstrauen grundsätzlich ein Hindernis für Kooperation darstellt.60 Wer nicht glaubt, das Gegenüber sei ehrlich in Bezug auf seine Identität oder seine Motive zur Zusammenarbeit, wird selbst kaum willens und in der Lage zu einer funktionierenden und effektiven Zusammenarbeit sein.61 Soziale und politische Massenbewegungen wie Parteien oder Gewerkschaften, die auf der freiwilligen Kooperation ihrer Mitglieder basieren, sind daher zutiefst auf vertrauensvolle Beziehungen angewiesen, insbesondere in Momenten illegaler oder gewaltsamer Aktivitäten, etwa bei Auseinandersetzungen mit Nationalsozialisten oder bei der Organisation eines Streiks. Diese Bedeutung von Vertrauen war den historischen Akteuren, vor allem in Leipzig, überaus bewusst. Worin liegt der spezifische Mehrwert einer Analyse von Vertrauen und Misstrauen? Weshalb lassen sich die Beziehungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten nicht besser als harmonisch oder unharmonisch, unter Verweis auf Begriffe wie Feindschaft oder Hass beschreiben? Zweifelsohne waren die Beziehungen zwischen beiden Gruppen in Leipzig alles andere als herzlich. In Lyon kam es zwar zu weniger Konflikten und insbesondere zu weniger Gewalt, aber auch hier waren die Beziehungen zwischen Anhängern verschie60 Ebd., S. 94 ff.; Sztompka, S. 103–105. 61 In einem solchen Fall müsste der Partner quasi permanent kontrolliert werden, um sicherzustellen, dass er nicht in Wahrheit feindliche Ziele verfolgt, was überaus aufwendig wäre.

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dener Lager in der Arbeiterbewegung kaum freundschaftlich. Indem Vertrauen und Misstrauen in den Mittelpunkt der Analyse gerückt werden, kommt jedoch ein spezifisches Problem zum Vorschein. Das Problem in Leipzig war nicht (nur), dass sich Kommunisten und Sozialdemokraten hassten – wenn sich denn Belege für eine solche Emotion finden ließen –, sondern vielmehr, dass Aktivisten sich niemals ganz sicher sein konnten ob ein (vorgeblicher) Genosse wirklich ein Genosse war, oder ob ihnen nicht Lügen erzählt und sie zum Narren gehalten wurden. In Leipzig herrschte, so die These, eine tiefe epistemische Unsicherheit: Man wusste nie, wer die Wahrheit sagte und wer nicht. Diese Unsicherheit fassen zu können ist der Mehrwert einer Analyse von Vertrauen und Misstrauen. Eine erfolgreiche Kooperation in dieser Situation allgemeiner epistemischer Unsicherheit in Leipzig war kaum möglich. Eine weitere, viel debattierte Frage ist, ob man Vertrauen einzig in Individuen hat, oder ob auch Institutionen vertraut werden kann.62 Im Kontext dieser Arbeit ist die Frage insofern von Bedeutung, als Parteien, insbesondere die KPD, von ihren Mitgliedern Vertrauen in die Partei als Organisation erwarteten.63 Die Mitgliedschaft aber weigerte sich in der Regel, der (abstrakten) Partei zu vertrauen, wie die Arbeit zeigen wird. Vielmehr vertrauten beziehungsweise misstrauten sie individuellen Parteimitgliedern. Für gewöhnlich vertrauten sie jenen Individuen, die sie persönlich kannten, während sie Parteioberen, mit denen sie kaum persönlichen Kontakt hatten, misstrauten und sie bisweilen verdächtigten, Spitzel oder Bonzen zu sein. Das Vertrauen in die Partei selbst hingegen, das die KPD verlangte, existierte kaum. »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser«, so lautet ein oftmals fälschlicherweise Lenin zugeschriebener Ausspruch.64 Die Aussagen von jemandem zu überprüfen mag in Situationen mangelnder Information als eine gute Alternative erscheinen.65 Weiß man nicht, ob eine Aufgabe wie abgesprochen erledigt wird oder ob jemand die Wahrheit sagt, so mag es sinnvoll erscheinen, ebendies zu kontrollieren  – dies in etwa hatten Kommunisten im Sinne, wenn sie von der »Kontrolle« sprachen: Sie wollten sicher stellen, dass Mitglieder ihre Aufgaben wie befohlen erledigten. Kontrollen könnten somit eine alternative Lösung der beschriebenen epistemischen Unsicherheit darstellen, sollten sie doch gerade Sicherheit schaffen. Und in der Tat, in Ermanglung von Vertrauen verließen sich sowohl Kommunisten als auch Sozialdemokraten in Leipzig vermehrt auf Techniken des Kontrollierens. Doch anstatt Probleme zu lösen, schufen die vielfachen Kontrollen neue Probleme. Zum einen stellten die zahlreichen Kontrollen einen immensen Arbeitsaufwand dar, der Aktivisten zutiefst frustrierte. 62 Reemtsma, S. 31 f., argumentiert, dass Institutionen vertraut werden könne. Im Gegensatz dazu Frevert, Vertrauen, S. 56 f. Siehe auch die Essays in Hartmann u. Offe. 63 Bundesarchiv Berlin (BArch) RY 1 I/4/1/74, Bl. 172 ff. Kap. 3 wird dieses Beispiel ausführlich diskutieren. 64 Wörtlich schrieb Lenin 1914 in einem Aufsatz »Über Abenteurertum«: »Nicht aufs Wort glauben, aufs strengste prüfen – das ist die Losung der marxistischen Arbeiter.« Vgl. John. 65 Luhmann, S. 68 f., 118 f.; Frevert, Vertrauen, S. 45–48.

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Zum anderen verdeutlichten die verschiedenen Formen der Kontrolle einfachen Parteimitgliedern, dass ihnen andere und vor allem ihre Parteioberen nicht vertrauten. Im Gegenzug waren die Parteimitglieder selbst nicht bereit, ihren Führungen zu vertrauen. Auf diese Weise schufen die Kontrollen neues Misstrauen innerhalb der Mitgliedschaft. Ein kurzes Beispiel soll den Punkt verdeutlichen. Kommunisten versuchten sozialdemokratische Organisationen zu infiltrieren, etwa um an Informationen über interne Differenzen in der SPD zu gelangen und Sozialdemokraten, die für kommunistische Propaganda empfänglich waren, ausfindig zu machen, aber auch um generell innerhalb der SPD gegen die sozialdemokratische Parteiführung zu agitieren, ohne sich dabei selbst als Kommunisten zu entlarven. Der SPD gelang es immer wieder, diese kommunistischen »Spione« zu enttarnen. Das Ergebnis war erstens, dass Sozialdemokraten einen weiteren »Beweis« hatten, dass Kommunisten nicht getraut werden konnte. Wie könnten sie »ehrlich« sein, wenn sie sich selbst fälschlich als Sozialdemokraten ausgaben? (Sozialisten in Lyon stellten im Übrigen exakt die gleiche Frage.) Zweitens aber schufen diese kommunistischen Spione auch Misstrauen innerhalb der SPD. Wer in der SPD konnte noch sicher sein, dass sein Sitznachbar wirklich ein sozialdemokratischer Genosse war? In Reaktion auf die Enttarnung eines kommunistischen Spions in der SPD verlangte die sozialdemokratische Parteiführung daher von ihren Kadern, eine Loyalitätserklärung zu unterzeichnen. Auf eine vielleicht etwas naive Weise versuchte die SPD, die Loyalität ihrer Funktionäre zu »kontrollieren«. Ein führender Sozialdemokrat brachte es auf den Punkt, als er die anwesenden Genossen aufforderte, ihre Nachbarn anzusehen und zu »prüfen«, das heißt, kritisch ihre sozialdemokratische Identität zu hinterfragen.66 Diese Aufforderung machte aber zugleich deutlich, dass die Führung der Partei der Ehrlichkeit und Treue ihrer Funktionäre nicht traute, sehr zum Ärger einiger älterer Genossen. Solche Aufforderungen schufen sicherlich keinen Enthusiasmus, für die Partei, die Republik und gegen die Nationalsozialisten zu arbeiten, sondern führten eher zu Verbitterung innerhalb der SPD. Systeme benötigen, wie Luhmann ausführt, auch eine gewisse institutionalisierte Form der Kontrolle und des Misstrauens. Richter etwa dürfen nicht einfach alles glauben, was ihnen ein Zeuge berichtet. Es bedarf daher einer fein abgestimmten Balance und Interaktion zwischen Vertrauen und Misstrauen und Formen der Kontrolle.67 In Leipzig existierte eine solche Balance in keiner Weise, wie diese Arbeit zeigen wird; im Gegenteil, Praktiken der Kontrolle verstärkten existierendes Misstrauen.68 Die Analyse der Bauarbeiter in Lyon hinge66 BArch, RY 1 I/2/705/23. Kap. 3 bietet eine ausführliche Diskussion des Falls. 67 Luhmann, S. 104 f. 68 Damit soll nicht behauptet werden, erst ab 1929 hätte sich Misstrauen ausgebreitet. Vielmehr ist zu vermuten, dass Beziehungen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten von Anfang an von Misstrauen geprägt waren, hierzu aus sozialdemokratischer Perspektive Vogel. Sowohl Vertrauen als auch Misstrauen müssen sich gleichsam täglich in der Praxis bestätigen. Diese Praxis wird Gegenstand dieser Studie sein.

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gen wird ein Beispiel dafür vorstellen, wie Vertrauen und Kontrollieren in Kombination miteinander funktionieren konnten. Praktiken, die zur Schaffung und Stärkung von Vertrauen beitrugen, und solche, die auf eine Überwachung von Bauarbeitern abzielten, ergänzten sich gegenseitig und trugen zur Schaffung eines starken Milieus bei, das seinen organisatorischen Ausdruck im Cartel Autonome du Bâtiment fand.69 Der konkrete Gegenstand dieser Arbeit sind mithin Praktiken.70 Diese Praktiken können Sprechakte, etwa Denunziationen, sein, aber auch kulturelle oder symbolische Praktiken wie das Tragen einer bestimmten Kleidung oder politischer Abzeichen oder physische Praktiken, etwa die Anwendung von Gewalt. Dies ist ein bewusst sehr breiter Begriff von Praktiken, weshalb es hilfreich sein mag, deutlich zu machen, was nicht im Vordergrund dieser Arbeit stehen wird: ideologische Fragen und Ansätze sowie die sozialen und politischen Projekte und Utopien von Gewerkschaftern, Sozialisten und Kommunisten.71 Diese werden nur insoweit berücksichtigt, als sie zu einem Verständnis von Vertrauen beziehungsweise von Politik im Alltag, wie sogleich auszuführen sein wird, beitragen. Schließlich sei angemerkt, dass die hier diskutierten Praktiken eine große Bandbreite an Interpretationen und Vergleichen zulassen. Das Tragen einer bestimmten Kleidung kann etwa als Ausdruck einer Identität aufgefasst werden. Verschiedene Kleidungsstile zu vergleichen könnte daher Aufschluss über die Bedeutung von Berufszugehörigkeiten oder, auf der anderen Seite, politischer Präferenzen für die Identität von Akteuren geben, je nachdem, welche Art von Symbolik, eine berufliche oder politische, verbreiteter war. Ebenso können verschiedene Formen von Gewalt (eine Schlägerei, eine Schießerei, oder Fensterstürze auf Baustellen) unterschiedliche symbolische Bedeutungen haben und etwa Aufschluss darüber geben, welche Art von Gewalt, welche Art von Waffen akzeptabel war und welche nicht. Ich hoffe, die Beschreibungen von Praktiken in dieser Arbeit so dicht gestaltet zu haben, dass sie alternative Interpretationen ermöglichen und inspirieren können. Meine eigenen Interpretationen der vorgestellten Praktiken werden daher ihrer Vielschichtigkeit explizit nicht gerecht, tragen aber in dieser Konzentration zu einem Verständnis der lokalen Politik bei.

69 Zur Bauarbeiterschaft und ihrer Organisationen in Lyon Ochandiano, Formes; ders., Lyon. 70 Der Fokus auf Praktiken ist durch Sven Reichardts Arbeiten inspiriert, Reichardt, Kampfbünde, S. 25 f. Leider reflektiert Reichardt selbst nur wenig auf den Begriff der Praxis, sondern gebraucht ihn, um Faschismus nicht von der Ideologie her, sondern von den Handlungen, der Praxis der Akteure zu definieren. Weiter ders., Praxeologie. Zur praktischen Seite des »doing politics« im parlamentarischen Kontext, Mergel, Kultur. 71 Zu internen politischen Debatten in KPD und SPD in Leipzig LaPorte, Stalinization; ders., Communist Party. Keine entsprechenden Arbeiten existieren für Lyon. Eine kritische Besprechung der Arbeit von LaPorte, der de facto eine recht traditionelle Geschichte der KPD in Sachsen bietet, findet sich bei S. Sewell.

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Ein zweiter zentraler Aspekt dieser Arbeit betrifft die Rolle, die Politik in der Arbeiterbewegung und ihren Kämpfen sowie im Alltag der Arbeiter spielte.72 Wo Politik stattfinden sollte und welche Kämpfe und Konflikte als politisch zu betrachten waren, war unter den historischen Akteuren zutiefst umstritten. In Lyon betonte das machtvolle Cartel Autonome du Bâtiment explizit seine antipolitische Haltung, was vor allem bedeutet, dass es unabhängig von politischen Parteien blieb. Politik und Politiker sollten, so die Vorstellung des Cartels, keine Rolle in gewerkschaftlichen Kämpfen spielen.73 In Leipzig waren Beschwerden über die Allgegenwart von Politik in verschiedenen Lebensbereichen an der Tagesordnung. In Kneipen hieß es etwa »Von Politik halt’s Maul!«, die Arbeitersportvereine verboten ihren Jugendorganisationen, Politik zu diskutieren, und Anwohner beklagten sich über Nachbarn, die jede Bagatelle »ins Politische zogen«, was ein Eingreifen der Polizei notwendig machte. Kommunisten hingegen versuchten, überall wo sie konnten, politisch zu agitieren. Die KPD forderte ihre Mitglieder auf, stets zuerst als Kommunisten zu handeln, im Verein, während Streiks oder in Wohlfahrtsämtern. Die hieraus resultierenden Konflikte betrafen nicht allein und nicht so sehr politische Inhalte, sondern die Rolle von Politik im Alltag und in sozialen Auseinandersetzungen insgesamt, ebenso wie die konkreten Orte, an denen Politik stattfand. In Leipzig entzweite dieser Konflikt Sozialdemokraten und Kommunisten, die jeweils ein fundamental unterschiedliches Verständnis von Politik hatten. In Lyon dagegen existierten solche Konflikte zwischen Sozialisten und Kommunisten über die Form des Politischen nicht. Diese Konflikte über die Rolle von Politik verdienen Beachtung. Die vorliegende Studie wird fragen, wo Politik stattfand, welche Kämpfe politisiert wurden und welche Konsequenzen dies für die Mobilisierungsfähigkeit der jeweiligen Arbeiterbewegung hatte. Insbesondere im Vergleich zwischen Leipzig und Lyon sind diese Fragen relevant. In Leipzig spielten Politik und, präziser, politische Parteien eine zentrale Rolle in der lokalen Arbeiterbewegung; in Lyon hingegen wurde die Arbeiterbewegung, zumindest vor 1934, von dem explizit anti-politischen Cartel Autonome dominiert. Was vermag dieser Unterschied zu erklären? 72 Wenn im Folgenden vom »Alltag« der Arbeiter gesprochen wird, so bezieht sich dies vor allem auf ihr tägliches Leben im Viertel und am Arbeitsplatz, in Freizeitorganisationen oder auf dem Wohlfahrtsamt. Da es in dieser Arbeit um die linke Arbeiterbewegung geht, ist ebenso der Alltag in den Organisationen der Arbeiterbewegung (Parteien, Gewerkschaften, Vereine) in den Blick zu nehmen. Für weitere Literaturhinweise zur Alltagsgeschichte siehe unten, Fn. 88. Weitere Ausführungen finden sich in Häberlen, Contesting; ders., Klassenkampf. 73 Zur Tradition des französischen Autonomen Syndikalismus Schöttler; Lefranc, Syndicalism; Moss, S. 27 f. Moss betont zurecht das Übergewicht der Syndicats gegenüber der sozialistischen Partei in Frankreich (und im Gegensatz zu Deutschland) im 19. Jahrhundert. Erst im Zuge der Volksfront konnte der Marxismus, so Moss, in der französischen Arbeiterbewegung Fuß fassen. Zu autonomen und anarchistischen Traditionen im Baugewerbe Ratel.

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Zunächst jedoch ist eine gewisse begriffliche Klärung vorzunehmen. Was bedeutet es zu sagen, dass eine Angelegenheit oder ein Konflikt »politisch« sei? Traditionellerweise wurde die Sphäre des Politischen mit derjenigen des Staates gleichgesetzt.74 Allerdings bemerkte Carl Schmitt bereits 1932, dass diese Gleichsetzung zunehmend anachronistisch wurde, da sich Staat und Gesellschaft gegenseitig durchdrangen, da »alle bisher staatlichen Angelegenheiten gesellschaftlich und umgekehrt alle bisher ›nur‹ gesellschaftlichen Angelegenheiten staatlich werden, wie das in einem demokratisch organisierten Gemeinwesen notwendigerweise eintritt«.75 Historisch wäre hierzu anzumerken, dass sich diese Durchdringung von Staat und Gesellschaft in den 1920er Jahren in Deutschland deutlich stärker bemerkbar machte als in Frankreich, wo dies erst im Zuge der Volksfront geschah.76 Schmitt selbst verwies daher auf die Unterscheidung zwischen Freund und Feind, die seines Erachtens Kern des Begriffs des Politischen war. Eine politische Einheit wie der Staat konstituierte sich dadurch, dass sie sich zu anderen Einheiten in Freund-Feind-Beziehungen setzte. Daher konnte es in seiner Lesart im strengen Sinne auch keine Innenpolitik geben. Die scharfen Auseinandersetzungen zwischen den politischen Parteien in der Weimarer Republik ebenso wie die Gleichsetzung von Politik mit Partei­ politik deutete er mithin als einen Zerfall der staatlichen Einheit.77 Mit Schmitt ließe sich in diesen gewalttätigen Auseinandersetzungen daher die Vorform eines Bürgerkriegs sehen. Allerdings lassen sich mit diesem Politikbegriff meines Erachtens die scharfen Auseinandersetzungen zwischen Arbeiterschaft und Unternehmertum [Patronat] in Lyon nicht fassen, die dort von Arbeiterseite dezidiert als apolitisch begriffen wurden. Gegenüber einem auf Staatlichkeit verengten Politikbegriff wurde in den 1960er und 1970er Jahren ein wesentlich breiterer Politikbegriff ins Feld geführt, der nach der Organisation von Macht auch im gesellschaftlichen Alltag fragte und diesen mithin als politisch betrachtete. »Das Private ist Politisch«, hieß es schlagwortartig. Unter dieser Prämisse ließ sich etwa die politische Relevanz von Alltagsgegenständen wie Möbeln und ihrer Ästhetik untersuchen.78 In zweierlei Hinsicht war dies ein produktiver Schritt. Einerseits führte er zu einem wesentlich komplexeren Bild gesellschaftlicher Machtbeziehungen, das sich nicht mehr auf den Staat konzentrierte. In politischer Hinsicht – und hierüber wird man streiten können – war der Schritt insofern produktiv, als er neue Aktionsfelder für politisches Handeln öffnete. Nun wurden auch Aktivitäten auf dem Spielplatz und in der Schule, im Betrieb und vor allem in der Familie als politische betrachtet.79 In historisch-analytischer Hinsicht scheint mir die74 Zur Begriffsgeschichte von »Politik« Sellin, insbesondere S. 872–874. Ähnlich Maier, S. 4 f. 75 Schmitt, S. 24. 76 Hierzu P. Weber. 77 Schmitt, S. 32. 78 Hierzu beispielsweise Eley, Politik; Auslander; Foucault. 79 Eley, Politik, S.  18–20. Im Gegensatz zu Eley würde ich nicht davon sprechen, dass diese »Umfelder« als politisch »erkannt« wurden – sie wurden zu politischen gemacht.

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ser Schritt jedoch insofern problematisch zu sein, als er historischen Akteuren ein Verständnis von Politik oktroyiert, das diese nicht teilten.80 Neuere Ansätze zur Politikgeschichte machen diese sich wandlenden Bestimmungen des Politischen zum Thema. Anstatt historische Praktiken mit einer vorgegebenen Definition des Politischen zu analysieren, widmen sie sich daher den wandelnden Grenzen des Politischen und fragen danach, wo Akteure selbst Grenzlinien zwischen der politischen Sphäre und beispielsweise Religion, Wirtschaft oder Sozialem zogen. Das Feld des Politischen wird unter diesem Blickwinkel selbst als umkämpft und historisch wandelbar angesehen.81 Die vorliegende Studie nimmt einerseits diese Ansätze eines historisierenden Politikverständnisses auf. Andererseits jedoch ist eine gewisse Minimaldefinition notwendig, um die Auseinandersetzungen darüber, was Politik sein sollte und wo sie stattfinden sollte, zu verstehen. Eine Begriffsbestimmung der feministischen Theoretikerin Anne Philipps erscheint hierbei hilfreich. Sie beschreibt das Politische als all jenes, was über die »privaten, lokalen Interessen« der Menschen hinausgeht und »die Belange der Gemeinschaft [Community] insgesamt betrifft«.82 Diese Bestimmung des Politischen schließt den Staat ein, ist aber nicht auf ihn beschränkt. Ein politischer Streik würde, um ein Beispiel zu geben, nicht nur die unmittelbaren Interessen der beteiligten Arbeiter, höhere Löhne etwa, betreffen, sondern hätte die Gesellschaft und ihre Veränderung insgesamt im Blick, was etwa bedeuten könnte, dass der Streik zur Gewinnung einer Wahl beitragen sollte oder auch, weiter gefasst, als ein Schritt in Richtung Überwindung des Kapitalismus gedacht wurde. Ein politischer Betriebsrat repräsentierte nicht nur die Interessen der Arbeiter als Angestellte der Firma, sondern zielte auf eine Transformation der Gesellschaft insgesamt ab, zumeist in kommunistischem Sinne. Anders formuliert: einen Konflikt, eine Organisation oder eine Angelegenheit als politisch zu konstruieren, bedeutet, ihr eine Bedeutung zu geben, die über die direkt Betroffenen hinaus weist. Welche Konflikte, Praktiken oder Angelegenheiten das Private überschreiten und die Community insgesamt betreffen ist jedoch, und dies ist entschei80 Aus diesem Grund bin ich gegenüber (feministischen) Ansätzen skeptisch, die Aktivitäten von Frauen als politisch beschreiben, selbst wenn die betroffenen und handelnden Frauen es explizit ablehnten, ihre Tätigkeiten als politische anzusehen, wie bei Davis. Stattdessen sollten Historikerinnen und Historiker fragen, warum Frauen sich entschieden, ihre Tätigkeiten als unpolitisch hinzustellen, welche Konsequenzen dies hatte und welches Politik­ verständnis sich dahinter verbarg. 81 Frevert, Politikgeschichte; Eitler; Weidner; dort auch weitere Literatur. 82 Philips, S. 79. Englisch: [The political refers to issues that transcend people’s] »more private, localized interests and tackled what should be the community’s common concerns.« Der englische Begriff der Community lässt sich meines Erachtens nur ungenügend ins Deutsche übersetzen; »Gemeinschaft« trifft die Idee der Community jedenfalls kaum, da sie einen stärkeren Zusammenhalt impliziert. Eher changiert die Bedeutung von Community zwischen der Bedeutung der deutschen Begriffe »Gemeinschaft«, »Gemeinde« und »Milieu«. Im Folgenden wird daher teils der englische Begriff gebraucht, wo es angebracht erscheint aber auch das deutsche »Gemeinschaft« in diesem Sinne benutzt.

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dend, stets eine zur Debatte stehende Frage und damit historischem Wandel unterworfen.83 Die Beantwortung dieser Frage hängt letztendlich davon ab, wie die »Organisation von Macht« in der Gesellschaft verstanden wird, und was als rein private Angelegenheit angesehen wird. Werden beispielsweise Eigentumsbeziehungen als Kern gesellschaftlicher Machtbeziehungen angesehen, so kann ein Diebstahl im Supermarkt als politischer Akt aufgefasst werden; werden die Eigentumsrechte hingegen als Naturrechte aufgefasst, die nicht historischem Wandel unterworfen sind – und beides sind dezidiert politische Positionen! –, dann ist ein Diebstahl schlicht eine Verletzung solcher Rechte, aber kein politischer Akt. In anderen Worten, was als politisch angesehen wird, ist selbst eine politische Frage. Sieht man, um ein anderes Beispiel zu wählen, Geschlechterbeziehungen als ein zentrales Element der gesellschaftlichen Ordnung an und nicht als ein rein privates Verhalten ohne jegliche gesellschaftliche Relevanz, so können geschlechtsspezifische Handlungen eine politische Relevanz erhalten, insofern sie Geschlechterhierarchien und Geschlechternormen reproduzieren oder infrage stellen. Der entscheidende Punkt ist, dass Praktiken jeweils von Akteuren als politisch oder unpolitisch konstruiert werden  – sie sind niemals inhärent politisch oder unpolitisch. Aufgabe historischer Forschung sollte es sein, so die Überlegung, zu rekonstruieren, welche Bereiche und Konflikte von Akteuren wie auch Kommentatoren (beispielsweise ob Gewalt zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten von sozialdemokratischer Seite als politisch wahrgenommen wurde)  als politisch beziehungsweise un­ politisch konstruiert wurden, weshalb dies geschah, etwa ob dies eine legitimierende oder delegitimierende Funktion hatte, und welche Konsequenzen daraus folgten. In demokratisch verfassten Gesellschaften  – und als solche sind sowohl die Weimarer Republik als auch die französische Dritte Republik zu betrachten – impliziert die Politisierung einer Frage, dass diese zumindest theoretisch alle Mitglieder der polis angeht, öffentlich zur Debatte steht und ein Gegenstand staatlichen Eingreifens werden kann; es ist in jedem Fall nicht nur eine Frage für Experten. Kommunisten sowohl in Leipzig als auch in Lyon versuchten, vielerlei Alltagspraktiken und Konflikten eine politische Dimension zu geben. Aus ihrer Sicht waren allerlei »kleine« Kämpfe Teil vom »großen« Klassenkampf, der soziale Beziehungen in kapitalistischen Gesellschaften strukturierte. Solchen Alltagskonflikten eine politische Bedeutung beizumessen wird im Folgenden und in einer ersten Bedeutung als Politisierung des Alltags aufgefasst. Ein Konflikt zwischen Vermieter und seinen Mieterinnen etwa konnte aus dieser Perspektive Klassengegensätze widerspiegeln und so repräsentiert werden. Indem Kommunisten solche Dispute in einem politischen Rahmen interpretierten, versuchten sie unter Bezugnahme auf Alltagserfahrungen, Klassenbewusstsein zu

83 Frevert, Neue Politikgeschichte, S. 13 f.; Eisenstadt, S. 355. Zum Begriff der »umstrittenen Grenzen des Politischen« Benhabib.

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schaffen. In ähnlicher Weise versuchte die kommunistische Presse, Konflikte zwischen der SPD angehörenden städtischen Fürsorgepflegern und (kommunistischen) Fürsorgeempfängern dazu zu gebrauchen, den praktischen »Sozialfaschismus« der SPD zu entlarven. Auch solche Konflikte betrafen nicht allein die involvierten Mitarbeiter der städtischen Sozialfürsorge und ihre Klienten, sondern die Arbeiterklasse insgesamt. Auf der anderen Seite versuchten Sozialdemokraten, diese Konflikte als unpolitisch darzustellen. Auch Alltag war niemals per se politisch oder unpolitisch, sondern wurde stets als solcher konstruiert. Konflikten eine politische Bedeutung zu geben hatte praktische Konsequenzen. Streiks etwa hatten aus kommunistischer Perspektive stets das Potential, sich zu einem politischen Kampf zu entwickeln, und Kommunisten versuchten bewusst, eine solche Entwicklung zu forcieren. Aus Sicht reformistischer Gewerkschafter in Leipzig wie auch aus Sicht autonomer Bauarbeiter in Lyon hingegen betraf ein Streik in erster Linie die Arbeiterschaft des Betriebs oder der Branche und die Arbeitgeberseite. In Streiks ging es ihnen um höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen, nicht aber um Machtbeziehungen in der Gesellschaft insgesamt. Streiks waren aus dieser Perspektive nicht Teil  eines revolutionären Kampfes, und sie sollten es auch nicht sein. Streiks aber in revolutionärer Absicht zu führen hatte Folgen für ihre Durchführung: In der Regel bedeutete es eine Vermeidung von Kompromissen und eine Radikalisierung des Streiks. Bei diesen Akten handelte es sich um bewusste Formen der Politisierung. Der Alltag von Arbeitern aber konnte auch auf weniger intendierte Weise politisiert werden. Konflikte zwischen (sozialdemokratischen) Fürsorgepflegern und ihren (kommunistischen) Klienten konnten zum Beispiel eine politische Dimension erhalten, wenn der Fürsorgepfleger dem Fürsorgeempfänger das Tragen eines kommunistischen Abzeichens zum Vorwurf machte.84 Der Konflikt zwischen SPD und KPD, bei dem es zweifelsohne auch um Machtbeziehungen im Staate ging, wurde so im Alltag von Arbeitern und Arbeitslosen erlebbar. Individuelle Konflikte wurden mit politischem Gehalt aufgeladen. So fand Politik nicht nur in Parlamenten oder in Zeitungen statt, sondern auch vor den Häusern der Menschen. Politik wurde, wie zu zeigen sein wird, zur Alltags­erfahrung von vielen. Intendiert oder nicht, Alltagsaktivitäten und -kämpfe der Arbeiterschaft konnten eine (partei)politische Dimension erhalten. Dies ist ein Aspekt der Politi­sierung des Alltags. Ein zweiter Aspekt betrifft die Art und Weise wie Poli84 Zu solchen Konflikten Brandmann; Crew, Germans. Crew unterbewertet die Rolle von Politik allerdings. Zur Politisierung von Sozialbeziehungen zwischen Arbeitern und Arbeit­ gebern durch staatliche Interventionen Steiger. Mit vergleichender Perspektive auch M. Geyer. Im Gegensatz zu Frankreich wurde die Kriegsversehrtenbewegung in Deutschland, so Geyer, in die politische Arena gezogen und war mit politischen Parteien verbunden.

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tik im konventionellen Sinn Teil des Alltags wurde, etwa indem an Orten politisch agitiert wurde, an denen Arbeiter zusammen kamen, wie Kleingarten­ kolonien oder Schwimmbäder. Ein kommunistischer Sprechchor im Freibad, der zur Wahl der »Liste 3« aufrief, politisierte nicht den Alltag in dem Sinne, dass er Alltagsaktivitäten eine politische Bedeutung gab, machte aber dennoch Parteipolitik zum Teil des Alltags, erlebbar im Schwimmbad, wo man eigentlich entspannen wollte, so der Vorwurf der Sozialdemokraten. Politische Gewalt, die »Fahnenkriege« in den Straßen,85 die permanente politische Agitation an allen möglichen Orten – alles dies machte Politik im konventionellen Sinne zum Teil des Alltags. Es war eine Politisierung von Alltagsräumen. An dieser Stelle können die verschiedenen Bedeutungen von »Politisierung« zusammengefasst werden. Erstens bedeutet Politisierung, einer alltäglichen Aktivität oder einem Konflikt eine »politische« Bedeutung zu geben, die diese mit gesamtgesellschaftlichen Fragen – »the community’s common concern« – verbindet. Dies konnte sowohl intendiert als auch unintendiert geschehen. Zweitens ist mit dem Begriff gemeint, dass Politik durch Praktiken, die im konventionellen Sinne politisch waren (etwa Wahlwerbung oder Propaganda für Parteien), in Alltagsräumen wie Straßen, Schwimmbädern oder Gartenkolonien erlebbar wurde. Beide Dimensionen sind eng miteinander verbunden. Sah man in jedem »kleinen« Alltagskonflikt, etwa in den Kämpfen von Kleingartenbesitzern für ihre Gärten, eine politische Bedeutung im Sinne des Klassenkampfs, so machte es Sinn, in Kleingärten auch politisch für andere Themen zu agitieren. Diese Arbeit wird analysieren, wie Politik auf allen diesen Wegen Teil des Alltags in Leipzig wurde, während die Arbeiterbewegung in Lyon vor 1934 deutlich weniger politisiert blieb, wie im vierten Kapitel zu zeigen sein wird.86 Ziel der Arbeit ist es, diese Unterschiede und ihre Konsequenzen auszuleuchten. In Leipzig hatte, so die These, die Politisierung der Arbeiterbewegung eine demobilisierende Wirkung und trug somit zum Kollaps der Arbeiterbewegung bei. In Lyon hingegen war es paradoxerweise gerade die relativ unpoli­ 85 Kerbs u. Stahr. 86 Damit soll weder behauptet werden, die Politisierung der Arbeiterbewegung in Leipzig sei 1929 ein Novum gewesen, noch dass die Arbeiterbewegung in Lyon erst 1929 »depoliti­ siert« wurde. Vielmehr kamen hier langfristige nationale Traditionen zum Ausdruck. Bereits im Kaiserreich hatte sich in Deutschland ein starkes, politisiertes sozialdemokratisches Milieu ausgebildet, das im Gefolge der Revolution von 1918/19 sicherlich weiter politisiert wurde, während die französischen Gewerkschaften der 1906 beschlossenen Charte d’Amiens ihre Unabhängigkeit gegenüber politischen Parteien und Sekten betonten. Zur Sozialdemokratie im Kaiserreich beispielsweise Anderson. Zur Weimarer Republik Peukert, Weimarer Republik; Canning u. a. Auch in Leipzig hatte die Revolution politisierende Effekte, so Dobson. Zur speziellen Politisierung der kommunalen Wohlfahrt in Leipzig Brandmann. Eine vergleichende Perspektive auf Wohlfahrtssysteme bietet Kott. Zum revolutionären Syndikalismus in Frankreich Jennings; Amdur. Diese Studie wird sich nur am Rande mit den Ursprüngen dieser Politisierung befassen und sich stattdessen auf deren Folgen konzentrieren.

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tisierte Situation vor 1934, die eine erfolgreiche politische Mobilisierung gegen die radikale Rechte erlaubte, wie Kapitel 5 zeigen wird.87 Welche Beziehung besteht zwischen Vertrauen und Politik, den beiden zentralen Konzepten dieser Arbeit? Zunächst ist zu betonen, dass keine notwendige und inhärente Beziehung zwischen ihnen besteht. Wenn Nachbarschaftsbeziehungen wegen politischer Konflikte eskalierten, so hatte dies wenig mit Vertrauen zu tun; ebenso wenig macht es Sinn, die destruktiven Auswirkungen des weitverbreiteten Misstrauens in der Leipziger KPD unter Bezugnahme auf die Überlegungen zur Politik und Politisierung zu analysieren. Gleichwohl bestehen wichtige Zusammenhänge zwischen beiden argumentativen Strängen. Entscheidend ist, dass die tiefe Politisierung der Arbeiterbewegung in Leipzig die Bedingungen schuf, in denen Misstrauen seine destruktive Wirkung entfalten konnte. Viele der Praktiken, die Kommunisten und Sozialdemokraten in Leipzig lehrten, sich zu misstrauen, finden sich nicht in den Quellen in Lyon. Eine wichtige Erklärung hierfür ist, dass politische Parteien in Lyon vor 1934 niemals die Stärke der Parteien in Leipzig erreichten. Kommunisten in Leipzig beispielsweise konnten die dortige SPD nur deshalb in­ filtrieren, weil die KPD eine gewisse organisatorische Stärke erlangt hatte. Die Allgegenwart von Politik in Leipzig schuf gleichsam eine Vielzahl an Gelegenheiten, bei denen Kommunisten und Sozialdemokraten Misstrauen lernen konnten. In Lyon führte die Schwäche der politischen Parteien dazu, dass es schlichtweg weniger solche Gelegenheiten gab. In Leipzig hatten (politisch) aktive Arbeiter kaum Gelegenheit, fernab von Politik soziale Beziehungen zu pflegen, die politische Gräben überbrücken konnten. Es gab keinen Raum, um auf nicht-politischem Vertrauen basierende Beziehungen aufzubauen. Ein kurzes Beispiel, das im zweiten Kapitel ausgeführt werden wird, mag dies verdeutlichen. Indem Kommunisten internes Material aus einem Arbeitersportverein stahlen, um damit gegen die SPD zu agitieren, brachten sie Politik nicht nur an einen Ort, an den sie vielen zufolge nicht hin gehörte, sondern brachen damit auch das Vertrauen ihrer Vereinskameraden. Das Problem war gleichsam, dass Kommunisten zwei unterschiedliche »Rollen« durcheinander brachten, diejenige des Kommunisten und diejenige des Vereinsfunktionärs. Das Ergebnis war, dass die Sportler ihnen in beiden Rollen misstrauten. Durch die Politisierung von Alltagsräumen drang Misstrauen auch in »nicht-politische« Bereiche ein. Diese Studie befasst sich mit Alltagsleben, präziser mit der Rolle von Vertrauen und Politik im Alltag. In vielfacher Hinsicht steht die Arbeit damit in der Tradi­ 87 Petra Weber veröffentlichte eine in dieser Hinsicht äußerst informative vergleichende Studie zu den Beziehungen zwischen Politik und Wohlfahrtsstaat in Frankreich und Deutschland. In Deutschland war das politische Überleben der Republik eng mit dem Erfolg des Wohlfahrtsstaats verzahnt, was in Frankreich nicht der Fall war.

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tion von Alltagsgeschichte.88 Diese zu schreiben wirft gewisse Probleme auf, von denen ich zwei hier ansprechen möchte.89 Zunächst geht es um die Frage der Repräsentativität. Wie relevant, typisch und repräsentativ sind zwei Städte für die Nationalgeschichten Frankreichs und Deutschlands insgesamt? Ist der lokale Rahmen wirklich angebracht, um diese »großen« Fragen zu erläutern? Dies sind Fragen, die sich jede Fallstudie stellen muss. Wie »typisch« oder »untypisch« Leipzig und Lyon sind, wird weiter unten zu diskutieren sein. Es mag für den Moment genügen zu betonen, dass es grundsätzlich keine »typischen« Städte gibt: Jede Stadt hat ihre eigenen Besonderheiten. Um mit dem Problem der Repräsentativität umzugehen wird im Verlauf der Arbeit soweit wie möglich auf Studien zu anderen Städten verwiesen, welche die Ergebnisse meiner Arbeit zu Leipzig und Lyon bestätigen oder ihnen widersprechen. Es ist durchaus plausibel, dass die Situation in anderen Gegenden, etwa auf dem Land oder in Städten mit anderer Industriestruktur oder politischer Kultur, anders aussah. Idealerweise hätte ein Vergleich nicht nur zwei Städte in Deutschland und Frankreich, sondern jeweils mehrere Städten im nationalen Kontext berücksichtigt. Allein, dies ist in einer Monographie nicht zu leisten. Sollte diese Arbeit daher andere Studien anregen, welche die Ergebnisse dieser Studie bestätigen, widerlegen oder modifizieren, so wäre dies kein geringer Ertrag. Ein zweites, wichtigeres Problem stellt die »Klarheit« des Bildes dar, das sich aus den Quellen ergibt. Je genauer eine Quelle analysiert wird, desto schwieriger werden in großen Strichen gezeichnete Generalisierungen, wie ich sie oben angedeutet habe. Bei der Lektüre verschiedener Quellen – Polizeiberichte, interne Parteiberichte oder persönliche Erinnerungsberichte, die nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst wurden, um nur ein paar Beispiele zu nennen – wurde nur allzu schnell deutlich, dass sich mit jeder beantworteten Frage über einen Zwischenfall, eine gewaltsame Auseinandersetzung oder einen Streik neue Fragen ergaben, die in den Quellen unbeantwortet bleiben. Wie viele Besucher reagierten freundlich auf kommunistische Badeagitation, wie viele empfanden diese als Belästigung, wie viele ignorierten sie einfach? Wenn eine Ehefrau der Polizei schrieb, um ihren Ehemann wegen seiner kommunistischen Aktivitäten zu denunzieren, tat sie dies aus politischen Motiven, oder gab es ganz andere Konflikte mit dem Ehemann, von denen der Brief schweigt, so dass Politik nur ein willkommener Weg war, dem verhassten Mann eins auszuwischen? Diese Fragen zu beantworten ist unmöglich, die Quellen geben keine Auskunft. Manchmal wären statistische Quellen hilfreich  – wie viele Familien wurden 88 Zur Alltagsgeschichte Lüdtke, Alltagsgeschichte; ders., Bericht; Eley, Labor History; Crew, Alltagsgeschichte; Steege u. a. Kritisch Weitz u. Eley; Langewiesche, Politik. Weitz und Lange­w iesche kritisierten zutreffend, Alltagsgeschichte vernachlässige die Organisationen der Arbeiterklasse, die Gegenstand dieser Arbeit sein werden. 89 Die Problematik vergleichender Alltagsgeschichte habe ich an anderem Ort diskutiert, ­Häberlen, Reflections; ders., Praxis.

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durch politische Konflikte entzweigerissen? Ließe sich Bilanz ziehen, ob es zu mehr Fällen von Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten gegen Nationalsozialisten kam, der offiziellen Feindschaft zum Trotz, wie Mallmann meint, oder überwogen (gewaltsame) Konflikte? Es ist unmöglich, solche Zahlen zu geben, nicht nur weil Quellen tendenziell eher Konflikte als harmonische Situationen verzeichnen  – wenn jemand etwa seinen Bruder trotz politischer Differenzen nicht denunzierte, weil es sich um den Bruder handelte, so wird dies nicht Eingang in Polizeiberichte gefunden haben90 –, sondern auch, weil die Details der zu analysierenden »Geschichten« eine einfache Einordnung in Statistiken verbieten. Um Vertrauen und Politik zu analysieren sind diese Details zentral. Wie lassen sich dann verallgemeinernde Schlussfolgerungen über die Entwicklungen und Probleme der Arbeiterbewegungen in Leipzig und Lyon ziehen? Der Schlüssel hierzu ist der theoretische Rahmen. Die einzelnen Beispiele und Zwischenfälle zu arrangieren, die sich in den Quellen finden, ähnelt in gewisser Weise einem Mosaikspiel. Der theoretische Rahmen bietet sozusagen einen »Plan«, nach dem sich die einzelnen Mosaiksteine anordnen lassen. Für sich selbst wären die »Steine« kaum aussagekräftig. Nur durch das Arrangement der Quellen erhalten diese Bedeutung. Und sie hätten durchaus anders an­ geordnet werden können, mit einem anderen »Bild« als Ergebnis. Die Interpretation der Quellen wird, dies ist zu betonen, ihrer Komplexität bewusst nicht völlig gerecht – was auch nicht Ziel historischen Arbeitens sein kann. Gleichwohl ist das Arrangement nicht beliebig. In gewisser Weise »sagen« die Quellen, wie sie anzuordnen sind, oder, vorsichtiger formuliert, sie schlagen zumindest eine Variante vor, nicht zuletzt deshalb, weil sie, vor allem in Leipzig, ausgiebig auf die Bedeutung von Vertrauen und Politik eingehen.91 In diesem Sinne ist das zu schaffende Mosaik gleichzeitig empirisch und theoretisch fundiert. Die Metapher des Mosaiks ist allerdings in gewisser Weise irreführend, da sie die temporale Dimension der zu analysierenden Vorfälle ausblendet. Dies ist in Bezug auf die behauptete Kausalität von Bedeutung, denn nur in ihrer Temporalität wird Kausalität deutlich.92 In Bezug auf Lyon ist dies weniger problematisch: Dort kam es zum Aufstieg und Zerfall der Volksfront, eines Prozesses in zeitlicher Erstreckung, der es nahelegt, den zweiten Teil, der von Lyon handelt, chronologisch zu gliedern. In Bezug auf Leipzig stellt sich das Problem der

90 Ich möchte David Graumann dafür danken, mich hierauf hingewiesen zu haben. Ebenso wird es kaum aktenkundig geworden sein, wenn nachbarschaftliche Beziehungen trotz unterschiedlicher politischer Auffassungen funktionierten, wenn sich etwa Frauen von Nationalsozialisten und Kommunisten im Alltag aushalfen. Nur wenn es zu ernsten Zusammenstößen kam, schritt die Polizei ein, womit der Fall überliefert wurde. 91 Steege und seine Koautoren haben etwas ähnliches im Blick: »These narratives constructed by historians are themselves based on stories we ›hear‹ from sources«, Steege u. a. Ich spreche bewusst davon, dass wir nicht nur von den Quellen hören, sondern sie zu uns »sprechen«. 92 Sewell, Logics, S. 7–10.

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Chronologie anders. Während die (erfolgreichen) Streiks im Sommer 1936 und die (gescheiterten) Streiks im Herbst 1938 Höhepunkte der Geschichte in Lyon markieren, ist es gleichsam ein »Nicht-Ereignis«, das den Höhepunkt der Geschehnisse in Leipzig markiert: das Scheitern der Arbeiterbewegung, die den Nationalsozialisten 1933 keinen entschiedenen Widerstand entgegensetzte. Die drei Kapitel zu Leipzig werden daher alle Praktiken diskutieren, die zwischen 1929 und 1933 stattfanden, ohne dass eine innere Chronologie eine entscheidende Rolle spielt. Zusammen genommen hatten diese Praktiken in Leipzig den »kumulativen Effekt«, kein Ereignis zu bewirken.93 Diese vielleicht abstrakt wirkenden Überlegungen haben Konsequenzen für die Darstellung. In der Wiedergabe und Analyse der »Geschichten« wird das Augenmerk auf das gerichtet sein, was im Zentrum der theoretisch geleiteten Fragestellung steht, also Probleme von Vertrauen und Misstrauen, Politik und Politisierung. Dies macht es notwendig, die Komplexität der Geschichten, die gleichsam das Rohmaterial für die Arbeit bilden, massiv zu reduzieren. Andererseits gibt es eine Gegentendenz in der Darstellung, die, so hoffe ich, diesen strikten Fokus unterwandert. Ich habe bewusst versucht, einen gewissen Sinn für die »Verworrenheit« der Geschichten zu erhalten, für Ambiguitäten und mögliche Widersprüche. Nicht alle Details »passen« zu dem hier vorge­tragenen Argument.94 Die historische Realität war zu komplex, und ich versuche in der Darstellung, soweit es geht, diese Komplexität aufrecht zu erhalten. Eine praktische Konsequenz dieses Vorgehens ist, dass »Geschichten« nicht zu analytischen Zwecken zertrennt werden. Das bedeutet, dass der Kohärenz von »Geschichten« gegenüber der Logik des Arguments der Vorrang eingeräumt wird, auch wenn dies zu Wiederholungen führt. Die Verworrenheit und Unvollständigkeit der verwendeten Quellen wie auch die Komplexität der geschilderten Vorfälle mag teils frustrierend sein, ihre Darstellung ab und an verwirrend sein. Doch andererseits mag dies der Leserin und dem Leser einen gewissen Eindruck von der verwirrenden Komplexität der historischen Realität auf der Alltagsebene geben. Die Konsequenz ist eine gewisse Spannung zwischen den vorgestellten Belegen und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen. Während letztere, so hoffe ich, deutlich formuliert und im Anspruch generalisierend sind, wird die Darstellung der empirischen Beispiele Raum für Ambiguitäten und 93 Ich möchte mich bei David Sittler für den Ausdruck »kumulativer Effekt« bedanken. Argumente über Kausalzusammenhänge sind selbstredend spekulativ. Sie zu beweisen ist unmöglich, weshalb manche Historikerinnen und Historiker vor Kausalargumenten generell zurückschrecken. Ich halte dies für verfehlt. Auch wenn strenge »Beweise« von Kausalbeziehungen unmöglich sind, so können sie doch plausibel gemacht werden. Zu den Aufgaben historischer Wissenschaft gehört es in meinen Augen, möglichst plausible Erklärungen für geschichtliche Entwicklungen zu finden. 94 Erst kurz vor Abschluss des Manuskripts begann ich mich mit den Arbeiten Dominick LaCapras auseinanderzusetzen, der für eine »dialogische« Geschichtsschreibung plädiert, in der Quellen zur Sprache kommen, ohne dass sie stets dem Argument untergeordnet werden. Eine Diskussion dieses Ansatzes findet sich bei T. B. Müller.

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Unklarheiten geben. Dies soll bewusst einen Raum für andere Interpretationen schaffen. Ein Wechsel der »Tonlage« zwischen den Beispielen und den Schlussfolgerungen ist mithin gewollt. Die Analyse der internen Dynamiken der Arbeiterbewegung auf der Ebene der einfachen Mitglieder erfordert einen mikrohistorischen Ansatz, was eine Beschränkung der Studie auf zwei relativ eng umgrenzte Beispiele notwendig macht.95 Idealerweise wäre sicherlich ein umfassenderer Vergleich wünschenswert, der etwa auch Unterschiede zwischen Stadt und Land berücksichtigt.96 Leipzig und Lyon eignen sich für eine vergleichende Fallstudie. Sowohl Leipzig als auch die Agglomération Lyonnaise zählten zu den großen Industriezentren in den jeweiligen Ländern. Sie hatten in etwa die gleiche Einwohnerzahl (Leipzig etwa 717.000, die Région Lyonnaise etwa 630.000)97 und eine relativ diver­ sifizierte Industriestruktur.98 Beide Städte hatten, entscheidend für diese Studie, eine starke Arbeiterbewegung. Als wichtige Industriezentren waren sie auch nicht vollkommen untypisch für die jeweiligen Länder, was zumindest nahe­ legt, dass die Ergebnisse der lokalen Studien von nationaler Relevanz sind.99 Mit Bezug auf die theoretische Rahmung dieser Studie ist vor allem die Frage relevant, wie typisch oder untypisch Leipzig und Lyon in Hinsicht auf das Ausmaß an Politisierung waren. Innerhalb Deutschlands kann Leipzig wohl zu den stark politisierten Städten gezählt werden. Paul Brandmann etwa hat in einer Studie zur kommunalen Wohlfahrt in Leipzig gezeigt, wie politisiert und damit polarisiert die Wohlfahrtsverwaltung in Leipzig war, was sich auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens widergespiegelt habe.100 Demgegenüber spielte Politik in der Arbeiterbewegung Lyons eine vielleicht untypisch geringe Rolle, nicht zuletzt, weil die lokale Arbeiterbewegung vor 1934 vom Cartel Auto­nome du Bâtiment, einer Allianz verschiedener Gewerkschaften im Bau­gewerbe, dominiert war, das sich mit Erfolg gegen jegliche Versuche der Politisierung wehrte und auf seiner Autonomie gegenüber politischen Par 95 In methodologischer Hinsicht Medick, vor allem die Einleitung; Geertz. 96 Deutschen Lokalstudien bei McElligott, City; Rosenhaft, Beating; Swett; SchmiechenAckermann, Nationalsozialismus; Bruhns; französische bei Boswell; Girault, Var Rouge. 97 Statistisches Amt Leipzig; Passmore, Liberalism, S. 24. 98 Zu Leipzig, Zwahr. Lyon profitierte enorm von der geographischen Verlagerung der französischen Industrie während und nach dem Ersten Weltkrieg, als sich neue Industriebetriebe, vor allem aus der Metall- und Chemieindustrie, in Lyon und seinen Vororten ansiedelten. Dies führte auch zu einer massiven Zuwanderung sowohl von Franzosen als auch Ausländern. Zu Lyon grundsätzlich Moissonnier; Lewis, S.  21–58; Passmore, Liberalism, S. 64–69; Mann, Forging. Zu Frankreich allgemein Noiriel, Workers, S. 119–123. Zu Arbeitern in Lyon im 19. Jahrhundert Lequin. 99 Entgegen der Auffassung etwa von Bergerson und Swett gibt es keine typischen oder re­ präsentativen Städte. Jede Stadt hat ihre eigenen Besonderheiten. 100 Die Harzregion und Berlin waren vermutlich ähnlich politisiert, süddeutsche Städte wohl weniger. Zu Sachsen grundsätzlich Szejnmann, Nazism; ders., Traum; Retallack. Zur Arbeiterbewegung in Leipzig Adam; Zwahr.

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teien beharrte. Innerhalb Frankreichs war eine solche autonome und mächtige Organisation, wie Jean-Luc de Ochandiano, Historiker des Cartels, betont, eine Ausnahme.101 Damit treten in diesen beiden Städten Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich, was deren Politisierung angeht, deutlicher – und unter Umständen zu deutlich – hervor. Schließlich ist zu bedenken, dass es sich um einen zeitversetzten Vergleich handelt. Die Formierung der Volksfront und ihre anfänglichen Erfolge geschahen, nachdem die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernommen hatten. Die Arbeiterbewegung in Lyon hatte, so wäre zu vermuten, das warnende Beispiel Deutschlands vor Augen, wo die Spaltung und Untätigkeit der Arbeiterbewegung zur Katastrophe geführt hatten. Beziehungsgeschichtliche Fragestellungen mit aufzunehmen liegt also nahe, insbesondere was die Fall­ studie zu Lyon anbelangt. Allerdings zeigt sich, dass dort der Blick nach Deutschland zwar vorhanden war, aber keine große Rolle spielte. Um die Mobilisierungsdynamiken an der Basis zu erklären, reicht er jedenfalls nicht aus. Andererseits zeigt sich, dass internationale Entwicklungen im lokalen Rahmen eine Rolle spielten, vor allem der spanische Bürgerkrieg, der etwa zeitgleich mit dem Sieg der Volksfront in Frankreich ausbrach, nicht zuletzt wegen des erheblichen Anteils spanischer Immigranten an der Arbeiterschaft Lyons. Aber nicht nur spanische, sondern auch italienische Immigranten lebten in Lyon, die ihre Erfahrungen mit dem italienischen Faschismus gemacht hatten. Die anti­ faschistische Mobilisierung im Zuge der Volksfront profitierte einerseits von deren Präsenz und trug andererseits zu ihrer politischen Integration in Frankreich bei.102 Die lokale Geschichte der Volksfront in Lyon lässt sich somit nur transnational schreiben. In Leipzig fehlte dieses transnationale Element. Die Studie basiert auf einem breit angelegten Quellenspektrum aus Leipzig und Lyon, das Zeitungen, Polizeiberichte, interne Parteidokumente sowie Gerichtsakten umfasst. Für einen Vergleich stellt dieser Quellenkorpus ein gewisses Problem dar, da sich sowohl Art als auch Umfang der Quellenbestände deutlich unterscheiden. Allgemein gesprochen sind die Quellen aus Leipzig deutlich umfassender als jene aus Lyon. Für die Fallstudie zu Leipzig wurde vor allem auf zahlreiche polizeiliche Ermittlungsakten zurückgegriffen.103 Da die Akten oftmals einander widersprechende Zeugenaussagen enthalten, erlauben sie eine faszinierende multi-perspektivische Rekonstruktion einzelner in der Regel gewalttätiger Zwischenfälle und der nachfolgenden polizeilichen Ermittlungen, die nicht allein auf der Interpretation von Polizeibeamten basiert. Darüber hinaus stellte die Polizei in Leipzig umfangreiche Akten zu Streiks, Demonstrationen, politischen Parteien und anderen Organisationen zusammen.104 101 Ochandiano, Formes, S. 2. Zum Syndikalismus im Baugewerbe Ratel. 102 Levy. 103 Sächsisches Staatsarchiv Leipzig (SStAL), Aktensignaturen PP S. 104 Siehe die Aktensignaturen SStAL PP St.

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Die Polizeiakten in Lyon sind deutlich anders organisiert, entweder von der Polizei selbst oder vom dortigen Archiv. Sie enthalten vor allem die Renseignements Généraux, Berichte über die Stimmung der Bevölkerung, die der Präfekt aus Lyon an das Innenministerium in Paris sandte und die bereits eine erhebliche Zusammenfassung der Ereignisse beinhalten. Sie enthalten allgemeine Bemerkungen zur politischen und sozialen Lage in Lyon sowie zumeist kurze Schilderungen besonderer Vorkommnisse wie Demonstrationen oder Ausschreitungen. Darüber hinaus existieren detaillierte Berichte zu Streikbewegungen, über die der Präfekt ebenfalls zu berichten hatte. Allerdings existieren weder individuelle Ermittlungsakten wie in Leipzig noch Akten über (politische) Organisationen. Grundsätzlich behandeln die Akten aus Lyon eher Streikbewegungen und die hinter ihnen stehenden Organisationen, Gewerkschaften, während die Akten aus Leipzig das Augenmerk auf politische Vorkommnisse und politische Parteien, vor allem die KPD, richten. Gegen das hier vorgebrachte Argument, dass Politik in Leipzig eine größere Rolle spielte als in Lyon, ließe sich daher einwenden, dass der Eindruck allein den Quellenbeständen und dem Augenmerk der Beamten geschuldet sei, nicht aber die historische Wirklichkeit widerspiegle. Auch wenn diese Möglichkeit nicht völlig auszuschließen ist, so darf doch vermutet werden, dass die Beamten durchaus wussten, worauf sie zu achten hatten: auf die KPD in Leipzig, das Cartel Autonome in Lyon. In diesem Sinne reflektieren unterschiedliche Quellenbestände Unterschiede der historischen Realität: In Leipzig spielten Politik und Parteien eine größere Rolle, während es Streiks und Gewerkschaften waren, welche die Situation in Lyon prägten. Entsprechend wird sich die Arbeit auf Parteien im Leipziger Kontext, auf Gewerkschaften im Kontext Lyons konzentrieren. Zeitungen stellen eine weitere wichtige Quelle für diese Studie dar. Auch was diese anbelangt, ist auf einen bemerkenswerten Unterschied zwischen Leipzig und Lyon hinzuweisen. In Leipzig waren die beiden wichtigsten Tageszeitungen auf Seiten der Linken fest in der Hand von Parteien, zum einen die sozialdemokratische »Leipziger Volkszeitung« (LVZ), zum anderen die kommunistische »Sächsische Arbeiterzeitung« (SAZ). In Lyon brachten beide Parteien der Linken nur eine relativ kurze Wochenzeitung heraus, den »Avenir Socialiste« der SFIO, und die »Voix du Peuple« der PCF, wobei der »Avenir Socialiste« 1935 nur monatlich erschien und 1936 – im entscheidenden Jahr der Volksfront! – sein Erscheinen ganz einstellte, bevor er 1937 wieder erschien. Die wichtigste Zeitung auf Seiten der Linken in Lyon war allerdings der täglich erscheinende »Lyon Républicain«, der parteipolitisch unabhängig war, auch wenn er ab 1934 eine große Sympathie für die Volksfront und die kommunistische Partei zeigte. Auch dieser Unterschied deutet an, dass die politischen Parteien der Arbeiterbewegung in Lyon eine geringere Rolle spielten als in Leipzig. Interne Parteidokumente stellen eine dritte wichtige Quellengattung dar. Leider existieren kaum Quellen von sozialistischer oder sozialdemokratischer Seite, vermutlich weil die Parteimitglieder sie angesichts der drohenden Gefahr durch die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland, 1940 in Frankreich vernich38 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

teten.105 Kommunisten hingegen brachten ihre Dokumente rechtzeitig nach Moskau, wo sie den Krieg überdauerten. Von Moskau aus gelangten die Akten der PCF an die Archives Départementales Seine-Saint-Denis, diejenigen der KPD, die auch im lokalen Rahmen wesentlich umfangreicher sind als diejenigen der PCF, über den Umweg der DDR ins Bundesarchiv in Berlin. In Lyon existieren schließlich die Akten des Cartel Autonome du Bâtiment, zu denen ich leider keinen Zugang hatte. Allerdings konnte ich auf Jean-Luc de Ochandianos herausragende Studie zu den Bauarbeitern in Lyon zurückgreifen, die von diesen Beständen ausführlich Gebrauch machte. In Leipzig existieren keine vergleichbaren Bestände zu einer einzelnen Gewerkschaftsorganisation. Ein weiteres Problem vergleichend arbeitender Studien ist die Frage nach der Gliederung. Idealerweise würde man beide Fälle relativ eng miteinander verweben, um sowohl Unterschiede als auch Ähnlichkeiten herausarbeiten zu können. Eine solche Vorgehensweise würde allerdings dazu führen, die Kohärenz der jeweiligen Fallstudien aufzugeben. Im Falle dieser Arbeit führte ein weiteres Argument dazu, Leipzig und Lyon getrennt zu behandeln. In Leipzig spielt, wie oben angemerkt, die Chronologie nur eine untergeordnete Rolle. Misstrauen und Politisierung kennzeichneten die Arbeiterbewegung in Leipzig zwischen 1929 und 1933, und vermutlich bereits vor 1929. In Lyon hingegen sind zunächst der Aufstieg und dann der Fall der Volksfront zu erklären, weshalb eine chronologische Gliederung notwendig ist. Da die Ereignisse in Leipzig denen in Lyon vorausgingen, wird zunächst Leipzig (1929–1933) und dann Lyon (1929–1938) behandelt. In den Schlussbetrachtungen wird nochmals auf die Ergebnisse des Vergleichs eingegangen. Jeder Teil besteht aus drei Kapiteln. Das erste Kapitel wird eine detaillierte Beschreibung und Analyse der politischen Gewalt in Leipzigs Straßen bieten, einschließlich einer Diskussion der Interpretation dieser Gewalt durch die Parteien der Linken. Gewalt zerstörte, so ein Argument dieses Kapitels, Vertrauen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Darüber hinaus trug die ständige Gefahr gewaltsamer Zusammenstöße in verschiedenen Lebenslagen dazu bei, dass Politik in gewaltsamer Form Teil des Alltags wurde. Das zweite Kapitel wird dieses Thema der Politisierung des Alltags in Leipzig weiter ausführen, wobei die Rolle von Politik in verschiedenen Bereichen (Familien und Nachbarschaften, im Vereinsleben, am Arbeitsplatz, und im Wohlfahrtsbereich) ausgeleuchtet wird. Die Politisierung der Arbeiterbewegung in Leipzig, so die These dieses Kapitels, (re)produzierte die parteipolitische Spaltung der Arbeiter­bewegung auf der Ebene der einfachen Mitglieder; andererseits erlebten viele Politik als Belästigung und sehnten sich nach Räumen, die frei von Politik blieben. Beides trug dazu bei, dass es nicht zu einer breiten Mobilisierung an der Basis kam. Das dritte Kapitel wendet sich politischen Praktiken in Leipzig zu 105 Zur SPD in Leipzig Vogel. Er konnte auf einige sich im Privatbesitz befindende Nachlässe zurückgreifen, die ich nicht eingesehen habe.

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und zeigt, wie diese ein tiefgreifendes Misstrauen schürten, was einen Wunsch nach Einheit an der Basis unwahrscheinlich werden ließ. Ein Epilog über die Zerschlagung der Arbeiterbewegung in Leipzig nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten beschließt den ersten Teil. Der zweite Teil zu Lyon beginnt mit dem vierten Kapitel, das die Situation in Lyon vor 1934 erläutert, wobei insbesondere das Cartel Autonome ausführlich diskutiert wird. Es fungiert als Beispiel für eine machtvolle, ihrem Selbstverständnis nach anti-politische Organisation der Arbeiterbewegung, die es verstand, sowohl Vertrauen unter ihren Mitgliedern zu stiften als auch diese, wenn nötig mit Gewalt, zu kontrollieren. Zum zweiten wird die PCF in Lyon analysiert, die sich ähnlichen Problemen wie die KPD in Leipzig gegenüber sah. Das fünfte Kapitel wird den Aufstieg der Volksfront behandeln und insbesondere, welche Rolle der Prozess der Politisierung dabei spielte. Es endet mit einer Diskussion der Sommerstreiks 1936. Das abschließende sechste Kapitel wird den Niedergang der Volksfront beschreiben und dabei vor allem auf die Auswirkungen der Politisierung der Arbeiterbewegung zu sprechen kommen. In allen drei Kapiteln zu Lyon spielen die Bauarbeiterschaft und ihre gewerkschaftliche Organisation, vor allem das Cartel Autonome du Bâtiment, eine zentrale Rolle, was einer gesonderten Rechtfertigung bedarf. Erstens ist aus empirischer Hinsicht darauf zu verweisen, dass Bauarbeiter vor Beginn der Volksfront die bei weitem aktivste Gruppe von Arbeitern waren. Statistiken des Innenministeriums zufolge betrafen 25,6 % (89 von insgesamt 347) aller Streiks in der Rhôneregion zwischen 1919 und 1935 das Baugewerbe in Lyon. Dabei stellten Bau­ arbeiter 33 % aller streikenden Arbeiter, und sogar 42,5 % aller Streiktage kamen im Baugewerbe zustande.106 Da sich die Studie der Arbeiterbewegung, nicht der Arbeiterschaft im allgemeinen widmet,107 verdienen die Bauarbeiter also, insbesondere für die Periode vor 1934, gesonderte Aufmerksamkeit. Hinzu kommt, aus argumentativer Perspektive, dass sich die Politisierungsprozesse in Lyon und ihre Konsequenzen besonders gut am Fallbeispiel der Bauarbeiter zeigen lassen.

106 Ochandiano, Lyon, S. 230 f. Zu Seiden- und Metallarbeitern in Lyon, Mann, Forging. Meines Erachtens missversteht Mann jedoch die Situation in Lyon, insbesondere weil er sich nicht der Bedeutung der Bauarbeiter bewusst ist. Arbeiter des »neuen Proletariats« (Gérard Noiriel) verhielten sich vor der Volksfront insgesamt relativ ruhig, Noiriel, Workers, Kap. 5. Zu autonomen Hafenarbeitern in Le Havre kursorisch Dhaille-Hervieu, S. 19, 35. 107 Zur Unterscheidung beispielsweise Wickham, Movement; ders., Social Fascism.

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Teil I Misstrauen und politische Feindschaft im Alltag. Die Arbeiterbewegung in Leipzig, 1929–1933

Abb. 1: Kommunistische Demonstration in Leipzig, Januar 1933 (Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, BA 1988/27595).

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1. Politische Gewalt in Arbeitervierteln Am 15.  August 1931 verteilten zwei junge Sozialdemokraten, ausgestattet mit der nötigen polizeilichen Erlaubnis, Flugblätter, in denen die Politik der Kommunistischen Partei kritisiert wurde.1 Als Ort hierfür hatten sie sich die so genannte »Epa-Ecke« ausgesucht, benannt nach einem dortigen Lebensmittelgeschäft, an der Kreuzung zwischen Merseburger und Lützner Straße in Leipzig Lindenau. Es war keine unpassende Wahl, war die Ecke doch bekannt dafür, ein Treffpunkt junger Kommunisten zu sein. Ärger war wohl zu erwarten, und in der Tat dauerte es nicht lange, bis sich eine Traube junger Kommunisten um die beiden Sozialdemokraten gebildet hatte und es zu heftigen politischen Diskussionen kam. Laut sozialdemokratischen Zeugen taten sich dabei besonders zwei Frauen hervor, die die beiden Sozialdemokraten »in gemeinster Weise« als »Lumpen, Strolche« und ähnliches beschimpften und ihre männlichen kommunistischen Genossen zur Gewalt aufstachelten. Ein Kommunist namens Felix Lerch forderte die Sozialdemokraten auf, zu verschwinden:2 »Die rote Epa-Ecke ist unser; wir werden euch wegbringen, und wenn einer liegen bleibt.« Zunächst wichen die beiden Sozialdemokraten ein paar Schritte zurück, um einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Aber die Kommunisten folgten ihnen. »Hier werden keine sozialdemokratischen Flugblätter verteilt«, rief einer der Kommunisten und versuchte, den Sozialdemokraten die Flugblätter zu entreißen.3 Rasch kam es zu ersten Schlägen und Knuffen. Die Kommunisten griffen mit Schlagringen und anderen Waffen an, während die beiden Sozialdemokraten versuchten, die Schläge abzuwehren. Einer der beiden versuchte noch, mit einer Trillerpfeife eine 30 Mann starke Gruppe des Reichsbanners, die sich vorsorglich in der Nähe positioniert hatte, zu Hilfe zu rufen, aber es war zu spät. Der 17jährige Kommunist Max Kramer hatte den 20jährigen Max Warkus, Ortsvereinsvorsitzender der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ), in die Lungen gestochen, woran Warkus kurz darauf verstarb. Die Sozialdemokraten und Reichsbannerangehörigen versuchten Kramer zu fassen, doch seine kommunistischen Genossen schützten ihn. Als die Polizei eintraf um Verhaftungen vorzunehmen, bemühten sich insbesondere Kommunistinnen diese zu verwirren, indem sie Sozialdemokraten als Täter benannten, wie die sozialdemokratische Leipziger 1 Siehe, auch für die folgenden Zitate, SStAL, PP St 98, sowie die Berichte der Leipziger Volkszeitung (LVZ) vom 17.8.1931 und den folgenden Tagen. 2 Alle Namen von Personen aus Polizeiakten wurden, mit Ausnahme von Mordopfern, anonymisiert. Gleiches gilt für die meisten Namen aus Zeitungen, so es sich nicht um prominente Personen handelte. 3 LVZ, 17.8.1931.

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Volkszeitung berichtete. Dennoch gelang es der Polizei nach kurzer Zeit Kramer festzunehmen, der für seinen Mord zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde. Der Fall ist einer von sechs politisch motivierten Morden in Leipzig zwischen 1929 und März 1933, wobei von der Polizei Getötete nicht mitgezählt sind. Die weiteren Opfer waren drei Nationalsozialisten, ein Reichsbannermann, der von Nationalsozialisten im Februar 1933 erstochen wurde, sowie ein junger Kommunist, den Nationalsozialisten erschlugen. Bevor jedoch diese Gewalt auf den Straßen Leipzigs ausführlich analysiert werden kann, muss wenigstens in ­groben Zügen die Geschichte der Leipziger Arbeiterbewegung vor 1929 skizziert werden. Sachsen und insbesondere Leipzig gelten als »Wiege der deutschen Sozialdemo­ kratie«.4 Dort setzte die Industrialisierung bereits in den 1830er Jahren ein, was Sachsen zu einer der am frühesten industrialisierten Regionen Deutschlands machte. Damit einher gingen Prozesse der Urbanisierung und die Heraus­ bildung einer Arbeiterklasse. Zwischen 1830 und 1870 entstand in Leipzig, wie Hartmut Zwahr herausgearbeitet hat, aus einer relativ heterogenen Mischung von Kleinbürgern, Handwerkern und Bauern ein als solches erkennbares Proletariat. Diese »Konstituierung des Proletariats als Klasse« war jedoch kein ausschließlich sozio-ökonomischer Prozess der Homogenisierung, in dem Unterschiede zwischen verschiedenen Handwerken an Bedeutung verloren, sondern ebenso ein politischer Prozess, in dessen Verlauf es in Leipzig zur Gründung von Gewerkschaften und Parteien, Vorläufern der späteren Sozialdemokra­ tischen Partei, kam.5 Das Wachstum der Sozialdemokratie in Leipzig hielt im Kaiserreich an und spiegelte sich nicht nur in Wahlerfolgen wider, sondern ebenso in den zahlreichen Arbeitervereinen, die das Rückgrat des sozialdemokratischen M ­ ilieus bildeten.6 Der erste Weltkrieg und die darauf folgende Revolution brachten das so­ziale und politische Machtgefüge in Leipzig ins Wanken. Vor dem Krieg, so Sean Dobson, war die Arbeiterschaft praktisch von der Macht ausgeschlossen gewesen, die einzig dem Bürgertum anheim fiel. Während der Revolution wurde dessen Autorität, wenn auch nur für eine kurze Zeit und letztendlich nicht erfolgreich, infrage gestellt.7 Wichtiger im Kontext dieser Arbeit sind allerdings die folgenden Entwicklungen innerhalb der Arbeiterbewegung.8 Innerhalb der Partei hatte Leipzigs SPD immer relativ linke Positionen vertreten. Als sich 1917 die Unabhängige SPD (USPD) von der Mehrheitsfraktion abspaltete, folgte ihr in Leipzig die Mehrheit der Parteimitglieder. Einer erheblichen Minderheit inner4 Zur Arbeiterbewegung in Leipzig Rudolf u. a.; Adam; ders. u. Rudolf; Zwahr; Grebing u. a., Demokratie. 5 Zwahr. 6 Adam. 7 Dobson. 8 Grundsätzlich Vogel; LaPorte, Communist Party.

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halb der Arbeiterbewegung ging diese Radikalisierung allerdings nicht weit genug. Während die meisten Unabhängigen Sozialdemokraten nach 1918 der neugegründeten Republik die Treue hielten, verlangte eine Minderheit radikalere Maßnahmen, zunächst die Bewegung der Arbeiter- und Soldatenräte um Curt Geyer während der Revolution 1919/20, sodann die Kommunistische Partei, die während des Kapp Putsches 1920 die Führung der radikalisierten Leipziger Arbeiter übernahm.9 Hier finden sich frühe Beispiele für einen Konflikt zwischen republikanischen und radikalen Arbeitern, der das links-proleta­rische Milieu in Leipzig während der gesamten Weimarer Republik prägen sollte. So griffen 1926 etwa Mitglieder des kommunistischen Rot-Frontkämpfer-Bundes eine sozialdemokratische Maifeier an.10 Gleichwohl, die Beziehungen zwischen SPD und KPD waren nicht ausschließlich von Feindschaft geprägt. Es existierte stets auch die Option der Zusammenarbeit, nicht zuletzt da der sozialdemokratische Ministerpräsident Erich Zeigner in Sachsen in den frühen 1920er Jahren eine relativ weitreichende Reformpolitik verfolgte, zunächst in einem von der KPD tolerierten Minderheitenkabinett, und seit Oktober 1923 mit zwei kommunistischen Kabinettsmitgliedern. Dem Experiment kommunistischer Regierungsbeteiligung wurde jedoch durch die militärische Intervention des Reichs, befohlen vom sozial­ demokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, bereits Ende desselben Monats ein Ende bereitet. In solchen Momenten der Bedrohung des Milieus von außen kam es, so Jesko Vogel in seiner Studie über die SPD in Leipzig, wenigstens kurzfristig zur Zusammenarbeit von kommunistischen und sozialdemokratischen Parteimitgliedern, auch wenn viele sozialdemokratische Funktionäre der KPD gegenüber misstrauisch blieben.11 Zum vielleicht interessantesten Beispiel von Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten kam es im Zuge der Kampagne zur entschädigungslosen Fürstenenteignung im Frühjahr und Sommer 1926.12 Während die führenden Gremien der SPD sowohl in Sachsen als auch im Reich eine Verständigung mit den Fürsten anstrebten, was auf eine Form der Entschädigung für ihr enteignetes Land hinausgelaufen wäre, verlangten Kommunisten, dass sie ihr Eigentum ohne Entschädigung verlieren sollten. Im Gegensatz zu ihren Parteioberen unterstützten Sozialdemokraten in Leipzig die kommunistischen Forderungen und agitierten nach anfänglichem Zögern für ein Volksbegehren und danach für einen Volksentscheid. Der Fall zeigt vor allem, welch zweischneidige Angelegenheit eine solche Zusammenarbeit sein konnte. Zum einen kooperierten Sozialdemokraten und 9 Vogel, Kap. III, 3&4. Die Mehrheit der SPD in Leipzig schloss sich der USPD an, während die KPD bis zur Krise 1923/24 relativ schwach blieb. Von da an begann das Wachstum der KPD für die SPD bedrohlich zu werden, wie Vogel in den folgenden Kapiteln ausführt. 10 Ebd., S. 464. 11 Ebd., Kap. IV, 1–3, S. 309, 323–325. 12 Ebd., Kap. IV, 6.

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Kommunisten, die zu diesem Zeitpunkt noch gemeinsamen Milieuorganisa­ tionen angehörten, in ihren Stadtteilen, etwa indem sie gemeinsame Patrouillengänge zum Schutz von Plakaten organisierten. Andererseits betonten Sozial­ demokraten durchweg, dass sie nur aus organisatorischen Gründen mit der KPD zusammen arbeiteten. Im Gegensatz zur KPD verteidigten sie die Kampagne als pro-republikanisch und versuchten auch Mitglieder des Bürgertums für die entschädigungslose Enteignung der Fürsten zu gewinnen. Kommunisten hingegen verärgerten die sozialdemokratische Führung, indem sie sich als Sozialdemokraten ausgaben, um Geld für die Kampagne zu sammeln.13 Zwar verfehlte die Initiative auf nationaler Ebene das nötige Quorum an Stimmen, auf lokaler Ebene aber zeigte die Kampagne eindrucksvoll, so Vogel, die sozialdemokratische Mobilisierungsfähigkeit: Allein in Leipzig konnte die Partei 10.000 Personen mobilisieren, die Wähler an die Urnen begleiteten. Kommunisten konnten nichts Vergleichbares organisieren, was Vogel zufolge belegt, dass die KPD, anders als die SPD, im links-proletarischen Milieu nur schwach verwurzelt war. Auf lokaler Ebene arbeiteten Sozialdemokraten und Kommunisten vor 1928/29 auch weiterhin zusammen, etwa innerhalb der Stadtverordneten­ kammer. Diese Zusammenarbeit endete jedoch mit der anti-sozialdemokratischen Radikalisierung der KPD im Kontext der »Dritten Periode« (1928–1935), berühmt durch die Sozialfaschismusthese und die Annahme, der Hauptfeind des Proletariats sei die Sozialdemokratie. Anstatt mit der SPD zusammen zu arbeiten, sollten kommunistische Stadtverordnete nun vor allem deren »Sozial­ faschismus« entlarven. Jedoch folgten nicht alle kommunistischen Stadtverordnete dieser neuen Linie: zwei von ihnen schlossen sich der SPD an, während sechs der verbliebenen 13  Stadtverordneten Mitglieder der kommunistischen Opposition (KPO) wurden, die für eine weniger aggressive Haltung gegenüber der SPD eintrat.14 Besonders enge Verbindungen existierten in Leipzig auch auf der Ebene der Jugendorganisationen SAJ und KJVD (Kommunistischer Jugendverband Deutschlands).15 Mitglieder der SAJ reisten beispielsweise in die Sowjetunion, und 1927 nahm gar ein Teil der Leipziger SAJ an einer vom KJVD organisierten Protestversammlung teil, entgegen den ausdrücklichen Weisungen der sozialdemokratischen Führung. In der Folge verließen etwa 400 SAJ-Mitglieder die Organisation.16 Allerdings zeigt dieses Beispiel auch, wie schwierig es ist, die Zusammenarbeit zwischen den beiden Lagern realistisch einzuschätzen, da Kommunisten die SAJ massiv unterwandert hatten. Ob die Teilnahme von sozialistischen Jugendlichen an kommunistischen Veranstaltungen Ausdruck eines Wunsches nach Einheit war, oder einen Beleg für den Erfolg der 13 Ebd., S. 461. 14 Ebd., S. 487 f. Zur KPO Tjaden; Abendroth. 15 Der KJVD hatte 1927 etwa 900 Mitglieder. Spätere Zahlen ließen sich nicht finden. Kaiser u. a., S. 42. 16 Vogel, S. 531–533.

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kommunistischen Unterwanderungsversuche darstellte, muss daher offen bleiben. Zusammenfassend lässt sich über die 1920er Jahre feststellen, dass die Sozialdemokratie ihr organisatorisches Netzwerk in Leipzig aufrecht erhalten und ausbauen konnte.17 Im lokalen Kontext kam es sowohl zu Fällen von Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten als auch zu teils gewaltsamen Auseinandersetzungen. Wie die Arbeiterbewegung auf die erneute Krise und Bedrohung reagieren würde, die sich ab 1929 verstärkt abzeichnete, war daher keine ausgemachte Sache. Dieses Kapitel wie auch die beiden folgenden werden die Entwicklungen in Leipzig ab 1929 rekonstruieren. Im Gegensatz zu Vogel, der behauptet, das sozialdemokratische Milieu in Leipzig sei im großen und ganzen bis zum Ende der Republik stabil gewesen, wird dieses Kapitel den Blick auf das links-proletarische Milieu insgesamt richten und dabei argumentieren, dass dieses zunehmend von Feindschaft und Gewalt geprägt war.18 Politische Gewalt in der Weimarer Republik ist ausführlich untersucht worden. Im Zentrum der Debatte stand dabei, ob die gewaltsamen Ausschreitungen als »Bürgerkrieg« bezeichnet werden können, ein Begriff, der mittlerweile mehrheitlich und mit guten Argumenten abgelehnt wird.19 Daher wird sich dieses Kapitel nicht erneut an dieser Frage abarbeiten, sondern untersuchen, wie politische Gewalt Teil des Alltags vieler Arbeiter wurde und welche Rolle Gewalt in Arbeitervierteln spielte. Eine Analyse der Gewaltdynamiken in Leipzig erfordert, das Augenmerk nicht einzig auf die relativ seltenen tödlichen Zusammenstöße oder die berühmten Saalschlachten zu richten, auch wenn diese sicherlich wichtig waren, sondern auch auf »kleine Gewalt«, das heißt, auf die zahlreichen kleinen Anrempeleien und Schlägereien zwischen Anhängern verschiedener Lager, zu denen es mehr oder weniger überall und jederzeit kommen konnte.20 Politische Gewalt wurde, wie der erste Teil des Kapitels zeigen wird, zu einer Alltagsangelegenheit für viele Arbeiter, zuvörderst für jene, die in irgendeiner Weise in Parteipolitik involviert waren, aber auch für all jene, die in Arbeitervierteln lebten und dort zu Zeugen der regelmäßigen Zusammenstöße zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten wurden. In der Forschung wurde zu Recht betont, dass die politische Gewalt von rechts wie links die politische Sta17 Adam. 18 In Vogels Darstellung der Geschehnisse in Leipzig spürt man kaum etwas von der Gewalt auf den Straßen, ebenso wenig in der Darstellung des Alltaglebens von Arbeitern im Ruhrgebiet, die Alexander von Plato bietet. Dies mag damit zu tun haben, dass seine Arbeit vornehmlich auf Interviews basiert und daher eher die (gewollte)  Erinnerung widerspiegelt. Die schriftlichen Quellen in Leipzig jedenfalls zeichnen ein anderes Bild. 19 Zum »Bürgerkrieg«, Schumann, Gewalt, Kap. 6; ders., Violence; Blasius; Wirsching, Weltkrieg; Traverso. Zu Gewalt allgemein Schumann, Europa. 20 Schumann, Gewalt, S. 171 f. Auch er hebt die »kleine Gewalt« hervor, auch wenn er sich zumeist auf die Saalschlachten und politischen Zusammenstöße bezieht und weniger auf die beinahe alltägliche Gewalt, zu der es gleichsam jeden Augenblick kommen konnte, die im Vordergrund dieses Kapitels stehen wird.

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Karte 1: Übersichtskarte zu politischer Gewalt in Leipzig

Legende: Die Symbole stehen jeweils für Auseinandersetzungen zwischen … Sterne: Kommunisten und Nationalsozialisten und anderen Rechtsextremen Dreiecke: Sozialdemokraten und Nationalsozialisten und anderen Rechtsextremen

Die Größe der Symbole zeigt die Anzahl der Beteilig­ ten an, jedoch nicht die Schwere der Auseinandersetzungen. Die Karte basiert auf den Polizeiakten im Sächsischen Staatsarchiv Leipzig, Serien PP-St und PP-S.

Quadrate: Kommunisten und Sozialdemokraten Kreise: Andere politische Gewalt, etwa Auseinandersetzungen mit der Polizei

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bilität der Weimarer Republik untergraben hat. Kaum überraschend bestätigt diese Studie zu Leipzig diese Befunde. Politischen Aktivitäten im konventionellen Sinne nachzugehen, etwa Flugblätter zu verteilen oder öffentliche Versammlungen abzuhalten, brachte immer die Gefahr von Gewalt mit sich. Die Republik war nicht in der Lage, so ließ sich im politischen Alltag beobachten, ein sicheres Umfeld für demokratische Politik zu bieten. Aber politische Gewalt, und insbesondere »kleine« politische Gewalt, hatte weitere Auswirkungen. Gewalt politisierte das Alltagsleben; nicht Feindschaft per se prägte das Arbeitermilieu in Leipzig, sondern Feindschaft entlang politischer Gräben. Die zahlreichen kleinen Schlägereien und Zusammenstöße in Leipzigs Straßen machten es unmöglich, Politik und politischen Auseinandersetzungen in Arbeitervierteln aus dem Weg zu gehen. Urbane Alltagsräume wurden so, im Wortsinne, zu Schlachtfeldern für politische Auseinandersetzungen. Allerdings waren es nicht nur die Zusammenstöße zwischen Mitgliedern verschiedener Parteien und Wehrformationen, die zu einer gewaltsamen Politisierung des Alltags in Leipzig beitrugen. Auch (gewaltsame) »soziale« Konflikte, wie etwa das Plündern von Lebensmittelgeschäften oder Auseinandersetzungen mit Beamten der städtischen Sozialbehörden oder der Polizei, wurden in einem parteipolitischen Rahmen interpretiert.21 Um zu verstehen wie gewaltsame Politik Teil des Alltagslebens (vieler) Arbeiter wurde, müssen daher auch solche Auseinandersetzungen berücksichtigt werden. Während politische Feindschaft das Milieu zutiefst spaltete, kam es im Kontext von gewaltsamen Auseinandersetzungen auch zu den meisten Fällen erfolgreicher Organisierung und Mobilisierung. Wenn es darum ging, sich den Nationalsozialisten auch mit Gewalt entgegen zu stellen, gelang es den Kommunisten, erhebliche Teile der lokalen Bevölkerung zu mobilisieren. Der Aufstieg der Nationalsozialisten trug daher, zumindest in kurzfristiger Perspektive, entscheidend dazu bei, dass politische Gewalt Teil des Alltags wurde. Hervorzuheben ist, dass die Nationalsozialisten nicht nur anlässlich großer Aufmärsche in Arbeiterviertel eindrangen, was von der kommunistischen Presse immer wieder als Versuche »rote« Viertel zu »erobern« interpretiert wurde, sondern stets Teil des lokalen Umfelds waren, was in massiver Alltagsgewalt resultierte. Anders als in Lyon und Frankreich hatte diese Gewalt allerdings nicht zur Folge, dass das gespaltene links-proletarische Milieu die Reihen schloss. Vielmehr führte die Normalität von Gewalt dazu, dass auch Konflikte innerhalb der Arbeiterbewegung, also vor allem zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten, vermehrt mit Gewalt ausgetragen wurden. Aber war all diese Gewalt wirklich politisch?22 Arbeiterviertel mit Gewalt gegen die »Eroberungsversuche« der Nationalsozialisten zu verteidigen, war zen21 Zu Konflikten mit Wohlfahrtsbediensteten, die im nächsten Kapitel im Detail diskutiert werden sollen, Crew, Gewalt; ders., Germans. 22 Rosenhaft, Links gleich rechts, S. 240, 247 f. Sie betont die Parallelen zwischen gewaltsamer Straßenpolitik, insbesondere den Auseinandersetzungen zwischen jungen Kommunisten

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traler Bestandteil kommunistischer Politik, wie der letzte Teil  dieses Kapitels zeigen wird. Aus kommunistischer Sicht fand Politik auf der Straße statt, und sollte dort auch stattfinden. Sozialdemokraten hingegen betrachteten diese Gewalt oft nur als »Rowdytum«. Wirkliche Politik fand höchstens im Parlament oder den Versammlungssälen der Organisationen statt, nicht jedoch auf der Straße.23 Bereits hier deutet sich an, dass die Frage nach adäquaten Räumen für und Formen von Politik zutiefst umstritten war. Sozialdemokraten und Kommunisten hatten nicht nur unterschiedliche politische Zielvorstellungen, sondern unterschiedliche Auffassungen von der Form von Politik selbst. Diese Differenzen vergrößerten den Abstand zwischen beiden Parteien weiter und erschwerten eine Zusammenarbeit. In vergleichender Perspektive ist zu bemerken, dass ähnliche Konflikte über die Rolle und den Wert von Politik auf der Straße in Lyon nicht existierten.

1.1 Gewaltsame Politik und politisierte Gewalt In den späten 1920er und frühen 1930er Jahren, wobei der Sommer 1932 einen Höhepunkt darstellte, war politische Gewalt in einigen Stadtteilen Leipzigs allgegenwärtig.24 In zahlreichen Situationen mussten politische Aktivisten mit Gewalt rechnen, etwa beim Flugblattverteilen in »feindlichen« Vierteln, wie der eingangs geschilderte Fall zeigte. Ebenso war Gewalt bei politischen Versammlungen und Demonstrationen zu erwarten, auch wenn die meisten Versammlungen friedlich verliefen. Die zahlreichen gewaltsamen Auseinandersetzungen in Leipzig, die in diesem Kapitel beschrieben und analysiert werden, belegen eindrucksvoll, wie sehr Feindschaft das lokale Arbeitermilieu prägte. Nicht nur nahm Politik vermehrt gewaltsame Formen an, sondern, und dies ist noch bedeutsamer, gewaltsame politische Konflikte konnten mehr oder weniger in jedem Moment ausbrechen – nicht nur gleichsam »angekündigt« bei Demonstrationen und Versammlungen, sondern im Alltag. Regelmäßig kam es beim Flugblattverteilen zu gewaltsamen Zusammenstößen. Am 29. Oktober 1932 beispielsweise verteilten Sozialdemokraten Flugblätter in Reudnitz. Als einer von ihnen, Karl Friedrich Ruhmann, das Haus in der Charlottenstraße 4 betrat und ein Flugblatt in den Briefkasten einer Wohnung im Erdgeschoss steckte, »wurde plötzlich die Wohnungstür geöffnet und es kamen mehrere junge Männer heraus«, die drohten, ihn mit einem Schulterund Nationalsozialisten in Arbeitervierteln, und Bandenkriegen. Dies spiegelt sicherlich die Interpretation der Gewalt durch die SPD wider, aber nicht diejenige durch die KPD. 23 Zum sozialdemokratischen »Symbolkampf« Albrecht. Zu Begriffen des Politischen Marquardt. Zur Straßenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg grundsätzlich Lindenberger. 24 Besondere Brennpunkte von Gewalt befanden sich in Lindenau im Westen, im Zentrum, im Seeburgerviertel östlich des Zentrums, sowie in Volkmarsdorf im Osten Leipzigs.

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riemen zu schlagen, so seine Aussage gegenüber der Polizei. Ruhmann floh die Treppen hinauf, wo ihn allerdings ein anderer, älterer Mann (wie sich später herausstellte der Vater eines der Angreifer von unten) erwartete, der seine Kameraden dazu aufforderte, »den Revolver« herauszuholen. In die Falle geraten ergab sich Ruhmann, woraufhin ihn die »Burschen« durchsuchten, allerdings ohne etwas zu finden. Bevor sie ihn gehen ließen, schlug ihm noch ein gewisser Heinrich Bachmann, der Sohn des älteren Herrn, ins Gesicht.25 Das Beispiel, und weitere hierfür werden folgen, zeigt, dass Nationalsozialisten in Arbeitervierteln lebten, oftmals in direkter Nachbarschaft zu politisch feindlich gesonnenen Arbeitern. Sie waren stets »Teil« der lokalen Szene, nicht nur, wenn sie mittels Demonstrationen versuchten, »rote« Arbeiterviertel zu »erobern«. Nachbarn waren, um mit Pamela Swett zu sprechen, »Feinde«.26 Der so genannte Rundling im Arbeiterviertel Lößnig war wiederholt Schauplatz solcher Auseinandersetzungen, beispielsweise im April 1932, als National­ sozialisten Flugblätter verteilten. Sie wussten, dass es sich um ein für sie gefährliches Pflaster handelte und hatten daher einen Schutz für ihre Flugblattverteiler organisiert. Einer von ihnen fuhr mit seinem Fahrrad die umliegenden Straßen ab, um nach politischen Gegnern Ausschau zu halten. Allerdings kam er nicht dazu, seine Kameraden zu warnen, da er selbst von etwa 15 Personen angegriffen wurde, die ihn vom Rad warfen und verprügelten. Einem Polizeibeamten gelang es zunächst, einen der Angreifer festzunehmen. Im anschließenden Tumult, in dem vier weitere Nationalsozialisten verwundet wurden, konnte der Angreifer jedoch entkommen. Zunächst behaupteten die Nationalsozialisten, bei den Angreifern habe es sich um Reichsbannerleute gehandelt; später jedoch beschuldigten sie Kommunisten.27 Im Vorfeld der Reichstagswahlen am 6. November 1932 hatten Kommunisten für den 23.  Oktober eine Propagandaaktion in Leipzig-Mockau geplant. Hierzu hatten sie ihre »Häuserschutzstaffeln«, eine antifaschistische Wehrformation auf Nachbarschaftsbasis, aus verschiedenen Vierteln organisiert, wobei den einzelnen Abteilungen bestimmte Straßen zum Flugblattverteilen zugewie-

25 SStAL, PP S 151. Ähnlich LVZ, 15.6.1932. 26 Auch eine geographische Analyse von ca. 1.100 Wohnadressen von Kommunisten, Sozialdemokraten und Nationalsozialisten zeigt, dass diese Tür an Tür in den gleichen Vierteln und Straßen lebten. Kein Stadtteil und kaum eine Straße war, was die Wohnverhältnisse anbelangte, fest in der Hand einer Gruppierung. 27 SStAL, PP St 92. In der Akte finden sich auch weitere Beispiele von Angriffen auf flugblattverteilende Nationalsozialisten durch Kommunisten oder Sozialdemokraten, etwa im November 1932, als 140  Kommunisten 40  Nationalsozialisten am Volkmarsdorfer Markt angriffen. Für weitere Beispiele SStAL, PP S 4076, PP S 5501, PP S 2702, LVZ, 12.7.1932, 24.10.1932.

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sen wurden. Auf ihrem Heimweg aus Mockau traf nun die 12. Abteilung (etwa 50 bis 60 Mann aus dem Seeburgviertel, einer kommunistischen Hochburg, in der die »Ärmsten der Armen« wohnten) auf zehn SA-Männer. Einen Angriff der Kommunisten fürchtend sagte einer der SA-Männer, so seine spätere Aussage gegenüber der Polizei: »Kameraden, tut uns nichts, ihr seid viel mehr und wir sind doch alles Arbeiter!« Was genau danach passierte, lässt sich nicht zweifelsfrei rekonstruieren; jedenfalls kam es zu einem Handgemenge, in dem der Nationalsozialist Alfred Manietta mit einem Messer verwundet wurde. Ein Jahr später, im Oktober 1933, starb er an den Folgen der Verletzung.28 Eine weitere tödliche Auseinandersetzung trug sich bei der kommunistischen Landagitation im nahegelegenen Eythra im Juni 1930 zu, an der sich etwa 70 junge Kommunisten beteiligten. Gleichzeitig hielten Nationalsozialisten in der Stadt Werbeumzüge ab, die, als sie von der Präsenz der Kommunisten erfuhren, Verstärkung herbeiriefen. Schnell kam es zu extrem brutalen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf der junge Kommunist Johannes Franke von den Nationalsozialisten regelrecht gelyncht wurde.29 Ein Jahr später wurde der Fall in Leipzig verhandelt. Überzeugt, dass die Ausschreitungen von kommunistischer Seite begonnen wurden, sprach der Richter Dr. Protze die Nationalsozialisten frei und verurteilte ausschließlich Kommunisten. Frankes Genossen waren folglich empört, weshalb Mitglieder der 12.  Abteilung der Proletarischen Wehrorganisation am 2. Juli 1931 illegal vor dem Haus des Richters demonstrierten.30 Nachdem die Polizei die eigentliche Demonstration bereits aufgelöst hatte, traf eine Gruppe von etwa 60 Kommunisten auf zehn Nationalsozialisten. Die Kommunisten griffen sofort mit Steinen an; einer von ihnen zog eine Pistole und erschoss den Nationalsozialisten Blümel.31 Verkäufer nationalsozialistischer Zeitungen in der Innenstadt standen ebenfalls regelmäßig im Zentrum gewaltsamer Konflikte. Zwei dieser Verkäufer, Alfred Erkmann und Erhardt Hubert Hartmann, waren besonders oft in Auseinandersetzungen verwickelt, etwa am 7. August 1930. Erkmann unterhielt sich gerade mit Hartmann, der in der Mädler-Passage Zeitungen verkaufte, als eine Gruppe Kommunisten vorüber ging. Die Kommunisten beschuldigten später Hartmann, er habe sie als Arbeiterverräter beschimpft. Als sie ihn zur Rede stellen wollten, stieß Erkmann sie weg und schlug auf sie ein, unterstützt von weiteren Nationalsozialisten vor Ort. Erkmann stellte den Vorfall anders da. Keinesfalls hätte Hartmann die Kommunisten beleidigt. Vielmehr hätten diese plötzlich Hartmann umzingelt. Um seinen Kameraden zu schützen sei er, Erkmann, dazwischen gegangen, dann jedoch von Kommunisten geschlagen wor28 SStAL, PP S 2064. 29 Zum Mord in Eythra, SStAL, PP S 295/15, Amtsgericht Leipzig, 13391–13396, SAZ und LVZ, 16.6.1930 sowie die folgenden Tage. 30 SAZ, 1.7.1931. 31 SStAL, Amtsgericht Leipzig 13388–13390, 4.7.1931. An den folgenden Tagen nahmen die Nationalsozialisten gewaltsam Rache, SAZ, 4.7.1931, und 7./8.7.1931.

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den. Insbesondere beschuldigte er eine Kommunistin namens Frieda Heinrich, die ihn beleidigt und die anderen Kommunisten aufgestachelt habe.32 Politische Versammlungen und Demonstrationen gehörten ebenfalls zu Aktivitäten, die regelmäßig in Gewalt mündeten, insbesondere, wenn sie in »feindlichen« Gegenden stattfanden. Im Juni 1932 etwa fand eine ganze Serie von nationalsozialistischen Demonstrationen in Arbeitervierteln statt, die alle mit mehr oder weniger heftigen Ausschreitungen endeten. Die Serie erreichte ihren Höhepunkt am Montag den 27. Juni 1932, als die Nationalsozialisten, wie die SAZ formulierte, eine »Strafexpedition« gegen den »roten Osten« als Re­ vanche für ihre in der Vorwoche gescheiterten Demonstrationen durchführten.33 Die Reaktionen der Gegner der Nationalsozialisten (Arbeiter, Anwohner, Kommunisten, oder Sozialdemokraten – es ist unmöglich zu sagen, wer genau sich beteiligte) fielen ungewöhnlich heftig und gewaltsam aus. Am Volkmarsdorfer Markt, einem traditionellen Versammlungsort der Arbeiterbewegung, wurden Barrikaden aus Fässern, Lastwagen und sogar einem Straßenbahn­ waggon errichtet, wie der Polizeibericht vermerkte. Es dauerte nicht lange, bis es zu schweren Ausschreitungen mit der Polizei kam. »Straßenkämpfer« zerstörten Hunderte Laternen, um im Schutz der Dunkelheit – die Ausschreitungen fanden gegen halb elf abends statt – agieren zu können. Der Polizei zufolge nutzten Kommunisten ein nahegelegenes Gasthaus als Kommandozentrale, von der aus führende Kommunisten Anweisungen gaben. Die KPD mobilisierte auch Arbeitersamariter, weshalb die Polizei davon ausging, dass die Ausschreitungen vorbereitet waren. Im Verlaufe der Auseinandersetzungen wurden auch (laut Polizei von kommunistischer Seite)  Schüsse abgegeben, woraufhin die Polizei das Feuer erwiderte. Der stadtbekannte Kommunist und Weltkriegs­ veteran Bernhard Dornberger, 53 Jahre alt, starb im Kugelhagel. Weitere Beteiligte wurden verwundet.34 Andere nationalsozialistische Demonstrationen mündeten ebenso in Ausschreitungen, auch wenn diese weniger heftig ausfielen. Am 10. Januar 1932 beispielsweise zogen »nur«, wie die SAZ betonte, 3.000 Nationalsozialisten durch Leipzig-Lindenau. Um gegen den Aufmarsch zu protestieren, hatten sich, nach Aufrufen der KPD, einige Tausend Menschen in den Straßen am Rande des Aufzugs eingefunden. Während des eigentlichen Aufmarschs blieb es relativ ruhig, auch wenn einige kleinere Schlägereien ausbrachen, als sich keine Polizei in der Nähe befand. Als jedoch ein Teil der Nationalsozialisten, etwa 70 Mann, unerwartet die Demonstrationsroute verließ und gen Schleußig marschierte, nutzten Kommunisten die Gelegenheit, um die Nationalsozialisten, die in diesem Moment nicht von der Polizei geschützt waren, mit Steinen und Schusswaffen 32 SStAL, PP S 266. Erkmann war an zahlreichen weiteren Auseinandersetzungen mit Kommunisten und Sozialdemokraten beteiligt, SAZ, 9.8.1930. Zu weiteren Fällen in die Hartmann verwickelt war PP S 693, PP S 4435, LVZ, 20.8.1930, SAZ, 27.11.1930. 33 Mehr Details zu diesen Demonstrationen unten, S. 77 f. 34 LVZ, 28.6.1932, SAZ, 28.6.1932, 29.6.1932, und SStAL, PP V 4927, PP St 92, PP S 3687.

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anzugreifen. Als die Polizei eintraf, konnte sie die Kommunisten nur noch fliehen sehen. Die Nationalsozialisten lagen verwundet am Boden; drei von ihnen hatten Schussverletzungen erlitten.35 Kommunisten hingegen versuchten immer wieder, im bürgerlichen Zentrum Leipzigs zu demonstrieren, was teils zu tödlicher Gewalt führte. Insbesondere bei kommunistischen Arbeitslosendemonstrationen kam es zu Angriffen auf die Polizei, die mehr als einmal mit Schüssen in die Menge reagierte. Am 3.  Dezember 1930 hatte die KPD eine legale Demonstration veranstaltet, die auf dem Flossplatz außerhalb der Innenstadt ihr Ende fand. Dort aber stieg ein un­bekannter Mann auf eine Kiste und erklärte: »Für uns gibt es keine Bannmeile!«, woraufhin die Menge, etwa 1.000 bis 1.500 Personen, nach der Innenstadt zog, wo Demonstrationen verboten waren. Als eine Sperrkette der Polizei sie aufhalten wollte, bildete die Menge eine Art »Keil«, so der Polizeibericht, um die Beamten zu überrennen. Einige der Demonstranten warfen Latten auf die Polizisten, darauf hoffend, dass die Beamten sich bücken würden um sie aufzuheben, woraufhin die Menge die Polizisten hätte überrennen können. Von der Menge bedroht zogen einige Beamten ihre Waffen und schossen, wobei sie drei Personen tödlich trafen, unter ihnen einen vollkommen unbeteiligten Passanten.36 Diese Demonstration verlief sicherlich außergewöhnlich gewaltsam. Bei zahlreichen anderen Demonstrationen griff die Polizei lediglich zum Gummiknüppel um die Menge zu vertreiben. Oftmals kam es spontan und situationsbedingt zu Gewalt. Manchmal jedoch gingen Kommunisten auch äußerst geplant gegen Nationalsozialisten vor. Am 1. Juni 1930 etwa berichtet das NSDAP-Mitglied Endomeit der Polizei, dass Kommunisten ihn und zwei Kameraden angegriffen hätten. Zur gleichen Zeit brachten Passanten den schwer verwundeten nationalsozialistischen Studenten Erhard Wagner zur Polizeistelle. Die Beamten fanden schließlich in der Langen Straße einen dritten verwundeten Nationalsozialisten, Gregor Baier. Laut Endomeits Aussage gingen die Nationalsozialisten die Kurze Straße entlang, als er einen Motorradfahrer bemerkte: »Er kam direkt auf uns zu gefahren, sah uns scharf an und fuhr dann in schneller Gangart wieder in Richtung Reudnitzer Rathaus zu.« Kurz darauf seien sie von etwa 30–40 Kommunisten mit Gummiknüppeln, Totschlägern und Messern angegriffen worden. Durch eine »vertrauliche Mitteilung« konnte die Polizei das Nummernschild und somit den Besitzer des Motorrads, den zwanzigjährigen Werner Holter, in Erfahrung bringen. In der Vernehmung erklärte Holter, er sei in dem Lokal »Zum Bierstall« gewesen, wo sich die Sächsische Arbeiterwehr (SAW), eine wei35 SStAL, PP S 241, SAZ, 11.1.1932, LVZ, 11.1.1932. Für weitere, weniger dramatische Beispiele von Gewalt im Kontext von Demonstrationen, SStAL, PP S 383, PP S 3202. 36 SStAL, PP S 5460, weiter PP St 81, SAZ, 4.12.1930, und die folgenden Tage, und LVZ, 4.12.1930. Eine andere Erwerbslosendemonstration, die mit Toten endete, fand am 25. Februar 1931 im Kontext des Weltkampftags gegen Erwerbslosigkeit am Volkmarsdorfer Markt statt. Vier Personen verloren ihr Leben, SAZ, 26.2.1931, LVZ, 26.2.1931.

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tere kommunistische Wehrformation, getroffen habe. Gegen 9:15 Uhr abends habe ihr »Führer« (Holter war offenbar SAW-Mitglied) Albert Murgel befohlen, zum Hauptbahnhof zu fahren, um nachzusehen, wann die Nationalsozialisten ankommen würden. Nachdem er berichtet hatte, dass deren Zug um 10:45 Uhr eintreffen würde (woher sie kamen bleibt unklar), beorderte ihn Murgel gegen 10:40 erneut zum Hauptbahnhof, wo er sah, dass die Nationalsozialisten in geschlossener Formation zu ihrem Lokal »Schiessers Restaurant« marschierten. Erneut berichtete Holter an seinen Führer Murgel, der ihm sodann Anweisung gab, ins Restaurant »Grenzjäger« zu fahren und die dortigen Kommunisten zu informieren, was Holter tat. Vermutlich waren es jene 30–40 Kommunisten, die die Nationalsozialisten angriffen. Später wurde Holter nach einer Denunziation eines Nachbarn zu acht Monaten Haft verurteilt.37 Kommunisten griffen nicht nur ihre politischen Gegner, Sozialdemokraten und Nationalsozialisten, an, sondern ebenso andere »Klassenfeinde«, etwa unbeliebte Vorarbeiter. Im August 1931 etwa wurde der Vorarbeiter in der Leipziger Wollkämmerei Heinze überfallen und zusammengeschlagen. Zunächst vermutete die Polizei einen familiären Konflikt, konnte dann jedoch in Erfahrung bringen, dass es sich um die Tat eines »Rollkommandos« der 1. Abteilung der Proletarischen Wehrorganisation gehandelt hatte, die Heinze für einen Spitzel der Fabrikleitung hielt. Der Hintergrund war, wie die Ermittlungen ergaben, dass ein kommunistischer Betriebsrat namens Friedrich Reimann mit einer Frau aus einer anderen Werkstatt flirtete und diese regelmäßig an ihrem Arbeitsplatz aufsuchte, was die Fabrikleitung auf Bitten Heinzes verbot. Dies war offenbar der Grund dafür, dass Reimanns kommunistische Freunde Heinze verprügelten. Die Polizei verhaftete schließlich fünf Kommunisten, unter ihnen Friedhelm Halfer, der als »fanatischer Kommunist« bekannt war. Sowohl Halfer als auch seine Genossen gestanden die Tat. War dies ein Akt »politischer« Gewalt, oder handelt es sich schlicht um einen privaten Racheakt? Zumindest einer der beteiligten Kommunisten rückte die Tat in ein politisches Licht, indem er betonte, Heinze habe die Tracht Prügel erhalten, weil er Arbeiter im Betrieb schikaniere.38 Damit handelte er gleichsam als Klassenfeind. Schließlich muss auf die bekannten Saalschlachten bei politischen Veranstaltungen eingegangen werden. Typischerweise störten Kommunisten nationalsozialistische Versammlungen, zumindest in Leipzig. Am 21. Oktober 1929 etwa veranstaltete die NSDAP eine öffentliche Versammlung im »Felsenkeller«. Im Saal hatten sich etwa 900 Personen, in der Mehrheit wohl Anhänger der KPD oder SAW, eingefunden, vor dem Saal standen weitere Gegner der Nationalsozialisten. »Gegen ½ 9 Uhr kamen die uniformierten Nationalsozialisten in Stärke von 180 Mann geschlossen in den Saal marschiert. Noch während ihres Aufzuges muss in der rechten Ecke des Saales eine Bemerkung gefallen oder sonst etwas geschehen sein, denn plötzlich stürzte sich die vorderste Gruppe der 37 SStAL, PP S 130. Zu einem anderen geplanten Überfall, PP S 2293. 38 SStAL, PP S 926.

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NSDAP-Leute auf den am weitesten rechts stehenden Tisch und schlug auf die dort sitzenden Personen ein. In diesem Augenblick wurden die Uniformierten von allen Seiten mit Stühlen, Biergläsern, Tellern und anderen Gegenständen beworfen.« In der darauffolgenden Saalschlacht wurden mindestens 25 Personen verletzt. »Bemerkt wird, dass es den Anschein erweckte, dass die Sprengung der Versammlung von Angehörigen der KPD planmäßig vorbereitet worden ist«, so abschließend der Polizeibericht.39 Die SAZ machte selbstverständlich die Nationalsozialisten für die Gewalt verantwortlich, berichtete aber nichtsdestotrotz stolz, die »Arbeiter« hätten die Nationalsozialisten in einer »regelrechten Schlacht« zurückdrängen können.40 Eine andere NSDAP-Veranstaltung endete gar tödlich für einen jungen Nationalsozialisten. Nach einer Versammlung in den »Rheingold-Festsälen« am 11. Februar 1931 forderten Kommunisten, die der Versammlung beigewohnt hatten, eine »Aussprache«, die ihnen aber nicht gewährt wurde, woraufhin eine Schlägerei folgte. Als die Nationalsozialisten den Saal verließen, wurden sie von einer Menge auf der Straße mit Schimpftiraden empfangen. Ein Unbekannter gab einen Schuss ab und traf den 17jährigen Nationalsozialisten Schröder tödlich.41 Nationalsozialisten waren nicht die einzigen Opfer kommunistischer Gewalt. Auch SPD-Veranstaltungen wurden von Kommunisten angegriffen. Am 5. November 1930 hatte die SAJ zu einer Versammlung über die »Faschismusgefahr« geladen. Unter den 1.500  Personen »beiderlei Geschlechts«, wie der Polizei­bericht betonte, befanden sich etwa 200 junge Kommunisten. Zunächst unterbrachen sie mehrfach den SAJ-Redner. Als ihnen am Ende der Veranstaltung eine Aussprache verweigert wurde, sprang der junge Kommunist Georg Erdmann, eine gewisse Persönlichkeit unter Leipziger Jungkommunisten, auf einen Tisch und forderte seine Genossen auf, den Saal in geschlossener Formation zu verlassen. An der Tür kam es zu einem Handgemenge, für das die Polizei die Kommunisten verantwortlich machte. Dieses mündete rasch in eine allgemeine Schlägerei, in der die Kommunisten mit Biergläsern, Stühlen und anderen Waffen angriffen, während die anderen Teilnehmer hinter die Bühne flohen, insbesondere Mädchen, die laut einem sozialdemokratischen Zeugen hysterisch schrien. Die Rolle, die Mädchen in den kommunistischen Zeugenaussagen spielten, ist einer näheren Betrachtung wert. Ein Kommunist erklärte beispielsweise, er habe einem Mädchen zu Hilfe kommen wollen, das am Boden gelegen habe und von SAJ-Mitgliedern geschlagen worden sei, woraufhin er selbst geschlagen wurde. Ein anderer Kommunist betonte, er habe sich nicht an dem Kampf beteiligt, weil seine Braut ihn zurückgehalten habe. Auch wenn die 39 SStAL, PP S 2433/19. 40 SAZ, 22.10.1929. Da der Artikel linke Gewalt verherrlichte, wurde der Autor zu einer Haftstrafe verurteilt, SStAL, PP S 2433/19. Die LVZ, 22.10.1929, legte eine gewisse Sympathie für die Kommunisten an den Tag und identifizierte die Nationalsozialisten als Aggressoren. 41 SStAL, PP St 7, sowie Amtsgericht Leipzig 13379, LVZ, 12.2.1931. Der Täter, ein 21 Jahre alter aktiver Kommunist, floh nach Moskau. Für weitere Beispiele LVZ, 19.2.1931, SStAL, PP S 4207.

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Gewalt von kommunistischer Seite ausging, so mussten am Ende doch die meisten Kommunisten frei gesprochen werden, da ihnen eine individuelle Tatbeteiligung nicht nachgewiesen werden konnte.42 Bei all diesen Gelegenheiten  – Demonstrationen, Saalveranstaltungen und Flugblattverteilaktionen  – konnten und mussten Teilnehmer Gewalt erwarten. Damit soll nicht behauptet werden, die meisten oder gar alle dieser Veranstaltungen hätten mit Gewalt geendet, wohl aber, dass damit gerechnet werden musste. Es war unmöglich, sich an politischen Aktivitäten zu beteiligen, etwa Flugblätter zu verteilen, ohne sich dem Risiko von Gewalt auszusetzen. Politik wurde, zumindest für Aktivisten an der Basis, eine stets potentiell gewaltsame Angelegenheit. Die politischen Praktiken, auf denen eine Demokratie aufbaute, Wahlwerbung oder Versammlungen, funktionierten nicht friedlich, wie sich mehr oder weniger täglich zeigte. Es würde meines Erachtens zu weit gehen, mit Michael Wildt zu behaupten, das Ziel der Gewalt sei die Zerstörung der Republik gewesen.43 Gleichwohl, im Ergebnis unterhöhlte die Gewalt die Stabilität und Legitimität der Republik, wie wiederholt argumentiert wurde, da sich der republikanische Staat als unfähig erwies, ein sicheres und stabiles Umfeld für politische Partizipation an der Basis zu schaffen. Die Demokratie funktio­ nierte nicht ohne Gewalt, so schien es; ob eine Demokratie die beste Lösung war, wurde damit für viele grundsätzlich fraglich.44 Explizit politische Veranstaltungen wie Demonstrationen oder Versammlungen waren jedoch nicht die einzigen Gelegenheiten, bei denen es zu Gewalt kam. Polizeiliche Statistiken geben einen Eindruck von der Häufigkeit gewaltsamer Auseinandersetzungen. Zwischen dem 1. Januar und dem 16. Juni 1932 wurden 388 Anzeigen wegen politischer Belästigung oder Schlägereien bei der Polizei eingereicht; im Zeitraum vom 17. Juni bis zum 30. Juli (am 31. Juli fanden Reichstagswahlen statt) allein gab es 364 Anzeigen, und vom 1. August bis zum

42 SStAL, PP S 2427, LVZ, 10.1.1931. Zu einem weiteren Zusammenstoß zwischen KJVD und SAJ, nachdem die SAJ den Kommunisten eine Aussprache verweigert hatte, LVZ, 25.7.1931. Für Beispiele kommunistischer Gewalt gegenüber Abtrünnigen in der Kommunistischen Opposition (KPO), die sich gegen den scharf anti-sozialdemokratischen Kurs der KPD aussprachen, siehe SStAL, PP St 43, 30.4.1929. 43 Wildt, S. 96–100. Ein ähnliches Argument bringt Swett, S. 294 f. Während Swett jedoch die Rolle von Politik in solchen gewaltsamen Auseinandersetzungen unterschätzt, geht Wildt zu weit, wenn er behauptet, das Ziel dieser Gewalt sei es gewesen, die Republik zu zerstören. Dies mag das Ergebnis der Gewalt gewesen sein, aber es erscheint kaum plausibel zu sein, dass Kommunisten und Nationalsozialisten sich mit dem ausdrücklichen Ziel bekämpften, eben durch diese Gewalt die Republik zu zerstören. 44 Siehe die bereits zitierte Literatur zur politischen Gewalt, Fn. 18. Weiterhin Mergel, System, S. 51 f.; Schumann, Gewalt, S. 359. Schumann bemerkt, die Allgegenwart der Gewalt habe das Gewaltmonopol des Staates und damit seine Legitimität untergraben, ein Argument, das bereits von Norbert Elias gemacht wurde, der meint, die Untergrabung des Gewalt­ monopols sei ein zentrales Ziel der Wehrformationen gewesen. Diese Makroperspektive kann jedoch nicht die Mikrodynamiken (territorialer) Gewalt erfassen.

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20. November 351.45 Sozialdemokraten, Kommunisten, Nationalsozialisten und Mitglieder anderer rechter Gruppen  – sie alle hatten mit Gewalt zu rechnen, nicht nur bei politischen Aktionen, sondern praktisch in jedem Moment auf der Straße, wenn sie von einer politischen Versammlung nach Hause gingen oder ein politisches Abzeichen trugen.46 In vielen Fällen diente ein nahegelegenes kommunistisches oder nationalsozialistisches Lokal als Ausgangspunkt für Gewalt, wie später zu erörtern sein wird. Diese Fälle zeigen, um es nochmals zu betonen, dass Nationalsozialisten in Arbeitervierteln keine »Eindringlinge« von außerhalb waren, sondern zur lokalen Szene gehörten.47 Politische Abzeichen oder gar Uniformen zu tragen, selbst eine Form der Poli­tisierung des Alltags, war bei Angehörigen verschiedener Parteien eine verbreitete Praxis. Die Nationalsozialisten hatten ihr Hakenkreuz, Sozialdemokraten die drei Pfeile, das Abzeichen der Eisernen Front, und Kommunisten Hammer und Sichel oder den fünfzackigen Stern. Diese kleinen Abzeichen erlaubten ebenso wie spezielle Kleidungsstile Freund und Feind zu identifizieren. Da Gewalt sich oft an diesen Abzeichen entzündete, untersagte die Polizei auf Basis der Notverordnungen zwischen März 1931 und Sommer 1932 immer wieder das Tragen dieser Abzeichen.48 Zwei Beispiele mögen genügen, diese »kleine« Gewalt zu illustrieren. Am Morgen des 17.  August 1932 begab sich Hubert Promm, Mitglied des Stahlhelms, gemeinsam mit seinen Brüdern Albert und Anselm, der ein Hakenkreuzabzeichen trug, zu seiner Arbeitsstätte. Auf dem Weg dorthin wurden sie von ortsansässigen Kommunisten beleidigt und bedroht. Heinrich Bachmann, einer der später festgenommenen Kommunisten, behauptete im Verhör, er habe die Brüder gewarnt, nicht mit solchen Abzeichen durch das linke Arbeiter­v iertel Lindenau zu laufen. Als die drei Brüder eine halbe Stunde später Huberts Arbeitsplatz verließen, hatten die Kommunisten Verstärkung geholt. Sie verlangten von Hubert und Anselm ihre Abzeichen abzunehmen, was diese jedoch verweigerten. Daraufhin griffen die Kommunisten an. Einer von ihnen ent45 SStAL, PP V 4927 Reichstagswahlen, und, für die letzte Zahl, PP St 92, wobei auch die Angreifer genannt werden: in 128 Fällen waren es Nationalsozialisten, in 81 Fällen Kommunisten, in 27 Fällen Angehörige der Eisernen Front, und in 115 Fällen konnte nicht geklärt werden, von wem die Gewalt ausging. Gute Überblicke über politische Gewalt in Leipzig bieten SStAL PP St 7–9 und PP St 92. Im August 1931 berichtete die Polizei etwa folgende vier Zwischenfälle: Am 5.8.1931 war ein Nationalsozialist von acht unbekannten Männern zusammengeschlagen worden; am 6.8.1931 wurde ein Vorarbeiter von 20  Männern an­gegriffen und geschlagen (siehe oben zu dem Fall); am 17.8.1931 wurden drei Stahlhelm-Mitglieder von 15  Kommunisten belästigt und geschlagen; am 31.8.1931 kam es zu einer Schlägerei zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten, die in der Überzahl waren und drei Nationalsozialisten verwundeten. 46 Zu Abzeichen, Schumann, Gewalt, S. 240. 47 Reichardt, Kampfbünde, S. 515 f. 48 Zum juristischen Hintergrund, Gusy, S. 194, 206. Zu Fällen, bei denen die Polizei in Leipzig gegen Kommunisten wegen verbotener Abzeichen vorging, SStAL, PP S 1690, PP S 2141, PP S 2422, PP S 6361.

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riss Anselm seinen Spazierstock und schlug ihn damit bewusstlos. Auf Alberts Pfiff mit einer Trillerpfeife hin – eine übliche Art und Weise, seine politischen Freunde zu warnen oder nach der Polizei zu rufen – rannten die Kommunisten davon, aber es gelang der sofort erscheinenden Polizei, Bachmann zu verhaften. Bachmann bestritt zwar sich an der Schlägerei beteiligt zu haben, wurde aber dennoch zu drei Monaten Haft verurteilt.49 Nationalsozialisten waren ebenso oft Angreifer wie Opfer. Am 4. Juli 1932 stand Eberhard Willy Möller, der ein SPD-Abzeichen trug, mit seiner Braut ­Marianne Inge Schiffels auf dem zentralen Augustusplatz in Leipzig, als ihn zwei NSDAP-Mitglieder, Meyer und Winkelmüller, angingen, um ihm das Abzeichen zu entreißen. Um sich zu verteidigen, griff er nach der Luftpumpe seines Fahrrads, die ihm aber einer der Nationalsozialisten entriss. Um ihre Wut auf die Sozialdemokraten zu rechtfertigen, erklärten Winkelmüller und Meyer gegenüber der Polizei, sie seien früher am Tag von mehreren Sozialdemokraten angegriffen worden. Sie gestanden ein, dass sie Möller das Abzeichen abnehmen wollten, behaupteten jedoch, dass Möller sie zuerst mit der Luftpumpe attackiert habe. Nur Meyer wurde zu vier Monaten Haft verurteilt, die er aber aufgrund eines Amnestiegesetzes nicht absitzen musste.50 Nicht immer bedurfte es Abzeichen oder Uniformen, um Freund und Feind zu identifizieren. Oftmals kannte man sich einfach aus der Nachbarschaft, so scheint es.51 Zwei Beispiele mögen erneut genügen. Im Mai 1931 etwa be­ lästigten und schlugen auf einem Waldweg bei Leutzsch Kommunisten vier Passanten, zwei Männer und ein Brautpaar, von denen sie annahmen, sie seien NSDAP-Mitglieder.52 Ein Jahr später, im Mai 1932 sahen drei junge Kommunisten einen ihnen bekannten Nationalsozialisten auf seinem Fahrrad, verfolgten und verprügelten ihn.53 Wie sich die Beteiligten als Freund und Feind identifizierten, wird nicht aus den Polizeiberichten klar. Vielleicht hielten die Beamten es schlicht für überflüssig, dies zu notieren. Aber es scheint zumindest ähnlich plausibel zu sein, dass sich die Beteiligten kannten, vor allem in Anbetracht des letzten Beispiels, da sie Tür an Tür wohnten, in derselben Fabrik arbeiteten, oder sich einfach vom Sehen her kannten. Während nationalsozialistische Demonstrationen in Arbeitervierteln in gewisser Weise »Expeditionen« in diese darstellten, belegen diese Auseinandersetzungen, dass Gewalt und Feindschaft ihren Ursprung in den Arbeitervierteln selbst hatten. Ein Beispiel vom August 1932 mag zeigen, wie leicht solche »kleinen« Konflikte die Anwohner mobilisieren konnten. Am 8.  August rempelte der Nationalsozialist Rudolf Böhme den Kommunisten Schöne an – kein besonders extremer Gewaltakt. Während 49 SStAL, PP S 139. 50 SStAL, PP S 2201, und PP St 92. Für weitere Fälle, PP S 3900/40, PP S 8183, PP S 6235, PP S 3087. Zu einem Fall, in dem die Gewalt vermutlich von Sozialdemokraten ausging, eine eher ungewöhnliche Konstellation, PP S 4485. 51 Beispielsweise SStAL, PP S 5144, PP S 6645. 52 SStAL, PP St 92. 53 SStAL, PP S 8252. Für weitere Beispiele PP St 92, PP S 1196, PP S 8252, PP S 4092.

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Schöne auf Anweisung der Polizei nach Hause ging, begab sich Böhme in das Lokal »Zum Anker«. Die Situation schien geklärt, doch der Schein trog. Binnen Minuten versammelte sich vor dem Lokal eine Menge Kommunisten und Handwerksgesellen, so der Polizeibericht, und drohte es zu stürmen. Erst als das Überfallkommando der Polizei eintraf, konnte die Menge zerstreut werden.54 Solche unerwarteten Zusammenstöße zwischen Nationalsozialisten und ihren Gegnern konnten auch in schlimmerer Gewalt enden, wie ein Fall aus dem Januar 1933 belegt. Am 18. Januar traf eine Gruppe von 50 Sozialdemokraten, Mitglieder der Kampfstaffeln (KS), einer ausschließlich in Leipzig existierenden linksgerichteten sozialdemokratischen Wehrformation, die eine entschlossenere Gangart gegenüber den Nationalsozialisten forderte,55 auf ihrem Weg zum Saalschutz für eine Veranstaltung in Probstheida auf etwa 20 SA-Männer. Zunächst wurden Beleidigungen ausgetauscht, dann sahen die Sozialdemokraten, wie die SA-Leute ihre Schulterriemen abnahmen. »Allgemein wurde gesagt: Passt auf, die haben etwas vor«, so ein sozialdemokratischer Zeuge. Als die Nationalsozialisten an den Sozialdemokraten vorüber gingen, fielen plötzlich etwa zwanzig Schüsse von SA-Seite, die zwei Sozialdemokraten sowie, wie es scheint, einen ihrer eigenen Leute verwundeten.56 Nationalsozialisten und ihre linken Gegner wohnten teils im selben Haus, was dazu führen konnte, dass es im Wohnumfeld zu Gewalt kam. Das Haus in der Sophienstraße 36 bietet ein Beispiel hierfür. Dort wohnten, um die KPDSprache zu verwenden, vornehmlich »proletarische« Familien, wie die SAZ behauptete, mit Ausnahme eines gewissen Großmanns, der NSDAP-Mitglied war. Er fühlte sich, so die SAZ, unter all den Proleten »nicht recht wohl« und glaubte »nun mit Hilfe seiner Freunde die Hausbewohner durch Terror vom Segen des Nationalsozialismus überzeugen zu können«. Am 19. Januar war ein »parteiloser Arbeiter« vor seinem Haus blutig geschlagen worden, und am darauf folgenden Tag »versuchten etwa 20 SA-Leute in dem Grundstück ihr Mordshandwerk zu vollbringen. Ein parteiloser Arbeiter, der vor dem Hause stand, konnte durch schnelle Flucht sich in ein Lokal retten, in welchem kommunistische Arbeiter sofort 40–50 Arbeiter mobilisierten und so den Überfall verhinderten, denn die Nazis zogen es vor, Leine zu ziehen«, so die SAZ. Die KPD nutzte die Situation und organisierte eine Hausbewohnerversammlung, die den Hauseigentümer aufforderte, Großmann zu kündigen. Immerhin sieben Anwohner traten der KPD und zehn der Roten Hilfe bei, wie die SAZ stolz berichtete.57 54 SStAL, PP S 120. 55 Zu den Kampfstaffeln, Vogel, 404 f., 439–447; Ziegs; Ziegs u. Ziegs. Weiterhin SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 517, V/5 043, V/5 329, V/5 097. 56 SStAL, PP S 497. Zwar gelang es der Polizei bis Mitte Februar einen der Schützen zu identifizieren, sie verhaftete ihn aber nicht. Zu einem weiteren Fall von Gewalt im Januar 1933, PP S 5502. 57 SAZ, 25.1.1932. Ein weiteres Beispiel von politischer Gewalt innerhalb von Wohnhäusern findet sich in der SAZ, 14.4.1932. Etwa 25 Nationalsozialisten hatten einen Arbeiter und ein befreundetes Paar in seiner Wohnung angegriffen.

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Kneipen und Lokale, die den Parteigängern als Treffpunkte dienten, standen ebenfalls oft im Mittelpunkt von Gewalt. Da diese später genauer dargestellt werden, soll hier ein Beispiel genügen.58 Am späten Abend des 21. Oktober 1932 wurde die Polizei zur Zeitzer Straße, Ecke Albertstraße in Leipzig-Connewitz gerufen. Das NSDAP-Mitglied Ernst Kurt Reim behauptete dort, er sei von Kommunisten vom Rad gestoßen und geschlagen worden. Als ihm seine Parteigenossen zu Hilfe kamen, flohen die Kommunisten ins nahegelegene Kleine Volkshaus. Reim behauptete, einen seiner Angreifer namens Gustav Herbert Winter persönlich zu kennen; dieser jedoch stritt ab, Reim geschlagen zu haben. Erst als er, Winter, gesehen habe, dass Reim einen Schlagring mit sich geführt hatte, versuchte er ihn festzuhalten. Die Polizei schloss den Fall ab, ohne gegen Winter Anklage zu erheben, bemerkte jedoch in ihrem Abschlussbericht, dass die »kommunistischen Trupps vor dem Lokal und hinter der Haustüre […] offensichtlich Reibereien mit politisch Andersdenkenden [suchten].«59 All diese Beispiele – und zahlreiche weitere könnten gegeben werden – zeigen, wie endemisch gerade »kleine« Gewalt in Leipzig während der letzten Jahre der Weimarer Republik, und insbesondere im Sommer 1932, war. Alltagsprak­ tiken, wie etwa das Tragen einer bestimmten Kleidung, aber auch schlichtweg die direkte Nachbarschaft politischer Feinde, die im gleichen Viertel oder gar Haus wohnten, politisierten das Alltagsleben, eine Thematik, die im folgenden Kapitel ausführlicher diskutiert wird. Gewaltsame, politisch motivierte Feindschaft prägte somit die Situation im lokalen Arbeitermilieu. Diese Gewalt konnte unterschiedliche und teils widersprüchliche Konsequen­ zen haben.60 Pamela Swetts Argument, dass die soziale und politische Ordnung der Weimarer Republik auf Nachbarschaftsebene zusammenbrach, da die Menschen das Vertrauen in nationale Institutionen wie Parteien und insbesondere den Staat verloren, da letzterer nicht mehr in der Lage war, ihre physische Sicherheit zu garantieren, scheint plausibel, allerdings fanden sich in Leipzig keine Anzeichen dafür, dass sie stattdessen versuchten, lokale Autonomie zu (re)etablieren.61 Hatte politische Gewalt eine mobilisierende Funktion in Arbeiter­v ierteln? Einerseits waren Feindschaft und Gewalt sicherlich die Basis für zahlreiche erfolgreiche Mobilisierungen, sowohl von links wie von rechts. Aber die gewaltsame Politisierung des Alltags hatte, vielleicht paradoxerweise, auch einen depolitisierenden Effekt. Sie schreckte Anwohner ab und führte 58 Zu Sturmlokalen und SA-Heimen Schumann, Gewalt, S.  285 f.; Reichardt, Kampfbünde, S. 339–475; Swett, S. 176, 220 ff.; Rosenhaft, Links gleich rechts?, S. 246; Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus, S. 376–382. Bei Reichardt findet sich auch ein kurzer Vergleich mit kommunistischen Kneipen. 59 SStAL, PP S 6645. Kommunisten griffen auch nationalsozialistische Bars an, etwa LVZ, 30.11.1929. Zu Gewalt, die von einem Sturmlokal der SA ausging, SStAL, PP S 91. 60 Schumann, Gewalt, S. 359, sowie Kap. 4 allgemein. Er argumentiert, dass sich »kleine« Gewalt bereits in den Jahren relativer Ruhe (1924–1929) ausbreitete und damit zur Erosion des politischen Fundaments der Weimarer Republik beitrug. 61 Swett, S. 294.

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dazu, dass sie sich von Politik insgesamt abwandten; vermutlich sehnte sich die Masse nicht direkt beteiligter »Zuschauer« einfach nach einer gewissen Ruhe, eine Sehnsucht, die sie, wie argumentiert wurde, empfänglich für autoritäre Lösungen machte.

1.2 Akteure und Situationen der Gewalt Wer beteiligte sich in Leipzig an Gewalt? In der großen Mehrheit waren dies junge Männer, zwischen 1895 und 1915 geboren,62 wobei das deutliche Übergewicht an Männern nicht bedeutet, dass Frauen gar keine Rolle spielten, wie ich andernorts gezeigt habe. Allerdings beteiligten sie sich nur in Ausnahmefällen aktiv an Gewalt. Häufiger scheinen sie, so zumindest die Darstellung in den Quellen, Männer ermutigt und aufgestachelt zu haben, wie das Beispiel vom Beginn dieses Kapitels nahelegt.63 In den meisten Fällen standen sich Nationalsozialisten auf der einen, und Kommunisten beziehungsweise Sozialdemokraten auf der anderen Seite gegenüber. Aber auch zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten kam es, wie einige der Beispiele bereits andeuteten, zu Gewalt. Der Mord an Max Warkus ist dabei nur das drastischste Beispiel.64 Andererseits gibt es nur wenige Beispiele gegenseitiger Hilfe.65 Alfred Späther etwa behauptet in seinem Erinnerungsbericht, den er in den frühen Jahren der DDR verfasste, dass die »Prügelei« zwischen Reichsbanner und RFB (der ab 1928 verboten war) gegen Ende der Wei62 Die Aussage beruht auf einer Analyse von ca. 700 KPD-, 200 SPD-, und 270 NSDAP-Mitgliedern in Leipzig, die mit der Polizei in Kontakt gekommen waren. Zur Generationenfrage, Schumann, Gewalt, S. 329 f. Zur »Männlichkeit« der Gewalt, Rosenhaft, Links gleich rechts?, S. 262–268. Ein soziologisches Profil der Akteure auf kommunistischer Seite findet sich bei dies., Beating. S. 167–207. 63 Zur Beteiligung von Frauen an Straßenpolitik, ausführlich Häberlen, Frauenpersonen. Dort auch zahlreiche Quellenbelege. 64 In der Forschung wurden die Auswirkungen dieser Gewalt zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten meiner Ansicht nach massiv unterschätzt. Schumann, Gewalt, S. 308, erwähnt gelegentlich Gewalt zwischen beiden Gruppen, untersucht aber nicht, welche Auswirkungen diese hatte. Weiter Rosenhaft, Beating, S.  162; Winkler, Schein, S.  457; Rohe, Reichsbanner, S. 342. Winker meint, solche Gewalt sei verbreitet gewesen, bietet aber kaum Belege dafür. 65 Die SAZ behauptete selbstredend immer wieder, Arbeiter »aller Richtungen« hätten gemeinsam gegen die Nationalsozialisten gestritten, beispielsweise SAZ, 7.6.1930. Ob dies der Wahrheit entspricht, lässt sich kaum feststellen. Die LVZ versuchte für gewöhnlich, ihre Anhänger von Straßenkämpfen fernzuhalten, wie später auszuführen sein wird. Erinnerungsberichte im SStAL behaupten jedoch immer wieder, die Kampfstaffeln der SPD hätten mit den Kommunisten gemeinsame Sache im Kampf gegen die Nationalsozialisten gemacht, beispielsweise SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 329. Andere Quellen bestätigen diese Behauptungen jedoch nicht, was nicht heißen muss, dass sie falsch sind.

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marer Republik zunahm.66 Im Dezember 1930 beispielsweise griff eine Gruppe Kommunisten Reichsbannerleute, die auf einer SPD-Veranstaltung in BöhlitzEhrenberg den Saalschutz gestellt hatten, auf ihrem Heimweg an. Die Reichsbannerleute bildeten daraufhin eine Sperrkette und drängten die Kommunisten in eine Seitenstraße ab. Allerdings kamen in diesem Moment etwa 100 weitere Kommunisten ihren Genossen zu Hilfe und griffen die Reichsbannerleute mit Leibriemen und Latten an. Nur zwei der Angreifer konnten verhaftet werden.67 Interessanterweise ist dies einer der wenigen Fälle von Gewalt zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten, der in staatlichen Archiven überliefert ist.68 Die Presse beider Parteien hingegen berichtete häufiger über Auseinandersetzungen zwischen den jeweiligen Gruppen, auch wenn Sozialdemokraten Kommunisten öfters der Gewalt bezichtigten als umgekehrt. Ein Bericht in der SAZ vom 14. November 1929 zeigt eine für die KPD typische Strategie. Die Kommunistische Jugend hatte eine Versammlung abgehalten, auf der auch Mitglieder der SAJ anwesend waren. Zunächst, so die SAZ, störten die jungen Sozial­demokraten die Veranstaltung und unterbrachen den Redner mit Zwischenrufen und Gejohle. Als den SAJ-Anhängern zu verstehen gegeben wurde, dass dies nicht geduldet werden würde, kam es zu einer Schlägerei, in der die SAJler aus dem Saal gedrängt wurden. Natürlich, so die SAZ, griff die Polizei nicht ein. Allerdings versuchte die SAZ die jungen Sozialdemokraten selbst zu entlasten, war der Angriff doch nur auf Befehl der SPD-Führung erfolgt; einige der SAJler hätten sich gar entschuldigt. Dies war eine für die KPD typische Strategie. Während sie die sozialdemokratische Führung kritisierte, versuchte sie immer wieder zu zeigen, dass die sozialdemokratische Basis solchen angeblichen Befehlen nur widerwillig gehorchte und in Wahrheit den Kommunisten nicht so feindlich gegenüber stand wie die SPD-Führung. Auf diese Weise versuchte sie wohl, eine Grundlage für eine Zusammenarbeit »von unten« zu schaffen.69 Vielleicht war es auch Teil dieser Strategie, dass die SAZ nach diesem Zwischenfall eine ausführliche Berichterstattung über Zusammenstöße zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten einstellte. Die sozialdemokratische LVZ hingegen berichtete auch weiterhin von solchen Zusammenstößen, etwa auf den Arbeitsnachweisen, wo es immer wieder zu Reibereien zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten kam. Beide Parteien versuchten dort zu agitieren, allerdings, wie das folgende Kapitel zeigen wird, 66 SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 353. 67 SStAL, Amtsgericht Leipzig 23133. Zu diesem Fall auch SAZ, 30.3.1931, LVZ, 29.3.1931. Zu einem ähnlichen Fall in Böhlitz-Ehrenberg, SStAL PP St 30. 68 Erinnerungen vormaliger KPD-Mitglieder im Staatsarchiv berichten sowohl von weiteren Zusammenstößen zwischen beiden Gruppen wie auch von Zusammenarbeit, etwa SStAL, Erinnerungsberichte, V 5/056. Kommunisten trafen auf Sozialdemokraten, die Wahlplakate der KPD mit Streifen überklebten, auf denen es hieß: »Wer Thälmann wählt, wählt Hitler.« Die Kommunisten »beschlagnahmten« daraufhin Leiter, Eimer und Kleister. Ähnlich V/5 401/1. 69 SAZ, 14.11.1929. Ähnlich SAZ, 23.10.1929.

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auf unterschiedliche Weise. Im Februar 1930 etwa verteilten Kommunisten vor dem Arbeitsnachweis in der Seeburgstraße Flugblätter ihres »Oberhäuptlings Thälmann«, wo sie auf Sozialdemokraten trafen, die dort »aufklärende« Flugblätter an Arbeitslose verteilten. Zunächst versuchten die Kommunisten nur, den lesenden Arbeitslosen die Flugblätter zu entreißen, so die LVZ, aber bald darauf gingen sie zum »Generalangriff« auf die Sozialdemokraten über. Offensichtlich, so die LVZ verbittert, wollten die Kommunisten verhindern, dass die Arbeitslosen ihre Rechte erfuhren.70 Vor allem, aber nicht ausschließlich, kam es zwischen den Jugendorganisationen SAJ und KJVD zu Gewalt, wie die bisherigen Beispiele zeigten.71 Im Februar 1930 beispielsweise griff eine Gruppe von etwa 50–60  Mitgliedern der Antifaschistischen Jungen Garde 12 SAJler an. Sie schlugen die SAJ-Jugendlichen mit Stahlruten und stahlen ihre Mützen, so die LVZ. Als die Polizei erschien, nahmen die »Rowdys« Reißaus, aber den Beamten gelang es dennoch, einen von ihnen zu verhaften.72 Später im Jahr, im September, überfielen Kommunisten eine sozialdemokratische Versammlung in Knautkleeberg. Zunächst konnten sowohl ein Kommunist als auch ein Sozialdemokrat eine Rede halten, aber dann entrollten die Kommunisten ein Transparent, auf dem die SPD als »Arbeiterverräter« angegriffen wurde. Nun schritt das Reichsbanner ein, was zu einer Schlägerei mit Bierkrügen und Messern führte. Das Reichsbanner bewirkte allerdings schleunigst den Rauswurf der Kommunisten, so die LVZ, konnte aber nicht verhindern, dass vier Arbeiter ernsthaft verletzt wurden, unter ihnen ein älterer Sozialdemokrat, dem ein junger Kommunist mit einem Stuhlbein auf den Schädel geschlagen hatte.73 Erst 1932 nahmen die Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten ab, und es kam vermutlich im Kontext der von KPD-Seite propagierten »Antifaschistischen Einheitsfront« vermehrt zur Zusammenarbeit gegen Nationalsozialisten.74 70 LVZ, 21.2.1930. Ähnlich LVZ, 24.4.1930, 15.7.1931. 71 Ähnlich SAZ, 16.5.1932. 72 LVZ, 20.2.1930. Ähnliche Beispiele LVZ, 21.1.1929, 13.5.1929, 19.9.1929, 15.11.1929, 17.5.1930, 3.9.1930. 73 LVZ, 9.9.1930. Zu einem weiteren Angriff von Kommunisten auf Sozialdemokraten, LVZ, 13.12.1930. Zunächst 20, dann 150 Kommunisten griffen Reichsbannermitglieder an, von denen zwei schwer verletzt ins Krankenhaus mussten. 74 SStAL, PP St 19.  Ähnliche Beispiele LVZ, 7.3.1932, 14.3.1932, SAZ, 30.6.1931, 18.6.1932, 24.6.1932, 25.6.1932. Allerdings ist gegenüber diesen Berichten wohl eine gewisse Vorsicht angebracht. Ähnlich SStAL, Erinnerungsberichte, V 5/517. Der Autor dieses Erinnerungsberichts, ein damaliges Mitglied der Kampfstaffeln, behauptet, Kommunisten und Sozialdemokraten hätten gemeinsam gegen die Nationalsozialisten gekämpft. Ob dies zutrifft oder eher eine retrospektive Wunschvorstellung war, muss offen bleiben. Weiterhin Voigt, Antifaschistische Aktion; LaPorte, Communist Party, S. 329–344. Beide überschätzen meines Erachtens die Bedeutung der Zusammenarbeit von SPD und KPD in Leipzig. In länd­ lichen Gegenden mag dies anders gewesen sein. Beide verlassen sich auch zu sehr auf interne KPD-Berichte für ihre Argumente. Zur Einheitsfrontstrategie Mallmann, Kommunisten, S. 365–380.

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Insgesamt waren Nationalsozialisten zwar an den meisten Auseinander­ setzungen als Angreifer und Angegriffene beteiligt, aber Gewalt war dennoch keineswegs auf Auseinandersetzungen zwischen »Links« und »Rechts« beschränkt. Es mögen erstere Auseinandersetzungen gewesen sein, die die Stabilität der Republik insgesamt schwerer beschädigten, aber für das links-proletarische Milieu waren sicherlich die Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten, und vor allem der Mord an Max Warkus, fatal. Die wenigen Fälle von gegenseitiger Unterstützung konnten an dieser Situation kaum etwas ändern. In dieser Gewalt ist sicherlich ein zentraler Grund dafür zu sehen, dass sich an der Basis von KPD und SPD kein Wunsch nach Einheit bildete, wie er in Frankreich in Reaktion auf die Februarereignisse 1934 entstand. Gewalt trug entscheidend dazu bei, dass die Spaltung der Arbeiterbewegung für politisch aktive Arbeiter (und, weniger häufig, Arbeiterinnen) an der Basis erfahrbar wurde. Vertrauen, das, wie in der Einleitung erläutert, entscheidend für Kooperation ist, konnte in Anbetracht dieser Gewalt kaum entstehen. Wie sollten Sozialdemokraten auch glauben, dass diejenigen Kommunisten, die gerade einen jungen Sozialdemokraten ermordet hatten, gemeinsam mit ihnen »ehrlich« gegen den Faschismus kämpfen wollten?75 Neben den jungen Männern verfeindeter politischer Lager ist die Polizei als weiterer wichtiger Akteur auf den Straßen Leipzigs zu nennen, wie die tödlich verlaufenen kommunistischen Demonstrationen bereits zeigten. Seit 1923 hatte Leipzig mit Heinrich Fleißner einen sozialdemokratischen Polizeipräsidenten.76 Auch in den unteren Rängen dienten einige sozialdemokratische Beamte, die teils (illegal) die Kampfstaffeln ausbildeten.77 Kommunisten bot dies natürlich ein willkommenes Ziel, symbolisierte Fleißner doch gleichsam die Symbiose des bürgerlich-kapitalistischen Staates und der verräterischen Sozialdemokratie, die nicht davor Halt machte, revolutionäre Arbeiter ermorden zu lassen, um den Kapitalismus zu schützen. »Schießt sie tot, mit Pulver und mit Blei, die Nazi [sic] und die Fleißnerpolizei«, war eine oft gehörte Parole auf kommunistischen De75 LVZ, 1.10.1931, »Kameradschaft – mit dem Messer?« Kommunisten hatten Sozialdemokraten zu einer Aussprache eingeladen, was diese jedoch unter Verweis auf den Mord an Max Warkus ablehnten. Weiterhin LVZ, 21.12.1931. Unter der Überschrift »Einheitsfront mit Max Kramer?«, dem Mörder von Warkus, berichtete die LVZ über ein Treffen von Sozialdemokraten, Kommunisten und Oppositionellen Kommunisten (KPO), auf dem es um Bildung einer Einheitsfront ging. »Nichts ist notwendiger als eine einheitliche, geschlossene Front aller proletarischen Schichten gegen die Verkünder der Bartholomäusnacht, die Todfeinde des Proletariats. Die Kommunisten schreien nach Einheitsfront. […] Tatsächlich verwirklichen sie die Einheitsfront mit den Faschisten.« Zum Zusammenhang zwischen Gewalt und Vertrauen, grundsätzlich Reemtsma. Kritisch dazu Frevert, Rezension. 76 Eine Kurzbiographie Fleißners findet sich bei Schmeitzner; Vogel, S. 240, Fn. 5. Fleißner, geboren 1888, hatte sich 1905 der SPD angeschlossen. Er war Polizeipräsident in Leipzig von 1923 bis 1933, bevor er 1934 bis 1937 in Schutzhaft saß. Danach war er im sozialdemokratischen Widerstand aktiv, was ihn ins KZ Sachsenhausen brachte. 77 SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 401/1, sowie Vogel, S. 644 f.

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monstrationen, zumindest bis die Polizei eintraf, war die Parole doch illegal.78 Während des kommunistischen Reichsjugendtags Ostern 1930 wurde zwar kein Beamter erschossen, aber junge Kommunisten aus Berlin lynchten zwei Beamte, unter ihnen den sozialdemokratischen Hauptmann Galle, woraufhin die Polizei einen jungen Kommunisten erschoss.79 Für die jeweiligen Lager war dies wohl ein weiterer Beweis für die Brutalität der Kommunisten beziehungsweise die Behauptung vom Sozialfaschismus. Gleichwohl, auch wenn die Polizei einen Sozialdemokraten als Präsidenten hatte, so gab es unter ihm doch auch zahlreiche Anhänger der politischen Rechten in den Rängen der Polizei. Polizeihauptmann Knofe (der unter den Nationalsozialisten Leipzigs Polizeipräsident wurde)  war ein notorisches Beispiel hierfür. Selbst die üblicherweise gegenüber der Polizei freundliche LVZ beschwerte sich im Februar 1931 darüber, dass die unter ihm dienenden Beamten besonders freizügig vom Gummiknüppel Gebrauch machten, um gegen Gegner der Nationalsozialisten vorzugehen.80 Tödlich verlaufende Auseinandersetzungen mit der Polizei waren allerdings eher die Ausnahme. Häufiger kam es zu weniger dramatischen Zwischenfällen. Manchmal geschah dies im Kontext dezidiert politischer Aktivitäten wie Demonstrationen oder Versammlungen, manchmal konnte ein zunächst unpolitischer Zwischenfall durch das Eingreifen der Polizei eine politische Dimension erhalten, zumindest in der medialen Inszenierung. Aus diesem Grund macht es Sinn, Auseinandersetzungen mit der Polizei im Kontext von politischer Gewalt zu analysieren. Im September 1929 berichtete die SAZ über eine ganze Reihe von »Polizeiskandalen«. Bereits am 30.  August habe die »Fleißnerpolizei«, so die SAZ am 5. September, beinahe einen Arbeiter umgebracht. Drei betrunkene Arbeiter hatten eine Eisverkäuferin vor dem Arbeitsnachweis in der Gerberstraße belästigt. Als die Polizei versuchte, sie in das Gebäude zu führen, um dort ihre Namen festzustellen, versuchte einer der Arbeiter nach dem Beamten zu treten, der ihn daraufhin mit seinem Schlagring schlug. Die Polizisten nahmen sodann den Arbeiter und seinen Freund fest und brachten sie zur Wache, wo sie, so die SAZ, schwer misshandelt wurden. Es ging gar das Gerücht um, dass einer von ihnen getötet worden sei, was allerdings eine falsche Anschuldigung war. In der Zwischenzeit hatte sich auf der Straße eine Menge gebildet, die die Polizei bedrohte.81 »Da die beteiligten Beamten lediglich bei zwei Arbeitern Unterstützung fanden, im übrigen aber die sich bei solchen Gelegenheiten bildende Menge die Beamten bedrohte, blieb einem der Beamten nichts anderes übrig, als sie durch die Androhung, gegebenenfalls von der Schusswaffe Gebrauch zu 78 SStAL, PP S 2422. 79 LVZ, 22.4.1930, 23.4.1939, 24.4.1930, 6.5.1930. Für die kommunistische Darstellung, SAZ, 22.4.1930, 23.4.1930, 5.5.1930, 6.5.1930. 80 LVZ, 19.2.1931. Weiterhin SAZ, 4.3.1931 Zur Leipziger Polizei, Schreiber. Dieser führt aus, dass die Polizeibeamten in den letzten Jahren der Republik gleichsam gelernt hätten, die KPD zu hassen, was ihren Eifer bei deren Zerschlagung nach dem Januar 1933 erklärt. 81 SAZ, 5.9.1929.

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machen, in Schach zu halten«, hieß es in einer Stellungnahme der Polizei, die die SAZ zwei Tage später abdrucken musste. Erst das Überfallkommando der Polizei konnte die Menge zerstreuen. In der Lesart der SAZ allerdings war die Reaktion der Menge ein klares Anzeichen dafür, dass die Polizei provozierend aufgetreten war.82 Was auch immer geschehen war, die Ereignisse sollten ein Signal für die Arbeiterschaft sein: »Arbeiter sind vogelfrei, wenn sadistische Polizei­beamte ihr Mütchen an ihnen kühlen wollen. […] Das ist das wahre Gesicht des Sozialfaschismus.« Schließlich waren es die Beamten des Sozialdemokraten Fleißner, die so handelten.83 Nur eine Woche später produzierte die SAZ einen weiteren »­Fleißnerskandal«, wie die LVZ es nannte. Der Straßenbahnarbeiter Hofberg, ein Kriegsversehrter mit einem Holzbein, hatte gesehen, wie die Polizei einen Mann zusammenschlug und wollte nachsehen, was vor sich ging. Als er sich – laut einer späteren Erklärung der Polizei »mit drohend erhobenen Fäusten« – dem Geschehen näherte, nahmen ihn die Beamten fest, da er sie als »Lumpen« beleidigt hatte. In der Zwischenzeit, so wiederum die SAZ, hatte der Vorfall auf der Baustelle, auf der Hofberg arbeitete, einige Unruhe ausgelöst. Seine Kollegen verließen spontan ihre Arbeitsstelle und marschierten zur Polizeiwache, wo sie, zumindest laut SAZ, erfolgreich die Freilassung Hofbergs forderten.84 Am Tag darauf war in der LVZ eine gänzlich andere Version der Ereignisse zu lesen, die sich auf den Polizeibericht bezog. Die Polizei war gegen einige Zuhälter vorgegangen und hatte Passanten aufgefordert, weiter zu gehen. Ein junger Mann jedoch machte sich einen Spaß daraus, nach der Mütze des Beamten zu greifen, woraufhin ihn der Beamte mit dem Gummiknüppel auf den Arm schlug. Das war die Szene, die Hofberg gesehen hatte. Nun rannte er auf die Beamten zu, die Fäuste drohend erhoben, und rief: »Ihr Lumpen schlagt Arbeiter!« Er umschlang dann einen der Beamten so fest, dass dieser von einem Kollegen befreit werden musste. Aber schon auf dem Weg zur Wache bedauerte es Hofberg, Partei für Zuhälter ergriffen zu haben, so die LVZ. Nachdem die Polizei seinen Namen festgestellt hatte, wurde er entlassen, ohne dass dies etwas mit protestierenden Kollegen zu tun gehabt hätte.85 In einer offiziellen Stellungnahme der Polizei, die sowohl in der LVZ als auch der SAZ gedruckt wurde, warf Fleißner der SAZ vor: »Die SAZ benutzt auch diese Vorgänge zu einer maßlosen Übertreibung und Hetze gegen die Polizei, deren aufopferungsvolle Arbeit durch die eingetretene Verhetzung sehr erschwert wird.« Die SAZ kommentierte scharfzüngig, es wäre kaum glaubhaft, dass ein Arbeiter mit Holzbein einen Beamten mit Knüppel so umklammern 82 SAZ, 7.9.1929. Weiterhin SAZ, 6.9.1929, und LVZ, 6.9.1929, die bestätigt, dass sich die Menge der Polizei gegenüber feindlich gezeigt hatte, was leider allzu gewöhnlich war in solchen Situationen. 83 SAZ, 5.9.1929. 84 SAZ, 13.9.1929. 85 LVZ, 14.9.1929.

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könne, dass dieser sich erst mit Hilfe eines Kollegen befreien könne.86 Dies war, so scheint es, der letzte größere Zwischenfall, bei dem es nicht explizit um Politik ging, den die SAZ nutzte, um gegen die Polizei und Fleißner im Besonderen zu agitieren. In weiteren Zwischenfällen mit der Polizei während der frühen 1930er Jahre spielte Politik von vornherein eine Rolle. Im Dezember 1931 hatte die Rote Hilfe eine Versammlung im Krystallpalast abgehalten, auf der etwa 3.500 Personen dem früheren Polizeibeamten Giesecke aus Berlin zuhörten. Im Anschluss an die Veranstaltung kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. Der Polizei zufolge hatte die Menge beim Verlassen der Halle ein kommunistisches Lied angestimmt und die Beamten beleidigt. Einige der Besucher schlugen gar gezielt auf einzelne Beamte ein. Auf die polizeiliche Aufforderung, das Singen einzustellen und auseinander zu gehen, reagierte die Menge nicht. Daraufhin ließ der befehlshabende Beamte seine Männer eine Sperrkette bilden, die, so der Polizeibericht, sofort mit Steinen angegriffen wurde. Gegen heftigen Widerstand und mit Hilfe des Gummiknüppels gelang es der Polizei schließlich, die Menge zu zerstreuen, wobei offenbar auch einige unbeteiligte Passanten Opfer der Polizei wurden.87 Während sich diese Konfrontation zwischen der Polizei und der kommunistischen Anhängerschaft direkt aus einer politischen Versammlung heraus entwickelte, hatte ein Zwischenfall vom November 1932 zunächst keinen politischen Kontext, wurde aber von Kommunisten bald dazu benutzt, um gegen die Ordnungskräfte zu agitieren. Am 4. November 1932 musste ein Beamter eine Gruppe von Herbergsgästen vor der Zentralherberge zum Weitergehen auffordern, was auch alle bis auf einen gewissen Alfred Reidel taten. Durch sein Verhalten glaubte Reidel, den Beamten bei den etwa 25–30 anwesenden Kommunisten lächerlich zu machen, so der Polizeibericht. Trotz der Aufforderung ging Reidel nicht weiter, weshalb sich immer mehr Leute ansammelten, die den Verkehr behinderten, weshalb der Beamte schließlich beschloss, Reidel zur Wache zu führen. Reidel aber schlug ihn sofort auf den Kopf. In diesem Moment drängte sich Burkhart Kaiser dazwischen, der Reidel aufforderte, nicht mit zur Wache zu gehen. »Durch das Verhalten des Reidel und Kaiser war die Nordstraße vollkommen mit Menschen verstopft,« wie der Polizeibericht bemerkte. Diese Menge, 150–200 Personen, laut Polizei größtenteils KPD-Angehörige, nahmen gegen den Beamten eine drohende Haltung ein. Als der Beamte Reidel in ein Hausgrundstück führen wollte, erhielt er von dem später festgestellten Klaus R ­ einhart einen Schlag auf den Hinterkopf. Reinhart konnte zunächst in die ihn schützende Menge entkommen. Die Menge bedrängte den Beamten so sehr, dass er glaubte, seinen Revolver ziehen zu müssen. In diesem Moment traf allerdings Verstärkung ein, der es gelang, Reidel, Kaiser und Reinhart – alle drei KPD-Angehörige – festzunehmen.88 86 SAZ, 16.9.1929, LVZ, 17.9.1929. 87 SStAL, PP St 65. Weiterhin PP S 4486, SAZ, 4.12.1931, LVZ, 3.12.1931. 88 SStAL, PP S 1574. Zu einem ähnlichen Fall, PP S 4298. Während eines kommunistischen Hungermarschs versuchte Gustav Scheffler seine Genossen aufzustacheln, indem er rief:

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Wie sind diese Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und der Polizei, die sicherlich kein Novum der späten Weimarer Republik darstellten, einzuordnen?89 Sie sind im Kontext anderer Formen von Gewalt in den Straßen Leipzigs zu verstehen.90 Sie stellte sozusagen eine »Frontlinie« auf dem vielschichtigen »Schlachtfeld« dar, zu dem Leipzigs Straßen wurden. Während Gewalt zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten das Arbeitermilieu entzweite, wurde in gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei die Autorität des Staates selbst herausgefordert, der in den Augen der KPD zudem von der SPD, die immerhin den Polizeipräsidenten stellte, verkörpert wurde. Ob und inwieweit diese Gewalt politisch war, blieb offen und hing von der jeweiligen Perspektive ab. Während die Polizei, wie auch die sozialdemokratische LVZ, bewusst versuchten, sie zu depolitisieren,91 interpretierte die kommunistische SAZ diese Auseinandersetzungen als Ausdruck des Klassenkampfes, was ihnen einen politischen Gehalt gab. In diesem Sinne trug die Gewalt zwischen Polizei und (kommunistischen) Arbeitern zur Politisierung des Alltags bei. In solchen Momenten konnten Arbeiter gleichsam aus erster Hand die Bedeutung des Klassenstaates und des »Sozialfaschismus« erfahren – zumindest aus kommunistischer Perspektive.92 Die Tatsache, dass sowohl LVZ als auch Polizei so sehr betonten, dass zumindest einigen dieser Vorfälle keine politische Bedeutung zukam, deutet an, dass die kommunistische Interpretation auf eine gewisse Zustimmung stieß. Andernfalls hätten es SPD und Polizei vermutlich nicht für nötig befunden, so nachdrücklich dagegen anzugehen. Schließlich ist auch auf Aktionen zur Verhinderung von Zwangsräumungen, Lebensmittelplünderungen und (gewaltsame) Streiks einzugehen. Wie in ganz Deutschland verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation in Leipzig zu Beginn der 1930er Jahre dramatisch. Die Arbeitslosigkeit schnellte von 27.479 im Juni 1929 auf 102.357 im Juli 1932 nach oben.93 Während noch in Lohn und Brot stehende Arbeiter deutliche Lohnkürzungen hinnehmen mussten,94 er»Nieder mit der Fleißnerpolizei! Ihr vollgefressenen Schweine!« Ein Jahr später, im Dezember 1931, wurde er erneut wegen Beamtenbeleidigung verhaftet: Er hatte es gewagt, den Beamten zu duzen. 89 Grundsätzlich Lindenberger. 90 Aus diesem Grund wird die sicherlich existente Gewalt gegen Frauen im privaten Bereich, wie sie Eva Brückner schildert, hier nicht diskutiert werden. 91 Später wurden Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und der Polizei, etwa der Zwischenfall vor der Zentralherberge, auch von der Polizei als politische betrachtet. 92 Hierzu auch Wirsching, Weltkrieg, zusammenfassend vergleichend etwa S. 614, 620 f. 93 Statistisches Amt Leipzig, Monatsbericht Juli 1932. 94 Versuche, Arbeitslose untertariflich zu bezahlen, konnten ebenfalls zu Gewalt führen. Im April 1929 hatten sich Arbeitslose bereit erklärt, als Erdarbeiter für 75 Pfennige die Stunde (anstatt dem Tariflohn von 1,05 Mark) zu arbeiten. Als dies auf dem Arbeitsnachweis bekannt wurde, formierte sich ein Demonstrationszug von etwa 100 Personen und zog zum Haus des Arbeitgebers in der Nordstraße. Zwar kehrte die Demonstration um als sie von der Polizei gestoppt wurde, aber dennoch dauerten Auseinandersetzungen mit Arbeitslosen an. Die Polizei verhaftete zwei Arbeitslose, die später zu acht Monaten Haft verurteilt wurden.

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ging es Arbeitslosen weitaus schlimmer, mussten sie doch mit kaum ausreichenden Wohlfahrtsleistungen über die Runden kommen. In dieser Situation nahmen einige Arbeiter die Dinge selbst in die Hand und holten sich aus den Läden, was sie brauchten. Auch wenn solche Lebensmittelplünderungen selten gewaltsam verliefen, so sind sie doch ebenso wie Aktionen gegen Zwangsräumungen (Streiks werden im folgenden Kapitel besprochen) im Rahmen politischer Gewalt zu besprechen, als beide Formen sozialen kollektiven Handelns politisiert wurden.95 Eine der ersten der hier vorzustellenden Lebensmittelplünderungen trug sich im Mai 1932 zu. Am 11. Mai plünderten 7 oder 8 »junge Burschen«, wie die LVZ die Diebe nannte, eine Metzgerei mit der Erklärung, sie seien arbeitslos und bräuchten etwas zu essen.96 Eine Woche später, am 18. Mai, kam es zu einer ganzen Serie von Plünderungen. Etwa 20 »junge Burschen« betraten ein Buttergeschäft und erklärten, sie kämen von der »Nothilfe« um Lebensmittel zu sammeln. Als die Filialleiterin Hilfe holen wollte, rief einer der Diebe: »Stehen bleiben oder ich schieße!«, woraufhin die Räuber 45 Pfund Wurstwaren und ein Stück Butter einpackten. Zum genau gleichen Zeitpunkt drangen 5 bis 8 junge Männer in eine Fleischerei in der Kohlgartenstraße ein. Als die Geschäfts­ inhaberin sie fragte, was los sei, riefen sie: »Nur Hunger!«, und stahlen 25 Pfund Wurstwaren. Gleichzeitig wurden zwei weitere Lebensmittelgeschäfte geplündert, weshalb die Polizei, die keine Täter festnehmen konnte, von geplanten und koordinierten Aktionen ausging.97 Aus Sicht der SAZ hingegen war entscheidend, dass einzig Lebensmittel und kein Geld gestohlen wurde, was zeige, dass Hunger das einzige Motiv war.98 Handelte es sich bei diesen Taten um »unpolitische«, kriminelle Akte von hungrigen jungen Männern? Selbst die LVZ gestand zu, dass es sich um die Taten einzelner, vom Hunger getriebener Personen handelte, betonte aber, dass Hunger ein schlechter Ratgeber sei. Weder Angriffe auf Bedienstete der städtischen Sozialfürsorge noch die Plünderung von Lebensmittelgeschäften würden dazu beitragen, die Not zu lindern; ebenso wenig würde damit der Kapita­ Der SAZ zufolge behauptete ein Reichsbannermann stolz, er könne immer Arbeit finden, da er willens sei für jeden Lohn zu arbeiten. SStAL, PP St 82, und SAZ, 11.4.1929, 24.5.1929. 95 Zu Lebensmittelunruhen in der frühen Weimarer Republik P. Weber, S. 340–349; Gailus; M. H. Geyer. Allerdings betont Dirk Schumann, dass Plünderungen in der Frühphase der Republik, im Gegensatz zu ihrer Spätphase, von Zeitgenossen nicht als politische Unruhen wahrgenommen wurden, Schumann, Gewalt, S. 64 f., 300f; ders., Violence, S. 237–239. 96 LVZ, 12.5.1932, und SStAL, PP St 82. Bereits zwei Tage vorher, am 10.5.1932, hatte die LVZ über gut organisierte Plünderungen berichtet. Zu früheren Fällen von Lebensmitteldiebstählen, SAZ, 12.6.1931, 15.6.1931, 20.6.1931, SStAL, PP St 7. Die Polizei fand Handzettel, auf denen es hieß: »Hungernde Arbeiter holt Euch aus den vollen Geschäften, was ihr braucht. Leistet Widerstand, wehrt Euch gegen Gummiknüppel und Polizeigewalt. Zeigt die Faust.« (Polizeibericht vom 24.6.1931.) Damit hatte die KPD dezidiert zu Plünderungen aufgerufen, so die Polizei. Als Konsequenz verbot sie alle kommunistischen Demonstrationen. 97 LVZ, 19.5.1932. 98 SAZ, 20.5.1932.

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lismus geschwächt, wohl aber die Demokratie – eine offensichtlich an die KPD gewandte Kritik, deren Presse immer wieder zustimmend über Lebensmittelplünderungen berichtete. Dies deutet bereits an, dass es sich nicht um vollkommen unpolitische Taten handelte.99 Eine weitere Serie von Plünderungen um Weihnachten 1932 bietet weitere Belege für diese These. Unter dem Ruf »Wir wollen Wurst für die Erwerbslosen!« stahl eine Gruppe von etwa 15 jungen Männern am 23.  Dezember 1932 Waren im Wert von 70 Mark aus dem Lebensmittelgeschäft »Zu den Drei Glocken«. Wie in diesen Fällen üblich traf die Polizei zu spät ein, um die Täter festnehmen zu können. Laut LVZ war dies allerdings kein spontaner Akt hungriger junger Männer, waren doch im Vorfeld Handzettel verteilt worden, auf denen es hieß: »Wer nichts zu essen hat, hole es sich!« Und zur Begründung: »Weil wir Jungarbeiter nicht ewig ohne Arbeit und Brot, das uns der Kapitalismus niemals mehr geben kann, auf der Straße liegen bleiben können und wollen, […]« »Das ist die Moral des Lumpenproletariats. Das hat mit unerbittlichem Klassenkampf nichts zu tun«, so die LVZ in anti-kommunistischem Ton. Gleichzeitig lehnte sie es aber ab, sich über die Taten moralisch zu empören, wusste sie doch um die Not der Hungernden. Hier könne nur der Sozialismus Abhilfe schaffen, so die LVZ.100 Nur in einem Fall im Juni 1932 gelang es der Polizei, drei der Plünderer festzunehmen. »Jetzt wollen wir einmal einkaufen gehen«, erklärten sie und stahlen sodann Lebensmittel im Wert von 39 Reichsmark und eine Geldkassette mit 83 Reichsmark. Vielleicht um eine gewisse Klassensolidarität zu schaffen, sagte der angebliche Anführer der Plünderer zu den Verkäuferinnen: »Wehe euch, wenn ihr telephoniert, ihr seid ja auch nur schlechtbezahlte Verkäuferinnen!« Nur durch Zufall konnte eine vorbeikommende Fahrradpatrouille der Polizei drei der Plünderer festnehmen, die allesamt der KPD angehörten. Zwei Monate später wurden sie zu acht Monaten Haft verurteilt. Der Staatsanwaltschaft zufolge war nicht Hunger das Motiv für die Tat, hatten die Täter doch gerade erst ihre Wohlfahrtsunterstützung erhalten, sondern einzig der Wunsch, Unruhe zu stiften, womit auch die Staatsanwaltschaft die Tat in einen politischen Kontext rückte.101 In Zeiten grassierender Arbeitslosigkeit und unzureichender Wohlfahrtsunterstützung konnten viele Arbeiterfamilien ihre Mieten nicht mehr bezahlen und waren daher von Zwangsräumungen bedroht. Kommunisten versuchten, 99 LVZ, 10.5.1932. 100 LVZ, 24.12.1932. Zu weiteren Plünderungen um Weihnachten, SStAL, PP St 81. Wenigstens ein Fall von Lebensmittelplünderungen trug sich im Kontext einer kommunistischen Erwerbslosendemonstration zu. Dies war allerdings nicht das erste Mal, dass Kommunisten ausdrücklich zum Plündern von Lebensmittelläden oder Villen aufgerufen hatten, SStAL PP St 81, wo sich Berichte vom Dezember 1930 finden, sowie SStAL, PP St 7, wo im Juni 1931 von solchen Handzetteln berichtet wird. Auf einem von diesen hieß es: »Hungernde Arbeiter holt Euch aus den vollen Geschäften, was ihr braucht.« 101 SStAL, PP St 8, LVZ, 24.8.1932, SAZ, 25.8.1932.

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diese persönlichen Notlagen zu nutzen, um gegen das kapitalistische System zu agitieren, unterstützten die betroffenen Familien aber auch praktisch. Im Juni 1932 sollte der »Arbeiter Müller« und seine Familie aus einer städtischen Wohnung geworfen werden, wofür die SAZ die Sozialdemokratie, die den städtischen Wohnungsdezernenten stellte, verantwortlich machte. »Nun, der Arbeiter Müller sollte hier in der Praxis erfahren, wie in den ›Sozialismus hineingewachsen‹ wird.« Müller aber verbarrikadierte sich in der Wohnung, während draußen benachbarte Arbeiter mit den Mitarbeitern des Transportunternehmens diskutierten, das Pferd des Möbelwagens ausspannten, den Transportwagen wegfuhren und schließlich dem Gerichtsvollzieher die Aktentasche mitsamt dem Exmittierungsbericht stahlen, so dass die Räumung nicht durchgeführt werden konnte.102 In einem anderen Fall im November 1932 nahmen sich Angehörige der antifaschistischen Häuserschutzstaffel der exmittierten Familie und ihrer Möbel an und boten ihr Unterkunft. »Das ist Solidarität«, lobte die SAZ.103 Die Beispiele zeigen, dass sich kollektive Formen des Umgangs mit der so­ zialen Krise oftmals in parteipolitischem Rahmen abspielten. Solche Formen kollektiven Handelns hätten eine Möglichkeit darstellen können, die lokale Arbeiterschaft über Parteigrenzen hinweg gegen »Eindringlinge« von Außen  – seien es Nationalsozialisten oder Beamte – zu mobilisieren, so die Hoffnung der Kommunisten, die sich aber nicht erfüllte, zum Teil vermutlich eben deshalb, weil die sozialen Konflikte in einem parteipolitischen Rahmen aus­getragen wurden. In diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt das Geschlecht der Beteiligten von Interesse. Im Gegensatz zu traditionellen Lebensmittelunruhen etwa auf Märkten, in denen Frauen oft eine zentrale Rolle spielten,104 waren alle Beteiligten an den hier vorgestellten Lebensmittelplünderungen Männer. Die Politisierung von kollektivem Handeln im Konsumbereich brachte auch eine Maskulinisierung mit sich, war Partei- und insbesondere Straßenpolitik doch, den oben vorgestellten Fällen zum Trotz, zumeist eine Männersache. Es gab, so scheint es, kaum Raum für kollektive Mobilisierungen außerhalb von Politik. Eine Konsequenz war, dass Frauen insgesamt eine relativ geringe Rolle in diesen kollektiven Mobilisierungen spielten.105 In diesem Sinne hatte die Politisierung des Alltags ausgrenzende Folgen. 102 SAZ, 8.6.1932, 12.6.1932. 103 SAZ, 23.11.1932. Weitere Beispiele in der SAZ, 6.8.1932, 5.10.1932, SStAL, PP St 122, und Landgericht Leipzig 5454. 104 Zu Lebensmittelunruhen in Leipzig während und direkt nach dem Ersten Weltkrieg, an denen sich vor allem Frauen beteiligten, Brandmann, S. 235. 105 Hierzu Schumann, Gewalt, S.  300. Er notiert, dass die Proteste, verglichen mit denjenigen während der Inflationsjahre, proletarischer und männlicher wurden. Weiterhin Hagemann, Frauenprotest. Mit dem Verschwinden älterer (weiblicher) Protestformen, vor allem Lebensmittelunruhen, so Hagemann, hätten Frauen zunehmend Räume verloren, in denen sie autonom handeln konnten. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich Frauen nicht aktiv an Auseinandersetzungen auf der Straße beteiligt hätten, Häberlen, Frauenpersonen.

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1.3 »Die Rote Epa-Ecke ist unser!« – Territoriale Gewalt »Die rote Epa-Ecke ist unser; wir werden euch wegbringen, und wenn einer liegen bleibt«, rief einer der Kommunisten den Sozialdemokraten zu, bevor Max Warkus ermordet wurde, eine Aussage, die sozialdemokratischen Zeugen zufolge mehrfach wiederholt wurde. Demgegenüber betonte die LVZ, dass die beiden Flugblattverteiler mit behördlicher Genehmigung handelten. Die Wut, mit der Kommunisten die Straßenecke für sich reklamierten, deutet an, wie wichtig die Verteidigung »ihrer« Territorien, wo »Eindringlinge« von außen keinerlei Rechte hatten, für Kommunisten war. Durchaus voraussichtig hatte die Polizei die beiden Sozialdemokraten denn auch davor gewarnt, an der Ecke Flug­blätter zu verteilen.106 Straßen und proletarische Viertel nahmen in der kommunistischen Politikkonzeption, die letztendlich die Schaffung eines revolutionären Proletariats zum Ziel hatte, eine zentrale Rolle ein. Hier sollte proletarisches Klassenbewusstsein geschaffen werden, hier konnten Kommunisten ihre Macht außerhalb staatlicher Strukturen demonstrieren. In gewisser Weise war dieser Fokus auf Wohnviertel Teil des sozialdemokratischen Erbes der KPD, war es doch für Sozialdemokraten während des Kaiserreichs entscheidend gewesen, Wohnviertel und damit Wahlbezirke sozial zu kontrollieren.107 Der KPDFührung lag einiges daran, mit diesem Erbe zu brechen und die Partei auf der Basis von Fabrikzellen zu erneuern. Da diese Umstrukturierung aber weitgehend fehlschlug, nahmen die Straßenzellen, die offiziell nur eine untergeordnete Rolle spielen sollten, de facto an der Basis eine zentrale Rolle ein.108 In der Praxis war es vor allem die Verteidigung »roter« Viertel gegen nationalsozialistische »Eroberungsversuche«, die der KPD erlaubte, an der Basis und im lokalen Milieu Stärke und aktive Präsenz zu demonstrieren. Damit territorialisierte die KPD ihre Politik.109 Die Kontrolle über ein Viertel oder einen Straßenzug zu erlangen bedeutete nicht, dass nur Kommunisten dort wohnen »durften«, sondern dass andere Parteien dort nicht politisch agieren durften – zumindest in der kommunistischen Vorstellung. Räume – ganze Viertel wie auch einzelne Straßenzüge – erhielten 106 SStAL, PP St 92. »Seit längerer Zeit schon sammeln sich dort in den Nachmittags- und Abendstunden linksradikale Elemente, vorwiegend Angehörige der Kommunistischen Partei an, beobachten die Vorübergehenden und belästigen alle diejenigen Passanten, die mit einem Abzeichen einer anderen Partei versehen sind oder ihnen als politisch Andersdenkende bekannt sind. Auch haben von dieser Stelle aus schon andere Gewalttätigkeiten zum wiederholten Male ihren Ausgang genommen und es haben die Kommunisten diesen Straßenteil als ihr Sondergebiet bezeichnet.« 107 Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus, S.  375 f. Zu sozialdemokratischen politischen Praktiken im Nachbarschaftsrahmen, Anderson, Kap. 10. 108 Eumann, S. 110 f. 109 Rosenhaft, Life; Schumann, Violence, S. 242 f.

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so eine politische Aufladung, die sie für Sozialdemokraten nicht hatten. Dies konnte sowohl durch symbolische Praktiken geschehen, mit denen Viertel als »rot« markiert wurden, wie auch durch gewaltsame Praktiken, wenn es um deren Verteidigung ging. Nationalsozialisten auf der anderen Seite versuchten diese Viertel zu erobern, etwa durch Aufmärsche oder indem sie ihre berüchtigten Sturmlokale in Arbeitervierteln eröffneten. Beide jedoch teilten ein Politik­verständnis, in dem Räume und Straßen eine zentrale Rolle spielten: dort wurde über Sieg und Niederlage entschieden.110 Wie Karl Sendelhofer, ein früherer kommunistischer Straßenkämpfer, in seinem einigermaßen nostalgischen Erinnerungsbericht festhielt: »Sie [die Nationalsozialisten] wollten die Straßen behaubten [sic] und wir natürlich auch.«111 Sozialdemokraten teilten dieses Politik­verständnis nicht. Sie wollten Arbeiter vornehmlich als Wähler mobilisieren. Zwar war auch ihnen klar, dass manche Viertel eine, zumeist kommunistische, Reputation erlangt hatten, aber sie lehnten es dennoch ab, Straßen als Orte für Politik zu betrachten. Aus ihrer Sicht gehörte Politik ins Parlament oder in die Räume der Organisationen, nicht aber auf die Straße.112 Die politische »Farbe« eines Viertels im Wortsinne sichtbar zu machen, war ein zentraler Teil der politischen Strategie verschiedener Parteien, vor allem der KPD: Aus Fenstern hingen Fahnen, auf Wände wurden Parolen gemalt.113 Insbesondere während Wahlkampagnen wurden ganze Straßen mit roten Fahnen oder dem Sowjetstern dekoriert und Häuserwände mit Parolen beschmiert.114 Die kommunistische Parteizentrale gab exakte Anweisungen, wie Häuser zu schmücken seien, während die SAZ Bilder solcher »roten« Straßen druckte. Sozialdemokraten dagegen hingen zwar die Fahne der Republik, Schwarz-RotGold, aus ihren Fenstern, legten aber insgesamt wesentlich weniger Wert darauf, Straßen »politisch« zu färben. Nationalsozialistische Flaggen in »roten« Vierteln hingegen konnten massiven Protest provozieren. Ein Beispiel vom November 1932 ist besonders beeindruckend. Aus einem Haus in der Bergstraße in Reudnitz hingen Fahnen verschiedener Parteien, darunter auch eine Hakenkreuzfahne. Die Fahne erregte den Unmut von vier an dem Haus vorübergehenden Kommunisten, die lauthals forderten sie herunterzunehmen und drohten, die Angelegenheit sonst selbst in die Hand zu nehmen. Einer der Kommunisten fuhr schnell auf seinem Rad zu 110 Zu Nationalsozialisten, Reichardt, Kampfbünde; Schmidt, Terror; Schmiechen-Ackermann, Anpassung, Kap. 3. 111 SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 228. 112 Wenn Sozialdemokraten Flugblätter verteilten, so ging es um eine Mobilisierung zu Wahlen. Damit beteiligten sich Sozialdemokraten allerdings nicht an den Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft in den Stadtteilen. In diesem Kontext Rosenhaft, Links gleich rechts?, S. 243. 113 Zum Symbolkampf, insbesondere Korff; Paul. Speziell zu Leipzig, Vogel, S. 731. Weiterhin SAZ, 30.8.1930, und SStAL, PP S 6726, PP S 8413. 114 Dabei kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und der Polizei, beispielsweise SStAL, PP St 8.

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einem nahegelegenen Arbeitsnachweis, um dort Verstärkung zu holen, während seine Genossen ihren verbalen Disput mit einem SS-Mann, der inzwischen auf die Straße herunter gekommen war, fortsetzten. Binnen Kurzem kamen etwa 50 weitere Kommunisten vom Arbeitsnachweis zur Verstärkung und machten Anstalten, das Haus zu stürmen. Einige von ihnen hatten schon den Hausflur betreten, aber den verteidigenden Nationalsozialisten gelang es, sie abzudrängen. Die Kommunisten wandten sich sodann dem Hoftor zu. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, es einzudrücken. Im Gebäude befand sich auch eine Schlosserei, die einem gewissen Herrn Kron gehörte, der, wie es scheint, auch Mitglied der NSDAP war. Als die Kommunisten drohten, das Haus über den Hof zu stürmen, öffnete Karl Kron, Sohn des Herrn Kron, einen Behälter mit schwefelhaltiger Flüssigkeit, deren Gestank die Angreifer rasch vertrieb. Bevor die Kommunisten erneut zum Angriff übergehen konnten, traf die Polizei ein und verjagte sie.115 Im Mai 1931 konnte die SAZ einen kommunistischen Sieg in diesem Symbolkampf verkünden. Über Jahre hinweg hatte die SPD ihre Aufzüge am Volkmarsdorfer Markt durchgeführt. Am 1.  Mai 1931 aber hatten »Proletarier« die SPD mit einem »Meer« aus roten Fahnen und Sowjetsternen begrüßt. Um eine solche Szenerie zu vermeiden, so die SAZ, zog es die SPD daher vor, ihren Aufzug zum Parteitag am Ende des Monats in einer »kleinbürgerlichen« Straße abzuhalten.116 In Ermangelung sozialdemokratischer Quellen ist es leider unmöglich, diese Darstellung mit einer sozialdemokratischen Perspektive zu konfrontieren. Der Bericht in der SAZ ist allerdings bezeichnend für das kommunistische Politikverständnis und die Rolle, die sowohl Symbole als auch Räume in ihm spielten. Ausführliche Berichte in der SAZ über »rote« Arbeiterviertel waren ein anderer Weg, diese politisch zu markieren. Sowohl der »Osten« als auch der »Westen«, und teils auch der »Süden« wurden generell mit dem Präfix »rot« ver­sehen; im Osten Leipzigs waren es insbesondere die Stadtteile Reudnitz, Stötteritz, Zweinaundorf und Schönefeld, eine »proletarische Hochburg«,117 Volkmarsdorf und das Seeburgviertel, einer der ärmsten Stadtteile Leipzigs,118 im Westen die Stadtteile Lindenau, Leutzsch, Plagwitz und Kleinzschocher, die laut SAZ »rot« waren.119 Hier fanden sich rot dekorierte Straßen, und wenn Nationalsozialisten dort Aufzüge durchführten, so musste mit blutigen Straßenschlachten gerechnet werden. Diese politische Reputation war keineswegs eine rein kommunistische Erfindung, auch wenn die SAZ sie begeistert verkündete, wie Berichte in der LVZ belegen. Die »rote Epa-Ecke« wurde bereits genannt; ein anderes Beispiel ist die Gieselheerstraße in Lößnig, die als »Kleinmoskau« bekannt war – 115 SStAL, PP St 9. Weiterhin LNN, 4.11.1932, und NLZ, 4.11.1932. 116 SAZ, 27.5.1931. 117 SAZ, 15.11.1929. 118 SAZ, 15.10.1932. 119 Etwa SAZ, 23.1.1930, 23.3.1932, 27.1.1933, 13.2.1933.

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in den Augen der LVZ ein »zweifelhafter Ruf«.120 Bemerkenswerterweise hatte kein Viertel einen dezidiert sozialdemokratischen Ruf. Für die SPD spielten solche symbolischen oder gar gewaltsamen Kämpfe kaum eine Rolle. Ihr ging es um Wahlergebnisse. Die Kontrolle über ein Viertel wurde nicht nur symbolisch, sondern ebenso gewaltsam errungen und verteidigt. Dies war expliziter Teil sowohl kommunistischer als auch nationalsozialistischer Strategie, wobei sich Kommunisten als Verteidiger, Nationalsozialisten eher als Angreifer darstellten. Dies spiegelt sich einerseits in den verschiedenen kommunistischen Wehrformationen, wie den Häuserschutzstaffeln, wider,121 andererseits, auf nationalsozialistischer Seite, durch die Schaffung von »Stützpunkten« in Form von Kneipen inmitten »roter« Arbeiterviertel, wie etwa dem Rosenkranz in Leipzig-Lindenau, der sich, nur etwa zehn Häuser von der »roten Epa-Ecke« entfernt, zu einem Zentrum von Gewalt entwickelte. Leipzigs politisch aktive Arbeiter konnten so die politische Geographie der Stadt gleichsam an der eigenen Haut erleben.122 Aufmärsche spielten, wie bereits notiert, eine zentrale Rolle für Nationalsozialisten um »rote« Viertel zu erobern. Im Oktober 1930 veranstalteten sie eine ganze Reihe solcher Demonstrationen in »proletarischen« Stadtteilen. Am 12. Oktober 1932 zogen etwa 300 SA-Männer von Böhlitz-Ehrenberg aus durch Leutzsch und Lindenau, wo sie drei lachende Arbeiter verprügelten. Aber die dortige Arbeiterschaft verteidigte ihre Viertel tapfer, wie die SAZ stolz ver­ kündete. »Die proletarischen Stadtteile Leipzigs konnten von den Nazis bisher nicht erobert werden. Überall, wo die Faschisten versuchten, in diese Wohnbezirke einzudringen, stießen sie auf die entschlossene Gegenwehr der werktätigen Bevölkerung. In diesen Bezirken konnten sie ihre Versammlungen nur unter hundertfachem polizeilichem Schutz durchführen. Nur mit Lastautos konnten sie es wagen, durch die Straßen dieser Stadtteile zu fahren.«123 Nur eine Woche später, am 19. Oktober, kamen etwa 300 Nationalsozialisten erneut nach Lindenau, in einer Art »Gefangenentransport«, so die SAZ, von der gleichen Anzahl an Polizisten begleitet. Arbeiter, der SAZ zufolge auch SPD- und SAJMitglieder, versperrten den Nationalsozialisten mehrfach den Weg und verhinderten so, dass diese Leipzigs Westen erobern konnten.124 Am 26. Oktober erhielt die Antifa schließlich die Gelegenheit, die Nationalsozialisten anzugreifen. Etwa 50 von ihnen verteilten, diesmal ohne Uniformen zu tragen, Flugblätter in Leutzsch. Die Antifa war vorbereitet. Sie hatte Kundschafter eingeteilt und hielten »Truppen« in der Nähe bereit. Als die Kommu120 LVZ, 14.11.1932. 121 Im August 1930 bemerkte die SAZ, die nationalsozialistischen Überfälle hätten sich bislang vornehmlich in der Innenstadt zugetragen, sagte aber voraus, dass sie bald versuchen würden, Arbeiterviertel zu erobern, weshalb das Proletariat »wehrhaft« sein müsse, SAZ, 16.8.1930. 122 Schumann, Gewalt, S. 334; Rosenhaft, Links gleich rechts?, S. 246 f., 251 f. 123 SAZ, 13.10.1930. 124 SAZ, 20.19.1930.

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nisten eine gute Gelegenheit sahen, griffen sie die Nationalsozialisten von zwei Seiten an. Diese flohen auf das nahegelegene Villengrundstück eines Richters, doch die Antifa folgte ihnen und bewarf die Villa mit Steinen, wobei einige Fenster zu Bruch gingen. Bevor die Polizei eintraf, hatten sich die Kommunisten zerstreut. Die SAZ triumphierte und feierte die Aktion als Sieg. Erneut war es den Nationalsozialisten nicht gelungen, ein proletarisches Viertel zu erobern.125 Im Sommer 1932 kam es zu einer weiteren Serie nationalsozialistischer Demonstrationen, die in den bereits geschilderten Ausschreitungen am Volkmarsdorfer Markt kulminierte. Die erste Demonstration fand am 22. Mai statt, als die Nationalsozialisten in den »roten Westen« zogen, wo sie einen Fahrrad fahrenden Arbeiter niederschlugen und ihm fünf Zähne zertrümmerten.126 Die nächste Demonstration folgte am 17.  Juni. Die SA hatte laut SAZ zwischen 2.300 und 2.500 Mann, die meisten von ihnen aus den Dörfern der Umgebung, in Leipzig versammelt, um nach dem »Roten Osten« zu ziehen. Gleichzeitig fand eine Demonstration der Eisernen Front mit etwa 15.000 Teilnehmern statt. Tagsüber kam es zu einigen kleineren Zwischenfällen, bei denen vier Nationalsozialisten verletzt wurden. Am Abend jedoch kam es zu schweren Zusammenstößen in der Kohlgartenstraße, nachdem dort Unbekannte aus einem Fenster auf einige Reichsbannerleute geschossen hatten. Sofort sammelten sich »mehrere Hundert Arbeiter«, griffen ein nationalsozialistisches Lokal an und zerstörten dessen Fenster, so die SAZ. »Spontan schlossen sich die Arbeiter instinktiv zusammen gegen die faschistischen Angriffe und Drohungen«, verkündete das Blatt stolz.127 Auch in anderen Teilen der Stadt kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten und Nationalsozialisten, wobei ein National­ sozialist schwer verletzt wurde.128 Am folgenden Sonntag, dem 19. Juni 1932, zogen Nationalsozialisten durch Leipzigs »Roten Süden«, diesmal ohne dass es zu größeren Zwischenfällen kam. Einzig ein den Nationalsozialisten persönlich bekannter Arbeitersportler wurde zusammengeschlagen. Die Polizei aber, so die SAZ, nahm nicht die Angreifer fest, sondern drang, von einem Stahlhelm-Mitglied informiert, in das Haus ein, in das sich der verwundete Arbeitersportler geflüchtet hatte, und nahm diesen fest, da er angeblich die Nationalsozialisten provoziert hatte. Am Ende des Tages hatten die Nationalsozialisten allerdings erneut ihr Ziel verfehlt, den »roten« Süden zu erobern.129 Am Donnerstag, den 23. Juni 1932, kam es dann laut SAZ 125 SStAL, PP St 58, Amtsgericht Leipzig, 13384, SAZ, 27.10.1930. 126 SAZ, 24.5.1932. 127 SAZ, 18.6.1932, LVZ, 18.6.1932, SStAL, PP St 19. 128 SStAL, PP S 902. Weiterhin SStAL, PP St 19. 129 SAZ, 20.6.1932, LVZ, 20.6.1932. Am gleichen Tag verteilte eine Gruppe Nationalsozialisten Flugblätter in Taucha im Nordosten von Leipzig, wo sie von einer Menschenmenge mit Steinen und Zaunlatten angegriffen wurde, während andere Zeugen behaupteten, die Nationalsozialisten hätten geschossen, PP S 3687.

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zu einer gemeinsamen Demonstration von etwa 300  Sozialdemokraten und Kommunisten in der Eisenbahnstraße, einem Brennpunkt politischer Gewalt, gegen die Nationalsozialisten.130 Der Höhepunkt der Demonstrationstätigkeit wurde am folgenden Sonntag und Montag, 26. und 27. Juni 1932, erreicht. Die Nationalsozialisten versuchten, so die Lesart der SAZ, Rache für ihre Niederlagen in der vergangenen Woche zu nehmen. Aber die Arbeiter verteidigten ihre Straßen, wobei es am Volkmarsdorfer Markt zu heftigen Straßenschlachten kam: »SPD-, Reichsbanner- und KPD-Arbeiter standen an den Eingängen der Straßen des Viertels bereit, mit ihrem Leben Frauen und Kinder gegen einen Mordüberfall der braunen Mordpest zu schützen.«131 Die KPD zog es vor, ihre Demonstrationen in der bürgerlichen Innenstadt zu veranstalten, um so die politische Auseinandersetzung zum »Klassenfeind« zu tragen. Massendemonstrationen, die teils in massiver oder gar tödlicher Gewalt endeten, wie oben geschildert, stellten nur einen Teil  der kommunistischen Demonstrationsstrategie dar. Um der Polizeirepression zu entgehen, ersannen Kommunisten innovative Demonstrationstaktiken, die die Polizei vor ernsthafte Probleme stellten. Insbesondere versuchten sie kleine Demonstrationszüge zu organisieren, die beim Herannahen der Polizei schnell aufgelöst werden konnten. Im März 1930 beispielsweise berichtete die Polizei über kommunis­tische Erwerbslosendemonstrationen während der Messe. Den großen Demonstrationszug aufzulösen bereitete der Polizei relativ geringe Probleme. Allerdings hatten sich im Anschluss daran einige »Arbeitslose« unter die Messebesucher auf dem zentralen Augustusplatz gemischt, wo sie erneut einen Protestzug formten, Krach schlugen, einige Fensterscheiben zerstörten, unter anderem am Neuen Rathaus, dem Büro der NSDAP und dem Sitz der LVZ, und Polizisten mit Steinen bewarfen. Als die Polizei sie festnehmen wollte, verschwanden die Protestierer rasch in der Menge, nur um später am Abend einen weiteren Zug zu bilden. Die Polizei, die zugeben musste, dass die kommunistischen Taktiken relativ erfolgreich waren, nahm einige Personen fest, darunter wohl auch Messebesucher, die alle zu drei Tagen Arrest verurteilt wurden.132 Mittels Aufmärschen und Flugblattverteilungen konnten Viertel, wenn überhaupt, nur temporär »erobert« werden. Sowohl die KPD als auch die NSDAP, und in geringerem Maße die SPD, versuchten daher auch, eine dauerhafte Präsenz in Form von Kneipen zu schaffen. Das berühmteste nationalsozialistische Lokal in Leipzig war der »Rosenkranz« in der Lützner Straße, um den herum es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam. Die SAZ berichtet 130 SAZ, 24.6.1932. 131 SAZ, 27.7.1932, 28.7.1932. Siehe oben zu den Ausschreitungen. 132 SStAL, PP St 81. Kommunisten wandten diese Taktik erneut im Dezember 1931 an, als sie Sprechchöre bildeten, die sich beim Herannahen der Polizei auflösten, SStAL, PP St 9, und PP St 82. Zu ähnlichen Demonstrationstaktiken in Paris und Berlin, Wirsching, Bürgerkrieg, S. 427 f.

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zum ersten Mal im August 1930 über das Lokal, als ein gewisser Genosse Richter von einigen National­sozialisten, die aus dem »Rosenkranz« kamen, angegriffen wurde.133 Der kommunistischen Presse wurde schnell bewusst, welche Bedrohung vom »Rosenkranz« ausging. »Diese beiden neuen Überfälle sind ein warnendes Signal für die Arbeiterschaft des Westens und ganz Leipzigs. Mitten in einem proletarischen Wohnbezirk schlagen die Faschisten ihr Nest auf, um von dort aus planmäßig organisierte Überfälle auf die Bewohner ausüben zu können«, so die SAZ später im August.134 In der Folgezeit berichtete das Blatt seltener über den »Rosenkranz«, aber Polizeiakten belegen, dass es weiterhin zu Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten um das Lokal herum kam.135 Der »Rosenkranz« war mitnichten das einzige nationalsozialistische ­Lokal, um das herum es zu Gewalt kam. Der bekannte Nationalsozialist Leuchtmann etwa besaß ein Geschäft in der Lorckstraße, dessen Scheiben wiederholt eingeworfen wurden. Im Juli 1932 hängte er dann ein Plakat neben ein zerbrochenes Fenster, auf dem es hieß: »Das sind die geistigen Waffen der SPD.« Über das Plakat entrüstet versammelte sich am 26.  Juli 1932 eine Menge von etwa 150  Personen vor dem Geschäft, unter ihnen viele Sozialdemokraten, wie die Drei-Pfeile-Abzeichen erkennen ließen, aber Zeugen zufolge auch einige »linksextreme Elemente«, die Leuchtmann aufforderten, das Plakat abzunehmen. Dieser sandte seinen 10jährigen Sohn zur Polizei, um Hilfe zu holen, doch bevor die Polizei eintraf, so berichtete Leuchtmann später, hatte die Menge erneut eine Scheibe zertrümmert und machte sodann, angeblich von einem LVZ-Reporter angestachelt, Anstalten, das Haus zu stürmen. Um sich und sein Eigentum zu verteidigen, zog er einen Revolver. Als die Polizei schließlich eintraf, identifizierte er zwei der Angreifer. Der Polizei gelang es, den Namen des einen festzustellen, aber der andere konnte in der Menge entkommen. Die Beamten mussten schließlich das Überfallkommando rufen, um die Menge zu zerstreuen.136

133 SAZ, 6.8.1930. 134 SAZ, 18.8.1930. Der Artikel verweist auf zwei Angriffe, die vom Rosenkranz ausgingen. Nur zwei Tage später, am 20.8.1930, berichtete die SAZ erneut über einen Angriff vom Rosenkranz aus. Weiterhin LVZ, 18.8.1930. 135 Etwa SStAL, PP S 91, über eine große Schlägerei im Januar 1930, oder PP S 4253, über eine Schlägerei im August 1931, oder PP S 6300, zu einer Schlägerei im November 1932 zwischen Kommunisten und einer Gruppe Nationalsozialisten, die den Rosenkranz verließen. Zu kommunistischer Gewalt gegen SA-Kneipen, Rosenhaft, Beating, S. 128–166. 136 SStAL, PP S 3129, und Landgericht Leipzig 5465. Einige Tage nach dem Zwischenfall wurden mehrere Personen bei der Polizei angezeigt und beschuldigt, diese angegriffen zu haben. Bei diesem Zwischenfall kam es, wie immer wieder im Sommer 1932, zur Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten. Der bekannte Kommunist Karl Hascher behauptete, er habe ein ihm persönlich bekanntes Mitglied der Kampfstaffeln informiert, dass seine Genossen in der Lorckstraße angegriffen werden würden:

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Auch auf kommunistischer Seite spielten Kneipen eine zentrale Rolle.137 Kommunisten hielten in Hinterzimmern Zellensitzungen ab und nutzten sie, um Truppen für Angriffe auf Nationalsozialisten zu sammeln. Damit stellten sie auch ein beliebtes Ziel für nationalsozialistische Gewalt dar. Im September 1930 beispielsweise versuchten 100 Nationalsozialisten das »Kleine Volkshaus« in der Albertstraße zu stürmen, das die Arbeiter aber trotz Unterzahl verteidigten.138 Im März 1930 griffen Nationalsozialisten das KPD-Verkehrslokal »Zur Grenze« mit Schusswaffen an, wobei ein Kommunist verwundet wurde, der daraufhin ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.139 Im Oktober 1932 schließlich erfolgte ein nationalsozialistischer Angriff auf ein sozialdemokratisches Arbeiterheim in der Kirchstraße, bei dem jedoch einer der Nationalsozialisten getötet wurde. Ein Trupp von 30–35 SA-Männern auf Fahrrädern hatte das Arbeiterheim passiert, als sie, so die Darstellung der Nationalsozialisten, von Sozial­ demokraten beleidigt wurden, weshalb ihr Führer ihnen befahl, abzusteigen. Die Sozialdemokraten, die vor dem Arbeiterheim standen, hingegen beschuldigten die Nationalsozialisten, mit den Provokationen begonnen zu haben. Wer auch immer begonnen hatte, beide Gruppen tauschten Beleidigungen aus, bis plötzlich jemand schoss, offenbar ohne dass es vorher zu einer Schlägerei gekommen war. Mehrere Nationalsozialisten wurden verwundet, einer von ihnen tödlich. Beide Seiten warfen sich gegenseitig vor, geschossen zu haben, aber selbst eine umfangreiche polizeiliche Ermittlung konnte keine definitiven Ergebnisse zutage bringen, weshalb keine Anklage erhoben wurde.140 In den folgenden Tagen zogen die Nationalsozialisten durch Volkmarsdorf und Schönefeld, provozierten »Arbeiter« und schlugen sie zusammen.141 An der Ecke Kirch»Los, los, in die Lorckstraße, dort haben sie eure Leute angegriffen.« Er selbst sei von einem KS-Radfahrer informiert worden. Zu einem weiteren Konflikt, der sich um einen Laden im Besitz eines Nationalsozialisten drehte, SStAL, PP St 92, Polizeibericht vom 8.10.1931. 137 Rosenhaft, Links gleich rechts?, S.  237 f. »Die Verwandlung der Kneipe in einen Gegenstand des offenen politischen Kampfes ist nur der Widerhall eines umfassenderen Prozesses, in dem Vorstellungen über den Gebrauch von Raum im Alltag, ja gar die Unterscheidung von privat und öffentlich herausgefordert und zerstört wurden.« Der Kampf zwischen Rechts und Links, so Rosenhaft weiter, drang in die Haushalte ein und spaltete diese, während sich die »politische Agitation […] von den Versammlungssälen und den Hauptstraßen in die Nebenstraßen und Hinterhöfe« verlagerte. Dieser Prozess wird in dieser Arbeit als »Politisierung des Alltags« beschrieben, etwas, was Kommunisten bewusst anstrebten. Weiterhin SStAL, PP St 8, wo sich eine Liste mit kommunistischen Bars findet, und SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 192. 138 SAZ, 15.9.1930. 139 SAZ, 14.3.1931. 140 SStAL, PP S 765; LVZ, 17.10.1932; SAZ, 17.10.1932. Dies war nicht der erste Zwischenfall in der Kirchstraße, SStAL, PP St 92 (die Schlägerei trug sich am 6.3.1932 zu, Bericht vom 9.3.1932). Zu früheren Zwischenfällen LVZ, 4.10.1932. Sozialdemokraten versuchten auch weiterhin ihre Sporteinrichtungen zu verteidigen, etwa SStAL, PP S 2036. 141 SAZ, 21.10.1932. Als die Nationalsozialisten versuchten ins Seeburgviertel einzudringen, wurden sie von »Arbeitern« daran gehindert. Ähnlich SAZ, 24.10.1932.

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und Mariannenstraße schlugen sie sogar einen Mann, der sein kleines Kind an der Hand hielt.142 Als letzter Brennpunkt politischer Gewalt ist die Epa-Ecke, Merseburgerund Lützner Straße, zu nennen, an der Max Warkus ermordet wurde. Am 12. November 1931 wurde dort der SA-Mann Rudolf Gießer, der vom Rosenkranz aus auf dem Fahrrad nach Hause fuhr, von einigen »jungen Männern« als »Nazischwein« beleidigt, woraufhin er umkehrte um mit Verstärkung aus dem Rosenkranz zurück zu kommen; die Angreifer aber waren verschwunden. Am nächsten Tag waren sie jedoch wieder da, beleidigten Gießer erneut, und warfen Biergläser nach ihm, so dass er stürzte und sich das Handgelenk verstauchte.143 Bereits im Juli des Jahres hatte die SAZ behauptet, dass zwei Nationalsozialisten dort Arbeiter mit einem Revolver bedroht hätten, und nur das Eingreifen von Passanten eine Bluttat verhindert habe.144 In Reaktion auf die nationalsozialistischen Angriffe versuchten Kommunisten, die Bewohner von Arbeitervierteln in Häuserschutzstaffeln zu organisieren. Insbesondere in Gebieten, in denen es vermehrt zu Überfällen von National­ sozialisten gekommen war, konnten die Kommunisten hierbei Erfolge verzeichnen, beispielsweise im Seeburgviertel oder in Lindenau.145 Im September 1932 gelang es der Antifaschistischen Häuserschutzstaffel in der Brandvorwerkstraße angeblich binnen Minuten, so die SAZ, »Hunderte von Anwohnern« zu mobilisieren, um kommunistische Flugblattverteiler vor Provokationen der Nationalsozialisten zu schützen.146 Ein Polizeibericht vom März 1931 belegt, wie Kommunisten für solche Situationen oder gar einen erwarteten Bürgerkrieg übten. Ein Polizeibeamter hatte nachts zwei Kommunisten in Uniform dabei beobachtet, wie sie andere KPD-Mitglieder durch Klingeln aufweckten. Sobald sich die Genossen an ihren Fenstern zeigten, zogen die beiden Kommunisten weiter. Nur wenige Kommunisten kamen auf die Straße hinunter, wo sie sich in der Mockauer und der Oberläuterstraße versammelten, aber bald von der Polizei vertrieben wurden. Von den Beamten befragt erklärten die beiden Kommunisten, sie hätten nur einmal ihre »Genossen aus dem Schlaf geholt.« Der Beamte vermutete allerdings, es habe sich um einen Probealarm der Arbeiterwehr gehandelt.147 Kommunisten bereiteten sich auch auf Straßenschlachten mit der Polizei oder den Nationalsozialisten vor. Nachdem ein Aufmarsch der NSDAP

142 LVZ, 21.10.1932. 143 SStAL, PP St 92. 144 SAZ, 11.7.1931. Im November 1932 behauptete die LVZ schließlich, ein Reichsbanner­ musiker sei von Kommunisten geschlagen worden, aber die Polizei behauptete erstens, der Zwischenfall habe sich andernorts abgespielt, und bestritt zweitens, dass der Vorfall eine politische Dimension gehabt habe, SStAL, PP St 92, und LVZ, 28.11.1932. 145 SStAL, PP St 122. 146 SAZ, 30.9.1932. 147 SStAL, PP St 7. Ähnlich PP St 65. Die Antifa übte, so die Polizei, den Straßenkampf, indem sie Sperrketten bildete, Hauseingänge besetzte, und Fahrradfahrer als Kurier gebrauchte.

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in Lindenau am 10. Januar 1932 überaus gewaltsam und durchaus erfolgreich von Kommunisten angegriffen worden war, fand die Polizei mit Kreide gemalte Pfeile auf den Straßen, die Fluchtrouten für nicht ortskundige Kommunisten markieren sollten. Weiterhin hatten Kommunisten Kisten vor Zäune und Mauern gestellt, so dass sie über diese klettern konnten.148 All diese Praktiken zeigen, wie ernst Kommunisten den Kampf um »ihre« Territorien nahmen. In der Praxis war dies vielleicht der wichtigste Teil kommunistischer Politik.

1.4 Harte Proletarierfäuste oder Primitive Blutrache Aber war die Gewalt, die bisher umstandslos als »politisch« qualifiziert wurde, wirklich politisch? Was aus historischer Perspektive offensichtlich erscheinen mag, war unter Zeitgenossen höchst umstritten, weshalb im abschließenden Teil dieses Kapitels unterschiedliche Interpretationen auf sozialdemokratischer und kommunistischer Seite untersucht werden sollen. Diese unterschiedlichen Interpretationen der Gewalt belegen, welch gegensätzliche Politikverständnisse Kommunisten und Sozialdemokraten hatten, ein Thema, das im folgenden Kapitel weiter ausgeführt wird. Nicht nur unterschiedliche politische Ziele und Strategien trennten Kommunisten und Sozialdemokraten, sondern ein gegensätzliches Verständnis davon, was Politik war und wie sie stattfinden sollte, insbesondere welche Rolle Gewalt in der Politik spielen sollte. Hier entstanden Gräben zwischen den Parteien, die kaum zu überbrücken waren. Gewalt war, wie die obigen Beispiele zeigten, ein essentieller Bestandteil kommunistischer politischer Praxis.149 Die kommunistische Presse nahm auch kein Blatt vor den Mund, wenn es darum ging, diese Gewalt zu bewerten.150 Der kommunistische Angriff auf eine nationalsozialistische Demonstration am 26. Oktober 1930 in Leutzsch wurde in der SAZ etwa mit folgenden Worten kommentiert: »Harte Proletarierfäuste verjagten die faschistischen Knüppelgarden aus den Straßen des roten Westens.«151 Die Polizei interpretierte diese Überschrift als offene Befürwortung von Gewalt – eine durchaus nicht unplausible Interpretation – und verbot die SAZ für zwei Wochen.152 Später wurde der

148 SStAL, PP St 8. Zum Angriff auf die Demonstration selbst, PP S 241, sowie oben, S. 53 f.. 149 Dieses Argument bezieht sich nicht so sehr auf die KPD-Führung, sondern eher auf die Praxis an der Basis. Eine exzellente Analyse kommunistischer Taktiken bietet Schmidt, Terror. Eine der besten Interpretationen kommunistischer Gewalt findet sich bei Rosenhaft, Links gleich rechts, S. 255–259. 150 SStAL, PP St 28, wo sich ein Artikel aus der Arbeiterpolitik, 7.5.1929, der Zeitung der KPO, findet, in dem die KPD dafür kritisiert wird, dass sie nur auf Demonstrations- aber nicht auf Wahlerfolge achtet. 151 SAZ, 27.10.1930. 152 SAZ, 28.10.1930.

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verantwortliche Redakteur zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.153 Ähnlich stolz betonte die SAZ immer wieder, dass die Straße den Arbeitern gehörte, etwa nach den Ausschreitungen während einer nationalsozialistischen Versammlung in den »Rheingold-Festsälen« im Februar 1931,154 oder nach einem »roten Marsch« nach Schleußig, angeblich einer nationalsozialistischen Hochburg.155 Straßenpolitik zielte aber nicht nur darauf ab, Stadtteile zu erobern oder zu verteidigen. Vielmehr hatte der »Kampf um die Straße« in der kommunistischen Vorstellungswelt auch eine entscheidende Bedeutung für die Schaffung einer proletarischen Klassensolidarität, wie ein Artikel aus der SAZ vom 6. März 1930, einem Tag vor einem geplanten Hungermarsch, deutlich macht. Hier auf dem Straßenpflaster, Hand in Hand und Seite an Seite mit seinen Klassengenossen, fühlt sich der Arbeiter als Teil der Riesenkraft, der die Welt gehört. Hier auf der Straße fühlt der Proletarier das Band, das ihn mit seinen Kollegen verbindet im Ringen um Brot, im Kampf um ein menschenwürdiges Dasein, im Kampf um die Macht. Hier auf der Straße, unter den roten Fahnen des unversöhnlichen Klassenkampfes, schmiedet sich die proletarische Kraft, entsteht der Massenwille zum Angriff, erhärtet sich der Entschluss zum Sieg.156

Der Text ist insofern bemerkenswert, als er nicht auf die erfolgreiche Verteidigung proletarischer Viertel gegen nationalsozialistische Eroberungsversuche abhebt, wie dies später meist geschah, sondern die emotionalen Bande hervorhebt, die durch die gemeinsamen Erfahrungen auf der Straße geschaffen wurden. Aus dieser emotionalen Erfahrung heraus konnte »proletarische Kraft« entstehen. Bereits am Tag der Veröffentlichung konnten Arbeiter die Kraft des Proletariats auf der Straße unter Beweis stellen. Obwohl jegliche Demonstration verboten war, beteiligten sich laut SAZ mehr als 4.000 Menschen am kommunistischen Hungermarsch auf dem Augustusplatz. »Die Mannschaften der drei Polizeibereitschaftswagen wurden mit einem Steinhagel empfangen und mussten mit gezogener Pistole sich auf ihre Wagen zurückziehen. Die Kundgebung 153 SAZ, 4.3.1930. Später hatte die SAZ ihre Lektion gelernt und pries Gewalt nicht mehr explizit. Am 30. Juni 1931 hatte eine Gruppe Nationalsozialisten einige Reichsbannermänner angegriffen, die von einer Gruppe Roter Sportler Unterstützung erhielten, so das Blatt. Lakonisch bemerkte es: »Die Zahl der Verletzten bei den Nazis übersteigt die der Arbeiter um ein wesentliches.« Einige Tage später, am 4.7.1931, berichtete die SAZ über den Mord am Nationalsozialisten Blümel während einer Demonstration gegen das Urteil im Eythra­ prozess, der mit dem Freispruch der Mörder von Franke endete, indem sie einfach den Polizeibericht abdruckte. 154 SAZ, 19.2.1931. 155 SAZ, 29.8.1930. »Der rote Westen organisiert den Angriff auf Schleußig.« Zu Schleußigs Ruf als nationalsozialistische Hochburg, SAZ, 25.6.1930. Selbst die LVZ registrierte, allerdings erst im November 1932, dass sich Republikaner dort nicht sicher auf den Straßen bewegen konnten, da Nationalsozialisten glaubten, das Gebiet zu beherrschen. 156 SAZ, 6.3.1930.

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konnte im Beisein der Polizei zu Ende geführt werden. Zwei Arbeiter sprachen zu den Massen, die den gesamten Augustusplatz besetzt hielten.« Erst dann hatte die Polizei ausreichend Verstärkung herbeigeschafft, um den Augustusplatz »Fuß um Fuß« auf brutale Weise zu räumen, so die SAZ. Gleichwohl feierte die SAZ den Tag als Sieg, waren doch 4.000 Demonstranten durch die Innenstadt gezogen, hatten die Fensterscheiben der LVZ zerstört und so die Straßen »erobert«, ohne dass es zu dem Putschversuch gekommen war, den die bürgerliche Presse angekündigt hatte.157 Auch wenn die Wahrheit vermutlich anders aussah, als es der SAZ Bericht suggeriert, so liefert er doch ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie wichtig es für die Kommunisten war, gewaltsam die Straßen zu erobern. Dass Sozialdemokraten sich diesem Kampf nicht anschlossen, insbesondere wenn es gegen die Nationalsozialisten ging, um Arbeiterviertel zu verteidigen, wurde von der kommunistischen Presse scharf kritisiert. Am 19. Oktober 1930, eine Woche bevor die Nationalsozialisten die »harten Proletarierfäuste« zu spüren bekamen, hatten diese in Lindenau im Westen Leipzigs demonstriert. Während sich Kommunisten und auch SAJ-Mitglieder, so die SAZ, den 300  Nationalsozialisten in den Weg stellten und Barrikaden bauten, hielt das Reichsbanner irgendwo in Grimma, weit entfernt, eine Versammlung ab, wie das Blatt bemerkte.158 Noch deutlicher kritisierte das Blatt die Untätigkeit der Sozialdemokraten im Anschluss an eine Auseinandersetzung während einer NSDAP-Versammlung im April 1929, auf der es zu einer Massenschlägerei mit fünf schwerverletzten Arbeitern kam. »Während dieser unerhörten Vorkommnisse tagte die Sozialdemokratie in Wiederitzsch in einem anderen Lokal, wo sie ihre Mitgliederversammlung abhielt. So sieht der praktische Kampf der Sozialdemokratie gegen den Faschismus aus. Den überlassen sie lieber den Kommunisten.«159 Der »praktische«, das heißt, gewaltsame Kampf gegen den Faschismus spielte eine essentielle Rolle im kommunistischen Politikverständnis. Damit wurden die Straßen Leipzigs im Wortsinne zum Schauplatz poli­ tischer Kämpfe; hier wurde über Sieg und Niederlage entschieden. Das sozialdemokratische Politikverständnis unterschied sich hiervon fundamental.160 Die sozialdemokratische Presse verurteilte Gewalt nicht nur, sondern lehnte es grundsätzlich ab, Gewalt und »Straßenpolitik« allgemein als

157 SAZ, 7.3.1930. Eine ähnliche Rhetorik findet sich in der SAZ, 2.5.1930. Während kommunistische Arbeiter trotz des Demonstrationsverbots die Straßen eroberten, gingen Sozialdemokraten »ins Grüne«. Oben, S. 78, findet sich eine realistischere Beschreibung der Demonstration. 158 SAZ, 20.10.1930. Für weitere Beispiele SAZ, 7.3.1932, 1.12.1930, wo das Reichsbanner dafür kritisiert wird, nichts als ein »Ventil« für die »wachsende Rebellion in den sozialdemokratischen Reihen« zu sein. 159 SAZ, 29.4.1929. 160 Grundsätzlich Schumann, Gewalt, S. 254–269, 350 f.

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ernsthafte Politik zu betrachten. Die politische Demagogie der KPD, die Sozial­ demokraten als »Sozialfaschisten« angriff, ist oft betont worden; weniger oft wird darauf verwiesen, dass auch die Sozialdemokratie die »Kozis« immer wieder als »Verbündete des Hakenkreuzes und des Stahlhelms« darstellte.161 Als es in der Nacht auf den 22. Juni 1930, einem Wahltag, zu schweren Zusammenstößen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten kam, bezeichnete die LVZ beide Gruppen als »Gesinnungsfreunde«.162 »Wenn der rote Schlips und das rote Ärmelabzeichen nicht wäre, könnte man annehmen, einen Jünger Mussolinis vor sich zu haben. Vielleicht ist diese Antifa-Uniform das beste Symbol heutiger KPD-Politik. Faschismus mit roter Drapierung«, so das Blatt im März 1930 über ein vor Gericht stehendes Mitglied der Antifa und seine Uniform.163 Allerdings waren sowohl »Nazis« als auch »Kozis« nichts als reine »Krawall­ brüder« in den Augen der LVZ,164 und die Gewalt zwischen ihnen entsprang einzig dem Wunsch nach Rache zwischen zwei im Prinzip gleichen Gegnern. Es war stets das gleiche Spiel, unabhängig davon, wer Opfer und wer Täter war, wie es das Bild einer »ewigen Drehscheibe« nach dem Mord an Johannes Franke in Eythra zeigen sollte.165 Im Hintergrund der sozialdemokratischen Polemik dürften dabei weniger konkrete Beispiele der Zusammenarbeit von Kommunisten und Nationalsozialisten gestanden haben – der BVG-Streik in Berlin, bei dem es ebenso wie bei einem zeitgleich stattfindenden Streik in der Leipziger Textilindustrie zu einer Zusammenarbeit von KPD und NSDAP kam, fand erst im November 1932 statt166 –, sondern der Vorwurf, beide Parteien würden die Republik ins Chaos stürzen. Im Fall der Ermordung Frankes bewies die LVZ eine gewisse prophe­tische Gabe, erschossen doch Kommunisten einen Nationalsozialisten im Anschluss an eine Demonstration vor dem Haus des Richters, der die Nationalsozialisten freigesprochen hatte. Hierbei handelte es sich, so die LVZ, um die »Wiederbelebung einer längst überwunden geglaubten Blutrache aus der Zeit der primitivsten Gesellschafts- und Rechtsverhältnisse. […] Die Sozialdemokratie verurteilt solche Rowdy-Politik aufs schärfste. Damit ist keine Welt zu ›erneuern‹, wohl aber ist die Gefahr nicht abzuweisen, dass sich eines Tages alle Bande der Ordnung in ein unentwirrbares Chaos verwandeln und vielleicht gar Wirtschaft, Staat und Volk völligem Untergang überantwortet

161 LVZ, 3.8.1931. 162 LVZ, 23.6.1930. 163 LVZ, 7.3.1930. 164 LVZ, 3.1.1930. Auch LVZ, 11.1.1930, wo kommunistische Gewalttäter als »Radaubrüder« bezeichnet werden. 165 LVZ, 16.6.1930. Auf der Drehscheibe ist ein Nationalsozialist abgebildet, der einen Kommunisten tötet, woraufhin seine Genossen Rache schwören, einen Nationalsozialisten töten, die Rache schwören, einen Kommunisten töten, und so weiter. Im Text selbst zeigte die LVZ mehr Sympathie für den ermordeten Kommunisten. 166 Zum BVG-Streik, Röhl, zum Streik in Leipzig siehe unten, S. 119–122.

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werden.«167 Da kommunistische »Rowdy-Politik« keine ernsthafte Alternative zur Erneuerung der Welt darstellte, konnten Sozialdemokraten diese auch nicht politisch ernst nehmen. Sozialdemokraten betrachteten Kommunisten in gewisser Weise als ›ungezogene Bengels‹. Thälmann wurde als kommunistischer »Oberhäuptling« bezeichnet, eine Bezeichnung, die an die Cowboy- und Indianerspiele unreifer Burschen in Leipzigs Straßen erinnerte.168 In einem ähnlichen Ton beschrieb die LVZ kommunistische Gewaltpraktiken als »Militärspielerei«169 oder »Revolutionsspielerei«,170 während die Antifa nichts als ein »Militärvereinsgrüppchen« war.171 Aber auch die Nationalsozialisten wurden von der LVZ mit Bezeichnungen wie »Männeken« lächerlich gemacht.172 Diese Sprache legte nahe, dass es sich bei der Gewalt zwischen Kommunisten und National­ sozialisten aus Sicht der SPD um eine Art »Bandenkrieg« unreifer Jugendlicher handelte, aber eben nicht um ernsthafte und damit möglicherweise gefährliche Politik. Sowohl die SPD als auch die KPD brandmarkten ihre Gegner innerhalb der Arbeiterbewegung als »Faschisten«. Was die sozialdemokratische Polemik jedoch von derjenigen der Kommunisten unterschied, war, dass sie beide, »Kozis« wie auch »Nazis«, gleichsam aus dem politischen Raum verbannte. Beide bedrohten die öffentlichen Ordnung, befanden sich aber außerhalb der politischen Arena selbst. Kommunisten hingegen betrachteten den Kampf um die Straße als Politik, nahmen mithin sowohl ihre nationalsozialistischen Gegner als auch die SPD als politische Gegner wahr. In Anbetracht dieser Interpretation von Straßengewalt ist es kaum über­ raschend, dass die LVZ ihre Anhänger regelmäßig dazu aufrief, sich von Protesten gegen die Nationalsozialisten fernzuhalten, und die KPD dafür kritisierte, hierfür zu mobilisieren. Im Februar 1931 beispielsweise berichtete die LVZ über Ausschreitungen während und nach einer NSDAP-Versammlung in den »Rheingold-Festsälen«, wobei sie sich durchaus kritisch über die Polizei, und insbesondere den Polizeihauptmann Knofe äußerte, die zwar Besucher, nicht aber die SA nach Waffen durchsucht habe. »Unter den Augen der Polizei 167 LVZ, 3.7.1931. 168 LVZ, 21.2.1930. Zu solchen Spielen in Leipzig Dobson, S. 55 f. 169 LVZ, 7.1.1931. Auch LVZ, 7.7.1931, wo die Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten als »Kriegsspielerei« bezeichnet werden. 170 LVZ, 18.3.1930. Der Kontext war eine Verhandlung gegen einen Arbeiter, der an Ausschreitungen am 6. März 1930 beteiligt gewesen war, wofür er zu fünf Monaten Haft ver­ urteilt wurde. »Damit hat die kommunistische Revolutionsspielerei wieder ein neues ­Opfer gefordert«, schrieb die LVZ. Weiterhin LVZ, 16.12.1931. 171 LVZ, 20.2.1930. 172 LVZ, 20.1.1931. Die LVZ verspottete auch Anhängerinnen der NSDAP, etwa LVZ, 13.2.1933, wo von »halbwüchsigen Nazimädchen« die Rede war, die »ihre erwachenden Pubertätsschmerzen durch schrille Rufe abreagierten« als sie Hitler sahen. Zur Selbstrepräsentation (radikaler) Parteien als »männlich«, Brown, S.  10; Rosenhaft, Links gleich rechts, S. ­259–270.

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konnten sie ihre Schulterriemen abschnallen, um diese später unter polizei­ licher Bedeckung als Schlagwerkzeuge zu benutzen.« Aber sie nahm auch die KPD von der Kritik nicht aus: »Abschließend muss gesagt werden, dass es mehr als verbrecherisch von der KPD war, ihre Anhänger zu den Rheingoldgast­ stätten zu dirigieren.«173 Ein weiterer Aspekt sozialdemokratischer Rhetorik war, einfachen Kommunisten abzusprechen, selbstständig handelnde Akteure zu sein. Für gewöhnlich machte die LVZ einzig die kommunistische Führung für Gewalt verantwortlich. Wurden Kommunisten von der Polizei erschossen oder mussten ins Gefängnis, so war nicht der Staat, sondern die »Mord- und Wahnsinnspolitik« der KPD dafür verantwortlich,174 die sie vor Polizeigewehre hetzte.175 Einige Arbeiter, die wegen ihrer Beteiligung an den Ausschreitungen vom 10. Januar 1930 vor Gericht standen, machten auf die LVZ »den Eindruck von friedfertigen und anständigen Menschen. Durch die widrigen Lebensumstände und die kommunistische Verhetzung seien sie zu strafbaren Handlungen gekommen.«176 Aber vielleicht war es kein Wunder, dass diese Arbeiter so einfach von der KPD »verhetzt« wurden, waren die Leser der SAZ doch zumeist »geistig minder­ bemittelt«, so die LVZ.177 Gelegentlich gebrauchten Kommunisten eine ähnliche Rhetorik gegenüber Sozialdemokraten,178 zumeist aber versuchten sie zwischen »ehrlichen SPD-Arbeitern«, die gemeinsam mit der KPD gegen den Faschismus kämpften, und der verräterischen SPD-Führung zu unterscheiden. Zweifelsohne sind viele Berichte über solche Verbrüderungen mit Vorsicht zu lesen, aber dennoch ist der Unterschied zwischen kommunistischer und sozialdemokratischer Rhetorik bemerkenswert. Während die SPD kommunistischen Akteuren jegliche agency absprach – sie waren nur »Opfer« der KPD – behauptete die KPD stets, dass einfache Sozialdemokraten ihre Parteiführung missachteten, stellte sie also als eigenwillige Akteure dar. Diese Rhetorik änderte sich erst 1932 langsam. Scharfe Polemiken gegen die KPD erschienen nun seltener in der LVZ. Als es vermehrt zu Zusam173 LVZ, 19.2.1931. Eine ähnliche Kritik an kommunistischer Gewaltpolitik findet sich in der LVZ, 11.1.1932, 13.1.1932. Die LVZ rief ihre Leser bei solchen Gelegenheiten dazu auf, zu Hause zu bleiben, LVZ, 9.1.1932. 174 LVZ, 26.2.1931, nachdem vier kommunistische Demonstranten von der Polizei getötet worden waren. 175 LVZ, 4.12.1930, nach Ausschreitungen, bei denen neun Personen von der Polizei verletzt wurden. Ähnlich LVZ, 8.1.1930: »So kamen denn abermals durch die KPD-Parole ›und willst du nicht mein Bruder sein, so hau ich dir den Schädel ein‹ zwei Vertreter der StalinPartei ins Gefängnis.« Ähnlich auch LVZ, 15.7.1931, wo Kommunisten, die Sozialdemokraten angriffen, als »verhetzte Stalinjünger« bezeichnet werden. 176 LVZ, 7.3.1930. Es handelt sich um den bereits zitierten Artikel, in dem behauptet wird, die Antifa-Uniform gleiche einer faschistischen Uniform. Ähnlich LVZ, 18.3.1930. 177 LVZ, 23.12.1930. 178 Etwa SAZ, 5.4.1929. Kommunisten hatten auch kaum Gelegenheit zu behaupten, sozial­ demokratische Opfer von Polizeigewalt seien die Opfer ihrer eigenen Parteiführung.

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menstößen zwischen Sozialdemokraten und Nationalsozialisten kam,179 vermerkte auch die LVZ mit Befriedigung, wenn sich Sozialdemokraten erfolgreich verteidigt hatten. Im Februar 1932 beispielsweise hatte die Eiserne Front eine gewaltige Demonstration mit etwa 20.000 Teilnehmern veranstaltet. Nach dem Aufzug griffen SS-Leute am Bayrischen Platz einige Teilnehmer auf ihrem Heimweg an. Zunächst provozierten sie die Sozialdemokraten nur, worauf hin diese die SS-Männer verwarnten. Trotzdem gingen sie zum Angriff auf den SPD-Zug über, der diesen allerdings abwehren konnte. Im Anschluss entwickelte sich eine wüste Schlägerei, bei der einer der Nationalsozialisten sogar einen Schuss abgab. Er hatte auf den Kopf eines Gegners gezielt, verwundete ihn aber glücklicherweise nur mit einem Streifschuss an der Wange. Die SSLeute flohen, konnten aber abgefangen werden. Bevor sie der Polizei übergeben wurden, erhielten sie von »Passanten« eine Tracht Prügel, wie die LVZ zufrieden bemerkte.180 Im Sommer 1932, als die Gewalt ihren Höhepunkt erreichte und selbst die Polizei eine vermehrte Zusammenarbeit von Kommunisten und Sozialdemokraten in Auseinandersetzungen mit Nationalsozialisten feststellte, begann sogar die LVZ eine gewisse Sympathie gegenüber Arbeitern zu zeigen, die National­sozialisten angriffen. Der LVZ zufolge hatten die Nationalsozialisten im Juni 1932 verkündet: »Wir kommen wieder: nach Lindenau, nach Leutzsch, nach Volkmarsdorf, in all eure Schlupfwinkel bis uns eines Tages des Volkes Stimme das Recht geben wird, euch restlos aus euren Nestern zu vertilgen.« Würden diese »großmäuligen Burschen« aber »eins aufs lockere Mündchen« bekommen, so schrien sie »Rotmord und rufen die Staatsgewalt herbei«, wie die LVZ schrieb.181 Gleichwohl, dies bedeutete nicht, dass die Gewalt dadurch einen (legitimen) politischen Gehalt erhielt. Den Nationalsozialisten »eins aufs lockere Mündchen« zu geben war eher ein Akt väterlicher Strafe für ein ungezogenes Kind denn ein politischer Kampf. Erst im Januar 1933, als die Sozial­demokraten zunehmend das Vertrauen in die Fähigkeit der Polizei, Republikaner zu schützen, verloren, legte die LVZ nahe, dass Sozialisten und Republikaner die Sache selbst in die Hand nehmen könnten. Es gehe nicht an, so die LVZ, »dass einige wenige Nazibanditen die Straße beherrschen.« Hintergrund war, dass binnen weniger Tage drei Sozialdemokraten von Nationalsozialisten verprügelt worden waren. In keinem der Fälle war die Polizei in der Nähe, um 179 SStAL, PP St 19. 180 LVZ, 8.2.1932. Für ein weiteres Beispiel, LVZ, 7.4.1932. Nationalsozialisten griffen Reichsbanner- und SPD-Mitglieder an und schossen gar auf sie, woraufhin sie »ordentlich verprügelt« wurden. 181 LVZ, 28.6.1932. Zwar äußerte die LVZ durchaus Zufriedenheit über die Niederlage der Nationalsozialisten, gleichzeitig verdammte sie aber die kommunistische Gewalt, auch wenn solche Reaktionen verständlich seien. Bereits vorher hatte sich die Rhetorik der LVZ gewandelt, LVZ, 24.6.1932. Als die Nationalsozialisten den Rundling »belagerten« um dort Flugblätter zu verteilen, füllten sich die Straßen mit Arbeitern, so dass die Nationalsozialisten von der Polizei befreit werden mussten.

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Sozialdemokraten zu schützen.182 Ohne die Nationalsozialisten als ernste politische Gegner anzuerkennen, ließen Sozialdemokraten nun doch den Willen erkennen, das zu tun, was Kommunisten schon seit Jahren taten: selbst für ihre Sicherheit zu sorgen – auch wenn es lange gedauert hatte, bis Sozialdemokraten diesen Punkt erreicht hatten. Straßendemonstrationen gehörten auch zum Arsenal sozialdemokratischer Praktiken. Verglichen mit Nationalsozialisten und Kommunisten veranstalteten Sozialdemokraten eher weniger Aufzüge.183 Diese hatten zudem eine gänzlich andere Funktion. Während die zahlreichen und oft eher kleinen kommunistischen und nationalsozialistischen Demonstrationen die vielleicht wichtigste Waffe im Kampf um die Eroberung von Arbeitervierteln darstellten, sollten sozialdemokratische Demonstrationen die Stärke der Partei im Wortsinne »demonstrieren«. Im Februar 1931 marschierten beispielsweise rund 25.000 Mitglieder des Reichsbanners durch die Straßen Leipzigs, in den Worten der LVZ eine wahre »Armee der Demokratie«: Dem nationalsozialistischen Klamauk im Parlament setzte sie [die SPD] eine kluge Taktik entgegen, dem sich auf der Straße breit machenden nationalsozialistischen Rowdytum bot sie mit ihrer im Nu aus dem Boden gestampften, nach Hunderttausenden zählenden Schutzformation ein Paroli. Ihr zur Seite stand und steht das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, das dem blutigen Straßenkampfspiel der Nazis nicht gleiches entgegensetzte, sondern sich sofort daran machte, etliche Hunderttausende junger Leute für den praktischen Abwehrkampf gegen rohe Gewalt in technisch bester Weise auszubilden. So steht heute eine Armee von allezeit kampfbereiten und unüberwindlichen Schützen der deutschen Demokratie da, die auch den demokratie­ feindlichen Fanatikern der Bürgerkriegsgewalt Respekt abnötigen und sie schon durch ihr Vorhandensein in Schach halten. Heute fühlt sich daher kaum noch ein Bürger durch das Banditentum der Nazis politisch beunruhigt. Als politische Potenz hat es schon den größten Teil seines Bestandes eingebüßt, als Straßenrowdys mögen die Nazis vielleicht noch einige Zeit von sich reden machen.

Zur Freude der LVZ verlief der Aufmarsch, dank der sozialdemokratischen Disziplin, in vollkommen geordneten Bahnen, auch wenn Nationalsozialisten mit Gummiknüppeln bewaffnet erschienen, die aber von der Polizei festgenom182 LVZ, 16.1.1933. In den vorangegangenen Monaten sahen sich die Sozialdemokraten einer zunehmend feindlichen Polizei gegenüber, auch wenn sie niemals ihren Glauben an die Republiktreue der Polizei aufgaben. Für Beispiele, LVZ, 9.6.1932, 20.6.1932, 4.7.1932, wo betont wurde, dass die Beamten »übernervös« waren, oder 14.11.1932. Interessanterweise äußerte die LVZ deutlich mehr Kritik am Verhalten der Polizei bei Streiks, etwa LVZ, 7.9.1932, 14.9.1932, oder 1.10.1932. 183 Sowohl 1931 und 1932 kam es jeweils, soweit sich sehen ließ, nur zu zwei größeren Demonstrationen der SPD, LVZ 23.2.1931, 1.6.1931, 18.1.1932, 4.7.1932. Dies mag keine vollständige Auflistung sozialdemokratischer Demonstrationen sein, aber selbst in der LVZ wird deutlich, dass es weitaus mehr kommunistische als sozialdemokratische Demonstrationen gab.

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men wurden; Kommunisten tauchten, entgegen ihrer Ankündigung, gar nicht erst auf. Der »Appell«, wie die LVZ den Aufmarsch nannte, gehörte damit in den Augen des Blattes »zweifellos zu den imposantesten Maßnahmen, die in der Zeit nach den Septemberwahlen in Leipzig getroffen wurden. Es galt, den stillen Schmähern nicht minder als den offenen Feinden der Demokratie, aber auch deren lauen ›Freunden‹, zu zeigen, dass die SPD und das Reichsbanner nicht Hand an sie legen lassen.« Nun war die LVZ siegessicherer denn je: »Die politische Vernunft kehrt wieder zurück. Und das ist das ausschließliche Werk der sozialdemokratischen Partei.«184 Ein solcher Aufmarsch konnte Freund und Feind der Republik die Stärke ihrer Verteidiger demonstrieren. Es mag eine mächtige Armee gewesen sein, allein, sie griff nie ins Kampfgeschehen ein, sondern begnügte sich mit Paraden.185 Anders als bei den Kommunisten spielte der Ort der Demonstration für die Sozialdemokratie eine untergeordnete Rolle. Ende Mai 1931 beispielsweise versammelten sich laut LVZ während des Parteitages 160.000 Sozialdemokraten für eine »Riesendemonstration« auf dem Messplatz. Der Platz war sicherlich ein angemessener Ort für eine solche Menschenmenge, aber eben auch weit entfernt von den symbolisch bedeutsamen Schauplätzen der Straßenkämpfe in Leipzig.186 Um mit der militärischen Sprache zu sprechen, die sowohl KPD als auch SPD gerne gebrauchten: Sozialdemokraten paradierten, Kommunisten stellten sich der Hitze der Schlacht. Gleichwohl, diese Gegenüberstellung ist auch irreführend, da Sozialdemokraten und Kommunisten unterschiedliche Kämpfe fochten: erstere fochten Wahlschlachten aus, die an der Urne entschieden wurden, letztere gewaltsame Schlachten um die Vorherrschaft in Leipzigs Arbeitervierteln, die auf der Straße entschieden wurden. Sozialdemokraten reagierten auf die dauernden politischen Diskussionen auf der Straße, vor allem vor Zeitungskästen, mit Unwillen. So empörte sich ein Leserbriefschreiber in der LVZ vom September 1931 über das »unsinnige Diskutieren« vor dem Volkshaus, das dieses kaum einladend wirken ließe. Wenn Diskussionen nötig wären, so könnte dies in den Räumlichkeiten der Organisationen geschehen, nicht aber auf dem Bürgersteig. »Mit den Nachläufern der Siamesischen Zwillinge, Thälmann-Hitler, die fortgesetzt vor dem Volkshaus sind, und glauben, dort ihren geistigen Dünger absetzen zu können, muss aufgeräumt werden.«187 Der Brief bringt das sozialdemokratische Politikverständnis, vielleicht ein wenig überspitzt, auf den Punkt: Politik gehörte ins Parlament oder in die Parteigremien, wo »überzeugende Argumentation« und nicht »Schlagring, Dolch und Schießeisen«, wie eben auf der Straße, zählten.188 184 LVZ, 23.2.1931. 185 Vogel, S. 650. Vogel überschätzt jedoch die Effekte dieser Massendemonstrationen. 186 LVZ, 1.6.1931. 187 LVZ, 17.9.1931. 188 LVZ, 20.8.1931. Die Zitate stammen aus einer Trauerrede beim Begräbnis von Max Warkus. Auch beim Begräbnis von Johannes Franke wurde eine ähnliche Rhetorik gebraucht, LVZ, 20.6.1930.

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Dass Sozialdemokraten weniger gewaltsam handelten als Kommunisten und Gewalt grundsätzlich verurteilten, wird kaum überraschen. Hier soll aber etwas anderes betont werden. Beide Parteien hatten ein grundverschiedenes Politikverständnis. Sozialdemokraten wollten den Alltag frei von Politik halten. Aus ihrer Sicht sollte Politik in eng umrissenen Grenzen stattfinden. Dabei entpolitisierten Sozialdemokraten sogar traditionell hochpolitische Ereignisse wie den 1. Mai, für Kommunisten der »Kampftag der Arbeiterklasse.« Im Vorfeld zu den Maifeierlichkeiten 1930 etwa versicherten Vertreter von SPD und ADGB der Polizei, dass sie das Demonstrationsverbot strikt beachten würden. Es sollte ein Maifest mit Kindergruppen, Tänzen von Jugendlichen, sportlichen Aufführungen und Musikdarbietungen werden, an dem nur SPD- und Gewerkschaftsmitglieder teilnehmen dürften. »Sie würden schon aus eigenem Interesse alles tun, um unliebsame Personen fernzuhalten und dem Fest den Charakter eines Frühlingsfestes zu geben.«189 Kommunisten hingegen strebten eine möglichst vollständige Politisierung des Alltags an, wie im folgenden Kapitel ausführlich zu zeigen sein wird. Kommunisten und Sozialdemokraten hatten somit nicht nur unterschiedliche politische Zielvorstellungen, sondern grundsätzlich unterschiedliche Vorstellungen von dem, was Politik sein sollte und wo sie stattfinden sollte.190 Diese Unterschiede trugen dazu bei, so die hier vertretene These, dass eine Zusammenarbeit an der Basis der beiden Parteien unwahrscheinlich blieb. Wird der Blick über Wahlergebnisse, »Riesendemonstrationen« der Sozial­ demokratie und Mitgliederzahlen von Arbeitervereinen auf den Alltag in den Straßen der Arbeiterviertel Leipzigs gerichtet, so bleibt wenig von dem Bild eines starken und stabilen Arbeitermilieus in Leipzig übrig.191 Im Gegenteil, Feindschaft und Gewalt waren am Ende der Weimarer Republik allgegenwärtig in den Straßen dieser Viertel. Zumeist handelte es sich um Gewalt zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten, aber ebenso kam es zu Gewalt zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten, was zentral für das hier vorgetragene Argument ist.192 In den Jahren vor 1929 hatte es, so die detaillierte Darstellung Jesko Vogels, sowohl Beispiele von Zusammenarbeit als auch von Konflikten zwischen beiden Parteien gegeben. Mit Klaus-Michael Mallmann könnte man vermuten, dass sich die Basis der beiden Arbeiterparteien im Moment einer physischen Bedrohung von außen zusammengeschlossen hätten, um ihre Viertel zu verteidigen, wie die kommunistische Presse immer wieder behauptete. Allein, bis auf wenige Ausnahmen geschah dies nicht. Warum? 189 SStAL, PP St 99. 190 Marquardt, S. 177–200. 191 Die Schwäche der Studie von Vogel besteht m. E. darin, dass er sich zu sehr auf die Orga­ nisationsstrukturen der SPD und ihrer Unterorganisationen konzentriert, ohne ihre Praktiken zu analysieren. 192 In Anbetracht der Gewalt zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten, die bis zum Mord reichte, lässt sich wohl schwerlich von einem »tolerante[n] Nebeneinander von Sozial­demokraten und Kommunisten« in Leipzig sprechen, wie dies Mallmann, S. 261, tut.

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Zweifelsohne bedarf diese Frage verschiedener Antworten. Sicherlich ist auf die zunehmend scharfen Attacken der kommunistischen Presse gegen die Sozial­demokratie unter dem Schlagwort des »Sozialfaschismus« zu verweisen, nicht zuletzt deshalb, weil moderatere Kommunisten, die einen weniger konfrontativen Kurs der SPD gegenüber vertraten, aus der KPD gedrängt wurden und mit der KPO ihre eigene Partei gründeten, während radikalere Jung­ sozialisten sich der KPD anschlossen.193 Diese Aus- und Übertritte schufen allerdings nicht die Grundlagen für Kompromisse und Zusammenarbeit, sondern verschärften eher die Konflikte zwischen den beiden Parteien. Schließlich mag die Tatsache, dass Sozialdemokraten und Kommunisten keine Grundlage für eine Zusammenarbeit gegen die Nationalsozialisten fanden, vorherige Erfahrungen von Zusammenarbeit in ein anderes Licht rücken. Nicht die erfolgreiche Zusammenarbeit während der Kampagne zur Fürstenenteignung mag prägend gewesen sein, sondern, dass Kommunisten sich als Sozialdemokraten ausgegeben hatten, um Geldsammlungen durchzuführen; nicht die Zusammenarbeit von SAJ und KJVD, sondern die Unterwanderung der SAJ durch Kommunisten mag entscheidend gewesen sein. Solche Praktiken ließen Sozialdemokraten gegenüber Kommunisten misstrauisch werden, ein Thema, das im dritten Kapitel ausführlicher behandelt wird. In dem Aufstieg der Nationalsozialisten muss, paradoxerweise, ein weiterer und entscheidender Grund für das Ausbleiben eines Wunsches nach Einheit an der Basis erblickt werden. Nationalsozialisten waren dafür verantwortlich, dass sich die Straßen Leipzigs in Schauplätze gewaltsamer Politik verwandelten. In Reaktion auf die »Eroberungsversuche« der Nationalsozialisten wurde die symbolische wie auch physische Verteidigung der Arbeiterviertel ein immer wichtigerer Bestandteil kommunistischer Praxis. In dieser Situation aber waren eben nicht nur nationalsozialistische, sondern auch sozialdemokratische Flugblattverteiler an der Epa-Ecke eine Herausforderung kommunistischer Herrschaftsansprüche, auf die mit Gewalt reagiert wurde. Der Aufstieg der Nationalsozialisten normalisierte gleichsam Gewalt, was sich wiederum in den Beziehungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten niederschlug. Sozialdemokraten betrachteten diese Gewalt als das Verhalten von Rowdys, aber nicht als wirkliche Politik, und konnten daher auch kaum eine Einheitsfront mit den Kommunisten eingehen. Im Gegenteil, Kommunisten und Nationalsozialisten waren gleichermaßen gefährlich, da sie Chaos stifteten und die Ordnung der Republik bedrohten, die Sozialdemokraten verteidigen wollten. Diese Differenzen zu überwinden erwies sich als unmöglich.

193 Vogel, S. 487f, 530–533.

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2. Politik als Belästigung im Alltag In Mitten des nicht nur politisch heißen Sommers 1932 berichtete die sozial­ demokratische Leipziger Volkszeitung (LVZ) aus einem öffentlichen Freibad, wo eine »kommunistische Schlägerkolonne« erschienen war und versucht hatte, Propaganda zu betreiben, so dass das Badepersonal einschreiten musste.1 Es war nicht das letzte Mal, dass die LVZ über solche Störenfriede berichtete. Anfang September beschwerte sie sich erneut, dass es insbesondere an Tagen mit starkem Betrieb, an denen das Personal bei politischen Auseinandersetzungen nicht eingreifen konnte, »überaus bedauerlich [war], dass nicht einmal in den der Erholung dienenden Luft- und Sonnenbädern der Besucher vor Belästigung sicher ist.«2 Die kommunistische Sächsische Arbeiterzeitung (SAZ) musste natürlich auf solche Anschuldigungen reagieren. Wenige Tage nach dem ersten Bericht in der LVZ druckte die SAZ eine Arbeiterkorrespondenz, ein kurzer Text, der angeblich von einem »einfachen Arbeiter« verfasst worden war.3 »Anders als dieser wohlbeleibte SPD-Genosse« empfanden er und sein Freund die kurze Ansprache der Antifaschistischen Aktion aber nicht als Belästigung, sondern als willkommene Abwechslung. Fast taten ihm die Sozialdemokraten ein wenig leid: »[…] und heute musste ich erleben, dass junge Arbeiter an Hand von Marx und Engels alten Arbeitern klipp und klar die Sache und die verräterische Politik der Sozialdemokratie widerlegten. Es war ein Trauerspiel zu sehen wie der SPD-Mann sich nicht anders zu helfen wusste, als dass er Hilfe beim Bademeister suchte.«4 Wenigstens am Rande sei der generationelle Unterton der Arbeiterkorrespondenz bemerkt. Auf der einen Seite wurde die SPD als altersschwach dargestellt, während die KPD für ihre Jugendlichkeit gepriesen wurde; andererseits hatte die SPD aber auch ihre alten Gründungsväter Marx und Engels vergessen.5 Die kommunistische Badeagitation ist vielleicht das am meisten beeindruckende Beispiel dafür, wie Kommunisten versuchten, traditionell unpolitische Räume für politische Agitation zu nutzen. Aus kommunistischer Perspektive war dies sicherlich eine erfolgreiche Aktion, die die zahlreichen polizei­ lichen Beschränkungen für öffentliche Agitationen umging, und zumindest

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LVZ, 19.8.1932. LVZ, 2.9.1932. Zu »Arbeiterkorrespondenzen« Hempel-Küter. SAZ, 25.8.1932. Zu kommunistischer Agitation in Schwimmbädern, BArch, RY 1 I/3/8–10/155, RY 1 I/3–8/166.

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dem anony­men Arbeiterkorrespondenten zufolge kam die Ansprache bei manchen Besuchern gut an. Andere hingegen empfanden sie schlichtweg als Belästigung, wie der Bericht in der LVZ zeigt. Angesichts der Gewalt auf den Straßen suchten Sozialdemokraten, und vermutlich nicht nur sie, Räume, in denen sie der allgegenwärtigen Politik entkommen konnten. Sie wollten wohl einfach eine Weile ihre Ruhe haben und entspannen. Politik gehörte aus ihrer Perspektive ins Parlament und nicht auf die Straße, wo höchstens symbolische und geordnete Demonstrationen stattfinden konnten; sicherlich gehörte Politik auch nicht ins Schwimmbad. Die – aus sozialdemokratischer und vermutlich auch bürgerlicher Sicht traurige – Realität aber war, dass es unmöglich war, der Politik zu entkommen, sei es im Freibad, im Arbeiterverein, auf den Straßen des Viertels, oder am Arbeitsplatz. Überall dort war man mit Politik konfrontiert. In der Forschung ist wiederholt auf die zahlreichen verschiedenen Arbeitervereine, die mehr oder weniger direkt mit der SPD (und nach der Spaltung der Arbeiterbewegung 1919 teils auch mit der KPD) verbunden waren, als Beleg für die Stärke der deutschen Arbeiterbewegung verwiesen worden. Mittels dieser Vereine sei, so das Argument, bereits im Kaiserreich ein »Milieu« geformt worden.6 Der Milieubegriff versucht die (zumindest angestrebte) politische, ideologische und organisatorische Durchdringung der Arbeiterklasse durch die Sozialdemokratie mittels der zahlreichen Vereine zu erfassen: Beginnend mit sozialistischen Kindergruppen und der Sozialistischen Arbeiterjugend, über die diversen Freizeit- und Sportvereine, bis zu den Freidenkern, die sich um eine proletarische Feuerbestattung kümmerten. Sozialdemokrat von der Wiege bis zur Bahre, wie es pointiert hieß.7 Beim geselligen Beisammensein im Verein sollte Klassenbewusstsein geformt werden und die Einheit der Arbeiterklasse hergestellt werden; Klassensolidarität sollte in den Vereinen gleichsam eine All-

6 Siehe zum Milieubegriff die klassischen Studien von Lepsius, Parteiensystem; ders., Demokratie; Rohe, Wahlen. Demgegenüber schlagen Lösche u. Walter, S. 520–525, den Begriff »Sozialdemokratische Solidargemeinschaft« vor, dessen Merkmal unter anderem die Durchdringung zahlreicher Lebensbereiche durch ein vielfältiges Vereinsnetz war, in dem der Sozialismus quasi antizipiert wurde. Lösche und Walter betonen, dass die sozialdemokratische Vereinskultur erst in der Weimarer Republik ihren Höhepunkt erlebte. Eine Kritik dieser Ansicht findet sich bei von Plato. Dieser argumentiert auf Basis von Interviews, dass das politische »Lager« kaum im lebensweltlichen »Milieu« verankert war. Politik habe kaum eine Rolle gespielt, so von Plato. Die Ergebnisse dieser Studie widersprechen von Plato allerdings. Weichlein hingegen betont, wie wichtig das Zusammenwirken von »Vereinsmilieu« und »politischem Sozialmilieu« gewesen sei. Nur wenn diese beiden zusammen wirkten, könne von einem wirklichen Milieu gesprochen werden. Weichlein untersucht allerdings Orte, die jeweils klar von einer Partei (SPD in Kassel, KPD in Hanau) dominiert wurden. In Leipzig lässt sich, trotz der Stärke der SPD, allein wegen der Größe der Stadt, nicht von einer solchen Dominanz sprechen. Eine gute Zusammenfassung findet sich bei Mallmann, Kommunisten, S. 34–45. 7 Boll; Langewiesche, Arbeiterkultur; ders., Kultur der Arbeiterbewegung; Wunderer; Will u. Rob; Adam.

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tagspraktik werden.8 Der Milieubegriff versucht damit quasi die Fusion von Geselligkeit und Politik, in diesem Kontext Parteipolitik, zu erfassen.9 Ein Ziel dieses Kapitels besteht darin, das Argument, dass die Fusion von Geselligkeit und Politik eine Stärke der Arbeiterbewegung darstellte, infrage zu stellen, indem nach den Folgen der Politisierung des Arbeitermilieus gefragt wird, die mit dieser Fusion einherging. Hierzu wird der Blick aber über die Milieuorganisationen im engen Sinne, also die Arbeitervereine, hinaus auf Familien und Nachbarschaften, die Situation am Arbeitsplatz, und schließlich auf die politisierte kommunale Wohlfahrtspflege gerichtet.10 Dabei wird sich zeigen, wie sehr das Alltagsleben von politisch aktiven Arbeitern, aber teils auch von unorganisierten Arbeitern, von parteipolitischen Konflikten durchdrungen war. Diese Politisierung trug dazu bei, so die These des Kapitels, dass es zu keiner breiten Mobilisierung der Arbeiterbewegung an der Basis kam. Auch wenn das Hauptaugenmerk der linken Arbeiterbewegung, also SPD und KPD gilt, so dürfen hierbei die Nationalsozialisten und ihre Präsenz in den Arbeitervierteln nicht aus den Augen verloren werden. Die Politisierung des Arbeitermilieus führte erstens dazu, dass parteipoli­ tische Konflikte zwischen SPD und KPD zu einer Alltagserfahrung für viele Arbeiter, vornehmlich, aber nicht ausschließlich, politisch oder gewerkschaftlich organisierte, wurden, wobei die im ersten Kapitel diskutierte Gewalt selbstredend ebenfalls eine zentrale Rolle spielte. Auf diese Weise wurde das »linksproletarische Milieu« (Mallmann) auch an der Basis politisch gespalten. Diese 8 Zur Geselligkeit Hoffmann, Politik; ders., Geselligkeit; François. Hoffmann argumentiert, dass in den Vereinen fernab von »politischen« Themen früh »bürgerliche« Tugenden und Demokratie geübt wurden. Die Geselligkeit, so Hoffmann, Geselligkeit, S. 130 »schuf einen eigenen, künstlich geschaffenen politisch-sozialen Raum, in dem neue Ideen und Praktiken der Egalität und Legalität spielerisch angeeignet werden konnten.« Hinzuzufügen wäre, dass dies auch jenseits von politischen Parteien geschah. In diesem Sinne wirkten auch die Vereine, die sich mit aus heutiger Sicht unpolitischen Dingen befassten, demokratisierend. Mit der Demokratisierung der Vereine hätten sich diese jedoch auch politisiert, womit politische Konflikte in Vereine eindringen konnten. Hoffmann sieht hierin eine der Ursachen der Krise des Liberalismus im 19. Jahrhundert, Hoffmann, Geselligkeit, S. 104 f. Das Argument hier folgt ihm dabei, allerdings mit Blick auf die Arbeiterbewegung. 9 Diese Idee findet sich etwa bei Weichlein, S. 15. Im französischen Kontext sehr anregend ist Fourcaut, Bobigny. In Bobigny basierte die Stärke der lokalen PCF auf ihrer Verankerung in den lokalen Vereinen und der Rolle, die sie für die dortige »Geselligkeit« spielte. Im Moment der Krise 1939/40 jedoch war es eben diese Geselligkeit, die wichtiger wurde als Parteitreue. Für Clamamus, den kommunistischen Bürgermeister, war seine Rolle als lokaler Notable wichtiger als seine Parteimitgliedschaft, und so diente er auch unter dem Vichyregime weiter. 10 In Hinblick auf die Politisierung des Alltags im Arbeitermilieu ließen sich auch kommunistische Versuche an Schulen zu agitieren sowie dortige Konflikte zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten anführen, Stadtarchiv Leipzig (StAL), Kapitelakten I, Nr. 465, und Kapitelakten V, Nr. 232, Bd. 5, und Beiheft 5, StAL, Schulamt 437 und 438. Zu Kommunistischer Jugendpolitik Häberlen, Politik. Aus bürgerlicher Perspektive wäre ein Blick auf politische Aktivitäten an der Universität zu richten, SStAL, PP V 3989.

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Konflikte (re)produzierten ebenso wie die Gewalt zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten die offiziell zwischen den Parteien herrschende Feindschaft an der Basis und verhinderten, dass es dort, wie in Frankreich, zu einem mächtigen Ruf nach Einheit, selbst gegen den Willen der Parteiführungen, kam. Zweitens aber wurde die Allgegenwart von Politik von vielen Arbeitern, selbst innerhalb der KPD, als Belästigung empfunden, so dass sie sich von Politik insgesamt abwandten. Sie sehnten sich nach Ruhe im Freibad oder in ihren Vereinen, wo sie entspannen und die Sonne genießen oder einfach Fußball spielen wollten, um so wenigstens für kurze Zeit der allgegenwärtigen Gewalt zu entfliehen. Sowohl Kommunisten, wie etwa im Freibad im Sommer 1932, als auch Nationalsozialisten konnten eine Quelle dieser »Belästigungen« sein. Indem die Politisierung des Alltags gleichsam eine Gegenreaktion auslöste, den Wunsch nach unpolitischer Ruhe, verhinderte sie breite politische Mobilisierung der Arbeiterschaft. Eine bereits im ersten Kapitel vorgebrachte These ausbauend, wird dieses Kapitel drittens die fundamental unterschiedlichen Politikverständnisse von Sozialdemokraten und Kommunisten diskutieren. Eine Zusammenarbeit zwischen SPD und KPD hätte nicht nur eine Überwindung genuin politischer Differenzen erfordert, die sicherlich groß genug waren, sondern auch ein gemeinsames Verständnis davon, wie politische Praxis aussehen sollte.

2.1 Familien und Nachbarschaften In einem zu Beginn der DDR verfassten Erinnerungsbericht notierte Gert Zschocher, dass es »in der Zeit der Weimarer Republik etwas Alltägliches [war], dass die ideologischen Auseinandersetzungen quer durch die Familien gingen. Wenn die jeweiligen Familien nur groß genug dazu waren, so konnte man in ihnen antreffen: Gläubige, Atheisten, Rechtsradikale, Sozialdemokraten, Kommunisten.«11 Klaus-Michael Mallmann berichtet in seiner Studie über Kommunisten in der Weimarer Republik ebenfalls von Familien, in denen es sowohl SPD- als auch KPD-Mitglieder gab. Mallmann sieht in diesen fami­ liären Konstellationen einen Beleg für seine These, dass die Gräben zwischen SPD und KPD zumindest an der lokalen Basis nicht so groß waren, wie die jeweilige Parteipropaganda glauben machen wollte.12 Familien stellten ebenso wie Nachbarschaften oder der Arbeitsplatz Räume dar, in denen Mallmann zufolge politische Differenzen an Schärfe verloren und zumindest zeitweilig überwunden werden konnten. Im Milieu waren Kommunisten und Sozialdemokraten gleichsam dazu gezwungen, miteinander zu leben und zu arbeiten. Hier hätten, so Mallmanns Lesart, heftige politische Konflikte ein Funktionieren des Milieus unmöglich gemacht. 11 SStAL, Erinnerungsbericht, V/5 401/1, S. 3. Ähnlich Erinnerungsbericht, V/5 243. 12 Mallmann, Kommunisten, S. 129 f., 260 f.

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Die vorliegende Studie zu Leipzig bestätigt Mallmanns Beobachtung, dass Kommunisten und Sozialdemokraten in den gleichen Vierteln und Häusern lebten,13 ja teils sogar zur gleichen Familie gehörten, wobei typischerweise der Vater SPD-Mitglied war, der Sohn sich aber der KPD angeschlossen hatte.14 Die Situation war noch komplizierter, wenn sich ein Familienmitglied der NSDAP angeschlossen hatte, andere jedoch der KPD oder SPD.15 Im Gegensatz zu Mallmann soll hier aber argumentiert werden, dass solche familiären Konstellationen dazu beitrugen, dass Parteipolitik in private Räume eindringen konnte. Vielleicht konnte familiäre Solidarität dazu beitragen, politische Konflikte zu überbrücken, aber es war ebenso möglich, dass politische Differenzen zu schweren Auseinandersetzungen in Familien führten und diese entzwei rissen.16 Solche Konflikte erscheinen nur sporadisch in den Quellen, werden aber ausführlich in literarischen Werken, vor allem kommunistischer Propagandaliteratur, dargestellt. Gegen die Benutzung solche Propagandawerke als historische Quelle ließe sich einwenden, dass sie vor allem darauf abzielten, gegen die SPD zu agitieren, und daher nicht als Quelle über die »historische Realität« gelesen werden sollten. Selbstredend war dies der Zweck der Propaganda. Aus drei Gründen meine ich dennoch, dass diese Darstellungen einen realen Hintergrund hatten. Zum ersten sind es nicht allein kommunistische Propagandawerke, die solche Situationen schildern, sondern auch nicht parteipolitisch gebundene Literatur wie Hans Falladas »Kleiner Mann, was nun?«. Zweitens musste die Propaganda, wollte sie plausibel sein, auf reale Erfahrungen Bezug nehmen. Würde sie vollkommen fiktionale und unrealistische Konflikte schildern, die nichts mit den Alltagserfahrungen der Arbeiter zu tun hatten, so hätte sie kaum Aussicht auf Erfolg. Und schließlich gibt es in anderen Quellen zumindest Hinweise auf solche Familienkonflikte. 13 Beispielsweise SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 162. Charlotte Georgi erinnert sich, dass in einem Haus in der Brockhausstraße 45 13 Parteien gewohnt hatten, unter ihnen zwei Nationalsozialisten (vermutlich Ehepaare oder Familien), die ihren Ehemann nach 1933 denunzierten, aber auch zwei sozialdemokratische Parteien, sowie ihr Ehemann und sie selbst, beide Kommunisten. Dies war vermutlich keine ungewöhnliche Situation. Meine geographische Analyse von Wohnadressen von ca. 1.100  Kommunisten, Sozialdemokraten und Nationalsozialisten bestätigt diesen Eindruck räumlicher Nähe. 14 Beispielsweise SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 413, V/5 401/1. 15 Beispielsweise SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 171. Willy Lautenschläger war Mitglied der SAJ, während sich sein Bruder der SA angeschlossen hatte. 16 Einschränkend muss gesagt werden, dass familiäre Solidarität, die politische Differenzen überwinden konnte, kaum aktenkundig wurde. Wenn beispielsweise ein Bruder den anderen Bruder trotz politischer Differenzen nicht denunzierte, so werden wir davon vermutlich nichts erfahren. Genauso wenig wissen wir, was etwa geschah, wenn Nachbarn die Fahnen verfeindeter politischer Parteien aus dem Fenster hängten. Grüßten sie sich dennoch und halfen einander aus, oder beleidigten und bespuckten sie sich im Treppenhaus? Die Quellen verzeichnen tendenziell nur (schwerwiegendere) Konflikte, so dass wir über Gegenbeispiele kaum etwas wissen. Roseman, S. 23, argumentiert, durch die Politisierung von Generationenkonflikten hätten auch familiäre Generationenkonflikte eine politische Note erhalten.

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Ein erstes Beispiel bietet der Roman »Kämpfende Jugend« (1932) von Walter Schönstedt, der den täglichen politischen Kampf einer kommunistischen Jugendgruppe in Berlin, sowie den als unpolitisch dargestellten Kampf ums tägliche Überleben inmitten der Wirtschaftskrise einer »wilden Clique« schildert. Jungkommunist Karl, die Hauptfigur des Romans, ist ein eifriger KPD-Funktionär, stets im Namen der Partei unterwegs und dabei immer darauf bedacht, dass sein Vater, ein alter Sozialdemokrat, nichts von seinen kommunistischen Aktivitäten erfährt.17 Eines Tages jedoch grüßt ihn ein Genosse vor dem Arbeitsnachweis, wo Karls Vater als Portier arbeitet, mit »Rot Front«, woraufhin es am Abend Krach schlägt. Auf den Wutausbruch des Vaters hin sagt die Mutter nur: »Ich will mit Politik nichts zu tun haben.« Als dann Karl nach Hause kommt, macht ihm sein Vater schwere Vorwürfe, nicht nur, dass er sich an verbotenen Demonstrationen beteilige, sondern auch, dass er ein Plakat angeklebt hätte, auf dem es hieß: »Der Schuft Langscheidt [Karls Vater], Mitglied der SPD, denunziert hungernde Erwerbslose an Polizeibeamte.« Karl bestreitet zwar, an der Plakataktion beteiligt gewesen zu sein, gibt aber stolz zu, sich an verbotenen Demonstrationen zu beteiligen, schließlich habe früher auch die SPD solche Verbote ignoriert. Da Karl nicht willens ist, seine politische Tätigkeit einzustellen, wirft ihn der Vater schließlich aus der elterlichen Wohnung.18 Zwar ist die Darstellung in dem Roman sicherlich dramatisiert, aber Berichte in der SAZ über kommunistische Jugendliche, die von ihren Vätern des Hauses verwiesen wurden, legen nahe, dass solche Schilderungen keine reinen Erfindungen waren, sondern reale Vorbilder hatten, auf die sich die kommunistische Presse natürlich stürzte, um sie medial zu inszenieren.19 Ein ähnlicher, wenn auch nicht so dramatischer Fall wird in Falladas »Kleiner Mann, was nun?« geschildert, der ebenfalls in der Zeit der Weltwirtschaftskrise spielt und vom Buchhalter Johannes Pinnenberg handelt. Als Pinneberg den Eltern seiner schwangeren Geliebten Emma erklärt, diese heiraten zu wollen, reagiert ihr Vater, ein alter Sozialdemokrat, zunächst entrüstet und lehnt eine Heirat seiner proletarischen Tochter mit dem kleinbürgerlichen »Kleinen Mann« strikt ab. Als jedoch Emmas Bruder, ein überzeugter Kommunist, nach Hause kommt, verliert der Konflikt zwischen Pinneberg und Emmas Vater schnell an Bedeutung, da Vater und Sohn ihren eigenen, politischen Streit austragen. Der parteipolitische Konflikt zwischen Vater und Sohn ist offen17 Schönstedt, S. 6 f. Auch Pamela Swett bezieht sich regelmäßig auf den Roman. Für den Moment mag ignoriert werden, dass er in Berlin und nicht in Leipzig spielt. 18 Schönstedt, S. 5. 19 SAZ, 12.3.1932. Ähnlich SStAL, Erinnerungsberichte, V 5/413. Alfred Buchheim war ein Mitglied der Kommunistischen Jugend. In seinen Erinnerungen betont er, dass sein Vater ein strenger Sozialdemokrat war, der unter keinen Umständen von den politischen Aktivitäten seines Sohnes erfahren durfte, weshalb er sich den Kampfstaffeln anschloss und dort für eine Zusammenarbeit von Kommunisten und Sozialdemokraten warb. Vergleiche aber Plato, S. 48 f., der auf Interviews basierend argumentiert, Konflikte innerhalb von politisch aktiven Familien seien keine Seltenheit gewesen.

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bar wichtiger als der falsche Ehemann für die Tochter.20 Während der gesamten Szene halten sich beide Frauen der Familie, Emma und ihre Mutter, aus den politischen Disputen heraus.21 Über literarische Darstellungen und sporadische Berichte hinaus ist es schwie­rig, Quellen zu finden, anhand deren sich die Rolle von (Partei-)Politik in Familien rekonstruieren lässt. Nur selten berichten Quellen en detail darüber, was passierte, wenn sich der Sohn eines Sozialdemokraten der KPD (oder, schlimmer gar, der NSDAP) anschloss. Grundsätzlich tendieren Quellen dazu, Konflikte zu verzeichnen. Harmonische Familienbeziehungen, und das gleiche gilt für Nachbarschaftsbeziehungen, fanden nur selten ihren Weg in die Akten. Gleichwohl, mit aller Vorsicht sind einige Beobachtungen und Überlegungen möglich. Die Ermittlungen nach dem Mord an Johannes Franke durch Nationalsozialisten in Eyhtra bieten in dieser Hinsicht ein bezeichnendes Beispiel, da die Polizei kurz nach dem Mord von einem weiteren Konflikt erfuhr. Nachdem sowohl die SAZ als auch die LVZ am Montag, den 16. Juni 1930, über den Mord berichtet hatten, erschien ein Mann bei der Polizei und erklärte, er habe über den Mord in der Zeitung erfahren; bei dem Toten könne es sich um seinen Sohn handeln. Johannes hatte vor anderthalb Jahren die elterliche Wohnung verlassen und war seitdem nicht mehr zurückgekehrt. Nachdem er den Toten in der Tat als seinen Sohn identifiziert hatte, berichtete er der Polizei über die Beziehung zu ihm. [Der Getötete ist der einzige Sohn aus seiner ersten Ehe.] Bis zum 18. Lebensjahr hatte ich alle Freude an ihm. Dann trat plötzlich eine Wendung ein. Vermutlich durch schlechten Umgang fing er an, eigene Wege zu gehen. Alles Zureden meinerseits war ohne Erfolg. Ich bemerkte, dass er sich mit Politik befasste und einer syndikalistischen Gruppe angehörte. Unser Verhältnis wurde dadurch noch gespannter. Eines Tages verließ er die elterliche Wohnung und ging nach Holland. Als er wieder zurückkehrte, nahm ich ihn wieder auf, doch er hatte sich nicht geändert. Vor etwa 1 ½ Jahren verließ er erneut mein Heim und kehrte seitdem nicht zurück.22

Der Vater-Sohn-Konflikt endete aber nicht mit Johannes’ Tod. Der Vater, ein alter Sozialdemokrat, organisierte sein Begräbnis und ließ den sozialdemokratischen Freidenker Meyer die Gedenkrede halten. Politische Differenzen sollten nicht mit Messer und Dolchen gelöst werden, so erklärte Meyer der Trauergemeinde. »Es geht doch auch mit Vernunft!« Rohe Gewalt habe keinen Platz im Klassenkampf – eine kaum verhüllte Kritik an der KPD, ebenso wie der Ruf nach Einheit der Arbeiterbewegung unter sozialdemokratischer Führung. In der Tat störte allein die Anwesenheit von etwa 250 Kommunisten, die dem To20 Fallada, S. 20–23. Auch Swett, S. 112 f. 21 Die Geschlechterbeziehungen in beiden Romanen wären sicherlich eine Analyse wert, die aber hier nicht geleistet werden kann. 22 SStAL, PP S 295/15. Der Fall ist auch insofern interessant, als der Vater-Sohn Konflikt nicht am Anfang des Aktenvorgangs stand, sondern nur »zufällig« aktenkundig wurde.

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ten die letzte Ehre erweisen wollten, wie die LVZ bemerkte, hatte die Familie Frankes doch ausdrücklich ihr Fernbleiben verlangt. Als die Kommunisten, kaum überraschend, Meyers Rede unterbrachen, drohte dieser, so die SAZ, jeden verhaften zu lassen, der nicht seiner Meinung sei.23 Was genau diesen schweren Vater-Sohn-Konflikt ausgelöst hatte, lässt sich im Nachhinein nicht mehr sagen  – waren politische Differenzen der Auslöser, oder waren sie nur der Ausdruck eines ganz anderen Konflikts? Zumindest der Aussage des Vaters gegenüber der Polizei zufolge belasteten die politischen Konflikte das Verhältnis zwischen ihnen schwer. Familiäre Solidarität half hier nicht, die politischen Gräben zu überbrücken, sondern wurde selbst durch Politik zerstört. Das gleiche gilt fürs Milieu. Der politische Disput zwischen Vater und Sohn entzweite das links-proletarische Milieu selbst im Moment des gewaltsamen Todes. Es wäre sicherlich ein idealer Moment für eine gemeinsame Totenwache seiner sozialdemokratischen Familie und seiner kommunistischen Genossen gewesen, die Mallmann zufolge regelmäßig stattfanden.24 Der Mord an Franke, der auf verschiedene Weisen zu beiden Lagern der proletarischen Linken gehörte, hätte die Gräben zwischen den Lagern für einen Moment überbrücken können. Aber dies geschah nicht. Dass selbst in solchen Momenten politische Differenzen überwogen zeigt eindrucksvoll, wie tief die politischen Gräben im Milieu und selbst in einzelnen Familien sein konnten. In keinem der beiden Romane beteiligen sich Frauen an den politischen Familienstreitigkeiten. Ihre Rolle war darauf beschränkt, als unpolitische Vermittlerin zu agieren, auf idealisierte Weise im Roman »Kämpfende Jugend« dargestellt. Trotz aller Differenzen versucht Karls Mutter sich um ihren Sohn zu kümmern und im Vater-Sohn Konflikt zu vermitteln. Sie selbst aber will sich aus allem Politischen heraushalten. Der bereits erwähnte Gert Zschocher, zu jener Zeit junges SAJ-Mitglied aus einer zutiefst sozialdemokratischen Familie, berichtet, wie er sich 1930 der Kommunistischen Jugend anschließen wollte, was ihn zu einem »enfant terrible« der Familie machte, und wie er dabei eine ähnliche Szene erlebte. Um seinen Übertritt aus der SAJ in den KJVD zu feiern – ein propagandistischer Triumph für die kommunistische Seite  – zog er sich seine SAJ-Uniform an, wobei ihm seine Mutter unter Tränen half, nicht aber, weil sie, obschon selbst Sozialdemokratin, ihrem Sohn Vorwürfe machte, sondern weil sie um seine Sicherheit fürchtete. Aus der Politik selbst hielt auch sie sich heraus.25 Dies bedeutet jedoch nicht, dass Frauen niemals im familiären Kontext politisch aktiv waren. Einerseits konnten Ehepaare oder Familien den 23 Zur Presseberichtserstattung SAZ und LVZ, 16.6.1930 sowie die folgenden Tage. Zur Beerdigung SAZ und LVZ, 20.6.1930. 24 Mallmann, Kommunisten. S. 376; weiterhin Peukert, KPD, S. 67. 25 SStAL, Erinnerungsberichte, V 5/401/1. Zschochers Geschichte wird in Kap. 3, S. 178 f., genauer vorgestellt. Zu Politik und Frauen, Hagemann, Frauenalltag. Mallmann, Kommunisten, S. 109, 194 ff., charakterisiert die KPD als Männerbund, wofür der Rote Frontkämpfer­ bund paradigmatisch sei. Zu Geschlechterbeziehungen in der KPD schließlich Weitz, Communism, Kap. 6.

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Kern eines lokalen Milieus bilden;26 andererseits agierten Frauen, das heißt im familiären Kontext Ehefrauen, Schwestern, oder, selten, Mütter, als Denunzian­ tinnen ihrer Männer, Brüder oder Söhne, auch wenn nicht festgestellt werden kann, ob politische Differenzen Familienmitglieder voneinander entfremdet hatten, oder ob sie Denunziationen einfach dazu benutzten, ihren ohnehin verhassten Ehemännern oder Brüdern eins auszuwischen.27 Im Dezember 1929 beispielsweise schrieb eine Frau Fischer einen Brief an die Polizei, um diese über geplante kommunistische Aktivitäten zu unterrichten, an denen sich ihr Ehemann aber auch der Führer der Kommunisten in Leipzig Schönefeld beteiligen würden.28 Die dortigen Kommunisten hätten geplant, so schrieb sie in fehlerhaftem Deutsch, am 3. Januar in die Stadt zu ziehen und wollten dort »feste Räubern bedreiben [sic]«. Würde der Führer der Kommunisten nicht mehr »frei rumlaufen«, so hätte Schönefeld »große Ruhe«, wie Frau Fischer der Polizei versicherte. Den Grund für ihren »Verrat«, so ihre Worte, nannte sie selbst: »[M]ein Mann schlägt mich immer weil ich nicht mit gehe bei die komn. [= Kommunisten], das mache ich nie. Bitte schweigen sie.« Leider enthält die Akte neben dem kleinen, handgeschriebenen Zettel nichts, woraus sich rekonstruieren ließe, wie die Polizei auf den »Verrat« reagierte. Ebenso wenig lässt sich sagen, ob Frau Fischer politische Differenzen ausnutzte, um ihrem Mann zu schaden, weil die Ehe aus anderen Gründen zerrüttet war, oder ob es, wie sie selbst behauptete, ihre Weigerung war, mit ihm zu den Kommunisten zu gehen, die den Ehekonflikt auslöste. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass Parteipolitik gleichsam ein Medium bereit stellte, um solche Konflikte aus­ zudrücken. Parteipolitik konnte, womöglich durchaus bewusst, als »Waffe« eingesetzt werden. Dies allein ist bezeichnend für die Rolle, die Politik im ehelichen Alltag spielen konnte.29

26 Siehe beispielsweise den Bericht des Jugendamts zu Georg Erdmann, SStAL, Amtsgericht 13393, Bl. 110–112. Sowohl Georg als auch seine Eltern waren überzeugte und aktive Mitglieder der KPD. Der Bericht betont auch, dass Georg in einer ordentlichen Familie aufwuchs und auf die Jugendamtsmitarbeiterin einen besonnenen und bestimmten Eindruck machte. 27 Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass nicht auch Männer fleißig denunzierten, auch wenn sich kein Fall von männlicher Denunziation innerhalb von Familien (gegen Frauen) finden ließ, was schlichtweg damit zusammenhängen mag, dass es in erster Linie Männer waren, die politisch aktiv waren. Zu Denunziationen im familiären Kontext, allerdings während der NS-Zeit, Mallmann, Denunziation. Er betont, dass Frauen keineswegs häufiger als Männer denunzierten. Während für Männer die Emigration der stille Weg einer Scheidung war, waren Denunziationen von Ehemännern ein Weg für Frauen, verhasste Ehemänner loszuwerden. Ähnlich ders., Kommunisten, S. 133 f. 28 SStAL, PP St 81, Erwerbslosenbewegung. 29 Zu Denunziationen von Kommunisten durch Familienmitglieder, auch während des NS, Schreiber, S. 107 ff. Er meint, zumeist seien persönliche Motive wie Eifersucht für die Denunziationen verantwortlich gewesen. Allerdings berichtet er ebenso, dass viele Frauen behaupteten, ihre Männer würden sie aus »politischen Gründen« schlagen und als »Faschistenschweine« beleidigen.

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Zu einer Denunziation mit weitaus schwerwiegenderen Folgen kam es nach dem Zusammenstoß zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten am 2. Juli 1931, bei dem der Nationalsozialist Blümel erschossen wurde.30 Wenige Tage nach dem Angriff, am 7. Juli, meldete sich Friederike Luise Halmert, die Schwester eines Verdächtigen, Karl Hilbert, die zusammen mit ihrem Ehemann bei ihren Eltern wohnte, bei der Polizei, wo sie, mit der Bitte, ihren Namen geheim zu halten, behauptete, ein Freund ihres Bruders, Albert Wichmann, würde der Beschreibung eines weiteren Verdächtigen entsprechen. Sowohl ihr Bruder als auch Wichmann wären an der Tat beteiligt gewesen, so Halmert. Wichmann habe beobachtet, wie ihr Bruder verhaftet wurde und dann zur Familie gesagt: »Hoffentlich gibt er mich nicht an!« Die Polizei nahm daraufhin Wichmann fest. Leider erfahren wir nichts über die politischen Einstellungen der Schwester, da die Polizei es, wie so oft bei Frauen, nicht für nötig hielt, nach ihrer Parteizugehörigkeit zu fragen.31 Ihr Bruder aber gab an, früher ein Mitglied der NSDAP gewesen zu sein. Nun hatten ihn seine früheren Kameraden erkannt und deshalb denunziert. Sowohl Wichmann als auch Hilbert wurden zu je fünf Monaten Haft verurteilt. Auch wenn sich dieser Konflikt nicht innerhalb der Arbeiterbewegung, also zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, abspielte, so zeigt er dennoch, wie familiäre Solidarität durch politische Differenzen erschüttert und zerstört werden konnte. Auf Solidarität in der Familie zu hoffen, konnte fatal sein. Albert Wichmann hatte es vermutlich nicht für möglich gehalten, dass die Schwester seines Freundes sowohl gegen ihren Bruder als auch gegen ihn, Wichmann, aussagen würde. Er hatte sich geirrt. Für Friederike waren, so scheint es, politische Differenzen wichtiger als familiäre Bindungen, zumal sie nicht nur Wichmann, sondern eben auch ihren Bruder als Täter bezeichnete. Wenigstens diese Familie stellte keinen »Schutzraum« dar, in dem Solidarität über politische Grenzen hinweg geschaffen wurde.32

30 SStAL, Amtsgericht Leipzig, AG 13388–13390. Der Fall wurde oben, S. 52, im Detail vorgestellt. 31 Dass die Frage nach Parteizugehörigkeit ebenso wie die Frage nach Geburtstag und Beruf standardmäßig zur Identitätsfeststellung seitens der Polizei gehörte, belegt, welche Bedeutung Parteipolitik für die Identitätskonstruktion hatte. 32 Ein anderes Beispiel dafür, dass familiärer Zusammenhalt nicht unbedingt stärker war als politische Differenzen findet sich in SStAL, PP St 92. Im Oktober 1931 wurde ein gewisser Hermsdorf, SA-Mitglied, von einem Unbekannten angegriffen, als er nachts mit seinen beiden Brüdern unterwegs war. Diese kamen ihm, so seine Aussage bei der Polizei, nicht zu Hilfe, weil sie einer anderen politischen Organisation angehörten. Auch wenn er ihr Bruder war, mit dem sie abends ausgingen, prügeln wollten sie sich nicht für den politischen Feind, und so wurde Hermsdorf der Unterarm gebrochen. Ähnlich SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 003. Waldemar Assmann berichtet, eine mit der KPD sympathisierende Frau habe eine kommunistische Fahne in ihrem Fenster aufgehangen, die aber von einem »jüngeren Verwandten« wieder abgenommen wurde, woraufhin dieser von Kommunisten krankenhausreif geschlagen wurde.

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Diese Beispiele belegen, dass politischer Zwist in Familien zumindest manchmal nicht überwunden wurde. Andererseits konnten Familien einen politisch aktiven Kern des (kommunistischen) Milieus bilden, wie Klaus-Michael Mallmann notiert.33 Teilten Familienmitglieder politische Standpunkte, so konnten sich familiäre und politische Strukturen ergänzen. Solche politischen Familien finden sich auch in Leipzig, vor allem auf Seiten der Kommunisten.34 Partizipierten Frauen an Straßenpolitik, dann oftmals in einem solchen Kontext, etwa im Juni 1932, als das Ehepaar Sundmann und Gusbert die Menge gegen die Polizei »aufhetzte«.35 Nicht alle politisch aktiven Familien waren Kommunisten. Der folgende Fall, der sich um eine der schillerndsten »politischen Familien« in Leipzig dreht, Frau Elisabeth Benz und ihre beiden Kinder Herbert und Ilse, bietet ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie die Anwesenheit einer rechten Familie in einer eher linken Nachbarschaft zu permanenten und oftmals gewalttätigen Konflikten führen konnte.36 Der Fall belegt, dass es kein Gemeinschaftsgefühl innerhalb eines Viertels gab, das über politische Differenzen hinweg ging. Vielmehr wurde gewaltsame Politik zum Bestandteil des nachbarschaftlichen Lebens und zerstörte dieses. Am 9. Dezember 1931 hatte Michael Kahn, vermutlich ein Mitglied oder zumindest ein Anhänger der NSDAP, eine (gewaltlose) Auseinandersetzung mit dem Arbeiter Walter Wantig, über dessen politische Einstellungen die Quellen keine Auskunft geben. Wantig hatte ein Liebesverhältnis mit Kahns Tochter, das Kahn Wantig verbot. Wantig ging ohne Aufhebens davon. Jedoch hatte das KPD-Mitglied Marinus Kesserich den Vorfall beobachtet und kam nun aus seiner Wohnung herunter, um Kahn vorzuwerfen, eine gewisse »Ehefrau Tham« wegen »politischer« Angelegenheiten denunziert zu haben, wobei unklar bleibt, worum es genau in der Denunziation ging. Zusammen gingen Kesserich und Kahn zu Thams Wohnung um die Sache zu klären, aber Kesserich konnte Kahn nichts nachweisen, so die Aussage Kahns bei der Polizei. In der Zwischenzeit aber waren drei weitere Kommunisten im Treppenhaus erschienen, wo sie gemeinsam mit Kesserich auf Kahn einschlugen. Kahn floh daraufhin zur Polizei, um dort um Schutz zu bitten. Auf dem Rückweg wurde Kahn sowie der be­ gleitende Beamte erneut von Kommunisten angegriffen. Zunächst konnte der 33 Ein Beispiel auf Seiten der Rechten sind die Gebrüder Promm, von denen in Kap.  1 die Rede war. Ein kommunistisches Paar (Bergmann und Emilia Lichtenberg), wird in Kap. 3, S. 168 f., geschildert. Es ließ sich kein Beispiel finden, in dem familiäre Solidarität half, politische Differenzen zu überwinden. Zur Rolle kommunistischer Ehepaare Mallmann, Kommunisten, S. 135. 34 Familien stellten auch oftmals den Kern lokalen kommunistischen Widerstands gegen das NS-Regime, etwa SStAL, PP S 2349, PP S 4848, PP S 8066, PP S 2046; Erinnerungsberichte, V/5 147, V/5 186, V/5 250, V/5 268. 35 SStAL, PP S 3748. 36 Der folgende Fall basiert auf SStAL, PP S 1451. Für ein weiteres Beispiel das die Familie Benz sowie die bereits im ersten Kapitel erwähnten Gebrüder Promm betrifft, PP S 125.

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Beamte einen der Angreifer namens Kodding festhalten, aber dann »gingen Kodding und die inzwischen zahlreich angesammelten Anwohner [plötzlich] auf den Beamten los«, wie der Polizeibericht vermerkt. Im Verlaufe der Ermittlungen – die Polizeiberichte sind etwas konfus – erschien Elisabeth Benz sowie ein Mann namens Hubert Promm, der Bruder ihres (späteren?) Geliebten Gerhard Anselm auf der Wache und beschuldigten weitere Personen, an dem Vorfall beteiligt gewesen zu sein, insbesondere das Ehepaar Putter. Ilse Benz,37 die 17jährige Tochter der Elisabeth Benz, beschuldigte Frau Putter, sie geschlagen zu haben. Maria Putter entgegnete darauf, Ilse habe sie als »Drecksau« beleidigt; später habe ihr 15jähriger Bruder Herbert sie mit einem Gürtel geschlagen. Alle Beteiligten lebten in der gleichen Straße, weshalb vermutet werden darf, dass sie sich persönlich kannten. Kodding selbst, um den es in der Personenakte der Polizei eigentlich geht, erklärte zu seiner Verteidigung, dass die Anschuldigungen gegen ihn nur ein Racheakt der Nationalsozialisten seien, war er doch bis vor kurzem selbst Mitglied der NSDAP und der SA, hatte sich nun aber der KPD angeschlossen. Der Fall war nicht der einzige, an dem die Familie Benz beteiligt war. Sie war eine konstante Quelle von Unruhe. So erklärte ein gewisser Jessler gegenüber der Polizei: »Es vergeht fast keine Woche ohne Streitigkeiten zwischen den Benz und Andersdenkenden. Jede Kleinigkeit wird von ihnen ins Poli­tische gezogen, wodurch die Polizei zum Einschreiten veranlasst wird.«38 Regel­mäßig versammelten sich Sozialdemokraten und Kommunisten vor dem Haus, in dem die Familie lebte, was immer wieder zu Gewalt führte. Eine dieser Auseinandersetzungen endete gar in einer Schießerei, bei der drei Sozialdemokraten verletzt wurden, während Herbert Benz und Gerhard Anselm Promm, zu diesem Zeitpunkt der Liebhaber der Benz, schwer verprügelt wurden. Die Wohnung der Familie Benz entwickelte sich auch zum Treffpunkt der lokalen SA, was zu sexuellen Gerüchten Anlass gab. Einem Polizeibericht zufolge teilte Elisabeth Benz das Bett mit ihren beiden minderjährigen Kindern. Darüber hinaus schliefen angeblich einige SA-Männer in ihrer Wohnung, was nicht ohne Folgen bleiben konnte: 1931 bemerkte ein Polizeibericht, die zu diesem Zeitpunkt 39jährige Benz sei schwanger; Vater des Kindes sei ein minderjähriges SA-Mitglied. Die Geschichten um die Familie Benz sind, soweit die Quellen Auskunft geben, einzigartig, zeigen aber dennoch eindrucksvoll, wie leicht politische Konflikte nachbarschaftliche Beziehungen zerstören konnten. Im Alltag konnten solche Konflikte quasi in jedem Moment aufflammen und zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen. Verdächtigungen gegenüber Nachbarn, Denunziationen an die Polizei, Gewalt im Treppenhaus, politische Beleidigungen unter Nachbarn, oder auch einfach nur Sozialdemokraten, die vor Kommunisten 37 Zu Ilse Benz auch SStAL, PP S 1196. 38 SStAL, PP S 1451. Was genau damit gemeint war, dass Kleinigkeiten »ins Politische« ge­ zogen wurden, bleibt unausgesprochen.

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ausspuckten:39 all dies gehörte zum Alltag in den Arbeitervierteln Leipzigs. Solche Vorfälle konnten immer wieder zu Ansammlungen von Anwohnern führen, die dann die Polizei vom Eingreifen abzuhalten versuchten. Auf diese Weise konnten diese Auseinandersetzungen eine politisch mobilisierende Wirkung in der Nachbarschaft entfalten. Auf der anderen Seite standen jedoch Leute wie Jessler, die der dauernden politischen Kämpfe in ihrer Nachbarschaft überdrüssig waren. Zumindest Jessler zufolge trug die Tatsache, dass Benz jede Kleinigkeit »ins Politische« zog, massiv zu einer Eskalation von Konflikten bei, so dass gute nachbarschaftliche Beziehungen unmöglich wurden. Solche Konflikte führten zu einer politischen Mobilisierung, sorgten aber auch dafür, dass Gewalt zum festen Bestandteil im Alltag vieler wurde. Die hier vorgestellten Beispiele bestätigen Pamela Swetts Argument, dass die Weimarer Republik auch auf den Straßen und Hinterhöfen, in Familien und Vierteln zusammenbrach, wenn auch in einem anderen Sinne.40 Im Gegensatz zu Swett, die die Auseinandersetzungen im Berlin der späten Weimarer Republik als einen Kampf für lokale Autonomie sowohl gegenüber nationalen Parteiführungen als auch gegenüber staatlichen Instanzen interpretiert, was in ihren Augen einen massiven Bedeutungsverlust der nationalen Ebene belegt, zeigen die hier vorgestellten Beispiele, dass die Spaltung und Fragmentierung von Familien und Vierteln entlang politischer Gräben entscheidend für den Zusammenbruch sozialer Strukturen auf der lokalen Ebene war. Mit ihrem Fokus auf lokale Autonomie vermag Swett nicht zu sehen, wie politisch umkämpft Viertel waren.41 Es ging nicht so sehr darum, lokale Machtstrukturen zu (re)etablieren, sondern darum, welche politische Gruppierung die Macht in einem Viertel hatte. Nur selten gelang es einer Gruppierung, ein Viertel vollkommen zu beherrschen, weshalb das Alltagsleben im Viertel von zahlreichen kleinen politischen Konflikten geprägt wurde. Indem Politik Teil  des Alltags wurde, eine Beobachtung, die auch die Beispiele von Swett unterstützen, spaltete Politik Familien und Viertel; Politik konnte eine massive »Belästigung« werden und, wie Jesslers Beschwerde gegenüber der Polizei zeigt, eine immense Sprengkraft entfalten.

39 SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 417. 40 Swett. Leider verweist sie auf Mallmann, der ausführlich die lokale Autonomie der kommunistischen Basis gezeigt hat, nur am Rande. Ebenso bietet sie keine Diskussion des wichtigen Milieubegriffs. Zur Krisenerfahrung insbesondere der Jugend, Peukert, Erwerbslosigkeit; ders., Jugend. 41 Swett, S. 294.

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2.2 Politik und Arbeitervereine Vereine waren, wie bereits in der Einleitung dieses Kapitels bemerkt, ein zentraler Teil des links-proletarischen Milieus.42 Ursprünglich sollten Arbeiter­vereine ein Weg sein, die unter den Sozialistengesetzen (1878–1890) verbotene Sozial­ demokratie unter dem Deckmantel »unpolitischer« Geselligkeit am Leben zu erhalten. Bereits kurz nach der Abschaffung der Sozialistengesetze wurden allerdings innerhalb der SPD kritische Stimmen laut, die davor warnten, dass das Vereinsleben, das Singen, Turnen und Wandern, wichtiger als die eigentliche sozialdemokratische Politik zu werden drohte.43 Vereinsgeselligkeit, so die Befürchtung dieser Sozialdemokraten, würde Arbeiter nur von ihren eigentlichen politischen Aufgaben ablenken. Die Verbindung von Geselligkeit und Politik war somit von Anbeginn an problematisch und umstritten.44 Während der Weimarer Republik verkomplizierte sich die Situation weiter. Nach der politischen Spaltung der Arbeiterbewegung im Gefolge der Revolution 1918/19 bestand auch die Gefahr einer Spaltung der Milieuorganisationen. Zunächst jedoch bestanden die Milieustrukturen fort, wie Mallmann zeigen konnte. Während der ersten Jahre der Republik arbeiteten Kommunisten und Sozialdemokraten noch relativ harmonisch in den Vereinen zusammen, was gleichsam einen Kommunikationsraum für Sozialdemokraten und Kommunisten schuf.45 In diesem Sinne ließen sich die Arbeitervereine als eine Art proletarischer Zivilgesellschaft interpretieren, in der Geselligkeit über politische Differenzen hinweg, solange sie innerhalb des links-proletarischen Lagers blieben, möglich war.46 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die sozialen wie auch politischen Außengrenzen des Milieus gegenüber bürgerlichen Vereinen brüchig

42 Zur proletarischen Vereinskultur, insbesondere der Arbeitersportbewegung, Teichler; Blecking; Wheeler; Überhorst, Frisch; ders., Bildungsgedanke; H.  Wagner; Stiller; Dierker; Lange­wiesche, Arbeiterkultur. Insgesamt betont die Literatur durchaus die Schärfe sozialdemokratischer Angriffe auf die KPD und widerlegt somit das Bild, allein die KPD habe zur Spaltung der Arbeitersportvereine beigetragen. Speziell zu Leipzig, Adam. Zum Zusammenhang von Sport und Politik, Schmiechen-Ackermann, Anpassung, S. 465–477. Auch Schmiechen-Ackermann betont, zahlreichen Kommunisten wäre Sport wichtiger gewesen als Politik. Allerdings untersucht er nicht, wie die Vereine auf die kommunistischen Politisierungsversuche reagierten. 43 Vogel, S. 70; Adam, S. 118–120; Heidenreich, S. 52. 44 Roth; Lidtke. 45 Mallmann, Kommunisten, S. 167. Zur Spaltung der Arbeiterbewegung weiter Schönhoven. Zu Kommunisten in den Vereinen Eumann, S. 327–335. Auch Eumann betont, dass viele Kommunisten es ablehnten, in den Vereinen politisch zu arbeiten, unterschätzt m. E. jedoch dennoch das Konfliktpotential, das kommunistische Versuche, die Vereine zu politisieren, bargen. 46 Ich habe die Überlegungen in diesem Kapitel im Kontext der Zivilgesellschaft auf einer Konferenz in Lyon im Januar 2008 vorgestellt, veröffentlich als Häberlen, Indépendance.

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wurden.47 Auch in der Weimarer Republik verschwanden die Spannungen zwischen Politik und Geselligkeit nicht, sondern wurden durch die politische Spaltung der Arbeiterbewegung ergänzt und verkompliziert. Sachsen und insbesondere Leipzig waren seit den 1890er Jahren eine Hochburg der proletarischen Turnbewegung, die sich dann in den 1920er Jahren zunehmend für andere Sportarten öffnete. Der Leipziger Bezirk des Arbeiter Turn- und Sportbunds (ATSB) war 1927 mit mehr als 27.000 organisierten Sportlern der größte im ganzen Bund.48 Auch in Sachsen hatten Kommunisten und Sozialdemokraten in den Vereinen gut zusammen gearbeitet. Den sächsischen Sportbünden, in denen relativ viele kommunistische Funktionäre aktiv waren, gelang es auch, ihre relative Autonomie gegenüber der sozialdemokratischen Führung des ATSB zu verteidigen, als diese versuchte, Kommunisten aus den Vereinen zu vertreiben. Kommunisten konnten beispielsweise Fußballspiele mit sowjetischen Mannschaften organisieren, auch wenn es innerhalb des Bundes ein offizielles Verbot solcher Spiele gab.49 Während der späten 1920er Jahre jedoch verschärften sich die Spannungen, da die Führung des ATSB unter dem rechten Sozialdemokraten Cornelius Gellert verstärkt versuchte, Kommunisten auszuschließen, auch wenn es den sächsischen Sportlern zunächst weiterhin gelang, die Einheit der Sportbewegung zu erhalten und ihre politische Neutralität zu verteidigen.50 Von besonderer Bedeutung in diesen Konflikten war die Frage, welche Rolle Politik in den Vereinen spielen sollte. Kommunisten, die ab 1929 vermehrt Fraktionsarbeit in den Vereinen betrieben, sahen die Vereine als Sammel­becken für alle Proletarier, die willens waren, gegen den Faschismus zu kämpfen. Hier sollten Arbeiter für den Klassenkampf üben. Sozialdemokratisch geführte Vereine reagierten auf diese kommunistischen Politisierungsversuche mit dem 47 Die Mehrheit sporttreibender Arbeiter hatte sich wohl, im nationalen Maßstab, bürger­ lichen Vereinen angeschlossen, selbst solche, die für KPD oder SPD stimmten, SchmiechenAckermann, Anpassung, S. 463–465. Dies mag in Leipzig, wo es eine sehr starke Arbeitersportbewegung gab, anders gewesen sein. 48 Adam, S. 114, 131. 49 Heidenreich, S. 366–370. Die Spiele fanden zwischen 1925 und 1929 statt und waren in mancherlei Hinsicht politisch aufgeladen. Erste Spiele fanden 1925 in Dresden, Leipzig und Chemnitz trotz des Verbots der Bundesführung statt. Als Konsequenz wurden die beteiligten Vereine für drei Monate vom Spielbetrieb ausgeschlossen. 50 Zu Vorwürfen gegen die rechts-sozialdemokratische Bundesleitung, die bereits 1928 damit begann, Kommunisten aus den Gremien zu vertreiben, Sportmuseum Leipzig, Archivstück Nr. 3152b. Kommunisten in den Vereinen hatten mit diesem Manöver nicht gerechnet und waren völlig unvorbereitet. Kommunistische Arbeitersportler drückten ein großes Unverständnis über diese Ausschlüsse aus, da in Leipzig Kommunisten und Sozialdemokraten noch sehr gut gemeinsam in den Vereinen arbeiteten. Gellert war ein ausgewiesener Rechter innerhalb der SPD, Vogel, S. 622. Zur Politik in den sächsischen Vereinen, einschließlich der Versuche der Sozialdemokraten, Kommunisten auszuschließen, Heidenreich, S.  391–410. Heidenreich betont zurecht, dass nicht nur die KPD, sondern auch die SPD für die (sport-) politischen Konflikte in den Vereinen verantwortlich war.

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Versuch, Parteipolitik grundsätzlich aus dem Vereinsleben fernzuhalten. Jugendsektionen etwa wurde, so wenigstens die SAZ, dezidiert verboten, über Politik zu diskutieren.51 Sicherlich ging es bei den Konflikten in den Vereinen darum, ob Sozialdemokraten oder Kommunisten die Oberhand behielten. Gleichzeitig ging es jedoch auch darum, was wichtiger war: Geselligkeit im Verein, über politische Differenzen hinweg, oder Politik und die Revolution. Aus kommunistischer Sicht stand einzig letzteres im Zentrum, aus sozialdemokratischer Sicht eher ersteres. Gleichwohl wäre es zu vereinfachend, wie das Beispiel des Fußballbundes Leipzig zeigen wird, den Konflikt zwischen »Geselligkeit« und »Politik« einzig als Konflikt zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten darzustellen. Die Vorfälle im Fußballbund Leipzig sind außergewöhnlich gut dokumentiert, weshalb sie hier in einer gewissen Ausführlichkeit dargestellt werden.52 Sie wurden von Willy Meißner, dem Präsidenten des ersten Bezirks der Sächsischen Spielvereinigung und Mitglied der KPD, in einer Rede über die »sportpolitische Lage« im Bezirk öffentlich gemacht und später als kleines Büchlein unter dem Titel »Kampf um die Bundeseinheit« publiziert.53 Anlass für die außerordentliche Vorständesitzung der Spielvereinigung am 28.  September 1929, auf der Meißner seine Rede hielt, war dessen zeitweiliger Rücktritt von allen Ämtern drei Wochen zuvor, um dem Druck der KPD, in den Vereinen politisch tätig zu werden, zu entkommen. In seiner ausführlichen Stellungnahme versuchte er den Funktionären, diesen Schritt zu erklären. In der Vergangenheit hatten sich die Fußballvereine innerhalb des ATSB oftmals in der Opposition zur Mehrheit gefunden. Der Hintergrund war eine Debatte, welche Sportarten als »proletarisch« angesehen werden könnten. Fußball wurde als Wettbewerbssport – zwei Mannschaften spielen gegeneinander, es gibt eindeutige Gewinner und Verlierer  – und Zuschauersport betrachtet, der zwar Massen anzog, die aber selbst nur passiv zusahen, ohne selbst aktiv zu werden. Dies machte Fußball in den Augen der Funktionäre zu einem unproletarischen Sport, im Gegensatz zum Turnen, das ohne Wettkämpfe auskam und an dem sich alle gleichermaßen und vor allem gemeinsam beteiligen konnten.54 Selbst die zentrale und scheinbar banale Frage, welche Sportart man betreiben wollte, wurde in ideologischem Licht gesehen. Die KPD wollte sich diese grundsätzlich oppositionelle Haltung der Fußballer gegenüber der ATSB-Führung zunutze machen und unzufriedene Fußballspieler gegen die sozialdemokratischen Vereinsführungen agitieren. Hierzu sollten unzufriedene Sportler direkt angesprochen und organisiert werden. Die 51 SAZ, 7.8.1930. 52 Gellert, S. 5. Alle folgenden Zitate aus dieser Quelle. Zu einem ähnlichen Fall in Dresden, Sportmuseum Leipzig, Archivstück Nr. 3156. 53 Zu Meißner und den Auseinandersetzungen im ATSB, Heidenreich, S. 370–374. 54 Zum Fußball und seiner Geschichte in der Arbeitersportbewegung, in Ergänzung zu Heidenreich; Adam, S. 126–130.

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Fußballvereine sollten so zu kommunistischen Vorfeldorganisationen werden, die es wagten, der ATSB-Führung Widerstand entgegen zu setzen, beispielsweise indem sie überaus populäre Spiele mit sowjetischen Mannschaften veranstalteten. Diese unzufriedenen Spieler zu organisieren sollte den Plänen der KPD zufolge Meißners Aufgabe sein, der sich jedoch stur weigerte, den Befehlen seiner Partei zu folgen. Meißner waren Loyalität gegenüber dem ATSB und letztendlich seine eigene Integrität wichtiger als seine Partei. »Jede Organisation gibt sich auf, wenn sie Disziplinlosigkeit dulden würde«, so Meißner. Auch wenn die Fußballer in rein sportpolitischen Fragen immer wieder eine oppositionelle Haltung eingenommen hätten, so müssten sie dennoch Disziplin wahren und die Bundesbeschlüsse des ATSB akzeptieren. Dessen Autorität stand für Meißner über derjenigen seiner Partei, der KPD, die nur »Kadavergehorsam« verlangte und erwartete, dass ihre Mitglieder in »allererster Linie Kommunisten und dann Arbeitersportler« waren. Genossen, die sich nicht fügten und die Parteibefehle nicht befolgten, wurde mit dem Parteiausschluss gedroht.55 Damit machte die KPD die oben angedeutete Spannung von Politik und Geselligkeit explizit und verlangte eine Entscheidung von ihren Mitgliedern zugunsten von Politik, was Kommunisten wie Meißner jedoch ablehnten. An dieser Stelle ist ein Wort darüber angebracht, um welche politischen Fragen es genauer ging. Gegen was stellte sich Meißner, wenn er gegen den Einfluss der KPD ankämpfte? Es ging ihm nicht, wie er halb ironisch, halb genervt bemerkte, um »weltpolitische Probleme«, er wollte keine »Beschlüsse des 6. Weltkongresses« der Komintern diskutieren, was die KPD bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten zu tun pflegte.56 Davon hatte Meißner, und vermutlich nicht nur er, schlicht genug. Auch aus diesem rhetorischen Einwurf lässt sich erkennen, wie sehr das gesellige Vereinsleben von politischen Fragen gestört werden konnte, und wie sehr sich Sportler gewissermaßen nach der apolitischen Ruhe im Verein sehnten. Dabei waren die Beschlüsse des »6. Weltkongresses« gar nicht das eigentlich Relevante, sondern ihre permanente Diskussion. Um was ging es dann? Nur um »Tatsachen«, so Meißner. Es ging ihm um politische Praktiken, nicht um politische Auffassungen, die er und der Bund immer geachtet hätten. Was also warf er der KPD vor, und wie sollte dagegen vorgegangen werden? Wie oben dargestellt, wollte die KPD gezielt unzufriedene Mitglieder ansprechen und den Widerstand gegen die sozialdemokratischen Vereinsführungen organisieren. Hierzu sollte Meißner beispielsweise interne Dokumente aus dem Verein an die KPD weiter geben, die dann in der kommunistischen Presse veröffentlicht werden würden, um die SPD und die Vereine bloßzustellen. Dies zu machen hätte für Meißner bedeutet, sich zum »Lump« zu 55 Anzumerken ist, dass nicht nur die KPD fleißig ausschloss, sondern, wie Meißner betonte, auch der ATSB sich von Vereinen trennte, die seine Vorgaben betreffs Spiele mit Kommunisten nicht befolgten. Absolute Disziplin war nicht nur bei den Kommunisten oberstes Gebot. 56 Gellert, S. 6.

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machen, weshalb er sich der Aufgabe verweigerte. Stattdessen schrieb er einen Brief an seinen Freund und Genossen Fritz Tillmann, ebenso wie er Kommunist und Sportfunktionär, in dem er diesen davor warnte, sich von der KPD missbrauchen zu lassen. Tillmann leitete den Brief an die KPD weiter, woraufhin sich Meißner einem Ausschlussverfahren gegenüber sah. Die Freundschaft dürfte wohl ihr Ende gefunden haben. Die KPD, offensichtlich von der Wichtigkeit Meißners überzeugt, gab jedoch nicht auf und versuchte im Juni 1929 mit freundlichen Worten, Meißner doch noch von der Mitarbeit zu überzeugen, blieb allerdings ohne Erfolg. Nach seiner Rückkehr aus den Sommerferien im August 1929 spitzten sich die Ereignisse zu, die »den Genossen fast wie ein Roman« klingen würden, so Meißner. Drei Tage lang wurde er mit einem Auto verfolgt und observiert, das dem »ehemaligen ungarischen Offizier Friedmann« gehörte, »der sein Vermögen beim Sturz der ungarischen Räteregierung rechtzeitig ins Ausland debitierte und jetzt den wohlbestellten Häusermakler in Berlin markiert.« Als er sich endlich zu einem Gespräch bereit erklärte, wurde klar, dass sich die Partei noch nicht mit seiner ablehnenden Haltung abgefunden hatte. Erneut verlangte sie von ihm wenigstens »wohlwollende Neutralität«, was die Auslieferung von Bundesmaterial an die KPD einschloss. Meißner aber legte frustriert sein Amt nieder. Er hatte es satt, im Mittelpunkt von Fraktionskämpfen zu stehen. Die KPD griff nun zum letzten Mittel. Meißner, immerhin schon ein mit 325 Mark monatlich besoldeter Funktionär, erhielt das Angebot von der KPDZentrale, noch einmal 175 Mark im Monat zu empfangen, wenn er die »Spitzeldienste« ausführen würde. Als Meißner auch dieses Angebot ausschlug, erklärte der KPD-Funktionär wütend: »Wir schaffen es auch ohne dich. Unsere Zellen werden straff ausgebaut. Die Abwürgung der SPD-Leute erfolgt in den Vereinen.«57 Meißners Begründungen, warum er auf die Angebote der KPD nicht einging, verliefen auf zwei Ebenen. Zum einen argumentierte er politisch, die Spaltungsarbeit der KPD würde nur das Bürgertum stärken, indem sie die Indifferenten zu bürgerlichen Vereinen treibe. Andererseits argumentierte er persönlich. »Ich habe keine Lust, in der Hand der Bezirksleitung eine Puppe zu sein, die man am Gummiband hin- und herzieht. Auch Spitzelarbeit muss ich unbedingt ablehnen.«58 Seine Ablehnung gründete sich auf dem Unwillen, seine eigene Handlungsautonomie aufzugeben und so zu einer »Puppe« zu werden. Der Disziplin der Sportvereine unterwarf er sich, wie er betonte, zumal diese kein »Kadavergehorsam« war, wie es bei der KPD üblich war. Indem er sich also für eine und gegen die andere Disziplin entschied, bewahrte er sich seinen »­Eigen-Sinn«.59 57 Ebd., S. 17. 58 Ebd., S. 18. 59 Dies bestätigt Mallmanns These, dass kommunistische Funktionäre oft nicht blindlings den Vorgaben der Parteileitung folgten.

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Basierend auf dem von Meißner ausgebreiteten Material sollten nun einige Vereine ausgeschlossen werden, da sie etwa mit bereits ausgeschlossenen Vereinen gespielt hatten oder generell Fraktionsarbeit geleistet hatten. Ein besonders krasses Beispiel hierfür war, dass ein Vereinswart den von Ausgeschlossenen neu gegründeten KPD-Vereinen einen Spielplatz für eine Demonstration zur Verfügung gestellte hatte und so den gesamten Spielbetrieb zu unter­brechen drohte.60 Wie reagierten die vom Ausschluss bedrohten Arbeitersportler? Manche, etwa Kommunisten im Fußballverein Preußen Mockau,61 erklärten, selbst von der KPD hinters Licht geführt worden zu sein und ihre Methoden keineswegs zu unterstützen; sie traten prompt selbst aus der KPD aus.62 Auch für sie war das Vereinsleben wichtiger als die Partei. Andere waren hingegen brave Partei­ soldaten und erklärten, sie seien zuerst Kommunisten, und dann Arbeitersportler. Für einen kommunistischen Sportsfunktionär namens Engler bestand der einzige Zweck der Arbeitersportvereine darin, ein Sammelbecken für die proletarischen Kämpfe zu sein. Andere wiesen vermutlich zurecht daraufhin, dass auch die sozialdemokratische Bundesführung »Dreck am Stecken« hatte. Dem Vorwurf, ihre Partei, die KPD, versuche die Vereine unter ihre Kontrolle zu bringen, entgegneten sie, es habe immer eine politische Führung gegeben, gleich ob sozialdemokratisch oder kommunistisch.63 Dieser Hinweis ist insofern wichtig, da er erstens verdeutlicht, dass es nicht allein die »Schuld« der KPD war, Politik in die Vereine zu tragen, und zweitens, dass die SPD nicht gewisser­ maßen die »reine« Vereinsgeselligkeit repräsentierte. Es war eine komplexe Gemengelage aus politischem Streit und Streit darüber, ob Politik oder Vereinsgeselligkeit wichtiger war.64 Dieser in seiner Dichte einmalige Bericht – zumal Kommunisten nirgendwo sonst ähnlich stark waren65  – lässt einige Rückschlüsse darauf zu, was unter Politi­sierung, oder »Fraktionsarbeit«, wie es in der Sprache der KPD hieß, zu verstehen ist und welche Folgen sie hatte. Es ging, wie Meißner betonte, keineswegs um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der KPD, und schon gar nicht um Beschlüsse der Komintern. Politische Ansichten seien immer respektiert worden, und diese könne man ehrlich diskutieren. Vielmehr ging es ihm um konkrete Methoden der KPD gegenüber ihm und den Leipziger Sport­vereinen. 60 Gellert, S. 21. 61 Zu diesem Verein Adam, S. 139. 62 Eine weitere Folge war, dass sich die Roten Sportler nicht am Kommunalwahlkampf 1929 beteiligten, wie ein interner KPD-Bericht feststellte, BArch, RY 1 I/3/10/116. 63 Auch im Arbeiter Samariter Bund hatten Kommunisten einen schweren Stand. Dort verlangte die Führung 1928 von ihren Mitgliedern eine Erklärung zu unterschreiben, dass sie (in ihrer Funktion als Samariter) keine kommunistischen Versammlungen oder Demonstrationen aufsuchen würden, wie Arno Teubner berichtet. Als er und seine Kollege sich weigerten, wurden sie ausgeschlossen. SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 491. 64 Zu den Reaktionen, Gellert, S. 22–25. 65 Adam, S. 138–140.

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Meißners Ablehnung, in den Vereinen Politik zu betreiben, lag quasi ein praxeologisches Politikverständnis zugrunde: Es ging nicht um Inhalte, sondern um die Handlungsweisen einer Partei und ihrer Funktionäre. Diese »Fraktionsarbeit« konnte scheinbar banale und auf den ersten Blick unpolitische Tätigkeiten beinhalten, wie die KPD mit Mitgliederlisten und Vereinsinterna zu versorgen, so dass sie den Mitgliedern ihr Propagandamaterial schicken konnte. Solche Praktiken und die daraus folgenden Auseinandersetzungen, nicht ideologische Fragen, verschreckten die indifferenten Arbeiter, die sich dann lieber den bürgerlichen Vereinen anschlossen. Wie oben dargelegt, enthielten die Arbeitervereine zwei sich potentiell widersprechende Elemente, einmal das gesellige Element, also das Fußball­spielen, das Singen, aber eben auch das informelle gesellige Beisammensein im Vereinshaus, kurz, das Vereinsleben, zum anderen das politische Element, also den Versuch, in solchen Vereinen ein proletarisches Klassenbewusstsein zu schaffen. Der »Kampf um die Bundeseinheit« kann als eine Auseinandersetzung zwischen diesen beiden in den Arbeitersportvereinen angelegten Tendenzen begriffen werden. Es ging darum, ob die Arbeitersportler zuerst Kommunisten oder zuerst Fußballer sein sollten. Diese Auseinandersetzung auf einen Streit zwischen SPD und KPD um politischen Einfluss zu reduzieren, wäre allein schon deshalb verkürzt, weil Meißner selbst KPD-Mitglied war, dies aber nicht seine höchste Priorität war. Für ihn stand, das machen seine Ausführungen deutlich, das Vereinsleben im Vordergrund, unabhängig von politischen Überzeugungen. Wie auch die Äußerungen anderer Kommunisten deutlich machen,66 ging es darum, Aktivitäten und Praxen, die das Vereinsleben gefährden konnten, nicht zu tolerieren. Nicht einmal alle überzeugten Kommunisten waren willens, sich dadurch ihr Vereinsleben kaputt machen zu lassen. Nicht um Weltpolitik ging es, sondern um das Überleben der Bundeseinheit jenseits von Streitigkeiten zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten. Deshalb betonte Meißner auch immer wieder, dass die politischen Ansichten von Kommunisten geachtet würden, eben so lange ihre Praxen das Vereinsleben nicht gefährdeten. Eine politische Einmischung der KPD-Führung verbaten sich kommunistische »Vereinsmenschen«, sehr zum Leidwesen der KPD.67 Widerspricht dies nicht der These von der Politisierung des Alltags? Bestätigt dies nicht eher Alexander von Platos Folgerung aus Interviews mit Arbeitern aus dem Ruhrgebiet, die er in den frühen 1980er Jahren führte, dass Politik 66 Gellert, S. 22 f. 67 Kommunistische Arbeitersamariter erklärten im August 1930: »Erst sind wir Samariter und dann kommt die Partei.« Sportler erklärten genauso: »Im Sportverein sind wir Sportler.« Viele Genossen, so beklagte sich ein Instrukteur, weigerten sich den Kampf für eine rote Sportbewegung aufzunehmen. Das Problem sei, dass die Sportler »10 mal Vereinsmenschen [sind] und nur außerhalb des Vereins Kommunisten.« Später lehnten die Sportler eine politische Führung der Vereine strikt ab. So rief ein gewisser Koch bei einer Sitzung der Sportlerfraktion im September 1930 aus, er lasse sich als Sportler nicht vor den Karren der Partei spannen, BArch, RY 1 I/3/8–10/156.

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im Alltag kaum eine Rolle spielte?68 Diesem Einwand gegenüber ist zu betonen, dass allein schon die Versuche der KPD, das Milieu zu politisieren, zu schweren Verwerfungen innerhalb desselben führten, auch wenn die KPD letztendlich ihr Ziel verfehlte, ein Netz unabhängiger kommunistischer Sportvereine in der »Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit« zu schaffen.69 Das in der Forschung verbreitete Argument, die Vereine seien aus diesem Konflikt gestärkt hervorgegangen, da sie sich erfolgreich gegen die Versuche der KPD, sie zu politisieren, gewehrt hätten,70 verkennt meines Erachtens erstens, wie sehr die Geselligkeit im Verein durch die Politisierungsversuche der KPD gestört wurde, und zweitens, dass es keine Möglichkeit gab, sich der Politisierung zu entziehen, da schon die Frage, mit welcher Mannschaft man Spiele veranstalten sollte, eine politische wurde. Man musste sich positionieren. Die Versuche der sächsischen Vereine, die Harmonie zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Vereinen zu erhalten, waren zum Scheitern verurteilt. Die Vereine boten somit keinen Raum mehr, in dem eine Verständigung zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten an der Basis hätte geschehen können. Vor allem aber wurde mit diesem Konflikt die schon lange problematische Verknüpfung von Geselligkeit und Politik im Verein schließlich zum Scheitern gebracht. Durch den Ausschluss der (politisch motivierten) Kommunisten verloren die Vereine endgültig ihren politischen Charakter. In diesem Sinne wurde das Milieu, das ja gerade die Verbindung dieser beiden Elemente kennzeichnete, zerstört.71

68 Von Plato. Das gewisse Desinteresse an Politik, das Alexander von Plato in Interviews in den 1980er Jahren feststellen konnte, mag vielleicht ein Ergebnis dieses »genervt seins« von politischen Konflikten im Alltag gewesen sein; die Betonung, man sei gut miteinander ausgekommen, mag vielleicht eher einen (nostalgischen) Wunsch widerspiegeln als die Realität, gerade wenn betont wird, man sei damals, anders als »heute«, gut mit allen ausgekommen. Die Quellen aus Leipzig jedenfalls sprechen eine andere Sprache. 69 Die Kampfgemeinschaft hatte 1932 gerade 2.000  Mitglieder, so die Schätzung bei Adam, S. 140. Eigenen Angaben zufolge hatte sie 1929 etwa 4.900 Mitglieder. 70 Lösche u. Walter, S. 525 f. Sie betonen, wenn auch nicht unbedingt überzeugend, dass die Vereine weiterhin einen zentralen Ort sozialdemokratischer Politik darstellten. 71 Mallmann trägt eine ähnliche These vor. Zwar kam es weiterhin zur Zusammenarbeit von Kommunisten und Sozialdemokraten in den Vereinen, doch, so Mallmann, verflüchtigten sich die »politisch-utopischen Bestandteile« in diesen Vereinen, die ein zentrales Element der »Arbeiterbewegung« ausgemacht hatten. Die Solidarität in den Vereinen funktionierte nur noch personenbezogen, und ließ sich daher leicht auf »andere Kollektivformen« übertragen, so Mallmann, Kommunisten, S.  181. Hinzuzufügen wäre, dass es gerade die Ver­ suche der KPD, die Vereine zu politisieren, waren, die zu ihrer Entpolitisierung beitrugen.

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2.3 Beziehungen am Arbeitsplatz und Politik Die tägliche Arbeit spielte im Leben von Arbeitern, soweit sie noch Arbeit hatten, eine zentrale Rolle. Der Arbeitsplatz war dabei nicht nur der Ort oft anstrengender und monotoner körperlicher Arbeit, sondern auch ein sozialer Raum, in dem Kolleginnen und Kollegen miteinander interagierten.72 Welche Rolle spielte (Partei-)Politik in diesem sozialen Raum? Gemäß den Vorgaben der kommunistischen Parteiführung sollte die Fabrik der zentrale Ort für die Agitation der Arbeiter sein.73 In der Fabrik konnten Arbeiter täglich den Klassenkampf erfahren, so die kommunistische Theorie, ihre Stärke ausspielen, indem sie die Arbeit niederlegten. Gleichwohl zeigten die kommunistischen Agitationsversuche kaum Erfolge. Die Betriebszellen der KPD blieben meist schwach.74 Dennoch blieb diese Strategie der KPD nicht folgenlos. Auch im Gewerkschaftsbereich war die KPD, wie Klaus-Michael Mallmann hervorhebt, von Konflikten zwischen Parteiführung und einfachen Funktio­ nären geprägt. So weigerten sich lokale Gewerkschaftsaktivisten oft, der katastrophalen Streikpolitik der KPD-Führung zu folgen. Ihnen sei es pragmatisch um die Anliegen der Arbeiter vor Ort gegangen, denen mit suizidalen Streiks selten gedient war.75 Zollitsch, der in seiner Studie »Arbeiter zwischen Weltwirtschaftskrise und Nationalsozialismus« vier Großbetriebe aus unterschiedlichen Branchen genauer untersucht, kommt zu ähnlichen Ergebnissen.76 Auch er meint, dass beispielsweise bei Betriebsratswahlen, bei denen die kommunistische Rote Gewerkschafts-Opposition (RGO)77 oft hohe Erfolge erzielen konnte, nicht Politik, sondern eher konkrete Verhältnisse vor Ort, etwa Konflikte mit 72 Für eindrucksvolle Berichte vom Arbeitsplatz aus weiblicher Sicht, Lüdtke u. Deutscher Textil­arbeiter-Verband. 73 Für Beispiele kommunistischer Agitation in Fabriken oder in Kaufhäusern, SStAL, PP S 3770, PP S 3159. 74 Zum einen waren die Betriebszellen schlicht schwach, zum anderen weigerten sie sich oftmals, den Vorgaben der Parteiführung zu folgen, BArch, RY 1 I/3/8–10/154. So hieß es in einem Rundschreiben vom 23.5.1931, dass es nur in drei Metallbetrieben Betriebszellen gab. Aus diesem Grund sollten, so in einem anderen Rundschreiben vom 7.2.1931, das ebenfalls mangelnde Arbeit in den Betrieben beklagte, Straßenzellen, die erheblich besser funktionierten, die Arbeit in den Betrieben unterstützen. Weiterhin, BArch, RY 1 I/3/8–10/143, RY 1 I/3/8–10/148, sowie RY 1 I/3/8–10/158. In einem Bericht vom 24.8.1932 über die Leipziger Wollkämmerei hieß es, dass von 1.600 Arbeitern gerade einmal 25 in der RGO und 15 in der KPD organisiert waren. Zu einem Diskussionsabend kamen immerhin 63 Arbeiter, von denen 42 politisch nicht organisiert waren. 75 Mallmann, Kommunisten, S. 199–213. 76 Zollitsch, Arbeiter. 77 Zur RGO in Leipzig, SStAL, PP St 28; für ein Beispiel ihrer Aktivitäten, PP S 3159. Weiterhin Kaiser u. a., S. 43. Die RGO hatte 1929 in Leipzig nur 409 Mitglieder, aber schon 1930 zählte sie 2.092 Mitglieder. Einen gewissen Einfluss hatten Kommunisten in den Gewerkschaften der Metallbranche, des Graphikgewerbes, und bei Bauarbeitern, auch wenn Sozialdemokraten auch in diesen Gewerkschaften klar dominierten.

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Vorarbeitern oder der Fabrikdirektion, eine Rolle spielten. Die Wahlerfolge der RGO deutet Zollitsch somit als Ausdruck des Protests der Arbeiterschaft gegen Lohnminderung, Entlassungen und die Not allgemein, was aber nicht bedeutete, dass sich die Arbeiterschaft vor den revolutionären Karren der KPD spannen ließ und etwa bereit war, einen Streik zu beginnen. Dazu war die Angst vor der Arbeitslosigkeit zu groß.78 So richtig und wichtig diese Ergebnisse  – man könnte mit Mallmann von einem Konflikt zwischen revolutionärer Avantgarde und abwartender Basis sprechen – sind, so blenden sie meines Erachtens doch eine wichtige Dimension des Problems aus, nämlich den alltäglichen Umgang zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten am Arbeitsplatz.79 Zwar ist es richtig, dass Wähler und Mitglieder der RGO den Vorgaben der KPD nicht wie »willige Parteisoldaten« blind folgten, sondern »eigensinnig« handelten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Beziehungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten am Arbeitsplatz gewissermaßen gegen den Willen der Führungen harmonisch verliefen. Im Gegenteil, die »täglichen Nahkämpfe« (Alf Lüdtke), scheinbar banale, kleine Konflikte wurden, wie in den anderen hier diskutierten Lebensbereichen auch, politisch kodiert. Somit wurde parteipolitische Propaganda gewissermaßen in alltägliche Erfahrungen übersetzt.80 Im folgenden wird sich der Blick zunächst auf alltägliche Konflikte am Arbeitsplatz richten, zumindest soweit sie erfassbar sind, wobei vor allem die »Großen Leipziger Straßenbahnen« als Beispiel dienen, dann auf Streiks, entscheidende Momente in den Kämpfen der Arbeiterbewegung, und zuletzt auf die Betriebsratswahlen und die sie begleitenden Betrugsvorwürfe, womit die untere Funktionärsebene der jeweiligen Gewerkschaftsorganisationen in den Blick kommt. Die sich in kommunaler Hand befindenden »Großen Leipziger Straßenbahnen« waren einer der verhältnismäßig wenigen Betriebe mit starker kommunistischer Präsenz.81 Konflikte zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten waren hier an der Tagesordnung. Immer wieder begannen Kommunisten Streiks gegen den Willen der Mehrheitsgewerkschaften, die in Massen­entlassungen 78 Zu Kommunisten am Arbeitsplatz, Weitz, Communism, Kap.  4. Weitz ist zuzustimmen, dass viele Arbeiter es ablehnten, ihre Kämpfe von der KPD politisieren zu lassen. Dies bedeutet aber nicht, wie Mallmann zeigte, dass die KPD eine Partei der Arbeitslosen wurde. 79 Um Missverständnissen vorzubeugen: Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass alle Arbeiter in der KPD oder SPD organisiert waren, noch dass sie Sympathien für eine der Parteien hatten. 80 Kaiser. Reformistische Gewerkschafter mussten regelmäßig erleben, wie Kommunisten versuchten, die freien Gewerkschaften zu unterwandern und vollkommen unrealistische Forderungen stellten, wobei sie von Kommunisten als »Gewerkschaftsbonzen« beleidigt wurden. All dies trug dazu bei, dass Sozialdemokraten Kommunisten und Nationalsozialisten auf eine Ebene stellten. 81 Bei Betriebsratswahlen im März 1930 beispielsweise gewann die kommunistische RGO 9 Sitze, die reformistischen Freien Gewerkschaften 7, und die Christlichen Gewerkschaften 2, SAZ, 24.3.1930. Zu Kommunisten bei den Straßenbahnen auch SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 145.

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endeten.82 Täglich kam es zu politischen Diskussionen zwischen Sozialdemokraten, Kommunisten und oppositionellen Kommunisten (KPO),83 wie der früherer Sozialdemokrat Alfred Späther in seinem Erinnerungsbericht schreibt: Am Ende der zwanziger Jahre war ein erschreckendes Bild der politischen Strömungen in der Belegschaft entstanden. Bis in den Betrieb hinein setzten sich die Gruppierungen der KPD und SPD auseinander. […] In den Mittagspausen wurde heftigst diskutiert. Kaum war das Mittagessen hinunter geschlungen, stand schon ein Redner da. Die sektiererischen Ansichten mancher KPD-Genossen fanden wenig Anklang, besonders weil sich daraufhin oft ein Genosse der KPO zu Wort meldete. […] Die Auseinandersetzungen im Betrieb wurden schärfer. Es kam das böse Wort »Sozial­ faschist« auf, mit dem sektiererische KPD-Genossen SPD-Genossen bezeichneten.84

Im Sommer 1929 berichtete die LVZ von einem Zwischenfall, der in ähnlicher Form vermutlich immer wieder auftrat: Ein Dreher arbeitete unproduktiv, er brauchte zu lange. Da der Dreher Kommunist war, ergriff die LVZ die Gelegenheit beim Schopfe, um über dessen Arbeitsmoral zu klagen: Auch Kommunisten müssen schaffen. Einige wirklich stramme Mitglieder der kommunistischen Partei sind unter der Belegschaft der Straßenbahnwerkstätte Heiter­ blick zu finden. Unaufhörlich glauben diese Überradikalen verpflichtet zu sein, die von Moskau, Berlin oder aus Czermarks Garten empfangenen Parolen zu verkünden. Die Schwätzer und Nachbeter der Stalinschen Kirche fragen dabei nicht danach, ob jemand überhaupt gewillt ist, ihr bolschewistisches Ragout zu genießen; sie setzen es allen vor, die erreichbar sind. Einer von den Jüngern des Sowjetsterns soll vor lauter Parteifanatismus mitunter vergessen, dass auch in kommunalen Betrieben gearbeitet werden muss, wenn diese der Allgemeinheit gehörenden Unternehmungen gegenüber den privaten Betrieben gut bestehen wollen. Von diesen Überradikalen – nennen wir 82 Die Betriebsleitung feuerte regelmäßig Arbeiter und selbst Betriebsräte, die für die RGO aktiv waren, beispielsweise weil sie die Fabrikzeitung »Der Rote Straßenbahner« verkauften, die Streikaufrufe enthielt, StAL, Kapitelakten 70, Nr. 214, Bd. 9. Als die RGO hiergegen Klage einreichte, urteilte ein Gericht, die RGO sei eine gewerkschaftsfeindliche Organisation, weshalb sie nicht als legitime Gewerkschaft angesehen werden könnte. Der Verkauf kommunistischer Zeitungen könne daher grundsätzlich als Kündigungsgrund angesehen werden, so das Gericht. Zu ähnlichen Fällen StAL, Kapitelakten 70, Nr. 214, Bd. 6, Bd. 7, Bd. 8; im letzten Fall wurden immerhin 300 Arbeiter entlassen. Weiterhin SAZ, 2.10.1929, SAZ, 24.2.1930, wo von der fristlosen Kündigung eines Genossen Winters berichtet wurde, der Spitzenkandidat der RGO bei Betriebsratswahlen gewesen war. Begründet wurde diese so: »Ferner erblicken wir in dem öffentlichen Aushang von persönlichen Briefen, in denen wir Angestellte belehren oder verwarnen (!) [wegen seiner »hetzerischen Tätigkeit«], eine Verhöhnung. Wir sehen uns daher aus den angegebenen Gründen und wegen Ihrer dauernden Widersetzlichkeit (!) gezwungen, Sie fristlos zu entlassen.« Für Spannungen am Arbeitsplatz sorgten schließlich auch die Betriebszeitungen sowohl von Freien Gewerkschaften, der KPO, geführt vom »Renegaten« Lieberasch, als auch der KPD, die sich im Straßenbahnarchiv Leipzig, D BZ 1 II, D BZ 2, D BZ 5, finden. 83 Zur KPO Tjaden. 84 SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 353.

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ihn St. – läuft die Kunde um, dass er unlängst von einem Artikel zweihundert Stück zu drehen hatte und dafür 55 Stunden benötigte. Das war selbst dem als Betriebrat tätigen J. [?] zu dumm und gab ihm Anlass an einen anderen Dreher die Frage zu richten, wie lange er denn Zeit zur Ausführung der von St. geleisteten Arbeit benötige. »Fünf Stunden!« war die Antwort, die der gefragte Dreher erteilte. […] Dass Arbeiter, die beanspruchen, als besonders aufgeklärte Revolutionäre an­ gesprochen zu werden, mit solchem Verhalten, wie es St. an den Tag legt, nicht nur sich und ihren Mitarbeitern schaden, sondern auch das Ansehen der kommunalen Betriebe zersetzen, ist unableugbar. Bei der planmäßigen Hetze des gesamten Bürgertums gegen gemeinwirtschaftliche Unternehmungen sollten die Belegschaften ins­ gesamt doppeltes Gewicht auf schnelle und saubere Arbeiten – der größte Teil tut dies bereits  – legen. Nachdrücklichst sollten wir daraufhin dringen, dass Elemente, die glauben, in kommunalen Unternehmungen sei ein intensives Schaffen überflüssig, recht bald von dieser irrigen Auffassung geheilt werden.85

Wenige Tage später antwortete die SAZ ausführlich – sie zitierte zunächst lange aus der LVZ – unter der Überschrift »Denunziantenpack« über die Diffamierungen der Sozialdemokraten.86 »Das ist die offene Aufforderung an die Straßenbahn Direktion, Arbeiter, die nach ihrer Auffassung nicht genügend leisten, aus dem Betrieb zu entfernen. […] Es sei in diesem Zusammenhang daran er­ innert, dass bereits vor Jahren der damalige sozialdemokratische Stadtverordnete Plottke ebenfalls gegen die Straßenbahner scharf machte, weil er im Bahnhof Leutzsch einen Arbeiter angetroffen hatte, der sich während des Dienstes eine Flasche Bier holte«, hieß es in der Erwiderung der kommunistischen Zeitung. Ein paar Tage später hatte die SAZ weitere Informationen, denen zufolge nicht der Dreher, sondern schlechtes Material und eine alte Maschine Schuld an dem langsamen Arbeitstempo seien. »Das alles hätte die LV[Z] feststellen können durch Rückfrage bei ihren eigenen Genossen, wenn es ihr darauf angekommen wäre, sachlich zu sein. Darauf kam es ihr aber nicht an, sondern vielmehr darauf, Arbeiter wegen ihrer politischen Gesinnung zu verleumden und aus ihrer Arbeitsstelle zu bringen.«87 In der Tat bestätigen die Dokumente der Straßenbahn die Version der SAZ, mit dem Zusatz, dass der Dreher Kriegsbeschädigter sei und auch deshalb nicht so schnell arbeiten könne. Eine Verbindung mit der kommunistischen Gesinnung des Drehers findet sich in den Straßenbahnakten nicht. Der Arbeiter wurde ermahnt, auch wenn die Akten eher andeuten, dass ihn keine Schuld traf.88 Was sagt dieser Vorfall, über den wir vornehmlich aus Zeitungen wissen, über die Verhältnisse und Beziehungen am Arbeitsplatz aus? Vieles über den Konflikt wissen wir nicht. Laut dem Bericht der Straßenbahndirektion war die langsame Arbeitsweise keineswegs dem sozialdemokratischen Betriebsrat auf85 LVZ, 1.8.1932. 86 SAZ, 3.8.1932. 87 SAZ, 6.8.1932. 88 StAL, Kapitelakten 70 Nr. 214 Bd. 6.

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gefallen, sondern der Werkstattleitung. Welche Rolle der Betriebsrat gespielt hat und wer den Vorfall der LVZ übermittelt hat, bleibt unklar. Ebenso bleibt unklar, aus welchen Gründen dies geschah, ob jemand die Geschichte nutzen wollte, um gegen die Kommunisten Stimmung zu machen, oder ob es sich um einen privaten Konflikt handelte, und der Vorfall nur ein willkommener Anlass war, dem kommunistischen Dreher eins auszuwischen. Auch welche Auswirkungen der Konflikt auf die Stimmung am Arbeitsplatz hatte, wird von den Quellen nicht erwähnt. In Anbetracht der heftigen Spannungen bei den Straßenbahnen erscheint es jedoch plausibel, dass der Konflikt Spannungen zwischen kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeitern schürte. Ein weiterer Vorfall vom April 1929 belegt, welches Misstrauen zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitern bei den Straßenbahnen herrschte. Nach den Wahlen zum Betriebsrat hatte sich die dortige Posten­ verteilung geändert. Laut Mitteilung des Betriebsrats war nun der Reformist Hans Schmidt, der SAZ zu folge ein Gefolgsmann des »Renegaten« (KPO) Kästners, für Sprechstunden zuständig, die er während der Arbeitszeit abhalten durfte. Er hatte damit den parteitreuen kommunistischen Schlosser Kühn abgelöst, der diesen Posten im vorherigen Jahr innegehabt hatte. Dieser fuhr aber damit fort, Sprechstunden abzuhalten, sehr zum Ärger der Straßenbahndirektion, die auch prompt einschritt. Als Begründung gab Kühn an, dass eine Vielzahl von Arbeitern aus parteipolitischen Gründen kein Vertrauen in Schmidt hätte.89 Auch wenn die Angaben über Spannungen im Betrieb oft sporadisch bleiben, so deutet dieser Fall doch erstens darauf hin, dass parteipolitische Konflikte am Arbeitsplatz zum Alltag gehörten, und dass es dabei zweitens massiv um fehlendes Vertrauen zwischen Arbeitern unterschiedlicher Parteien ging. Ein Konflikt wie der um den kommunistischen Dreher dürfte solches Misstrauen noch massiv verstärkt haben. Die beiden parteigebunden Zeitungen spielten in dem Konflikt um den Dreher eine zentrale Rolle. Sie griffen den Fall begierig auf, um den Gegner anzugreifen, wodurch sie den Konflikt politisch noch weiter aufluden. Den jeweiligen Anhängern sollte plastisch vor Augen geführt werden, wie verantwortungslos die Kommunisten, die statt zu arbeiten nur Politik betrieben, beziehungsweise wie verräterisch die Sozialdemokraten waren, die alles daran setzten, dass Kommunisten gefeuert wurden. Fragt man, wieso die Rede vom »Sozialfaschismus« für kommunistische Arbeiter Plausibilität gewinnen konnte, so sind es solche Vorgänge, die die SAZ als »ein Stück Betriebsfaschismus« brandmarkte, die eine Antwort geben können.90 Der »eigene« kleine Konflikt wurde so zu einem Teil  einer großen politischen Auseinandersetzung. Kommunistische Arbeiter konnten so gewissermaßen die »Bösartigkeit« der SPD am eigenen Leib erfah89 StAL, Kapitelakten 70 Nr. 214 Bd. 6 Auch SAZ, 27.4.1929. Weitz, Communism, S. 270, berichtet aus den Leuna Werken, dass Kommunisten und Sozialdemokraten in getrennten Kantinen speisten. 90 Zur »Sozialfaschismusthese«, Bahne, Sozialfaschismus.

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ren. Wie erfolgreich diese Strategie der KPD war, durch mediale Inszenierungen eine Brücke zwischen den »großen« und »kleinen« Konflikten zu schlagen, muss letztlich offen bleiben. Die Tatsache, dass sich zumindest auf betrieblicher Ebene kaum Beispiele für eine größere Harmonie finden lassen, spricht jedenfalls dafür, dass die Zeitungen nicht auf taube Ohren stießen. Die Propagandastrategie brauchte Anknüpfungspunkte im Leben der Arbeiter; sie fand sie.91 Eine Überwindung der offiziellen parteipolitischen Gräben ist angesichts dieser Konflikte schwer vorstellbar. Am Arbeitsplatz herrschte, überspitzt formuliert, nicht Harmonie und Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten fern von parteipolitischen Konflikten, sondern eine Stimmung des Misstrauens und der Denunziation entlang parteipolitischer Gräben. Statt eines Raumes, in dem die Spaltung überwunden werden konnte, wurde der Arbeitsplatz durch diese parteipolitische Aufladung alltäglicher Konflikte zu einem Ort, an dem die parteipolitische Spaltung der Arbeiterbewegung konkret erfahrbar wurde.92 Streiks boten eine Gelegenheit par excellence für den Ausbruch solcher internen Konflikte der Arbeiterbewegung. Sie waren gewissermaßen der Lackmustest für die innere Stärke und Mobilisierungsfähigkeit der jeweiligen Gewerkschaftsorganisationen und eine Gelegenheit, den Gegner für seine verräterische oder abenteuerliche Politik bloßzustellen. Leider existieren kaum detaillierte Berichte über den Ablauf von Streiks, die gerade die RGO immer wieder anzufachen versuchte.93 Vielfach handelt es sich um stereotype Berichte in der Parteipresse, vor allem der SAZ, und deutlich anders gefärbte, aber nichts desto trotz stereotype Berichte in den Akten der KPD. Akten der Polizei oder städtischer Verwaltungsorgane zu Streiks, die Einblicke in die inneren Abläufe eines Streiks geben, sind kaum vorhanden. Deshalb müssen die vorhandenen Berichte mit großer Vorsicht interpretiert werden. Beispielhaft soll ein Streik in der Textilfirma Tittel & Krüger im Oktober 1932, direkt vor der Reichstagswahl am 7. November 1932, dargestellt werden.94 Die Situation war einigermaßen kompliziert. Die Firma hatte einen Konzerntarif, der jedoch ungültig wurde, da sie aus dem Mutterkonzern ausschied und 91 Zu Propaganda Bussemer, Propaganda und Populärkultur; ders., Propaganda. 92 Die Leipziger Straßenbahnen waren ein Betrieb mit ungewöhnlich hoher kommunistischer Präsenz, wo Spannungen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten besonders hervortraten. Leider erlaubt die Quellenlage keine ähnlichen Aussagen in Hinblick auf die Beziehungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten in anderen Betrieben. 93 Es gibt keine detaillierten Quellen zu einem Streik in Leipzig, die dessen Rekonstruktion ähnlich detailliert erlauben würden wie jene des Streiks bei den Berliner Verkehrsbetrieben 1932. Eine kommunistisch-propagandistische Schilderung eines Streiks findet sich bei ­Bredel. 94 Zum Folgenden vor allem SAZ und LVZ, 25.10.1932–8.11.1932. Die einzelnen Daten sind im Text erwähnt. Weiterhin BArch, RY 1 I/3/8–10/145, sowie zur Vorbereitung des Streiks durch die KPD, RY 1 I/3/8–10/158. Im Betrieb gab es eine »Stoßbrigade« von 20 Genossen, aber dennoch musste die Bearbeitung von außen erfolgen. Außerdem gab es eine nationalsozialistische Betriebszelle mit 30 bis 40 Mitgliedern.

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nun der allgemeine Textiltarif für Leipzig galt. Das bedeutete, dass die Textilarbeiter nach Tarif arbeiten mussten, während die Handwerker und Färber, für die kein Tarifvertrag bestand, in Absprache mit ihren (freien) Gewerkschaften in den Streik traten. Die KPD versuchte nun, die Situation zu nutzen und auch die Textilarbeiter dazu zu bewegen, in den Streik zu treten, was ihr auch gelang, wobei sie, wie die Polizei bemerkte, vornehmlich unorganisierte Arbeiter mobilisieren konnte.95 Über tausend Arbeiter, so die SAZ am 25. Oktober 1932, befanden sich im Streik. Obwohl dieser Streik illegal war, beteiligten sich, wie das Blatt stolz berichtete, auch Sozialdemokraten und Mitglieder der reformistischen Gewerkschaft am Streikkomitee, aber auch Nationalsozialisten, in einer interessanten Parallele zum etwa gleichzeitig stattfindenden BVG-Streik in Berlin.96 Hier wurde zunächst noch der Eindruck einer parteiübergreifenden Arbeitereinheitsfront erweckt, an der sich Sozialdemokraten und Nationalsozialisten beteiligten, aber bereits am nächsten Tag stellte die SAZ klar, wo die Fronten verliefen. Während die Beteiligung der Nationalsozialisten mit keinem Wort problema­tisiert wurde, wurde der DTB (Deutscher Textilarbeiter Bund) scharf angegriffen. Dessen Sekretärin sei demonstrativ in den Betrieb gegangen, um anderen Streikbrechern ein Vorbild zu sein. Am folgenden Tag betätigten sich der SAZ zufolge immer mehr Sozialdemo­ kraten als Streikbrecher, wobei diese vor Angriffen der Streikenden von Polizeiposten geschützt werden mussten.97 Vor dem (sozialdemokratischen) Volkshaus seien gar Arbeiterinnen unter dem Schutz des Reichsbanners in Kraftwagen geladen worden und in den Betrieb gefahren worden, eine Aussage, die die SAZ später aufgrund einer gerichtlichen Verfügung zurücknehmen musste. Am 28. Oktober 1932 setzte sich die SAZ auch erstmals mit der Rolle der National­ sozialisten auseinander, die sonst immer als Streikbrecher fungieren würden, sich nun aber dem Druck der Massen beugen mussten. Einen Tag später aber warnte sie davor, dass die Nationalsozialisten zu provokatorischen Aktionen auf­rufen würden, um so der Polizei die Möglichkeit zu geben, den Streik zu unter­drücken. Die Berichterstattung über den Streik zog sich bis zur Wahl hin, wobei immer wieder die Streikbrecheraktivitäten der SPD betont wurden. Pünktlich am Montag nach der Wahl, am 8. November 1932, wurde der Streik abgebrochen, da, so die SAZ, die Zahl der Streikbrecher überhand genommen hatte. Die Sozialdemokratie ließ diese Anschuldigungen natürlich nicht auf sich sitzen. Schon am 26. Oktober 1932, einen Tag nach Beginn des Streiks, machte die 95 Zu dieser Situation SStAL, PP St 28. 96 Zu diesem Streik Röhl. 97 Zu den Angriffen auf Streikbrecher SStAL, PP V 3970, sowie PP St 28. Streikbrecher wurden bis in ihre Wohnungen hinein verfolgt, so die Polizei. Ansonsten berichtete die SAZ immer wieder davon, dass rechte Organisationen die Streikbrecher stellten, z. B. SAZ, 10.9.1932, 24.9.1932, 29.9.1932, oder im Kontext dieses Streiks, SAZ, 28.10.1932, mit dem Verweis darauf, dass die NSDAP normalerweise Streikbrecher bereitstelle. Ebenfalls LVZ, 7.9.1932, 8.9.1932.

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LVZ klar, wie kompliziert die Situation war. Zum einen bestand eine Friedenspflicht, weshalb die Gewerkschaft nicht zum Streik aufrufen dürfe. Andern­falls drohten Strafgelder, die aus den gesammelten Mitgliedsbeiträgen gezahlt werden müssten. Aber solche juristischen Feinheiten interessierten die RGO nicht. Andererseits wurden übertarifliche Bezahlungen in einem Teil  des Betriebes gekürzt, gegen die gestreikt werden dürfe, was die Gewerkschaft auch tue, die SAZ aber verschweige. Die radikalen Parteien, KPD und NSDAP, aber machten sich die angespannte Situation sofort zunutze und brachten einen Großteil der Arbeiter dazu, trotz der Friedenspflicht zu streiken. Der LVZ zufolge handelte es sich, wie auch beim Berliner Verkehrsstreik, einzig um eine Wahlmasche der KPD, bei der vornehmlich die SPD bekämpft werden sollte. So war es denn auch kein Wunder, dass der Streik nach dem Wahltag abgebrochen wurde, eine Sicht, die auch Polizeiberichte bestätigen. Auf die 500 Arbeiter, die nicht wieder eingestellt wurden, nahm die KPD dabei keine Rücksicht, solange die partei­ politischen Ziele erreicht wurden, wie die LVZ bitter anmerkte. Was lässt sich aus diesen parteilich gefärbten Berichten und den wenigen nicht unbedingt weniger parteilichen Polizeiberichten entnehmen?98 Vermutlich vieles bezüglich der Konflikte zwischen RGO und Gewerkschaften, der oft fatalen Taktik der RGO, und in diesem Fall gar zu dem Verhältnis zwischen National­sozialisten und Kommunisten. Für die hier behandelte Thematik ist jedoch wichtiger, was sich über die innerbetrieblichen Beziehungen zwischen Arbeitern, die gegensätzlichen politischen Lagern angehörten, sagen lässt. Eine entscheidende und kaum überraschende Konfliktlinie im Streik wird, trotz aller propagandistischen Färbungen deutlich: die zwischen Streikenden und Streikbrechern. Streikbruch zu unterbinden war eine entscheidende Voraussetzung für den Erfolg des Streiks. Dabei ging es selten zimperlich zu.99 Eine Stellungnahme der Firma Tittel & Krüger, die in den rechts-konservativen Leipziger Neuen Nachrichten abgedruckt wurde, verdeutlicht, wenn auch möglicherweise etwas übertrieben, mit welchen Methoden sowohl Kommunisten als auch Nationalsozialisten beim Streik vorgingen. Während die Kommunisten einen »Janhagel« veranstalteten, 98 SStAL, PP V 3970  Metallarbeiterbewegung. Der Bericht findet sich in dieser Akte, da es sich um einen Streik der Handwerker handelte, die der Metallarbeitergewerkschaft angehörten. Auch die Polizei betonte die politische Aufwertung des Streiks durch KPD und NSDAP. 99 Die Polizei musste mehrfach gegen Streikposten eingreifen, SStAL, PP V 3970. Weiterhin SStAL, Arbeitsgericht Leipzig 20140, Nr. 97. Nach einem Streik in der Kammgarnspinnerei im März 1932 wurden sechs Werkmeister entlassen, weil sie sich weigerten Notstandsarbeiten zu leisten. Aus Sicht der Werksmeister wäre dies Streikbrucharbeit gewesen, was für sie nicht nur moralische Konsequenzen, das heißt, die Ächtung im Milieu, sondern auch physische gehabt hätte. »So ist z. B. ein Werkmeister im vergangenen Jahr bei der Firma Stöhr von Arbeitern schwer misshandelt worden.« Ähnlich PP V 3973 zu Sabotageakten während eines Klempnerstreiks im Mai und Juni 1931. Beispiele für die Methoden der KPD in Berlin finden sich bei Röhl.

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der die Arbeitswilligen nicht nur auf den Straßen, sondern an den Haustüren, Hausfluren und selbst durch Eindringung in die Wohnungen terrorisiert, ihnen die Fensterscheiben einwirft, sie beleidigt, bespuckt und tätlich angreift, lauern Mitglieder der nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation teils in Zivil, teils in SA-Uniform den zur Arbeit gehenden Arbeitswilligen, vornehmlich den Spinnerinnen, Zwirnerinnen und Aufmachungsarbeiterinnen hinter den Bäumen der Parks, an den Haltestellen der Straßenbahn und in den Häusern auf und verhindern sie am Gang zur Arbeitsstätte und bedrohen sie bei der Heimkehr von der Arbeit.100

Polizeiakten bestätigen, dass die Beamten häufig Arbeitswillige vor wütenden Streikenden schützen mussten. Beim Streik bei Tittel & Krüger musste sie beispielsweise einen gewissen Walter Otto Heise festnehmen, der eine Arbeiterin am Ärmel festgehalten hatte, damit sie nicht zur Arbeit gehen konnte, was ein noch recht harmloser, aber bei weitem nicht der erste derartige Vorfall war. Bezeichnend ist, dass Heise gar nicht bei Tittel & Krüger arbeitete, sondern erwerbslos war. Dies war Teil der kommunistischen Strategie, die immer wieder Erwerbslose mobilisierte, um Streikposten zu unterstützen, was regelmäßig ein Eingreifen der Polizei provozierte. Dahinter stand auf Seiten der KPD der Gedanke, die strukturelle Entsolidarisierung zwischen Arbeitern, die noch eine Stelle hatten, und denjenigen, die ihre Stelle verloren hatten, zu überwinden. So hieß es in der KPD-Propaganda, wer heute noch Arbeit habe, könne morgen schon keine mehr haben, weshalb sich die Interessen der Arbeitslosen und der Arbeiter glichen.101 Polizeiberichte bestätigen, dass es der KPD gelang, immer wieder Arbeitslose für diese Zwecke zu mobilisieren. Auf ähnliche Weise versuchte die KPD, Familien und Nachbarschaften in den Streik einzubeziehen. Stieß ein Streik bei der lokalen Bevölkerung auf Zustimmung, so kam es häufig vor, dass diese die Streikenden mit Essen versorgte und »moralische« Unter­ stützung bot, etwa indem sie Streikbrecher bedrängte.102 Entscheidend für die hier diskutierte Frage ist, dass der Konflikt zwischen Streikenden und Streikbrechern zu einem politischen zwischen KPD und SPD beziehungsweise den jeweiligen Gewerkschaftsorganisationen gemacht wurde. Aus kommunistischer Sicht waren es die sozialdemokratischen Arbeiter, die 100 LNN, 2.11.1932. Weitere Berichte zu diesem Streik finden sich leider weder in den LNN noch in der NLZ. 101 Beispielsweise SAZ, 14.2.1929, sowie BArch, RY 1 I/3/8–10/146, allerdings mit Verweis darauf, dass dieses Bündnis noch nicht zustande gekommen ist. Hierzu auch Huber-Koller, Erwerbslosenbewegung; Croucher; Wirsching, Weltkrieg, S. 403–405, der betont, dass viele Erwerbslose den parteipolitischen Bestrebungen der KPD kritisch gegenüber blieben. 102 Bei diesem Streik war es die IAH, die die Arbeiter mit Essen versorgte, SAZ, 28.10.1932. Ähnlich SStAL, PP V 3970, zu einem Streik in der Maschinenfabrik Krause im September 1932. Auch dieser Streik, der vornehmlich und mit Erfolg von den freien Gewerkschaften geführt wurde, wurde von der KPD über gewerkschaftliche Angelegenheiten hinaus politisch aufgewertet, so die Polizei. Was genau dies bedeutete bleibt allerdings unklar. Kommunisten versuchten teils militant Arbeitswillige von der Arbeit abzuhalten, etwa indem sie mit ihren Fahrrädern die Straßenbahn blockierten. Mehrmals musste die Polizei eingreifen. Zu diesem Streik vor allem LVZ, 1.9.1932–14.9.1932.

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mit ihrem Streikbruch zum Scheitern des Streiks beitrugen, während die SPD der KPD vorwarf, mit ihrer Politik Arbeiter in die Arbeitslosigkeit zu stürzen. Streiks zu politisieren war dabei expliziter Teil der kommunistischen Strategie. »Jeder Wirtschaftskampf kann einen politischen Charakter sehr schnell annehmen und muss daher von der Partei getragen werden,« hieß es in einer internen KPD-Anweisung vom August 1929.103 Was war mit dem »politischen Charakter« gemeint? Aus kommunistischer Sicht gewann ein Streik einen »politischen Charakter«, wenn er sich von einem (lokal) begrenzten Streik, bei dem es um konkrete Anliegen der Arbeiter (mehr Lohn) ging, zu einem »größeren« Streik entwickelte, bei dem »politische« Fragen, das heißt nach der Macht im Staate, im Zentrum standen, die weit über die konkrete Alltagssituation der Arbeiter hinausgingen. Eine solche Entwicklung war aus Sicht der kommunistischen Führung selbstredend gewollt, da Arbeiter in einem politischen Streik ihr Klassenbewusstsein entwickeln konnten, was letztendlich eine Voraussetzung für die proletarische Revolution war. Konkret bedeutet dies, dass Kommunisten versuchten, die »verräterische Politik« der reformistischen Gewerkschafter, die der SPD nahestanden, zu entlarven, und unorganisierte Arbeiter für die KPD zu gewinnen. Sozialdemokraten warfen der KPD im Gegenzug vor, Arbeiter wie auch Arbeitslose für ihre unverantwortliche Politik zu missbrauchen. Ihrer nicht unplausiblen Lesart zufolge ging es der KPD vor allem um Stimmen bei der bevorstehenden Wahl. In ihren Augen sollten gewerkschaftliche Kämpfe nicht für Politik missbraucht werden.104 Wie die beteiligten Arbeiter auf diese unterschiedlichen Interpretationen reagierten, ist ungewiss. Es erscheint jedoch einerseits plausibel, dass etwa die 500 kommunistischen Arbeiter, die der KPD bis zum bitteren Ende gefolgt waren und nun ihre Arbeitsstelle verloren hatten, die sozialdemokratischen Kollegen, die während des Streiks gearbeitet hatten und nun noch Arbeit hatten, mit Verbitterung betrachteten. Die Tatsache, dass es der KPD gelang, ihre Anhänger zu teils militanten Aktionen zu bewegen, spricht für den Erfolg ihrer Propaganda. Andererseits ist es genauso gut vorstellbar, dass sich die entlassenen Arbeiter danach enttäuscht von der KPD abwandten. Sozialdemokratische Arbeiter auf der anderen Seite dürften die Beleidigungen und teils gewalttätigen Angriffe seitens kommunistischer Arbeiter oder Arbeitsloser ebenfalls als Bestätigung der sozialdemokratischen Kritik an den brutalisierten Kommunisten gesehen haben. Auf diese Weise wurde Politik im Alltag erfahrbar und die Spaltung der Arbeiterbewegung zu einer »erlebbaren« Realität für viele Arbeiter. Streiks wie der bei Tittel & Krüger vertieften somit die politische Spaltung der Arbeiterbewegung und dürften gleichzeitig dazu beigetragen haben, dass sich Arbeiter frustriert von allen Parteien, sowohl von der streikbrecherischen SPD als auch von der abenteuerlichen KPD, abwandten, da es keiner dieser Parteien 103 BArch, RY 1 I/3/10/114. 104 Etwa LVZ, 16.1.1930, die der KPD vorwarf, Arbeitslose für politische Aktionen zu missbrauchen.

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oder Gewerkschaften gelang, zumindest im lokalen Rahmen eine starke Machtposition zu etablieren. Waren von Streiks alle Arbeiter eines Betriebes betroffen, gleich ob als Streikende oder als »Arbeitswillige«, so boten Betriebsratswahlen Konfliktstoff für die unteren Funktionäre der jeweiligen Lager. Generell dominierte die SPD die meisten Betriebsräte, zumal die KPD in vielen Betrieben gar nicht in der Lage war, eine Liste aufzustellen, auch wenn interne KPD-Berichte Erfolge in einigen Betrieben feierten.105 Selbst in Betrieben, in denen es die kommunistische RGO schaffte, mit eigenen Listen anzutreten, verlor sie in der Regel gegen die gewerkschaftstreuen Reformisten. Die RGO akzeptierte diese Wahlausgänge jedoch nicht und warf den »bundestreuen« oder »reformistischen« Betriebsräten, die die Organisation der Wahlen übernahmen, Wahlbetrug vor, was regelmäßig zu Auseinandersetzungen vor Gericht führte. Ein Verfahren von September 1932 gibt Einblicke in das fast schon absurde »politische Theater«, das die KPD, so der Vorwurf der Gegenseite, aufzog. Bei der Betriebsratswahl in der Textilfabrik Stöhr & Co. hatte die RGO eine Niederlage hinnehmen müssen. Doch sie witterte Betrug, und zwar schon vor der Wahl. Vier Anhänger der RGO hatten sich vor der Wahl verabredet, die linke obere Ecke ihres Wahlzettels einzuknicken. Bei der Auszählung waren aber drei dieser Stimmzettel verschwunden, weshalb die RGO der reformistischen Wahlleitung vorwarf, kommunistische Stimmen zu unterschlagen. Die Gegner taten das Ganze als politisches Theater ab, was schon daran zu erkennen sei, dass schon Tage vor der Wahl Gerüchte über Wahlfälschungen gestreut worden seien. Es verwundert kaum, dass die Klage der RGO abgewiesen wurde.106 Ein Fall aus dem Seidenhaus Indanthren vom September 1931 zeigt, mit welchen Bandagen Angehörige der RGO kämpften. Bei der Wahl gab es allerlei Ungereimtheiten. Zunächst wurde ein Kandidat der RGO-Liste abgelehnt, weil er noch nicht, wie vorgeschrieben, sechs Monate dem Betrieb angehörte. Ein anderer Kandidat tauchte plötzlich auf beiden Listen, der RGO und der »reformistischen«, auf, obwohl er nur die Zustimmung für die RGO-Liste gegeben hatte, und eine dritte Person zog nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub, als die Liste schon eingereicht war, ihre Unterschrift zurück, weshalb die Liste schließlich nicht zur Wahl zugelassen wurde und die Liste der Reformisten für gewählt erklärt wurde. Hiergegen klagt nun Hannah Borsch, die die RGO-Liste angeführt 105 Hatte es 1929 noch nur zwei Rote Listen gegeben, so gab es 1930 immerhin schon 21, was aber immer noch sehr wenig war. Intern feierte die KPD Erfolge, BArch, RY 1 I/3/8–10/155, Abteilung Gewerkschaft. Der Bericht enthält viele Details über (angebliche) Repressionen, die Kommunisten im Betrieb erdulden mussten. Ein Jahr später wollte sie 90 Rote Listen aufstellen, schaffte jedoch nur 32, LVZ, 26.3.1931. Selbstkritischere Berichte der KPD in BArch, RY 1 I/8–10/167. Bei Sack, einem Textilbetrieb, zum Beispiel wurde die Wahl vorgezogen. Die Genossen verschwiegen dies und stellten keine Liste auf, was die Partei­f ührung erboste. 106 SStAL, Arbeitsgericht 20140/7. Die Klage wurde abgewiesen, weil die Wahlzettel mit der Kennzeichnung ohnehin ungültig geworden wären.

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hatte. Schon vor der Wahl seien Anhänger der KPD systematisch eingeschüchtert worden, so Borsch. In einer Stellungnahme für die Gerichtsverhandlung schrieb sie: »Während des Aushangs der Vorschlagslisten war auf Liste I mit Bleistift nachgetragen. Von wem war b.z.Zt. nicht feststellbar. Dieser Vermerk lautete ›Revolutionäre Einheitsliste‹ und trug offensichtlich bei der Psychologie der Angestellten den Zweck durch Ausschreibung des Wortes diese abzu­ schrecken.« Der reformistische Betriebsrat wandte nun ein, zunächst hätten neben Borsch die Kandidaten Jost und Jünger auf der Liste gestanden. Diese hätten jedoch erst nachdem sie ihre Unterschrift geleistet hatten erfahren, dass es sich um eine RGO-Liste handelte, und hätten daraufhin ihre Kandidatur zurückgezogen. Der Grund für die Weigerung im Betrieb, die Liste nicht zu unterschreiben, habe, so die reformistische Seite, auch nichts mit der Betriebsführung zu tun, die sich neutral verhalte, sondern damit, dass die Belegschaft keinen politischen Betriebsrat wünsche. Das Gericht erklärte die Wahl schließlich für ungültig, allerdings aus anderen, formalen Gründen.107 Ein letztes Beispiel zeigt, dass nicht nur die RGO zweifelhafte Methoden anwandte, sondern ihre Klagen vor Gericht durchaus Berechtigung haben konnten. Im Mai 1931 reichte ein Vertreter der RGO Klage wegen den Wahlen bei den städtischen Betrieben ein. Die RGO-Liste sei nicht zur Wahl zugelassen worden, da sie angeblich zu spät eingereicht worden sei. Dies sei nur deshalb geschehen, so die Argumentation der RGO, weil sich der Name der Straße, in der der (­reformistische) Wahlleiter wohnte, geändert hatte, ohne dass dieser es bekannt gemacht hätte. Dies hatte verhindert, dass der Wahlvorschlag sein Ziel erreichen konnte. In diesem Fall gab das Arbeitsgericht der Klage in erster Instanz statt; sie wurde in zweiter Instanz jedoch zurück gewiesen.108 All diese Fälle zeugen von einem permanenten Kleinkrieg zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten am Arbeitsplatz, den die Kommunisten teils berechtigt, zumeist jedoch überaus unberechtigt, vor die Gerichte zogen. Wenn es um Positionen im Betriebsrat ging und darum, dessen Einfluss auszunutzen, regierten Intrigen und gegenseitiges Misstrauen im Betrieb. Der Konflikt im Seidenhaus Indanthren ist in dieser Hinsicht besonders bezeichnend. Selbst die RGO-Vertreterin sah es als abschreckend an, dass der Name der RGO-Liste ausgeschrieben wurde. In diesem Kontext scheint die Aussage der Reformisten glaubhaft, die beiden anderen Kandidaten hätten nur unter einer Täuschung – man hatte ihnen schließlich nicht gesagt, für wen sie wirklich antraten – ihre Kandidatur erklärt. Solche Praxen, die auf Verheimlichungen und Täuschungen basierten, stifteten, so darf angenommen werden, Misstrauen im Betrieb. Auf der anderen Seite taten Sozialdemokraten auch das Ihrige, um Kommunisten von der Wahl fernzuhalten, auch wenn ihnen konkreter Wahlbetrug selten 107 SStAL, Arbeitsgericht 20140/412. 108 SStAL, Arbeitsgericht 20140/180. Für weitere Fälle SStAL, Arbeitsgericht, 20140/10, 103, 136, 203. Ähnlich BArch, RY 1 I/3/10/116, wo es um Betriebsratswahlen bei den Straßenbahnen geht, die vor Gericht endeten.

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nachzuweisen gewesen sein dürfte.109 Solche Aktivitäten trugen dazu bei, im Alltag Gräben zwischen den beiden Parteien aufzureißen. Aus kommunistischer Sicht kam es darauf an, Betriebsratswahlen einen politischen Gehalt zu geben;110 aus »reformistischer«, das heißt freigewerkschaft­ licher Sicht ging es darum, ein solches »politisches Theater« aus dem Betrieb fernzuhalten. Mit Politik waren dabei alle Probleme und Angelegenheiten gemeint, die über die konkreten Probleme im Betrieb hinausgingen. Da es der kommunistischen Taktik entsprach, solche konkreten Probleme mit den »großen« Problemen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu verbinden und sie somit zu »politisieren«, war mit der Zurückweisung von Politik im Betriebsrat stets die Politik der KPD gemeint. Freie Gewerkschafter, und vermutlich nicht nur diese, empfanden Politik in diesem Sinne als spaltend und im Betrieb störend. Ähnlich wie die Konflikte zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten in den Vereinen können die Konflikte zwischen RGO und Freien Gewerkschaften auch als ein Konflikt darüber verstanden werden, welche Rolle Politik in der Arbeiterbewegung spielen sollte und wo ihr angemessener Ort war.

109 Alfred Späther berichtet in seinen Erinnerungen von einem Vorfall, der zeigt, dass Sozial­ demokraten nicht nur versuchten, Kommunisten aus Betriebsräten fernzuhalten, sondern auch generell aus den Betrieben. Späther war Mitglied im Deutschen Metallarbeiter Verband (DMV), der reformistischen Metallergewerkschaft. Als Vertrauensmann bei den Straßenbahnen wurde er auch zum Arbeitsrichter seitens des DMV ernannt. »Ein schlechtes Beispiel von Klassenzusammengehörigkeit wurde mir vom Buchbinderverband geboten. Von Hermann Schäfer wurde ich aufgefordert zum Büro dieses Verbands zu gehen. Von dem Angestellten wurde mir die Angelegenheit eines Kollegen Buchbinders, Betriebsrat in der Großbuchbinderei, geschildert, der fristlos entlassen sei. Da ich Arbeitsrichter sei müsse ich wissen, dass der Betreffende Kommunist sei und der Verband keinen Wert darauf lege, dass er durch die Verhandlung vor dem Arbeitsgericht wieder eingestellt würde. Es gelang mir bei der Beratung den Amtsgerichtsrat zu überzeugen, dass der Kläger wiedereinzustellen sei. Was auch geschah. Der Kollege vom Buchbinder Verband schaute mich wütend an, als der Richter das Urteil vorlas.« SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 353. 110 Zum Beispiel BArch, RY 1  I/3/8–10/155, Bericht vom 28.3.1930 (Gewerkschaftsabteilung). Bei Unruh und Liebig, einem Metallbetrieb, waren 5 »Versöhnler« auf der freigewerkschaftlichen Liste angetreten und hatten somit nicht die neue Linie der Partei, eigene Rote Listen zu bilden, befolgt. Von einem Instrukteur der Partei befragt, rechtfertigten sie ihr Handeln. »Sie stehen noch auf dem Standpunkt, dass ihre Handlungsweise für ihren Betrieb richtig gewesen sei. ›Begründet‹ wird das damit, dass die Betriebsbelegschaft nach der 3. Betriebsstilllegung innerhalb eines Jahrs sehr passiv sei. Mit einer roten Liste hätten sie sich im Betrieb nur lächerlich gemacht. (Wieso wurde nicht gesagt.)« Für den Instrukteur war diese Haltung katastrophal. »Man kann von der Arbeiterschaft keine politische Aktivität verlangen«, so der Instrukteur, »wenn sie seit Jahren nicht vor politische Entscheidungen gestellt wird, wie bei der Betriebsratswahl.«

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2.4 Politisierte öffentliche Wohlfahrt Als sich Leipzig im Gefolge der Eingemeindung verschiedener Arbeitervororte zwischen 1889 und 1892 in eine Industriestadt mit einer signifikanten Arbeiterschaft verwandelte, sah sich die Stadt mit der Notwendigkeit konfrontiert, das kommunale Wohlfahrtssystem massiv auszubauen. Im Gegensatz zu anderen Städten Deutschlands konnte sich in der »Armenpflege« Leipzigs keine rationalisierte, unpolitische Fürsorge durchsetzen, weil die ehrenamtlichen Pfleger, vornehmlich aus dem Bürgertum stammend, sich den Reformvorhaben widersetzten. Diese Pfleger übernahmen das Tagesgeschäft der kommunalen Wohlfahrt, das heißt, sie kümmerten sich um Wohlfahrtsempfänger und entschieden über deren Unterstützung. Allgemein waren ihre Entscheidungen, wie Paul Brandmann gezeigt hat, weniger großzügig als diejenigen professioneller Wohlfahrtsbeamter. Sozialdemokraten und Gewerkschaften kritisierten daher das private Wohlfahrtssystem scharf und forderten dessen Kommunalisierung und Professionalisierung, zunächst allerdings ohne Erfolg.111 Erst mit Beginn des Ersten Weltkriegs und des »Burgfriedens« änderte sich diese Situation, nicht zuletzt weil auch breitere Schichten des Bürgertums von Not und Elend betroffen waren. Nun kam es zu einem politischen Konsens die kommunale Wohlfahrt betreffend. Die Stadt nahm die Fürsorge in ihre Hand, nicht zuletzt, um die Heimatfront ruhig zu halten. Im Zuge des Krieges wurde schließlich 1917 auch die Arbeitsvermittlung kommunalisiert, womit eine langjährige Forderung der Gewerkschaften erfüllt wurde, um so alle arbeitsfähigen Personen zu erfassen. Der Konsens im Zeichen des Burgfriedens hielt jedoch nicht lange an. Bereits 1915 war es zu politischen Konflikten, auch innerhalb der Arbeiterbewegung, gekommen. Die Gewerkschaften beispielsweise unterstützten den nationalistischen Heimatdank, während die radikalere SPD in Leipzig, deren Mehrheit sich 1917 den Unabhängigen Sozialdemokraten anschloss, sich weigerte, am Heimatdank zu partizipieren. In den letzten Kriegsjahren nahmen soziale Konflikte weiter zu, wobei die politischen Traditionen die spezifischen Ausformungen der Konflikte bestimmten, wie Paul Brandmann argumentiert.112 Nach dem Ende des Krieges bestanden diese Konflikte fort. Wie auch der Rest Deutschlands wurde Leipzig von sozialen Konflikten und Arbeitslosen­ protesten erschüttert. Während sich Sozialdemokraten in anderen Städten an der lokalen Verwaltung beteiligten und mehr oder weniger erfolgreich versuchten, die Proteste zu beruhigen, verweigerten sich Leipzigs Unabhängige Sozialdemokraten einer solchen Beteiligung und versuchten stattdessen, die Proteste in revolutionärer Absicht zu radikalisieren. Ab 1920 etwa, als auch die USPD einen gemäßigten und pragmatischeren Kurs einschlug, nahm die neugegrün111 Brandmann, Kap. II. 112 Ebd., Kap. III.

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dete KPD ihre Rolle ein und agierte als (selbsternannte) Repräsentantin der Arbeitslosen. »Politische Faktoren«, so Paul Brandmann pointiert, »potenzierten« soziale Konflikte in Leipzig und trugen dazu bei, dass sie immer wieder gewaltsame Formen annahmen. Allerdings hatte auch das Bürgertum Anteil an der Verschärfung dieser Konflikte, da (klein)bürgerliche Wohlfahrtspfleger »politisch unliebsamen« Arbeitern schlicht jegliche Unterstützung verweigerten. Leipzigs nicht-professionalisiertes und politisiertes Wohlfahrtssystem trug damit wesentlich zur besonderen Schärfe sozialer Konflikte bei.113 Zwar gelang es der Sozialdemokratie nicht, ihr weitgehendes Ziel einer professonalisierten Wohlfahrtspflege durchzusetzen, aber 1923 kam es dennoch zu einer entscheidenden Änderung, die die bürgerliche Dominanz in der Wohlfahrt brach. Von nun an konnte jede Partei Wohlfahrtspfleger nominieren, deren Anzahl nach Parteienproporz in der Stadtverordnetenkammer bestimmt wurde. Dies stärkte zwar die Position der Arbeiterbewegung in der kommunalen Wohlfahrtspflege, trug aber gleichzeitig zu einer weiteren Politisierung des Systems bei. Während andere Kommunen in Deutschland die Jahre relativer Ruhe nutzten, um eine Professionalisierung ihrer kommunalen Wohlfahrtssysteme zu erreichen, blieb die Fürsorge in Leipzig zutiefst politisiert.114 Zwar hätte dieses System der KPD zumindest theoretisch gestattet, eine Anzahl Fürsorgepfleger zu benennen, doch der Partei fehlte es oft an Mitgliedern, die willens waren, diese Aufgabe zu übernehmen. Kommunisten sahen in diesen Tätigkeiten eine Zeitverschwendung mit bürokratischen Aufgaben, sehr zum Leidwesen der KPD-Führung.115 Im Ergebnis mussten sich kommunistische Wohlfahrtsempfänger immer wieder an sozialdemokratische (oder gar bürgerliche) Wohlfahrtspfleger wenden.116 In solchen Situationen kam es immer wieder zu politisch aufgeladenen Konflikten, wobei die kommunistische Presse einen entscheidenden Beitrag leistete. In der folgenden Analyse wird es vor allem um die parteipolitischen Di­ mensionen dieser Konflikte zwischen Wohlfahrtspflegern und -empfängern 113 Ebd., S. 213 (Zitat), 253 f., 237. 114 Ebd., S. 270–279. Zur kommunalen Wohlfahrt Paulus. Zur Wohlfahrt in Hamburg Crew, Germans. Weiterhin Weitz, Communism, S.  169, der betont, dass Arbeitsnachweise, wo Arbeitslosenkomitees gewählt werden sollten, ein zentraler Ort für kommunistische Politik wurden. Nicht nur Kommunisten, sondern auch Nationalsozialisten nutzten diese Orte zur Agitation, SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 056. Grundsätzlich, mit weiterer Literatur, Mergel, System, S. 53 f. Gegenüber dem für Krieg und Not verantwortlichen Staat entstand, so Mergels Argument, die Erwartung, die Not zu mindern: der Staat wurde zunehmend als »sozialer Volksstaat« gedacht. Damit wurden bislang »private« Felder, wie etwa die Wohlfahrt, zunehmend politisiert. Mit vergleichender Perspektive, Metzler. 115 BArch, RY 1 I/3/10/132, Rundbrief, 12.3.1929. Die KPD-Führung argumentierte, dass »[…] wenn wir die Massen zur klassenkämpferischen Bewegung gewinnen wollen, müssen wir uns auch um die Tagesfragen und kleinen Nöte aller Ausgebeuteten kümmern, dazu ge­ hören auch die Fürsorgeempfänger und Fürsorgeberechtigten.« 116 Zu Konflikten zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten in diesem Kontext Weitz, Communism, S. 130 f.

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gehen.117 Damit wird der Komplexität dieser Konflikte sicherlich nicht Gerechtigkeit getan, wie etwa Pamela Swetts Studie zeigt, in der Swett vor allem die Konflikte zwischen lokalen Anwohnern und Repräsentanten des Staates hervorhebt, die sie als einen Kampf um lokale Autonomie gegenüber staatlichen Strukturen interpretiert.118 Zumindest in Leipzig können solche Konflikte zwischen Wohfahrtsfürsorgern und -empfängern nicht auf Konflikte um lokale Autonomie reduziert werden, da beide Parteien oftmals im gleichen Viertel wohnten. Vielmehr bieten sie Beispiele par excellence für die parteipolitische Kodierung sozialer, nachbarschaftlicher Konflikte, auch wenn sie nur medial inszeniert überliefert sind. Im Februar 1931 berichtete die SAZ über einen solchen Konflikt. Sie warf dem sozialdemokratischen Fürsorgepfleger Pankok vor, dem kommunistischen Fürsorgeempfänger Duhnke Unterstützung für seine Schuhe verweigert zu haben und ihm stattdessen vorgeschlagen zu haben, die Besohlung seiner Schuhe doch von der Roten Hilfe bezahlen zu lassen. Pankok konnte sich der Unterstützung durch die LVZ im Gegenzug sicher sein.119 Diese berichtete, Duhnke sei bekannt dafür, sorglos mit ihm zur Verfügung gestellten Gegenständen umzugehen und sie oftmals im Pfandhaus zu versetzen. Als bekannt wurde, dass er unentgeltlich als Zeitungsverkäufer für die SAZ und die Arbeiter Illus­ trierte Zeitung arbeite, habe man ihm lediglich nahe gelegt, sich doch von dieser Seite die Sohlen für seine neuen Schuhe bezahlen zu lassen. In der angespannten politischen Situation ist es kaum verwunderlich, dass diese Bemerkungen von Duhnke als ein Angriff auf seine politische Haltung aufgefasst wurden. Die SAZ schlachtete die Situation nur zu gerne aus, um gegen die SPD zu agitieren. Ein anderer Fall ereignete sich im Juli 1930. Er zeigt, wie vielleicht alltäg­liche Konfliktfälle zwischen sozialdemokratischen Fürsorgepflegern und (kommunistischen) Empfängern von der kommunistischen Presse zur Agitation gegen »Sozialfaschisten« genutzt wurden. Unter der Überschrift »Sozialdemokratischer Pfleger schlägt Arbeiterfrau« berichtete die SAZ am 26. Juli 1930 über die Arbeiterin und Fürsorgeempfängerin Reichert, die für ihr krankes Kind Essensgutscheine von einem sozialdemokratischen Pfleger namens Heidenreich erhalten wollte. Dabei geriet sie in Konflikt mit Heidenreich, der, so die Darstellung der SAZ, gewalttätig wurde, sie am Genick packte und im Beisein des kranken Kindes aus dem Haus zerrte. Zu allem Übel erlitt Reichert auch noch einen Nervenschock und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Der Fürsorge­ pfleger erstattete im Gegenzug Strafanzeige, weil sein Hemd bei der Ausein­ 117 Zu politischen Konflikten zwischen Fürsorgepflegern, SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 268. Otto Straube, ein alter Kommunist der als Fürsorger tätig war, behauptet, Sozial­ demokraten hätten sich als »Schnüffler« und »Sparsamkeitsfanatiker« hervorgetan. Natürlich agitierten auch Kommunisten und Nationalsozialisten auf Wohlfahrtsämtern, etwa SStAL, PP S 1036, PP S 1468, PP S 1972. 118 Swett, Kap. 4. 119 LVZ, 12.2.1931. Der Bericht in der SAZ ließ sich leider nicht auffinden.

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andersetzung zerrissen worden war, und überwies die Frau in den als Strafdistrikt bekannten 100. Fürsorgebezirk.120 Einige Tage später reagierte die Leipziger Volkszeitung auf diese Vorwürfe unter dem Titel »SAZ verleumdet Fürsorgepfleger«. Reichert mache dem Pfleger schon längere Zeit Schwierigkeiten, so die LVZ. Als nun ihre Fürsorge um 60 Pfennig gekürzt werden sollte, begann sie Heidenreich wüst zu beschimpfen. Da die Frau trotz der Beruhigungsversuche Heidenreichs nicht damit aufhörte, verwies Heidenreich sie der Wohnung. »Als Genosse Heidenreich sich auch weiter nicht provozieren ließ, ging Frau Reichert auf ihn wie eine Furie los, kratze ihn im Gesicht, riss ihm sein Hemd in Stücke und attackierte auch Frau Heidenreich, die die rasende Frau aus der Wohnung drängen wollte.« Die Szenen fanden auf dem Gang ihre Fortsetzung, bis Reichert sich auf den Boden warf und einen Anfall vortäuschte, um so die Umstehenden gegen den Fürsorgepfleger aufzuhetzen. Heidenreich könne es keinesfalls zugemutet werden, sich weiter um Reichert zu kümmern. Den kommunistischen Vorwurf, er habe sie an ein Strafdistrikt überwiesen, konterte die LVZ damit, ein kommunistischer Pfleger habe die Schwester Reicherts in eben jenen Distrikt überwiesen.121 Diese beiden Fälle verdeutlichen einerseits, wie solche Konflikte medial in den jeweiligen Parteizeitungen ausgeschlachtet wurden,122 andererseits aber auch, dass Parteipolitik durchaus auch aus der Perspektive der Akteure eine Rolle spielen konnte und nicht nur von den Zeitungen ins Spiel gebracht wurde. Selbst der sozialdemokratischen LVZ zufolge hatte der Fürsorgebeamte eine Anspielung auf die ehrenamtliche Tätigkeit des Antragstellers für die KPD gemacht. In der SAZ finden sich zahllose, wenngleich vielleicht weniger glaubwürdige Beispiele solcher Art. Hier zeigt sich, wie leicht ein Konflikt um Wohlfahrtsleistungen von den Beteiligten selbst parteipolitisch formuliert werden konnte. Für Kommunisten konnte dies eine weitere lebensweltliche Bestätigung der Sozialfaschismuspropaganda der Partei sein. Beide Fälle, insbesondere der zweite, wurden medial inszeniert, weshalb es sich lohnt, diese Inszenierungsstrategien genauer zu untersuchen. Die SAZ griff den Konflikt zwischen Heidenreich und Riester, der selbst keine dezidiert politische Komponente gehabt zu haben scheint, auf und nutzte ihn, um einen Sozialdemokraten zu denunzieren. So sollte gezeigt werden, wie sehr sich die SPD auch ganz praktisch in alltäglichen Belangen von der leidenden Arbeiterklasse entfernt hatte und Arbeitslosen gegenüber arrogant auftrat. Die SAZ versuchte dem Vorfall also eine explizit politische Dimension zu geben. Die Abwehrstrategie der LVZ funktionierte auf zwei Ebenen. Zum einen ging sie direkt auf den Vorfall ein, der ihr eine Möglichkeit gab, sozialdemokratische Tugenden auch im Alltag zu preisen: Ruhig und besonnen reagierte ihr Genosse Heidenreich auf die »Furie«, die nicht zu beruhigen war. Wie auch die SPD-Führung in 120 SAZ, 26.7.1930. 121 LVZ, 2.8.1930. 122 Dies war sicherlich auch Teil der Strategie der betroffenen Fürsorgeempfänger.

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jeder Lage »Ruhe und Besonnenheit« bewahrte und ihre Anhänger eben dazu aufforderte, so verhielt sich auch ihr Fürsorgepfleger. Die Beziehung zwischen den beiden wurde eindeutig nicht als eine politische dargestellt, sondern als eine hierarchische, deutlich geschlechtlich konnotierte, zwischen einem beruhigenden Mann und einer fast schon pathologisch handelnden »Furie«. Durch die Psychologisierung des Konflikts, bei der der Frau ein höchst irrationales Verhalten unterstellt wurde, wurde er gleichzeitig entpolitisiert: schließlich konnte Politik, wie im vorigen Kapitel gezeigt, aus sozialdemokratischer Sicht nur rational vonstatten gehen. Auf einer zweiten Ebene befasste sich die LVZ mit dem politischen Angriff der SAZ, der in den Augen der LVZ nur eine kommunistische »Verleumdung« des Pflegers darstellte. Zum Beweis, wie wenig stichhaltig die Anschuldigungen der SAZ waren, führte sie noch an, dass selbst ein kommunistischer Pfleger die Schwester Reicherts in den »Strafdistrikt« verwiesen hatte. Die LVZ versuchte also, dem Vorfall selbst seinen politischen Gehalt (wieder) zu nehmen, und diese Politisierung einzig in der Berichterstattung der SAZ zu sehen.123 Die Präsentation von Fällen wie den obigen war typisch für die Art, wie die SAZ mit der Krise umging. Um deren Auswirkungen zu verdeutlichen, wurden detailliert Einzelfälle geschildert, die zeigen sollten, wie unzureichend die Mittel waren, die der Staat Arbeitslosen zur Verfügung stellte, um in Not zurecht zu kommen. Auch im folgenden Beispiel nutzte die SAZ die Gelegenheit, massiv Kritik an der SPD zu üben. Am 10. Januar 1930 schilderte ein Arbeitsloser seine Erfahrungen unter dem Titel »Wir haben kein Geld für Mietbeihilfen.« Der sozialdemokratische Distriktvorsteher – die LVZ schrieb am Tag darauf, er sei in Wahrheit bürgerlich – habe ihm mit der Begründung, er müsse erst in die Sitzung, einen Mietzuschuss verweigert. Der Arbeitslose schilderte daraufhin ausführlich seine missliche Lage: »Ich entgegnete ihm, dass ich keinen Pfennig Geld im Hause habe und am ersten [Januar; der Vorfall spielte sich am 123 Der Konflikt um das Jugendheim »Fregestift« bietet ein weiteres Beispiel für Versuche der KPD, sozialen Konflikten einen politischen Gehalt zu geben. In diesem kam es im Herbst 1929 zu einigen Zwischenfällen zwischen Erziehern und Zöglingen, bei denen in einem Fall sogar das Überfallkommando der Polizei gerufen werden musste. Die KPD und der KJVD versuchten nun, angeblich mit Erfolg, diese rebellischen Jugendlichen zu »bearbeiten« und aus dem Konflikt politischen Profit zu schlagen, indem sie ihn zu einer Kritik an der Polizei und generell dem Staat, der das Heim verkommen ließ, nutzten. Die SPD hingegen, die der Einrichtung durchaus auch kritisch gegenüberstand, versuchte den Konflikt zu psychologisieren. Sie empfahl daher einen »moderneren« Umgang der Erzieher mit den Jugendlichen, deren Aufgabe es sei, »das Triebleben der Jugendlichen zu regeln«. Dazu sollte man, bezeichnend für die Psychologisierung des Konflikts, ein Buch über die »verwahrloste Jugend« aus dem Internationalen Psychoanalytischen Verlag lesen. Die Politik der KPD, die Kinder und Jugendlichen zu »blinden Revolten« aufzuputschen, sei hingegen verbrecherisch, weil sie nur zu mehr »Knüppelpädagogik« führe. Das Heim wurde schließlich im April 1930 geschlossen, was die SAZ als Erfolg des KJVD feierte, SAZ, 4.9.1929, 10.4.1930, LVZ, 7.12.1929, weiterhin StAL, Jugendamt 380 Fregestift Hauptakten, BArch, RY 1 I/8–10/167, sowie Gottlob.

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30.12. ab und er sollte bis zum 7.1. warten] Miete zahlen müsste.« Er war in einer verzweifelten Lage, da seine Frau ins Krankenhaus musste, um ihr Kind zu stillen. »Ich habe am 24. Dezember die erste Erwerbslosenunterstützung im Betrag von 12,30 Mark erhalten und beziehe jetzt die Woche 18,53 Mark. Das soll mir dieser Kerl erst mal vormachen, davon 4  Kinder zu ernähren und dann auch noch Geld zur Miete zurück zu legen.« Das aber ließ sich der Distriktvorsteher nicht sagen. Er sprang auf, schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Denken Sie vielleicht, das Fürsorgeamt ist bloß dazu da, Miete und Unterstützung zu zahlen für notleidende Familien? Dazu haben wir kein Geld! Ich fordere Sie nun zum ersten, zweiten und dritten Mal auf, das Zimmer zu verlassen.« Aus Angst, Hausfriedensbruch zu begehen, ging der Mann. Die Schlussfolgerungen aus dieser Geschichte lieferte die SAZ gleich mit: Wie der Zwischenfall beweist, ist die letzte Rettung für einen für das Wohlergehen des bürgerlichen Staates besorgten sozialdemokratischen Distriktvorsteher der Ruf nach der Staatsanwaltschaft. Ich stellte noch meine Betrachtungen an über die Millionen, die die Regierung den weißgardistischen russischen Kulaken an den Hals schmeißt, während sie für die Proleten, die sie selbst zum Feiern zwingt, angeblich kein Geld hat. Aber das wird erst dann anders, wenn alle Arbeiter in der kommunistischen Partei organisiert sind und auch den Kampf für den Kommunismus führen.124

Zwei Aspekte des kommunistischen Umgangs mit der Erfahrung der Arbeits­ losigkeit werden hier, neben der bereits diskutierten Polemik gegen die SPD, deutlich: Zum einen der Fokus auf das Leid des Einzelnen, wodurch die konkreten Auswirkungen der Krise auf das Leben der Arbeiter dargestellt werden sollten. Rhetorisch nicht ungeschickt versuchte die SAZ so zu zeigen, wie nah sie am alltäglichen Leben und Leiden der Arbeiter war. Dabei blieb sie aber nicht stehen. Konkrete Erfahrungen sollten dann, zweitens, wie der stereotype Schlussabschnitt zeigt, auf die »Große Politik« bezogen werden. Gerade dieses Vorgehen ist typisch sowohl für die SAZ als auch für die verschiedenen Häuserblock- und Betriebszeitungen der KPD,125 die stets versuchten, Ereignisse aus dem täglichen Leben der Arbeiterinnen und Arbeiter auf oft recht krude Weise mit der »großen Weltpolitik« in Verbindung zu bringen. Basierend auf den eigenen, individuellen Erfahrungen sollten Arbeiterinnen und Arbeiter so ein Klassenbewusstsein entwickeln. In diesem Sinne kann die Strategie der KPD als der Versuch, das Alltagsleben zu politisieren, interpretiert werden. Der sozialdemokratische Umgang mit der Krise unterschied sich hiervon grundsätzlich. Für die LVZ standen oftmals die beeindruckenden Zahlen, ty124 SAZ, 10.1.1930. 125 Beispiele für Betriebs- und Häuserblockzeitungen finden sich in BArch, RY 1 I/3/10/141, mit vielen Verweisen auf die »kleinen« Probleme der Arbeiter, deren sich die KPD anzunehmen versuchte. Weiterhin RY 1 I/3–8/166 zur internen Kritik an diesen Zeitungen, die oft zu viele Artikel über Politik hatten, aber zu wenige Artikel über konkrete Probleme im Betrieb oder im Viertel.

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pisch für das rationalistische Politikverständnis der SPD, mit denen die Wohlfahrt das Leid bekämpfte, im Vordergrund. Statistiken sollten beweisen, mit welchem Erfolg die Sozialdemokratie dazu beitrug, das Leid zu mildern. Die Not zu mindern war aus dieser Perspektive nicht einmal eine politische Aufgabe, weshalb die SPD mit dem »politischen Missbrauch« der Krise durch die KPD hart ins Gericht ging. Nur wenige Tage nach dem gerade zitierten Artikel in der SAZ, am 16. Januar 1930, schrieb die LVZ: »Den Anweisungen ihrer Zentrale in Berlin folgend, versuchten die Kommunisten in den letzten Wochen die Erwerbslosen vor ihren festgefahrenen Karren zu spannen.«126 Die KPD verfolge eine Taktik der Demagogie, wenn sie in der Stadtverordnetenkammer Winterbeihilfen fordere, die gesetzeswidrig seien und ohnehin aufgehoben werden würden. Die SPD lehnte es, so die LVZ, ab, dieses Spiel mitzuspielen, und stimmte gegen die entsprechenden Anträge, um danach von der KPD als arbeiterfeindlich angegriffen zu werden. »Angesichts dieser Rechtslage [die klar zeigt, dass die Beschlüsse illegal sind und nicht umgesetzt werden könnten] […] glaubte die sozialdemokratische Fraktion das grausame Spiel mit der Not der Erwerbslosen nicht verantworten zu können und lehnte die kommunistischen und nationalsozialistischen Anträge ab.« Stattdessen pries die LVZ die jahre­ langen Bemühungen der SPD für die Erwerbslosen: Es werden seit dieser Zeit [1927, nach dem erfolgreichen Antrag der SPD, Erwerbslose, die weniger als die Fürsorgeleistungen bekommen, aus der Fürsorge mit Unterstützung für Wäsche, Heizung, Wohnung, etc., zu versorgen] laufend 5.000 bis 7.000, mit Angehörigen 10.000 bis 12.000  Menschen, nichtbeziehungsberechtigte ausgesteuerte Erwerbslose oder solche mit niedriger Erwerbslosenunterstützung, sowie Erwerbslose mit hoher Kinderzahl unterstützt. […] An einem [fiktionalen] Beispiel soll gezeigt werden, wie sich diese Fürsorgetätigkeit im einzelnen auswirkt. Ein verheirateter Erwerbsloser mit drei Kindern und einem Wochenarbeitsverdienst bis zu 42 Mark würde in der Lohnklasse VII der Arbeitslosenversicherung 22,42 Mark Arbeitslosenunterstützung bekommen. Er würde, je nach dem Alter der Kinder, pro Woche 6,50  Mark bis 11,75  Mark ergänzende Fürsorgeunterstützung bekommen. […] Es wurden demnach aus städtischen Mitteln zur Unterstützung von Erwerbslosen in 11  Monaten des Jahres 1929 (für Dezember liegen die Ziffern noch nicht vor) für laufende Unterstützung 2.840.000  Mark, für außerordentliche Unterstützung rund 870.000  Mark, für Wäsche, Kleidung, Schuhwerk, Speisemarken, Brot, Heizung, usw. über 700.000 Mark, zusammen rund 4 Millionen 400.000 Mark ausgezahlt.

Dies zeige, wie hart die SPD dafür arbeitete, die Not der Arbeitslosen zu mindern, aller unverschämten Hetze der SAZ zum Trotz. »Die sozialdemokratische Fraktion wird niemals die Hand dazu bieten, die bittere Not der Erwerbs­ losen zu durchsichtigen, unehrlichen, politischen Aktionen zu missbrauchen. Sie betrachtet es als ihre vornehmste Aufgabe, diese Not zu steuern, soweit die städtischen Mittel dazu ausreichen. […] Leider kann man oft feststellen, 126 LVZ, 16.1.1930. Ähnlich, BArch, RY 22 SUF 52, Kommunalwahl Sachsen 1929.

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dass hauptsächlich ältere Erwerbslose es weit von sich weisen, die Hilfe der Fürsorge in Anspruch zu nehmen. Sie betrachten diese Zumutung als entehrend.« Diesen gab die LVZ den Rat, sich an die Fürsorgepfleger in ihren Distrikten zu wenden.127 Die SPD versuchte die Not nur zu verwalten, ein dezidiert unpolitisches Handeln. Zu politischen Akteuren wollte sie die von der Not Betroffenen nicht machen. Während die SPD die Not als einen Gegenstand der Verwaltung ansah, der professionell und rational gehandhabt werden sollte, betrachtete die KPD die Krise und die mit ihr einhergehende Not als genuin politisches Problem und damit als Chance, aus der Krise politisches Kapital zu schlagen. Anders als die SPD versuchte die KPD die Erwerbslosen zu »politischen Aktionen« zu mobilisieren, was ihr teils durchaus gelang. Parteipolitik ließ sich kaum vermeiden, so das Fazit, das aus diesen Beispielen gezogen werden kann. Wo auch immer man hinging, man wurde mit Politik konfrontiert. Beim Abendessen mit der Familie, im Schwimmbad, im Sport­verein, am Arbeitsplatz oder beim Fürsorgepfleger, und natürlich auf der Straße, überall kam es zu parteipolitischen Konflikten. Dies führte dazu, dass die Konflikte zwischen den beiden Arbeiterparteien für viele Arbeiter konkret vor Ort erlebbar wurden; sie beschränkten sich nicht auf Differenzen und Polemiken zwischen den jeweiligen Parteiführungen und -zeitungen, fern des Alltags der jeweiligen Parteibasis. Dies betraf vor allem Arbeiter, die auf die ein oder andere Weise organisiert waren, nicht nur in Parteien, sondern auch in Gewerkschaften oder Arbeitervereinen, die kaum Rückzugsräume boten, in denen man der Politik entkommen konnte. Aber auch unorganisierte Arbeiter wurden immer wieder mit Politik konfrontiert, insbesondere wenn Kommunisten versuchten sie zu agitieren, wo und wann auch immer dies möglich war, aber auch wenn sie zu Zeugen politischer Gewalt wurden. Viele Arbeiter jedoch empfanden Politik als Belästigung und wandten sich frustriert von ihr ab. Paradoxerweise führten Versuche, das Milieu und seine Strukturen zu politisieren, zu seiner Entpolitisierung. Hiermit ist gewissermaßen auch ein erster »Schuldiger« für die Politisierung des Alltags genannt: die KPD, wie die Sozialdemokratie nicht müde wurde zu betonen. Einzig der KPD die Schuld zu geben hieße aber zu verkennen, welchem Repressionsdruck Kommunisten ausgesetzt waren und welche Zwangslagen sich daraus ergaben.128 Detaillierte »Winke zur Agitation« der KPD, die 127 LVZ, 16.1.1930. Kommunisten versuchten teils gewaltsam, die SPD vom Verteilen solcher »aufklärender« Flugblätter abzuhalten, LVZ, 21.2.1930, sowie SAZ, 21.2.1930. Die LVZ zitierte aus den Flugblättern: »Leider ist festzustellen, dass gerade die organisierte Arbeiterschaft den Weg zur Fürsorge als etwas entehrendes ansieht. Diese Ansicht ist falsch.« 128 Ein Beispiel für die Bedingungen, unter denen die KPD Demonstrationen durchführen musste, findet sich im SStAL, PP S 1489. Bei einer Demonstration griff die Polizei ein, weil ein Demonstrant ein Transparent mit der Aufschrift »Fleißner hat unsere Transparente verboten« mitführte. Dies reichte für 10 Tage Arrest.

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vor­gaben, wo und wann Kommunisten agitieren sollten, waren eine Antwort auf dieses Problem.129 Zahlreiche »Winke« befassten sich damit, Verbote und Auflagen zu umgehen. Demonstrationen waren verboten, also sollte im Gänsemarsch marschiert werden. In dieser Hinsicht können die Versuche der Kommunisten, im alltäglichen und oftmals privaten Umfeld zu agitieren, als eine Reaktion auf die Repressionen verstanden werden, die ihnen nicht erlaubten, im öffentlichen Raum zu handeln. Anders als Eric Weitz meint, wurden Kommunisten keineswegs aus den Fabriken herausgedrängt und mussten daher quasi zwangsläufig auf der Straße agitieren.130 Der Repressionsdruck auf der Straße war nicht geringer als im Betrieb. In der Tat erklärte ein Kommunist, der wegen seiner politischen Tätigkeit im Betrieb gefeuert werden sollte, Kommunisten wären gewissermaßen gezwungen im Betrieb zu agitieren, da es ihnen auf der Straße verboten sei.131 Da Kommunisten im gesamten öffentlichen Raum einem Repressionsdruck ausgesetzt waren, versuchten sie ihre Agitation in möglichst private, dem Zugriff von Polizei, Arbeitgebern oder Vereinsfunktionären ent­ zogene Räume zu legen, wobei sie teils eine große Kreativität entwickelten. Jenseits direkter Verantwortlichkeiten ist jedoch vor allem die (vermeintliche) Stärke der Arbeiterbewegung als Bedingung der Möglichkeit der Politisierung zu nennen. Nur weil die Arbeiterbewegung schon vor dem Ersten Weltkrieg ein teils sehr dichtes System an Vereinen und anderen »Vorfeldorganisationen« entwickelt hatte, das, so die herrschende Meinung der Literatur, in der Weimarer Republik noch einmal ausgebaut wurde, konnten die politischen Konflikte über diese Vorfeldorganisationen, zu denen im weitesten Sinne auch die Gewerkschaften zu rechnen sind, ins alltägliche Leben eindringen. Hinzu kommt, gerade für Leipzig, die tiefgreifende Politisierung des Fürsorgewesens. Im Gegensatz zur Forschung, die in diesen parteigebundenen Milieustrukturen oftmals eine Stärke der Arbeiterbewegung gesehen hat, wurde hier jedoch argumentiert, dass die Milieustrukturen letztendlich die Mobilisierungsfähigkeit der Arbeiterbewegung schwächten. Über Milieustrukturen konnten partei­ politische Konflikte in den Alltag eindringen und dort sozialen Zusammenhalt zerstören. Zum einen schwand die Möglichkeit, dass Kommunisten und Sozialdemokraten gesellig beisammen sein konnten und so etwas wie Vertrauen – ein Begriff, der im folgenden Kapitel zentral sein wird – aufbauen konnten, zum 129 Siehe die »Winke zur Agitation«, z. B. SAZ, 27.4.1929. Weiterhin BArch, RY 1 I/3/8–10/151, RY 1 I/3–8/166. 130 Weitz, Communism. Laut kommunistischer Strategie sollten die Betriebe die Knotenpunkte kommunistischen Handelns werden, was jedoch, wie unbestritten ist, misslang. Nachbarschaftszellen und Straßenagitation nahmen daher nur gegen den Willen der Kommunisten einen so zentralen Platz ein, so Weitz. Dies mag auf die Strategie der Führungsebene noch zutreffen, verkennt aber, welche Bedeutung das Wohnumfeld als lokales Territorium für viele Kommunisten im Alltag hatte. Seine Verteidigung gerade gegen Nationalsozialisten war, wie im vorherigen Kapitel gezeigt wurde, zentraler Bestandteil der kommunistischen Strategie. 131 SStAL, Arbeitsgericht 20140, Nr. 304.

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anderen aber führte die exzessive Politisierung aller Lebensbereiche dazu, dass sich viele Arbeiter von Politik insgesamt abwandten. Darüber hinaus ist auf die allgemeine Politisierung der Weimarer Gesellschaft im Gefolge der Revolution von 1918/19 zu verweisen, zu deren letzten Nachwehen die berüchtigte Märzaktion der KPD im Jahr 1921 gehörte.132 Die Revolution selbst war ein zutiefst politisches Ereignis, in der die Verfassung von Staat und Gesellschaft allgemein auf dem Spiel stand. Auch wenn sich die Republik in den Folgejahren, insbesondere nach der Hyperinflation 1923, stabilisierte, so blieb die Weimarer Republik eine höchst politisierte Gesellschaft, in der die Verfassung von Staat und Gesellschaft stets umstritten blieb.133 In Frankreich hingegen wurde, um dem Vergleich vorzugreifen, die republikanische Verfassung der Nation vor 1934 nicht ernsthaft infrage gestellt. In gewisser Weise war die Situation in Leipzig paradox. Einerseits boten Vereine keine Räume, in denen Kommunisten und Sozialdemokraten Geselligkeit fern von Politik pflegen konnten, andererseits war dies genau das, wonach sich viele Arbeiter, selbst politisch aktive, sehnten: unpolitische Geselligkeit. Diese Sehnsucht war gleichsam eine Reaktion auf die exzessive Politisierung. Sowohl die allgegenwärtige kommunistische Propaganda als auch die sozialdemokra­ tischen Versuche, Politik aus Vereinen zu verbannen, mögen zu dieser Sehnsucht nach dem Unpolitischen beigetragen haben. Wenn sich Kommunisten und Sozialdemokraten tatsächlich gemeinsam in Vereinen betätigten, dann vielleicht gerade deshalb, um Politik zu entkommen. Eine solche unpolitische Geselligkeit konnte jedoch weder dazu beitragen, Gräben zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten zu überbrücken, noch führte sie zu einer politischen Mobilisierung gegen die Nationalsozialisten. Die Sehnsucht nach Räumen, die frei von Politik blieben, war ein Faktor, der die Mobilisierungsfähigkeit der Arbeiterbewegung schwächte. Darüber hinaus führten die unterschiedlichen Politikverständnisse von KPD und SPD dazu, dass es, anders als in Frankreich, nicht zu einer Verständigung an der Basis kam. Daher sollen diese Politikverständnisse hier nochmals pointiert zusammengefasst werden. Eine Notiz in der SAZ vom Dezember 1930 über bevorstehende Wahlen im Konsumverein (KV), einer von Sozialdemokraten dominierten Organisation, in der die KPD versuchte, Zellen zu bilden, was wiederum die sozialdemokratische Mehrheit aufbrachte, bringt das kommunistische Politikverständnis exemplarisch auf den Punkt. »Ein Kommunist verkauft nicht wegen seiner Existenz im KV seine Überzeugungen, auch dann nicht, wenn ihm mit Entlassung gedroht wird. Ja, auch in dieser Frage unterscheiden wir uns von der SPD. Wir 132 Zur Revolution von 1918/19 Gallus; Grebing, Revolution; Smith; Kluge. Zur Märzaktion der KPD Koch-Baumgarten; S. Weber. Zur Politisierung im Zuge der Revolution in Leipzig sowie zur dortigen Revolution allgemein Dobson. 133 Zur Politisierung in Weimar Peukert, Republik. Zu Sachsen und der dortigen radikalen Rechten Lapp.

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kämpfen an allen Fronten des Klassenkampfes, gleichviel ob im KV oder im Privatbetrieb oder auf der Stempelstelle.«134 Die oben angesprochenen detaillierten »Winke zur Agitation« sind in dieser Hinsicht ebenso bezeichnend. Nicht nur gaben sie praktische Hinweise darauf, wie Kommunisten agitieren sollten, sondern schlugen auch vor, wo sie dies tun sollten, neben der obligatorischen Hausund Hofagitation etwa auf Feiern in Kleingartenkolonien, wo Arbeiter oft ihre Wochenenden verbrachten.135 Sozialdemokraten hätten eine Agitation in Kleingärten sicherlich als ein weiteres, ärgerliches Eindringen von Politik in private und gesellige Bereiche empfunden: nirgendwo ließen Kommunisten einen in Ruhe, nicht im Schwimmbad, nicht im Kleingarten. Aus kommunistischer Sicht machte diese Strategie sicherlich Sinn, war doch das Ziel der kommunistischen Bewegung eine proletarische Revolution. Wollten Kommunisten ein revolutionäres, proletarisches Klassenbewusstsein entfachen, so mussten sie Arbeitern zeigen, dass der Kapitalismus für alles Schlechte in ihrem Leben, für jede ärgerliche Kleinigkeit, bis hin zu Aborten in Schwimmbädern,136 verantwortlich war, und dass daher nur eine Revolution, die zur Überwindung des Kapitalismus führte, eine Lösung für diese Alltagsprobleme darstellte. Daher war es nur logisch, dass Kommunisten versuchten, Politik in alle Lebensbereiche zu tragen.137 Dieses Politikverständnis bedeutete auch, dass einfache Arbeiterinnen und Arbeiter in den Augen der KPD wichtige politische Akteure waren. Durch die mediale Darstellung beispielsweise von Konflikten zwischen Fürsorgepflegern und Fürsorgeempfängern wurden vor allem letztere gleichsam zu politischen Akteuren geadelt. Im kommunistischen Politikverständnis konnten und sollten die Massen stets politische Akteure sein. Das sozialdemokratische Politikverständnis unterschied sich hiervon radikal. Die Totenrede des Sozialdemokraten Meyer beim Begräbnis von Johannes Franke ist für dieses Politikverständnis bezeichnend: »Es geht auch mit Vernunft!« Vernunft sollte sozialdemokratische Politik charakterisieren, weshalb Parlamente und Parteiversammlungen der Ort für Politik waren, da hier Vernunft regierte, da hier überzeugende Argumente und »kluge Taktik« zählten. Dort ein »politisches Theater« zu veranstalten, wie es Kommunisten und Nationalsozialisten taten, hatte demgegenüber nichts mit ernsthafter Politik und dem Austausch vernünftiger Argumente zu tun. Sowohl auf der Straße als auch 134 SAZ, 10.12.1930. 135 Zu Schrebergartenvereinen Adam, S. 219–230, der behauptet, allerdings ohne viele Belege anzuführen, diese Gärten seien ein Ort sozialdemokratischer Politik gewesen. 136 BArch, RY 1 I/3–8/166. 137 Ähnlich Eumann, S. 129 f. Tatsächlich versuchten Kommunisten massiv, die Kämpfe der Gartenbesitzer für den Erhalt ihrer Kolonien zu politisieren. Die Versuche, ihnen die Gärten zu nehmen, seien nur ein weiteres Beispiel dafür, wie der Kapitalismus (und die kapitalistische Republik) arme Arbeiter behandelte, weshalb nur die KPD ihre Interessen als Proletarier verteidigen würde. Wie erfolgreich die KPD damit war, bleibt unklar; zumindest sind erhebliche Zweifel angebracht.

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im Parlament musste die Republik gegen diese »Kräfte des Chaos« verteidigt werden, die drohten, »alle gesellschaftlichen Bande« zu lösen, aber eben keine ernsthafte Politik betrieben. Deshalb hatte zumindest die SPD-Führung auch wenig Sympathie für die Kampfstaffeln und ihren Wunsch, die Nationalsozialisten wenn nötig auch mit Gewalt zu bekämpfen. Führende Sozialdemokraten lehnten es ab, wie sich Hans Weise erinnert, »mit dem Rüstzeug der Barbaren« zu kämpfen, »selbst als bereits Arbeiterblut an den Dolchen der SA klebte.« Die Mehrheit der Sozialdemokraten wollte die Kampfstaffeln als reine Propaganda­ truppe nutzen, während nur eine Minderheit um Weise »rohe Gewalt« für notwendig hielt.138 Dieses Politikverständnis – wobei nicht einmal klar war, dass Verhandlungen im Parlament wirklich politisch waren, im Rathaus beispielsweise sollte die Not verwaltet werden, aber eben nicht Gegenstand parteipolitischer Ausein­ andersetzungen sein – bedeutete, dass nur diejenigen als politische Akteure angesehen wurden, deren Aufgabe es auch war, sich um Politik zu kümmern. Der einzige politische Akt einfacher Arbeiter war die Stimmabgabe für die SPD, und vielleicht noch die Beteiligung an Wahlkampagnen, waren es doch vor allem Stimmen, die der »klugen Taktik« der SPD im Parlament zum Erfolg verhelfen konnten.139 In Milieuorganisationen, Schwimmbädern und anderen der Entspannung vorbehaltenen Räumen sollte Politik ebenso wenig stattfinden wie während sozialer Kämpfe wie Streiks. Während Kommunisten die Massen stets zu politischen Akteuren (selbstredend unter Führung der KPD) machen wollten, versuchten Sozialdemokraten, die politische Tätigkeit der Massen zu beschränken. Politik sollte, aus sozialdemokratischer Sicht, professionalisiert werden. Eine solche Taktik mag Tausende von Arbeitern für Demonstrationen im Wortsinne mobilisiert haben, nicht aber für politische Kämpfe, die über Wahlen hinausgingen. Sozialdemokraten und Kommunisten fochten somit nicht nur an unterschiedlichen Fronten, um die militärische Sprache zu gebrauchen, deren sich sowohl KPD als auch SPD bedienten, sondern eine gänzlich andere Schlacht, auf anderem Terrain, mit anderen Mitteln und Praktiken. Selbstredend kämpften die beiden »Armeen« auch für andere Ziele, für die Verteidigung der Republik in einem, für eine bolschewistische Revolution im anderen Fall. Aber selbst wenn sie darin übereingekommen wären, gemeinsam den Kampf gegen den Nationalsozialismus aufzunehmen  – und beide Parteien bekämpften durchaus die Nationalsozialisten  –, so hätten sie doch vollkommen ver138 SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 329. 139 LVZ, 23.2.1931. Die Schutzformationen der SPD sollten, wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, nicht aktiv am Kampf um die Straße teilnehmen, sondern »Ruhe und Ordnung« auf den Straßen herstellen. Die LVZ schrieb daher im gleichen Artikel: »Heute fühlt sich daher [wegen der heroischen Anstrengungen der Schutzformationen] kaum noch ein Bürger durch das Banditentum der Nazis politisch beunruhigt.« Dorpalen meint, die SPD habe sich dank der Disziplin ihrer Mitglieder in eine »Aktionspartei« verwandelt, wobei er auch immer wieder Leipzig als Beispiel anführt. Die Ergebnisse dieser Studie widersprechen Dorpalen.

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schiedene Vorstellungen davon gehabt, wie ein solcher Kampf aussehen sollte. In Lyon hingegen gab es, wie im zweiten Teil der Arbeit zu zeigen sein wird, solche Differenzen nicht. Die sozialdemokratische Reaktion auf die Allgegenwart kommunistischer (und auch nationalsozialistischer) Politik, das heißt, der Versuch Politik zu professionalisieren und damit im Alltag zu marginalisieren, war jedoch nicht weniger problematisch als die kommunistischen Versuche, den Alltag zu politisieren.140 Das Beispiel des ATSB, der versuchte, nach der Machtübernahme der NSDAP »unpolitisch« weiter zu arbeiten und dabei größten Wert darauf legte, Kommunisten vom Verband fernzuhalten, ist hierfür bezeichnend.141 Zwar trafen sich Spieler aufgelöster Vereine zu »illegalen« Spielen auf Sportanlagen, ihnen aber einen politisch-widerständigen Charakter zuzuschreiben, ginge fehl. Diese Versuche, das gesellige Vereinsleben unter Aufgabe von Politik am Leben zu erhalten, führten Entwicklungen fort, die in der Weimarer Republik begonnen hatten. Schon damals hatten die Arbeitervereine auf die Versuche der extremen Politisierung der Geselligkeit durch die KPD mit einer tendenziellen Depolitisierung der Geselligkeit geantwortet. Die Verbindung von Geselligkeit und Politik, die das Milieu gekennzeichnet hatte, funktionierte im Moment der politischen Radikalisierung nicht mehr. Kommunisten verlangten, der Politik eine absolute Priorität zu geben; die Ablehnung dieses Ansinnens resultierte in der völligen Depolitisierung. Insofern war der Wunsch, im neuen NS-Regime weiterhin eine unpolitische (Sport-)Geselligkeit pflegen zu können, die logische Konsequenz.142

140 Bei den Wahlen 1932 rief der ATSB seine Mitglieder dazu auf, für die SPD zu stimmen. Es wäre daher irreführend, diese Vereine als völlig unpolitisch zu betrachten. Allerdings beschränkte sich die Politik dort eben auf Wahlen, Heidenreich, S. 409. 141 Etwa Sportmuseum Leipzig, Archivstück Nr. 157, Nr. 2038. Gellert warnte in einem Rundschreiben vom März 1933 vor dem Eintritt von Kommunisten in die Vereine: »Haltet auf Reinheit der Bewegung!« Alles Politische, wie zum Beispiel das Singen kommunistischer Lieder, solle tunlichst unterbleiben. 142 Eine erheblich positivere Schilderung der Leipziger SPD bietet Vogel. Er analysiert in erster Linie die politischen Strategien der SPD, und weniger die konkreten Praktiken an der Basis und behauptet, die SPD hätte eine große Anzahl an Arbeitern mobilisieren können, was sich in Wahlergebnissen und Massenaufmärschen zeigte. Allerdings sitzt er zu einfach den glorifizierenden Selbstbeschreibungen der Partei auf. Auch in Leipzig war die SPD nicht in der Lage, im entscheidenden Moment Arbeiter zu mobilisieren. Dass selbst Vogel (S. 5) die Passivität der Mitglieder als einen Grund für das Scheitern der SPD anführt, ist bezeichnend und stellt seine Erfolgsgeschichte der SPD in Leipzig massiv infrage.

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3. Misstrauen und frustrierende Politik Im Juni 1932 hatten sozialdemokratische Frauen eine Antikriegskundgebung in Leipzig organisiert. Angeleitet von einer Instrukteurin aus Berlin wollten kommunistische Frauen die Gelegenheit nutzen, um unter ihren politischen Gegnern zu agitieren.1 Noch vor der eigentlichen Demonstration hatten die Kommunistinnen Flugblätter produziert, die vor Arbeitsbeginn an den Fabriktoren verteilt werden sollten. Jedoch kamen die Frauen zu spät und konnten die Flugblätter erst am Abend verteilen, was bedeutete, wie die Instrukteurin frustriert festhielt, dass die Arbeiterinnen die Flugblätter nicht während der Arbeit diskutieren konnten. Hinzu kam, dass die »Genossinnen des Stadtteils« entgegen ihrem Versprechen nicht beim Flugblattverteilen geholfen hatten. Ihr Bericht, der auf den folgenden Seiten im Detail rekonstruiert wird, soll als Einleitung in die Thematik dieses Kapitels – Vertrauen und Misstrauen – dienen. Er zeigt beispielhaft, wie Akteure versuchten, Vertrauen zu schaffen, welche (teils kontraproduktiven) Methoden sie dabei anwandten, und welchen Problemen sie sich gegenübersahen. Am Tag der eigentlichen Demonstration hatten sich etwa 150 Sozialdemokratinnen, 16  SAJ-Musiker und 20  Kommunistinnen sowie einige Jugend­ genossen am Hauptsammelpunkt versammelt. »Jedoch sonderten sich die Kommunistinnen sofort ab, sie trauten sich nicht unter die SPD-Frauen sich zu mischen  – nur langsam bekamen einige Fühlung. […] Zum Beispiel wie unsere Genossinnen nicht wissen wie anknüpfen zeigt folgendes Beispiel«, schrieb die Instrukteurin in ihrem Bericht. »Ich kam mit 2 Genossinnen an und als wir an einer Gruppe SPD-Frauen vorbeikamen sagte ich ›Guten Tag‹. ›Kennst Du diese?‹ frug mich erstaunt eine Genossin. ›Nein‹ sagte ich – aber das ist doch die erste Fühlungsnahme, um zu zeigen, dass wir auch dazugehören!‹ antwortete ich. Ach soo meinte die Genossin gedehnt.« Ein wenig später berichtete sie von einem »Jugendgenossen mit Sowjetstern«, der um die »SPD Frauen« [sic] herumschlich, »sein Gesicht war verlegen wusste nicht wie anfangen.« Der Instrukteurin aber gelang es mit einigen Sozialdemokratinnen ins Gespräch zu kommen, so dass sie schließlich deren Leiterin traf. Bald fragte diese die Instrukteurin, ob sie sich der Gruppe anschließen wolle und lud sie zu einem sozialdemokratischen Frauenabend am folgenden Montag ein, wo sie selbst einen Vortrag zum Thema Krieg und Frieden halten würde, über den man anschließend diskutieren würde. Die Instrukteurin, die sich als eine (oppositionelle) Sozialdemokratin aus Berlin ausgab, fragte sodann, ob nur Sozialdemokratinnen an dem Frauenabend teilnehmen würden, oder ob »auch 1 Zum Folgenden BArch, RY 1 I/3/8–10/155, Bl. 53–69.

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andere Frauen die noch nicht in der SPD organisiert sind eingeladen würden«, woraufhin die SPD-Leiterin antwortete: »Die Genossinnen bringen immer ihre Bekannten und Freundinnen mit.« Auf die Nachfrage, »ob sie noch nie Frauen aus anderen Parteien z. B. Frauen von der KPD eingeladen hätten zu einer Aussprache und Diskussionsabend«, erklärte die Leiterin: »Nein, so weit sind wir noch nicht. Die Kommunistinnen sind solche Radauweiber, die würden unseren Frauenabend nur auseinanderschlagen wollen.« In diesem Moment mischte sich eine andere Sozialdemokratin ein und fragte, ob die (SPD-)Genossinnen in Berlin denn Kommunistinnen eingeladen hätten, und »ob da etwas gescheites schon dabei herausgekommen sei, in Leipzig dürften sie das nicht tun, das sei verboten.« Die Instrukteurin bejahte die Frage, und fügte hinzu, dass »sie sehr gute Diskussionen geführt haben und auch Beschlüsse gefasst hätten, wie man die Nazis gemeinsam im Häuserblock zurückschlage.« Diese Bemerkungen führten zu einer allgemeinen Diskussion über die Zusammenarbeit zwischen den beiden Parteien. In Chemnitz, so eine Sozial­ demokratin, hätte sich die SAJ an die kommunistische Jugend gewandt, um eine gemeinsame Kundgebung gegen den Krieg durchzuführen, aber die Kommunisten hätten dies nur unter ihrer Führung tun wollen. »Was meinste dazu! Da siehste doch wie unehrlich die Kommunisten ihre Rote Einheitsfront auffassen«, rief eine Sozialdemokratin. Die Kommunisten jedenfalls wollten keine Einheitsfront. Dem entgegnete die Instrukteurin, dass, wenn die Führungen sich nicht einigten, »wir dies unten machen [müssen].« Auch wenn einige der Sozialdemokratinnen skeptisch einwendeten, dass man doch Führer bräuchte, so stimmten doch die meisten zu, dass eine Zusammenarbeit dringend not­ wendig sei. Nach einiger Zeit passierte der Demonstrationszug einige Kommunistinnen, die am Rande des Zuges standen und riefen: »Arbeiterfrauen denkt an 1914!« Die Rufe lösten in der Demonstration helles Gelächter aus, und eine Sozialdemokratin rief gar: »Jag sie doch weg!« Die Instrukteurin aber wandte ein: »Sie haben doch nichts unrechtes gerufen. Denkt an 1914. Ich glaube wir demonstrieren gegen den Krieg. Da ist doch die Erinnerung richtig. Wir sollten nie vergessen, dass sie auch Arbeiterfrauen sind und dass es einmal eine Zeit gab wo auch die sozialdemokratischen Frauen ihre Zeitung und Flugblätter im Kinderwagen fortschafften und heimlich den Arbeitern gaben.  – Wir erlebens doch dass es auch in der Republik nicht besser ist wie unter dem Kaiser.« Die letzte Bemerkung erzürnte die Sozialdemokratinnen natürlich. Wenigstens gäbe es nun die Sozialfürsorge, und auch das Wahlrecht habe man, auch wenn es sehr schlecht sei. Die sozialdemokratische Leiterin wies dann ihre Untergebenen an, die Kommunistinnen zu ignorieren, aber die Instrukteurin schlug vor, man solle lieber zurückzurufen: »Wir denken an 1914.« Die Kommunistinnen, sagte sie, wollten gegen den Krieg und für den Frieden demonstrieren, genauso wie es die sozialdemokratischen Frauen taten. Eine der Sozialdemokratinnen, die von den Argumenten der Instrukteurin offenbar angetan war, schlug gar vor, den Kommunistinnen zuzurufen, sie sollten mitdemonstrieren. Die Leiterin aber 141 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

lehnte dies ab, schließlich hätten die Kommunisten in der folgenden Woche ihre eigene Demonstration. Wenige Minuten später kam der Demonstrationszug erneut an der gleichen Gruppe Kommunistinnen vorbei, die zur nächsten Kreuzung gelaufen waren. Natürlich erkannten die Sozialdemokratinnen die Kommunistinnen wieder und lachten sie aus. Diesmal riefen die Kommunistinnen: »Frauen unsere Hand [sic] vereint schlagen jeden Feind!« Erneut erregten sich die Sozialdemokra­ tinnen. Einige schlugen vor, sie von der Polizei vertreiben zu lassen, eine andere erklärte: »Dass [sic] stimmt schon, wenn sies nur tun würden… Aber die haben kein Interesse daran.« Die Leiterin war vor allem um Ruhe und Ordnung besorgt, da sie einen Zusammenstoß vermeiden wollte. Eine andere Sozialdemokratin aber rief aufgeregt: »Aber sie wollen blos unsere Demonstration stören, passt auf was wir am Volkshaus erleben werden, da gibt es sicherlich was ab.« »Warum? Glaubst Du dass die Kommunistinnen uns verprügeln werden«, fragte die Instrukteurin nach. »Das wäre nicht das erstemal bei uns.« – »Soo [sic] das braucht aber nicht zu sein, wenn die Grünen unsere ›Freunde‹ dort drüben in Ruhe lassen passiert gar nichts.« – »Du hast ja gar keine Ahnung wie in Leipzig die Kommunisten frech sind, ganz junge Bengels schicken sie vor, einmal haben sie einer unserer Genossinnen ins Gesicht gespuckt.« Das war der Instrukteurin zu viel. »Unmöglich, hast Du das miterlebt, warst Du dabei?« – »Nein, aber unsere Leiterin erzählte es uns im Frauenabend.« – »Was man nicht selbst gesehen hat und nur so nacherzählt bekommt soll man nicht immer gleich glauben.« Ein Gegenbeispiel, so hoffte die Instrukteurin wohl, könnte hier helfen: »Ich komme mit viel Kommunistinnen zusammen, und sie haben das grösste Vertrauen zu uns SPD-Mitgliedern und wollen nur dass die Arbeiter wirklich zusammenkommen sollen, aber so, dass uns nicht immer die Rücksicht auf die Wirtschaft hindert.« Die Sozialdemokratin blieb skeptisch: »Aber das muss doch sein, kannst doch nicht einfach wie die Kommunisten es wollen einfach streiken und die ganze Wirtschaft zu Klumpen hauen.« – »Das glaube ich wollen die Kommunisten auch nicht. Nur wir sollen uns besinnen, das dch [sic] früher wie wir die eifrigsten Streikvertreter waren und dass wir da vorwärts gekommen sind gross und stark wurden und jetzt aber rückwärts gehen, weil wir überhaupt nicht mehr streiken.« – »Du bist also dafür, dass wir aus den Betrieben rauslaufen sollen? Dafür bin ich nun gar nicht!« – »Was soll mann [sic] dann aber machen, die Unternehmer werden doch immer frecher.«  – »Ja ich weiss auch nicht wohin das noch führen soll. Etwas müste [sic] man schon tun. Jetzt haben wir ja auch niemand mehr in der Regierung.«  – »Da müssen wir eben selbst etwas tun – das müssen wir doch den Kommunisten lassen, die versuchen etwas zu machen.« – »Ja blos [sic] wie!« – »Na wahrscheinlich ist das doch besser etwas zu machen, als wie wir heute zu demonstrieren und schöne Lieder zu singen usw.« – »Ja man hätte müssen wenigstens Plakate oder ein Transparent Gegen den Krieg für den Frieden mitnehmen müssen.« Andere Sozialdemokratinnen stimmten zu: »Wir haben ja eins gehabt, aber wir mussten es zu Hause lassen, weil’s verboten ist.« Eine weitere ergänzte: »Die Kommunisten haben 142 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

doch aber immer Transparente, warum ist für die nicht verboten.« Die Leiterin erklärte: »Wir hätten die Demonstration sonst nicht durchführen dürfen, weils Sonntag ist.« Eine andere Sozialdemokratin wandte ein: »Na wir sind doch erst um 11 Uhr zusammengekommen und um 1 Uhr abmarschiert da ist doch keine Kirche mehr.« – »Das macht nichts, wir haben jetzt eine andere Reichsregierung das darfst Du nicht vergessen«, erwiderte die Leiterin. In diesem Moment mischte sich die Instrukteurin wieder ein: »Ich glaube Du hast recht, wir hätten sollen Plakate und Transparente trotzdem mitnehmen, wenn sies uns auch verboten hatten.« Nun reichte es der Leiterin: »Wenns verboten ist dann ists eben verboten… Warum Genossin bist Du immer anderer Meinung wie wir – höt [sic] doch endlich mal auf zu quäken.« Aber eine andere Sozialdemokratin sprang der Instrukteurin bei: »Na lass doch die Genossin erzählen, was biste so aufgeregt, oder dürfen wir auch nicht reden in der Demonstration.« Entnervt gab die SPD-Leiterin auf: »Macht was ihr wollt, aber lauft ordentlich gerade im Zug – singt ein Lied das ist gescheiter.« Nach einem kurzen Gesang der Internationale wurde die Diskussion fortgeführt, wobei es diesmal um die Haltung der japanischen Sozialisten zu Kriegskrediten ging [sic!]. Dann riefen wieder einige Kommunisten, Männer wie auch Frauen: »Schließt Euch zusammen mit den Kommunisten, dann schlagen wir die Faschisten!« Eine Sozialdemokratin kommentierte: »Weißt du, Genossin, wenn man mit denen den Faschismus bekämpfen würde, dann würdest du heute nicht mehr nach Hause kommen.« Woraufhin die Instrukteurin unter Gelächter sagte: »Dann würden wir vielleicht beim Genossen Fleissner landen.« In der Zwischenzeit hatte eine andere SPD-Leiterin die Polizei über die Kommunistinnen informiert, die sie dann auch vertrieb, was nicht bei allen Sozial­ demokratinnen auf Zustimmung stieß. So kommentierte eine Sozialdemokratin: »Überhaupt ist das bei uns gar nicht mode [sic], jemand der Polizei zu denunzieren. Der Denunziant ist der schlechteste im ganzen Land.« Andere Sozialdemokratinnen stimmten zu: »Das ist schon richtig, man weiss doch gar nicht, ob die Polizei nicht lauter Nazis sind. Und da liefert man dann eigene Genossen noch aus.« Als die Demonstration schließlich am Volkshaus ankam, war dort nicht einmal eine rote Fahne gehisst, sehr zur Empörung der Frauen. »Aber es sind ja mal blos [sic] die Weiber.« Im Volkshaus selbst hielt die Reichstagsabgeordnete Klara Bohm-Schucht eine Rede, während die Instrukteurin versuchte, mit zwei SAJ-Mitgliedern ins Gespräch zu kommen, die ihr während der Diskussionen immer wieder zugestimmt hatten und nun ein Flugblatt lasen. Zwar gaben die beiden Mädchen zu, dass es viel gab, das ihnen an der SPD nicht gefiel, »aber die politische Ver­ rohung, wie sie bei der kommunistischen Jugend ist, gefällt keinem und zieht niemand an, wenn sie’s auch ehrlich meinen.« In ihren abschließenden Bemerkungen beklagte die Instrukteurin noch, dass örtliche Kommunistinnen es abgelehnt hätten, innerhalb des Zuges zu marschieren, da sie fürchteten, von Genossen gesehen zu werden, die dann glauben würden, sie hätten sich der SPD angeschlossen. 143 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

Klaus-Michael Mallmann, dessen Studie zu Kommunisten in der Weimarer Republik schon mehrfach erwähnt wurde, argumentiert, wie Winfried Roth im Vorwort zusammenfasst, dass das alte sozialdemokratische Milieu der politischen Spaltung zum Trotz Bestand hatte und im Moment der Bedrohung von außen aktiv werden konnte.2 Zwar konzentriert sich seine Studie nicht auf Leipzig, aber er zitiert Leipzig immer als Beispiel für eine Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten.3 Während Mallmanns Ansatz, die KPD als soziale Bewegung zu betrachten und Praktiken an der Basis zu analysieren, überaus überzeugend ist, deuten die Ergebnisse dieser Studie in eine andere Richtung. Wie schon die beiden vorherigen Kapitel zeigten, kam es zu vielen Konflikten und wenig Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten in Leipzig. Auch dieses Kapitel wird Antagonismen zwischen Anhängern beider Parteien an der Basis in den Blick nehmen. Dort herrschte, so die zentrale These des Kapitels, eine Atmosphäre allgemeinen Misstrauens. Kommunisten und Sozialdemokraten konnten bei zahlreichen Anlässen »lernen«, dass sie sich nicht nur gegenseitig misstrauen sollten, sondern auch, dass es gefährlich sein konnte, den eigenen Parteigenossen zu vertrauen. Stets mussten sie fürchten, dass sie angelogen wurden; nur selten konnten sie sicher sein, dass ihnen die Wahrheit gesagt wurde. Das Ergebnis war eine Art epistemische Krise: es herrschte eine Ungewissheit darüber, was wahr und was unwahr war.4 Diese Unsicherheit bedeutete eine immense Erschwernis für jede Art von kollektiver Mobilisierung gegen die Nationalsozialisten. Die sozialdemokratische Demonstration und der dortige kommunistische Agitationsversuch kann als erstes Beispiel dafür dienen, wie im folgenden Vertrauen und Misstrauen analysiert werden soll. Von Beginn an versuchte die KPD-Instrukteurin sowohl persönliches Vertrauen in sie selbst herzustellen, als auch Vertrauen in Kommunisten insgesamt, wenn auch nicht notwendigerweise in die KPD als Organisation; gleichzeitig versuchte sie, Misstrauen gegenüber der Führung der SPD zu schüren. Als sie am Sammelpunkt der Demonstration ankam begrüßte sie, sehr zur Überraschung einer ortsansässigen Kommunistin, eine ihr unbekannte Sozialdemokratin. So zeige sie, »dass wir auch dazugehören«, erklärte sie. Andere Kommunistinnen hingegen sonderten sich ab und schlichen um die Frauen herum, wie sie kritisch bemerkte. So konnte man nicht mit den Frauen ins Gespräch kommen und ihr Vertrauen erlangen. Das Vertrauen der Sozialdemokratinnen aber benötigte sie dringend. Da sie sich als Sozialdemokratin ausgab – eine verbreitete Taktik der KPD, wie sie später in ihrem Bericht andeutete  –, musste sie die »echten« Sozialdemokratinnen dazu 2 Mallmann, Kommunisten, S. X. 3 Ebd., S. 261–283. Mit Bezug auf Leipzig notiert er, S. 263, Heinz Zöger referrierend, dass dieser keinerlei »Aggressivität zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten« beschreibt. Angesichts des Mordes an Warkus eine überraschende Aussage! 4 Die hier vorgestellten Ideen sind von dem Begriff der »Krise der Wahrheit« bei Healy, Kap. 3, inspiriert.

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bringen, ihrer falschen Identität Glauben zu schenken und auf ihren Betrug hereinzufallen. Zumindest anfangs scheinen ihre Lügen nicht aufgeflogen zu sein, auch wenn es etwas unklar bleibt, ob sie ihre sozialdemokratische Maske bis zum Ende behielt. Das persönliche Vertrauen, das die Instrukteurin zu gewinnen suchte, war jedoch nur Mittel zu einem wichtigeren Zweck: die Sozialdemokratinnen sollten Kommunisten allgemein vertrauen. Persönliches Vertrauen sollte gleichsam die Möglichkeit für Vertrauen in Strukturen eröffnen. Diese »Struktur« war jedoch nicht die Kommunistische Partei selbst, sondern Kommunisten und Kommunistinnen »unten« an der Basis. Es ging nicht so sehr darum, die Sozialdemokratinnen von der Richtigkeit der Strategie der KPD zu überzeugen, sondern davon, dass nicht alle Kommunistinnen »Radauweiber«, sondern »auch Arbeiterfrauen« waren, mit denen man diskutieren musste. Berlin sollte hierfür als Beispiel dienen um zu zeigen, dass sich Sozialdemokratinnen und Kommunistinnen vertrauen konnten und auf dieser Basis erfolgreich gegen die Nationalsozialisten vorgehen konnten. Ihre Behauptung, sie käme in Berlin viel mit Kommunisten zusammen und diese hätten »das grösste [sic] Vertrauen zu uns«, implizierte, dass auch Sozialdemokratinnen den KPD-Mitgliedern vertrauen könnten; weshalb sollte dies, der offiziellen Feindschaft zwischen den Parteien zum Trotz, nicht auch in Leipzig möglich sein? Die Instrukteurin befand es nicht für nötig, genau zu erklären, was sie mit Vertrauen meinte, aber eine Interpretation liegt durchaus nahe: Kommunistinnen und Sozialdemokratinnen – so ihre erfundene Behauptung – in Berlin glaubten an die Ehrlichkeit ihres Gegenübers und an deren ernsthaften Willen, gemeinsam gegen die Nationalsozialisten vorzugehen, ohne dabei parteipolitische Hintergedanken zu haben. Damit das Berliner Beispiel glaubhaft erschien und funktionierte, also die Sozialdemokratinnen in Leipzig dazu gebracht wurden, dortigen Kommunistinnen zu vertrauen, musste sie dafür sorgen, dass die Sozialdemokratinnen ihr persönlich vertrauten. Der Bericht von der Demonstration verdeutlicht, und die Instrukteurin war sich dessen vollkommen bewusst, wie wichtig persönliches Vertrauen war, um grundsätzliches Vertrauen zu schaffen. Ihre gesamte Darbietung beruhte darauf, sich selbst glaubhaft als vertrauenswürdige Sozialdemokratin zu präsentieren. Gleichzeitig musste sie mit existierenden Vertrauensbeziehungen zwischen den Sozialdemokratinnen arbeiten und diese infrage stellen. Dies betraf offensichtlich das Vertrauen, das Sozialdemokratinnen in die Parteiführung hatten, aber auch das Vertrauen, das sie untereinander und insbesondere in ihre Gruppenleiterin hatten, die den Frauen persönlich bekannt war. Der Behauptung der Leiterin etwa, ein junger (kommunistischer) Bengel habe einer Genossin ins Gesicht gespuckt, schenkten die Sozialdemokratinnen wohl Glauben. Die Instrukteurin musste diese persönlichen Vertrauensbeziehungen aufbrechen um ihre positive Darstellung der Situation in Berlin plausibel zu machen. In Anbetracht der Tatsache, dass die Sozialdemokratinnen ihre Leiterin, im Gegensatz zur angeblichen Sozialdemokratin aus Berlin, kannten, war dies wohl keine leichte Aufgabe. 145 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

Kommunisten war allgemein bewusst, wie wichtig persönliche Beziehungen zur Schaffung von Vertrauen waren, aber sie scheiterten dennoch oft daran, solche persönlichen Vertrauensbeziehungen aufzubauen. Um etwa erfolgreich für Streiks zu werben, benötigten Kommunisten das Vertrauen der Arbeiter, dass sie einen Streik erfolgreich führen könnten und die Arbeiter nicht für »politische Abenteuer« missbrauchen würden. Arbeiter aber hatten dieses Vertrauen nicht, wie ein Bericht aus dem Jahre 1932 bemerkte: »Das Misstrauen der Arbeiter zeigt sich vor allem bei Diskussionen vor dem Betrieb, noch stärker in den Belegschaftsversammlungen. Die Arbeiter waren zum Teil der Auffassung, wir wollten sie in Abenteuer stürzen, weil wir nur jetzt, also während der Lohn­ bewegung, zu ihnen kamen, uns vorher jedoch sehr wenig hatten sehen las­ sen.«5 Ohne dauerhaft in Kontakt mit den Arbeitern zu sein, ließ sich Vertrauen nicht schaffen. Auch intern war die KPD auf gegenseitiges Vertrauen ihrer Mitglieder und Kader angewiesen, was sie jedoch vor schwere Probleme stellte. Die hohe Fluktuation der Parteimitglieder etwa bedeutete, dass Parteimitglieder wenig Gelegenheit hatten, sich gegenseitig kennenzulernen und so die Grundlage für Vertrauen zu legen. Bei Polizeibefragungen, etwa auf die Frage von wem sie illegales Material erhalten hatten, erklärten Kommunisten immer wieder, sie hätten den Mann oder die Frau nicht gekannt. Dies mag sehr wohl eine Schutzbehauptung gewesen sein, um Genossen nicht zu verraten, in einem Fall jedoch konnte ein Kommunist mit einem Argument aufwarten, das nicht so leicht von der Hand zu weisen ist. Befragt, wer seine Mitgliedsbeiträge gesammelt hätte, antwortete er: »Den Kassierer lernte man gar nicht kennen, da immer ein anderer kam.«6 Selbst wenn er dies nur sagte, um den Genossen zu schützen, so belegt die Aussage doch, wie instabil persönliche Beziehungen in der KPD waren. Unter diesen Bedingungen Vertrauen in Genossen zu fassen fiel schwer, auch wenn es in Anbetracht der Spitzelangst unerlässlich war. Doch selbst wenn sich solche persönlichen Vertrauensbeziehungen heraus bildeten, war dies nicht notwendigerweise vorteilhaft für das Funktionieren der Partei insgesamt, insbesondere in internen Konfliktsituationen. Idealerweise sollten Kommunisten sowohl ihren Genossen als auch der Partei insgesamt vertrauen. Ein Artikel in der SAZ über die Rote Jungfront verdeutlicht diese beiden Elemente. »Die Einordnung des einzelnen in den Gesamtrahmen der Organisation, die Pflege der Kamerad­ schaftlichkeit ist der oberste Grundsatz der Organisation. Diese beiden Bestandteile einer Arbeiterjugendorganisation entwickeln und pflegen wir in der Roten Jungfront durch Ausmärsche ins Gelände, auch Nachtausmärsche und Ferienfahrten ins Gebirge. […] Unterhaltungsabende, bei denen wir zwanglos zusammenkommen und uns näher kennen lernen, sollen den Geist der Solidarität unter uns festigen und fördern.«7 Auch wenn in dem Artikel nicht 5 BArch, RY 1 I/3/8–10/146. 6 SStAL, PP S 1453. 7 SAZ, 8.3.1929.

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explizit von Vertrauen die Rede ist, so lässt er sich doch in dieser Hinsicht interpretieren. Einerseits sollte in der Roten Jungfront Kameradschaftlichkeit und der »Geist der Solidarität« gepflegt werden, das heißt, persönliche Nahbeziehungen, auf denen Vertrauen aufbauen konnte; andererseits sollten die jungen Kommunisten lernen, sich in die Gesamtorganisation der Partei einzuordnen und der Führung zu vertrauen. Idealerweise sollten beide Elemente in Verbindung miteinander wirken. In der Praxis allerdings kam es immer wieder zu Konflikten zwischen ihnen, wie ein offener Brief an die Mitglieder des KJVD aus dem Jahr 1930 zeigt. Bei bolschewistischer Selbstkritik solle keine Rücksicht auf Freundschaften und ­Cliquen genommen werden, hieß es dort; solche würden nur »die Abgeschlossenheit des Verbandes und damit das linke Sektierertum« bestärken. Stattdessen müsse das »Vertrauen der Jungarbeiter zum Jugendverband als [ihrem einzigen] Führer« gestärkt werden.8 Persönliche Vertrauensbeziehungen und Loyalitäten konnten insbesondere dann zum Problem für die Parteihierarchie werden, wenn ungehorsame Parteimitglieder ausgeschlossen werden sollten.9 Diese Beispiele werfen wichtige Fragen auf. Was meinten die Akteure, wenn sie von »Vertrauen« sprachen? Welche Konsequenzen hatte Vertrauen, oder der Mangel daran, für die Mobilisierungsfähigkeit der Arbeiterbewegung? Kommunisten in Berlin hatten größtes Vertrauen in Sozialdemokraten, behauptete die KPD-Instrukteurin; Arbeiter hatten kein Vertrauen in die KPD, die sie zum Streik aufrief, beklagte die KPD; kommunistische Jugendliche sollten dem Jugendverband vertrauen und nicht ihren Freunden, forderten Jugendfunktio­ näre. Vertrauen war und ist ein Wort der Alltagssprache, weshalb sich niemand die Mühe machte, zu erklären, was damit gemeint war. Es wurde einfach verstanden. In der Einleitung wurde vorgeschlagen, Vertrauen als Glauben an die Ehrlichkeit des anderen zu interpretieren. Hilft dieser Ansatz, die hier kurz vorgestellten Beispiele zu verstehen? In Berlin glaubten Kommunistinnen, wenn wir die Behauptungen der KPD-Instrukteurin für einen Moment für bare Münze nehmen, daran, dass die Sozialdemokratinnen ehrlich mit ihnen gegen die Nationalsozialisten vorgehen wollten; die Arbeiter in Leipzig glaubten nicht daran, dass die KPD »wirklich« einen erfolgreichen Streik führen wollte und konnte, sondern verdächtigte sie, den Streik für »Abenteuer« missbrauchen zu wollen; kommunistische Jugendliche schließlich sollten an die Fähigkeit der Organisation glauben, die richtige Entscheidung zu treffen. In keiner dieser Situationen hatten die Beteiligten die Möglichkeit, die notwendigen Informa­ tionen einzuholen, um die Wahrheit der Behauptungen zu überprüfen: sie mussten vertrauen oder misstrauen. Da sie in vielen Situationen gelernt hatten, wie gefährlich es sein konnte, der KPD zu glauben, verweigerten Arbeiter 8 BArch, RY 1 I/4/1/74 KJVD, Bl. 172 ff. 9 Aus theoretischer Perspektive ist anzumerken, dass diese informellen Freundesnetzwerke selbstverständlich auch Strukturen darstellten, wenn auch weniger formalisierte und institutionalisierte Strukturen.

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der KPD oftmals das Vertrauen. Diese Ungewissheit darüber, was wahr und was falsch war, schuf die epistemische Krise, die das Arbeitermilieu in Leipzig kennzeichnete. Wie trug dieses Misstrauen dazu bei, dass es nicht zu einer parteiübergreifenden Mobilisierung gegen die Nationalsozialisten kam? Ohne Vertrauen kommt es, so soziologische Studien, kaum zu effektiver Zusammenarbeit. Ohne Vertrauen würden Arbeiter nicht mit der KPD zusammenarbeiten, etwa um einen Streik zu organisieren. Andererseits war das Vertrauen, das Kommunistinnen in Berlin angeblich in Sozialdemokratinnen hatten, eine Voraussetzung für den Kampf gegen die Nationalsozialisten. Allerdings existierte dieses Vertrauen nur in den Behauptungen der KPD-Instrukteurin. In der historischen Wirklichkeit hatten Sozialdemokraten zahlreiche Gelegenheiten durch persönliche Er­fahrung, Gerüchte, Geschichten, die ihre (vertrauenswürdigen!) Genossen erzählten oder die sie in der Zeitung lesen konnten, zu lernen, dass man Kommunisten besser nicht vertraute. Der Brief, den die KJVD-Führung an die Mitgliedschaft sandte, ist in dieser Hinsicht komplizierter. Hier war nicht der Mangel an Vertrauen das Problem, sondern, aus der Perspektive der Führung, gewissermaßen dessen »Fehlplatzierung«. Innerhalb der Cliquen scheint Vertrauen existiert zu haben. Junge Kommunisten vertrauten ihnen persönlich bekannten Genossen (mehr Beispiele hierfür später), aber nicht der Führung oder der (anonymen) Organisation. Für kleine Gruppen war Vertrauen vermutlich essentiell, insbesondere im Kontext gewaltsamer Auseinandersetzungen mit Nationalsozialisten. Für die KPD als Organisation hingegen war eine solche »Fehlallokation« von Vertrauen äußerst problematisch, stand sie doch der zentralen Führung der Partei im Wege. Die Versuche der Partei, mit diesem Problem umzugehen, führten, wie zu zeigen sein wird, zu massiven internen Spannungen. Im Folgenden werden verschiedene Praktiken untersucht, die politisch aktiven Arbeitern in Leipzig auf die ein oder andere Weise »lehrten«, dass sie eher misstrauen denn vertrauen sollten. Zunächst werden Kommunisten, die sich als Sozialdemokraten ausgaben, wie die Instrukteurin vom Beginn des Kapitels, untersucht. Um die Sozialdemokratinnen erfolgreich gegen die Parteiführung zu agitieren, musste sie deren Vertrauen gewinnen. Allerdings beruhte ihre gesamte Selbstdarstellung auf einem Betrug, der, wäre er aufgedeckt worden, all ihre Bemühungen zunichte gemacht hätte, hätte er den Sozialdemokratinnen doch noch einen weiteren guten Grund gegeben, den Kommunistinnen zu misstrauen. In anderen Fällen wurden solche »falsche Sozialdemokraten« enttarnt. Allerdings führte dies nicht nur zu Misstrauen gegenüber Kommunisten, sondern auch innerhalb der SPD, da Sozialdemokraten nie sicher sein konnten, ob ihre angeblichen Genossen nicht in Wahrheit Spitzel der KPD waren. Zum zweiten werden Denunziationen untersucht, eine Praxis, die ebenfalls auf der oben geschilderten Demonstration beobachtet werden konnte. Zunächst hatte jemand die am Rande stehenden Kommunisten an die Polizei denunziert, was selbst die Sozialdemokratinnen empörte, mit denen die Instrukteurin 148 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

sprach. Solche Denunziationen an die Polizei waren ein deutliches Zeichen, dass nicht vertraut werden konnte. Viele der zu diskutierenden Denunziationen hatten aber nicht die Polizei, sondern die lokale Öffentlichkeit als Adressaten, was sie für die Formierung einer lokalen Gemeinschaft relevant macht. Die kurze Bemerkung am Ende des Berichts der Instrukteurin, dass Kommunisten sich weigerten, sich unter die Sozialdemokratinnen zu mischen, da sie fürchteten, von ihren eigenen Genossen erkannt zu werden und daher innerhalb der KPD Probleme zu bekommen, deutet auf einen dritten Adressaten für Denunziationen hin: die eigene Partei. Hiermit ist ein letzter Aspekt angesprochen, der in diesem Kapitel diskutiert wird. Das weitverbreitete Misstrauen belastete nicht nur Beziehungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, sondern auch innerhalb der Parteien selbst, vor allem der KPD. Allerdings war Misstrauen nicht das einzige Problem, mit dem die KPD zu kämpfen hatte, wie sich zeigen wird. Hinzu kam, dass die Parteimitglieder eine erhebliche Passivität an den Tag legten. Obwohl sie mit ihrem Parteieintritt erklärt hatten, der Partei aktiv zu dienen, weigerten sie sich in der Praxis für diese aktiv zu werden. All dies – »falsche Sozialdemokraten«, Denunziationen und die internen Schwierigkeiten vor allem der KPD – trug dazu bei, dass die Arbeiterbewegung auch in Leipzig dem Aufstieg der Nationalsozialisten keinen effektiven Widerstand entgegensetzte.

3.1 Oppositionelle Sozialdemokraten und Kommunistische Spitzel Die Abbildung 2 zeigt eine Demonstration im Winter 1933. Das Photo ist im »Jahrbuch zur Geschichte der Stadt Leipzig« (1975) abgedruckt, wo es als Beleg für eine Einheitsfront zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten dient.10 Die Insignien auf der Fahne  – die KPD-Symbole Hammer und Sichel, sowie die sozial­demokratischen Drei Pfeile – deuten in der Tat daraufhin: hier marschierte die Einheitsfront auf. Klaus-Michael Mallmann verweist ebenso auf das Photo als Beleg für eine Zusammenarbeit zwischen KPD und SPD an der Basis.11 Das Original des Photos befindet sich im Stadtarchiv Leipzig.12 Der Beschriftung auf der Rückseite des Photos zufolge zeigt es eine KPD-Demonstration am Alten Messplatz im Januar 1933. Drei weitere Photos zeigen das gleiche Ereignis.13 Ist das erste Photo wirklich ein Beleg für eine Einheitsfront von unten? Eine gewisse Skepsis ist angebracht. Vielleicht hatten Kommunisten einfach die Symbole aufgemalt, um den Eindruck einer Einheitsfront zu erwecken, um 10 Friederici u. Welckerling. 11 Mallmann, Kommunisten, S. 377. Er zitiert den Aufsatz von Friederici u. Welckerling, nicht aber das Original des Photos. 12 StAL, Photo 1988/27597. 13 StAL, Photos 1988/27594–1988/27596.

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Abb. 2: KPD-Demonstration, Januar 1933 (Stadtarchiv Leipzig, Photo 1988/27597).

einfache Sozialdemokraten glauben zu machen, dass sich ihre Genossen bereits der Einheitsfront angeschlossen hätten und dass sie es ihnen gleichtun könnten und sollten. Es scheint nicht unbedingt wahrscheinlich zu sein, dass Sozial­ demokraten zugestimmt hätten, ihr Symbol unter Hammer und Sichel zeichnen zu lassen. Auch tragen die uniformierten Männer an der Spitze des Zuges keine Reichsbanneruniformen, soweit es sich erkennen lässt; vermutlich waren sie Mitglieder einer der verschiedenen kommunistischen Wehrformationen. Darüber hinaus ähnelt die Fahne einem kommunistischen Propagandaplakat vom Juli 1932, das drei starke Arme zeigt, die eine Fahne der Antifaschistischen Aktion umfassen. Armbinden symbolisieren, woraus sich die Einheitsfront zusammen setzen sollte: die oberste Armbinde zieren Hammer und Sichel, die mittlere die Drei Pfeile, während der letzte Arm ohne Armbinde auskommt, was vermutlich die unorganisierten Arbeiter repräsentieren soll.14 Aber kann mit letzter Sicherheit gesagt werden, dass es in dem Aufzug nicht eine (kleine) Gruppe sozialdemokratischer Renegaten gab, die tatsächlich einer zumindest symbo­ lischen Unterordnung unter die Kommunisten zugestimmt hatten? Letztendlich ist es unmöglich, eine der beiden Lesarten mit letzter Sicherheit zu beweisen. Da sich Kommunisten aber immer wieder als »oppositionelle Sozialdemokraten« ausgaben, hält es zumindest der Autor dieser Studie für zweifelhaft, dass hier wirklich die Einheitsfront marschierte. 14 Eine Abbildung des Plakats findet sich in H. Weber, Politik, S. 124.

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Abb. 3: KPD-Demonstration, Januar 1933 (Stadtarchiv Leipzig, 1988/27596).

Kommunisten gaben sich für eine Vielzahl von Zwecken als Sozialdemokraten aus. Die KPD infiltrierte beispielsweise die SPD mit Spitzeln, die internes Material über den politischen Rivalen sammeln sollten, durch dessen Veröffent­ lichung in der kommunistischen Presse die SPD bloßgestellt wurde,15 aber auch Adressen unzufriedener SPD-Mitglieder, die dann gezielt durch die KPD an­ gesprochen wurden. Diese Spitzel hatten auch praktische Aufgaben, wie etwa die Parteiarbeit der SPD zu sabotieren. Eine weitere, bereits angesprochene kommunistische Taktik bestand darin, als oppositionelle Sozialdemokraten aufzutreten. In all diesen Fällen nahmen Kommunisten eine falsche sozial­ demokratische Identität an und versuchten die echten Sozialdemokraten davon zu überzeugen, dieser Identität zu vertrauen. Das Ziel zumindest mancher dieser Aktionen war, Vertrauen auf Seiten der Sozialdemokraten in die KPD herzustellen, etwa wenn eine angebliche Einheitsfront inszeniert wurde. Ob diese Strategie funktionierte, ist mehr als fraglich, wurden doch immer wieder kommunistische Spitzel in der SPD enttarnt. Dies dürfte eher dazu beigetragen haben, dass Sozialdemokraten Kommunisten mit Skepsis gegenüber traten. Im November 1931 konnte die KPD einen Erfolg ihrer Spionagetätigkeit in der SPD feiern. Einem kommunistischen Spitzel war es gelungen, an für die SPD äußerst unvorteilhaftes Material zu gelangen, das reichsweit veröffentlicht wurde. Sozialdemokraten waren außer sich vor Wut. Die Partei war, so erklärte ein lokaler Funktionär namens Sandmann verärgert, von kommunis15 Berichte für den Militärpolitischen Apparat, BArch, RY 1  I/2/705/23. Interessanterweise stammen einige der wichtigsten Quellen über Vorgänge innerhalb der SPD aus diesen ­A kten.

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tischen Spitzeln durchsetzt, eine Behauptung, die nicht unplausibel erscheint, bedenkt man, dass wir über diese Worte nur durch einen internen Bericht eines KPD-»Spions« wissen, der auf der SPD-Sitzung anwesend war. »Wenn man sie [die Spitzel] entdeckt, darf mit ihnen nur proletarisch abgerechnet werden«, rief Sandmann die Faust ballend. »Jeder sehe seinen Nachbarn an und prüfe, damit wir in dieser Situation politisch rein sind, vor allem in unseren höchsten Funktionärsstellen.« Zwar waren einige der KPD-Spitzel enttarnt worden, so Sandmann, doch sei zu milde mit ihnen umgegangen worden. Zu diesem Skandal kam noch hinzu, dass eine Spaltung die Jugend etwa 200 Mitglieder gekostet hatte, auch wenn die meisten mittlerweile zurückgekehrt seien.16 Angesichts dieser Ereignisse beschloss die Generalversammlung der SPD, »von jedem Funktionär die Unterschriftserklärung zu verlangen, ob er der Partei treu bleiben will, das heißt, ob er die Partei nach außen hin vertritt, und jede Spaltung entschieden bekämpft.« Die meisten Funktionäre unterschrieben ohne Widerrede, aber einige ältere empörten sich über dieses Ansinnen. »Sandmann sagt, diese Listen würden gut aufbewahrt, für wichtige Momente. Genossen, hat man so eine Angst vor der Mitgliederflucht?« Der Funktionär, dessen Namen im Bericht nicht genannt wird, weigerte sich daher, etwas zu unterschreiben, um später nicht unter Druck gesetzt zu werden. Ein anderer, gut angesehener Funktionär namens Döhler wandte ein: »Eine Partei, die Vertrauen auf ihre Funktionäre hat, braucht für deren Treue keine Unterschriften. Sind wir denn politische Wickelkinder, dass man uns nicht traut. Wir arbeiten, aber spielen lassen wir nicht mit uns.«17 Offenbar hatte die Enttarnung der S­ pione und die Spaltung in der SAJ das Vertrauen der Parteiführung in die Funktionäre untergraben, die wiederum zumindest teilweise zutiefst enttäuscht über diesen Mangel an Vertrauen waren. Eine solche Atmosphäre trug sicherlich nicht dazu bei, dass sich die Parteimitglieder mit Enthusiasmus engagierten.18 Im Juli 1932 wurde ein kommunistischer Spitzel namens Herbert Wolf in der SPD enttarnt, und diesmal folgten die Sozialdemokraten der Aufforderung Sandmanns und rechneten »proletarisch« mit ihm ab, das heißt, er wurde verprügelt.19 Der 23jährige Wolf hatte sich systematisch in der SPD nach oben ge­ arbeitet, während er für die KPD Spitzeldienste leistete. Er hatte internes Material der SPD gesammelt und an die KPD weiter gegeben sowie die Parteiarbeit 16 BArch, RY 1 I/2/705/23, dort auch die folgenden Zitate. Im Herbst 1931 veröffentlichte die kommunistische Rote Fahne mehrere Texte, die auf internen Dokumenten der SPD basierten, insbesondere über die Abspaltung der Seydwitz-Gruppe und die folgende Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP). Worauf genau sich Sandmann bezog, konnte nicht festgestellt werden. 17 BArch, RY 1 I/2/705/23. Zu den 200 SAJ-Mitgliedern, die die Organisation verließen und zur KPD überliefen, ähnlich SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 401/1, Gert Zschocher. 18 Vogel, S. 660. Laut Vogel hielt »allgemeines Gefühl des Misstrauens zwischen Parteiapparat und Mitgliedschaft Einzug.« 19 SStAL, PP St 19, und LVZ, 11.7. und 13.7.1932. Auch die Sozialdemokratin Annemarie H. verließ die Partei.

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der SPD sabotiert, etwa indem er Einladungen zu Versammlungen oder Flugblätter »vergaß«. Als er mit seinen Taten konfrontiert wurde, verlangte er Beweise, aber die SPD warf ihn einfach aus der Partei. Die Warnung der LVZ, er sei nicht der einzige Spitzel in der SPD, wurde zumindest in den Augen des sozialdemokratischen Blattes bereits kurz darauf bestätigt, als die SAZ ankündigte, Material zu präsentieren, das seine Unschuld beweisen würde. Aus Sicht der LVZ bewies dies allerdings nur, dass es weitere Spitzel gab. Solche Ängste vor kommunistischen Spitzeln schufen eine von Misstrauen geprägte Stimmung in der lokalen SPD, da sich Sozialdemokraten nie ganz sicher sein konnten, ob der Genosse neben ihnen wirklich ein Sozialdemokrat war, oder nicht doch ein kommunistischer Spion. In vielen Fällen resultierte solche Spitzelarbeit in Misstrauen, allen Ver­ suchen zum Trotz, die Gräben zwischen den Parteien durch die Schaffung von Vertrauen zu überbrücken. In zumindest einem Fall jedoch scheint ein »illegaler« Kommunist in der SPD einen gewissen Erfolg gehabt zu haben, wie Otto Grudener in seinem Erinnerungsbericht festhielt. Bis 1932 war er Sozialdemokrat gewesen, dann aber schloss er sich der KPD an.20 Gleichzeitig war er Gruppenleiter der Kampfstaffeln gewesen. Grudener zufolge sehnten sich Sozial­ demokraten und Kommunisten in diesen Tagen nach Einheit – ein Urteil, das von der Forschung teils und meines Erachtens zu unkritisch übernommen wurde, mag doch eher ein Wunschdenken während der frühen Jahre der SEDDiktatur darin zum Ausdruck kommen. Als Grudener sich der KPD anschloss, blieb er zunächst »illegaler Verbindungsmann«, wie er selbst schrieb, seiner neuen Partei innerhalb der Kampfstaffeln. Als er und seine Kameraden von den Kampfstaffeln im Januar 1933 dem Kommunisten Fritz Selbmann auf einer Versammlung zum Thema »SPD oder KPD«, für das die Kampfstaffeln den Schutz stellen sollten, zustimmten, ließ die SPD-Führung, so wenigstens seine Schilderung, nach der »Fleißnerpolizei« rufen, die sie davon jagte. Zwar sollte der letzten Behauptung mit einer gehörigen Portion Skepsis begegnet werden, aber Grudener scheint es geschafft zu haben, seine Kameraden von den Kampfstaffeln mit zur KPD zu nehmen. Auch wenn vieles an seiner Geschichte im Vagen bleibt, insbesondere welche Rolle Vertrauen spielte, es gelang Grudener anscheinend, eine gewisse »Einheit« zwischen linken Sozialdemokraten und Kommunisten herzustellen, die auch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme Bestand hatte. Das persönliche Vertrauen, das seine Genossen in ihn hatten, dürfte hierbei eine erhebliche Rolle gespielt haben. Spitzeltätigkeiten waren nicht der einzige Grund für Kommunisten, sich als Sozialdemokraten auszugeben. Der LVZ zufolge gaben sich Kommunisten 20 SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 387  Otto Grudener. Ähnlich Erinnerungsberichte, V/5 413. Alfred Buchheim war ein Kommunist mit streng sozialdemokratischem Vater, wegen dem er sich SPD und KS angeschlossen hatte. Er blieb aber in Kontakt mit seinen kom­ munistischen Freunden und versuchte, an guten Beziehungen zwischen beiden Gruppen zu arbeiten.

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auch aus praktischeren Gründen für Sozialdemokraten aus. So warnte das Blatt seine Leser immer wieder vor angeblichen Beitragskassierern, die sich fälschlich als SPD-Mitglieder ausgaben, aber in Wahrheit Kommunisten seien – wobei keineswegs sicher ist, dass es sich nicht um ordinäre Betrüger handelte.21 In ähnlicher Weise ermahnte die LVZ ihre Leserschaft vor dem kommunistischen Reichsjugendtag Ostern 1930, nicht auf Berichte hereinzufallen, Reichsbanner und SAJ würden Versammlungen in Leipzig abhalten und daher Unterkünfte suchen. Die Wahrheit sei vielmehr, dass die KPD verzweifelt nach Unterkünften für ihre Veranstaltung suche.22 Kommunisten versuchten nicht nur die SPD zu infiltrieren, sondern ebenso die NSDAP, was diesen kommunistischen Agenten den Beinamen »Beefsteaks« einbrachte: außen braun, innen rot.23 In Leipzig war Hans Poesche ein solches Beefsteak, der spätestens seit 1931 SA-Mitglied in Diensten der KPD war. ­Poesche kam aus einer nationalistischen Familie, hatte aber bereits in seiner Jugend ein Interesse am Kommunismus gezeigt. Durch seinen familiären Hintergrund wurde er zunächst Mitglied rechtsgerichteter Organisationen wie der Technischen Nothilfe (TeNo). Als er mit der KPD Fühlung aufnahm, forderte man ihn von dieser Seite auf, in der TeNo zu bleiben und die KPD mit internem Material zu versorgen, beispielsweise welche Pläne es dort für den Fall eines Generalstreiks gab. Als er sich später der SA anschloss, gab er Demonstrationsund Agitationspläne an seine Genossen in der KPD weiter, was diesen erlaubte, ihre Kräfte rechtzeitig zu mobilisieren. Selbst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten weigerte er sich zu emigrieren und blieb standhaft auf seinem Posten als Hilfspolizist in der SA, was ihm erlaubte, mehrere kommunistische Funktionäre zu warnen – dies behauptete zumindest ein früherer Genosse von ihm in einem Erinnerungsbericht. All dies erforderte, wie sein Genosse betonte, einen ungemeinen »Opfermut«; nach seiner Enttarnung im Juli 1933 zog es Poesche denn auch vor, so sein Genosse, sich selbst zu erschießen, um einer Befragung durch die SA zuvorzukommen.24 Hinweise auf sozialdemokratische Spione innerhalb der KPD gibt es kaum. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die KPD nicht auch mit Personen zu kämpfen hatte, die fälschlich behaupteten, Parteimitglieder zu sein. Im Dezember 1930 wurde beispielsweise in einem Rundschreiben vor solchen »Schwindlern« im Unterbezirk Leipzig gewarnt, die mit Hilfe falscher Dokumente versuchten, an die Namen und Adressen von Funktionären zu gelangen. »Während der Abwesenheit der Genossen wenden sie sich mit Vorliebe an die Frauen derselben.«25 Gleichzeitig fürchtete die KPD, von Gegnern – Nationalsozialisten wie auch der Polizei – unterwandert zu werden, auch wenn die Polizei vermut21 Etwa LVZ, 12.8.1930, LVZ, 17.9.1932, 21.2.1933. 22 LVZ, 14.4.1930. 23 Brown, S. 3. 24 BArch, RY 1 I/2/3/123. 25 BArch, RY 1 I 3/8–10/154.

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lich wesentlich weniger Spitzel in der KPD hatte, als die teils leicht para­noiden Kommunisten glaubten.26 Diese Verdächtigungen mündeten auch immer wieder in Gewalt. Im Oktober 1930 beispielsweise wurde der Jungkommunist Braun beschuldigt, das Abzeichen eines anderen, jüngeren Kommunisten abgerissen zu haben und ihn und seine Freunde attackiert zu haben. Offenbar waren die Opfer vorher Mitglieder der Hitlerjugend (HJ) gewesen, hatten sich dann aber den Kommunisten angeschlossen. Braun aber verdächtigte sie, immer noch der NSDAP anzugehören und für diese die KPD und ihre Organisationen auszuspionieren  – dies wenigstens vermuteten die Opfer, eine Ver­ mutung, die Braun später bestätigte. Allerdings erklärten die Opfer kurz darauf, sie könnten Braun nicht mehr erkennen, womöglich weil sie fürchteten, von ihren neuen Genossen erneut verprügelt zu werden.27 Brauns Misstrauen ist zumindest nicht überraschend, waren doch die Neukommunisten bis vor kurzem bei der HJ. Man mag sich in der Tat fragen, ob Parteiübertritte nicht zur Verbreitung von Misstrauen beitrugen: War es wirklich zu einem radikalen politischen Sinneswandel gekommen, oder arbeiteten die angeblichen Neumitglieder als Spitzel weiter für ihre alte Partei? In dieser Situation ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass Zweifel an der politischen Identität von Genossen leicht in Gewalt münden konnten.28 Um die auf offizieller Ebene existierende Feindschaft zwischen KPD und SPD zu überwinden, versuchten Kommunisten, eine »Einheitsfront von unten« zu schmieden. »Ehrliche« Sozialdemokraten sollten davon überzeugt werden, gemeinsam mit den Kommunisten an der Basis gegen Nationalsozialisten wie auch den Kapitalismus allgemein zu kämpfen, selbst wenn dies den Vor­gaben der Parteioberen widersprach. In der Praxis war klar, dass dies kein Bündnis zwischen Gleichen sein würde. Kommunisten beanspruchten selbstredend die Führung solcher Bündnisse, wie die sozialdemokratischen Frauen auf der oben geschilderten Demonstration mit Verweis auf eine nicht zustande gekommene Antikriegsdemonstration von SAJ und KJVD in Chemnitz bemerkten. Die KPD und ihre Presse hingegen behaupteten immer wieder, dass eine solche Zusammenarbeit existierte. Um dies zu untermauern, traten Kommunisten als »oppositionelle« Sozialdemokraten auf, die sich über die Weisung ihrer angeb­ lichen Partei hinwegsetzten. Die eingangs zitierte Instrukteurin aus Berlin ist

26 Schreiber. 27 SStAL, PP S 136. 28 In wenigstens einem Fall gaben sich, so zumindest die LVZ, auch Nationalsozialisten als Kommunisten aus. Am Dienstag, den 20. Juli 1932, gegen 2:30 Uhr, wurden einige Angehörige der Eisernen Front auf ihrem Weg zum Zug von sechs Personen, die kommunistische Abzeichen trugen, angegriffen. Glücklicherweise sah ein Beamter den Zwischenfall und konnte die Angreifer verhaften. Auf der Wache wurde dann klar, dass die Männer Nationalsozialisten waren, die sich als Kommunisten ausgaben, LVZ, 21.7.1932. Dies mag auch ein Fragezeichen hinter andere Berichte über Sozialdemokraten, die von Kommunisten angegriffen wurden, setzen.

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nicht der einzige Fall hierfür. Nach dem kommunistischem Reichsjugendtag im April 1930 etwa zitierte die LVZ aus einem angeblichen Rundschreiben der KPD-Zentrale, in dem es hieß, es wäre »ratsam, dass vorhandene SPD- und SAJAbzeichen von den wenig bekannten Genossen getragen werden, um den Eindruck zu erwecken, dass diese oppositionelle Sozialdemokraten sind.« Behauptungen, Abteilungen der SAJ hätten im Zug demonstriert, seien daher erlogen, so die LVZ.29 Interne KPD-Dokumente bestätigen, dass solche, um es beim Namen zu nennen, Betrügereien Teil der kommunistischen Strategie waren. KPD-Gruppen an der Basis konnten etwa bei der Parteileitung mittels kleiner, vorgefertigter Karten Redner bei der Parteizentrale anfordern, darunter auch angebliche »SPD-Arbeiter«, die auf sozialdemokratischen Veranstaltungen reden sollten. Es scheint fast so, als hätte die KPD angebliche »oppositionelle Sozial­ demokraten« gleichsam auf Abruf bereit gehalten, wann immer eine »kritische« Stimme in der SPD gebraucht wurde.30 Dieses Vorgehen der KPD macht es äußerst schwierig, die tatsächliche Zusammenarbeit von KPD und SPD an der Basis einzuschätzen. Sicher ist, dass Kommunisten die Öffentlichkeit und insbesondere sozialdemokratische Arbeiter glauben machen wollten, dass eine solche parteiübergreifende Zusammenarbeit gegen die Nationalsozialisten existierte.31 Vertrauen spielte hierbei in zweierlei Hinsicht eine Rolle. Zunächst behaupteten Kommunisten wie die Instrukteurin aus Berlin, dass sich Sozialdemokraten und Kommunisten vertrauten. Ein solches Vertrauen war die Basis für jegliche Einheitsfront. Auf der anderen Seite mussten Kommunisten Sozialdemokraten davon überzeugen, ihren Berichten über angebliche Erfolge der Einheitsfront zu glauben. In Anbetracht der Erfahrungen, die Sozialdemokraten mit lügenden Kommunisten gemacht hatten, erscheint es zumindest zweifelhaft, ob sie Berichten in der kommunistischen Presse über eine Zusammenarbeit glaubten, selbst wenn sie einmal der Wahrheit entsprachen. Die immer wiederkehrenden und oftmals zweifelhaften Behauptungen, eine »Einheitsfront von Unten« hätte sich erfolgreich den Nationalsozialisten in den Weg gestellt, mögen in dieser »epistemischen Krise« eher weiteres Misstrauen geschürt denn Vertrauen gestiftet haben. 29 LVZ, 26.4.1930. 30 BArch, RY 1 I/3/8–10/154. 31 Die Polizei bemerkte im Sommer 1932, dass es vermehrt zu einer Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten kam, siehe oben, S. 64. Ob die Beamten die Situation korrekt einschätzten oder selbst kommunistischen Betrügereien auf den Leim gingen, wird offen bleiben müssen. In Anbetracht der hier diskutierten kommunistischen Praktiken halte ich jedoch eine gewisse Skepsis gegenüber Berichten auch staat­licher Behörden über eine vermehrte Zusammenarbeit zwischen SPD und KPD an der Basis für angebracht. Ob es wirklich Sozialdemokraten waren, die, wie ein Bericht des Reichs­ministeriums des Innern vom 16. Juli 1932 behauptete, bei von Kommunisten organisierten antifaschistischen Kongressen erschienen, erscheint mir daher zumindest fraglich, Mallmann, Kommunisten, S. 377.

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Sozialdemokraten, die sich der KPD anschlossen, bedeuteten einen enormen Erfolg für die KPD, weshalb solche Parteiübertritte in der kommunistischen Presse triumphal gefeiert wurden. Zweifelsohne kam es immer wieder zu solchen Fällen, etwa als Gert Zschocher und seine Genossen im November 1931 von der SAJ in den KJVD übertraten.32 In vielen anderen Fällen sind jedoch ernsthafte Zweifel an dem Wahrheitsgehalt solcher Erfolgsmeldungen in der SAZ angebracht. Im Februar 1930 beispielsweise berichtete die LVZ, dass die Bemühungen der KPD, einige Sozialdemokraten zum Übertritt zu bewegen, endlich von Erfolg gekrönt waren. Der vormalige Sozialdemokrat Rudolf Hartmann, dessen Adresse die LVZ umgehend veröffentlichte, hatte sich, so die LVZ, »schon seit Wochen bemüht, in seinem Bekanntenkreis für den Übertritt zur KPD zu werben. Es sollte, wie Hartmann sagte, eine Bombe platzen.« Bereits früher hatte er »innerhalb der Partei für die KPD« geworben, weshalb ein Ausschlussverfahren gegen ihn schwebte, das aber mit einer Rüge endete. Als die neuerlichen Umtriebe bekannt wurden, leitete die Partei ein erneutes Ausschlussverfahren gegen Hartmann ein. Hartmann erschien aber nicht zum Verhandlungstermin und trat selbst aus, um einem Ausschluss zuvor zu kommen. Der SPD jedenfalls sei es nicht schade um solche Querulanten. Hartmanns Behauptung, 15  Sozialdemokraten hätten mit ihm den Übertritt zur KPD vollzogen, entsprach nicht der Wahrheit, so die LVZ: er hatte nur einen »Kom­ pagnon« gefunden.33 Zumindest der Verdacht liegt hier nahe, dass Hartmann bereits lange Zeit im Geheimen der KPD angehört hatte. Im September des gleichen Jahres wurde ein anderer Sozialdemokrat aus der Partei ausgeschlossen, da er Berichte für die SAZ verfasst hatte. Nun beschuldigte er die SPD des »Arbeiterverrats«, aber die Wahrheit war, so die LVZ, dass er ein »Schwindler« sei, der schon seit langer Zeit KPD-Mitglied war.34 Ein besonders interessanter Fall dieser Art geschah im November 1932. Die LVZ berichtete über einen gewissen Kurt Girditz, der eine Fahne aus dem Fenster hing, auf der es hieß: »Wir ehe­maligen Reichsbanner- und SPD-Mitglieder wählen [die kommunistische] Liste 3.« Girditz war, so die LVZ, Mitglied der KPD gewesen, bevor er sich 1932 der SPD angeschlossen hatte, dort seine ehemaligen Genossen verpfiff, sich nun aber wieder in der KPD einfand.35 32 SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 401/1. Zu Beziehungen zwischen KPD (und KJVD) und SAJ, die ab den 1920er Jahren angeblich von Kommunisten unterwandert war, Vogel, S. 529–532. In den frühen 1930er Jahren hatte sich die SAJ allerdings zu einer verlässlichen sozialdemokratischen Organisation gewandelt. 33 LVZ, 15.2.1930. Ähnlich LVZ, 18.10.1932. Die KPD behauptete, ein SPD- und Reichsbanner­ mitglied würde auf einer KPD-Versammlung sprechen, aber in Wahrheit war die Person schon lange aus der SPD ausgeschlossen worden. 34 LVZ, 12.9.1930. 35 LVZ, 14.11.1932. Ähnlich LVZ, 16.9.1931. Der erwerbslose Arbeiter Manfred Schick war von der SPD zur KPD übergelaufen, wie die LVZ eingestand, aber Schick war nur insoweit SPDMitglied gewesen, als er sich sein Parteibuch als Erwerbsloser kostenlos stempeln lassen konnte.

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In all diesen Fällen versuchten die Kommunisten auf die ein oder andere Weise, Sozialdemokraten von ihrer falschen sozialdemokratischen Identität zu überzeugen, um so Vertrauen an der Basis der beiden Parteien zu generieren. Durch die Enttarnung kommunistischer Spitzel in der SPD aber lernten Sozialdemokraten, ob aus der Zeitung, auf Parteiversammlungen, oder einfach durch Gerüchte, dass Kommunisten »Schwindler« waren und man ihnen nicht vertrauen konnte. Hinzu kam, dass sie nicht einmal ihren eigenen Parteigenossen vertrauen konnten, da man niemals wusste, ob sie nicht in Wahrheit Kommunisten waren. Eine effektive Parteiarbeit war in dieser Stimmung allgegenwärtiger Verdächtigungen äußerst schwierig. Schließlich ließe sich spekulieren, ob die zahlreichen erfundenen Berichte der kommunistischen Presse über eine »Einheitsfront von Unten« nicht dazu führten, dass solchen Berichten generell, auch wenn sie einmal der Wahrheit entsprachen, kein Glauben geschenkt wurde. In der epistemischen Krise in Leipzig wurde es, in anderen Worten, schwierig, sich die Verwirklichung einer solchen Einheitsfront auch nur vor­ zustellen. Es bleibt die Frage, weshalb Kommunisten so geringe Hemmungen hatten, sich solcher Täuschungsmanöver zu bedienen. Zumindest eine Teilantwort mag in der kommunistischen Ideologie liegen, derzufolge die SPD die Arbeiterklasse verraten hatte und die nationalsozialistische Partei im Geheimen vom Finanzkapital gesteuert wurde. Einzig Kommunisten stritten, in ihrer eigenen Vorstellung, »ehrlich« für die Interessen der Arbeiter, während die Gegner sowohl in der SPD als auch in der NSDAP betrogen und verrieten. Vielleicht ist es nicht besonders überraschend, dass Kommunisten keine Schwierigkeiten damit hatten, sich gegenüber diesen Feinden, selbst Verräter und Betrüger, betrügerisch und unehrlich zu verhalten.36

3.2 Denunziationen und die Formierung der lokalen Arbeiterklasse »Der Denunziant ist der schlechteste im ganzen Land«, sagte eine Sozialdemokratin während der eingangs beschriebenen Demonstration. Grundsätzlich wurden Denunziationen im links-proletarischen Milieu zutiefst verachtet. Denunzianten brachen nicht nur Vertrauen,37 sondern gleichsam die ungeschriebenen Gesetze des Milieus. Gerade deshalb ist der öffentliche Aspekt vieler in 36 Zur kommunistischen Ideologie in dieser Hinsicht Brown. 37 Frevert, Rezension. Weiterhin Schreiber, S.  107 ff. Er betont, dass die Denunziationen zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, die erheblich zur Zerstörung der KPD beitrugen, einen massiven Vertrauensbruch darstellten, da sich Täter und Opfer von Denunziationen (teils gar Ehepartner!) oftmals seit Jahren kannten. Was die Motive für diese Denunziationen waren, ist oft unklar, auch wenn Schreiber behauptet, persönliche Motive wie Eifersucht und Eheprobleme (etwa die Existenz eines Geliebten) seien wichtiger als politische Gründe gewesen.

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diesem Unterkapitel zu diskutierenden Denunziationen bemerkenswert, ins­ besondere jener, die sich nicht an die Polizei wendeten, sondern an die lokale, sozialdemokratisch oder kommunistisch definierte Arbeiterklasse, die gleichsam die höchste Autorität darstellte.38 Wer aber denunzierte, wurde in der Folge oft selbst Opfer einer Art Denunziation zweiten Grades, wenn er nämlich in der Öffentlichkeit als Denunziant gebrandmarkt wurde. Sowohl Denunziationen an die Polizei als auch an die lokale Öffentlichkeit lassen daher auf die Formierung und Imaginierung des lokalen, politisierten Arbeitermilieus schließen.39 Am 31. Oktober 1931 erschien die Arbeiterin Margret Zeichner bei der Polizei um sich darüber zu beschweren, dass am Eingang des Hauses in der Creu­ zigerstraße 10, wo sie ihre Wohnung hatte, ein für Passanten gut lesbares Schild hing, das sie als Streikbrecherin brandmarkte. Nun fürchtete sie Gewalt, weshalb sie sich hilfesuchend an die Polizei wandte. Ein Beamter begleitete sie daraufhin zu ihrem Haus um das Schild zu entfernen, wobei ihn die polizeibekannte Kommunistin Lotte Saaler beobachtete, die ihn auch prompt zu beschimpfen begann. »Du Lump, lass bloß das Schild hängen, damit die Leute alle sehen, was hier für Streikbrecher wohnen. Allein traust Du Dich wohl nicht hier her, da muss noch einer von Euch Schmiere stehen.« Der Bericht vermerkte weiter: »Durch das Schimpfen der Saaler wurden noch mehr KPD-Angehörige, die in der Straße wohnen, aufmerksam und schlossen sich dem Gebaren der Saaler an. […] Die Saaler und ihre Kinder sind den Beamten der 23. Schutzpolizeiwache als aufrührerische Elemente bekannt, die auch bei jeder Gelegenheit in politischer Hinsicht gegen die Beamten Stellung nehmen. Durch das fortgesetzte Schimpfen auf mich hat die Saaler bestimmt erreicht, dass ihre Gesinnungs­ 38 Zu Denunziationen, Fitzpatrick u. Gellately. Sie schlagen folgende Definition vor, S.  1: »Spontaneous communications from individual citizens to the state (or to another autho­ rity, such as the church) containing accusations of wrongdoing by other citizens or officials and implicitly or explicitly calling for punishment.« Die in diesem Kontext wichtigste »andere Autorität« ist wohl die (lokale und imaginierte) Arbeiterklasse selbst. Zu Denun­ ziationen innerhalb der Arbeiter-Community, Swett, S.  214–231. Sie schreibt, S.  214: »By looking at these very personal political relationships among neighbors in the early 1930s, we can see the extent to which daily life in these neighborhoods was politicized and how politics invaded what was previously considered nonpolitical space.« Zwar bietet sie faszinierende Beispiele lokaler Denunziationen, aber ihr Fokus auf lokale Autonomie statt Partei­politik überzeugt meines Erachtens nicht. 39 Wie Communities durch kulturelle und diskursive Praktiken imaginiert und geschaffen werden, ist ausführlich analysiert worden. Hier ist nicht der Ort, um solche Praktiken im Detail zu besprechen. Es mag genügen darauf zu verweisen, dass Denunziationen zu solchen Praktiken gehörten, bei denen die Gemeinschaft geformt wurde. Catherine Epstein, S.  6, 42, argumentiert mit Verweis auf Benedict Anderson, die KPD in der Weimarer Republik sei eine »imagined community« par excellence, da die Partei eine Art »Nation« wurde, der »zehntausende Kader« ihr Leben widmeten. Schlossen sich Arbeiter der KPD an, so »wählten sie einen vollkommen neuen way of life«. Epsteins Charakterisierung der KPD in Weimar ist meines Erachtens vollkommen irreführend, da sie eine, wie die Studie Mallmanns gezeigt hat, nicht existierende Homogenität des kommunistischen Milieus behauptet. Kritisch zu Epstein Kössler.

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genossen auch geschlossen gegen mich Stellung genommen haben.« Saaler wurde später wegen Beamtenbeleidigung zu einer Geldstrafe von 30 Mark verurteilt, die ihr jedoch erlassen wurde.40 Der Vorfall zeigt, wie eine Denunziation innerhalb des lokalen Arbeiter­ milieus und an dieses adressiert zur Formierung und Stärkung eben dieses Milieus beitragen konnte. In Saalers Augen hatte Zeichner ein ungeschriebenes aber starkes Gesetz des Milieus gebrochen, indem sie Streikbrecherarbeit geleistet hatte.41 Offensichtlich war es nicht der Staat, der dieses »Verbrechen« bestrafen konnte, sondern die lokale Arbeiterklasse selbst. Daher war auch die Arbeiterschaft in Zeichners Nachbarschaft der ideale Adressat für Denun­ ziation ihres »Verbrechens«. Indem Saaler dieses öffentlich machte, versuchte sie seine »Bestrafung« zu erreichen; dass Zeichner Gewalt fürchtete, war vermutlich eine realistische Einschätzung. Und die lokale Öffentlichkeit reagierte durchaus auf Saalers Agitation, wie die Reaktion auf die Intervention der Polizei deutlich macht. Jene Intervention kann gleichsam als Versuch einer Autorität »von außen« gelesen werden, eine öffentliche Ordnung im (kommunistisch geprägten) lokalen Arbeitermilieu wieder herzustellen, die der Ordnung und den Regeln dieses Milieus, so wie Saaler und ihre Genossen sie verstanden, äußerst fremd war. In diesem Sinne trug das Zeichner als Streikbrecherin brand­markende Schild dazu bei, die Regeln des lokalen Arbeitermilieus sowohl zu formulieren als auch durchzusetzen. Auch wenn unbekannt bleibt, was sich nach dem Vorfall zutrug, etwa ob Zeichner Opfer von Gewalt wurde oder nur Belästigungen und Beschimpfungen lokaler Kommunisten erdulden musste, so zeigt die kollektive Empörung der Anwohner der Creuzigstraße doch, dass es Saaler gelungen war, das lokale Milieu gegen Zeichner und das Eingreifen von außen zu mobilisieren. Hier, auf der Straße vor Zeichners Wohnung, wurde die Arbeiter-Community nicht nur im Sinne Benedict Andersons imaginiert, sondern praktiziert. Sie wurde zu einer für Zeichner physisch bedrohlichen Entität. Dass sich, zumindest laut Polizeibericht, vornehmlich Kommunisten an den Beschimpfungen beteiligten, zeigt, dass es sich um eine hochgradig politisierte Community handelte. In diesem Sinne konnten Denunziationen, und 40 SStAL, PP S 7024/32. Es handelt sich hierbei um einen außerordentlich gut dokumentierten, aber vermutlich kaum den einzigen Fall einer solchen »öffentlichen« Denunziation. Andere mögen sich nicht an die Polizei gewandt haben, weshalb sich keine Spuren in den Archiven finden. Denunziationen in der (kommunistischen) Presse über (sozialdemokratische)  Streikbrecher, etwa beim Streik bei Tittel & Krüger, oben, S.  119–122, lassen sich ähnlich interpretieren, auch wenn ihre Auswirkungen auf die Formierung einer lokalen Gemeinschaft vermutlich geringer waren. Auch die Veröffentlichung von Namen und Adressen von Streikbrechern oder politischen Gegnern in der Parteipresse dürfte in diesem Kontext zu verstehen sein. 41 Diese Anschuldigungen werden hier bewusst für bare Münze genommen. Es mag andere Gründe für die Denunziationen gegeben haben, etwa persönliche Rachegelüste, aber hierfür finden sich keine Belege in den Quellen. Entscheidend ist letztendlich, dass und wie die lokale Gemeinschaft mobilisiert wurde: gegen eine Streikbrecherin und die sie schützende Polizei.

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zwar gerade solche, die sich an die lokale Arbeiterschaft wandten, zur Formierung jener Community beitragen.42 Während solche Denunziationen an die lokale Öffentlichkeit in den Augen der Kommunisten legitim waren, so galt dies für Denunziationen an die Polizei sicherlich nicht. »Klassenbrüder« an die Polizei zu denunzieren bedeutete Verrat an der Arbeiterklasse zu begehen, wie Kommunisten Sozialdemokraten, die vor solchen Denunziationen nicht zurück schreckten, immer wieder vorwarfen. Eine aus kommunistischer Sicht besonders empörende Denunziation fand während der Gerichtsverfahren nach den Zusammenstößen beim kommunistischen Reichsjugendtag statt, bei denen zwei Polizeibeamte, unter ihnen ein Sozialdemokrat, getötet worden waren. Einer der Zeugen, die gegen die angeklagten Kommunisten aussagten, war laut SAZ ein Reichsbannermitglied, der den expliziten Auftrag gehabt hatte, den Aufmarsch zu beobachten und darüber der Polizei Bericht zu erstatten, weshalb die SAZ den Mann als Denunziant beschimpfte. Später fügte die SAZ hinzu, dass der Zeuge namens Beiersdorf schwachsinnig wäre und wiederholt in einer Nervenheilanstalt gewesen sei.43 In einem anderen Fall beklagte sich die SAZ über SAJ-Mitglieder, die An­ gehörige der kommunistischen Jugend denunziert hätten. Im November 1929 war es zu Zusammenstößen zwischen Kommunisten, oder, wie die SAZ formulierte, »Anwohnern« und Jungsozialisten in der kommunistisch dominierten Sternwartenstraße gekommen. Im März des darauffolgenden Jahres kam es dann zu Gerichtsverhandlungen, die mit Gefängnisstrafen für zwei Jungkommunisten endeten. Der SAZ zufolge hatten die SAJ-Mitglieder willkürlich ihnen persönlich bekannte Kommunisten denunziert und sie damit gezwungen, Aussagen bei der Polizei zu machen.44 Es mag unklar bleiben, wie willkürlich diese Denunziationen in Wahrheit waren, klar ist, dass diese Denunziationen aus Sicht der Kommunisten verachtenswerte Taten waren. Ein letztes hier vorzustellendes Beispiel einer sozialdemokratischen Denunziation gab Kommunisten Anlass zur Schadenfreude. Im Juni 1930 wurde laut LVZ eine Gruppe Sozialdemokraten beim Plakatieren von der Polizei gestellt und zusammengeschlagen. Dies konnte, so das Blatt, nur das Ergebnis einer Denunziation sein. Offensichtlich hatten Denunziationen bei der LVZ einen ähnlich schlechten Ruf wie bei den Kommunisten, zumindest solange Sozial­ demokraten die Opfer waren. Glücklicherweise wusste die SAZ, wer für die 42 Swett, S. 214 ff., betont diesen Punkt wiederholt. 43 SAZ, 18.9.1930, 3.10.1930. Aus sozialdemokratischer Sicht ging es in diesen »Denunziationen« schlicht darum, Verbrecher, gleich ob sie Kommunisten oder Nationalsozialisten waren, der Polizei zu übergeben. Im Gegensatz zu Kommunisten zeigten Sozialdemokraten auch öfters Nationalsozialisten an, wie die Polizeiakten zeigen. Sie glaubten bis zum Ende an die Republik und ihre Institutionen. Kommunisten teilten diesen Glauben an den Staat zu keinem Zeitpunkt. 44 SAZ, 28.3.1930.

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Denunziation verantwortlich war: ein Reichsbannermann, der meinte, eine Gruppe Kommunisten zu denunzieren.45 Es waren allerdings nicht nur (sozialdemokratische)  Denunziationen an die  Polizei, die in der kommunistischen Presse Empörung hervorriefen. Die Denunziation eines Straßenbahnarbeiters an die Werksleitung wurde bereits im vorherigen Kapitel angesprochen. Zu einer anderen Denunziation bei den Straßenbahnen, bei der Parteipolitik keine Rolle spielte, kam es im September 1931. Die kommunistische Betriebszeitung »Der Rote Straßenbahner« berichtete von einem Straßenbahnarbeiter namens Mandler, der entlassen werden sollte, weil er sich angeblich fälschlich krank gemeldet hatte. Einer von Mandlers Kollegen, ein gewisser Albert Wilke, war ihm nachts gefolgt und hatte ­gesehen, dass Mandler nicht nach Hause ging, wie man es von einem Kranken erwartete, sondern sein »Fräulein« sah. Wilke hatte damit, so der »Rote Straßenbahner« Spitzeldienste für die Betriebsführung geleistet. Glücklicherweise sagten vor Gericht andere Zeugen für Mandler aus, weshalb er seinen Fall gewann.46 Ähnlich empört berichtete die SAZ im September 1929 über einen Zwischenfall im Erziehungsheim Fregestift, aus dem ein Zögling zu fliehen versuchte, aber von einem »Denunzianten und Kriecher« verpfiffen wurde. Als die anderen Zöglinge dem Denunzianten einen »Denkzettel« verpassen wollten  – was offensichtlich die Zustimmung der SAZ fand – rief die Stiftsleitung das Überfallkommando herbei, das die Jugendlichen brutal zusammenschlug.47 Eine letzte hier vorzustellende Denunziation ohne parteipolitischen Hintergrund trug sich im Juli 1930 zu, als sich eine, laut SAZ, »reaktionäre Hausverwalterin« als »gemeine Denunziantin« betätigte, indem sie einen Brief an einen Meister im Betrieb einer bei ihr wohnenden Arbeiterin geschrieben hatte: »Sie haben in Ihrer Abteilung die Arbeiterin M. M. beschäftigt. Vertrauen Sie dieser Person nicht zuviel. Dieses Frauenzimmer benimmt sich wie eine gemeine Straßen­ dirne. […] Dieses Frauenzimmer ist im vergangenen Sommer in der Spinnerei Pfaffendorf wegen Widersetzlichkeit entlassen worden. Ich bitte höflichst, bei 45 LVZ, 23.6.1930. SAZ, 24.6.1930. Ähnlich LVZ, 7.7.1930, wo es heißt, die SAZ habe über das Reichsbannermitglied Lenz berichtet, dieser habe versucht, Kommunisten zu denunzieren, in Wahrheit aber seine eigenen Parteigenossen denunziert. Dies war, so die LVZ, eine falsche Denunziation. 46 SStAL, PP S 2185. Weitere Beispiele von Denunziationen am Arbeitsplatz finden sich im Roten Straßenbahner, Straßenbahnarchiv Leipzig D BZ 1 II. Ein Beispiel aus der Septemberausgabe 1932: Ein Straßenbahnführer hatte einen Wagen in die Werkstatt gebracht um die Bremsen stellen zu lassen. Anstatt dies jedoch zu tun und damit die Sicherheit des Wagens herzustellen, lief der technische Angestellte zum Schlossermeister Windmuth um seinen Kollegen zu »denunzieren«: Die Bremsen, so der Angestellte, seien in Ordnung, der Wagenführer habe den Zug »unbegründet« angehalten, nur um eine Pause zu haben. Wie üblich veröffentlichte der Rote Straßenbahner Namen und Arbeitsplatz des missgünstigen tech­ nischen Angestellten. 47 SAZ, 4.9.1929.

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Abbau derartige aufwühlerische Personen mit zu entfernen und friedliche, anständige Personen weiter zu beschäftigen.«48 Auf der anderen Seite des politischen Spektrums klagte auch die LVZ immer wieder über Kommunisten, die Sozialdemokraten an die Polizei denunzierten. Im November 1930 beispielsweise berichtete das Blatt, der Kommunist Berthold – ob er Mitglied oder nur Sympathisant der KPD war, wusste die LVZ nicht – habe beobachtet, wie der Sozialdemokrat Graupner (die beiden Personen scheinen sich persönlich gekannt zu haben) Schutt auf einer Müllhalde ablud, habe nichts besseres zu tun gehabt, als gegenüber der Polizei zu behaupten, es hätten sich auch Patronenhülsen und Waffen in dem Schutt befunden. Das eingeleitete Ermittlungsverfahren blieb natürlich ohne Ergebnis und führte nur zu einer Verschwendung von Steuergeldern, so die LVZ.49 Leider fanden sich keine weiteren Akten zu diesem Vorfall, so dass unklar bleibt, ob es etwa einen persönlichen Konflikt zwischen Graupner und Berthold gegeben hatte, der nichts mit Parteipolitik zu tun hatte. Was auch immer genau vorgefallen war, der Fall illustriert, wie scheinbar banale Alltagssituationen  – Schutt nach einem Umzug abladen – eine Gelegenheit für (politische) Denunziationen boten. Politik war überall. Auf die ein oder andere Weise ging es in all diesen Fällen um die Vorstellung und Schaffung einer lokalen Arbeitergemeinschaft. Berichte über Denunziationen verdeutlichten die moralischen Werte der (kommunistischen beziehungsweise sozialdemokratischen) Gemeinschaft und brachten damit zum Ausdruck, wer zu ihr gehörte und wer nicht. Sozialdemokraten, die Kommunisten an die Polizei denunzierten, waren in den Augen der kommunistischen Presse ebenso wenig Teil der »Arbeiterklasse« – sie waren schließlich »Verräter« – wie andere Klassenfeinde, Hausverwalterinnen ebenso wie Zöglinge, die ihre Kameraden verpfiffen. Indem sie sich an die Polizei und damit an eine der Arbeiterklasse feindlich gesonnene Autorität wandten, schlossen sie sich gleichsam selbst aus der Arbeiterklasse aus. Wer seine »Klassenbrüder« an die Polizei auslieferte, der konnte wohl kaum »ehrlich« für die Arbeiterklasse streiten, weshalb ihm nicht vertraut werden konnte. Um das Misstrauen, das Kommunisten Sozial­ demokraten entgegenbrachten, zu verstehen, sind diese Denunziationen und die Berichte darüber essentiell. Kam eine Denunziation, oder der Vorwurf einer Denunziation, einem Ausschluss aus der Gemeinschaft gleich, so kann die Weigerung, jemanden zu denunzieren, gleichsam als Angebot gelesen werden, die betreffende Person in die Gemeinschaft aufzunehmen. Im Dezember 1931 berichtete die SAZ beispielsweise von einer Gerichtsverhandlung gegen zwei Reichsbannerangehörige. Der SAZ zufolge hatte eine Gruppe von etwa 40–50  Reichsbannerleuten auf dem Karl-Heine-Platz sitzende »Arbeiter« angepöbelt. Als zwei parteilose Arbei-

48 SAZ, 12.7.1930. 49 LVZ, 14.11.1930.

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ter sich dies verbaten, wurden sie verprügelt, so dass einer für längere Zeit ins Krankenhaus musste. Im Dezember 1931 standen dann zwei der angeblichen Angreifer vor Gericht. Obwohl die beiden Zeugen, die sich offen zu ihrer Sympathie für die KPD bekannten, Opfer der Angeklagten waren, erklärten sie, dass sie keine Strafen für die beiden wollten und vermieden es, Belastendes zu sagen. Der Staatsanwalt jedoch forderte, so die SAZ, unverschämt hohe Strafen, während der Anwalt der Angeklagten gegen die KPD hetzte. Die niedrigen Strafen jedenfalls waren, laut SAZ, ein Ergebnis der Klassensolidarität der beiden Kommunisten. »Reichsbannerproleten, wie lange wollt ihr euch noch gegen eure Klassengenossen missbrauchen lassen«, hieß es am Ende des Artikels.50 Die Weigerung der Kommunisten, gegen die beiden »Reichsbannerproleten« vor Gericht auszusagen, bedeutete erstens, dass die Kommunisten sie immer noch, trotz der Gewalt, als Genossen betrachteten, die auf die Klassen­ solidarität der Kommunisten bauen konnten. Sie waren nach wie vor Teil der Gemeinschaft. Damit verbunden war aber auch eine Erwartung an die Sozial­ demokraten, die Kommunisten ebenso als Genossen zu betrachten und nicht den Parolen ihrer Parteioberen zu folgen. Zweitens kann das Verhalten der Kommunisten vor Gericht als Versuch gelesen werden, Vertrauen zu schaffen. Kommunisten hielten sich an das ungeschriebene Gesetz, niemanden an den bürgerlichen Klassenfeind auszuliefern, selbst in Situationen, in denen sie Opfer von Gewalt geworden waren.51 Wenn es zutrifft, wie etwa Ute Frevert argumentiert, dass Vertrauen zwischen Opfern und Tätern von Gewalt kaum existieren kann,52 dann stellte die Weigerung zu denunzieren gleichsam ein Angebot der »Opfer« dar, der Gewalt zum Trotz Vertrauensbeziehungen aufzubauen. Hatte die Gewalt zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, und insbesondere der Mord an Max Warkus im selben Jahr, eine Atmosphäre des Misstrauens zwischen Angehörigen beider Parteien zumindest befördert, dann lässt sich die Weigerung, die angeblichen Täter vor Gericht zu belasten, wie eine Botschaft lesen: »Trotz der Gewalt, die ihr Sozialdemokraten verübt habt, glauben wir an Klassensolidarität, und«, so ließe sich hinzufügen, »ihr Sozialdemokraten könnt und solltet dies auch umgekehrt tun, trotz der Gewalt, die wir verübt haben.« 50 SAZ, 5.12.1931. Leider konnten keine weiteren Quellen über den Vorfall oder das Verfahren gefunden werden, weshalb er nur aus kommunistischer Sicht interpretiert werden kann. Für ein weiteres, ähnliches Beispiel, SAZ, 2.7.1932. Einerseits standen Kommunisten wegen Ausschreitungen auf dem Fürsorgenachweis im Mai 1932 vor Gericht. Ein Sozialdemokrat, so die SAZ, hatte Nachforschungen angestellt und dann die Kommunisten bei der Polizei angezeigt. Auch in diesem Fall publizierte die SAZ Name und Adresse des Sozialdemokraten. Andererseits behauptete die SAZ, ein Kommunist, der angeblich von Sozialdemokraten zusammengeschlagen worden war, hätte sich geweigert, Strafantrag zu stellen. »Ich werde nie einen, wenn auch verhetzten, Arbeiter den Krallen der faschistischen Justiz ausliefern. Wir haben einen anderen gemeinsamen Feind.« 51 Es handelte sich, so ließe sich mit Reemtsma sagen, um ein implizites Versprechen, was man nicht tun würde, Reemtsma, S. 34. 52 Frevert, Rezension.

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Ob ein solches »Angebot« auf Zustimmung stieß, darf in Anbetracht der Gewalt zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten, die in der Regel von Kommunisten ausging, allerdings bezweifelt werden. Zum Abschluss dieses Teilkapitels soll ein besonders komplexes Beispiel einer ganzen Serie von Denunziationen vorgestellt werden, in deren Mittelpunkt der Reichsbannermann Kurz stand. Den Anfang machte die SAZ am 12. Mai 1932 unter der Schlagzeile: »Eine Schande für die Arbeiterschaft. Reichsbannermann wird zum Verräter und liefert klassenbewussten Arbeiter der faschistischen Justiz aus.«53 Im August 1931 hatte Kurz, dessen Wohnort die SAZ selbstredend veröffentlichte,54 ein kommunistisches Flugblatt in seinem Briefkasten gefunden. Sofort informierte er die Polizei und gab ihr Namen und Adresse eines Kommunisten, der angeblich regelmäßig verdächtige Pakete erhielt. Als die Polizei daraufhin seine Wohnung durchsuchte, fand sie in der Tat illegales Material, ebenso wie eine Liste mit Adressen von Polizeibeamten. Wegen angeblicher Zersetzungstätigkeit wurde dann ein Verfahren gegen den Kommunisten wegen Hochverrats eingeleitet, das im Mai 1932 mit einer Haftstrafe endete. Nur wenige Tage später, am 20.  Mai 1932, reagierte die LVZ und berichtete über ein kommunistisches Flugblatt, das Kurz als Polizeispitzel und Arbeiterverräter denunzierte; selbst seine Mutter, eine Fürsorgepflegerin, die als Schöffin am Jugendgericht tätig war, wurde darin angegriffen.55 Die LVZ erwartete nun, dass Kommunisten in Reaktion auf diese »Mordhetze« Kurz überfallen würden und forderte daher »Reichsbannerkameraden und Parteigenossen« dazu auf, »nichts unversucht lassen, den elenden Mordhetzer und alle, die sich zu Verbreitung dieses feigen Mordhetzblattes hergegeben haben, ausfindig zu machen und dafür zu sorgen, dass diese blutige Verbrecherpolitik ihre Ahndung findet.« Das müsse geschehen, ehe die »blutlechzenden Bestien der KPD ihr bei Max Warkus so erfolgreich gesetztes Ziel erreichen.« Die Zeiten der Toleranz seien vorbei, so die LVZ. Die Serie an Denunziationen endete nicht hier, auch wenn der genaue Zeitpunkt der nächsten Denunziation unklar bleibt. Etwas weniger als einen Monat später berichtete die LVZ erneut über Kurz.56 Mehrere Reichsbannermänner, unter ihnen der »von den Kommunisten in Stötteritz besonders gehasste« Kurz, standen wegen der Ausschreitungen am Bayrischen Platz im Februar 1932 vor Gericht,57 obwohl sie es waren, die angegriffen worden waren, so die LVZ. Während der Verhandlung wurde klar, dass sie Opfer von Denunziationen geworden 53 SAZ, 12.5.1932. 54 Sowohl LVZ als auch SAZ veröffentlichten regelmäßig Namen und Adressen von politischen Gegnern und Streikbrechern, etwa SAZ, 8.1.1929, 7.6.1929, 20.9.1930; LVZ, 15.2.1930, 22.8.1931, 8.9.1932. 55 LVZ, 20.5.1932. Das Flugblatt selbst ließ sich nicht auffinden. 56 LVZ, 9.6.1932. 57 Es bleibt unklar, welche Ausschreitungen die LVZ hier meinte.

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waren. Einer der Denunzianten war ein als »übler Provokateur« bekanntes ehemaliges KPD-Mitglied. Allerdings waren beide Zeugen auf Wanderschaft, weshalb der Prozess eingestellt werden musste. Diese ganze Kette an Denunziationen ist überaus bezeichnend für die jeweilige Konstruktion der kommunistischen beziehungsweise sozialdemokratischen Gemeinschaft. Prinzipiell verachteten Sozialdemokraten Denunziationen genauso sehr wie Kommunisten, wie der Bericht über Kurz, der ein Opfer einer Denunziation geworden war, zeigt. Andererseits rief die LVZ ihre Leserschaft mehr oder weniger dazu auf, die »Mordhetzer«, die das kommunistische Flugblatt verteilt hatten, bei der Polizei zu melden. In den Augen der LVZ stellte dies jedoch keine »Denunziation« dar; vielmehr sollten schlichtweg gefährliche Kriminelle der Polizei gemeldet werden. Die Polizei war in dieser Perspektive, wenig überraschend, Teil einer legitimen Obrigkeit, an die sich Sozialdemo­karten wenden konnten. Im Gegensatz zur KPD, deren Referenzpunkt eine (revolutionäre)  Arbeiterklasse war, die sich gegen Autoritäten wie den bürgerlichen Staat durchsetzen musste, stellte die Republik, ihre Organe ebenso wie ihre Unterstützer, die Gemeinschaft dar, zu der sich Sozialdemokraten zugehörig fühlten; kommunistische Mordhetzer gehörten sicherlich nicht dazu. Diese bei der Polizei anzuzeigen war daher nicht schlimmer als, aus kommunistischer Perspektive, Streikbrecherinnen in der lokalen Öffentlichkeit zu brandmarken. Aus kommunistischer Perspektive, aber interessanterweise auch aus Sicht der Frauen auf der eingangs beschriebenen SPD-Demonstration, waren der Staat und seine Polizeikräfte der Klassenfeind, an den nicht einmal »verhetzte« Sozial­demokraten ausgeliefert werden durften. Dies mag für sich genommen kaum überraschend sein: Sozialdemokraten wollten die Republik verteidigen, Kommunisten griffen sie an. Der hier vorgetragene Punkt ist jedoch ein anderer: mittels Denunziationen wurden praktisch und diskursiv zwei unterschiedliche Gemeinschaften (im Sinne von Communities) geschaffen. Sie waren gleichsam ein Mittel, die verschiedenen Vorstellungen von Gemeinschaften in der Praxis umzusetzen. Auf diese Weise wurde die jeweilige Gemeinschaft zu einer in der Praxis erfahrbaren Realität, sowohl für Streikbrecherinnen, die Gewalt ihrer kommunistischen Nachbarn fürchten mussten, als auch für Kommunisten, die aufgrund von Denunziationen im Gefängnis landeten, aber auch für jene, die aktiv die Feinde der Gemeinschaft auf der Straße oder bei der Polizei denunzierten. Leider fanden sich keine Akten, anhand derer die Behauptung der SAZ, Kurz habe im August 1931 einen Kommunisten denunziert, überprüft werden konnte. Sicher ist, dass im fraglichen Zeitraum ein Kommunist bei der Polizei angezeigt wurde, und wenn es sich bei dem Denunzianten wirklich um Kurz handelte, dann hatte die KPD allen Grund, sich über Kurz zu erregen.58 58 Zum gesamten Fall SStAL, PP S 1161.

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Der in den Polizeiakten anonym bleibende Mann hatte die Polizei über ein illegales KPD-Büro in der Körnerstraße unterrichtet. Die Polizei führte prompt eine Hausdurchsuchung durch, bei der sie auch illegale Zeitungen und Flugblätter fand. Der Mieter der Wohnung, ein gewisser Peter Gregor Harthmann, war Mitglied der KPD und Kassierer der Proletarischen Wehrorganisation, aus der er aber ausgeschlossen worden war. Als die Polizei ihn mit dem gefundenen Material konfrontierte, gab er zu Protokoll: »Nachdem ich nach Lage der Sache erkennen muss, dass der Polizei aus den Kreisen meiner Genossen eingehende Mitteilungen über unsere Organisationsangelegenheiten zugegangen sind, habe ich keinen Grund mit der Wahrheit zurück zu halten.« Er gestand, gefälschte Dokumente benutzt zu haben, um den Raum im Dezember 1930 unter falschen Angaben – er gab vor, einen Papierhandel betreiben zu wollen – als Büro anzumieten; in Wahrheit sollte der Raum jedoch dazu genutzt werden, der Polizei im Falle der Illegalität Unterlagen zu entziehen. Im Laufe der Zeit wurden dort auch verbotene Druckschriften gelagert. Nach seinem Ausschluss aus der Proletarischen Wehrorganisation wegen persönlicher Zwistigkeiten aber wurde das Büro nicht mehr genutzt. Das Material, das die Polizei dort gefunden hatte, war nur noch ein Restbestand. Zunächst weigerte sich Harthmann, die Namen anderer beteiligter KPDMitglieder zu nennen, auch wenn es der Polizei in den folgenden Tagen und Wochen gelang, einige weitere Kommunisten festzunehmen. Im Januar 1932 – Harthmann war immer noch in Untersuchungshaft – nahm der Fall eine überraschende Wende, die bezeichnend für die Konflikte und Spannungen im Parteialltag der KPD ist. »Ich habe heute keine Veranlassung mehr, den Karzig zu schonen, da man mich anscheinend von der Partei aus vergessen hat«, erklärte er gegenüber der Polizei. Karzig, von dem Harthmann die Pakete mit illegalem Material erhalten hatte, bekleidete eine wichtige Funktion in der Partei. »Infolge seiner besonders wichtigen Funktion als Nachrichtenleiter der KPD beteiligt er sich an keiner Veranstaltung der Partei, damit die Polizei nicht auf ihn aufmerksam wird.« Offenbar war Harthmann enttäuscht über den Mangel an Unterstützung für seine Frau durch die KPD und Rote Hilfe während er im Gefängnis war. Sein Vertrauen in das »implizite Versprechen« (Reemtsma) der KPD, im Falle der Verhaftung solidarisch Hilfe zu leisten, war enttäuscht worden, weshalb auch er keinen Anlass mehr sah, das Vertrauen, das die Partei in ihn setzte, zu rechtfertigen. Die Polizei fand schnell heraus, dass es sich bei der Person um Albert Karzig handelt, dessen Wohnung ebenso durchsucht wurde. Zwar konnte die Polizei dort kein illegales Material finden, wohl aber umfangreiche Listen mit Namen und Adressen von Polizeibeamten, Reichswehrangehörigen und Nationalsozialisten. Karzig stritt ab, sich an irgendwelchen illegalen Aktivitäten beteiligt zu haben. Die Listen waren einem anderen Kommunisten namens Kurt Armin Ross abgenommen worden, weil man diesem von Seiten der Partei »misstraute«. Weitere Polizeiermittlungen ergaben, dass die KPD selbst die Wohnung des Ross durchsucht hatte, der offenbar ebenfalls eine wichtige Funktion in 167 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

der KPD innegehabt hatte. Auch die Polizei durchsuchte nun seine Wohnung, wo sie eine Menge kommunistisches Material fand, allerdings nichts Illegales. Seine Handschrift belegte jedoch, dass er das Namens- und Adressverzeichnis erstellt hatte, was Ross ebenso zugab wie dass die KPD seine Wohnung durchsucht hatte. In Bezug auf das Namensverzeichnis erklärte Ross, dass er dieses von einem sogenannten »Bolschewistischen Pranger« abgeschrieben hatte, der sich im Büro der Bezirksleitung befand. Funktionäre der Partei hatten dann die Aufgabe, ein Auge auf diese der KPD feindlich gesonnenen Personen – Nationalsozialisten, Stahlhelmangehörige, Polizisten, etc.  – zu halten. Weiterhin gab er zu Protokoll, er sei Mitglied der KPD, der Roten Hilfe, der Internationalen Arbeiterhilfe sowie des Kampfbundes gegen den Faschismus, aus dem er jedoch ausgeschlossen worden war, weil man ihn für einen Polizeispitzel hielt. Die Wohnungsdurchsuchung durch die KPD stand mit dieser Verdächtigung in Zusammenhang. Der Hintergrund war, so scheint es, dass er einen Freund und Genossen namens Bergmann – sein Vorname bleibt ungenannt – und seine Frau Emilia Lichtenberg bei parteiinternen Konflikten unterstützt hatte. Das Paar war Gegenstand zahlreicher Intrigen und Verdächtigungen innerhalb der Partei. Unter anderem wurden auch ihnen Spitzeldienste vorgeworfen, weshalb sich Ross irgendwann ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt sah. Lichtenberg war über Jahre hinweg eine äußerst aktive Kommunistin gewesen, wie Bergmann in einem Brief an seine Parteioberen betonte, teils auch in »verantwort­ lichen und vertraulichen« Positionen. Dann aber begannen Verleumdungen und Verdächtigungen ihr gegenüber. »Umso dringender ist nötig, derartig blödsinnige Gerüchte über sie zu unterbinden. Ich für meine Person bin in einer mir völlig unklaren Art mit diesen Verdächtigungen verknüpft worden und fordere hiermit von mir aus, dass die Stadtteilleitung den Verbreiter dieser Gerüchte ermittelt und feststellt, ob er wahres oder unwahres Material hat! Falls das Material unwahr ist, wie ich überzeugt bin, sehe ich es als eine Selbstverständlichkeit an, dass gegen dieses parteischädigende Verhalten vorgegangen wird. Ich ersuche weiter, die Zelle F b2 offiziell von dem Resultat der Untersuchung in meiner Angelegenheit und der der Gen. Lichtenberg in Kenntnis zu setzen und darauf hinzuwirken, dass positive Zusammenarbeit endlich ermöglicht wird«, schrieb Bergmann in seinem Brief. Im Januar 1931 bestätigte die Unterbezirksleitung Leipzig in der Tat, dass alle Anschuldigungen gegenüber Lichtenberg falsch waren. Aber dies war nicht das Ende der Affäre. Nach einer Sitzung der Straßenzelle am 6. Februar 1932 sprach Bergmann mit einem Genossen Grosz, den er bat, die Funktionäre über die Ergebnisse der Untersuchung zu unterrichten. Dann, so hoffte er, würde »das weiter sich auswirkende Misstrauen unter den Funktionären beseitigt« werden. Grosz aber erklärte, er werde die Funktionäre nur dann informieren, wenn »das Sekretariat der Zelle […] eine entsprechende Mitteilung zugehen lasse.« Und so konnte sich das Misstrauen auch weiter ausbreiten. Bergmanns folgende Beschwerden verdienen ausführlich zitiert zu werden. 168 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

Ich stelle fest, dass durch das vergebliche Ankämpfen gegen Verleumdungen von einer Seite, die wir nicht ermitteln konnten und die damit verbundenen großen Anstrengungen, weiter Parteiarbeit leisten, gegen den Widerstand der Hauptfunktionäre der Zelle F b2 (besonders des Polleiters), die Gesundheit der seit längerem kranken Gen. Lichtenberg [seiner Frau] schwer erschüttert hat [sic]. Ich bin ebenfalls krank durch diese ewigen Intriguen [sic] und kaum mehr imstande meine Partei­arbeit auszuführen. Ich habe haufenweise Arbeit als Mitglied der engeren Ifa-Bezirksleitung, als Leiter von 3  Ifa-Ausschüssen zur Vorbereitung der Ifa-Kultur-Schau und bin, statt meine Kraft nützlich aufwenden zu können, gezwungen worden in der Straßenzelle F b2 mich gegen sabotierende Widerstände kaputtzuarbeiten. So musste ich die Ante-Weihnachtsnummer [sic] der R. W. mit Hilfe von zwei nicht zur Zelle gehörigen Genossen herzustellen [sic] und mit nur 5 Genossen (wovon 3 zur Zelle gehörten) abzuziehen und 200 Stück von Haus zu Haus zu verkaufen (an beiden Weihnachtsfeiertagen). Auf mich entfielen dabei etwa 55 Stück, die ich umsetzte. Noch schlimmer war es bei der Januarnummer der R. W. Herstellung und Vertrieb landeten wieder unverhältnismäßig stark auf meinen Schultern. Wenn ich nicht das Beispiel gegeben hätte persönlich 80 Stück zu verkaufen, ein Genosse, der nicht zur Zelle gehört, 30 Stück, so wäre es zu keinem Erfolg gekommen. Das ist bei allen gehässigen und verleumderischen Widerständen natürlich nicht lange durchzuführen. Und meine anderen Funktionen, wie die sehr wichtige in der Ifa-Leitung, leiden darunter.

Der einzige Grund für seine Genossen, ihn »abhängen« und »kaltstellen« zu wollen war, so seine Vermutung, dass er mit Lichtenberg zusammen wohnte. Vielleicht waren Eifersüchteleien in Liebesdingen der wahre Grund für all die Konflikte. Es verwundert nicht, dass er und seine Frau nach Berlin verzogen. Diese Vorgänge hatten Ross dazu veranlasst, einen Brief an seine Parteioberen, unter ihnen Ernst Thälmann und Siegfried Rädel, zu schreiben, der wiederum dazu geführt hatte, dass die KPD seine Wohnung durchsucht hatte. Zwar hatte man ihm gedroht, er würde wegen seiner angeblichen Spitzeltätigkeiten zur Rechenschaft gezogen werden, doch hatte er seit der Hausdurchsuchung nichts mehr von der KPD gehört. Er hatte mittlerweile auch alle Tätigkeiten für die KPD, mit Ausnahme seiner Verpflichtungen für die IAH, eingestellt. In der Zwischenzeit hatte Harthmann, der bis Oktober 1932 in Untersuchungshaft verblieb, die KPD im Februar 1932 verlassen. Ein Grund hierfür war sicherlich, dass seine Frau nicht von der Roten Hilfe unterstützt worden war. Dass er der Partei den Rücken zukehrte, half hierbei nicht. »Wo bleibt eure große Überparteilichkeit«, schrieb er verärgert in einem Brief. Von der KPD enttäuscht, veröffentlichte er in der LVZ einen Aufruf an seine vormaligen Genossen, bei der Reichspräsidentenwahl im Frühjahr 1932 nicht für Thälmann zu stimmen, da eine solche Stimme de facto eine Stimme für Hitler sei. Stattdessen sollten sie sich einfach enthalten. Das Verfahren endete mit einer Verurteilung Harthmanns und Karzigs wegen Hochverrats zu jeweils 20 Monaten Haft, da sie »zersetzendes Material« an Reichswehrangehörige verteilt hatten. Auch wenn dieser Fall einmalig ist  – zumindest liegen (in dieser Dichte) keine Akten über ähnliche Fälle vor – so zeigt er doch eindrucksvoll, wie läh169 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

mend die Angst vor Polizeispitzeln in der KPD sein konnte, auch wenn unklar bleibt, was die wahren Gründe für die zahlreichen Verleumdungen gegen Bergmann und Lichtenberg waren. In Anbetracht der oft illegalen Arbeit der KPD lag es durchaus nahe, sich vor Polizeispitzeln zu fürchten, auch wenn die Forschungen Carsten Schreibers zeigen, dass es tatsächlich relativ wenige Polizeispitzel in der KPD gab.59 Kommunisten nahmen ihre »revolutionäre« Tätigkeit wohl wichtiger als die Polizei. Entscheidend waren aber nicht die wirklichen Spitzel, sondern die von vielen Kommunisten imaginierten. Denunziationen und die Furcht vor ihnen, so lässt sich zusammenfassend sagen, schwächten die lokale Arbeiterbewegung in Leipzig massiv. Dabei war die lähmende Spitzelfurcht in der KPD nur ein Problem. Darüber hinaus fungierten die zahlreichen Denunziationen und Denunziationsbeschuldigungen als weitere »Misstrauensbeweise« für Kommunisten und Sozialdemokraten. Und schließlich trugen diese Denunziationen dazu bei, die Spaltung der Arbeiterbewegung an der Basis zu zementieren. Denunziationen waren ein Weg, die Grenzen der jeweiligen parteipolitisch konstituierten Community zum Ausdruck zu bringen und praktisch umzusetzen.

3.3 Misstrauen, Autonomie und Passivität: Die KPD in Leipzig Misstrauen belastete nicht nur die Beziehungen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten an der Basis, sondern auch die Beziehung innerhalb der Parteien selbst. Im Folgenden wird, vornehmlich der Quellenlage geschuldet, ein genauerer Blick auf die Situation innerhalb der KPD geworfen (für die SPD existieren kaum interne Quellen),60 wo Spitzelängste und tatsächliche Denunziationen einer von vielen Gründen für Misstrauen und Konflikte waren. In der Darstellung Klaus-Michael Mallmanns erscheint die KPD als eine von Konflikten zwischen einer revolutionären Avantgarde mit hohen Erwartungen an die Mitgliedschaft und einer passiven und abwartenden Basis, die sich eher um lokale Probleme denn die Weltpolitik kümmerte, gekennzeichnete Partei.61 Das Beispiel Leipzig bestätigt diese Analyse. Auch in Leipzig war die Lücke zwischen den Vorgaben der Parteispitze und der tatsächlichen Tagesarbeit der Kommunisten immens. Polizei­a kten im Staatsarchiv Leipzig sind in dieser Hinsicht bezeichnend. Immer wieder sandte das sächsische Innenministerium in Dresden 59 Schreiber. Andererseits legen die zahlreichen internen KPD-Dokumente, die das Innen­ ministerium in Dresden erhielt, nahe, dass es durchaus Polizeispitzel in der KPD gab, SStAL, PP St 7–9, wo sich Abschriften der KPD-Interna finden. 60 Vogel. 61 Grundsätzlich Mallmann, Kommunisten. Eumann hingegen betont, dass Kommunisten an der Basis tatsächlich einiges erreichten, auch wenn sie nicht die unrealistischen Erwartungen der Parteiführung erfüllen konnten. Zu Konflikten zwischen lokalen Kommunisten und der Parteiführung Herlemann.

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mehrseitige, engbeschriebene Blätter interner KPD-Vorgaben, an die das Innenministerium auf vertraulichem Wege gelangt war, ans Polizeipräsidium Leipzig. Die Antwort der dortigen Polizei fiel hingegen in aller Regel kurz aus: »Solche Bestrebungen konnten in Leipzig nicht beobachtet werden.« In Bezug auf die Pläne der KPD sind diese Dokumente überaus aufschlussreich, in Bezug auf die tatsächliche politische Praxis der KPD aber relativ langweilig, mit einer entscheidenden Ausnahme: sie zeigen, wie viel Papiermüll die KPD produzierte.62 Die einfachen Parteimitglieder der KPD waren, wie Mallmann gezeigt hat, keineswegs »gehorsame Parteisoldaten«, die emsig versuchten, unrealistische Vorgaben von oben umzusetzen. Ganz im Gegenteil, sie weigerten sich standhaft, sehr zum Ärger ihrer Parteioberen, revolutionär und eben politisch tätig zu sein. In diesen Konflikten zwischen Führung und Basis ging es immer wieder, wenn auch nicht ausschließlich, um Vertrauen und Misstrauen. Oftmals vertrauten Kommunisten ihren örtlichen Führern, misstrauten aber der Parteiführung in Berlin. Was Vertrauen – ein Wort, das immer wieder in kommunistischen Quellen auftaucht – in diesen Situationen genau bedeutete, bleibt oft unklar. Es scheint auf Loyalitäten zu verweisen, die auf persönlichen Bekanntschaften aufbauten und die oftmals wichtiger waren als Loyalität zur Partei insgesamt. Einerseits hatten Kommunisten vor Ort wenig »Vertrauen« in die Fähigkeit der Parteioberen, Entscheidungen zu treffen, die im lokalen Kontext Sinn machten. Darüber hinaus brachten sie jedoch auch Zweifel darüber zum Ausdruck, wie sehr die Führung der KPD wirklich und »ehrlich« für die Sache des Kommunismus eintrat. In dieser Situation des Zweifelns versuchten Kommunisten ihre lokale Autonomie zu verteidigen. Die Parteiführung wiederum warf ihnen Passivität und den Unwillen vor, angetragene Aufgaben zu über­ nehmen. Die Lösung für dieses Problem hieß von Seiten der Führung »Kontrolle«. Auf diese Weise sollte sicher gestellt werden, dass Kommunisten ihren revolutionären Aufgaben nachkamen. Die Parteiführung verlangte von ihren Mitgliedern nicht nur Loyalität und Gehorsam, sondern auch Vertrauen in ihre Entscheidungen.63 Die Realität sah jedoch so aus, dass Kommunisten in Leipzig ihren Parteioberen eher miss­ trauten. Ein Bericht der »erweiterten Stadtteilleitungssitzung« eines »Stadtteils A« vom April 1931 bietet hierfür ein gutes Beispiel.64 Die genauen Details des Konflikts bleiben einigermaßen unklar, da sich keine Dokumente über die Vorgeschichte der Auseinandersetzungen auf jener Sitzung finden ließen. Trotz dieser Unklarheiten ist der Bericht für die Stimmung in der KPD, für permanente Anfeindungen, Verdächtigungen und Misstrauensbekundungen bezeich62 Beispielsweise SStAL PP St 7–9. 63 BArch, RY 1 I/4/1/74 KJVD, Bl. 172 ff. zitiert oben, S. 147. 64 BArch, RY 1  I/3/8–10/154, Bl.  149 ff. Der Bericht wurde von einem Delegierten des Parteisekretariats verfasst, der sich einem hartnäckigen Widerstand der lokalen Kommunisten gegenüber sah. Ähnlich SStAL, Erinnerungsberichte, V/5 332. Richard Wölbing, Autor des Erinnerungsberichts, behauptet, ein Treffen hätte beinahe in einer Schlägerei zwischen RFB-Angehörigen gemündet.

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nend. Im Zentrum des Konflikts stand der Ausschluss von vier angesehenen Funktionären einer »6. Abteilung« (es bleibt unklar, welcher Organisation sie angehörten, vermutlich einer Wehrformation), unter ihnen ein Mann namens Tremel, durch das Sekretariat (erneut, nur vermutlich, der Unterbezirksleitung [UBL] Leipzig). Die tagende »Erweiterte Stadtteilleitung« verlangte im Gegenzug den Ausschluss zweier anderer Funktionäre namens Weiss und Röntig, was vom Parteisekretariat abgelehnt wurde. Im Kern ging es dabei darum, wem vertraut werden konnte, den ausgeschlossenen Funktionären, die für eine unabhängige Wehrformation eintraten, oder dem Sekretariat, das eine strikte Kontrolle der Wehrorganisation anstrebte. Da die Quelle außerordentlich dicht ist, lohnt es sich, sie ausführlich zu präsentieren. Schon zu Beginn der Versammlung war die Stimmung äußerst erregt, weshalb eine »sachliche Diskussion« nicht möglich war, so der von dem Delegierten der UBL Leipzig verfasste Bericht. Tremel war trotz seines Ausschlusses, von dem er angeblich nichts erfahren hatte, zu der Versammlung erschienen; ihn zum Gehen zu bewegen dauerte allein zehn Minuten. Das folgende Referat des Instrukteurs wurde mehrfach lauthals unterbrochen, und als der Pol­ leiter der Straßenzelle, ein gewisser Genosse Hof, zu sprechen begann, wurde er mit Zurufen wie »erzähle keinen Bandwurm, du hast uns oft genug beschwindelt« begrüßt. In Anbetracht dieser Stimmung hielt Hof nur eine äußerst »feige« Rede, in der er immer wieder betonte, dass auch er den Ausschluss von Weiss und Röntig befürworte und dass es nicht wahr sei, dass ein politischer Gegensatz zwischen der Stadtteilleitung und der UBL Leipzig existiere; diese habe die Stadtteilleitung nur unzureichend über die 6. Abteilung informiert. »Es sei eine Missstimmung bei den Genossen, weil in den verantwortlichsten Funktionen der Massenorganisationen unzuverlässige und zum Teil  parteilose Elemente säßen«, heißt es in dem Bericht. Danach ergriffen andere Genossen das Wort, von denen die meisten sich scharf gegen die Parteiführung und insbesondere Weiss und Röntig wandten. Ein Genosse Maier erklärte, »in der Wehrorganisation hätten sie seit Jahr und Tag gegen die diktatorisch eingesetzten Leitungen opponiert und immer Recht behalten, […]. Er [Maier] habe Vertrauen zur Leitung [also zu Tremel], weil man erzähle, dass in der obersten Führung Spitzel säßen, das Sekretariat wolle wegen 2 Personen, die man unbedingt halten wolle, lieber die ganze Organisation zerschlagen.« Danach erzählte ein Genosse Thau »viel von der Bonzenstellung der Weiss, Röntig, usw., die trotz aller Vorwürfe immer wieder gedeckt würden, […]. Unsere Kameraden sind alle reell, auch die Ausgeschlossenen. Wenn der Genosse, den man hier heraus gewiesen hat, reden könnte, könnte er schöne Sachen von Russland erzählen [sic]. Mit Pappkartons sind unsere Delegierten herüber gefahren, mit dicken Lederkoffern kommen sie zurück. […] Röntig und Weiss sind korrupt. Röntig hat sich Petri durch halbe Liter Bier gekauft, usw.« Genosse Illmann brachte »eine Reihe persönlicher Behauptungen über das Privatleben von Röntig und erklärt, man habe nur die Genossen ausgeschlossen, 172 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

die Material gegen die Leitung haben, damit sie nichts mehr sagen können. Er verweist auf Abrechnungen von Sammellisten und behauptet, beweisen zu können, dass Weiss RM 59,- unterschlagen hat. Auf die Frage, warum er diese Dokumente nicht dem Sekretariat eingereicht hat, erklärte er, ›das könnte Euch so passen, damit Ihr das Material verschwinden lasst.‹« Nur Genosse Kurz, der für die Untergauleitung (vermutlich der Wehrformation) sprach, sprach sich gegen die Ausgeschlossenen aus, da sie an einer Kundgebung gegen die Sowjetunion teilgenommen hätten.65 Abschließend erklärte Genosse Kranz, »es bestehe kein Vertrauen zum Sekretariat, weil das Sekretariat einfach über den Antrag der Stadtteilleitung hinweggehe.« Sodann brachte er eine Resolution ein, die erneut den Ausschluss von Weiss und Röntig forderte, und mit 32 Ja-Stimmen bei 11 Nein-Stimmen angenommen wurde. Der Delegierte war am Ende sichtbar über das »schandbare« Niveau der Diskussion verärgert. Insbesondere der Polleiter Hof, der erfolglos versucht hatte, die Resolution des Kranz zu verhindern, zog sich seinen Zorn zu, hatte er doch nicht energisch den Standpunkt des Sekretariats vertreten, sondern nur argumentiert, man wolle keinen neuen Konfliktfall schaffen. Selbst die »tollsten Angriffe auf die Parteiführung« wies Hof nicht zurück. »Dabei hat Hof als Stadtteilleiter keinerlei Autorität, weil er dauernd schwankt, vor jeder Stimmung der Funktionäre kapituliert«, hieß es in dem Bericht. Da Hof »völlig unzuverlässig und keineswegs stark genug« sei, müsse er unbedingt durch einen neuen Pol­ leiter ersetzt werden, bemerkte der Delegierte am Schluss seines Berichts. Bei dem Konflikt ging es, wie die verschiedenen Redner klar machten, in hohem Maße um Vertrauen, beziehungsweise den Mangel an Vertrauen, den Funktionäre in die Führung hatten. Worin genau dieser Mangel bestand, bleibt allerdings unklar. Die Teilnehmer an der Versammlung nahmen wohl einfach an, dass jeder verstehen würde, wovon sie sprachen. Der etwas seltsame Ausspruch »[u]nsere Kameraden sind alle reell« mag hier Aufschluss geben. Die Implikation war, dass jene kritisierten Bonzen in der Parteiführung keine »reellen« Kameraden waren: sie waren korrupte Spitzel, die sich nicht um die Belange einfacher Kommunisten kümmerten. Wenigstens in dieser Stadtteilgruppe glaubten die Mitglieder nicht so recht daran, dass die Parteioberen wirklich für den Kommunismus stritten. Daher waren auch die Behauptungen über das Privatleben von Röntig relevant, zeigte sich doch in diesem Verhalten, ob er ein wahrer Kommunist war, der Vertrauen verdiente. Auch was die Regelung des Konflikts anging, hatten die Funktionäre kein Vertrauen in die Führung, befürchteten sie doch, dass belastendes Material gegen Weiss und Röntig einfach verschwinden würde. Auf der anderen Seite hielten sie der alten, ausgeschlossenen Führung

65 Dies deutet an, dass Kommunisten, die sich weigerten, innerhalb sozialdemokratischer Demonstrationen zu agitieren, weil sie fürchteten, dort gesehen zu werden und daraufhin innerhalb ihrer eigenen Partei Schwierigkeiten zu bekommen, durchaus Grund zur Sorge ­hatten.

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der »6. Abteilung« die Treue. Führer, die sie persönlich kannten, von denen sie wussten, dass sie »reelle Kameraden« waren, verdienten Vertrauen. Interessanterweise scheint die Parteiführung nicht versucht zu haben, Vertrauen wieder herzustellen, sondern verlangte schlichtweg, dass ihre Autorität respektiert wurde. Da Hof keinerlei Autorität besaß, war er hierfür völlig ungeeignet. Notwendig war aus Sicht der Parteiführung eine strikte Kontrolle, die Hof aber nicht durchsetzen konnte. Hof selbst saß zwischen den sprichwört­ lichen Stühlen, da er sowohl das Vertrauen der ihm untergebenen Kommunisten im Stadtteil, die ihn nur auslachten, benötigte, als auch das Vertrauen der Parteiführung, den Stadtteil effektiv führen zu können. Sein permanentes Schwanken kann als Versuch gelesen wesen, es beiden Seiten Recht zu machen, ein Versuch, der völlig fehlschlug, weshalb er von keiner Seite mehr respektiert wurde. Dies war nicht der einzige Konflikt um Wehrformationen. Sowohl in der SPD als auch in der KPD war ihre Stellung gegenüber der Partei umstritten, da die sozialdemokratischen Kampfstaffeln (KS) wie auch die kommunistische Sächsische Arbeiterwehr (SAW) nach Unabhängigkeit strebten. Als die Parteiführung der KPD 1930 beispielsweise eine Reorganisation der SAW verlangte, um die KPD und ihre Strukturen besser auf die Illegalität vorzubereiten, insistierten die Delegierten der SAW auf ihrer Unabhängigkeit und weigerten sich, den Weisungen zu folgen. Damit hätten sie, so der Funktionär der KPD, »innerlich längst mit der Partei gebrochen.« Die Reaktion auf diese für die anwesenden SAW-Mitglieder sicherlich beleidigende Bemerkung war ein allgemeiner Tumult. »Noch viel zu jung!«, »Den Hund muss man erschießen!«, wurde dem Delegierten entgegengerufen; ein anderes SAW-Mitglied wollte ihn gar mit einer Bierflasche angreifen. Als der Delegierte sich weigerte, die Bemerkung zurückzunehmen, und bestimmt nicht gegenüber Genossen, die das »Argument der Bierflasche« gebrauchten, wurde ihm das Wort entzogen. Der Delegierte blieb aber bei seiner Meinung, die SAW hätte sich gegen die Partei gestellt, und verließ schließlich empört die Sitzung.66 Die Stellung der Kampfstaffeln in der SPD war noch schwieriger als die­jenige kommunistischer Wehrformationen in der KPD, auch wenn die Kampfstaffeln gerade unter jungen Sozialdemokraten durchaus populär waren. Erneut sind es Berichte kommunistischer Spitzel, durch die wir über Interna der Kampfstaffeln informiert sind. Im Oktober 1931 veranstaltete die SPD eine Versammlung zum Thema »Die Aufgaben der Kampfstaffeln«, an der etwa 680 Personen in »Einheitskluft« teilnahmen. Hermann Liebmann, einer der führenden Sozialdemokraten in Leipzig, hielt eine »kraftvolle Ansprache«, die auch zum außerparlamentarischen Kampf aufrief, der auf Leben und Tod ginge. Als er jedoch verkündete, dass die Parteiführung nach einem Überfall von Nationalsozialisten in Leutzsch, bei dem es auch Verletzte gegeben hatte, nächtliche Aufmärsche 66 BArch, RY 1 I/3/8–10/159. Für weitere Beispiele von Konflikten zwischen RFB-Mitgliedern, SStAL, Erinnerungsbericht, V/5 332.

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verboten hatte, wurde er ausgebuht. Mit Verweis auf die »faschistische Justiz« und einige harte Urteile gegen »Kozis«, ermahnte er die Genossen, sie könnten zwar ihren »Übermut befriedigen«, sollten aber »das Ansehen der Partei schonen.« Vor allem aber war ihm an den Beziehungen zwischen Kampfstaffeln und Reichsbanner gelegen. »Es müssen alle Reibungen vermieden werden, die starken Zwistigkeiten der letzten Zeit, die bald die Form von Schlägereien annahmen, mit allen Mitteln verboten werden.«67 Die Mitglieder der Kampfstaffeln lehnten das Reichsbanner, eine Organisation, die mit dem katholischen Zentrum und der liberalen DDP zusammenarbeitete, strikt ab. »Wir tun alles für die Einheit der Partei, aber die Partei tut nichts für die KS (starker Beifall, Widerspruch bei Liebmann). Nie erwähnt die LV [LVZ] unsere KS in ihren Berichten. (Sehr gut.) In unseren Reihen liegt Kampfesmut, Entschlossenheit zu kämpfen und zu sterben für den Sieg des Sozialismus«, rief ein Genosse aus dem Osten.68 Berichte in der LVZ, in denen die Geschlossenheit der SPD und der Wille, den Nationalsozialismus zu bekämpfen und die Demokratie zu verteidigen, beschworen wurden, erscheinen in diesem Licht als etwas vollmundige Propagandabehauptungen. Den Behauptungen Jesko Vogels zum Trotz, die SPD sei am Ende der Republik innerlich gefestigt gewesen, deuten diese Berichte auf die Probleme hin, mit denen auch die SPD zu kämpfen hatte, von denen man aber in der LVZ wenig lesen konnte.69 Ein letztes Problem, das insbesondere die KPD, die auf die aktive Mit­arbeit ihrer Mitglieder baute, betraf, war deren Passivität, etwa was die Agitation für die Partei in Freizeitorganisationen anging. Ein Bericht vom Februar 1931 beispielsweise beklagte die ungenügende Arbeit, die Kommunisten in Sport­ vereinen leisteten und verlangte, dass die Partei die dort tätigen Genossen stärker kontrollieren sollte. »Darüber hinaus müssen wir feststellen, dass verschiedene Parteimitglieder es sogar ablehnen, mit allen möglichen Ausreden, in den Vereinen den Kampf für die rote Sportbewegung aufzunehmen. Diese Passivität hat in solchen Vereinen, in denen wir guten Einfluss hatten, dazu geführt, dass wir diesen Einfluss eingebüßt haben. Ein großer Teil sympathisierender Sportler ist wohl zu uns gestoßen, aber ein Teil ist gänzlich verloren gegangen«, hieß es in dem Bericht. Das größte Problem war, so hieß es in einem späteren Bericht, dass die kommunistischen Sportler »10 mal Vereinsmenschen [sind] und nur außerhalb des Vereins Kommunisten.« Gerade in Anbetracht der angeblich straffen Fraktionen der SPD sei dies ein großes Problem, das dazu geführt habe, 67 In anderen Quellen ließen sich keine Belege für Gewalt zwischen Reichsbanner- und KSMitgliedern finden. Die Behauptung Donna Harschs, S. 104, zwischen Reichsbanner und Kampfstaffeln hätte es keine Spannungen gegeben, ist unhaltbar. 68 BArch, RY 1 I/2/705/23. Dort auch zu einem ähnlichen Konflikt in der SAJ, die »freieste Meinungsbildung, kein Kadavergehorsam wie bei der KPD oder den Nazis« forderte. 69 Vogel, S. 637 ff. Sein vornehmlich auf LVZ-Artikeln basierendes Porträt der SPD ist allerdings zu positiv. Die wenigen existierenden Belege über das interne Parteileben deuten auf eine deutlich angespanntere Lage hin.

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dass rote Sportler ins Schlepptau der SPD gelangten.70 Im Arbeitersamariter­ bund brachten Kommunisten den gleichen Gedanken zum Ausdruck. Dort hieß es immer wieder: »Erst sind wir Samariter und dann kommt die Partei«, oder »Wir lassen uns von der Partei nicht rein reden.«71 Rein politische Vereinsleitungen, die von der KPD gefordert wurden, lehnten selbst die meisten Roten Sportler ab. Sport war ihnen, wie bereits im zweiten Kapitel diskutiert, zumindest im Verein wichtiger als Politik. Passivität war nicht nur in den sogenannten Massenorganisationen ein Problem für die KPD, sondern auch in den Straßen- und Betriebszellen der Partei selbst. Viele Mitglieder, die doch durch ihre Unterschrift beim Parteieintritt erklärt hatten, für die Partei zu arbeiten, weigerten sich, Funktionärstätigkeiten zu übernehmen, die doch in der Partei dringend gebraucht wurden.72 Eine gewisse Zelle »I/2« gab hierbei ein besonders schlechtes Beispiel ab. Am 12. Oktober 1932 sollten alle Straßenzellen von der Partei zur Verfügung gestellte Plakate kleben; »[n]icht wie es die Zelle I/2 macht. Sie erhält Plakate vom Stadtteil, der Zellenleiter hat nichts anderes zu tun als diese Plakate in den Ofen zu stecken.«73 Insbesondere die Betriebszellen zeichneten sich durch Passivität aus.74 Partei­ berichte vermerkten zu Betriebszellen etwa »?? Besteht diese noch ?? [sic]«, »sehr schlecht«, »könnte besser sein«, »unverantwortlich.« Nur eine Zelle wurde als Vorbild für andere gepriesen.75 Betriebsräte, im vorherigen Kapitel schon aus anderer Perspektive diskutiert, stellten ein weiteres Problem war. In der Baumwollspinnerei, einer der großen Textilfabriken in Leipzig, etwa herrschte, so ein Bericht zur Gewerkschaftsarbeit, eine »stark opportunistische Stimmung« unter den Genossen; als die Textilarbeiterbewegung ausgelöst wurde, meldete sich der (rote) Betriebsratsvorsitzende krank. In der Metallfabrik Rudolf Sack war der Termin für die Betriebsratswahlen vorverlegt worden, was die dortigen Genossen der Parteileitung aber verschwiegen; sie traten gar nicht erst mit einer eigenen Liste an.76 Die Betriebszelle bei Unruh & Liebig, ebenfalls in der Metallindustrie, bot ein aus kommunistischer Perspektive besonders 70 BArch, RY 1 I/3/8–10/156. 71 BArch, RY 1 I/3/8–10/156. Siehe auch Kap. 2. Dies lässt sich als Versuch interpretieren, das gesellige Leben frei von Politik zu halten. Sozialdemokraten brachten ähnliche Klagen vor, da selbst SPD- und Gewerkschaftsmitglieder sich lieber der bürgerlichen (und tendenziell rechten) Deutschen Turnerschaft anschlossen als dem proletarischen ATSB. Auch diese Sozialdemokraten erklärten schlichtweg, Politik habe nichts mit Sport zu tun, eine Einstellung, die sowohl überzeugte Kommunisten wie auch Sozialdemokraten ablehnten. Siehe das Flugblatt »An die Parteimitglieder und Gewerkschaftler im DT [Deutschen Turnerbund]«, Sportmuseum Leipzig, D 2079, zitiert in Adam, S. 133. 72 BArch, RY 1 I/3/8–10/155. 73 BArch, RY 1 I/3/8–10/153. 74 Zum Scheitern der Fabrikzellen, Mallmann, Kommunisten, S. 306–312; Eumann, S. 97–218, 258–276. 75 BArch, RY 1 I/3/8–10/153 und 154. 76 BArch, RY 1 I/3/8–10/167.

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schlechtes Beispiel. Eine Betriebsversammlung beschloss im März 1930, den alten Betriebsrat, der aus fünf »Versöhnlern« (die aber offenbar immer noch in der KPD waren) bestand, wieder zu wählen. Der Versuch eines linientreuen Kommunisten im Betrieb, die fünf Versöhnler dazu zu bewegen, eine oppositionelle Rote Liste aufzustellen, schlug fehl. Somit hatten sich die fünf Genossen gegen die Partei gestellt. Nach der Wahl bestellte das Sekretariat die fünf Versöhnler ein, die aber nicht wie angeordnet erschienen, weshalb ein Instrukteur eine Zellensitzung einberief, auf der sich die Genossen rechtfertigen sollten. »Sie stehen noch auf dem Standpunkt, dass ihre Handlungsweise für ihren Betrieb richtig gewesen sei. ›Begründet‹ wird das damit, dass die Betriebsbelegschaft nach der 3. Betriebsstilllegung innerhalb eines Jahrs sehr passiv sei. Mit einer roten Liste hätten sie sich im Betrieb nur lächerlich gemacht. (Wie wurde nicht gesagt.)«, schrieb der Instrukteur in seinem Bericht. Hätten sie von der neuen Parteilinie gewusst, so hätten sie sich anders verhalten, behaupteten die Zellen­mitglieder. Die Wahrheit aber war, zumindest in den Augen des Instrukteurs, dass sie Angst hatten, aus der Gewerkschaft ausgeschlossen zu werden, was bedeutet hätte, dass sie von dieser etwa im Falle eines Streiks nicht mehr unterstützt worden wären. Aus Sicht der Parteiführung war dieses Verhalten reiner Opportunismus. Für die Kommunisten im Betrieb, die sich noch über einen Arbeitsplatz freuen konnten, war es eine Überlebensstrategie. Den Parteibefehlen zu folgen, eine Rote Liste aufzustellen und so mit der reformistischen Gewerkschaft zu brechen, hätte fatale Folgen gehabt, für sie persönlich wie auch vermutlich für ihr Ansehen unter der Arbeiterschaft im Betrieb.77 Die Reaktion der KPD auf diese Passivität war, auf die angeblich radikaleren parteilosen Arbeiter zu setzen. Blieben Kommunisten passiv, so mussten eben jene Parteilosen aktiv werden. »Sie [die Genossen] unterschätzen den Kampfeswillen der Arbeiterschaft, wobei sich oftmals herausstellt, dass die mit der Partei sympathisierenden Arbeiter kühner und entschlossener den Kampf gegen den Sozialfaschismus, Unternehmertum und Staatsgewalt zu führen bereit sind als unsere eigenen Genossen. Solche opportunistischen Hemmungen wie sie in der Ablehnung der Aufstellung Roter Betriebsratslisten und selbstständiger Listen in den freien Gewerkschaften zum Ausdruck kommen führen nicht nur zur direkten Durchbrechung der Parteibeschlüsse, sondern gefährden auch die Führerrolle der Partei in den wirtschaftlichen und politischen Kämpfen auf das ernsteste«, hieß es in einem Rundschreiben vom März 1930. Gleichzeitig aber zeigten sich im Bezirk Leipzig links-sektiererische Tendenzen in der Ablehnung von Arbeit in den Massenorganisationen.78 Die Realität war vermutlich, dass die Kommunisten in den Betrieben die dortige Situation durchaus verstanden. »Linkes Sektierertum« und »rechter Opportunismus« waren zwei Seiten der gleichen Medaille. Wollten Kommunisten im Betrieb Unterstützung er­halten, so durften sie nicht zu radikal handeln; wollten sie radikal sein, so mussten sie 77 BArch, RY 1 I/3/8–10/155. 78 BArch, RY 1 I/3/8–10/153.

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unter sich bleiben, waren doch die unorganisierten Arbeiter keineswegs »kühner und entschlossener«, den Hoffnungen der Parteiführung zum Trotz. An dieser Stelle soll die Geschichte Gert Zschochers, der schon öfters erwähnt wurde, zur Sprache kommen, da sie auch einen Einblick in das Partei­ leben der SPD erlaubt. Zschocher war in einer sozialdemokratischen Familie aufgewachsen; durch die Mutter wurde er an die sozialistische Kinderbewegung herangeführt, als Jugendlicher schloss er sich der SAJ an. Trotz dieser sozialdemokratischen Prägung und des (angeblichen!) Verbots der Parteiführung, mit Kommunisten zu diskutieren, blieben er und seine Freunde in der SAJ in Kontakt mit Kommunisten, die sie auch mit Material über die Sowjetunion versorgten. Es gelang ihnen gar, im Geheimen einen Kurs an der Marxistischen-Arbeiter-Schule (MASCH) zu belegen. Im Gegensatz zu den meisten SAJ-Gruppen, in denen laut Zschocher nur interne, theoretische Diskussionen stattfanden, wollten er und seine Genossen die Ergebnisse ihrer gegenüber der Parteiführung durchaus kritischen Diskussionen öffentlich machen, weshalb sie ein kurzes Propagandastück über die »Faschismusgefahr« vorbereiteten und aufführten. Auf der Bühne wurde das Präsidium der SPD nachgebildet, und ein Genosse mit hannoveranischer Mundart, der die rechte Position in der SPD repräsentieren sollte, verharmloste die Gefahr des Faschismus. In diesem Moment stürmten als SA- und SS-Männer verkleidete SAJ-Jugendliche den Saal, verjagten Versammlungsleitung und Redner, und hielten eine Drohrede. Da sie den Angriff wohl für echt hielten, griffen manche der Anwesenden zu Stühlen, während andere durch die Fenster flohen. Das Propagandastück endete mit Sprechchören, die zur Einheitsfront aufriefen, so Zschocher. Selbstredend stieß das Stück auf scharfe Kritik der Parteileitung. Als die Gruppe dann plante, die Ergebnisse ihrer Diskussionen zur Sowjetunion darzustellen, wollte die Parteileitung das Stück im Vorfeld zensieren und warnte die SAJ vor Konsequenzen, was die Gruppe aber ignorierte und das Stück wie geplant aufführte. Die Parteiführung gab der Gruppe danach noch eine letzte Chance – so die Darstellung Zschochers – Reue zu zeigen und sich von dem Stück zu distanzieren; andernfalls wurde ihnen mit dem Ausschluss gedroht. Somit war der Weg zur KPD frei gemacht.79 Schon beim ersten Treffen mit einem wesentlich älteren Kommunisten, das in konspirativer Atmosphäre in einem nur mit Kerzen erleucheten Hinterzimmer stattfand, wurden die jungen vormaligen Sozialdemokraten mit Respekt und als Partner behandelt, was Zschocher sichtbar beeindruckte. Zunächst war die Gruppe um Zschocher skeptisch, ob die KPD nur ausführe, was Moskau diktierte, und weshalb der Ton in der KPD so rau sei. Aber offenbar gelang es dem KPD-Funktionär, die 13 SAJ-Mitglieder aus Reudnitz zu überzeugen, die schließlich am 2. Okto79 Vermutlich handelt es sich hierbei um den massiven Mitgliedsverlust der SAJ, infolge dessen die SPD ihre Funktionäre dazu brachte, eine Loyalitätserklärung zu unterzeichnen, siehe oben, S. 152. Zwar lassen sich die Details der Darstellung Zschochers nicht verifizieren, aber der grobe Rahmen scheint zu stimmen.

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ber 1931 zur KPD übertraten. Für Zschocher bedeutete dies »Loslösen von allen Freundschaften und jahrelanger Verbundenheit; Aufgabe der Geborgenheit in der großen Gemeinschaft Gleichgesinnter; Übertritt zu den Verfemten, den Unruhestiftern«, und schließlich, nicht mehr gesellschaftsfähig zu sein. Nun war er das »enfant terrible« seiner Familie. Bald aber erfuhr er von einer Tante, die den Ruf eines »Flintenweibs« hatte, und deren Sohn, die beide bei der KPD waren. So fand er schnell ein neues Zuhause in der KPD. Um den Übertritt zu zelebrieren, wollten Zschocher und seine Genossen die erste KPD-Versammlung in SAJ-Uniformen besuchen. Unter Tränen half ihm seine Mutter in die Kleidung. Allerdings war die Straße vor dem Haus von Mitgliedern der Kampfstaffeln versperrt, die verhindern wollten, dass die Mitgliedsbücher der SAJ öffentlich zerrissen wurden. Selbst als Zschocher erklärte, die Mitgliedsbücher bereits abgegeben zu haben, blieben die Kampfstaffeln in Position. In der Zwischenzeit hatte jedoch ein Genosse die Sächsische Arbeiterwehr informiert, die sich nun im Laufschritt näherte. Ein Zusammenstoß schien unvermeidlich, aber zum Glück hatten die Kampfstaffeln bestätigt bekommen, dass die Mitgliedsbücher abgegeben worden waren, so dass Gewalt vermieden werden konnte.80 Zschochers Geschichte ist in dreierlei Hinsicht relevant. Zunächst bietet sie ein weiteres Beispiel für Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten, auch wenn die Situation in letzter Minute friedlich gelöst werden konnte. Zweitens deutet Zschochers Erinnerungsbericht darauf hin, wie schwierig es für junge Sozialdemokraten sein konnte, innerhalb der SPD eigene Ideen zu vertreten, weshalb Zschocher bei dem Treffen mit dem Kommunisten nachfragte, ob es dort Meinungsfreiheit gebe  – in Anbetracht des Klimas bei der KPD erscheint der Übertritt daher fast ein wenig absurd. Drittens deutet der Bericht an, wie erfolgreich Vertrauen geschaffen werden konnte, auch wenn der Begriff selbst nicht in seinem Bericht auftaucht. Zentral war, dass der kommunistische Funktionär die jungen Sozialdemokraten mit Respekt behandelte und ernst nahm. Dass sich das Treffen in konspirativer Atmosphäre abspielte, dürfte weiterhin dazu beigetragen haben, dass die Jugendlichen sich ernst genommen und wichtig fühlten. So wurde Zschocher und seinen Genossen signalisiert, dass sie in der »geheimen« und geheimnisvollen KPD willkommen waren. Und in der Tat fand Zschocher dort ein neues Zuhause.81 Das Patentrezept der KPD sowohl gegen die Passivität ihrer Mitglieder als auch gegen die gegenseitigen Verdächtigungen hieß Kontrolle. Eine Aufgabe der 80 SStAL, Erinnerungsbericht, V/5 401/1. 81 Der Bericht, wie alle anderen Erinnerungsberichte auch, wurde während der frühen Jahre der DDR geschrieben, weshalb es unmöglich ist festzustellen, wie »wahr« der Bericht ist, oder ob er vor allem die KPD glorifizieren soll. Ich schlage vor, den Bericht als ein weiteres »Mosaikstück« – zugegebenermaßen, nicht das beste – anzusehen, der in Verbindung mit den anderen hier präsentierten Belegen zu betrachten ist. Gleichzeitig kommt in ihm sicherlich eine Sehnsucht von Kommunisten zum Ausdruck: sie wollten ihren eigenen Kopf haben, ernst genommen werden, und in eine Gemeinschaft aufgenommen werden.

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Instrukteurin vom Beginn des Kapitels war beispielsweise, die Aktivitäten der lokalen Kommunistinnen ebenso wie die politischen Einstellungen zu kontrollieren und somit sicher zu stellen, dass sie effektiv arbeiteten und die Parteilinie vertraten.82 Kontrollen konnten jedoch auch drastischere Formen annehmen und bis zu Hausdurchsuchungen führen, wenn die KPD etwa fürchtete, dass ein Mitglied als Spitzel arbeitete.83 Ross wiederum, dessen Wohnung von der KPD durchsucht worden war, hatte die Aufgabe, »die Genossen, die ihren Verpflichtungen der Organisation gegenüber nicht nachgekommen sind, bzw. gegen die seitens der Organisation etwas vorliegt« zu kontrollieren.84 Auf allen Ebenen bediente sich die KPD des Mittels der Kontrolle.85 Diese Kontrollen lassen sich als eine Reaktion auf den Mangel an Vertrauen innerhalb der KPD, als einen Versuch, mit der epistemischen Krise zurecht zu kommen, interpretieren. Insofern ist der permanente Rekurs auf die »Kontrolle« ein guter Indikator für das Misstrauen in der KPD. Gleichzeitig aber schufen die Kontrollen selbst neues Misstrauen, indem sie den Mitgliedern signalisierten, dass die Parteiführung ihnen nicht vertraute. Diese Beispiele zeigen, wie anstrengend und frustrierend Politik sein konnte. Es verwundert nicht, dass sich viele Aktivisten nach politikfreien Rückzugsräumen sehnten. Nicht nur ein allgegenwärtiges Misstrauen lähmte die Parteien, sondern ebenso permanente Kleinkriege.86 Die Konflikte zwischen Parteibasis und Parteiführung, die Mallmann herausgearbeitet hat, sind dabei nur ein Aspekt, denn Binnenbeziehungen an der Basis waren ebenso konflikt­beladen. In einem Erinnerungsbericht bemerkte Herbert Schmidt, der in den 1930er Jahren Mitglied beim KJVD gewesen war: »Wir wurden im KJVD so erzogen, dass sich jeder auf jeden verlassen konnte. Mein Leben war ohne die Tätigkeit im KJVD nicht mehr vorstellbar. […] Wir waren begeistert und es war für uns jedes Mal ein Erlebnis wenn alles geklappt hatte und die Polizeistreifen irregeführt worden waren.«87 Auch Karl Sendelhofer berichtete voll Nostalgie von alten Kämpfen. »Seit dem Tag wo unser Ernst Thälmann zu uns am Volkmarsdorfer Markt sprach ging es nachher mit den Braunhemden los, da verging nicht ein Tag wo es nicht zu Handgreiflichkeiten dann gekommen ist. Sie wollten die Straßen behaubten [sic] und wir natürlich auch. […] Diese Zeit war ganz auf­

82 Beispiele solcher Kontrollen in BArch RY 1 I/3/10/117. 83 Beispiele solcher Hausdurchsuchungen seitens der KPD in Berlin in Swett, S. 226 f. 84 SStAL, PP S 1161. 85 Für weitere Beispiele, BArch RY 1 I/4/1/74 und RY 1 I/3/10/132. 86 Ein detaillierter Vergleich mit anderen deutschen Parteien, insbesondere der NSDAP, wäre in diesem Kontext aufschlussreich. Die Arbeiten von Sven Reichardt legen nahe, dass auch die NSDAP keineswegs eine disziplinierte und »totalisierte« Partei war, wie viele meinten, Reichardt, Kampfbünde; ders., Praxeologie. Die NSDAP und insbesondere die SA in Hinsicht auf Vertrauen und Misstrauen zu untersuchen, wäre sicherlich gewinnbringend. 87 SStAL, Erinnerungsbericht, V/5 243 Herbert Schmidt.

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geregt, war aber auch wieder schön und musste sein.«88 Sicherlich spiegelt sich in diesen Aussagen wider, wie aufregend politischer Aktivismus sein konnte, gerade, wenn es um gewaltsame Zusammenstöße und Katz-und-Maus-Spiele mit der Polizei ging. Gleichwohl, sei es aus Nostalgie oder aus politischem Opportunismus in den frühen Jahren der DDR, als diese Berichte verfasst wurden: sie zeichnen ein zu einseitiges Bild, kommen in ihnen doch weder die Intrigen und Verleumdungen, die Bergmann und Emilia Lichtenberg krank machten, zur Sprache, noch die Papierflut und die zahllosen Statistiken, die Parteimitglieder erstellen mussten, worüber sich ein »kleiner Funktionär« der Roten Hilfe namens Bertram Wiehl in einem Brief an die Parteioberen eloquent beschwerte. Diese ermüdete ihn so sehr, dass er kaum noch seiner eigentlichen Aufgabe nachkam, sich um inhaftierte Genossen zu kümmern. »Leider ist es so, dass genau wie bei der SPD unsere ganze Bewegung in der Bonzokratie endet. Jeder schielt nach einem bezahlten Posten. Anerkennt die unbezahlte Arbeit des kleinen Funktionärs, der die Beiträge groschenweise, bald durch Sammellisten, bald durch Extramarken, durch das Tribunal, usw., zusammenholt. […] Diese Arbeit ist bei Euch natürlich ein Nichts, nur Ihr leistet etwas.« Schließlich kam er noch auf die Auswirkungen der politischen Tätigkeiten auf das Familienleben zu sprechen: »Die Frauen, verärgert durch das dauernde Unterwegssein des Mannes, ziehen wir dadurch nicht in die Bewegung, sondern erreichen das Gegenteil, erzeugen Missmut und sogar Hass auf unsere ganze revolutionäre Bewegung.«89 Politik konnte, wie die Erinnerungsberichte belegen, sicherlich »aufregend« sein; genauso gut konnten politische Aktivitäten, die aus zahlreichen ermüdenden Sitzungen und viel Papierarbeit bestanden, aber auch ungemein frustrierend und aufreibend sein, nicht zuletzt der ständigen Intrigen wegen. Es ist vielleicht kein Wunder, dass sich Aktivisten in dieser Situation nach unpolitischen Räumen und Aktivitäten sehnten. Unter diesen Bedingungen eines allgemeinen Misstrauens, zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten ebenso wie innerhalb der Parteien, war eine breite, Parteigrenzen überschreitende Mobilisierung an der Basis gegen die Herausforderung des Nationalsozialismus zumindest äußerst unwahrscheinlich, trotz der enormen Massen, die zu sozialdemokratischen Demonstrationen kamen, trotz der kommunistischen Siege in gewalt­ samen Straßenkämpfen.

88 SStAL, Erinnerungsbericht, V/5 228 Karl Sendelhofer. 89 BArch, RY 1 I/4/4/17.

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Epilog: Die Zerstörung der Arbeiterbewegung in Leipzig

Im Januar 1933, inmitten fortgesetzter Angriffe von Nationalsozialisten auf linke Arbeiter,1 schien es, als hätten Kommunisten und Sozialdemokraten endlich den Ernst der Lage erkannt: Die SPD hatte für den 20. Januar zu einer Versammlung unter dem Thema »SPD oder KPD« ins Volkshaus geladen. Erstmals sollten Kommunisten und Sozialdemokraten an einem Tisch sitzen und ihre Positionen erklären und diskutieren. Der Andrang war immens: zwischen 2.000 (LVZ) und 2.500 (Polizeiberichte) Personen, etwa zwei Drittel Sozialdemokraten und ein Drittel Kommunisten, wollten die Redner hören; zahlreiche weitere Personen, Zeitungsberichten zufolge mehrere Tausend, hatten sich vor dem überfüllten Gebäude eingefunden, aber keinen Einlass erhalten, woraufhin sie von der Polizei zerstreut wurden. War dieses Treffen ein Anzeichen dafür, dass sich die »Massen« nach einer Übereinkunft der beiden Links­parteien sehnten? Oder erwarteten sie eher einen finalen »Showdown«? Die Antwort wird offen bleiben müssen. Laut LVZ handelte es sich um eine »[e]rnste, sachliche Auseinandersetzung mit der KPD.« Erneut warf das sozialdemokratische Blatt den Kommunisten vor, für die Spaltung der Arbeiterbewegung verantwortlich zu sein, während die Kommunisten der SPD den Verrat an der Arbeiterklasse vorwarfen. Beide Parteien riefen ihre Anhänger zur Einheit auf, allerdings unter anderer Führung und auf anderer Ebene. Während die SPD einen Nichtangriffspakt der Parteispitzen forderte, erneuerten die Kommunisten die Forderung nach einer »Einheitsfront von Unten«, die selbstredend von der KPD geführt werden sollte. Kurz, beide Parteien wiederholten ihre bekann1 Am 8. Januar 1933 fanden mehrere nationalsozialistische Demonstrationen in Leipzigs Osten statt, an denen sich insgesamt etwa 3.500  Männer beteiligten, wobei mindestens fünf Reichsbannerangehörige von den Nationalsozialisten verprügelt wurden. Gleichzeitig demonstrierten 1.500–2.000 Kommunisten (und der SAZ zufolge auch SPD- und Reichsbannermänner) im Osten. Diese Demonstration wurde, so die LVZ, wegen des Singens verbotener Lieder von der Polizei aufgelöst, LVZ, 9.1.1933, SAZ, 9.1.1933. Ein weiterer Zwischenfall trug sich am 15.  Januar 1933 zu, als 40  Nationalsozialisten einen »bekannten Republikaner« (d. h. wohl ein Reichsbannermitglied) überfielen und krankenhausreif schlugen, LVZ, 16.1.1933, SAZ, 16.1.1933, SStAL, PP St 92 (Bericht vom 27.1.1933). Die LVZ bemerkte, dass, in Anbetracht der Unfähigkeit der Polizei dem Terror ein Ende zu bereiten, Republikaner und Sozialdemokraten sich selbst schützen würden. Am 18. Januar 1933 schossen dann Nationalsozialisten auf Mitglieder der Kampfstaffeln und verwundeten einige davon schwer. In Reaktion auf diesen Angriff verprügelten die Sozialdemokraten zwei SA-Männer, LVZ, 19.1.1933, und SStAL, PP S 497. Zu diesem Zeitpunkt hatte selbst die LVZ begonnen, negativ über die Polizei zu berichten.

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ten Positionen. Dennoch drückte die LVZ ihren Optimismus nach der Veranstaltung aus: »Die Versammlung war ein Appell an die Massen in beiden Lagern. Vielleicht war es – wir wünschen es alle – ein Ereignis von historischer Bedeutung.«2 Ein bekanntermaßen unerfüllt gebliebener Wunsch. Am 26. Januar 1933 marschierten zwischen sechs- und siebenhundert »Arbeiter« durch Kleinzschocher in Leipzigs Rotem Westen, ohne dass es zu größeren Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten kam.3 Am folgenden Tag wurde in Reaktion auf Ausschreitungen in Dresden, bei denen zehn Arbeiter erschossen worden waren, alle kommunistischen Versammlungen verboten.4 Am 30.  Januar schließlich wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die SAZ, die mit der Nachricht gerechnet hatte, rief daraufhin zum Massenstreik und der »Einheitsfront der Tat« auf – bekanntermaßen ohne Erfolg.5 Vier Tage später stellte sie ihr Erscheinen ein. Die LVZ berichtete in der Zwischenzeit, dass am 30. Januar etwa 2.000 Mitglieder des Reichsbanners und des SPD-Schutzes ohne Vorankündigung in Lößnig und Connewitz aufmarschiert waren.6 In Verkennung der Situation schlug die KPD am 2. Februar vor, die Debatte über »SPD oder KPD« fortzusetzen, berichtete die LVZ, aber erstens hatte die SPD eine Mitgliederversammlung für den vorgeschlagenen Termin geplant, und zweitens sei jetzt ohnehin die Zeit für Diskussionen vorbei, nun müsse es endlich zum »gemeinsamen Kampf« kommen, den die Unterbezirksleitung der KPD wollte. Die SPD hatte bereits am 20. Januar eine »ehrliche« Debatte vorgeschlagen, aber die kommunistische Presse hatte der SPD von Anfang an ein »Betrugsmanöver« unterstellt; noch immer griff die KPD, vor allem die Rote Fahne aus Berlin, die SPD als »Verräter« und ähnliches an, weshalb die SPD der Einladung keine Folge leisten würde.7 Die Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte überraschend geringe Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten. Am 12. Februar 1933 beispielsweise wollten sich einige Kommunisten einem Aufzug der Eisernen Front anschließen. Ihnen wurde gestattet, hinter dem Demonstrationszug zu laufen, aber die mit Hammer-und-Sichel-Fahnen und Eiserne-Front-Plakaten ausgestatteten Kommunisten schoben sich mitten in die Demonstration hinein, was die LVZ als »Täuschungsversuch« wertete. Dies war offensichtlich nicht der Beginn einer »ehrlichen« Einheitsfront von Unten; es war einzig, bekannten Schemata entsprechend, der Versuch der KPD, einen solchen Eindruck zu schaffen.8 2 LVZ, 21.1.1933, SStAL, PP St 19, Bl. 47, Vogel, S. 775 f. 3 SAZ, 27.1.1933. 4 SAZ, 28.1.1933. 5 SAZ, 30.1.1933. 6 LVZ, 1.2.1933. 7 LVZ, 2.2.1933. 8 LVZ, 13.2.1933. Kommunisten verschleierten auch weiterhin ihre Identität, um als vorgeb­ liche Mitglieder der Eisernen Front Beiträge zu kassieren, LVZ. 21.2.1933.

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Auch innerhalb der Arbeitervereine setzten sich die Konflikte fort. Der LVZ zufolge ließ etwa ein bislang unbekanntes »Oppositionskommittee« im Arbeitersängerbund nichts unversucht, die Spaltung herbeizuführen. Der (kommunistische) Chor »Rote Lyra« hatte ebenso wie der Volkschor Nord, Mitglied im Deutschen Arbeiter Sängerbund, an der kommunistischen Lenin-LiebknechtLuxemburg Gedenkveranstaltung mitgewirkt. Somit hatte der Volkschor gegen Beschlüsse des Bundes verstoßen und sich damit außerhalb des Bundes gestellt, da der Deutsche Arbeiter Sängerbund in der Kampfgemeinschaft der Arbeitersänger, einer KPD-Organisation, eine gegnerische Organisation erblickte. Der Ausschluss des Volkschors Nord war die Folge. »Ein ›guter‹ Vorsatz! Einheitsfront!« kommentierte die LVZ.9 Politische Straßengewalt ebbte auch im Februar 1933 nicht ab.10 Auch wenn die Nationalsozialisten eindeutig in der Offensive waren, so waren Kommunisten wie auch Sozialdemokraten immer noch in der Lage, sich zu verteidigen und eindrucksvolle Demonstrationen zu organisieren. So marschierten am 8.  Februar 1933 etwa 4.400 KPD-Mitglieder durch Leipzigs Roten Westen, eine letzte Demonstration kommunistischer Stärke in Leipzigs Arbeitervierteln. Im Anschluss an die Demonstration wurde ein national­sozialistischer Radfahrer von Kommunisten vom Rad gerissen und so schwer geschlagen, dass er mit Kopf­ verletzungen ins Krankenhaus musste.11 Im Gegenzug veranstalteten die Nationalsozialisten eine Woche später eine Demonstration im »Roten Osten«. Die meiste Zeit über blieb es bei der von einem starken Polizeiaufgebot bewachten Demonstration ruhig, obwohl sich erhebliche Ansammlungen kommunistisch Gesinnter gebildet hatten und in den von Arbeitern bewohnten Straßen starke Erregung herrschte, so der Polizeibericht. Als die Nationalsozialisten jedoch später am Abend die kommunistisch dominierte Seeburgstraße »erobern« wollten, wurden sie ebenso wie die Polizei von Kommunisten, die sich durch Hornsignale warnten, aus den Fenstern der umliegenden Häuser unter Beschuss genommen. Noch verteidigten Kommunisten »ihre« Straßen mit Gewalt. Jedoch wurden 58 von ihnen festgenommen, als sie in das nahegelegene Lokal »Winkelhaken« flüchteten, das nach dem Vorfall geschlossen blieb. Bei darauffolgenden Hausdurchsuchungen wurden auch zahlreiche Schusswaffen sichergestellt.12 In der darauffolgenden Woche kam es zu einem tödlichen Zwischenfall in Plagwitz, Ecke Nonnenstraße und Ernst-Mey-Straße, wo sich eine Gruppe von etwa 20–25 Reichsbannermännern versammelt hatte, um zum Volkshaus zu gehen. Als sie die Nonnenstraße entlang gingen, trafen sie auf einen Trupp von etwa 80–100 Nationalsozialisten, die sofort zum Angriff übergingen. Einer der Nationalsozialsten stach dabei dem Sozialdemokraten Walter Heinze in die 9 LVZ, 20.2.1933. 10 Grundsätzlich, SStAL, PP St 92. Der letzte Zwischenfall fand am 5. März 1933 statt. 11 SStAL, PP St 9, Bl. 181. 12 LVZ, 15.2.1933, SStAL, PP St 92 (Berichte vom 15.2.1933, 18.2.1933).

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Lungen sowie in die Wange – laut LVZ wurde er förmlich zerfetzt; er starb kurz darauf im Krankenhaus.13 Am gleichen Tag griffen Kommunisten National­ sozialisten in der Karl-Heine-Straße an, wo es ebenfalls zu einem Messerstich in die Lunge kam. Allerdings überlebte der Nationalsozialist den Angriff.14 Dies waren bei weitem nicht die einzigen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten oder Sozialdemokraten und Nationalsozialisten, die immer noch regelmäßig unterlagen und ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten.15 Gegen Ende März jedoch fand der gewaltsame Widerstand gegen die Nationalsozialisten ein Ende. Danach beschränkten sich die Aktivitäten von Kommunisten und Sozialdemokraten weitgehend darauf, die Organisationen am Leben zu erhalten, inhaftierte Genossen zu unterstützen und gelegentlich Literatur zu vertreiben. Während das neue Regime dabei war, seine Machtposition zu festigen, versuchten Kommunisten und Sozialdemokraten, sich auf die Illegalität einzustellen. Polizei- und interne Parteiberichte ergeben ein faszinierendes und ambivalentes Bild der Arbeiterbewegung in Leipzig während der ersten Jahre der nationalsozialistischen Diktatur.16 Kommunisten und Sozialdemokraten sahen sich einer massiven Repression gegenüber, ihre Organisationen wurden aufgelöst, deren Vermögen beschlagnahmt,17 und ihre Mitglieder in Zuchthäuser und Konzentrationslager geschickt, wo sie gefoltert und teils ermordet wurden.18 13 LVZ, 24.2.1933, SStAL, PP St 92 (Bericht vom 26.2.1933). 14 SStAL, PP St 92 (Bericht vom 26.2.1933). 15 Im Februar und März 1933 wurden mindestens 12 Nationalsozialisten mehr oder weniger schwer verwundet (einer von ihnen erhielt einen Lungenstich); ein Sozialdemokrat wurde erstochen und mehr als 22 verwundet; zumindest vier Kommunisten und zwei Stahlhelm­ angehörige wurden verwundet. In mindestens zwei Fällen sammelten sich Menschenmengen in Arbeitervierteln an und attackierten die Polizei, die die Nationalsozialisten schützte. 16 Berichte der KPD finden sich im BArch, RY 1  I/4/1/74  KJVD; RY 1  I/3/8–10/168; RY 1 I/3/8–10/169; Polizeiberichte im SStAL, PP St 9, PP St 19, PP St 92, PP St 121, sowie, weniger wichtig, PP St 26, PP St 28, PP St 65, PP St 66, PP V 4863. Zur nationalsozialistischen Machtergreifung in Sachsen, A. Wagner. Zum kommunistischen und sozialdemokratischen Widerstand, Wiegel; Voigt, Widerstand. Auch die Erinnerungsberichte (SStAL, Reihe V/5, Abschnitt 12) sind voll von mehr oder weniger plausiblen Berichten kommunistischer Widerstandstaten gegen das Regime. Schließlich finden sich zahlreiche individuelle Ermittlungsakten gegen Kommunisten und Sozialdemokraten wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« im SStAL, Reihe PP S. 17 Für Details, SStAL, PP St 19, PP St 26, PP St 28, PP St 65, PP St 66. Mitglieder des Arbeiter Radfahrer Bundes Solidarität beispielsweise versuchten die teuer gekauften Fahrräder zu verstecken, wurden aber gefasst und ins Konzentrationslager gebracht. 18 SStAL, PP St 9, Bl. 229. Der Polizeibericht notiert: »Nicht unerwähnt soll bleiben, dass seitens der SA- und SS-Formationen verschiedene selbständige Aktionen gegen kommunistisch oder sozialistisch eingestellte Personen sowie auch gegen Personen jüdischen Glaubens vorgenommen worden sind, bei denen mehr oder weniger Gewaltanwendungen vorgekommen sein sollen. Soweit hierbei Körperverletzungen infrage gekommen sind, hat es sich aber offenbar durchgehend um leichtere Fälle gehandelt.« Zahlreiche Kommunisten und Sozialdemokraten aus Leipzig wurden ins Konzentrationslager Colditz gebracht, SStAL, 20033/1. Zur Frühgeschichte der Konzentrationslager in Sachsen Baganz.

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Insbesondere die KPD litt unter Massenverhaftungen, oftmals in Folge von Denunziationen, nicht zuletzt von Ehefrauen, die ihre Männer bei der Polizei anzeigten:19 Allein im März 1933 wurden 476 Personen in »Schutzhaft« genommen.20 Wurden sie von der Polizei verhaftet, so hatten sie teils sogar Glück, erwartete diejenigen, die von SA und SS ergriffen wurden, doch eine weitaus schlimmere Behandlung, zu der nicht nur Folter, sondern auch öffentliche Demütigungen gehörten. SA-Männer hielten Kommunisten auf der Straße an und zwangen sie in so genannten »Scheuerkommandos«, »die an Häusern und Planken angebrachten hetzerischen Anschriften und Parteiabzeichen« zu entfernen.21 In der Anfangszeit kam Kommunisten allerdings zugute, dass viele sozialdemokratische Polizeibeamte, die für die politische Polizei gearbeitet hatten, in die Kriminalpolizei versetzt wurden, und die neu eingesetzten nationalsozialistischen Beamten erst Erfahrungen sammeln mussten. Daher agierte die Polizei zunächst relativ unsystematisch, was den Kommunisten, die auf die Illega­ lität kaum vorbereitet waren und viele Fehler begingen, eine gewisse Atempause verschaffte.22 Dies änderte sich im Sommer 1933, als einerseits die Polizei gelernt hatte, effizienter zu ermitteln, andererseits aber auch die Kommunisten Erfahrungen mit der konspirativen Arbeit gesammelt hatten. Dennoch wurden im gesamten Jahr 1934, und insbesondere gegen Ende des Jahres, zahlreiche Kommunisten verhaftet, wozu insbesondere Adresslisten beitrugen, die die Polizei bei bereits verhafteten Kommunisten fand.23 In mindestens einem Fall riegelten »Gestapo, Feldjäger und Schutzpolizei […] Straßen und Straßenblocks ab und nahmen an Hand von vorhandenen Listen Verhaftungen vor«, so ein KPD-Bericht vom April 1935.24 Im Februar 1935 wurde beispielsweise eine Genossin Leni Glatzer, die aus der Sowjetunion gesandt worden war, um die deutschen Genossen zu unterstützen, nur drei bis fünf Tage nach ihrer Einreise verhaftet und von den Nationalsozialisten zu Tode gefoltert.25 Manchmal waren es Denunziationen von Kollegen oder Kneipenbekanntschaften, die zu Verhaftungen führten,26 manchmal auch Denunziationen von Nachbarn, und oftmals half der Polizei auch der Zufall, kommunistische Zellen zu zerschlagen. Im Juni 1933 etwa hatte die 17jährige Schülerin Ghama Sommer, die einer Familie polnischer Juden entstammte, einen Fahrradunfall. Als ein Polizist ihr zu Hilfe kommen wollte, sah 19 Schreiber, S. 67 ff. 20 SStAL, PP St 9, Bl. 229 ff. 21 SStAL, PP St 9, Bl. 229 ff. 22 BArch, RY 1 I/3/8–10/168, Bl. 34 f. 23 BArch, RY 1  I/3/8–10/169, Bl.  50 (Nov. 1930) Bl.  58 f. (15.11.1934), Bl.  97 (14.4.1935). Um die polizeilichen Maßnahmen gegen Kommunisten zu rekonstruieren, sind die Akten im BArch, DY 55/V/287, am nützlichsten. Akten in der Reihe PP S im SStAL berichten von zahllosen einzelnen Aktionen gegen kommunistische Zellen nach 1933. 24 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 97 (14.4.1935). 25 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 86 (23.2.1935). 26 Beispielsweise, SStAL, PP S 4468.

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er durch Zufall marxistische Literatur in ihrer Tasche. In der folgenden Befragung wurde schnell deutlich, dass Sommer als Kurier für den KJVD gearbeitet hatte. Dieser Zufallsfund ermöglichte der Polizei im Folgenden, eine ganze KJVD-Zelle zu zerschlagen.27 Leider wissen wir weniger über die Versuche der Sozialdemokraten, sich unter Bedingungen der Illegalität zu reorganisieren. Allerdings fragte die SPD noch im Mai 1933 offiziell an, ob sie Räumlichkeiten als Büro mieten dürfte, eine Anfrage, der sogar stattgegeben wurde, meinte die Polizei doch, es sei von Vorteil, wenn sie wüsste, wo die SPD ihren Sitz habe. Ende Juni 1933 jedoch wurde auch die SPD offiziell verboten und eine zunehmende Zahl Sozialdemokraten verhaftet.28 Interne Quellen zur Situation der KPD sind reichhaltiger. Diese zeichnen, zumindest bis zum Sommer 1935, ein überraschend positives Bild.29 Der KPD war es gelungen, Abziehapparate vor dem Zugriff der Polizei zu bewahren, auch wenn diese bald einige von ihnen finden konnte,30 was den Vertrieb von Propagandamaterial ermöglichte.31 Selbst unter inhaftierten Genossen sei die Stimmung standhaft, nur einige wenige wurden zu Verrätern (auch wenn der vormalige SAZ-Redakteur Dasecke schnell zu den National­sozialisten überlief). Auch die Genossinnen, von denen die Polizei annahm, dass sie als Kuriere arbeiteten, hielten still, wenn sie verhaftet wurden, wie ein KPD-Bericht betonte.32 In organisatorischer Hinsicht konnten ebenso Erfolge verzeichnet werden. Im Juni 1934 beispielsweise gab es angeblich etwa 2.000 eingeschriebene und zahlende Parteimitglieder in ganz Sachsen; in Leipzig allein gab es im Frühjahr 1934 um die 1.000 Kommunisten und immerhin acht Betriebszellen.33 Kommunistische Ehepaare und Familien spielten bei der Reorganisation der KPD eine besondere Rolle, bestand in diesen Zusammenhängen doch ein besonderes Vertrauen.34 Andere, weniger formalisierte Formen proletarischer Geselligkeit bestanden ebenso fort. Zwar waren sowohl der ATSB als auch die kommunistische Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit verboten worden, aber dennoch trafen sich einzelne Spieler aus den Vereinen, so eine Beschwerde der Stadtverwaltung an die Polizei, um auf städtischen Sportstätten – sie kletterten einfach über die Zäune – »wilde« Spiele durchzuführen.35 27 SStAL, PP S 5191. 28 Zur SPD, SStAL, PP St 19. Interne kommunistische Berichte behaupten immer wieder, die SPD wäre mehr oder weniger vollständig zerstört, sie hätte keine Führung, ihre Mitglieder seien verzweifelt und hoffnungslos, etwa RY 1 I/3/8–10/169, Berichte vom Juni 1934 Bericht (Bl. 14 ff.), Juli/August 1934 (Bl. 26 ff.), und Mai 1935 (Bl. 109 ff.). 29 Grundsätzlich BArch, RY 1 I/3/8–10/169. 30 Beispielsweise SStAL, PP S 2046, PP S 8066. 31 BArch, RY 1 I/3/8–10/168, Bl. 1 (20.3.1933). 32 BArch, RY 1 I/3/8–10/168, Bl. 34 ff., (26.10.1933). 33 BArch, RY 1  I/3/8–10/169, Bl.  14 (Bericht vom Juni 1934); Bl.  127 (Bericht vom Februar/ März). Im Herbst 1934 hatte der Berzirk angeblich zwischen 3.000 und 3.500 Mitglieder. 34 Beispielsweise SStAL, PP S 2046, PP S 8066. 35 SStAL, PP St 26, Bl. 33 (13.5.1933).

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Nicht nur die organisatorische Stärke gab Kommunisten Anlass zur Hoffnung. Ebenso waren kommunistische Propagandaaktionen von Erfolg gekrönt, wenigstens in der Eigenwahrnehmung der KPD. Während des Reichstagsbrandprozesses in Leipzig seien etwa Zehntausende Flugblätter verteilt worden.36 Die Polizei bestätigte eine kommunistische Agitationstätigkeit in dieser Zeit, wenn auch nicht die in den KPD-Berichten genannte Zahl, und klagte, dass ein entschiedeneres Vorgehen gegen die KPD »einfach am Mangel an Menschenmaterial« auf Seiten der Polizei scheitere.37 Dies war aber nur die spektakulärste Form des Protests. Ein Bericht der KPD vom Juni 1934 behauptete etwa, dass es in einer Flugzeugfabrik zu »Sabotageakten aus der Belegschaft« kam, so dass die Tragflächen der Flugzeuge nicht hielten. Gleichzeitig wurden in dem Betrieb Handzettel verteilt, was zur Folge hatte, dass die gesamte Belegschaft einer Abteilung entlassen wurde. In einem anderen Betrieb wurden monatlich 10 Pfennig vom Lohn abgezogen, um die Instrumente für eine Betriebskapelle zu bezahlen, wogegen die kommunistische Betriebszelle eine Abstimmung organisierte, an der sich 150 Arbeiter beteiligten. In Anbetracht dieses Drucks zahlte die Fabrikdirektion den Groschen denn auch zurück.38 Schließlich beurteilten Kommunisten auch die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung positiv, insbesondere wegen anhaltender Lohnkürzungen.39 Bereits im Oktober 1933 bemerkte ein Parteibericht, dass sich eine wachsende Zahl von Wählern, insbesondere »Kleinbürger und proletarische Elemente«, von den Nationalsozialisten abwandte. Passanten machten kehrt, so führte der Bericht weiter aus, wenn sie SA-Männer sahen, um so den Hitlergruß zu vermeiden. Schließlich nahm auch die Zahl der Hakenkreuzwimpel ab und aus den Fenstern hingen weniger Hakenkreuzfahnen.40 Im Juni 1934 behauptete ein Bericht gar, dass mit einem baldigen Ende der Hitlerdiktatur gerechnet würde, 36 BArch, RY 1 I/3/8–10/168, Bl. 34 (26.10.1933). Ein anderer Bericht behauptet, dass immerhin 100.000  Flugblätter verteilt wurden, auch wenn dies übertrieben erscheint, BArch, RY 1  I/3/8–10/169, Bl.  179 (Februar/März 1934). Die Akten sind grundsätzlich voll von Berichten über angeblich erfolgreiche Flugblattverteilaktionen. Für Berichte aus Polizei­ perspektive, zum Beispiel zur kommunistischen Agitation vor dem Maifeiertag 1934, SStAL, PP V 3188, Bl. 41/1. 37 SStAL, PP V 4863. 38 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 14 ff. (Juni 1934). Die Akte enthält mehrere Berichte von angeblichen Erfolgsgeschichten der KPD in Fabriken, etwa Bl. 191, Juni 1934. In den Werken von Meier & Weichelt hatte die KPD dazu aufgerufen, den Wahlzettel zur Vertrauensleutewahl einfach durchzustreichen. Angeblich kamen dem 173 von insgesamt 220 Arbeitern nach, auch wenn es unmöglich ist, den Bericht zu verifizieren. 39 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 14 ff., (Juni 1934), sowie ähnlich spätere Berichte. Ein Polizeibericht findet sich in SStAL, PP V 3381, Bl. 49 ff. Während der Maifeiern 1934 riefen einige Hundert Pflichtarbeiter »Hunger«, woraufhin sie aus dem Saal gedrängt wurden. Draußen versprach man ihnen Brot und zwei Bier, was sie laut Polizei ruhig stellte. Die KPD sah hierin einen politischen Protest, was die Polizei aber anders bewertete. Siehe auch Brown, S. 135–146. 40 BArch, RY 1 I/3/8–10/168, Bl. 34 ff. (26.10.1933).

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dass »Bauern, Kleinbürger und vor allem Arbeiter« aber in »der Partei […] noch nicht die Kraft [sehen], die in der Lage ist, in der Kürze die Machtübernahme zu vollziehen.« Die meisten würden eine Militärdiktatur und Krieg erwarten.41 Kommunisten schenkten insbesondere der Stimmung in der SA Aufmerksamkeit, die sich, Berichten zufolge, konstant verschlechterte. Bereits im März 1934 behauptete die KPD, die NSDAP [!] befände sich in Auflösung, und nach einem Nachtmarsch im Juni 1934 hätten die SA-Männer »Hunger« gebrüllt. Im Mai 1935 schließlich hieß es in der SA angeblich »Ich bin nicht für das Dritte Reich, in bin für’s Vierte!«; selbst SA-Männer grüßten nun mit »Guten Tag«, und nicht mit »Heil Hitler«.42 Die KPD hielt unterdessen an ihrem Konzept der Einheitsfront aller Arbeiter, ohne Unterschied ihrer Parteiangehörigkeit, fest, und versuchte sich vermehrt an Arbeiter in der SA zu wenden und die SA gar zu unterwandern. Im April 1934 hieß es etwa, dass oppositionelle Gruppen in der SA mit kommunistischem Material versorgt werden würden.43 Im Juni 1934 hatte ein SA-Mann einen Streik auf einer Baustelle organisiert, weil der Arbeitgeber sich weigerte, den Tariflohn zu bezahlen. Zwar war der Streik von Erfolg gekrönt, aber der SA-Mann wurde wenige Tage später entlassen. Leider weigerten sich die Kommunisten in dem Betrieb für den Mann zu streiken und ließen somit eine Chance, eine Einheitsfront zu bilden, verstreichen, klagte ein KPD-Bericht.44 Zwar forderte die KPD ihre Mitglieder auf, mit unzufriedenen SA-Mitgliedern zu diskutieren, aber nur wenige Kommunisten befolgten diese Order  – vielleicht eine kluge Entscheidung, konnte doch ein falsches Wort gegenüber einem SA-Mann zur Verhaftung führen.45 Zumeist aber versuchten Kommunisten mit Sozialdemokraten eine Einheitsfront zu schmieden. Dabei unterschieden sich die Taktiken der KPD gegenüber den Sozialdemokraten nicht wesentlich von denjenigen vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Kommunisten sollten führen, während Sozialdemokraten von ihrer nach Prag geflüchteten Führung entfremdet werden sollten.46 Ganz in diesem Sinne hieß es etwa im Februar 1934, es werde an einer Erklärung von »SPD-Arbeitern« gegen die SPD gearbeitet.47 Es lässt sich kaum feststellen, wie erfolgreich diese Taktik der Einheitsfront war. Einerseits klagten kommunistische Berichte, es sei noch nicht gelungen, in die Reihen der SPD einzubrechen.48 Ein besonderes Problem war die Furcht vor Polizeispitzeln, die 41 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 14 ff. (Juni 1934) Einige Kommunisten meinten, eine Revolution würde ohnehin mit Sicherheit kommen, weshalb man einfach abwarten solle, Bl. 195 (26.6.1934). 42 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 109 ff. (Mai 1935). 43 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 198. 44 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 14 ff. (Juni 1934). 45 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 221 (4.8.1935). 46 Allgemein BArch, RY 1 I/3/8–10/169. 47 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 172 (Februar/März 1934). 48 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 172 (Februar/März 1934).

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Sozialdemokraten davon abhielt, sich der KPD anzuschließen, auch wenn keine politischen Differenzen mehr existierten.49 Sozialdemokraten hielten Kommunisten für »zu hitzig, [wir Kommunisten] bringen zu viele Opfer und können doch nichts machen.«50 Das Vertrauen der Sozialdemokraten zu erlangen war in diesem Kontext zentral, wie die KPD selbst wusste. »Unsere I. G. [Interessengemeinschaft im Graphischen Gewerbe] Leitung wird in Zukunft mit noch größerer Energie um das unbedingte Vertrauen der sozdem. Kollegen kämpfen müssen. Denn gerade die Frage des Vertrauens spielt hier eine eminent wichtige Rolle«, hieß es im März 1935.51 Auf der anderen Seite gibt es aber auch Belege für eine Zusammenarbeit von Kommunisten und Sozialdemokraten. Die KPD-Berichte selbst sind voll von Erfolgsgeschichten über vormalige Sozialdemokraten, SAJ-Mitglieder oder Angehörige der Kampfstaffeln, die sich die KPD beziehungsweise dem KJVD anschließen wollten.52 Da Sozialdemokraten vollkommen enttäuscht von ihrer Führung seien, kauften sie laut KPD-Berichten das kommunistische Material – »Unser Material ist Mist, Eures ist gut«, sagte angeblich ein Sozialdemokrat – und halfen sogar, es zu verkaufen.53 Polizeiliche Ermittlungen bestätigen, dass sich Sozialdemokraten und Kommunisten, insbesondere aus den Jugendorganisationen, zusammen schlossen. Der Fall der KJVD-Gruppe um Rosa Schütt, die 1935 von der Polizei ausgehoben wurde, ist in dieser Hinsicht bezeichnend.54 Die Gruppe hatte ihren Ursprung in Diskussionen auf der Straße, die Schütt initiiert hatte. Kurz darauf wurden kommunistische Zellen gegründet und Verbindungen zu anderen Parteiformationen aufgenommen, so dass mit dem Vertrieb von Handzetteln begonnen werden konnte. Die politischen Biographien der späteren Angeklagten sind in diesem Kontext von Interesse. Während einige, wie Schütt selbst, bereits in den frühen 1930er Jahren von der SAJ zum KJVD gegangen waren, so waren andere vor 1933 »nur« in der SAJ oder beim ATSB gewesen und schlossen sich dem KJVD erst unter den neuen Macht­ habern an. Vermutlich kannten sich die etwa 20 Jugendlichen aus der Zeit vor 1933 und hatten nun beschlossen, etwas gemeinsam zu unternehmen. Sie alle wurden für ihre Aktivitäten zu Zuchthausstrafen verurteilt, Rosa Schütt, die das schärfste Urteil erhielt, immerhin zu fünf Jahren. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die KPD im Frühjahr 1935 zwar massiven Repressionen ausgesetzt war, aber dennoch mit einem, im Rückblick betrachtet, absurden Optimismus in die Zukunft blickte. Während sich Parteiberichte vor 1933 regelmäßig über die Passivität der Mitglieder beklagten, be49 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 14 ff. (Juni 1934), Bl. 198. 50 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 198. 51 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 88 (März 1935). 52 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 179 ff. 53 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 2 f., Bl. 179 f. 54 SStAL, PP St 121, Bl. 174 ff. Vergleiche auch den Fall von Erika Gottschalk, Bl. 165 ff., der Tochter eines jüdischen Rechtsanwalts, die eine andere KJVD Gruppe leitete, bevor diese von der Polizei entdeckt und zerschlagen wurde.

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tonten Berichte nach 1933, auch wenn sie nicht frei von Kritik waren, doch die Loyalität, den Mut und Enthusiasmus der Mitglieder. Die Partei war, so die angebliche Meinung unter Mitgliedern, bereit für die kommenden Kämpfe; selbst härtere Schläge könnten sie nicht mehr erschüttern.55 Zwischen Juli und Oktober 1935 änderte sich diese Stimmung radikal. Unter dem Repressionsdruck des Regimes, dem es mittlerweile immer besser gelang, gegen oppositionelle Bestrebungen vorzugehen, brach der Widerstandswille der Kommunisten. In einem Bericht vom 7. Juli 1935 hieß es etwa, dass die Genossen nur noch losen Kontakt hielten. Die Tätigkeit der »Freunde« beschränkte sich auf das Kassieren von Mitgliedsbeiträgen, die für die Angehörigen der Verhafteten ausgegeben wurden. Politische Arbeit werde, so hieß es, nicht geleistet, da, so die verbreitete Meinung, »eine Arbeit oder Betätigung keinen Zweck hat und der Einsatz von Personen in keinem Verhältnis zum Erfolg stehe.« Eine Genosse aus Lindenau, der nach 16 Wochen Haft im Konzentrationslager entlassen wurde, erklärte seinen Parteioberen, er habe nur noch Kontakt zu einigen engeren Freunden, mit denen er Skat spiele. Es lohne sich nicht, fuhr er fort, für zwei Jahre Zuchthaus ein Flugblatt herzustellen, man solle die Kräfte schonen, bis sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert habe und daher die Situation günstiger sei. »Wenn in Leipzig, das eine starke rote Arbeiterschaft hat, die Lage so ist, dann muss es im übrigen Reich noch viel schlimmer aussehen.«56 Ein Bericht vom Oktober des gleichen Jahres bemerkte eine ähnlich hoffnungslose Stimmung: es hatte ohnehin keinen Zweck, binnen eines Viertel Jahres würde ohnehin alles aufgedeckt – es herrschte schlicht Fatalismus. Junge Kommunisten erklärten, dass entweder ihre Eltern oder ihre Freundinnen ihnen verboten, sich in kommunistischer Hinsicht zu betätigen. Die Lösung der KPD war, die zuverlässigsten Genossen in die Hitlerjugend oder die SA zu entsenden, um diese Organisationen zu unterwandern.57 Hier kann weder im Detail darauf eingegangen werden, wie erfolgreich diese Unterwanderungsversuche waren, noch auf individuellen kommunistischen Widerstand gegen die Herrschaft des Nationalsozialismus.58 Die organisierte Arbeiterbewegung jedenfalls, die immerhin die ersten Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft zumindest rudimentär überstanden hatte, hörte nach 1935 auf zu existieren.59

55 BArch, RY 1 I/3/8–10/168, Bl. 34 ff. (26.10.1933). 56 BArch, RY 1 I/3/8–10/169, Bl. 215 (14.7.1935). 57 BArch, RY 1 I/3/8–10/168, Bl. 234 (23.10.1935). 58 Ein besonders dramatischer Fall findet sich in BArch, DY 55/V/287/23/1–4. Herbert ­Bochow und Else Glasmacher, beide aus Leipzig, hatten die illegale KPD unterstützt bis sie 1941 von der Polizei verhaftet wurden. Bochow wurde hingerichtet, Glasmacher zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Weiterhin Voigt, Widerstand. 59 Bis in die späten 1930er Jahre (1937/38) finden sich Berichte von Gruppen von Jugend­lichen, die Mitglieder der Hitlerjugend verprügelten. Diese sollten jedoch nicht als eine Fort­ setzung der organisierten Arbeiterbewegung gesehen werden, BArch, DY 55/V/287/966.

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Teil II Politisierung, Aufstieg und Zerfall. Die Arbeiterbewegung in Lyon, 1929–1938

Abb. 4: Demonstration von Bauarbeitern in Villeurbanne im Juli 1936 (Bibliothèque municipale de Lyon/P0546_SV 365).

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4. Autonomie und Politik vor 1934 Am Nachmittag des 4. September 1935 kam eine Gruppe streikender Heizungsinstallateure zur Baustelle der Groupe Scolaire in Cuire, einem Vorort von Lyon, wo dem Streikaufruf der Gewerkschaften zum Trotz noch gearbeitet wurde.1 Dem Unternehmer Pierre Gorget zufolge hatte die Gruppe der Bauarbeiter, wörtlich die »Jungs vom Bau« [Gars du bâtiment] die Baustelle widerrechtlich betreten, den Arbeiter Joseph Flûme, einen Streikbrecher, aufgegriffen und ihn mehrmals ins Gesicht geschlagen. Danach führten sie ihn zur Bourse du Travail, wo ein Streikkomitee tagte. Vor diesem Komitee wurde Flûme, so sein Arbeitgeber, erneut geschlagen und gezwungen, der Gewerkschaft 375 francs zu bezahlen. »Von den Machenschaften der Gewerkschaft [syndicat] vollkommen eingeschüchtert, konnte er [Flûme] seine Arbeit nicht wieder aufnehmen; ebenso hat er seine Arbeitslosenunterstützung verloren. […] Wegen dieser Angelegenheit hat Flûme aufgehört, für meinen Betrieb zu arbeiten, da er sich vor neuer Gewalt fürchtet. Auf meine Nachfragen hin erklärte er, er kenne seine Angreifer, wolle aber deren Namen nicht nennen, da er, so sagte er, fürchte, im Falle einer Denunziation getötet zu werden.« Daher wandte sich Gorget an die Polizei und beschuldigte die Gewerkschaft und insbesondere ihren Chef, Jean Pierre Chapat, sich der »Behinderung der Arbeitsfreiheit« [entrâve à la liberté du travail] schuldig gemacht zu haben. Um die Beschuldigungen zu untermauern, fügte er der Anzeige ein paar Tage später einen Artikel aus dem »Effort«, der Zeitung des Cartel Autonome du Bâtiment, hinzu, den Chapat verfasst hatte. In diesem hieß es: »Die Streikposten sind auf ihrem Posten. Die Jagd auf Streik­ brecher wird mit doppelter Härte fortgeführt, trotz der Findigkeit und Ruch­ losigkeit unserer Arbeitgeber, die tausend Maßnahmen ergreifen, um jene mutigen Renegaten, die unter dem Schutz der Polizei arbeiten, vor uns zu verbergen. Das hat uns aber nicht davon abgehalten, einige dieser dreckigen Biester zu fangen. Sie müssen mit den üblichen Strafen rechnen.«2 Gorget zufolge belegte der Artikel eindeutig Chapats Schuld. Flûme selbst gab zwar nicht an, auf der Baustelle geschlagen worden zu sein, schilderte aber detailliert, was in der Bourse du Travail geschehen war. »Gegen 15 Uhr erschienen vier Männer, deren Identität ich nicht kenne, auf der Bau1 Siehe zum kompletten Fall, Archives Départementales du Rhône (ADR), Uca 1044. Alle Namen wurden anonymisiert, es sei denn, es handelt sich um Personen, die in der lokalen Öffentlichkeit standen. Gewalt gegen Streikbrecher war in Frankreich überaus verbreitet und hatte eine lange Tradition, Berlanstein, S. 171. Zwar trug sich dieser Zwischenfall 1935 zu, an ihm lassen sich aber dennoch einige Praktiken verdeutlichen, die in den 1920er und frühen 1930er Jahren typisch waren. 2 ADR Uca 1044.

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stelle, die aber sicherlich Heizungsinstallateure waren, hielten mir sofort vor, dass ich arbeite, und befahlen mir, sie zur Bourse du Travail zu begleiten«. Ein Befehl, dem er Folge leistete. »In der Bourse du Travail führten mich diese Männer zu dem Streikkomitee, das heißt, einer Gruppe von fünf oder sechs Personen. Dieses Komitee tagte im Versammlungssaal, wo auch andere streikende Arbeiter anwesend waren. Jean Pierre Chapat, Sekretär der Heizungsarbeitergewerkschaft, hatte den Vorsitz inne. Er und seine Beisitzer hielten mir vor, während des Streiks gearbeitet zu haben, und beleidigten mich. Ich wurde mit Faustschlägen ins Gesicht von einem oder mehreren Mitgliedern dieses Komitees traktiert. Unter dem Vorwand, ich sei ein Streikbrecher […] entschied das Komitee schließlich, dass ich eine Strafe zahlen müsse, die auf 25  Francs pro Streiktag, insgesamt 375 Francs, festgesetzt wurde.« Nach diesem Zwischenfall kehrte er nicht zu seiner Arbeit zurück. Allerdings erklärte er vor Gericht auf Nachfrage, Chapat selbst habe ihn nicht geschlagen; die Namen der eigentlichen Angreifer kenne er nicht. Dies mag einerseits eine Schutzbehauptung gewesen sein, um weitere Gewalt zu vermeiden, andererseits aber könnte es durchaus der Wahrheit entsprochen haben, dass er die Täter nicht kannte, versuchten die Gewerkschaften doch, Arbeiter von verschiedenen Baustellen für solche Aktionen einzusetzen, eben um ihre Identität zu verbergen. Allerdings stellte es sich als schwierig heraus, vor Gericht Chapats Schuld zu beweisen, auch wenn die grundsätzlichen Fakten unbestritten waren. ­Chapat behauptete, Flûme sei alleine vor dem Streikkomitee erschienen. Er habe gestanden, während des Streiks gearbeitet zu haben, ohne die »Solidaritätssteuer« [impôt de solidarité] bezahlt zu haben, die die Vollversammlung der Heizungs­ arbeitergewerkschaft, dessen Mitglied Flûme war, beschlossen hatte. Diese Steuer wurde üblicherweise von Arbeitern erhoben, die während eines Streiks arbeiteten, um jene Arbeiter, die nicht arbeiteten, zu unterstützen. Mit diesen Vorwürfen konfrontiert habe Flûme, wie Chapats Anwalt ausführte, zugestimmt, die Steuer im Nachhinein zu bezahlen. Selbstredend stritt Chapat en­ ergisch ab, dass er oder jemand anders Flûme geschlagen habe. Selbst Flûme hatte erklärt, Chapat sei nicht auf der Baustelle gewesen und habe ihn nicht geschlagen, wie sein Anwalt betonte, weshalb sich Chapat keines Verbrechen schuldig gemacht haben könne. Weiter führte er aus, dass Flûme »als Mitglied der Gewerkschaft nicht nur für den Streik gestimmt hatte, sondern auch für alle Maßnahmen zu seiner Durchsetzung.« In Anbetracht dessen war ­Chapat zweifellos im Recht, Flûme sein Handeln zum Vorwurf zu machen. Indem er 50 Francs (und nicht 375, wie Gorget und Flûme behaupteten) bezahlte, hatte er schlicht eine Order seiner Gewerkschaft befolgt. Das Gericht folgte dieser Argumentation und sprach Chapat frei. Zu Beginn des zweiten Teils dieser Arbeit soll noch einmal ihre übergreifende Fragestellung in Erinnerung gerufen werden. Weshalb konnte es in Lyon, anders als in Leipzig und trotz der organisatorischen Schwäche der Arbeiterbewegung vor 1934, zu einer solch massiven Mobilisierung gegen die radikale Rechte 196 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

kommen? Was unterschied Lyon von Leipzig? Schon ein kurzer Vergleich der kleinen Geschichten, mit denen die Kapitel zu Leipzig begannen, mit derjenigen vom Beginn dieses Kapitels, deutet auf einen entscheidenden Unterschied hin. Während Parteien und ihre Angehörigen an allen Eingangsgeschichten aus Leipzig beteiligt waren, spielten diese in der obigen Geschichte keine Rolle. Vielmehr spielte das Cartel Autonome du Bâtiment, Lyons machtvolle Bauarbeitergewerkschaft, eine zentrale Rolle. Inwiefern ist dieser Unterschied relevant? Verglichen mit Leipzig spielten politische Parteien innerhalb der Arbeiterbewegung in Lyon zumindest vor 1934 eine eher untergeordnete Rolle. Stattdessen beherrschte das Cartel die lokale Situation. In Leipzig führten parteipolitisch konnotierte Alltagskonflikte dazu, dass sich der Graben zwischen SPD und KPD an der Basis (re)produzierte. In Lyon gibt es kaum Belege für solcherart politisierte Alltagskonflikte. Dort kam es hingegen meist zu Konflikten zwischen Gewerkschaften, die teils auch überaus gewaltsam verliefen, vor allem zwischen dem Cartel und der kommunistischen Confédération Générale du Travail  – Unitaire (CGTU). Es war, so eine These des zweiten Teils der Arbeit, paradoxerweise die relative Schwäche politischer Parteien vor 1934, die die gewaltige Mobilisierung nach den Februarereignissen 1934 ermöglichte. Im Gegensatz zu Leipzig, wo das links-proletarische Milieu von politischer Gewalt und Feindschaft tief zerrissen war, herrschte innerhalb der Arbeiter­ bewegung Lyons ein höheres Maß an Kooperation am Arbeitsplatz, vor allem im Baugewerbe, wo die Arbeiterbewegung vor 1934 am stärksten war. Dem Cartel Autonome du Bâtiment gelang es unter Rekurs sowohl auf vertrauensbildende Praktiken als auch auf solche, die auf Zwang basierten, eine starke Gemeinschaft zu bilden.3 Anders als Sozialdemokraten und Kommunisten in Leipzig sprachen Bauarbeiter in Lyon selten explizit von Vertrauen und Misstrauen. Dennoch lassen sich die Praktiken des Cartels als (erfolgreiche)  Ver­ suche interpretieren, Vertrauen herzustellen, wie dieses Kapitel zeigen wird. Bauarbeitern in Lyon gelang es Praktiken zu finden, die ihnen erlaubten, Vertrauen in die Identität ihrer Kollegen zu haben – sie konnten, anders als Sozialdemokraten und Kommunisten in Leipzig, davon ausgehen, dass sie wirklich Bauarbeiter und keine Spitzel der Polizei oder einer gegnerischen Partei waren. Gleichzeitig konnten sie sich darauf verlassen, dass ihre Kollegen den Anweisungen des Cartels Folge leisten würden und dass diese, wenn nötig, mit Gewalt durchgesetzt wurden. In diesem Sinne funktionierten in Lyon Vertrauen und Kontrolle in Kombination miteinander. Beide Arten von Praktiken trugen zur Schaffung einer starken Gemeinschaft bei, die im expliziten Gegensatz zu politischen Parteien existierte. Im ersten Teil dieses Kapitels wird kurz die Geschichte des Cartels vorgestellt und sein Erfolg analysiert. Der zweite Teil wird sich Streiks, insbesondere, aber nicht ausschließlich, im Baugewerbe, widmen. Bei Streiks musste das Cartel seine Stärke gegenüber dem Hauptfeind, dem Unternehmertum [patronat], 3 Ich stütze mich auf die ausgezeichneten Arbeiten von Ochandiano, Formes; ders., Lyon.

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praktisch unter Beweis stellen. Die Unternehmer [patrons] waren allerdings nicht die einzigen Gegner des Cartels. Es musste sich ebenso gegen konkurrierende Gewerkschaften, insbesondere die kommunistisch kontrollierte CGTU, durchsetzen, wovon der dritte Teil  dieses Kapitels handeln wird. Schließlich wird sich das Kapitel der Kommunistischen Partei in Lyon zuwenden, die sich ähnlichen Problemen ausgesetzt sah wie die KPD in Leipzig. Allerdings war die Parti Communist in Lyon weitaus schwächer als die KPD in Leipzig und im Alltag weniger präsent. Angesichts dieser Schwäche ist der rasante Aufstieg der PCF umso erklärungsbedürftiger. Eine Erklärung hierfür wird in den folgenden Kapiteln geboten. Die Geschichte des Cartels ist für den Aufstieg der Volksfront in Lyon in verschiedener Hinsicht relevant. Bauarbeiter und das Cartel Autonome hatten großen Anteil an der anfänglichen Mobilisierung gegen die radikale Rechte in Lyon direkt nach den Februarereignissen 1934. In diesem Sinne war das Cartel ein wichtiger »Aktivposten« für die Arbeiterbewegung in Lyon als es darum ging, sich gegen die radikale Rechte zur Wehr zu setzen. Offensichtlich waren Bauarbeiter nicht die einzigen Arbeiter, die sich an dieser Mobilisierung beteiligten. In der Tat war die »antifaschistische« Mobilisierung zwischen 1934 und 1936 vor allem durch ihre gewerbeübergreifende Breite gekennzeichnet. Während dieser fand ein dramatischer Wandel vom Sozialen zum Politischen als primärem Feld kollektiver Mobilisierung statt, wie im Fünften Kapitel ausgeführt werden wird. Die Bauarbeitergewerkschaft, die im gesamten zweiten Teil zu Lyon im Zentrum stehen wird, bietet ein exzellentes Beispiel, diesen Wandel zu beobachten. Wäre eine anti-politische Form der Organisierung, wie sie das Cartel so erfolgreich gegenüber Arbeitergebern wie politischen Parteien praktizierte, nicht gleichsam eine Alternative für Leipzig gewesen, wo die Politisierung des Alltags solch immense Probleme schuf? Die Antwort auf diese Frage muss entschieden negativ ausfallen, wie die Geschichte des Cartels während der Volksfront zeigen wird. Die Geschichte des Cartels mag daher die Möglichkeiten erfolgreicher anti-politischer kollektiver Mobilisierung in Erinnerung rufen; sie deutet aber auch gleichzeitig die Grenzen einer solchen Mobilisierung an.

4.1 Das Cartel Autonome du Bâtiment Eine Erklärung der organisatorischen Stärke des Cartels muss auf das dritte Viertel des 19.  Jahrhunderts zurückverweisen, als Lyon wie so viele andere Städte Frankreichs seinen mittelalterlichen Charakter verlor und tiefgreifend modernisiert wurde.4 In Lyon selbst gab es allerdings nicht genügend Arbeits4 Ochandiano, Lyon, S. 8 f., 18–22. Zur Modernisierung von Paris unter Baron de Haussmann, Harvey.

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kräfte, um die Großbaustellen zu versorgen, weshalb die Stadt zahlreiche Arbeitsmigranten, insbesondere Maurer aus dem Limousin, anzog.5 Während sich einige dieser Arbeiter dauerhaft in Lyon niederließen, kam die Mehrheit im Frühjahr, als die Bausaison begann, und verließ Lyon nach deren Ende im Sommer wieder in Richtung Heimatdörfer. Dieses Muster änderte sich erst mit der europaweiten Wirtschaftskrise der 1880er Jahre, unter der insbesondere die ländliche Agrarwirtschaft zu leiden hatte. Nun zog eine wachsende Anzahl ­Arbeitsmigranten dauerhaft nach Lyon, wo sie Arbeit auf den Baustellen der neu entstehenden Industriebetriebe fanden. Saisonale Migration hingegen verlor an Bedeutung und war in den 1890er Jahren nur noch ein Randphänomen. Gleichzeitig verloren einige der traditionell wichtigen Handwerke im Baugewerbe, wie diejenigen der Schreiner, Tischler oder Steinmetze, aufgrund technischer Innovationen an Bedeutung. Die Maurer erlebten hingegen keinen ähnlichen Niedergang. Diese Arbeiter, eben Maurer aus dem Limousin, die sich zumeist in La Guillo­tière im Südwesten des Rhôneufers niedergelassen hatten, bildeten den Kern der entstehenden Bauarbeitergemeinschaft.6 Der erste Weltkrieg unterbrach Migrationsmuster erneut. Das Limousin, dessen Bewohner einen hohen Blutzoll zu entrichten hatten, fungierte nicht länger als Arbeitsreservoir für Lyon. Stattdessen kamen Bauarbeiter immer öfters aus ländlichen Regionen Italiens, wie etwa dem Piemont, aber auch aus Spanien.7 Um 1931 zählt Jean-Luc de Ochandiano, der beste Kenner der Bauarbeiterschaft Lyons, 13.533 Bauarbeiter in Lyon, bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 600.000 Personen. Angaben über ausländische Bauarbeiter variieren. Der Präfektur zufolge gab es 1931 etwa 7.500 ausländische Bauarbeiter in Lyon, bei insgesamt 28.340 ausländischen Arbeitern, dem Polizeikommissar [Commissaire spécial de police] zufolge hingegen nur 1.950 ausländische Bauarbeiter, bei insgesamt 15.950 ausländischen Arbeitern.8 Ochandiano selbst schätzt, dass etwa die Hälfte aller Maurer im Jahre 1931 aus dem Ausland kam; etwa 15–20 % hatten ihren Ursprung im Limousin, immer noch eine relativ große Anzahl, verglichen mit 1,6 % der Wählerschaft Lyons, deren familiäre Ursprünge ins Limousin führten.9 Im Zuge der neuen Einwanderungswellen änderten sich auch Siedlungsmuster, da sich die meisten neu hinzugezogenen Arbeiter aus Italien oder Spanien in den rasant wachsenden Vororten von Lyon wie Vénissieux oder Villeurbanne niederließen.10 Das soziale Zentrum des Bauarbeitermilieus, wo sowohl die von Bauarbeitern frequentierten Kneipen als auch die lokalen Gewerkschaftszentralen lagen, blieb jedoch La Guillotière. Auch bildeten 5 Ochandiano, Lyon, S. 13–17. 6 Ebd., S. 100–126. 7 Ebd., S. 193–195. 8 Alle Zahlen nach Ochandiano, Formes, S. 27 f. Die zweite Zahl scheint allerdings plausibler zu sein. Die Situation von Einwanderern wird unten genauer diskutiert. 9 Ochandiano, Lyon, S. 193. 10 Zu Villeurbanne Meuret.

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die Maurer aus dem Limousin, die sich dort vor dem Krieg niedergelassen hatten, weiterhin den Kern der Gewerkschaften.11 Um die spezifischen Formen und Praktiken der Gewerkschaften im Bau­ gewerbe zu verstehen, muss zumindest ein kurzer Blick auf Art und Organisation des Arbeitsprozesses selbst geworfen werden. Dabei ist es irreführend, von einem einzigen Baugewerbe zu sprechen, war es doch ein hochgradig diversifiziertes Gewerbe, das verschiedene Handwerke umfasste. Grundsätzlich ließen sich diese verschiedenen Handwerke, die in ihrer Gesamtheit das Baugewerbe ausmachten, in zwei Kategorien unterteilen, das »gros œuvre« und das »second œuvre«, wobei das gros œuvre all jene Berufe umfasste, die mit der eigentlichen Errichtung des Gebäudes befasst waren  – also etwa Erdarbeiter, Maurer und Dachdecker – während das second œuvre all jene Tätigkeiten umfasste, die nach der Fertigstellung des Rohbaus erfolgten, wie etwa das Verlegen von Leitungen und Installieren von Heizungen. Sowohl die Arbeit selbst als auch der Arbeitsplatz dieser verschiedenen Berufe unterschieden sich grundlegend. Während die Arbeiter des gros œuvre in der Regel an der frischen Luft arbeiteten und sowohl dem Wetter als auch den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt waren, galt dies für jene des second œuvre nicht.12 Schließlich war die Rationalisierung und Standardisierung, die so typisch für viele Gewerbe Frankreichs während der Zwischenkriegszeit war, im Baugewerbe kaum vorangeschritten, wo immer noch verhältnismäßig kleine Betriebe vorherrschten.13 Weiterhin war die Arbeitstätigkeit von Bauarbeitern höchst instabil. Sobald ein Gebäude fertig war, mussten sie auf eine andere Baustelle wechseln, was oft bedeutete, unter einem neuen Chef mit neuen Kollegen zu arbeiten, deren Anzahl drastisch variieren konnte, vielleicht gar in einem anderen Ort und in einer gänzlich anderen Umgebung.14 Für die Organisierung von Bauarbeitern ergab sich hieraus eine Reihe von Schwierigkeiten. Bauarbeitergewerkschaften mussten Wege finden, auf zahlreichen Baustellen Präsenz zu zeigen und Arbeiter zu organisieren, die für eine Vielzahl von Betrieben arbeiteten. Die Diversität des Baugewerbes stellte eine weitere Herausforderung dar, da insbesondere kleine Gewerbe auf sich allein gestellt in Auseinandersetzungen mit der Arbeiter­ geberseite kaum eine Chance hatten. Die verschiedenen Gewerkschaften mussten daher eine Form der Organisierung finden, die erlaubte, die Interessen der verschiedenen Gewerbe wirkungsvoll zu vertreten. Verglichen mit dem Arbeitsprozess in Fabriken war die Arbeit auf Baustellen weniger reguliert und unterlag keiner ähnlich strikten Arbeitsdisziplin. Oftmals hatten nicht Vorarbeiter, sondern Angehörige des Gewerbes das Sagen auf einer Baustelle. Hinzu kam, dass die Arbeit auf Baustellen wegen des geringen

11 Ochandiano, Lyon, S. 193, ders., Formes, S. 71 f. 12 Ebd., S. 7 f. 13 Für detaillierte Statistiken, ebd., S. 7–17. Weiterhin Noiriel, Workers. 14 Ochandiano, Formes, S. 11.

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Ausmaßes an Arbeitsteilung mehr Sinn zu machen schien als in der Fabrik.15 Und schließlich mag die Gelegenheit an der frischen Luft und unter der Sonne zu arbeiten den Arbeitern ein gewisses Gefühl von Freiheit gegeben haben. In diesem Sinne schildert Claire Auzias die Gefühle eines von ihr interviewten anarchistischen Bauarbeiters: »Der strikten Arbeitsdisziplin in der Fabrik zu entkommen war ein expliziter Grund für ihn, sich dem Baugewerbe zuzuwenden und Steinsetzer [carreleur] zu werden (1926–1946). Die Baustelle wurde gleichsam als Anti-Fabrik gesehen: man lebte in der frischen Luft, die Arbeit machte Spaß und verschaffte Befriedigung. […] Auf der Baustelle entkam er der Fabrik, sie gab ihm ein gewisses Gefühl von Freiheit. Seinen ersten Arbeitstag auf der Baustelle bezeichnete er als ›Ferientag.‹«16 In diesem mit der Bauarbeit verbundenen Gefühl von Freiheit und Unstetigkeit mag ein Grund gelegen haben, warum Anarchismus und revolutionärer Syndikalismus auf Frankreichs Baustellen so verbreitet waren.17 Das Baugewerbe war, der oben notierten abnehmenden Bedeutung von Gewerben wie der Schreinerei oder der Steinmetzkunst zum Trotz, weiterhin von alten Handwerken, insbesondere dem Maurertum, dominiert. In vielerlei Hinsicht erinnern die Praktiken der Gewerkschaften daher an die alten Traditionen der Compagnonnage.18 Den Gewerkschaften oblag beispielsweise die Kontrolle der Arbeitsqualität. In einigen Gewerben, wie demjenigen der Steinsetzer oder der Zementarbeiter, konnten Arbeiter ihren Mitgliedsausweis [Carte syndicale]  erst erhalten, nachdem sie ihre fachliche Kompetenz nachgewiesen hatten. Ein Nebeneffekt, wenn nicht gar die wesentliche Zielsetzung dieser Praxis war, dass nur qualifizierte Arbeiter Zugang zum Baugewerbe erhielten, was in Anbetracht der oftmals gefährlichen Arbeit wichtig war.19 Gleichzeitig deutet sich hier an, welchen Stolz Bauarbeiter durch ihre Arbeit gewinnen konnten, und wie wichtig gewisse Qualitätsstandards für den Ruf des Gewerbes waren. Erste Ansätze gewerkschaftlicher Organisierung entstanden in diesem Bauarbeiter- und insbesondere Maurermilieu in den späten 1870er Jahren.20 Einen ersten Durchbruch konnte die Gewerkschaftsbewegung [syndicalisme]  allerdings erst 1897 erzielen, als die Maurergewerkschaft [Syndicat des maçons de Lyon et du Rhône] erfolgreich einen Streik organisierte. Eine der ersten Maßnahmen des Streikkomitees bestand darin, einen »Exodus« zu organisieren: Bauarbeiter verließen Lyon, um andernorts, oft in nahegelegenen Dörfern oder ihrer Heimatregion, Arbeit zu finden, mit der sie ihre streikenden Kollegen in Lyon unterstützen konnten. Somit erwies sich die gemeinsame Herkunftsregion vieler Maurer als Vorteil in Zeiten des Streiks. Ebenso vorteilhaft war, dass sich 15 Ebd., S. 68–72. 16 Auzias, S. 155–157. 17 Ratel, S. 45. 18 Ochandiano, Formes, S. 70. Zur Compagnonnage allgemein Truant. 19 Auzias, S. 155. 20 Ochandiano, Lyon, S. 89–95.

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zahlreiche Maurer in La Guillotière niedergelassen hatten, wo Ladenbesitzer und Kneipiers den streikenden Bauarbeitern Kredit gewährten, teils freiwillig, teils unter einem gewissen Druck seitens der Maurer. Beide Praktiken deuten an, wie wichtig sowohl der gemeinsame lokale Ursprung als auch die Geselligkeit im Viertel für die Entstehung einer starken Gemeinschaft waren. War der Streik 1897 ursprünglich von Maurern ausgegangen, so schlossen sich ihm schnell andere Bauarbeiter an, um ihre Solidarität mit den Maurern zum Ausdruck zu bringen und den allgemeinen 8-Stunden-Tag zu fordern, wodurch es mehr oder weniger zu einem Generalstreik im Baugewerbe kam. Bemerkenswerterweise aber weigerten sich die Maurer selbst, sich mit den anderen Bauarbeitern zu verbünden, da sie genug damit zu tun hatten, ihren eigenen Streik zu organisieren. Auch in der folgenden Dekade verbündeten sich die Maurer nicht mit anderen Gewerkschaften, etwa indem sie sich der Bourse du Travail anschlossen, wo andere Gewerkschaften ihren Sitz hatten.21 Ohne die Unterstützung der starken Maurergewerkschaft hatten andere, kleinere Gewerkschaften allerdings kaum Chancen, Streiks mit Erfolg zu führen.22 Diese Situation änderte sich erst im August 1909, als sich die Maurergewerkschaft der Bourse du Travail anschloss; im November des gleichen Jahres wurde die Gewerkschaft dann auch Mitglied in der Fédération Nationale des Travailleurs du Bâtiment (FNTB). In der Zwischenzeit hatten wichtige Entwicklungen stattgefunden.23 Die meisten gewerkschaftlich organisierten Arbeiter hatten die Republik während der Krisen des späten 19.  Jahrhunderts (beispielsweise in der Dreyfus-Affäre) unterstützt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hingegen verschärften sich die Gegensätze zwischen syndikalistischen Bauarbeitern und dem republikanischen Staat und seinen Ordnungskräften. Dieser Wandel lässt sich gut an der veränderten Begrüßungsform der Bauarbeiter ablesen: etwa seit 1910 hörten sie auf, sich gegenseitig als »citoyens« (Bürger) zu grüßen, worin ihre Unterstützung der Republik zum Ausdruck kam, und sprachen sich stattdessen als »camarades« (Genossen) an. Jean-Luc de Ochandiano bemerkt hierzu: »[Die Bauarbeiter] verlangten nicht mehr rechtliche Gleichheit, die die Grundlage der Republik war, noch wollten sie Teil der Nation sein. Indem sie den Begriff ›camarade‹ verwandten, brachten sie vielmehr zum Ausdruck, dass sie sich einer speziellen sozialen Gruppe, der Arbeiterklasse, zugehörig fühlten.«24 Im Zuge dieses Wandels verbreiteten sich auch die Ideen des revolutionären Syndikalismus und der »direkten Aktion« [Action directe] unter Frankreichs Bauarbeitern, deren Gewerkschaft, die FNTB, mit etwa 50.000 Mitgliedern auch die stärkste Einzelgewerkschaft in der Confédération Générale du Travail (CGT) vor Beginn des Ersten Weltkriegs war. Bei diesem revolutionären Syndikalismus handelte es sich, wie Boris Ratel in seiner exzellenten Studie 21 Zu den Bourses du Travail und ihrer Geschichte Schöttler; Ansell. 22 Ochandiano, Lyon, S. 168–175. 23 Ebd., S. 175–178. 24 Ebd., S. 178.

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zum Anarcho-Syndikalismus unter französischen Bauarbeitern ausführt, um eine besonders anti-autoritäre und libertäre Spielart des Sozialismus, dessen Ideal eine Gesellschaft ohne Staat war. Stattdessen sollten gewerbebasierte Syndicats eine zentrale Rolle in der Organisierung der Gesellschaft übernehmen. Diese Staatsferne spiegelte sich auch im Begriff der »Action directe« wider, der auf eine »direkte« Konfrontation zwischen Arbeitern und Arbeitgebern abzielte, ohne dass dem Staat etwa als vermittelnde Instanz oder Bereitsteller sozialer Wohlfahrtsleistungen eine Rolle zugebilligt wurde. Arbeiter sollten sich auf ihre eigene Stärke verlassen. Die darauf aufbauenden Praktiken konnten sowohl legaler als auch illegaler Art sein, entscheidend war allein, was in direkten Auseinandersetzungen mit dem sozialen (und nicht politischen!) Gegner Erfolg versprach.25 Im März 1910, nur wenige Monate nachdem sich die Maurergewerkschaft der FNTB angeschlossen hatte, organisierte diese einen weiteren Streik, der sich bis Juli hinzog und in dessen Verlauf es immer wieder zu Gewalt kam.26 Zum ersten Mal kamen hierbei die »Roulantes« zum Einsatz, Gruppen von Arbeitern, die auf Fahrrädern – daher der Name – von Baustelle zu Baustelle fuhren, um dort den Streik durchzusetzen  – eine Praxis, die unten genauer erläutert wird. Der Streik endete mit einer erheblichen Lohnerhöhung für die Arbeiter. In den folgenden Jahren vor dem Weltkrieg wurde eine Gewerkschaftsmitgliedschaft quasi obligatorisch für Bauarbeiter, wenn sie in Lyon Arbeit finden wollten. Der Mitgliedsausweis, auf dem bezahlte Mitgliedsbeiträge verzeichnet wurden und der von Baustellendelegierten jederzeit kontrolliert werden konnte, wurde gleichsam zur Eintrittskarte zu Baustellen. Damit wurden die eher informellen Formen der Geselligkeit, die auf einem gemeinsamen lokalen Ursprung und direkter Nachbarschaft im Viertel basierten, durch rigidere Organisations­ formen ersetzt, nicht zuletzt um auch die steigende Anzahl italienischer Maurer gewerkschaftlich organisieren zu können. Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg markierten somit einen ersten Höhepunkt des revolutionären Syndikalismus unter Bauarbeitern in Lyon.27 Der Erste Weltkrieg bereitete nicht nur Migrationsmustern im Baugewerbe ein Ende, sondern ebenso dem syndikalistischen Milieu in Lyon und andernorts in Frankreich. Wie überall in Europa machte die Russische Revolution einen starken Eindruck auf die Arbeiterschaft in Frankreich.28 Die FNTB schloss sich daher auch nach der Spaltung der CGT zunächst der CGTU an, die zu diesem Zeitpunkt ein Sammelbecken sowohl für Kommunisten als auch Anarchisten und revolutionäre Syndikalisten war.29 Allerdings dauerte dieser Zustand nicht lange an, da die CGTU zunehmend unter kommunistische Kontrolle geriet; 25 Ratel, S. 10, 175 f. 26 Zum Streik 1910, Ochandiano, Lyon, S. 178–180. 27 Ebd., S. 180–188. 28 In Ergänzung zu der in der Einleitung genannten Literatur zur PCF Jones. 29 Ratel, Teil A. Zu Lyon grundsätzlich Ochandiano, Formes, S. 36–45.

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bereits 1924 verließ die FNTB die CGTU wieder.30 Durch die zahlreichen Spaltungen frustriert, die die Stärke der Gewerkschaften ernsthaft bedrohten, beschlossen die Bauarbeiter Lyons, eine »vollständige Autonomie« anzustreben, was bedeutete, dass sie weder der reformistischen CGT, noch der CGTU, noch der CGT-SR (Syndicaliste Revolutionaire), die sich 1926 vornehmlich aus der FNTB bildete, angehören wollten. Zunächst lösten sich nur die Maurer von der FNTB, aber bereits 1926 machten die meisten anderen Gewerkschaften einen ähnlichen Schritt und schlossen sich im Cartel Autonome du Bâtiment zusammen, das wiederum von den Maurern dominiert wurde. Damit blieben die Bauarbeiter Lyons den Idealen der Charte d’Amiens treu, die die Unabhängigkeit der Gewerkschaften gegenüber politischen Parteien und Sekten betont hatte.31 Der Schritt zur Autonomie erwies sich als Erfolg für die Maurergewerk­ schaft: 1924 zählte sie 4.061 Mitglieder, bis 1926 stieg diese Zahl auf 4.580 an, und 1931 waren es schließlich 5.391. Es gelang ihr sogar, eine wachsende Anzahl ausländischer Arbeiter zu organisieren.32 Diese Erfolge bedeuteten jedoch nicht, dass Konflikte zwischen den verschiedenen Gewerkschaften aufhörten, schloss sich doch eine signifikante Minderheit der Bauarbeiter der CGTU, dem SUB (Syndicat unique du bâtiment, einem zur CGT-SR gehörenden Syndicat), oder, in geringerer Anzahl, der CGT an. Kommunisten in Lyon versuchten zunächst, das Cartel zu überzeugen, sich wieder in die CGTU einzugliedern, wandten sich aber, nachdem dies scheiterte, 1928 vom Cartel ab, was zu teils gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gewerkschaftsrichtungen (Cartel, CGTU, SUB) führte, worauf im Folgenden genauer einzugehen sein wird.33 Von allen drei Gewerkschaften war das Cartel die bei weitem stärkste und gleichzeitig pragmatischste und am wenigsten ideologisch geprägte. Seinem Selbstverständnis nach war das Cartel eine explizit und radikal antipolitische Organisation, was bedeutete, dass politische Parteien keinen Einfluss auf die Organisation haben sollten. Anti-politisch zu sein bedeutete jedoch nicht, dass das Cartel keine revolutionäre Organisation war. Tatsächlich betonte es immer wieder seine revolutionären Ambitionen. Im Gegensatz zu einer kommunistischen Revolution, die darauf abzielte, den Staat zu erobern, stand im Revolutionsverständnis des Cartels allerdings die »soziale Emanzipation« im Vordergrund, weshalb das Unternehmertum als wichtigster Gegner 30 Ratel, S. 51 f. 31 Im folgenden wird, zur begrifflichen Differenzierung zwischen den verschiedenen Gewerkschaftsrichtungen, immer wieder auf französische Begriffe zurückgegriffen. Das Syndicat autonome (Cartel), das Syndicat unitaire (CGTU, kommunistisch), sowie das Syndicat confédéré (CGT, reformistisch), jeweils mit den Ergänzungen »du bâtiment« (Bauarbeiter) bzw. »des maçons« (Maurer). Entsprechend werden »Autonomes«, »Unitaires«, »Confédérés« als Sammelbezeichnung für die Mitglieder der jeweiligen Gewerkschaften verwendet. 32 Ochandiano, Lyon, S. 230. 33 Ochandiano, Formes, S. 2, 40–47. In Lyon habe das Cartel eine ebenso wichtige Rolle gespielt wie die Unions dérpatementales der CGT und CGTU, die immerhin Gewerkschaften aller Gewerbe umfassten. Dies allein unterstreicht die Bedeutung des Baugwerbes.

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an­gesehen wurde, und nicht der Staat, obwohl dieser die Arbeitgeber tatkräftig unterstützte.34 Eine »soziale Emanzipation« lief nicht auf die Eroberung des Staates hinaus, sondern würde schließlich zu seiner Zerstörung führen. Deshalb rief der Effort, die Zeitung des Cartels, die Arbeiter auch dazu auf, nicht auf Parteien zu bauen, die alle durch Wahlen die Macht im Staate erringen wollten, was aber nicht dazu führen würde, dass sich die Situation für Arbeiter ändere. Ein bürgerlicher Staat bliebe immer ein bürgerlicher Staat, und die Demokratie sei nur ein Mittel, dies zu verschleiern. Linke Parteien, die sich an Wahlen beteiligten, waren somit der gefährlichen Illusion zum Opfer gefallen, durch Wahlen ließen sich gesellschaftlich relevante Änderungen erreichen. Stattdessen sollten sich Arbeiter in direkten Auseinandersetzungen mit den Unternehmern auf ihre eigene Stärke verlassen. Der Begriff von Klassenbewusstsein, den das Cartel entwickelte, war somit ebenfalls dezidiert anti-politisch.35 Wie konnte eine effektive Organisierung dieser höchst unstetigen Arbeiter, die vor allem regelmäßig den Arbeitsplatz wechselten, gelingen? Eine zentrale Voraussetzung für die Formierung einer starken Bauarbeitergemeinschaft in Lyon, die Arbeiter verschiedener Handwerke einschloss, war die Schaffung einer kollektiven Identität, etwa durch einen gemeinsamen Slang oder einen bestimmten Kleidungsstil. Diese erlaubten individuellen Arbeitern nicht nur, ihre Identität auszudrücken, sondern ebenso, was vielleicht noch wichtiger war, sich gegenseitig als Bauarbeiter zu identifizieren. Diese kulturellen Praktiken waren, wie Ochandiano schreibt, »Erkennungszeichen, die für Personen, die nicht dem Gewerbe angehörten, oft schwer zu entziffern waren.«36 Sie erlaubten Kollegen sozusagen, die proklamierte Identität ihres Gegenübers zu verifizieren, weshalb sie bei der Etablierung von Vertrauen eine entscheidende Rolle spielten. Einen gewissen Slang zu sprechen signalisierte gleichsam, »du kannst mir vertrauen, dass ich derjenige bin, der ich zu sein vorgebe«. Diese »Erkennungszeichen« lassen sich somit als Teil des »grob vereinfachte[n] Gerüst[s] von Indizien, die nach Art einer Rückkopplungsschleife laufend Informationen darüber zurückmelden, ob die Fortsetzung des Vertrauens gerechtfertigt ist oder nicht« interpretieren.37 Symbolische Praktiken vermittelten und institutionalisierten Vertrauen: Bauarbeiter konnten sich gegenseitig vertrauen, da sie diesen Symbolen vertrauen konnten. Diese Erkennungszeichen halfen, eine epistemische Krise wie in Leipzig zu vermeiden, wo man niemals sicher sein konnte, ob etwa ein Drei-Pfeile-Abzeichen wirklich bedeutete, dass die betreffende Person ein Mitglied der Eisernen Front war.

34 Zum revolutionären Syndikalismus, Friedman; Jennings; Ridley; Stearns; van der Linden u. Thorpe; Julliard. 35 L’Effort, 8.3.1930, 23.1.1932. Weiterhin Ochandiano, Lyon, S. 225 f.; ders., Formes, S. 59 f. 36 Ochandiano, Formes, S. 32– 36, dort auch mehr Details zu Bauarbeitergewerkschaften im 19. Jahrhundert. 37 Luhmann, S. 35 f.

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Die interessanteste Quelle für solche Zeichen sind Albert Faus 1989 ver­ öffentlichte Memoiren »Maçons au Pied du Mur«.38 Zu diesen Zeichen gehörten beispielsweise die Spitznamen, die sich die »Jungs vom Bau« gegenseitig gaben.39 Für gewerkschaftlich aktive Arbeiter waren diese Namen von Nutzen, »da sie ihnen erlaubten, ihre wahre Identität bei der Einstellung zu verheimlichen.«40 Einerseits ließ sich die Identität gegenüber einem Arbeitgeber verbergen, andererseits schufen die Spitznamen auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen jenen Arbeitern, die mit ihnen vertraut waren, und halfen so, eine exklusive Gemeinschaft zu formen. Ebenso gebrauchten die Bauarbeiter Spitznamen für ihre wichtigsten Werkzeuge oder verwandten ein der Arbeitswelt ent­lehntes Vokabular beim Trinken. Ein Liter Wein wurde »étrésillon« genannt, ein Begriff, der sonst für die »hölzernen Pfähle benutzt wurde, mit denen die Erdarbeiter die Stabilität der Verschalung sicherstellten.«41 Diese Sprache stellte eine Art Code für all jene dar, die zum métier gehörten, eine spezielle Sprache, deren Kenntnis einen zum Teil der Gemeinschaft machte. Andere kulturelle Praktiken spielten eine ähnliche Rolle bei der Heraus­ bildung der kollektiven Identität. »Die Kleidung diente, ebenso wie die Sprache und die Werkzeuge, als gegenseitiges Erkennungszeichen um die Zugehörigkeit zur Gruppe zu zeigen und materiell gegenüber anderen Bauarbeitern die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gewerben zu markieren«, so Ochandiano. Die Zugehörigkeit zum Metier zu betonen war andererseits ein Weg, sich vom Bürgertum abzugrenzen, was in Zeiten, in denen eine wachsende Anzahl an Arbeitern versuchte, das Bürgertum habituell nachzuahmen, wichtiger wurde.42 Maurer und Schreiner präsentierten sich insbesondere auf öffentlichen Veranstaltungen wie Maidemonstrationen als stolze Handwerker, wozu die Kluft ihres Metiers entscheidend beitrug.43 Genauso wie der spezielle Slang gab diese stolz in der Öffentlichkeit getragene Kleidung Arbeitern das Gefühl, zu einem besonderen Berufsstand [métier] zu gehören, der sich gegenüber der Allgemeinheit abgrenzte. In Leipzig stellten Kneipen einen wichtigen Treffpunkt für Anhänger politischer Parteien und Mitglieder der Wehrformationen dar, was sie zu zentralen Orten in der urbanen politischen Geographie machte. In Lyon hingegen spielten politisierte Bars keine vergleichbare Rolle, waren jedoch als Orte informeller Geselligkeit für die Formierung der Gemeinschaft der Bauarbeiter bedeutend. Dem von einigen Führen des Cartels propagierten Antialkoholismus zum Trotz war der Konsum großer Mengen Rotweins unter den Bauarbeitern verbreitet. Auf wichtigen Baustellen gelang es Arbeitern sogar, den Patron zu zwin38 Fau. Albert Fau war ein aktiver Gewerkschafter mit starken kommunistischen Sympathien. 39 Zur Tradition der Spitznamen, Truant, S. 153 ff. 40 Fau, S. 18. 41 Ebd., S. 22. Ähnlich Ochandiano, Formes, S. 72. 42 Ochandiano, Formes, S. 67. 43 Fau, S. 163. Dieser schildert einen Aufzug aus dem Jahre 1937.

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gen, einen jungen Burschen, »mousse« genannt, anzustellen, der zur Mittagszeit die »casse-croûte«, ein zweites Frühstück, sowie billigen Rotwein besorgte.44 Die unterschiedlichen Berufe hatten jeweils ihre eigenen Bars, auch wenn man wohl kaum von einer allzu strikten Trennung des Publikums ausgehen sollte. Cafés fungierten ebenso als Gewerkschaftssitze, wie etwa ein Café in der Avenue de Saxe, wo die Gewerkschaft der Ofenmaurer [Syndicat des BriqueteursFumistes] residierte. Oft waren es alte Arbeiter des jeweiligen Handwerks, die diese Cafés betrieben, wie etwa das Café-Restaurant »Père Crescent«, einem alten Schreiner, bei dem Arbeitslose eine billige Mahlzeit oder gar eine kostenlose Suppe erhalten konnten. Bars stellten jedoch nicht nur Orte der Geselligkeit dar. Sie fungierten auch als Arbeitsmarkt, wo Arbeitgeber unter den wachsamen Augen der Kollegen nach Arbeitern suchen konnten.45 Cafés und Bars bieten ein gutes Beispiel dafür, wie Arbeiter gleichzeitig Vertrauen bilden und sich gegenseitig kontrollieren konnten.46 Einerseits wird man wohl davon ausgehen können, dass beim geselligen Zusammensein in der Bar Freundschaften und damit Vertrauen gepflegt wurden, andererseits wurde dort eben auch soziale Kontrolle ausgeübt, etwa indem sichergestellt wurde, dass sich keiner der Arbeiter als Streikbrecher betätigte oder Überstunden zu niedrigen Löhnen machte. Auch den oben diskutierten kulturellen Praktiken kam eine ähnlich janusköpfige Funktion zu. Einerseits schufen sie Vertrauen und stärkten die Gemeinschaft, andererseits erzwang eben diese Gemeinschaft ein konformes Sozialverhalten. Verstießen Arbeiter gegen die Regeln der Gemeinschaft, so wurden sie im Wortsinne »exkommuniziert« (Ochandiano): Sie verloren nicht nur Arbeitsperspektiven in Lyon – das Cartel kontrollierte de facto den Zugang zum Arbeitsmarkt  – sondern ebenso ihre soziale Identität. Hier zeigt sich auf subtile Weise, wie Vertrauen und Kontrolle im Einklang funktionieren konnten. Ein letztes Element, das für die Formierung der Gemeinschaft über Gewerbe­ grenzen hinweg von Bedeutung war, ist die wöchentliche Zeitung des Cartels, der Effort, der eine Öffentlichkeit für alle Bauarbeiter schuf. Zwar hatte der ­Effort 1927 als exklusive Zeitung der Maurer begonnen, wurde aber bald zum Blatt für alle »gars du bâtiment«, das mit etwa 10.000 verkauften Exemplaren die große Mehrheit der Bauarbeiter Lyons erreichte.47 Im Effort wurde die antipolitische Ideologie des Cartels dargelegt und kommunistische Angriffe zu44 Fau, S. 23. 45 Ochandiano, Lyon, S. 122 f. Eine Aufstellung von Cafés, die 1911 von Migranten aus dem Limousin betrieben wurden, findet sich in Ochandiano, Formes, S. 70–72. 46 Zur Rolle von Cafés und der dortigen Geselligkeit in der französischen Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert, Haine, Café Friend; ders., World. 47 Zum Vergleich: die Sächsische Arbeiterzeitung hatte im September 1929 eine Auflage von etwa 8.000 Exemplaren. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die KPD in einer Krise, hatte sich doch gerade eben erst die KPO abgespalten, weshalb zu vermuten ist, dass die Auflage danach wieder stieg. In Lyon hatte die kommunistische Voix du Peuple 1932 eine Auflage von etwa 4.500 Exemplaren, Mann, Forging, S. 149.

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rückgewiesen; darüber hinaus befassten sich Artikel mit kulturellen und sozia­ len Angelegenheiten wie dem Surrealismus, dem Antimilitarismus, der freien Liebe und dem Antialkoholismus, was belegt, dass der Arbeitsplatz und die Arbeitstätigkeit zwar im Mittelpunkt der Gemeinschaft standen, sich deren Horizont aber keineswegs darauf beschränkte. Um auch ausländische Arbeiter anzusprechen wurden zudem regelmäßig Artikel auf Spanisch oder Italienisch veröffentlicht, ebenso wie Berichte über das Ausland und dortige gewerkschaftliche Kämpfe. Im Zentrum der Berichterstattung des Efforts standen aber Themen, die mit der Arbeitswelt zu tun hatten, wie etwa Sicherheitsmaßnahmen auf Baustellen, Arbeitszeitregelungen oder Streiks. Damit deckte der Effort alle für Bauarbeiter wichtigen Themen ab, von den täglichen Nahkämpfen mit den Arbeitgebern, der syndikalistischen Ideologie bis zu kulturellen Fragen.48 Während diese kulturellen und sozialen Praktiken zur Formierung einer starken Gemeinschaft beitrugen, war es die Präsenz des Cartels auf Lyons Baustellen, auf der seine organisatorische Stärke, insbesondere in Auseinandersetzungen mit dem Unternehmertum, beruhte. Wie oben geschildert, bestand die Herausforderung für das Cartel darin, seine Stärke sowohl Arbeitern als auch Arbeitgebern gegenüber auf einer Vielzahl von Baustellen zu beweisen. Es musste einerseits sicherstellen, dass sich Arbeitgeber an Verträge hielten, keine Überstunden arbeiten ließen, die ausgehandelten Löhne bezahlten und Sicherheitsstandards einhielten, aber andererseits auch dafür sorgen, dass die Arbeiter Disziplin hielten und sich dem Cartel anschlossen, wenn sie auf Lyons Baustellen Arbeit finden wollten. Dem unsteten Charakter des Baugewerbes mit seinen manchmal rapide wechselnden Baustellen gemäß, entwickelte das Cartel hierbei höchst mobile Methoden.49 Als erstes sind hierbei die Baustellendelegierten [délégués de chantier] des Cartels zu nennen, die eine dauerhafte Präsenz des Cartels auf Baustellen sicherstellten. War eine Baustelle entsprechend groß, so wählten alle Arbeiter eines Gewerbes ihren eigenen Delegierten; auf kleineren Baustellen hingegen wurden sie von allen Arbeitern über Berufsgrenzen hinweg gewählt, oder einfach von Cartel bestimmt.50 Ein Artikel aus dem Effort vom Mai 1932 macht deutlich, welch »schwierige und undankbare Aufgabe« sie übernommen hatten. Baustellendelegierte brauchten nicht nur ein großes Verhandlungsgeschick, sondern bedurften ebenso der »Wertschätzung« aller Arbeiter auf der Baustelle, die sie vertraten. Sie mussten vor Ort das Cartel und seine Macht repräsentieren, etwa indem sie an Zahltagen die Mitgliedsausweise kontrollierten, um sicherzustellen, dass alle Bauarbeiter ihren Beitrag geleistet hatten. Um diesen Aufgaben 48 Zum Effort Ochandiano, Lyon, S. 227. Ausgaben der Zeitung befinden sich in den ADR, PER 307 und PER 308. Eine rhetorisch brillante Antwort auf kommunistische Angriffe findet sich beispielsweise in der Ausgabe vom 23.1.1932. 49 Fau, S. 101. 50 Zu den Délégués du chantier Ochandiano, Formes, S.  75–77. Interessanterweise nahmen, so Ochandiano, die Syndicats die staatliche Carte d’identité als Vorbild für ihre Mitglieds­ ausweise. Zur Carte syndicale auch L’Effort, 22.1.1933.

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nachzukommen, mussten die Baustellendelegierten »moralische Männer« sein, »ernsthaft bei der Arbeit und vor allem ein stetes Vorbild für die Genossen.«51 In vielerlei Hinsicht bestand die Aufgabe der Delegierten darin, sowohl die Arbeitgeber, etwa was die Sicherheit am Arbeitsplatz oder die Löhne anging, als auch ihre Kollegen, vor allem deren Gewerkschaftsdisziplin betreffend, zu kontrollieren. Ihre Rolle aber auf Aspekte der Kontrolle zu beschränken, wäre verkürzt. Auch wenn der Begriff »Vertrauen« [confiance] selbst im Text nicht fällt, so lassen sich doch die Tätigkeiten der Delegierten nicht ohne Verweis auf Vertrauen verstehen. Um die Gewerkschaftsdisziplin [discipline syndicale] erfolgreich durchsetzen und die Interessen der Arbeiter vertreten zu können, war es für das Cartel unerlässlich, dass die Arbeiter nicht nur ihrem Delegierten, sondern über ihn gleichsam dem gesamten Cartel, das der Delegierte schließlich repräsentierte, zutrauten, ihre Interessen effektiv zu verteidigen, und nicht, wie es Arbeiter in Leipzig der KPD gegenüber taten, den Verdacht hegten, das Cartel wolle sie nur in chancenlose Abenteuer führen. Daher mussten die Delegierten im täglichen Umgang mit ihren Kollegen deren Vertrauen gewinnen, weshalb sie, wie der Text betonte, der grundsätzlichen Wertschätzung ihrer Kollegen bedurften, nicht spezifizierte moralische Qualitäten haben mussten, und allgemein ein Vorbild sein sollten. Solche Eigenschaften qualifizierten die Delegierten nicht nur als gute Anführer, die einen Geist von Einheit schaffen konnten, sondern konnten seinen Kollegen auch anzeigen, dass sie ihm und seinen Intentionen vertrauen konnten: er war kein Lügner, der eine zweite, verborgene Agenda verfolgte. Die Baustellendelegierten bieten somit ein Beispiel dafür, wie sich persönliches und institutionalisiertes Vertrauen vermischen konnten, mussten Arbeiter doch einerseits dem Delegierten selbst vertrauen, andererseits der Institution, die hinter ihm stand und für deren Macht er einstand. Gleichzeitig trug das persönliche Vertrauen, das die Delegierten im Idealfall erwarben, dazu bei, dass die Arbeiter auch dem Cartel vertrauten. Fehlte Vertrauen, so musste das Cartel vermehrt auf Gewalt zurückgreifen, wie es denn auch im Herbst 1938 geschah, als die Arbeiter das Vertrauen in ihre Gewerkschaft verloren hatten, wie im sechsten Kapitel zu zeigen sein wird. Delegierte nahmen somit einen zentralen Platz in der fein austarierten Balance zwischen Praktiken, die auf Vertrauen basierten und es schufen, und solchen der sozialen Kontrolle ein.52 Vor 1936 besaßen die Delegierten keinerlei formale Rechte. Dass es dem Cartel gelang, ihre Präsenz auf Baustellen durchzusetzen, belegt somit eindrucksvoll seine Stärke gegenüber der Arbeitgeberschaft. Gleichzeitig zeigt es, 51 L’Effort, 7.5.1932. 52 Streikkarten, die Arbeiter während des Streiks täglich stempeln lassen mussten, hatten, wie Ratel, S. 184 f., bemerkt, eine ähnlich janusköpfige Funktion. Einerseits sorgten sie dafür, dass die Streikleitung in Kontakt mit den Arbeitern blieb, andererseits wurde so natürlich Druck auf die Arbeiter ausgeübt, war es doch ein leichtes Arbeiter zu identifizieren, die sich nicht aktiv am Streik beteiligten.

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wie die praktische Umsetzung des Gedankens der direkten Aktion, dass Arbeiter auf ihre eigene Stärke und nicht auf gesetzliche Vorschriften und die Macht des Staates bauen sollten, in der Praxis aussah. »Die [im Cartel] organisierten Arbeiter waren der Überzeugung«, so Ochandiano, »dass sie durch autonomes Handeln die meisten Vorteile erlangen können, weshalb sie nicht darauf warteten, dass ihnen Parlamentarier das Recht gaben, auf Baustellen Delegierte zu haben.«53 Ohne gesetzlichen Schutz dastehend, wurden Delegierte immer wieder von Arbeitgebern gefeuert oder von der Polizei für die Führung von Arbeitskämpfen und das Vorgehen gegen Streikbrecher verantwortlich gemacht. In solchen Fällen stellte die Solidarität der Kollegen den einzigen Schutz für Delegierte dar. Immer wieder kam es daher zu teils auch erfolgreichen Streiks, um die Wiedereinstellung von gefeuerten Delegierten zu erzwingen.54 Marius Quétaud, Gewerkschaftssekretär der Maurer, beispielweise wurde 1930 wegen Behinderung der Arbeitsfreiheit [entrâve à la liberté du travail], gewalttätigen Angriffen und des Tragens verbotener Waffen auf einer Baustelle der Firma Rey angeklagt. Nachdem das Cartel jedoch damit gedroht hatte, die Firma zu boykottieren, erkannte der Kläger den Angeklagten auf einmal nicht wieder und zog die Klage zurück.55 Delegierte mussten und konnten sich auf den Willen ihrer Kollegen, sie wenn nötig mit Streiks zu unterstützen, verlassen; sie mussten, um Jan Philipp Reemtsmas Ausdruck zu verwenden, darauf vertrauen, dass implizit gemachte Versprechen gehalten wurden. Die Delegierten wiederum konnten nur auf die Unterstützung ihrer Kollegen hoffen, wenn diese ihnen ebenfalls vertrauten. Ohne dieses gegenseitige Vertrauen in die impliziten »Versprechen« hätte das Cartel kaum funktionieren können, auch wenn es sich nicht scheute, wenn nötig Zwangsmittel anzuwenden.56 Gab es keine Delegierten, weil die Baustelle zu klein war, oder waren die einzelnen Delegierten auf großen Baustellen zu sehr auf sich gestellt, so setzte das Cartel die bereits erwähnten Roulantes, Gruppen von Arbeitern auf Fahr­rädern, ein, die von Baustelle zu Baustelle fuhren und dort mehr oder weniger die Aufgaben der Baustellendelegierten übernahmen. Sie stellten sicher, dass selbst Arbeiter auf kleinen und abseits gelegenen Baustellen regelmäßig Vertreter des Cartels zu Gesicht bekamen.57 Gekleidet waren diese radfahrenden »Auto­ 53 Ochandiano, Formes, S. 75. 54 L’Effort, 7.1.1933. 55 Fau, S. 112. Um Delegierte zu verteidigen, überwanden die verschiedenen Gewerkschaften manchmal ihre Differenzen, wie im Sommer 1931 in den Werkstätten von Citroën. Die Pariser Firma CIBA war nicht mit der Situation in Lyon vertraut und feuerte zwei Delegierte des Cartels, deren Wiedereinstellung das Cartel erfolglos forderte. Daher traten alle Arbeiter an der Baustelle, gleich welcher Gewerkschaft sie angehörten, in den Streik. Der Streik endete mit einem Kompromiss, da ein Delegierter wieder eingestellt wurde. 56 Beim Streik 1938, der in Kap. 6 zu diskutieren sein wird, musste zunehmend auf Zwangsmittel zurückgegriffen werden, da eine wachsende Anzahl von Arbeitern nicht mehr an die Fähigkeit der Gewerkschaftsführer glaubte, den Streik zum Erfolg zu führen. 57 Zu den roulantes Ochandiano, Formes, S. 77–82; ders., Lyon, S. 228 f.

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nomes« in schwarze Lederjacken, was den Anblick solcher Radfahrergruppen sicherlich beeindruckend und furchterregend werden ließ. In einem Interview, das Maurice Moissonnier 1975 mit dem früheren Gewerkschafter Ducourthial führte, erklärte dieser, wie eine Roulante funktionierte und was sie erreichen sollte. Ab morgens um sieben kontrollierten er und seine Genossen die Gewerkschaftsausweise auf einer großen Baustelle und ließen nur Arbeiter passieren, die Mitglieder waren. Danach fuhren sie zu den kleinen Baustellen, damit die »Jungs« sie wenigstens alle zwei Wochen sahen. »Nun, grundsätzlich ging es vor allem darum, dass die Gewerkschaft respektiert wurde, ja, auch mit Zwang, es gab immer wieder einige […] einige Auseinandersetzungen, wenn wir auf bockige Arbeiter trafen, dann war es nötig, mit allen Mitteln dafür zu sorgen, dass sie Respekt zollten, das heißt nicht […] dass sie einem persönlich Respekt zollten, sondern eben, dass sie die Gewerkschaft respektierten. […] Und wir mussten auf diese Weise stark werden, aber es herrschte natürlich auch [auf unserer Seite] immer eine gewisse Angst.«58 Idealerweise würde die Gewerkschaft freiwillig respektiert werden, aber wenn nötig waren die Bauarbeiter auch willens, Gewalt anzuwenden um Respekt durchzusetzen. Die meisten der Roulantes waren relativ klein – nur einige Aktivisten –, aber das Cartel konnte, wenn es die Größe einer Baustelle erforderte, auch deutlich imposantere Roulantes organisieren. 1932 beispielsweise wollte das Cartel die riesige Baustelle Gratte-Ciel in Villeurbanne kontrollieren. Boissy, einer der Führer der beteiligten Organisationen, berichtete darüber auf dem 6. Kongress des Cartels: »Wir waren 60 Delegierte [in Villeurbanne]. Wenn nötig wären wir auch hundert gewesen. Wir nahmen uns eine Stunde Zeit, umzingelten den gesamten Block, und erklärten: ›Niemand kommt durch, auch patrons nicht, da gibt es nichts zu machen, jeder muss seinen Ausweis zeigen.‹ […] Wirklich, wenn sie sich taub stellen wollten, wir hätten ihnen die Ohren langgezogen. Wir hätten die alten Mittel angewandt.«59 Das Cartel verließ sich auf die direkte Aktion um seine Macht auf Baustellen durchzusetzen, ohne auf Gesetze zu warten. Hierin lag einer der Gründe für die Stärke des Cartels, was sich, wie in den folgenden Kapiteln zu zeigen sein wird, im Verlauf der Volksfront ändern sollte. Gewalt gehörte immer wieder zum Repertoire der direkten Aktion unter Bauarbeitern in Lyon und anderswo in Frankreich, und die Gewerkschafter zögerten nicht, dies auch zuzugeben.60 Nur selten richtete sich die Gewalt gegen Arbeitgeber, wie im März 1931, als es zu einer tödlichen Schießerei im Stadtteil Charpennes kam.61 Für gewöhnlich richtete sich die Gewalt der Aktivisten gegen andere Arbeiter, die den Anweisungen des Cartels keine Folge leisteten,

58 Ochandiano, Formes, S. 78. 59 Zitiert in Ochandiano, Formes, S. 79. Roulantes spielten auch eine wichtige Rolle in Konflikten mit der kommunistischen CGTU, siehe unten, S. 222 f. 60 Zu Gewalt im Bauarbeitermilieu Ratel, S. 189–195; Ochandiano, Lyon, S. 229 f. 61 Fau, S. 112 f.

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etwa indem sie sich weigerten, ihm beizutreten oder Streikbruch begingen.62 Nicht immer kam es zu so brutaler Gewalt wie im Falle Flûmes. Oftmals reichten kleinere Einschüchterungen und Repressalien, wie Boissy auf dem 6. Kongress des Cartels 1932 beschrieb, als er den Kampf gegen einen Arbeiter, der sich nicht dem Cartel anschloss, schilderte. »Das Leben muss ihm so schwer wie möglich gemacht werden. Man stiehlt ihm seine Werkzeuge und sagt: ›Mein Lieber, wenn du Mitglied in der Gewerkschaft wirst, dann bekommst du deine Werkzeugkiste zurück.‹ Ihr werdet sehen, nach ein paar Tagen ist er es leid, sein Werkzeuge zu verlieren. Dann versteht er die entschiedene und entschlossene Haltung der Gewerkschaft.«63 Die Stärke des Cartels basierte, wie die Diskussion dieser Praktiken zeigte, sowohl auf Vertrauen im Bauarbeitermilieu und innerhalb der Organisation, als auch auf der Fähigkeit des Cartels, seine Regeln durchzusetzen. Bauarbeiter wussten, dass sie der proklamierten Identität ihrer Kollegen trauen konnten; ebenso konnten sie auf gegenseitige Hilfe in Krisenmomenten, etwa wenn sie entlassen wurden, bauen. Auch wenn sich selten ein expliziter Bezug auf Vertrauen findet, so lassen sich die Praktiken der Bauarbeiter doch in diesem Sinne interpretieren, insbesondere im Vergleich mit Leipzig und dem dort herrschenden Misstrauen. Gleichzeitig zögerten die »Autonomes« nicht, Zwang und Gewalt anzuwenden. Diese (gewaltsamen) Praktiken trugen ebenso zur inneren Stärke der Gemeinschaft bei, waren sie doch gleichsam eine Lehre für Arbeiter, dass das Cartel nicht nur willens, sondern auch fähig war, gegen all seine »Feinde« konsequent vorzugehen, insbesondere jene Arbeiter, die außerhalb der Gemeinschaft bleiben wollten.

4.2 Streikbewegungen im Baugewerbe und anderswo Streiks waren für das Cartel wie für jede Gewerkschaft entscheidende Momente, bei denen es seine Stärke unter Beweis stellen musste.64 In diesen Situationen kam es darauf an, dass die Order des Cartels genau befolgt wurden, da jeder Streikbrecher eine Gefahr für die gesamte Streikbewegung darstellte. Grundsätzlich versuchte das Cartel Streiks zu vermeiden. Sie waren nur ein letztes 62 Auch zwischen Kommunisten und Anhängern des Cartels kam es immer wieder zu Gewalt, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Gewalt gegenüber Vorarbeitern war seltener und zumeist spontaner, wenn sich Arbeiter über das Verhalten ihrer Vorgesetzten empörten. Im Juli 1934 etwa verlor ein Arbeiter bei Vergne die Geduld mit seinem chef de chantier und »verpasste ihm die verdiente Abreibung«, L’Effort, 7.7.1934. 63 Zitiert in Ochandiano, Formes, S. 80. 64 Zu verschiedenen Streiktaktiken und anderen Formen der Action directe Ratel, S. 177–187. Er diskutiert zahlreiche der hier vorgestellten Praktiken. Manchmal zerstörten Arbeiter gar nachts was sie tagsüber gebaut hatten, um so die Produktionskosten in die Höhe zu treiben, S. 178. Zu Streiks in Frankreich grundsätzlich Shorter u. Tilly; Sirrot, Grèves; Perrot.

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Mittel, wenn alle anderen versagt hatten. Wenn das Cartel aber einen Streik begann, dann führte es diesen mit Entschlossenheit. Streiks unterschieden sich in Größe, Zielsetzung und Methodik. Zumeist trat ein gesamtes Gewerbe in den Streik, wie etwa die Maurer oder Schreiner, da dies die effektivste Form des Streiks war. Ein solcher Streik stärkte die Gemeinschaft innerhalb des spezifischen Gewerbes und erlaubte der jeweiligen Gewerkschaft, Kollektivverträge zu schließen, die für alle Firmen des Gewerbes galten. Unter Umständen konnte sich eine solche Streikbewegung zu einem Generalstreik aller Bauarbeiter ausweiten, was für die Gemeinschaft der Bauarbeiter insgesamt ähnlich stärkende Effekte hatte. Andererseits blieben Streiks auch immer wieder auf einzelne Baustellen oder Firmen beschränkt, wenn es um spezifische Probleme dort ging. Schließlich griffen die Gewerkschaften auch immer wieder, insbesondere mit Beginn der Wirtschaftskrise, zum Mittel des Bummelstreiks [grève perlée]: Arbeiter drosselten das Arbeitstempo auf einer Baustelle, vermieden aber, die Arbeit ganz einzustellen, um so die finanziellen Belastungen zu vermeiden, die ein richtiger Streik mit sich gebracht hätte. Die Arbeitgeberseite reagierte mit Aussperrungen auf diese Taktik, so etwa im Frühjahr 1930 während eines besonders scharfen Konflikts, der dazu führte, dass beinahe alle Baustellen in Lyon geschlossen wurden.65 Streikkonjunkturen folgten allgemeinen wirtschaftlichen Konjunkturen. Zwischen 1919 und 1925 begünstigte die wirtschaftliche Lage Streiks, wonach es 1926/27 zu einem kurzen Einbruch kam. Zwischen 1928 und 1932 erreichte die Streiktätigkeit im Baugewerbe einen zweiten Höhepunkt, bevor der Beginn der Wirtschaftskrise in Frankreich Streiks schwieriger werden ließ. Während der späten 1920er und frühen 1930er Jahre tendierten Streiks dazu, länger anzudauern, involvierten aber weniger Arbeiter; große Massenstreiks wurden durch Bummelstreiks ersetzt, die aber, wie das Beispiel aus dem Jahre 1930 zeigt, in massive Konflikte umschlagen konnten. Im Baugewerbe folgten Streiks auch saisonalen Konjunkturen, was der Saisonalität des Gewerbes entsprechend kaum überraschend ist. So fanden die meisten Streiks im späten Frühjahr und Frühsommer statt, während es im Winter so gut wie keine Streiks gab. Von diesem Schema abzuweichen, wie es beim großen und gescheiterten Streik im Herbst 1938 geschah, stellte die Arbeiterseite vor immense Herausforderungen. Zu Streiks kam es aus unterschiedlichen Anlässen. Zumeist traten Bauarbeiter in Streik, um für höhere Löhne oder kürzere Arbeitszeiten zu kämpfen, teils auch um bessere Sicherheitsbedingungen durchzusetzen. Ging es bei diesen Streiks um die materiellen Lebensbedingungen der Arbeiter, stand bei anderen Streiks die Zusammensetzung der Belegschaft und damit die Gemeinschaft im Zentrum. Einerseits streikten Arbeiter regelmäßig, um die Wiedereinstellung gefeuerter Kollegen zu erzwingen, andererseits aber auch, um die Entlassung von Arbeitern durchzusetzen, die sich nicht dem Cartel anschließen woll65 ADR 10/M/466 zum Arbeitskonflikt 1930.

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ten.66 Arbeiter konnten sich nicht nur darauf verlassen, dass ihre Kollegen für sie kämpfen würden, sondern mussten sie auch fürchten, wenn sie sich gegen die Gemeinschaft stellten. In dieser Streikbereitschaft lag auch die einzige Sicherheit, die Delegierte gegenüber feindlichen Arbeitgebern hatten. Zu Streiks für oder gegen die Entlassungen von Kollegen kam es auch in anderen Branchen, weshalb bei dieser Gelegenheit ein Blick übers Baugewerbe hinaus geworfen werden soll. Im Januar 1934 berichtete die sozialistische Zeitung Avenir socialiste über einen Streik in der Metallfabrik Goguet, um gegen die Entlassung von drei Kollegen zu protestieren, die sich geweigert hatten, an einem Samstag Nachmittag zu arbeiten. Als diese am darauffolgenden Montag entlassen wurden, traten ihre Kollegen in Streik, dem Avenir socialiste zufolge letztendlich erfolgreich.67 Diese Solidarität erstreckte sich auch auf ausländische Kollegen. Im September 1930 etwa kam es bei der Färberei Société anonyme Seux et Charel zu einem mit Erfolg geführten Streik für die Wiedereinstellung von vier ausländischen Kollegen.68 Manchmal konnte die Wiedereinstellung gefeuerter Arbeiter sogar ursprüngliche Streikziele in den Hintergrund treten lassen. Im November 1929, einer ungewöhnlichen Jahreszeit für Streiks, stellten Arbeiter auf der Baustelle für ein neues Krankenhaus die Arbeit ein und forderten, »dass die Arbeit unter einem Regenschutz stattfinden sollte, andernfalls würden sie etwa ein Dutzend [Arbeiter] im Inneren des Hauses von der Arbeit abhalten.« Als aber Luis Pélard, Sekretär der Maurergewerkschaft, intervenierte, verlangte er stattdessen die Wiedereinstellung eines vor kurzem gefeuerten italienischen Arbeiters, sehr zur Überraschung des Betriebsinhabers, der anmerkte, dies habe nichts mit den ursprünglichen Streikzielen zu tun. Als er sich weigerte der Forderung nachzukommen, traten die Maurer und in einem Akt der Solidarität auch die Schreiner in Streik. Einige Tage später wurde der Arbeiter dann wieder eingestellt, während die ursprünglichen Forderungen keine Rolle mehr spielten.69 Während diese eher kleinen Streiks relativ spontan ausbrachen, waren größere Streikbewegungen in der Regel gut vorbereitet, wie ein Gewerkschaftsführer anlässlich eines Streiks der Heizungsmonteure im Oktober 1934 erklärte. »Unsere Bewegung begann keineswegs […] spontan mit sofortigem Elan. […] In einer ersten Phase konzentrierte sich unser Kampf auf einen für uns essentiellen Punkt, die Propaganda.«70 Versammlungen, Propaganda im Effort, und »Amnestien« für aus der Gemeinschaft ausgeschlossene Arbeiter gingen Streik­ 66 Streiks um Delegierte zu schützen gab es in ganz Frankreich – so wurde etwa die große Streik­ welle 1936 von einem solchen Streik ausgelöst, Prost, Front populaire. Weiterhin Noiriel, Workers; Perrot. 67 L’Avenir Socialiste, 3.2.1934. 68 ADR 10/M/466. Natürlich verliefen nicht alle Streiks erfolgreich. Im Juli 1929 scheiterte beispielsweise ein Streik der CGTU um die Wiedereinstellung eines Kollegen zu erzwingen. Zwanzig der 45 Arbeiter wurden daraufhin entlassen, ADR 10/M/465. 69 ADR 10/M/465. 70 L’Effort, 27.10.1934, zitiert in Ochandiano, Formes, S. 124.

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bewegungen in der Regel voraus. Sowohl während dieser Vorbereitungszeit als auch während des Streiks selbst versuchten die Gewerkschaften mit den Arbeitgebern zu verhandeln, um einen Streik im Vorfeld abwenden oder nach dessen Beginn doch wenigstens verkürzen zu können. Auch hierin spiegelt sich, so Ochandiano, der Pragmatismus des Cartels wider. Ein Streik war stets eine kostspielige und riskante Angelegenheit, die das Cartel nach Möglichkeit zu vermeiden oder wenigstens zu verkürzen suchte. In kommunistischer Manier zu versuchen, Streiks zu verschärfen, war jedenfalls, so die Sicht des Cartels, nicht Teil der unmittelbaren Interessen der Arbeiter. Hatte ein Streik einmal begonnen, setzte das Cartel alles daran, ihn möglichst effektiv zu führen. Dabei kam es vor allem darauf an, Streikbrecher von der Arbeit abzuhalten, wozu die Roulantes eingesetzt wurden. Während sich vor größeren Baustellen Streikposten aufstellten, um den Streik durchzusetzen, fuhren die Roulantes durch die Stadt und überprüften kleinere Baustellen. Bei größeren Streiks verwandelten sich die Roulantes in wahre »Jagdgruppen« [équipes de chasses], die, wenn nötig mit Gewalt, Arbeiter zum Streik zwangen. Streikbrecher, verächtlich als »renards« bezeichnet,71 zogen innerhalb des Milieus noch mehr Hass auf sich als die patrons, galten sie doch als Verräter an ihrer eigenen Klasse. Streiks mit Gewalt durchzusetzen war selbstredend illegal, weshalb militante Bauarbeiter immer wieder ins Gefängnis mussten. Raymond Ducourthial beispielsweise wurde in der gesamten Zwischenkriegszeit zu sieben Haftstrafen zwischen zwei und vier Monaten verurteilt. Der Sekretär der autonomen Maurergewerkschaft, Pélard, wurde ebenfalls zu mehreren Haftstrafen verurteilt. Allerdings zwang die Gewerkschaft die Firma, die Pélard angezeigt hatte, unter der Drohung, diese in Zukunft zu boykottieren, dazu, die Anzeige zurückzunehmen, was die Freilassung Pélards zur Folge hatte.72 Immer wieder kam es zu Gewaltakten gegen Streikbrecher, vor allem im Baugewerbe, aber auch in anderen Branchen. Ein Fall, der sich am 15. September 1932 zutrug, mag zur Illustration genügen. Der Zeitung Lyon Républicain zufolge hatten etwa ein Dutzend streikende Arbeiter, die »einer revolutionären Organisation angehörten«, einen Überfall auf vier italienische Erdarbeiter verübt. Sie hatten sich am Quai Gailleton am Rhôneufer hinter Bäumen und in Gebäudeeingängen versteckt, wo sie den Italienern auflauerten. »Der Hinterhalt war gut organisiert, so dass die im Voraus bestimmten Opfer nicht die geringste Chance hatten, Widerstand zu leisten als der Angriff erfolgte.« Eines der Opfer, ein Gummiarbeiter, wurde wohl nur aus Versehen zusammenge71 Zum Begriff »renard« Truant, S. 197 f. Ursprünglich handelte es sich um Gesellen, die sich keiner compagnonnage anschließen wollten und auf ihr (individuelles) Recht auf Arbeit insistierten. Dass der Begriff dann für Streikbrecher angewandt wurde, ist leicht nachzuvollziehen. Ratel, S. 186, bietet eine andere Erklärung: Renards waren noch Lehrlinge, die, ebenso wie Streikbrecher, keine richtigen Arbeiter waren. 72 Ochandiano, Formes, S. 80 f. Ochandianos Schilderung basiert auf Interviews, die Maurice Moissonnier 1975 durchführte. Firmen »auf den Index zu setzen« war eine alte Praktik, Noiriel, Workers, S. 89.

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schlagen, schließlich hatte er nichts mit dem Streik zu tun. Ein junger Mann, der versuchte einzugreifen, erlitt das gleiche Schicksal. Erst als mehrere Kollegen der Italiener und schließlich ein Polizist eintrafen, ließen die Angreifer von ihren Opfern ab und flüchteten, wobei sie ihre Flucht durch Schüsse auf ihre Verfolger absicherten.73 Je länger ein Streik dauerte und je mehr Arbeiter daran beteiligt waren, desto kostspieliger war er. Während des Streiks und der Aussperrungen im Frühjahr 1930, die insgesamt 140  Tage andauerten, verteilte das Cartel insgesamt 167.000  Francs. Im Bewusstsein der Bedeutung ausländischer Arbeiter unterstützte es nicht nur ausgeschlossene Arbeiter, sondern auch arbeitslose Ausländer, die sonst kaum oder gar keine Wohlfahrtsunterstützung erhielten, um so zu verhindern, dass diese Streikbrucharbeiten annahmen. Trotz der Kritik anderer Gewerkschaftszentralen erhielten ausländische Bauarbeiter, vermutlich zumeist Spanier, 12  Francs, was der Wohlfahrtsunterstützung für französische Arbeiter entsprach. Anderen Arbeitern, die weniger als 12 Francs an Wohlfahrtsunterstützung erhielten, wurde die Differenz ausbezahlt.74 Um diese immensen Ausgaben decken zu können, verlangten die Gewerkschaften von Arbeitern, die trotz des Streiks arbeiteten, eine »Streiksteuer« – jene Steuer, die Flûme nicht bezahlt hatte. Darüber hinaus organisierte das Cartel Solidaritätsfeste, verkaufte Solidaritätskarten und sammelte Spenden bei anderen Gewerkschaften auch über Lyon hinaus. Auf der anderen Seite versuchte das Cartel, die Kosten eines Streiks zu re­ duzieren, etwa indem es einen »Exodus« organisierte. Um ihre streikenden Genossen zu entlasten, verließen Arbeiter Lyon um in der Umgebung oder in anderen Städten Frankreichs Arbeit zu finden, mit der sie ihre Kollegen in Lyon unterstützen konnten. Während der Aussperrungen 1930, die am 25. April begannen, fanden bis Mitte Mai etwa 1.000 der 3.000 ausgesperrten Bauarbeiter andernorts Arbeit; Anfang Juni waren nur noch 300 Arbeiter in Lyon, die unterstützt werden mussten. Gleichzeitig versuchte das Cartel, Verträge mit einzelnen, vor allem kleineren Firmen zu schließen, die in einem Streik verwundbarer und daher eher willens waren, auf die Forderungen des Cartels einzugehen. Arbeiter, die für diese Firmen arbeiteten, konnten dann die Streiksteuer bezahlen und so ihre streikenden Kollegen unterstützen. So gelang es dem Cartel, Breschen in die Front der Arbeitgeber zu reißen und auf unnachgiebige Firmen, die Gefahr liefen Kunden zu verlieren, Druck auszuüben. Der Gewalt bei Streiks zum Trotz kam es selten zu einem vollkommenen Abbruch von Verhandlungen. Wenn überhaupt, dann wurden diese nur kurz­zeitig 73 Lyon Républicain, 16.9.1932. Die Zeitung sah den Angriff durchaus negativ. Zu weiteren Fällen L’Effort, 15.3.1930, ADR 10/M/466. Ein Beispiel von Gewalt bei einem Streik von Metallarbeitern findet sich im Lyon Républicain, 5.5.1934. 74 Ochandiano, Formes, S. 125. Ochandiano zitiert aus Gewerkschaftsarchiven, die ich nicht einsehen konnte. Die anderen »Zentralen« waren vermutlich andere Gewerkschaftszentralen, auch wenn ein wenig unklar bleibt, was genau hier gemeint ist.

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durch Streiks unterbrochen. Nur in wenigen Fällen (11 % laut ­Ochandiano) wurde ein Vermittler [médiateur] zu Hilfe gerufen, der von beiden Parteien akzeptiert wurde. Schlichter [arbitres] hingegen stießen beim Cartel grundsätzlich auf Ablehnung, selbst beim großen Streik 1930. Auch hierin zeigt sich, wie sehr das Cartel auf seine Autonomie pochte und eine Einmischung des Staates ablehnte. Unnachgiebig verteidigten die Gewerkschafter ihre Autonomie in sozialen Kämpfen, wie Ochandiano betont. Sie lehnten »jede externe Intervention ab, die sie der Möglichkeit beraubt hätte, selbst über den Ausgang des Streiks zu entscheiden.«75 Stellten Delegierte und Roulantes gleichsam eine Gewerkschaftspolizei dar, so kamen die Gewerkschaftstribunale [Tribunaux syndicaux], wie Ochandiano bemerkt, einer Justiz gleich, deren Rituale und Sprache dem staatlichen Justizsystem auf bemerkenswerte Weise ähnelten. Sie waren für die »Verurteilung« und Strafbemessung jener zuständig, die sich etwa als Streikbrecher gegen die Regeln der Gewerkschaft vergangen hatten. Der zu Beginn des Kapitels geschilderte Fall Flûmes bietet hierfür ein gutes Beispiel. Er wurde von der »Polizei« der Gewerkschaft »festgenommen« und musste sich vor einem Tribunal verantworten, das ihn dazu »verurteilte«, seine säumigen »Steuern« zu bezahlen. In den Archiven des Cartels, die ich selbst nicht einsehen konnte, finden sich, so Ochandiano, zahlreiche Belege dafür, dass solche Verhandlungen üblich waren. Im November 1932 beispielsweise verhandelte der Rat der Tiroler Zement­ arbeitergewerkschaft [Bureau et Conseil du Syndicat des Cimentiers-Tyroliens] den Fall des Arbeiters Christoph Ruilot. Dieser wurde beschuldigt, so die Ankläger, im Winter zehn oder gar elf Stunden gearbeitet, also Überstunden geleistet zu haben. Bei der Verhandlung waren sowohl Ruilot selbst als auch »Zeugen der Anklage« anwesend, die ihre Beschuldigungen wiederholten. Nachdem beide Seiten gehört waren, entschied das Tribunal, dass Ruilot eine Strafe von hundert Francs bezahlen sollte. »Ruilot akzeptierte die Geldbuße, womit der Fall abgeschlossen war«, hieß es in dem Gewerkschaftsprotokoll. Ein weiterer Fall vom Dezember 1930 betraf Emile Ferro, der Lyon nach den Aussperrungen im Frühjahr 1930 verlassen hatte, danach aber immer wieder zurückgekehrt war, sich jedoch »niemals darum scherte, was er der Organisation schuldete; da er aber gegenwärtig auf einer Baustelle arbeitet, auf der alles seine Ordnung haben muss, beantragte der Genosse, dass seine Situation geregelt werde.« Das Cartel verlangte von ihm, die angesammelten Schulden zu begleichen, womit die Sache geregelt war.76

75 Ochandiano, Formes, S. 130. 76 Ebd., S.  82 f. Beide Fälle sind von Ochandiano übernommen, die Namen stammen vom Autor. Ochandiano zitiert aus den Archives du Syndiacat de la Construction de Lyon (ASCL), Registre des P. V. des réunions du bureau et C. A. du syndicat des cimentiers-tyro­ liens (1931–1940), réunion du 10.11.1932 et réunion du 8.12.1932. Genaueres über die Zusammensetzung der Tribunale erfahren wir leider nicht.

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Wurde nur eine Geldbuße verhängt, handelte es sich um ein relativ mildes Urteil. Insbesondere nach Streiks sahen sich Streikbrecher schlimmeren Konsequenzen gegenüber. Vor allem wurden sie aus der Gemeinschaft aus­ geschlossen, was einerseits bedeutete, dass ihre Kollegen sich weigerten, mit ihnen zusammenzuarbeiten und notfalls erneut streikten, um dies durchzusetzen, andererseits, dass der Betreffende seiner sozialen Identität beraubt ­w urde.77 Als Abgesandte der Zementarbeitergewerkschaft 1933 eine Baustelle überprüften, »trafen sie auf einen gewissen C., der angeblich seit Vorkriegszeiten ein Streikbrecher war.« Eine lebhafte Diskussion zwischen den Gewerkschaftsdelegierten und dem Streikbrecher entwickelte sich vor den Augen des Unternehmers. »Unsere Abgesandten verlangen, dass [der Streikbrecher] noch an diesem Abend entlassen werde. Auf Anweisung seines Chefs geschieht dies.«78 Nach einem besonders harten Arbeitskampf 1920 fertigten die Maurer gar eine Liste mit Streikbrechern an, die es zukünftig sehr schwer hatten, in Lyon Arbeit zu finden. Ein solcher Ausschluss aus der Gemeinschaft war jedoch, wie Ochandiano betont, niemals endgültig. Nach einer gewissen Zeit, zumeist nach weniger als einem Jahr, wurden diese »exkommunizierten« Arbeiter wieder in die Gemeinschaft aufgenommen, was insbesondere im Vorfeld von neuen Streiks von zentraler Bedeutung war um so die Reihen der Arbeiter zu schließen. So diskutierten Steinmetze 1926 etwa den Vorschlag, »eine vollständige Amnestie für alle Kameraden zu verfügen, die in Lyon arbeiteten, aber nicht mehr Mitglied der Gewerkschaft waren, damit es möglich sei, im [kommenden] Frühjahr unter idealen Bedingungen in den Streik zu treten. […] Die Versammlung entschied, diese vollständige Amnestie zum 1.  Januar zu verfügen.«79 Allerdings gaben nicht alle Gewerkschaften so schnell Pardon. Nach dem Maurerstreik von 1920 dauerte es zwei Jahre, bis ein solches Pardon gewährt wurde, und selbst dann erstreckte es sich nur auf Arbeiter, die sich einzig kleinere Vergehen zuschulden hatten kommen lassen. Mit diesen Institutionen  – délégués du chantier, roulantes, tribunaux syn­ dicaux  – hatte sich das Cartel Autonome du Bâtiment ein ausgefeiltes, teils staatsparalleles und den Staat ersetzendes System geschaffen, das ihm ermöglichte, seine Regeln in der Gemeinschaft durchzusetzen.80 Einerseits zeigen diese Praktiken, dass dem Cartel an einer strikten Kontrolle der Bauarbeiter gelegen war; andererseits ist zu betonen, dass das Cartel auf Vertrauen baute, das Arbeiter in die Organisation und ihre Repräsentanten sowie deren Willen und Fähigkeit hatten, für die Interessen der Arbeiter zu streiten, etwa wenn es darum ging, Kollegen vor ungerechtfertigten Entlassungen und anderen Schi77 Ochandiano, Formes, S. 84. 78 Ebd. 79 ASCL, Registre des P. V. des réunions du bureau et C. A. du syndicat des tailleurs de pierre (1913–1927), réunion du 17.1.1926, zitiert in Ochandiano, Formes, S. 84. 80 Ich verdanke diese Idee Jean-Luc de Ochandiano im mündlichen Gespräch.

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kanen zu schützen. Die Bauarbeiter konnten sich auf diese unausgesprochenen Versprechen verlassen. Das Cartel stellt somit ein eindrucksvolles Beispiel dafür dar, wie es mit vielfältigen Methoden, die Vertrauen und Kontrolle kombinierten, gelingen konnte, Arbeiter eines Gewerbes effektiv zu organisieren und für deren Interessen zu kämpfen. In diesen Praktiken spiegelt sich schließlich auch wider, welchen Stellenwert Autonomie für das Cartel hatte, sowohl gegenüber dem Staat als gegenüber Parteien. Das Cartel verließ sich auf seine eigene Stärke und lehnte staatliche Einmischungen ab, weshalb es auch unabhängig von politischen Parteien bleiben wollte, die nur für die Macht im Staate stritten. Stattdessen konzentrierte es sich auf die »unmittelbaren Interessen« der Arbeiter. Dies gab dem Cartel einen entscheidenden Vorteil gegenüber Kommunisten, da Arbeiter nicht fürchten mussten, dass das Cartel sie nur für »politische Abenteuer« missbrauchen würde. Hinzu kam schließlich, dass die lokale Beschränkung auf Lyon dem Cartel ermöglichte, enge Verbindungen zur Basis aufzubauen und so die Konflikte zwischen Führung und Basis, wie sie die Kommunistische Partei prägten, zu vermeiden.

4.3 Autonomie oder Politik: Der Konflikt zwischen Cartel und CGTU Den Kommunisten war die politische Autonomie des Cartels selbstredend ein Dorn im Auge. Aus ihrer Sicht gehörten soziale und politische Kämpfe zusammen. Arbeitskämpfe etwa sollten nur eine Vorbereitung für das letzte Ziel, eine kommunistische Revolution, sein, in denen Arbeiter ein Klassenbewusstsein entwickeln konnten. Zwar erklärten auch Kommunisten, für die »Interessen der Arbeiterklasse« zu streiten, für höhere Löhne und den Sieben-Stunden-Tag, für bessere Wohlfahrtsleistungen, Sozialversicherungen oder gegen den Krieg.81 Allerdings, und dies ist entscheidend, wurden diese Kämpfe in der kommunistischen Voix du Peuple nicht als Kämpfe für die unmittelbaren Interessen der Arbeiter dargestellt. Diese mochten sich in direkten Auseinandersetzungen mit dem Unternehmertum verteidigen lassen, für Sozialversicherungen und gegen den Krieg zu kämpfen erforderte jedoch, Einfluss auf den Staat zu nehmen. Hierbei handelte es sich um politische Angelegenheiten, weshalb sich auch die Interessen der Arbeiter, die unter Krieg und Armut litten, eben nur politisch verteidigen ließen. Daher war es aus Sicht der Kommunisten notwendig, dass Gewerkschaften eng mit der »Partei des Proletariats« zusammen arbeiteten und sich letztlich unter deren Führung stellten.82 Insoweit unterschieden sich Kommunisten und Autonomes. Beide Gruppen waren jedoch davon überzeugt, dass 81 La Voix du Peuple, 21.10.1932. 82 Eine Antwort auf kommunistische Angriffe findet sich beispielsweise im L’Effort, 23.1.1932.

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dem Arbeitsplatz eine zentrale Rolle in der Bildung von Klassenbewusstsein wie auch im Klassenkampf allgemein zukam. Kommunisten war dabei durchaus bewusst, welche Bedeutung das Baugewerbe in Lyon hatte, weshalb sie die dortige Vorherrschaft des Cartels brechen wollten. Lyons Bauarbeiter hatten sich, wie oben ausgeführt, zunächst der CGTU angeschlossen, diese aber nach internen Konflikten verlassen und 1926 das Cartel Autonome gegründet. Die Kommunisten in der CGTU versuchten dann, die starke autonome Maurergewerkschaft unter ihre Kontrolle zu bringen, da sie, wie ein Polizeibericht vermerkt, hofften, dort »Stoßbrigaden für gewaltsame Angriffe [des éléments de choc et d’agitation violente] zu finden«, hatten dabei allerdings keinen Erfolg. Dieses »kleine Spiel unter feindlichen Freunden [­petit jeu d’amitié, sourde d’hostilités]« dauerte bis 1929 an, ohne dass es zu größeren Auseinandersetzungen kam, wie die Polizei bemerkte. Erst als der innerhalb der PCF aufmüpfige Gewerkschaftssekretär Revol durch einen gewissen ­Cellier ersetzt wurde, der die Anweisungen der kommunistischen Parteiführung wunschgemäß ausführte, änderte sich die Lage. Nun kam es zu scharfen und teils gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und dem Cartel Autonome, wo sich eine kommunistische Fraktion gebildet hatte, die versuchte, das Cartel zu übernehmen. Die autonomen Führer des Cartels »reagierten energisch, indem sie Maurer, die Mitglieder dieser Fraktion waren oder mit ihr sympathisierten, auf den Baustellen bekämpften.« Da es auch dieser kommunistischen Fraktion nicht gelang, innerhalb des Cartels Einfluss zu gewinnen, sandte die kommunistische Parteizentrale im Oktober 1929 einen anderen Instrukteur namens René Joseph Nouaudie nach Lyon. Nach dessen Ankunft eskalierte die Situation vollkommen.83 Kommunisten warfen dem Cartel regelmäßig mangelnde Radikalität vor.84 Nach einem Arbeitskonflikt 1928 etwa hielt die kommunistische Zeitung Travail, Vorgänger der Voix du Peuple, dem Cartel vor, mit den Arbeitgebern verhandelt zu haben, anstatt weiterreichende Forderungen zu formulieren, die über reine Lohnfragen hinausgingen. Zwar war es dem Cartel gelungen, höhere Löhne durchzusetzen, aber »wäre der Streik entschiedener geführt worden [si l’action avait été engagée], so hätten bessere Ergebnisse für alle Bauarbeiter Lyons erzielt werden können.« Das Cartel versuchte, um die Kosten und Gefahren von Streiks wissend, eine solche Radikalisierung des Streiks zu vermeiden. Kommunisten machten dem Cartel diesen Pragmatismus zum Vorwurf und verlangten nach einer aggressiveren Strategie gegenüber der Arbeitgeberseite. Ihrem Selbstverständnis nach versuchten Kommunisten, die Arbeiterklasse zu einem revolutionären Elan zu verhelfen; aus Sicht der Autonomes zerstörten sie damit nur die Einheit der Arbeiterklasse.85 83 ADR 10/M/465. Ähnlich Fau, S. 99. 84 In gewisser Weise ist die Rhetorik der Kommunisten gegen das Cartel vergleichbar mit derjenigen deutscher Kommunisten gegen die Sozialdemokratie. 85 Le Travail, 19.1.1929.

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Das Cartel antwortete auf diese Vorwürfe, indem es sich über die angeblichen Erfolge der Kommunisten lustig machte. Einem kommunistischen Versammlungsaufruf im Januar 1930 seien beispielsweise gerade einmal 200 Bauarbeiter gefolgt, und als die selbe Gruppe Pariser Kommunisten auf der Baustelle Grange Blanche, auf der immerhin 600 Arbeiter beschäftigt waren, agitieren wollte, waren nur 30 von ihnen willens, den Kommunisten zuzuhören.86 Die Behauptungen der Kommunistischen Partei, die Arbeiterklasse zu repräsentieren, waren in den Augen des Efforts daher nichts als Lügen. In Wahrheit sammelten sich sowohl Arbeiter als auch Bürger, die an die kommunistische Ideologie glaubten, in der Kommunistischen Partei. Der revolutionären kommunistischen Ideologie hielt der Effort entgegen, dass sich die Arbeiterklasse nur »in den wirtschaftlichen Organisationen [ausdrücken kann], die der Produktion entsprechen [des formations économiques correspondantes à la production] und die allen Proletariern unabhängig von ihrer politischen Haltung offen stehen.«87 In der Praxis führte die »revolutionäre« Streiktaktik der Kommunisten regelmäßig in die Katastrophe, so der Effort. Nach einem gescheiterten Streik in der Metallfabrik Bonnet-Spazin im Oktober 1930 zitierte der Effort beispielsweise ausführlich aus dem Travail, wo die Gründe für das Scheitern des Streiks er­läutert wurden. »Vor allem haben wir uns im Vorfeld des Konflikts als unfähig erwiesen, den Streik unter den Genossen in der Fabrik vorzubereiten.« Sie hätten nicht verstanden, so fuhr der Travail fort, dass die Situation eine ganz andere gewesen sei als in den vorangegangenen Jahren. Nun hätte mit einem langen und harten Arbeitskampf gerechnet werden müssen. – »Die Unitaires wussten nicht, wie man einen Streik vorbereitet… Sie verstanden nicht …«, spottete daraufhin der Effort. So war es denn auch kein Wunder, dass der Streik katastrophal endete. Das einzige Ergebnis war eine Schwächung der Arbeiterklasse, wie der Effort verbittert feststellte. »Nachdem sie die Arbeiterklasse gespalten haben, schwächen die Unitaires die Arbeiterklasse immer wieder mit Streiks, die alles und nichts erreichen wollen. Die Arbeiterklasse hört nicht auf die Anweisungen dieser Moskowiter! Um das patronat zu besiegen, muss sie alle Politiker aus den Gewerkschaften verjagen!«88 Streiks gingen Politiker nichts an und sollten nicht für politische Ziele missbraucht werden, etwa um den kommunistischen Einfluss zu steigern. Aus Sicht des Cartels zählten einzig die unmittelbaren Interessen der Arbeiter, die am besten durch eine unabhängige Gewerkschaft vertreten würden. Unnötige Streiks zu führen gehörte sicherlich zu nicht diesen Interessen. Die entscheidende Frage hinter diesen ideologischen Differenzen war, wer die Macht auf Baustellen hatte, wem es gelang, Arbeiter zu organisieren, Streiks 86 L’Effort, 15.1.1930. 87 L’Effort, 23.1.1932. 88 L’Effort, 4.10.1930. Ein anderer gescheiterter kommunistischen Streik in einer Textilfabrik wird im L’Effort, 27.9.1930, geschildert. Die CGTU hatte, so die Zeitung, nicht einmal die nötigen finanziellen Mittel, um den Streik durchzuführen.

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auszurufen oder zu beenden. Wie gezeigt setzte das Cartel, wenn nötig mit Gewalt, seine Position auf Baustellen durch, auch gegenüber Mitgliedern der CGTU. Im Mai 1930 etwa klagte der Travail: »Schon seit geraumer Zeit zwingen die chefs autonomes mit faschistischen Mitteln alle Arbeiter, die die carte unitaire besitzen, diese gegen die carte autonome auszutauschen, wenn sie weiterhin arbeiten wollen.«89 Bereits im Februar 1930 hatte die Zeitung ein Beispiel dafür gegeben, wie diese »bandits fascistes« arbeiteten. »Am Dienstag, den 11. Februar, waren die chefs autonomes, angeführt von ihrem Chef Marsallon, zur Baustelle an der Kreuzung rue de Sèze und rue Tête-d’Or gekommen. Ohne dass es irgendeinen anderen Grund gegeben hätte als den, dass die dort schaffenden Arbeiter der CGTU angehörten, griffen diese von der Polizei unterstützten faschistischen Banditen, Diener der Unternehmer und Verräter der Arbeiterklasse, unsere Kollegen mit aller Kraft, mit Schlagstöcken und Revolvern an. Sie verprügelten sogar Mitglieder ihrer eigenen Organisation, ebenso wie die Unitaires.« Diesmal aber, so der Travail, sei das Cartel nicht erfolgreich gewesen, da die angegriffenen Arbeiter sich zu wehren wussten. Die Autonomes »mussten auf ihren Rädern fliehen um der verdienten Abreibung zu entgehen«.90 Arbeitgeber, die solche Auseinandersetzungen vermeiden wollten, stellten oft nur Mitglieder des Cartels ein.91 Typischerweise kam es zu Gewalt zwischen Mitgliedern des Cartels und der CGTU, wenn Baustellendelegierte oder Roulantes beim Kontrollieren der Gewerkschaftsausweise aufeinandertrafen, wobei sich die Unitaires zumeist in der Unterzahl befanden. Zudem sorgte das Cartel dafür, dass »körperlich eindrucksvolle« Arbeiter diese Aufgaben übernahmen. Für die Unitaires stellte dies ein Dilemma dar, wie Albert Fau erklärt. Einerseits mussten die Unitaires fürchten, in gewaltsamen Auseinandersetzungen zu unterliegen, andererseits hätte ein Zurückweichen den Ruf der Unitaires geschädigt.92 Auch wenn nicht alle solchen Begegnungen mit Gewalt endeten und es sogar Beispiele für eine Zusammenarbeit zwischen den verfeindeten Gewerkschaften gab, zumal, so wenigstens Fau, die Arbeiter an der Basis die gewaltsamen Methoden des Cartels ablehnten,93 so bestand doch immer die Gefahr, dass es zu Gewalt kam, wie ein Zwischenfall in Charpennes belegt. Fau und sein Genosse Guilleminot wollten auf einer dortigen Baustelle für ihre Organisation, die CGTU, werben, als sie sich einer Gruppe autonomer Bauarbeiter gegenüber sahen – »sagen wir, es gab keine stürmische Umarmung«, bemerkt Fau. Da sie einer Übermacht gegenüber standen, versuchten Fau und sein Genosse zu fliehen, wurden aber

89 Le Travail, 24.5.1930. 90 Le Travail, 22.2.1930. 91 Fau, S. 134. 92 Ebd., S. 134–136. 93 Ebd., S.  118 f. Allerdings ist diese Aussage mit einer gewissen Skepsis zu lesen, hatte Fau doch starke kommunistische Sympathien.

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von den Autonomes verfolgt. Fau gelang es zwar zu entkommen, aber die Auto­ nomes stellten Guilleminot, verprügelten ihn und zerbrachen seine Brille.94 Auch bei und über Streiks, wer sie ausrufen und beenden konnte, kam es zu heftigen Konflikten zwischen Cartel und CGTU. Der Travail warf dem Cartel beispielsweise vor, Streikbrucharbeit zu organisieren, worauf der Effort ant­ wortete, das Cartel riefe seine Anhänger schlicht dazu auf, keine Streikaufrufe zu befolgen, die nicht vom Cartel kämen.95 Hatte das Cartel einen gültigen Vertrag mit einer Firma, in der die CGTU streiken wollte, so würden Arbeiter des Cartels selbstverständlich arbeiten.96 Während des Streiks und der Aussperrungen im Frühjahr 1930 eskalierte der Konflikt zwischen Cartel und CGTU. Das Cartel hatte der Wiedereröffnung der Baustelle Clet im Vorort Oullins zugestimmt. Am Morgen des 15. Mai verlangten Delegierte der CGTU und des SUB, dass alle vorher dort beschäftigten Arbeiter wieder eingestellt werden sollten, da einer der Ihren seine Stelle nicht zurückerhalten hatte (es bleibt unklar, zu welcher Organisation der entlassene Delegierte gehörte). Um gegen dessen Entlassung zu protestieren, traten die Arbeiter in einen einstündigen Streik. Selbstverständlich stieß dieser Streik bei den »chefs fascistes autonomes« nicht auf Zustimmung, hatten diese doch der Wiedereröffnung der Baustelle zugestimmt. Dem Travail zufolge war Boissy, einer der »Chefs autonomes«, so empört über den Streik, dass er dafür sorgte, dass ein Delegierter der CGTU auf einer Baustelle der reformistischen Kooperative l’Avenir seine Arbeit verlor.97 Am folgenden Tag eskalierte die Situation auf der Baustelle Clet vollends. Dem Travail zufolge war eine Gruppe von Delegierten der CGTU zur Baustelle gekommen, damit keine »Gelben« als Streikbrecher arbeiteten. Jedoch hatten sich, so der Travail, Boissy und eine Reihe weiterer Autonomes, deren Namen das kommunistische Blatt umgehend veröffentlichte, mit Revolvern bewaffnet auf der Baustelle verschanzt. Als sich die Unitaires näherten, eröffneten Boissy und seine Kollegen sofort das Feuer von allen Seiten. Die Polizei aber, die natürlich mit den »faschistischen« Autonomes zusammenarbeitete, nahm die Unitaires fest, ermittelte aber nicht gegen die wahren Angreifer.98 Dass diese Version der Ereignisse nicht unbedingt der Wahrheit entsprach, wird allein daran deutlich, dass keiner der Unitaires angeschossen wurde, sondern Luis Pélard, Sekretär des Cartel Autonome, der leicht an der Schulter verwundet wurde. Der Polizei zufolge waren acht Unitaires zur Baustelle gekom94 Ebd., S. 117 f. In anderen Fällen wurden sogar Schusswaffen benutzt, ebd., S. 99 f. 95 L’Effort, 1.3.1930. 96 L’Effort, 2.1.1932. 97 Berichten der Präfektur zufolge hatten Unitaires Flugblätter gegen das Cartel verteilt und zu einer Versammlung auf der Baustelle nach Arbeitsschluss aufgerufen. Arbeiter des Cartels hatten daraufhin die Entlassung der Unitaires verlangt, einer Forderung, der der Arbeit­ geber bereitwillig nachkam, ADR 10/M/466. 98 Le Travail, 24.5.1930.

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men und hätten, ohne jegliche Diskussion oder Provokation, sofort das Feuer eröffnet, woraufhin die Autonomes Steine und Ziegel auf die Unitaires geworfen hätten. Pélard erklärte gegenüber der Polizei, dass dies nur das jüngste »terroris­ tische Manöver« der CGTU-Führer gewesen sei, mit denen sie »Mitglieder anderer Organisationen dazu zwingen wollen, sich dieser kommunistischen Organisation anzuschließen.« Schon am vorherigen Tag hätten sie versucht, die Arbeiter zum Streik zu bewegen und Pélard bedroht, der den Anhängern seiner Gewerkschaft in Übereinstimmung mit dem Firmeninhaber Clet die Anweisung gegeben hatte zu arbeiten. Bemerkenswerterweise wollte Pélard keine Anzeige erstatten. Gegenüber Clet beschwerte sich die Polizei, dass dieser sie nicht im Vorfeld verständigt hatte. Clet aber erklärte, die Arbeiter und ihre Gewerkschaftsführer hätten angekündigt, nicht unter Polizeischutz zu arbeiten. Hier zeigt sich einmal mehr, was das Cartel unter Autonomie verstand: Konflikte zwischen konkurrierenden Gewerkschaften, selbst mit den verhassten Kommunisten, waren nicht Sache des Staates. Als wahrer Autonomer wollte Pélard keine Unterstützung bei der Polizei suchen. Ein anderer Grund für die Weigerung der Autonomes unter Polizeischutz zu arbeiten, mag jedoch gewesen sein, dass sie selbst, notfalls mit Gewalt, dafür sorgen wollten, dass keine Mitglieder anderer Gewerkschaften auf der Baustelle arbeiteten. Ein Polizeieinsatz hätte dies ungemein erschwert.99 Nicht alle Begegnungen zwischen Autonomes und Unitaires verliefen so gewalttätig. Von Zeit zu Zeit arbeiteten die beiden Gruppen auch zusammen. Im Juli 1930, etwa einen Monat nach dem Ende des großen Frühjahrsstreiks, traten Arbeiter auf der Baustelle Vezzini, wo ein Wohnkomplex für die Eisenbahngesellschaft PLM gebaut wurde, in den Streik, um die Wiedereinstellung eines italienischen Kollegen namens Pezzoni zu erzwingen, der nach einem Hand­ gemenge mit seinem Vorarbeiter gefeuert worden war. Am Morgen nach seiner Entlassung war Pezzoni mit einer Gruppe von Kollegen und drei Delegierten der CGTU zur Baustelle gekommen, um seine Wiedereinstellung zu verlangen. Als die Firma dies ablehnte, bewarfen die Freunde Pezzonis seine noch arbeitenden Kollegen mit Steinen, so der Polizeibericht, was zur Einstellung der Arbeit führte. Am darauffolgenden Morgen kamen sie mit den gleichen Forderungen zurück. Da der Patron immer noch ablehnte, wurde die Firma auf den »Index« gesetzt  – nun durften keine Anhänger der beteiligten Gewerkschaften mehr auf der Baustelle arbeiten. Von besonderem Interesse an diesem sonst recht typischen Fall sind die Nationalitäten und Gewerkschaftszugehörigkeiten der

99 ADR 10/M/466. Die Polizei verhaftete dennoch drei Unitaires, die, so Pélard, aus Paris angereist waren, um in Lyon zu agitieren. Der Grund für Clets Weigerung, Unitaires einzu­ stellen, war, dass Arbeiter der Unitaires bei den Aussperrungen von der Polizei von den Baustellen entfernt werden mussten, wo sie zuvor auch Sabotageakte begangen hatten. Daher stellte Clet nun nur noch Arbeiter des Cartel Autonome ein.

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Angreifer. Unter ihnen befanden sich neben einem Franzosen zwei Italiener, zwei Spanier und ein Tschechoslowake. Zwei von ihnen waren Delegierte des Cartels, wohingegen sich die drei Delegierten der CGTU nicht eindeutig identifizieren ließen. Der Fall belegt einerseits, dass Arbeiter aus verschiedenen Nationen aktiv an Arbeitskämpfen beteiligt waren, und andererseits, dass es, insbesondere bei kleineren Konflikten, durchaus zur Kooperation von Anhängern des Cartels und der CGTU kam.100 Andererseits waren die Autonomes nach konkreten Erfahrungen der Zusammenarbeit mit den Unitaires überaus vorsichtig. Während eines erfolgreichen Streiks im April 1932 bemerkte der Effort mit gewisser Ironie, dass die Forderung der Unitaires nach einer Einheitsfront erfüllt worden sei, hatte sich doch das Dutzend CGTU-Arbeiter unter die Führung der chefs autonomes gestellt. »Ja, eine Einheitsfront im Kampf [Front unique dans la lutte] war nötig, und daher marschierten die Genossen Unitaires, die in dieser Firma arbeiteten, mit den Autonomes.« Ein gemeinsames Streikkomitee hatte es allerdings nicht gegeben, da bisherige Erfahrungen nicht für eine solche Zusammenarbeit sprachen. So hätten Unitaires bei einem früheren Streik Einnahmen aus dem Verkauf von Solidaritätsmarken nicht in voller Höhe ans gemeinsame Streik­ komitee weitergeleitet, sondern das Geld für ihre eigene Organisation einbehalten. In der Zukunft würde es daher keine gemeinsamen Komitees mehr mit den Unitaires geben.101 Die Druckerei Imprimerie Intersyndicale, die dem Cartel Autonome gehörte, lieferte einen weiteren Anlass für Auseinandersetzungen. Bemerkenswerterweise wurde dort bis 1930 die kommunistische Zeitung Travail gedruckt, was zeigt, wie sehr die Kommunistische Partei auf das Cartel angewiesen war. Dass das Cartel wiederum die Zeitung seines Erzfeindes druckte, belegt erneut, wie sehr es sich auf den Arbeitsplatz und dortige Konflikte konzentrierte. Eine kommunistische Zeitung stellte offensichtlich keine Bedrohung in dieser Hinsicht dar. Als die Kommunisten ihre Rechnungen nicht mehr bezahlten, hatte es mit der Gleichgültigkeit des Cartels ein Ende. Gegen Ende 1929 drohte das Cartel damit, den Travail nicht mehr zu drucken, sollte die Kommunistische Partei nicht sofort 5.000 Francs und in jedem der darauf folgenden Monate 3.000 Francs bezahlen. Aus Sicht des Cartels ging es vermutlich nur ums Geld, wobei es sogar eine gewisse Großzügigkeit zeigte, stand die Kommunistische Partei doch mit 40.000 Francs in der Kreide. Für die Kommunisten hingegen handelte es sich um eine politische Angelegenheit. »Sie [die Autonomes] wollten von den Schwierigkeiten, denen sich unsere Partei in ihrem Kampf ausgesetzt sieht, von den Repressionen der Regierung gegen unsere Organisation und ihre Presse profitieren! Sie wollten unserer Partei nun den Dolch in den

100 ADR 10/M/466. Alle Namen sind erfunden. Siehe auch den unten, S. 262–264, diskutierten Zwischenfall bei Versillé, bei dem alle vier Gewerkschaften beteiligt waren. 101 L’Effort, 2.4.1932.

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Rücken rammen!« Die finanziellen Gründe seien nur vorgeschoben um einen politischen Feind zu zerstören, so die Lesart des Travail.102 Aber finanzielle Schwierigkeiten waren nicht der einzige Anlass für Konflikte in und um die Imprimerie Intersyndicale. Zwar war die Druckerei im Besitz des Cartels, viele der dort beschäftigten Drucker gehörten jedoch der CGTU an. Als Eysséris, Chef der Druckerei und einer der Führer des Cartels, einen von ihnen feuerte – die Gründe hierfür bleiben im Dunkeln, laut Travail lautete der Vorwurf, er habe »Animositäten« unter den Arbeitern geschaffen – traten seine Kollegen für ihn in den Streik, um seine Wiedereinstellung zu erzwingen. Um die Streikenden zu unterstützen und Streikbrecherarbeiten zu verhindern, veranstaltete die CGTU eine Demonstration vor der Druckerei, die nicht von der Polizei, sondern von autonomen Bauarbeitern bewacht wurde. Abgesehen von einigen Schüssen auf die Druckerei, die keinen großen Schaden anrichteten, verlief die Demonstration allerdings ruhig. Erst später am Tag kam es zu ernsthaften Auseinandersetzungen, als einige Kommunisten zu einer Versammlung der autonomen Maurergewerkschaft kamen und dort eine Massenschlägerei provozierten, bei der sogar Schüsse abgegeben wurden, auch wenn unklar bleibt, von wem. Am darauffolgenden Tag wurde der Gewerkschaftssekretär ­Pélard auf seinem Heimweg von einer Gruppe kommunistischer Arbeiter an­ gegriffen und verprügelt. Erneut weigerte sich Pélard der Polizei gegenüber, Angaben über seine Angreifer zu machen, so dass es zu keinen Festnahmen kam. Den Polizeiakten zufolge war dieser Überfall nur ein Racheakt für einen Überfall von Pélard und einer Gruppe Autonomes auf zwei Unitaires zwei Tage vorher. Leider ist unklar, wie der Konflikt endete. Der Travail jedenfalls wurde nicht mehr in der Impremerie Intersyndicale gedruckt und verschwand 1932 gänzlich. Über das Schicksal der CGTU-Arbeiter geben die Quellen keine Auskunft.103 Die Konflikte zwischen Autonomes und Unitaires dauerten 1931 an, ver­loren aber an Schärfe. Von Beginn an waren die Autonomes an Kräften überlegen gewesen. Die einzige Chance für die Unitaires hätte darin bestanden, wie ein Polizei­bericht vom Dezember 1929 bemerkte, sich an die zahlreichen italienischen Arbeiter zu wenden, die mit der CGTU sympathisierten. Aber auch hierbei hatte die CGTU keinen Erfolg. Im August 1932 bemerkte der Effort dann kurz, dass nun, nachdem die Agitation von SUB und CGTU nachgelassen habe, die reformistische CGT versuche, auf Baustellen zu agitieren. Aber dies führte nicht zu ernsthaften Konflikten. Vermutlich organisierten sich Kommunisten wieder und weiterhin innerhalb des Cartels, hinterließen allerdings keine 102 Le Travail, 14.12.1929. Mann, Forging, S. 149, vernachlässigt die finanziellen Schwierigkeiten der PCF komplett. 103 ADR 10/M/465, Le Progrès, 14.12.1929, und ADR 4/M/235, wo sich eine kurze Notiz vom Januar 1931 befindet, die Travail werde nun wegen finanzieller Schwierigkeiten in St. Etienne gedruckt. Im Juli 1932 wurde die Unterstützung für die Zeitung seitens der Parteiführung eingestellt, was zum Verschwinden der Zeitung führte, AD SSD, 3 Mi 6/83 Séquence 557 und 3 Mi 6/83 Séquence 558.

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Spuren, mit Ausnahme ihres finalen Erfolgs: Im Sommer 1935 gelang es einer pro-kommunistischen Fraktion, das Cartel zu übernehmen und die alte, autonome Führung zu verdrängen. Dies aber wird Thema des folgenden Kapitels sein. Im August 1933 schließlich berichtete der Effort über eine Versammlung, auf der die Wiedervereinigung der Gewerkschaften diskutiert werden sollte. Im Angesicht zunehmender Arbeitslosigkeit ebenso wie der immer deutlicher werdenden Kriegs- und Faschismusgefahr hatten die Gewerkschaften verstanden, so der Effort, dass »die Situation ernst ist. Die Gefahr ist nah, und deshalb müssen wir unsere Hoffnungen, unsere Kräfte vereinen, die der Arbeiterklasse den Weg zur Befreiung zeigen werden.« Um diese Einheit zu erreichen sei ein »un­abhängiges Komitee zur Belebung des Syndikalismus und der Realisierung der gewerkschaftlichen Einheit« geschaffen worden, an dem sich je zwei Autonomes, Unitaires, und Confédérés beteiligten.104 Auch auf politischer Ebene gab es, wie zum Ende des Kapitels gezeigt wird, ein Bewusstsein dafür, dass Einheit nötig sei, um der Gefahr der radikalen Rechten auf Lyons Straßen zu begegnen. Dieser frühe Versuch, Einheit herzustellen, führte jedoch zu keinen Ergebnissen.

4.4 Politik und politischer Alltag in der Arbeiterbewegung Lyons Das starke Cartel Autonome du Bâtiment bietet gleichsam einen Ausgangspunkt für den zweiten Teil dieser Arbeit; politische Parteien stellen einen zweiten dar. Wie sahen Alltagsbeziehungen zwischen Sozialisten und Kommunisten in Lyon aus, verglichen mit Leipzig? Wie gestalteten sich politische Praktiken in der Kommunistischen Partei?105 Grundsätzlich finden sich in den Quellen kaum Belege dafür, dass der Alltag der Arbeiter Lyons in ähnlicher Weise von parteipolitischen Konflikten geprägt war wie in Leipzig. Ebenso kam es in Lyon kaum zu Spannungen zwischen Kommunisten und Sozialisten, wie sie in Leipzig üblich waren.106 Wie auch ihre Genossen in Leipzig versuchten Kommunisten in Lyon vor allem soziale Konflikte zu politisieren, wobei sie sich durchaus ähnlichen Problemen gegenüber sahen. Allerdings gelang es ihnen nie, im All104 L’Effort, 5.8.1933. 105 Leider existieren keine Quellen, soweit sich sehen ließ, der sozialistischen Partei in Lyon. Die Literatur zur kommunistischen Partei ist äußerst umfangreich, wobei leider keine sozialhistorischen Studien im Sinne Mallmanns vorhanden sind. Zum Großteil stehen die Strategien der Parteiführung und ihre Beziehungen zur Komintern im Vordergrund, nicht aber die Praktiken an der Basis. Siehe aber Fourcaut, Bobigny, S. 29 f., 50 f., 97–101; Girault, Implantation. 106 Audoin zufolge waren gewaltsame Zusammenstöße zwischen Kommunisten und Sozia­ listen in Paris an der Tagesordnung. In Lyon jedenfalls war dies nicht der Fall. Weiterhin Tartakowsky, Manifestations, S. 221 f.

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tag vergleichbar präsent zu sein, woran sie nicht zuletzt das Cartel Autonome hinderte. Parteipolitik hatte in Lyon daher nicht die spaltenden und demobilisierenden Effekte, die sie in Leipzig hatte – dafür war sie schlicht nicht wichtig genug. Nach 1934 jedoch wurde Politik, wie in den folgenden Kapiteln zu zeigen sein wird, zu einem mobilisierenden Faktor. Zwar kam es bei gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen oder bei Streiks immer wieder zu Gewalt, politische Gewalt blieb vor 1934 eine Rarität in Lyon. Anders als in Leipzig fanden hier keine gewalttätigen Kämpfe um die Kontrolle von Arbeitervierteln statt. Einzig Zeitungsverkäufer sowohl der sozialistischen als auch der kommunistischen Presse wurden manchmal Opfer rechter Angreifer. Im Februar 1930 berichtete der Travail, »Faschisten« hätten über Wochen hinweg kommunistische Zeitungsverkäufer vor dem Gebäude des Progrès, einer republikanischen Zeitung, im bürgerlichen Zentrum Lyons provoziert, da diese keine Kommunisten in einem »quartier bourgeois« ertragen hätten. Nun hatten die »Faschisten« Gewalt angewandt und die Kommunisten mit fünf- bis zehnfacher Übermacht mit Stöcken und Knüppeln angegriffen. Eine Woche später hatten Kommunisten ihre Truppen mobilisiert, deren Antwort »brutaler war, als die Herren von der A. F. [Action Française] erwartet hatten. Einige von ihnen erhielten eine ordentliche Abreibung.« Damit hatten die Auseinandersetzungen aber kein Ende gefunden. Wiederum eine Woche später trafen etwa hundert Camelots (der Travail achtete nicht darauf, welcher der rechten Organisationen die Angreifer angehörten) auf zehn Kommunisten, weshalb sich diese zurückzogen, aber nicht ohne »einige dieser Camelots ernsthaft zu ›schlagen‹, wobei sich einige Körperteile [der Camelots] unter den Schlägen verformt haben dürften.« In der Zukunft sollten Kommunisten »ihre« Zeitungsverkäufer beschützen, hieß es am Ende des Artikels.107 Dies war allerdings eines der wenigen Beispiele politischer Straßengewalt in Lyon vor 1934. Politische Versammlungen, die in Leipzig immer wieder von Gegnern gesprengt wurden, waren in Lyon ebenfalls selten Schauplatz von Gewalt. Im Februar 1929 hatte die Jeunesse Socialiste zu einer Veranstaltung zum Anti­ militarismus »alle politischen Gruppen Lyons« eingeladen, auf der auch Anhänger der rechten Camelots du Roi erschienen. Allerdings störten diese die Veranstaltung nicht, sondern erbleichten einfach und blieben still, da sie, so der Avenir Socialiste, den Vortrag schlicht nicht verstanden. In Leipzig hätte eine solche Situation wohl zu einer Saalschlacht geführt. In Lyon standen die ­Camelots einfach auf und gingen.108 Eine Versammlung der SFIO im April 1932 scheint hingegen einen anderen Verlauf genommen zu haben. Nach ihrem Ende 107 Le Travail, 22.2.1930. Ein Beispiel von Gewalt gegen einen Sozialisten findet sich im L’Avenir Socialiste, 3.3.1934. »Faschistische Banden« hatten den jungen Sozialisten Vignon zusammengeschlagen. Daher sollten sich, so die Zeitung, seine Genossen in »Comités de vigilance« zusammentun; eines Tages könnten sie gebraucht werden. Passmore, Liberalism, S. 216 f. 108 L’Avenir Socialiste, 23.3.1929.

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begannen, so der Avenir Socialiste, einige Ordner der Action Française eine »Auseinandersetzung, auf die unsere Genossen und die Sympathisanten unserer Partei entschieden antworteten.«109 Was genau geschah, ob und zu welchen Formen von Gewalt es gekommen war, bleibt unklar, da die Zeitung keine Details veröffentlichte. Die Kürze des Artikels deutet jedoch an, dass die Auseinandersetzung nicht als besonders wichtig empfunden wurde.110 Verglichen mit Leipzig jedenfalls spielte politische Gewalt in Lyon eine völlig marginale Rolle. Auch die Beziehungen zwischen Kommunisten und Sozialisten waren, soweit die spärlichen Quellen Aussagen erlauben, weitaus weniger feindselig als in Leipzig. Kommunisten kamen regelmäßig zu sozialistischen Veranstaltungen, die sie aber nicht, wie es in Leipzig immer wieder geschah, sprengten. Vielmehr boten ihnen die ausrichtenden Sozialisten die Gelegenheit zur Gegenrede, wobei das Schlusswort aber einem sozialistischen Redner vorbehalten blieb. Im März 1931 etwa hatten die Jeunesses Socialistes zu einer »öffentlichen Versammlung mit der Möglichkeit zur Widerrede« geladen. Zunächst sprachen zwei junge Sozialisten über Antimilitarismus und die »zwei Methoden (Jaurès et Guesde)«, sodann durften ein Kommunist und ein Verweigerer aus Gewissensgründen [objecteur de conscience] eine Gegenrede halten, woraufhin wieder ein sozialistischer Sprecher das Schlusswort hielt. Der kurze und typische Bericht im ­Avenir Socialiste erwähnte keinerlei Störung oder gar Gewalt.111 Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Beziehungen zwischen Kommunisten und Sozialisten gut oder freundschaftlich waren. Sozialisten spotteten immer wieder über Kommunisten, etwa über einen »jungen Bürger der ­Jeunesses Communistes, der ohne großes Interesse eine auswendig gelernte Lektion abspulte.«112 Im Gegenzug beleidigten Kommunisten Sozialisten als »social-fascistes« oder »social-flics«.113 Aber nur selten führten diese Spannungen zu Gewalt. Nur einmal, im Dezember 1932, berichten die Quellen davon, dass Kommunisten ernsthaft versuchten, eine sozialistische Versammlung zu stören. Der sozialistische Redner hatte sich über die »endlosen und ungerechtfertigten Angriffe der Kommunistischen Partei« empört, woraufhin er von Kommunisten lauthals unterbrochen wurde. Ein Kommunist wollte wohl das Wort ergreifen, aber der sozialistische Ordnerdienst verwies zwei oder drei kommunistische Schreihälse des Saales, woraufhin sich die Situation beruhigte. 109 L’Avenir Socialiste, 16.4.1932. 110 Die kommunistische Presse, zunächst die Travail und später die Voix du Peuple, berichtete sogar noch weniger über Gewalt zwischen Sozialisten und Kommunisten, auch wenn sie nicht zögerten, die Sozialisten als »Sozialfaschisten« zu denunzieren, Le Travail, 11.5.1929. Hier findet sich auch einer der wenigen Berichte über angebliche Gewalt seitens der Sozialisten gegenüber einem Kommunisten, der angeblich einen »Arschtritt« erhalten hatte. Andere Quellen, die über den Vorfall berichten, ließen sich nicht finden. 111 L’Avenir Socialiste, 21.3.1931. 112 L’Avenir Socialiste, 22.11.1930. 113 AD SSD, 3  Mi 6/62  Séquence 412, Journal Le Semeur de Ternay, Organe de défense de ­travailleurs de Ternay, édité par la cellule, 1930.

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Am Ende der Veranstaltung erlaubten die Sozialisten den Kommunisten sogar, eine kurze Gegenrede zu halten, aber der kommunistische Redner hielt sich nicht an das Zeitlimit, woraufhin eine weitere Auseinandersetzung zwischen Sozialisten, die versuchten, ihn abzudrängen, und Kommunisten, die auf die Bühne klettern wollten, entbrannte.114 Auch in diesem Fall bleiben die Details unklar. Verglichen mit Leipzig jedenfalls ging es selbst hier relativ harmonisch und friedlich zu. Für Lyon jedoch war dies eine ausgesprochen heftige Auseinandersetzung. Zumeist verliefen solche Versammlungen friedlicher. Manchmal kam es sogar zu gemeinsamen Veranstaltungen von Sozialisten und Kommunisten, etwa um eine Amnestie für politische Gefangene zu fordern.115 In Lyon ist grundsätzlich wenig von dem Hass und dem Misstrauen zu spüren, das in Leipzig herrschte, zum Teil sicherlich deshalb, weil Parteipolitik im Alltag der Arbeiter eine wesentlich geringere Rolle spielte, aber wohl auch, weil Politik aufgrund der vergleichsweise schwachen militanten Rechten grundsätzlich fried­ licher blieb.116 Denunziationen, die in Leipzig so massiv zum Misstrauen zwischen und innerhalb der Parteien der Arbeiterbewegung beitrugen, waren auch in Lyon nicht unbekannt, unterschieden sich aber grundlegend von den Denunziationen in Leipzig. Die einzigen Belege für Denunziationen stammen aus kommunis­ tischen Zeitungen.117 Diese fungierten aber nie als »Medium« für Denunzia­ tionen wie in Leipzig, sondern berichteten lediglich über Denunziationen. Typischerweise »enttarnte« das kommunistische Blatt Polizei- oder Firmenspitzel. Im Januar 1933 warnte die Voix du Peuple beispielsweise vor Polizeispitzeln in dem Arbeitervorort Vénissieux, wo ein ganzes Netz von Spitzeln die Polizeipräfektur über fortschrittliche Arbeiter informieren würde. Die Spitzel würden beispielsweise Cafés beobachten, ob sich dort Arbeitslose einfänden und »miserablen Kaffee« tränken, »der oftmals von ihren Freunden bezahlt wurde«, was angeblich dazu führen konnte, dass sie ihre Wohlfahrtsunterstützung verloren.118 Ausländische Arbeiter mussten besonders auf der Hut sein, da ihnen schnell die Abschiebung drohte. So warnte die Voix du Peuple vor einem gewissen Spanier namens Fernando Martès, der ebenfalls in Vénissieux lebte, sich dort »revolutionären Organisationen« anschloss, dann aber »nicht zö-

114 L’Avenir Socialiste, 3.12.1932. Nur eine weitere Versammlung endete mit Gewalt, als Anarchisten im März 1928 eine Saalschlacht auszulösen versuchten, indem sie in die Menge schossen, Le Travail, 17.3.1928. 115 L’Avenir Socialiste, 10.12.1932. 116 Überraschenderweise ließen sich keinerlei Polizeiberichte zu gewaltsamen Zusammen­ stößen zwischen den beiden Fraktionen finden. Ob es sich hierbei einfach um eine Lücke in den Archiven handelt, kann nicht gessagt werden. 117 Interessanterweise finden sich keine Belege für Denunziationen in den staatlichen Archiven, aber auch dies mag an Archivierungspraktiken liegen. Kommunistische Zeitungen sind selbstverständlich nicht die ideale Quelle für Denunziationen. 118 La Voix du Peuple, 7.1.1933.

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gerte, seine spanischen Landsleute zu denunzieren, die daraufhin ihre Papiere erhielten.«119 Auch Arbeitgeber griffen auf die Dienste von Spitzeln zurück, so das kommunistische Blatt. Berliet, ein Autofabrikant, habe beispielsweise seine Arbeiter aufgefordert eine Protestnote gegen eine neue Autosteuer zu unterschreiben. Arbeiter, die sich dem verweigerten, mussten damit rechnen, von Spitzeln bei ihrem Chef gemeldet zu werden.120 In Ermangelung weiterer Quellen ist es unmöglich, die Auswirkungen solcher Denunziationen einzuschätzen. Vermutlich dürfte die Spitzelangst auch in Lyon eher zu Misstrauen geführt haben. Allerdings spielten Spitzel und Denunziationen in der Berichterstattung sowohl der sozialistischen als auch der kommunistischen Presse grundsätzlich keine große Rolle, was andeutet, dass sie kein besonders großes Problem darstellten. Im Vergleich mit Leipzig sticht vor allem ins Auge, dass sich Sozialisten und Kommunisten gegenseitig nicht denunziert zu haben scheinen; jedenfalls lassen sich keine Beispiele hierfür in den Quellen finden. Vermutlich trug einerseits das viel geringere Konfliktniveau in Lyon zu dieser Absenz von Denunziationen bei, andererseits aber auch, dass Sozialisten in Lyon eine größere Distanz zum Staat und zur Polizei hatten als Sozialdemokraten in Leipzig. Eine sozialistische Polizeiführung war in Lyon jedenfalls kaum denkbar. In Lyon ließen sich auch kaum Belege für sich als Sozialisten ausgebende Kommunisten finden, eine unter Leipziger Kommunisten immer wieder vorkommende Praxis, die extrem negative Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen beiden Parteien an der Basis hatte. Nur einmal, im März 1933, warnte der Avenir Socialiste seine Leserschaft vor »Bürgern«, die auf Versammlungen des Comité d’Amsterdam-Pleyel, einer kommunistisch dominierten Antikriegsbewegung, behaupteten, »im Namen der sozialistischen Partei zu sprechen«. Demgegenüber stellte das Blatt klar, dass »niemand in der Fédération [d. h. der regionalen Gliederung der Partei] autorisiert ist, auf Versammlungen dieses Komitees im Namen der sozialistischen Partei zu sprechen.«121 Eine Woche später zitierte die Voix du Peuple diesbezüglich ausführlich aus ihrem sozialistischen Konkurrenzblatt und schloss: »Die Sache liegt klar auf der Hand. Sozialistischen Arbeitern, die mit Arbeitern aller Richtungen gegen den Krieg kämpfen wollen, werden Sanktionen angedroht.«122 Es bleibt unklar, ob einige Sozialisten auf diesen Versammlungen wirklich ihm Namen ihrer Partei gesprochen hatten, oder ob es sich dabei nur um Kommunisten gehandelt hatte, die sich als Sozialisten ausgaben  – unwahrscheinlich scheint dies, angesichts der in Leipzig verbreiteten Praktiken, nicht zu sein. Auch in Lyon bedienten 119 La Voix du Peuple, 6.7.1933. Martès ist ein erfundener Name. 120 La Voix du Peuple, 4.2.1933. 121 L’Avenir Socialiste, 25.3.1933. 122 La Voix du Peuple, 1.4.1933. Laut Wirsching, Weltkrieg, S. 557, beteiligten sich etwa 8.000 französische Sozialisten an der Amsterdam-Pleyel-Bewegung, worin er einen Beleg für die relativ geringe Distanz zwischen Sozialisten und Kommunisten in Frankreich sieht.

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sich Kommunisten angeblich unabhängiger »Massenorganisationen«, wie die ­Association Républicaine des Anciens Combattants (ARAC), um unter sozialistischen oder autonomen Arbeitern zu agitieren. »Natürlich wird all diese Arbeit [unter autonomen Arbeitern] in organisatorischer Hinsicht von der ARAC geleistet, ist aber von uns geleitet und kontrolliert«, hieß es in einem internen Parteibericht der Kommunistischen Partei.123 Die Quellenlage erlaubt leider keine weiteren Schlussfolgerungen über die Auswirkungen solcher Taktiken in Lyon. Die Leipziger Erfahrung zeigt jedoch, dass sie zumindest das Potential hatten, massives Misstrauen innerhalb des linken Arbeitermilieus zu stiften. Allerdings scheinen solche Praktiken nur eine vergleichsweise geringe Rolle in Lyon gespielt zu haben. Auf der anderen Seite gab es auch Situationen, in denen Sozialisten ihre Solidarität mit Kommunisten bekundeten. Im November 1933 wurden beispielsweise Luftabwehrübungen in den Fabriken Lyons abgehalten, was auf den Wider­stand sowohl der Sozialistischen wie auch der Kommunistischen Partei stieß. Insgesamt verlief die Übung reibungslos, nur in den städtischen Schlachthäusern war es einer aktiven kommunistischen Zelle gelungen, die Übungen zu sabotieren, woraufhin Lyons Bürgermeister Herriot, eine Ikone der Parti Ra­ dical, für die Entlassung von zehn Arbeitern sorgte, die für den Vorfall ver­ antwortlich gemacht wurden. Dass die Voix du Peuple hiergegen empört pro­ testierte, überrascht nicht. Dass allerdings auch die Sozialistische Partei im Avenir Socialiste nach anfänglichem Zögern eine Amnestie verlangte, belegt, dass eine Verständigung auf lokaler Ebene zwischen beiden Parteien möglich war, wenn es gegen Militarismus und Repressionen ging. Eine solche Unterstützung für Kommunisten seitens der Sozialdemokratie wäre in Leipzig kaum vorstellbar gewesen.124 Intern sah sich die Kommunistische Partei in Lyon vielen Problemen ausgesetzt, die denjenigen ihrer Genossen in Leipzig ähnelten.125 Regelmäßig klagte die Parteiführung über die ungenügende Arbeit lokaler Kommunisten. Im Februar 1930 sollte beispielsweise eine regionale Parteischulung in Lyon stattfinden.126 Allerdings war die Vorbereitung seitens der Kommunisten in Lyon vollkommen unzureichend, beschwerte sich der Instrukteur. Die Schüler waren schlecht ausgewählt und offenbarten zahlreiche Defizite. »Diese Vorbereitungen brachten die absolute Unkenntnis in Sachen Massenarbeit zutage, ein vollständiges Fehlen jeglicher Verbindungen mit den Massen, und eine Unfähig123 AD SSD 3 Mi 6/83 Séquence 557, Brief vom 20.6.1932. 124 La Voix du Peuple, 2.12.1933, L’Avenir Socialiste, 16.12.1933, 27.1.1934; Moissonnier, Bd. 1, S. 213 f. 125 Auch die SFIO wurde durch interne Spaltungen erschüttert, Moissonnier, Bd. 1, S. 215–218. Es ist bezeichnend, dass die Zeitung der SFIO, der Avenir Socialiste, 1935 nur noch monatlich erschien und im entscheidenden Jahr 1936 ganz verschwand. Leider verraten die Quellen keine weiteren Details. 126 Zu diesen Schulen Tartakowsky, Communistes, S. 120–137.

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keit, das Problem überhaupt anzugehen.«127 Ebenso wenig sei die Partei in Lyon in der Lage gewesen, unter konspirativen Bedingungen zu arbeiten. Sehr zum Ärger der Instrukteure hatten die Kommunisten vor Ort die Schulung öffentlich angekündigt und keinerlei Versuch unternommen, sie vor der Polizei zu verbergen, mit dem Ergebnis, dass die nach Lyon führenden Hauptverkehrsstraßen ebenso wie die Bahnhöfe unter strenger Polizeiüberwachung standen. Die Instrukteure verfügten daraufhin, dass die Parteischüler die erste Nacht in der Schule bleiben mussten und schickten die ausländischen Kursteilnehmer nach Hause, da das Risiko einer Abschiebung zu hoch war. Insgesamt, so hielt der Bericht fest, »entsprach diese Schulung ebenso wenig wie jene, die von der Bezirksleitung [direction régionale] vorbereitet worden war, den Zielvorstellungen der Parteiführung, lokale Kader und die Führungen wichtiger Zellen an strategisch zentralen Orten auszubilden und weiter zu schulen.«128 Einfache Parteimitglieder wie auch Aktivisten in der CGTU weigerten sich beharrlich, ähnlich wie in Leipzig, Anweisungen der Parteiführung zu befolgen. Im Juni 1930 klagte ein Bericht an das Zentralkomitee, dass »die Mehrheit unserer Gewerkschafter [syndicaux] Kader sind, die nicht über die gegenwärtige politische Situation nachdenken und definitiv gegen uns und unsere Methoden sind.«129 Auch Arbeitslose, die französische Kommunisten genauso wie jene in Deutschland zu agitieren versuchten, hörten nicht auf kommunistische Parolen, wie ein Bericht vom Februar 1932 vermerkte. »Wir werden mehr mit bedecktem Gesicht [visage couvert] arbeiten müssen. Unsere arbeitslosen Freunde wollen nicht länger passiv die Losungen [mots d’ordre] der Partei befolgen.«130 Der Vermerk ist in zweifacher Hinsicht bezeichnend. Zunächst deutet die Aufforderung, mit »verdecktem Gesicht« zu arbeiten an, dass auch in Lyon Täuschungsmanöver zumindest eine Option für Kommunisten darstellten. Zweitens zeigt das Zitat, welche Rolle Kommunisten ihren »arbeitslosen Freunden« zudachten. Sie sollten passiv die kommunistischen Anweisung befolgen; ihnen sollte allenfalls der Eindruck gegeben werden, selbstständig zu handeln, während die Partei de facto die führende Rolle übernahm. Aber was sollte man auch von einfachen Parteimitgliedern erwarten, wenn fast die gesamte lokale Parteiführung, zumindest aus der Perspektive der Parteizentrale, inaktiv blieb? Mit der Ausnahme von Dupain, so hieß es im November 1931, machte niemand in der Bezirksleitung seine Arbeit. »Die Mitglieder der Bezirksleitung [Bureau Régional] fühlen sich für nichts verantwortlich, nur Dupain sieht man 127 Zur Parteischule AD SSD 3 Mi 6/68 Séquence 451. 128 AD SSD 3 Mi 6/68 Séquence 451. Ähnlich AD SSD 3 Mi 6/58 Séquence 398. Zur Unfähigkeit der Partei, sich auf die Illegalität vorzubereiten, AD SSD 3 Mi 6/53 Séquence 360, Brief vom Oktober 1929. 129 AD SSD 3 Mi 6/62 Séquence 412. Zu den Schwierigkeiten der PCF, ihre Parteilinie durchsetzen zu können, und dem verbreiteten Bestreben auch kommunistischer Gewerkschafter, sich eine gewisse Autonomie zu erhalten, Wirsching, Weltkrieg, S. 395–400. 130 AD SSD 3 Mi 6/83 Séquence 557.

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dort. […] Sehen die Genossen denn den Ernst der Lage nicht? Sie erfüllen keine ihrer Aufgaben. Das kommt beinahe der Sabotage gleich!«131 Manchmal konnte die Partei unerwartete Erfolge verbuchen, wie bei den Kommunalwahlen 1929, als die Partei zu ihrer eigenen Überraschung nicht an Stimmen verlor. Allerdings blieb dieser Einfluss oberflächlich, wie ein Parteibericht betonte, und führte nicht zu einer nachhaltigen Stärkung der Partei oder zu einem erhöhten Absatz der Parteipresse.132 In der Tat belegen interne Parteiberichte aus den frühen 1930er Jahren einen stetigen Mitgliederschwund ebenso wie finanzielle Schwierigkeiten der Partei. Zwischen 1929 und 1931 habe die CGTU in Lyon beispielsweise über 5.000 Mitglieder verloren, so dass sie nur noch 6.462 Mitglieder zählte. Im gleichen Zeitraum verlor die Partei selbst internen Berichten zufolge mehr als 35 % ihrer nur 700 Mitglieder.133 Die Partei bemühte sich, zumindest in ihrer Eigendarstellung, durchaus eindrucksvoll um Arbeiter. Allein, es brachte nichts. »Für den 1. August [1929, Antikriegstag] wurde ein guter Arbeiterkongress organisiert, es gab einen ausgezeichneten Agitationsplan und die richtigen Parolen. Dann kam der 1. August, und nichts oder fast nichts geschah. Für den 6. März [1930] sind die Arbeiter alarmiert, zwar wurde agitiert, aber es gab keinerlei Aktionen, mit Ausnahme einer Demonstration in St. Fons. Nichts in St. Etienne, nichts in Roanne, nichts in Lyon.«134 In zunehmendem Maße entwickeln diese Dokumente einen frustrierten Ton. »Trotz all dieser Fakten [Wirtschaftskrise und steigende Arbeitslosigkeit], trotz der Richtigkeit unserer Ansichten, und obwohl unsere Parolen der gegenwärtigen Situation vollkommen angemessen sind, konnten weder unsere Partei noch die Syndicats Unitaires irgendwelche Fortschritte dabei machen, bei den Massen einen Kampfgeist gegen den Krieg und für die Verteidigung der Sowjetunion zu entfachen«, klagte ein Bericht vom Februar 1932.135 Kommunisten meinten alles richtig zu machen, und doch folgten ihnen die Arbeiter nicht. Kommunisten versuchten mit ihrer Agitation insbesondere gesellschaftlich schlechter gestellte Gruppen anzusprechen  – Arbeitslose, Frauen, Ausländer. Doch auch hierbei trafen sie auf erhebliche Widerstände. Zwar versuchte die Voix du Peuple gezielt Arbeiterinnen zu agitieren, etwa indem sie Interviews mit Frauen über eine speziell »weibliche« Ausbeutung publizierte, aber diese Agitation scheint kaum Früchte getragen zu haben, wie ein Bericht 1929 vermerkt. Bezeichnenderweise entsandte die Partei um diese Schwierigkeiten zu überwinden keine Instrukteurin nach Lyon, sondern versuchte »einen männlichen Genossen zu finden, der aktiv genug ist um die regionale Frauensektion zu unterstützen und ernsthafte Anstrengungen unter den Arbeiterinnen der Textil-, 131 AD SSD 3 Mi 6/72 Séquence 486; AD SSD 3 Mi 6/83 Séquence 558. Dupain ist ein erfundener Name. 132 AD SSD 3 Mi 6/52 Séquence 360. 133 AD SSD 3 Mi 6/72 Séquence 486. Das Syndicat des Maçons Autonomes à Lyon hatte, wie der Bericht vermerkte, zwischen 4.000 und 5.000 Mitglieder. 134 AD SSD 3 Mi 6/62 Séquence 412, Brief vom 27.3.1930. 135 AD SSD 3 Mi 6/83 Séquence 557.

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Chemie- und Metallindustrie zu unternehmen.«136 Aller Propaganda für die Emanzipation der Frauen zum Trotz waren sie in den Augen der Kommunisten nicht in der Lage, selbst aktiv für den Kommunismus zu streiten, sondern bedurften männlicher Hilfe und Anleitung. Verglichen mit Leipzig scheinen sich Kommunisten in Lyon allerdings relativ wenig um weibliche Belange gekümmert zu haben. Stattdessen konzentrierten sie sich darauf, ausländische Arbeiter zu agitieren, in denen sie ein Reservoir für neue, aktive Mitglieder sahen. Angesichts der sich verschlimmernden Wirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre versuchte die politische Rechte Arbeiter anzusprechen, indem sie sich für den Schutz »französischer Arbeit« aussprach. Dieser ausländerfeindlichen Politik setzten Kommunisten die Parole entgegen, dass nicht die Nationalität, sondern die Klassenzugehörigkeit zählte.137 Beide Gruppen versuchten ins­besondere Arbeitslose anzusprechen. So wurden 1933 zwei Arbeitslosenausschüsse im Arbeitervorort Villeurbanne gegründet, ein nationalistisches Comité Français und eine kommunistisch dominierte Groupe de Vigilance, die sich für eine Einheitsfront französischer und ausländischer Arbeitsloser einsetzte.138 Der Voix du Peuple zufolge war das Comité des Chômeurs Français (es scheint einen anderen Namen angenommen zu haben) selbstverständlich von Kapitalisten organisiert, um französische Arbeiter gegen ihre ausländischen Kollegen aufzuhetzen. »Durch die Krise wird dieses Manöver noch dringlicher für die Bourgeoisie, damit die Arbeiter nicht sehen, wer wirklich für ihre Not verantwortlich ist: der Kapitalismus! Stattdessen sagt man ihnen: ›Es sind die Ausländer.‹ […] Es ist das gleiche wie in Deutschland, wo Hitler den Volkszorn, der den Kapitalismus bedrohte, der dort wie überall für die Krise verantwortlich ist, gegen die Juden gelenkt hat.«139 Um der (im Kern aus kommunistischer Sicht kapitalistischen) Gefahr des Faschismus entgegenzutreten, riefen Kommunisten zur internationalen Solidarität auf. Ganz in diesem Sinne protestierte die kommunistische Lehrergewerkschaft [Syndicat unitaire de l’enseignement laïque du Rhône] im Dezember 1932 dagegen, dass Kinder ausländischer Eltern in Villeurbanne mehr Geld für Schulessen bezahlen mussten. Dies sei nicht nur höchst ungerecht, waren doch alle Kinder gleich hungrig, sondern verstärkte 136 La Voix du Peuple, 23.12.1933. Zum internen Parteibericht, AD SSD 3 Mi 6/52 Séquence 360. 137 Grundsätzlich Lewis, S. 118–154. Allerdings war die kommunistische Position komplizierter als bei Lewis dargestellt. Sie verlangten gleichen Lohn für französische und ausländische Arbeiter und forderten diese auf, sich gewerkschaftlich zu organisieren, was sie allerdings ihres einzigen Vorteils gegenüber französischen Arbeitern beraubt hätte und also praktisch gesehen einer Forderung zugunsten französischer Arbeiter gleichkam. Ob dies allerdings das Ziel der Kommunisten war, ist eine andere Frage. Insbesondere in den Versuchen, ausländische Arbeiter zu organisieren, zeigt sich ernst gemeinter kommunistischer Internationalismus. 138 La Voix du Peuple, 11.3.1933. 139 La Voix du Peuple, 11.11.1933; ähnlich 18.11.1933, wo gegen die Behauptung argumentiert wird, spanische Arbeiter seien an der hohen Arbeitslosigkeit Schuld.

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auch die Gegensätze zwischen französischen und ausländischen Schülern, und dies zu einer Zeit, in der alle gemeinsam gegen die Not arbeiten müssten. Für Kommunisten war dies natürlich auch eine gute Gelegenheit, den sozialistischen Bürgermeister von Villeurbanne, Goujon, anzugreifen.140 Ausländische Arbeiter einzubinden war insbesondere bei Arbeitskonflikten von zentraler Bedeutung. Sie müssten, so die kommunistische Propaganda, gemeinsam mit ihren französischen Kollegen gegen den Kapitalismus kämpfen. So richtet der Travail im Januar 1930 einen Appell an die »fremdsprachigen Genossen Limonadenmacher, Gastwirte und Köche«, in dem es hieß: »Die Unternehmer schlagen aus eurer schwierigen Lage als ausländische Arbeiter Kapital! Sie verweigern euch den wöchentlichen Ruhetag, auf den ihr ein Recht habt […]« Daher sei es dringend nötig, dass sich die ausländischen Arbeiter gewerkschaftlich organisierten.141 Anders als Arbeiter kannten Kapitalisten, so das kommunistische Blatt im Januar 1934, keine nationalen Unterschiede. Der Inhaber der Metallfabrik Eenberg, der selbst Ausländer war (auch wenn die Voix du Peuple seine Herkunft verschwieg) beispielsweise versuchte, seinen Arbeitern die Kosten für eine Steuer auf ausländische Arbeiter [taxe sur la main-d’œuvre ›étrangère‹] aufzubürden, wogegen diese protestierten. Daraufhin entließ ­Eenberg willkürlich zwei (ausländische) Arbeiter; ein kurzer Streik hiergegen resultierte in fünf weiteren Entlassungen, wobei die ausländischen Arbeiter sofort durch französische Arbeiter ersetzt worden seien. Als es auch hiergegen Proteste und einen Streik gab, rief Eenberg die Polizei zu Hilfe, die hart durchgriff, so die Voix du Peuple. Die Polizisten [flics] »entrissen den Arbeitern sogar die Flugblätter, die sie gerade eben erhalten hatten.« Wenn es darum ging, Kapitalisten zu schützen, unterschied die Polizei nicht zwischen Aus­ländern und Franzosen, schloss das Blatt. »Der Polizeikommissar von Staint-Fons versuchte auch die entlassenen Arbeiter, die zumeist Einwanderer waren, einzuschüchtern, indem er sie bei sich einbestellte. Wie immer befolgt die Polizei die Anweisungen von Kapitalisten, gleich ob sie französisch oder ausländisch sind, da sie weiß, dass es zwischen Kapitalisten keine nationalen oder rassistischen Vorurteile gibt. Diese taugen nur dazu, Arbeiter gegeneinander aufzuhetzen.«142 Neben Kapitalismus war der Faschismus ein weiterer Feind, gegen den französische und ausländische Arbeiter gemeinsam kämpfen sollten. Allerdings hatten französische Arbeiter, so die Voix du Peuple im Januar 1933, noch nicht verstanden, welche Gefahr ihnen vom Faschismus drohte. Italienische Arbeiter konnten hier als Vorbild fungieren, hatten sie doch für eine lange Zeit ohne die Unterstützung ihrer französischen Genossen gegen den Faschismus gekämpft. Dies hatte sich erst am 6. November 1932 geändert, als französische Arbeiter italienische Antifaschisten auf einer Demonstration gegen »Faschisten« unterstützten. »Der 6.  November muss als Beispiel dienen. Französische und 140 La Voix du Peuple, Dezember 1932. (Genaues Datum fehlt auf der Zeitung.) 141 Le Travail, 11.1.1930. 142 La Voix du Peuple, 6.1.1934.

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eingewanderte Arbeiter müssen sich noch mehr zusammenschließen und gemeinsam gegen den ›capital-fascisme‹ aller Nationalitäten kämpfen.«143 Aber offenbar waren die französischen Arbeiter nicht besonders lernwillig, da sich die Voix du Peuple bereits im Juni 1933 erneut über die Passivität französischer Arbeiter im Kampf gegen den Faschismus beklagte. Demgegenüber pries das Blatt italienische Arbeiter, die einen faschistischen Spitzel in dem verarmten Arbeiterviertel Gerland, wo zahlreiche Italiener lebten, enttarnt hatten. »Wir haben unter dem Faschismus gelitten, der uns ins Exil getrieben hat, wir haben gesehen, mit welch barbarischen Mitteln die Banden Mussolinis die Macht ergriffen haben, wir wissen, dass gegenüber dieser Art von Leuten jede Schwäche ein schwerer Fehler ist. Lasst uns ohne Mitleid die gute, alte Methode anwenden: Auge für Auge, Zahn für Zahn«, zitierte das Blatt einen Italiener, um dann fortzufahren: »Ein großartiges Beispiel eines entschlossenen Kampfes für all jene, die immer noch glauben, der Faschismus würde uns verschonen, wenn wir nicht ernsthaft reagieren.«144 Aber nicht nur die französischen Arbeiter sollten von ihren italienischen Kollegen lernen. Umgekehrt hielt die Kommunistische Partei auch eine Lektion für italienische Genossen bereit. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen mit dem Cartel Autonome im Januar 1930 rief die Kommunistische Partei italienische Arbeiter auf, sich der kommunistischen Maurergewerkschaft [Syndicat unitaires des maçons] anzuschließen, schließlich »wissen die italienischen Arbeiter, die eine erfahrungsreiche gewerkschaftliche Tradition haben, dass einer der wichtigsten Gründe für das Erstarken des Faschismus in Italien darin lag, dass die italienische CGT, die mehr als zwei Millionen Mitglieder zählte, von Männern wie den gegenwärtigen Führern des Syndicat autonomes des maçons et aides de Lyon geführt wurde.« Aus diesem historischen Fehler sollten sie lernen und sich daher der kommunistischen Gewerkschaft anschließen.145 Es fällt schwer einzuschätzen, wie erfolgreich kommunistische Versuche, nationale Spaltungen in der Arbeiterklasse zu überwinden, waren. Kommunistische Zeitungen lobten zuweilen die Zusammenarbeit zwischen französischen und ausländischen Arbeitern, beklagten aber ebenso oft, dass diese zu wünschen übrig ließ. Intern gestanden sich Kommunisten ein, dass ihre Bemühungen um ausländische Arbeiter alles andere als erfolgreich waren. »Die Anstrengungen, enge Verbindungen zwischen französischen und eingewanderten Arbeitern zu schaffen, sind ungenügend und unkoordiniert«, bemerkte ein Bericht aus dem Februar 1932.146 Polizeiberichte schließlich vermerken ebenfalls 143 La Voix du Peuple, 21.1.1933. Dabei scheinen Kommunisten die früheren Beispiele für eine antifaschistische Zusammenarbeit, die sie selbst gepriesen hatten, vergessen zu haben, etwa die gemeinsame Demonstration italienischer und französischer Arbeiter gegen die Anwesenheit einer italienischen Fußballmannschaft, die als faschistische Provokation aufgefasst wurde, Le Travail, 4.1.1930. 144 La Voix du Peuple, 24.6.1933. 145 Le Travail, 25.1.1930. 146 AD SSD 3/Mi 6/83 Séquence 557.

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zuweilen, dass sich ausländische Arbeiter an Streiks oder Demonstrationen beteiligten, aber eine Quantifizierung dieser Angaben ist unmöglich. Diese unterschiedlichen Quellen gegeneinander abzuwägen ist ein schwieriges Unterfangen. Insgesamt scheinen sich Kommunisten sehr bemüht zu haben, waren aber selbst, wie so oft, mit den Ergebnissen ihrer Bemühungen unzufrieden.147 In Leipzig stand die politische Kontrolle »ihrer« Arbeiterviertel und ihre Verteidigung gegen als Eindringlinge empfundene Nationalsozialisten im Zentrum kommunistischer Politik, wie das erste Kapitel gezeigt hat. In Lyon, wo es vor 1934 nur zu wenigen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und der radikalen Rechten kam, spielten Viertel keine große Rolle in der kommunistischen Praxis. Stattdessen konzentrierte sich kommunistische Politik, darin durchaus den Vorgaben von oben folgend, auf Fabriken und den Arbeitsplatz. Sowohl der Travail als auch die Voix du Peuple berichteten immer wieder ausführlich über Arbeitsbedingungen, Sicherheitsvorkehrungen am Arbeitsplatz oder die dortigen Hygieneeinrichtungen. In Leipzig nutzten Kommunisten solche Berichte um die reformistischen Gewerkschaften wegen ihrer angeblichen Untätigkeit diesbezüglich anzugreifen. Solche Angriffe spielten in Lyon nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen wurden die Auswirkungen der »Rationalisierungen« kritisiert. Im November 1932 berichtete die Voix du Peuple über Gerüchte, denen zufolge eine Angestellte eines jüngst eröffneten Prisunic Geschäfts die Treppen hinunter gefallen und kurz darauf an den dabei erlittenen Verletzungen gestorben war. Das kommunistische Blatt sah hierin eine Folge des großen Arbeitsdrucks, unter dem Angestellte litten. »Auf der anderen Seite sollen Angestellte unbezahlte Überstunden leisten. Von halb acht früh bis acht Uhr abends müssen sie ohne längere Pause arbeiten, so dass sie ihr Mittagsessen am Arbeitsplatz essen.« Um gegen solche Arbeitsbedingungen zu kämpfen und ihre Rechte zu verteidigen, sollten sich Arbeiter und Angestellte gewerkschaftlich organisieren.148 Wichtiger noch als über Arbeitsbedingungen zu berichten, war die Agitation am Arbeitsplatz selbst. Hier sollten Kommunisten Verbindungen mit den Massen knüpfen, insbesondere in den riesigen, modernen Metall- und Chemiefabriken. Allerdings stießen Kommunisten hierbei auf große Schwierigkeiten. Einigermaßen stereotyp bemerkte ein Parteibericht im Februar 1929 über die Bemühungen der Partei in Fabriken: »Die Sektion in Lyon ist besonders schwach in dieser Hinsicht. […] Es gibt kaum mehr Sympathisantenversammlungen.«149 Im Juli 1930 notierte ein weiterer Bericht, die Partei habe keine Verbindung zu den Massen. Aus einer statistischen Analyse der Parteikader schloss der Bericht, dass »die Partei ihre Basis in der öffentlichen Verwaltung [l’Administration] hat, und nicht in Fabriken, Minen, oder auf dem Bau«, wo sie gemäß ihrer 147 Zu ausländischen Arbeitern in der Arbeiterbewegung Lyons, sowohl in der CGTU als auch im Cartel Autonome, Lewis, S. 46–48. 148 La Voix du Peuple, 12.11.1932. 149 AD SSD 3 Mi 6/52 Séquence 360.

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eigenen Theorie stark sein sollte. Berichte aus einzelnen Gewerben bestätigten dieses Bild. »Metallgewerbe: Nichts, oder beinahe nichts in Lyon und den dortigen großen Metallfabriken. […] Das gleiche Bild im Textilgewerbe: Nichts in den großen Textilfabriken Lyons. […] Das Baugewerbe hat unter einem starken Rückgang gelitten.« Nur eine Betriebszelle bei der örtlichen Straßenbahn war erfolgreicher. Aber auch diese Zelle schuf der Kommunistischen Partei Probleme, wie zum Ende des Kapitels zu sehen sein wird. Gelang es Kommunisten einmal, in einer Gewerkschaft die Vorherrschaft an sich zu reißen, so entfremdeten sie die Arbeiter schnell wieder. »Wir hatten eine führende Position in der Kraftfahrergewerkschaft Lyons errungen. Die Parteigenossen unter ihnen hatten eine Meinungsverschiedenheit mit der Parteimehrheit. Sie wurden aus der Partei ausgeschlossen, ohne dass es eine Erklärung an der Basis gegeben hätte. Da die Arbeiter dies nicht verstanden, verloren sie ihr Vertrauen [­confiance] in die Gewerkschaftsführung und gingen zu den Autonomes.«150 Das Zitat zeigt, wie sehr Kommunisten auch in Lyon auf das Vertrauen der Arbeiter angewiesen waren. Ohne entsprechende Kommunikation verloren Arbeiter dieses und wandten sich von den Kommunisten ab; ohne Vertrauen konnte die Partei keine Verbindungen mit den Massen aufbauen. Worum es bei diesem »Vertrauen« genau ging, bleibt wie so oft unausgeführt. Es kann nur spekuliert werden, dass die Arbeiter, die der Kommunistischen Partei den Rücken zuwandten, fürchteten, nicht über deren wahre Ziele und Motive informiert zu sein. Gerade deshalb wäre eine transparente Kommunikation so wichtig gewesen. So aber waren die Entscheidungen der Partei undurchschaubar und daher auch unvorhersehbar, weshalb die Partei als nicht vertrauenswürdig angesehen wurde. Um die organisatorische Schwäche in den Betrieben zu überwinden, erstellte die Kommunistische Partei in Lyon, ebenso wie ihre Genossen in Leipzig, zahlreiche Arbeitspläne mit detaillierten Vorgaben, etwa welcher Funktio­ när wie viele neue Parteimitglieder in welcher Fabrik anwerben sollte, deren Umsetzung aber ebenso oft wie in Leipzig scheiterte.151 Einer der wenigen Betriebe, in dem es den Kommunisten gelang, eine relativ starke Machtbasis aufzubauen, waren die öffentlichen Nahverkehrsbetriebe Omnibus et Tramways de Lyon (OTL). Die kommunistischen Aktivitäten dort können als Beispiel dafür dienen, wie Kommunisten versuchten, Arbeiter während Streiks zu radikalisieren, und wie sie dabei scheiterten. Das im Folgenden diskutierte Beispiel erlaubt schließlich auch, kommunistische Streikpraktiken, in deren Mittelpunkt die angebliche »politische Bedeutung« eines Streiks stand, mit jenen des Cartels, das sich primär um die »unmittelbaren Interessen« der Arbeiter sorgte, zu kontrastieren. 150 Alle Zitate aus AD SSS 3 Mi 6/62 Séquence 412. Ähnliche Beschwerden über mangelndes Engagement der Kommunisten finden sich beispielsweise in der Voix du Peuple, 7.1.1933. 151 AD SSD 3 Mi 6/62 Séquence 412. Dupain, ein relativ hochrangiger Funktionär in Lyon, sollte beispielsweise zwanzig neue Parteimitglieder bei Berliet rekrutieren.

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Im Herbst 1929 machte sich angesichts steigender Lebenshaltungskosten eine gewisse Unruhe unter den Angestellten und Arbeitern der OTL breit, so ein Bericht der Präfektur, die fürchtete, dass es deshalb zu Streiks kommen würde. Besonders eine Gruppe aktiver Kommunisten, die für Streiks warb, bereitete der Präfektur Sorgen, auch wenn die Kommunisten nur eine Minderheit re­ präsentierten. Zwar versuchten die Kommunisten auf einer Versammlung im Oktober ihre Kollegen zum Generalstreik anzustacheln, aber noch hoffte der Präfekt, dass »ein sofortiger Streik zweifelsohne verhindert werden kann, wenn die gegenwärtige Gewerkschaftsführung nicht von der kommunistischen Minorität vereinnahmt wird.«152 Und in der Tat beschloss die Versammlung, trotz der kommunistischen Agitation für einen Generalstreik, nach einer »hitzigen Debatte« nur einen eintägigen Proteststreik.153 Bis es zu diesem Streik kam, dauerte es allerdings eine Weile. Währenddessen wurden einerseits die Stundenlöhne um 1 fr. 15 gesenkt, andererseits setzten Kommunisten ihre Agitation für eine größere Streikbewegung fort. Der Streikaufruf erfolgte schließlich am 2.  November 1929. Die Entscheidung über den genauen Termin war allein dem Gewerkschaftssekretär überlassen worden, um der Betriebsführung keine Möglichkeit zu geben, sich auf den Streik vorzubereiten. Die Geheimhaltung hatte offenbar funktioniert, weshalb alle, auch die Arbeiter selbst, von dem Streikaufruf überrascht wurden. Ganze fünfzehn Minuten vor Beginn des Arbeitstages wurden die Arbeiter informiert, dass um 16 Uhr alle Fahrzeuge, Busse und Straßenbahnen, in die Depots zurückkehren sollten. Die Anweisung wurde durchgehend befolgt, so dass der Streik ein Erfolg war und ohne Zwischenfälle verlief, wie der Präfekt notierte. Die kommunistische Fraktion kritisierte diesen »beschränkten Streik« [grève limitée] mit deutlichen Worten. Einerseits habe er gezeigt, dass die Arbeiter bei der OTL bereit zum Arbeitskampf seien. Wer daran gezweifelt hatte, sei eindrucksvoll widerlegt worden. »Es war eine großartige Bewegung was ihre Breite und Disziplin anging«, schrieb die kommunistische Tribune des Tramways.154 Gleichwohl, sie war es »trotz der überaus schlechten Bedingungen, unter denen der Streik ausgerufen wurde, und der Sabotage der Gewerkschaftsführung, die versuchte, die Auswirkungen des Streiks möglichst gering zu halten.« Anstatt den Kampf zu organisieren und in den Depots Versammlungen abzuhalten, setzte die Gewerkschaftsleitung ihre Gespräche mit der Betriebsleitung fort, als wäre nichts passiert. Während der letzten Verhandlung hatte diese angeboten, die Löhne um 1 fr. pro Stunde zu erhöhen, was nicht einmal die vorangegangene Lohnsenkung rückgängig gemacht hätte. »Was macht die Gewerkschaftsführung? Sie beschließt, eine weitere Generalversammlung abzuhalten, um den Angestellten diesen Vorschlag zu unterbreiten. Anstatt zu kämpfen, weicht sie zurück. Der erste Verrat.« Anstatt das Angebot überhaupt zu diskutieren, hätte 152 Alle Zitate für 1929 aus ADR 10/M/465. 153 ADR 10/M/465. 154 La Tribune de Tramway, 9.11.1929. Ein Exemplar der Zeitung findet sich in ADR 10/M/465.

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die Streikleitung eine Versammlung einberufen sollen, um die nächsten Schritte in der Auseinandersetzung zu planen. Da sie aber eine wachsende Wut unter den Angestellten spürte, beschloss die Streikleitung im letzten Moment, die Versammlung abzusagen und rief stattdessen zum Streik am 2. November auf. Da es sich bei dem Tag aber um einen Samstag handelte, war das Verkehrsaufkommen ohnehin gering, zumal Fabrikarbeiter nicht zur Arbeit fahren mussten. Die Auswirkungen des Streiks waren daher begrenzt. »Es war eine unbedeutende Geste, die dem Betrieb in keiner Weise geschadet hat, dessen Einkünfte in etwa die gleichen blieben. Er [der Streik] fand von der Bevölkerung nahezu unbemerkt statt.« Stattdessen hätte es, wenn nicht schon einen unbeschränkten Streik [grève illimitée], so doch wenigstens einen vierundzwanzigstündigen Streik an einem Wochentag geben sollen, der eine wirkliche Bedrohung für die Betriebsleitung gewesen wäre. »Statt­ dessen eine kindische Streikbewegung. Zweiter Verrat.« Schließlich hatte die Streikleitung den Schaffnern erlaubt, die Fahrzeuge zu übernehmen, so dass zumindest einige von ihnen in Betrieb blieben. »Ist das nicht ein weiterer Verrat?« Vielmehr hätte sie die Angestellten dazu aufrufen sollen, »gnadenlos Jagd auf Gelbe und Streikbrecher zu machen«. So verkam der Streik zu einer »platonischen Geste«. In Anbetracht dieser Verrate forderten die Kommunisten die Arbeiter auf, ein unabhängiges Streikkomitee zu bilden, das den Kampf ohne oder gegen die Gewerkschaftsführung fortgeführt hätte. Die Forderungen der offenbar überaus aktiven kommunistischen Minderheit wurden allerdings nicht befolgt, so dass die Kommunisten versuchten, wenigstens ihre eigenen Gefolgsleute zu radikalisieren und sie zu Gewalt aufriefen, aber selbst hiermit hatten sie keinen Erfolg. Sowohl die Versuche der Kommunisten, den Streik zu radikalisieren, als auch ihr Scheitern hierbei waren typisch für kommunistische Politik am Arbeitsplatz. Im Dezember 1930 kam es zu einem weiteren Konflikt bei den Straßenbahnen. Etwa sechs Monate zuvor war der Arbeiter Moulin wegen »Gewalt gegen einen Vorarbeiter« entlassen worden. Um seine Wiedereinstellung zu erzwingen, trat die Belegschaft am 16. Dezember 1930 in den Streik. Allerdings gelang es der Betriebsleitung, eine erhebliche Anzahl von Fahrzeugen weiterhin im Einsatz zu behalten. Ursprünglich sollte der Streik nur 24 Stunden dauern, aber auf einer Versammlung am selbigen Tag entschieden etwa 2.000 Arbeiter, den Streik fortzusetzen. Am folgenden Tag begab sich eine Gruppe Delegierter zum Präfekten, um ihn darum zu bitten, sich für die Wiedereinstellung ­Moulins auszusprechen. In der Zwischenzeit hatte die Betriebsführung jedoch harte Maßnahmen ergriffen und wenigstens vierzig Arbeiter entlassen, während der Fahrbetrieb mit Hilfe von Schaffnern, die nicht streikten, aufrecht erhalten wurde. Einen Tag später, am 18. Dezember, brach der Streik erfolglos zusammen. Die Maßnahmen der Betriebsführung hatten den Streikwillen insbesondere der Unitaires gebrochen. Diese hatten sich ebenso wie die Kommunisten in dem Streikkomitee geweigert, so der Präfekt in seinem Bericht, den Anweisungen ihrer Partei, Gewalt gegen Streikbrecher und Fahrzeuge einzusetzen, zu folgen. 241 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

Diese internen Differenzen innerhalb der kommunistischen Partei verdienen eine genauere Betrachtung.155 Die kommunistische Parteiführung in Lyon war über das Verhalten ihrer Genossen im Streikkomitee naheliegenderweise verärgert. Mehrfach hatte Parteisekretär Dupain versucht, sie davon zu überzeugen, eine andere Taktik zu verfolgen.156 Anstatt nur mit einem vierundzwanzigstündigen Streik für die Wiedereinstellung Moulins zu kämpfen, sollten die Genossen weiterreichende Forderungen formulieren und sich auf einen längerfristigen Streik einstellen. Aber seine Forderungen blieben folgenlos, wie er in einem Bericht an die Parteizentrale in Paris klagte. Aus seiner Sicht hatte der Streik eine größere »politische Bedeutung«, da sowohl die Betriebsleitung als auch die Obrigkeit [­Pouvoirs publics] alles daran setzen würden, die Streikbewegung zu zerschlagen. Die Genossen bei der OTL waren aber nicht in der Lage, diese politische Bedeutung (die allerdings niemals konkretisiert wurde) des Streiks zu verstehen, und hofften stattdessen, dass die Obrigkeit zugunsten Moulins intervenieren würde. Daher gingen sie gemeinsam mit ihren reformistischen Kollegen zum Präfekten, um ihn um Unterstützung zu bitten, sehr zum Missfallen von Dupain. Die Unfähigkeit, die politische Bedeutung des Streiks zu verstehen, resultierte denn auch in einer fehlgeleiteten Strategie. Insbesondere verstanden es die Genossen nicht, den Streik zu radikalisieren und alle Kräfte zu mobilisieren. Vielmehr führten sie einen »Streik mit verschränkten Armen« [grève de bras croisé]. Weder gab es Streikposten, noch wurde auch nur der Versuch unternommen, die Schaffner davon abzuhalten, die Züge und Busse zu übernehmen. Der schlimmste und kaum zu verzeihende Fehler war allerdings gewesen, dass sich die Kommunisten im Gewerkschaftskomitee weigerten, den Anweisungen der Parteiführung Folge zu leisten. Zweimal war die kommunistische Fraktion zum Rapport bestellt worden, jedoch nicht erschienen; »man konnte fühlen, dass die Gewerkschaftsführung es ablehnte, mit der Partei in Kontakt zu sein. Wiederholte Aufrufe, mit den Verantwortlichen in der Partei die Lage und die notwendigen Maßnahmen zu besprechen, blieben unbeantwortet.«157 Die Partei hatte sogar eine Betriebszeitung hergestellt, aber das Gewerkschaftskomitee lehnte jede Einmischung der Partei ab und weigerte sich, die Zeitung zu verteilen. Selbstverständlich mussten die Kommunisten im Gewerkschaftskomitee im Nachhinein einen selbstkritischen Bericht schreiben und zugeben, sie hätten die politische Bedeutung des Streiks nicht erfasst. An dem Ausgang des Streiks änderte dieses Ritual allerdings nichts. Auch wenn die Quellendichte zu diesem Fall einmalig ist, so ist er doch exemplarisch für kommunistische Taktiken und ihr Scheitern. Entscheidend ist dabei die von Dupain so sehr betonte politische Bedeutung des Streiks, die seine 155 ADR 10/M/466. Warum der Streik erst sechs Monate nach der Entlassung stattfand, bleibt unklar. 156 Zur internen Dokumentation der PCF, AD SSD, 3 Mi 6/62 Séquence 412. 157 AD SSD, 3 Mi 6/62 Séquence 412.

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Genossen nicht sahen oder sehen wollten. Sollte die Wiedereinstellung M ­ oulins im Vordergrund stehen – ein »direktes Interesse« der Arbeiter – oder hatte der Streik eine größere Bedeutung im Kampf der Arbeiterklasse gegen Kapital und Obrigkeit? Entgegen den Leitlinien der Parteiführung weigerten sich selbst die meisten Kommunisten im Betrieb, ihren Streik in diesem größeren, aber unspezifizierten politischen Kontext zu sehen. Hier deutet sich ein fundamentales Problem an, das die Kommunistischen Parteien sowohl in Lyon als auch in Leipzig hatten: Arbeiter wollten sich und »ihre« Streiks nicht von der Kommunistischen Partei für politische Ziele missbrauchen lassen, die nicht die ihren waren. Im September 1933 hatte die rechtsradikale Parti Social-National eine Versammlung im Rathaus [Mairie] des 6. Arrondissements in Lyon geplant, wo immer wieder politische Versammlungen aller Richtungen stattfanden.158 Zwar wurde die Versammlung in letzter Minute abgesagt, aber es hatten sich dennoch zwischen drei- und vierhundert Arbeiter aller gewerkschaftlichen und politischen Richtungen, wie sowohl der Effort als auch die Voix du Peuple schrieben, vor den Türen des Rathauses eingefunden, um gegen die Anhänger der Parti Social-National zu demonstrieren und zu zeigen, »dass das französische Proletariat noch nicht reif für eine solche Monstrosität ist.«159 Da sie die Türen des Rathauses geschlossen vorfanden, entschieden sich die Arbeiter eine eigene Versammlung in der Bourse du Travail abzuhalten. Leider hatte es deren Sekretariat versäumt, die verschiedenen Gewerkschaften zu benachrichtigen, wie der Effort kritisch anmerkte. Die Bourse du Travail, wo immerhin 84 Gewerkschaften aller Richtungen (CGT, CGTU, CGT-SR, Autonomes) ihren Sitz hatten, wäre perfekt dazu geeignet gewesen, den antifaschistischen Kampf zu organisieren. »Es ist die Aufgabe aller aktiven Gewerkschafter sich angesichts der drohenden Gefahr sofort und über alle internen Querelen hinweg zu organisieren. Die Ereignisse in Deutschland liegen noch nicht lange zurück und müssen uns eine Lehre sein,« schrieb der Effort.160 Alle auf der Versammlung Anwesenden stimmten darin überein, dass die Arbeiter im Kampf gegen den Faschismus ihre Differenzen hinter sich lassen und gemeinsam kämpfen müssten. 158 Vor diesem Ereignis kam es nur selten zu politischer Gewalt zwischen Linken und Rechten, so etwa in Oullins im April 1933, wo die »Camelote Royale« (sic) eine Versammlung abhielten. Allerdings erschienen nur etwa 40 Anhänger der Rechten, während sich mehrere hundert (linke) »Arbeiter« in und vor der Versammlungshalle einfanden. Als die Versammlung ohne die Wahl einer Versammlungsleitung beginnen sollte, begannen die Arbeiter »aller Richtungen« die Internationale zu singen. Es dauerte nicht lange, bis es zu Schlägereien kam. Die Voix du Peuple zog aus der Veranstaltung zwei Konsequenzen: erstens war es möglich, im Kampf gegen die »Faschisten« eine spontane Einheitsfront von Unten zu bilden, und zweitens müssten Schutzformationen (groupes d’auto-défense) geschaffen werden, La Voix du Peuple, 15.4.1933. 159 L’Effort, 23.9.1933. Weiterhin La Voix du Peuple, 30.9.1933. 160 L’Effort, 23.9.1933.

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Hier aber endete die Einigkeit. Der Effort bemerkte zustimmend, dass der sozialistische Redner Vacheron »der Zuhörerschaft erklärte, dass der Kampf gegen den Faschismus am besten von den Gewerkschaften geführt wird. Politische Parteien kämpfen alle um die Macht, weshalb sie im Gegensatz zu Gewerkschaften eine nationale Politik verfolgen. Daher können die Gewerkschaften am besten für die Verteidigung der unmittelbaren Interessen der Arbeiter kämpfen. Schließlich bekämpfen wir den Faschismus am besten, indem wir die Gewerkschaften stärken, und nicht, indem wir sie zerstören.« Leider sahen die Kommunisten dies anders, so der Effort. Sie versuchten die Arbeiterbewegung [Mouvements ouvriers] für politische Ziele zu missbrauchen. Die Arbeiterbewegung hatte, in Vacherons Sicht, nichts mit politischen Parteien zu tun; in seinen Augen war sie vollkommen unpolitisch. Bemerkenswerterweise bedeutete dies, dass auch der Kampf gegen den »Faschismus« nicht politisch war. Kommunisten sahen dies anders. Eine Woche nach der Veröffentlichung im Effort antwortete die Voix du Peuple.161 Auch das kommunistische Blatt meinte, dass alle Arbeiter gemeinsam gegen den Faschismus kämpfen sollten, hatte jedoch eine andere Vorstellung davon, wie das geschehen sollte. Den Sozialisten Vacheron verspottend führte die Voix du Peuple aus, er habe zugegeben, dass seine Partei, die SFIO, nicht gegen den Faschismus kämpfe. Kommunisten hingegen stritten mutig gegen den Faschismus, wie das Beispiel der deutschen Genossen zeige. Wichtiger war jedoch, was der kommunistische Redner Rocher über die Rolle der Gewerkschaften zu sagen hatte. Selbstverständlich sollten sie gegen den Faschismus kämpfen, proklamierte Rocher, »aber unter der Bedingung, dass sie sich auf den Boden des Klassenkampfes stellen, das heißt, dass sie mit der Partei des Proletariats, der Kommunistischen Partei, zusammenarbeiten.« Aus kommunistischer Perspektive war der Kampf gegen den Faschismus Teil des Klassenkampfes, bei dem es nicht zuletzt um die Macht im Staate ging. Damit war der Kampf gegen den Faschismus zutiefst politisch. Und hatten Kommunisten hier nicht in gewisser Weise Recht? Ging es nicht um mehr als um die Wiedereinstellung entlassener Arbeiter oder bessere Arbeitsbedingungen, jene »unmittelbaren Interessen« der Arbeiter? Oblag es daher nicht politischen Parteien, den Kampf gegen den Faschismus zu führen, kämpfte dieser doch auch um die Macht im Staate? In der Tat sah sich die Arbeiterbewegung, wie im folgenden Kapitel zu zeigen sein wird, einer neuen, politischen Bedrohung gegenüber, auf die nicht das anti-politische Cartel, sondern die Kommunistische Partei die überzeugendere Antwort hatte. In den nächsten fünf Jahren, bis zum spektakulär gescheiterten Bauarbeiterstreik im Herbst 1938, geschah etwas Paradoxes. Einerseits gelangen den Kommunisten überwältigende Erfolge, im Zuge derer sie auch die Macht in der vormals autonomen Bauarbeitergewerkschaft übernehmen konnten. Bei dieser »Erfolgsgeschichte«, die Gegenstand des nächsten Kapitels sein wird, spielte Politik eine entscheidende Rolle. Vormalig unorganisierte und inaktive, wenn 161 La Voix du Peuple, 30.9.1933.

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nicht gar sich einander feindlich gesonnene Arbeiter konnten unter der politischen Fahne des Antifaschismus mobilisiert werden. Andererseits zerstörte dieser Prozess der Politisierung auch die Grundlage des vormals starken Bauarbeitermilieus, wie im abschließenden sechsten Kapitel zu zeigen sein wird. Im Streik 1938 ging es nicht mehr um die »unmittelbaren Interessen« der Arbeiter, sondern um nationale Politik. Für den Verlauf des Streiks 1938 hatte dies fatale Folgen.

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5. Krise und Aufstieg der Volksfront Am 6.  Februar 1934 fand eine Großdemonstration der rechtsextremen Ligen in Paris statt. Als der Demonstrationszug den Place de la Concorde nahe der Nationalversammlung erreichte, eskalierte die Situation. Demonstranten griffen die Polizei an, die daraufhin in die Menge schoss. Am Ende des Tages waren fünfzehn Menschen getötet, Hunderte verletzt, und etwa tausend verhaftet worden. Parallel zur Demonstration, die nur die letzte in einer ganzen Reihe von rechten Demonstrationen seit dem Januar 1934 im Kontext des Betrugsskandals um Alexandre Stavisky war, stellte Premierminister Edouard Daladier, Mitglied der Parti Radical, sein neu gebildetes Kabinett dem Parlament vor. Das Ziel der Demonstration blieb vage – Karl Harr zufolge wollten die Demonstranten die Abgeordneten einfach in die Seine werfen, was sie auch beinahe erreicht hätten.1 Auf die Gewalt reagierend trat Daladier bereits am nächsten Tag zurück.2 Aus Sicht der linken Arbeiterbewegung stellten die Ausschreitungen einen faschistischen Putschversuch dar, auf den sie schnell und energisch antwortete. Nur drei Tage später veranstalteten Kommunisten eine Demonstration in ­Paris, die ebenfalls in Ausschreitungen mit Toten endete.3 Die Sozialisten hatten für den 12. Februar zu einem landesweiten Generalstreik und Protestmarsch auf­ gerufen, dem sich Kommunisten erst in letzter Minute anschlossen. In P ­ aris fanden zwei Demonstrationen, eine sozialistische und eine kommunistische, statt, in ganz Frankreich zahlreiche weitere.4 Léon Blum, damals Vorsitzender der Sozialistischen Partei, erinnerte sich 1950 an den Moment, in dem die beiden Züge aufeinander trafen: Ich lief in der ersten Reihe. Der Abstand zwischen den beiden Zügen verkleinerte sich von Sekunde zu Sekunde. Wir alle befürchteten das gleiche: würde das Aufeinandertreffen der beiden Züge in einer Auseinandersetzung münden? Würde der journée zu einem Konflikt zwischen den beiden Fraktionen der Pariser Arbeiterschaft ausarten? […] Nun standen sich die beiden Züge Angesicht zu Angesicht gegenüber, und von allen Seiten erschallte der gleiche Ruf: Einheit. […] Die Leute schüttelten sich 1 Harr, S. 96. 2 Zur Demonstration der Ligen jüngst Millington. Dort auch weitere Literatur. 3 Die in der Forschung angegebene Anzahl an Toten variiert. Jackson, Popular Front, S. 5, zählt sechs Tote, ebenso wie die kommunistische Zeitung l’Humanité; Wolikow, S. 66, und Monier, S. 18, zählen jeweils vier Tote, Brunet, Front populaire, S. 13, und Kergoat, S. 40, zählen jeweils neun Tote. 4 Zu den Demonstrationen in der Provinz, Prost, Manifestations; allgemein Tartakowsky, Mani­festations, Kap. 11 u. 12. Ihr zufolge, S. 309, kam es nur relativ selten zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen rechten und linken Demonstranten.

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die Hände. Die Spitzen der Züge vermischten sich. Es war keine Auseinandersetzung, es war eine Verbrüderungsszene. Der Wille des Volkes hatte im Sturm die Aktionseinheit der Arbeiterklasse durchgesetzt.5

Andere Demonstrationsteilnehmer beschrieben ähnliche Befürchtungen, betonten aber, dass »das Aufeinandertreffen zur Überraschung der Partei- und Gewerkschaftsbosse einen wahnsinnigen Enthusiasmus hervorrief, eine Explo­ sion an Freudenrufen. Applaus, Sprechchöre, die ›Einheit, Einheit‹ forderten. Vor unseren Augen war gerade die Volksfront geboren worden.«6 In der Historiographie werden die Demonstrationen am 12.  Februar 1934 mithin zurecht als Geburtsstunde der Volksfront betrachtet.7 Die Ereignisse markierten den Höhepunkt der (politischen) Krise Frankreichs zu Beginn der 1930er Jahre. Vielen schien es, als wäre die Republik von Rechts bedroht. Die Volksfront, eine »antifaschistische Bewegung«, so Julian Jackson, war Antwort auf diese Bedrohung.8 Auch in Lyon war es im Verlauf des Januar 1934 zu Demonstrationen der rechten Ligen gekommen.9 Am Abend des 6. Februar hatten sich Anhänger der Jeunesses Patriotes und der Camelots du Roi im Zentrum Lyons vor dem Sitz der republikanischen Zeitung Le Progrès versammelt. Einige Stunden blieb es ruhig, aber gegen zehn Uhr abends erschien eine linke Demonstration, was zu Ausschreitungen zwischen beiden Gruppen führte. Am nächsten Tag fand eine weitere linke Demonstration in der zentral gelegenen Rue de la République statt, an der sich sowohl zahlreiche Kommunisten als auch autonome Bauarbeiter und der Führer der reformistischen CGT, Marius Vivier-Merle, beteiligten. Im Moment einer politischen Bedrohung schlossen sich einst feindlich gesonnene Arbeiter zusammen. Auf der anderen Seite der Sâone marschierten die Ligen mit der Forderung, die Abgeordneten zu hängen [les députés à la laterne!], worauf die Arbeiterdemonstration mit »Vive les Soviets!« antwortete.10 Auch diese Aufzüge endeten mit Zusammenstößen mit der Polizei, ebenso wie diejenigen am folgenden Tag. Am Abend des 9. Februar hielt die Kommunistische Partei eine Versammlung ab, auf der unter anderem die Auflösung der rechten Ligen gefordert wurde, wobei zahlreiche autonome und unorganisierte Arbeiter anwesend waren, was das unter dem Eindruck der Ereignisse gewachsene Mobilisierungspotential der Kommunistischen Partei belegt. Nach Beendigung der

5 Léon Blum, in: Le Populaire, 12.2.1950, zitiert in Jackson, Popular Front, S. 5. 6 Lucie Mazauric, zitiert in Jackson, Popular Front, S. 5 f. Jackson selbst zitiert aus Lottman. 7 Jackson, Popular Front, S. 1 f., 5; Monier, S. 17 ff. 8 Zur Krise Borne u. Dubief; Bernard u. Dubief. Zur Volksfront als antifaschistische Be­ wegung etwa Jackson, Popular Front, S. 46; Wolikow. 9 Zu den Ereignissen im Januar und Februar 1934 in Lyon Fauvet-Messat, S. 73–87. 10 Moissonnier, Bd. 1, S. 226 f. Weiterhin ADR 4/M/235, und 10/M/470, CGTU – Organisation d’une grève générale à la fin du mois de Mars; Lyon Républicain, 8.2–12.21934, La Voix du Peuple, 10.2.1934, 17.2.1934, und L’Avenir Socialiste, 10.2.1934, 17.2.1934.

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Versammlung kam es zu einem weiteren Protestzug, der erneut von der Polizei angegriffen wurde.11 Die SFIO reagierte zurückhaltender. Einerseits lassen ihre Erklärungen erkennen, dass sich auch die Sozialisten der Dramatik der Ereignisse bewusst waren, betonten sie doch die Gefahr eines Staatsstreiches. Andererseits wirken die Erklärungen auch zögerlich, riefen sie doch ihre Anhänger nur dazu auf, den Kampf vorzubereiten, ansonsten aber die Anweisungen der Parteiführung abzuwarten, die »zu gegebener Zeit« bekannt gegeben würden.12 Während sich Kommunisten sowohl gegen die Republik als auch gegen den Faschismus wandten – »weder ›demokratische‹ Maschinengewehre, noch faschistische Revolver«, hieß es – riefen Sozialisten, die sich auf die historischen Kämpfe der Arbeiterklasse in Lyon, insbesondere der Canuts von 1831 und 1834 bezogen, sowohl die Arbeiterklasse als auch generell alle Republikaner zum Kampf für die Republik, Freiheit und gegen den Faschismus auf. Im Gegensatz zu den Kommunisten stellten sich die Sozialisten dezidiert in eine republikanische Tradition. Anders als in Paris fand in Lyon bereits am 11. Februar eine Demonstration mit etwa 25.000 Teilnehmern statt, einen Tag vor dem landesweiten Generalstreik, an dem sich auch die Arbeiter Lyons beteiligten. Wie der Lokalhistoriker Maurice Moissonnier betont, hatte die Demonstration »zwei unterschiedliche Antlitze«. Während Sozialisten am Beginn des Zuges marschierten und »Freiheit«, »Vierzig Stunden«, oder »Nieder mit dem Faschismus« riefen, liefen Kommunisten am Ende des Zuges und riefen vor allem »Les Soviets! Les Soviets!«; beide Gruppen sangen jedoch die Internationale. Am 12. Februar wurde dann das öffentliche Leben Lyons durch den Generalstreik, an dem sich Arbeiter aller politischen und gewerkschaftlichen Richtungen beteiligten, effektiv lahmgelegt. In Lyon selbst blieb die Situation relativ ruhig, aber im Arbeitervorort Villeurbanne kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, bei der Demonstranten die Polizei mit Steinen angriffen, so der offizielle Polizeibericht. Mehrere Polizisten und protestierende Arbeiter wurden teils schwer verletzt.13 Die wirtschaftliche wie auch politische Krise und der folgende Aufstieg der Volksfront in Lyon wird im Zentrum dieses Kapitels stehen. In einem ersten Schritt wird der Weg wenn nicht zur Einheit, so doch zu einer gewissen Verständigung innerhalb der Arbeiterbewegung in Lyon nachgezeichnet. Gegenüber in der Historiographie verbreiteten Argumentationsmustern, die ent­ weder auf Entscheidungen der Komintern in Moskau oder auf einen in Frankreich tief verwurzelten Republikanismus verweisen,14 soll hier die Bedeutung 11 Moissonnier, Bd. 1, S. 228. Er bezieht sich auf Interviews mit Hildebert Chaintreuil, einem vormaligen Führer des Cartel Autonome. Auch Passmore, Liberalism, S. 217 f. 12 Moissonnier, Bd. 1, S. 229. Zitate aus L’Avenir Socialiste, 10.2.1934; auch ADR 10/M/470. 13 ADR 4/M/235, und 10/M/470, sowie Moissonnier, Bd. 1, S. 230–236. 14 Zur ersten Position Bernard u. Dubief, S.  295, zur zweiten Jackson, Popular Front, S.  42; Nord, S. 253. Weitere Literaturverweise in der Einleitung.

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lokaler Mobilisationsdynamiken hervorgehoben werden. Diese Mobilisierung setzte ein, bevor in Moskau entsprechende Entschlüsse gefasst wurden, weshalb eine moskauzentrierte Perspektive fehlgehen würde. Republikanismus hingegen spielte zwar auch in Lyon eine wichtige Rolle, kann für sich jedoch nicht die ungeheure Mobilisierungsdynamik erklären. Um diese zu verstehen, soll hier der Blick nicht auf politische Ideen – den Republikanismus – sondern auf soziale und politische Praktiken gerichtet werden. Im Gegensatz zu Leipzig führten diese Praktiken zu einer Atmosphäre des Vertrauens zwischen Anhängern der SFIO und PCF an der Basis, eine der Voraussetzungen für eine Annäherung der beiden Lager. Über diese politische Annäherung hinaus, die im ersten Teil  dieses Kapitels diskutiert wird, kam es jedoch zu einem weiteren dramatischen Wandel, wie der dritte Teil  nach einem längeren Exkurs zur wirtschaftlichen Krise in Lyon zeigen wird. Während das Cartel Autonome du Bâtiment massiv an Einfluss verlor, wurde die Kommunistische Partei zur bestimmenden Kraft innerhalb der Arbeiterbewegung in Lyon, nicht zuletzt auch unter den Bauarbeitern. Hier zeigt sich die gestiegene Bedeutung von Politik. Der politische Kampf gegen die »faschistische« Bedrohung, organisiert von der Kommunistischen Partei, konnte im Moment der politischen Krise eine integrative Wirkung entfalten, die das Cartel nicht länger hatte. Diese politische Mobilisierung wiederum, die Arbeiter über Gewerbegrenzen und gewerkschaftliche Differenzen hinweg integrierte, ermöglichte die soziale Mobilisierung während der berühmten Sommerstreiks 1936, wie der abschließende Teil dieses Kapitels zeigen wird. Zwar wird man die PCF kaum direkt für den Ausbruch der Streiks verantwortlich machen können, wohl aber spielte sie indirekt eine entscheidende Rolle, da sie ein treibender Motor der politischen Mobilisierung im Vorfeld war. Gleichwohl, die Erfolge des Sommers 1936 währten nicht lange. Bereits während des Sommers wurden gleichsam die Grundlagen für den raschen Kollaps der Volksfront in den folgenden Jahren gelegt. Im Verlaufe der Volksfront kam es zu einer Gewichtsverschiebung hin zu Politik und Parteien, während der alte Syndikalismus an Bedeutung verlor. Für das hier vorgebrachte Argument ist diese Gewichtsverschiebung insofern zentral, als sie zu erklären hilft, warum sich vormalig so feindlich gesonnene Arbeiter nun zusammenschlossen. War es zuvor darum gegangen, wie soziale Konflikte geführt werden sollten, beziehungsweise welche Rolle Politik in ihnen spielen sollte, so ging es nun zweifelsohne gegen einen politischen Feind.15 Differenzen bezüglich der Organisierung von Streiks spielten in dieser Situation nur noch eine untergeordnete Rolle, während die Frage, wie der »Faschismus« bekämpft werden 15 Dieses Argument über die Beziehung zwischen sozialem und politischem ist inspiriert von Wolikow, S. 17 f., 21. Er argumentiert, dass »le mouvement social qui constitue son fondement [du Front Populaire] est essentiellement politique.« Wie sich zeigen wird, war der Zusammenhang zwischen Sozialem und Politischem komplexer. Zur Politisierung während der Volksfront im ländlichen Bereich Lynch.

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könnte, zentral wurde.16 Das Terrain der Auseinandersetzungen hatte sich gewandelt, im übertragenen wie im auch im wörtlichen Sinne. Die Formierung der Arbeiterbewegung fand nicht länger hauptsächlich am Arbeitsplatz statt, sondern verlagerte sich in den nachbarschaftlichen Kontext von Stadtteilen.17 Im Folgenden wird zunächst ein relativ kurzer chronologischer Überblick über die Formierung der Volksfront in Lyon bis zum Juli 1934 gegeben. Im Anschluss daran wird anhand einiger Beispiele genauer gezeigt, wie sich dabei Vertrauen zwischen Anhängern der beiden Parteien der Arbeiterbewegung bilden konnte.

5.1 Der Weg zur Einheit in Lyon Wie gegen Ende des vorherigen Kapitels gezeigt wurde, bedurfte es nicht der Februar­ereignisse 1934, um der Arbeiterbewegung den Ernst der Situation zu verdeutlichen, der nach Einheit rief.18 Konkrete Schritte, die zu einer Annäherung der Lager innerhalb der Arbeiterbewegung in Lyon geführt hätten, hatte es jedoch vor dem Februar 1934 nicht gegeben. Die Ereignisse in Paris gaben dann den Anstoß, dass Worten auch Taten folgten. Im Anschluss an die Demonstrationen im Februar wurden verschiedene Aktionskomitees [Comités d’action] in Lyon und den umliegenden Vororten gegründet, an denen sich zumeist Kommunisten und Sozialisten, insbesondere deren Jugendsektionen, beteiligten. Zwar waren diese Komitees nicht immer besonders gut organisiert und aktiv, aber schon ihre Gründung zeigte, dass es an der Basis den Wunsch nach tatkräftiger Einheit gab, auch wenn die Parteiführungen noch keine Übereinkunft erzielt hatten.19 Zum anderen kam es auf den Straßen und Plätzen Lyons weiterhin zu teils gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der radikalen Rechten. Diese stellten, wie der Lokalhistoriker Maurice Moissonnier bemerkt, einen entscheidenden Kontext für die Formierung der Volksfront dar.20 16 Historiker wie Julian Jackson, Popular Front, S. 284, und vor allem Gérard Noiriel, Workers Kap. 5, haben argumentiert, dass das »neue« Proletariat im Verlaufe der Volksfront zu einem politischen Akteur wurde, und dass die Volksfront in diesem Sinne ein Erfolg war. In dieser Erfolgsgeschichte fehlt allerdings, dass einst mächtige unpolitische, im lokalen Rahmen handelnde Organisationen, wie das Cartel, verschwanden. Hierzu auch Shorter u. Tilly, S. 75 f. Sie argumentieren, die Ebene des politischen habe sich vom Lokalen aufs Nationale verschoben. Mit ihrer Behauptung, Streiks seien stets politisch, können sie jedoch nicht erfassen, wie umkämpft und historisch wandelbar die Grenzen des Politischen sind. 17 Zu betonen ist allerdings, dass, im Gegensatz zu Leipzig, Politik zu einem mobilisierenden Faktor werden konnte, der Alltag in Lyon aber niemals in vergleichbarem Maße politisiert wurde. 18 Zu Einheitsbestrebungen auf lokaler Ebene in Paris Wirsching, Weltkrieg, S. 557 f. 19 Fauvet-Messat, S. 140. 20 Moissonnier, Bd. 1, S. 247 f.; La Voix du Peuple, 10.3.1934, 17.3.1934, 24.3.1934, 5.5.1934, wo überall von rechten Demonstrationen oder Versammlungen berichtet wird, die von »Antifaschisten« angegriffen wurden.

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Anfang März unternahm die Sozialistische Partei einen weiteren Schritt in Richtung Einheit, indem sie die Kommunistische Partei einlud, Möglichkeiten weiterer Zusammenarbeit, die auf den Aktionskomitees aufbauen würde, zu diskutieren. Tatsächlich trafen sich beide Parteien am 9. März 1934. Die SFIO akzeptierte sogar die acht Losungen der Kommunisten, die unter anderem die Forderung nach Auflösung der Ligen beinhalteten, aber letztendlich erwiesen sich die Differenzen, vor allem in Hinblick darauf, wie ein gemeinsames antifaschistisches Komitee organisiert sein könnte, als zu groß, so dass es zu keiner formalen Übereinkunft kam.21 Währenddessen nahm der Druck von der Straße zu.22 Neue »Comités d’unité d’action« oder »Comités antifascistes« wurden gegründet, alte wurden aktiver. In Monplaisir-la-Plaine, im Südwesten Lyons, hatte es bereits vor den Februarereignissen ein Komitee gegen Krieg und Faschismus [Comité c­ ontre la guerre et le fascisme] gegeben, das aber relativ inaktiv geblieben war. Nun aber, so lobte die Voix du Peuple, zog es die richtigen Schlussfolgerungen aus den Februarereignissen und begann ernsthaft und mit Erfolg zu agitieren: bis Ende März konnte es immerhin, so das Blatt, 300 neue Mitglieder rekrutieren.23 Gleichzeitig entstanden neue Komitees, das erste, so Arnaud Fauvet-Messat, am 12. März 1934 in Villeurbanne, wobei die Empörung über die Polizeiübergriffe gegen die kommunistische Demonstration am 12.  Februar, die quer durch die Arbeiterbewegung ging, eine erhebliche Rolle spielte. An diesem Komitee beteiligten sich Anhänger zahlreicher Organisationen, nicht nur der SFIO und der PCF, sondern auch der PUP (Parti d’Unité Prolétarienne), der Ligue des Droits de l’Homme, der Jeunesses Communistes und der Jeunesses Socialistes, der CGT-SR, des Cartel du Bâtiment, und der Associations des Chômeurs. Binnen kurzem organisierte es Versammlungen in Villeurbanne, zu denen mehrere Hundert Arbeiterinnen und Arbeiter kamen – ein Beleg für den Wunsch nach Einheit in der Arbeiterschaft Lyons und ein eindrucksvolles Beispiel für eine erfolgreiche »antifaschistische« Mobilisierung.24 Weitere Komitees in Lyon und den Vororten folgten rasch. Am 16. April berichtete der Avenir Socialiste über die Gründung dreier solche Komitees im März. Im ersten und zweiten Arrondissement Lyons seien ein »Comité antifasciste« beziehungsweise »Comité d’unité d’action ouvrière contre le fascisme et la guerre« gegründet worden. Das erste setzte sich aus Mitgliedern der PCF, der SFIO, der ARAC, der SRI (Secours Rouge International), des Comité central des chômeurs, und der Ligues de combattants de la paix, während sich das zweite aus fünf Delegierten der PCF und der SFIO zusammensetzte, die jeweils so ausgewählt worden waren, dass »die verschiedenen proletarischen Organisationen durch eines ihrer Mitglieder 21 Moissonnier, Bd. 1, S. 246 f.; L’Avenir Socialiste, 17.3.1934, La Voix du Peuple, 17.3.1934. 22 Fauvet-Messat, S. 160 f. Er betont, die Basis sei die treibende Kraft im Einigungsprozess in Lyon gewesen. 23 La Voix du Peuple, 31.3.1934. 24 Fauvet-Messat, S. 167 f.

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repräsentiert wurden.« Ein drittes »Comité antifasciste«, an dem sich sowohl Sozialisten als auch Kommunisten beteiligten, wurde im Vorort Caluire gegründet.25 Aber auch die radikale Rechte mobilisierte ihre Kräfte, veranstaltete Demonstrationen und hielt Versammlungen ab, wogegen sich regelmäßig l­inker Protest regte.26 Diese oftmals gewalttätig endenden Gegendemonstrationen boten Kommunisten und Sozialisten die Möglichkeit, die Einheitsfront im Kampf gegen »Faschismus« an der Basis zu praktizieren.27 Am 20. März beispielsweise hatten die rechtsextremen Croix de Feu zu einer Veranstaltung in der Mairie des sechsten Arrondissements geladen, die sie jedoch angesichts einer starken Gegen­ demonstration in den Salle Blanchon in einem konservativen Viertel L ­ yons verlegten. Zwar hatte nur die Kommunistische Partei zur Gegendemonstration aufgerufen, während die Exekutivbüro der SFIO tagte, aber dennoch erschienen Arbeiter beider Richtungen und besetzten den Versammlungssaal, wo dann sowohl ein Kommunist, Waldeck Rochet, als auch ein Sozialist, Amouroux, eine Rede hielten und zu weiterer Einheit aufriefen.28 Den ganzen April und Mai hindurch berichtete die Voix du Peuple beinahe jede Woche über Zusammenstöße zwischen Linken und Rechten, bei Versammlungen, Demonstrationen oder beim Zeitungsverkaufen. Am 28. April fand beispielsweise ein »grrroßes« [sic] »faschistisches« Meeting in der Nachbarstadt Givors statt, das allerdings gerade mal 150 Besucher anzog, während vor dem Saal, der durch die Polizei in eine Festung verwandelt wurde, etwa 2.000 Gegner der Rechten aufmarschiert waren, so die Voix du Peuple. Als der Führer der Rechten, ein gewisser Henriot, die Halle verließ, begannen die Ausschreitungen. Die Polizei bedrängte die Menge, die daraufhin ihrerseits zu Gewalt griff und einige der Automobile der Rechten zertrümmerte. Eine Versammlung der Croix de Feu am darauffolgenden Sonntag, dem 29. April 1934, in Lyon blieb hingegen

25 Zu allen drei Comités Moissonnier, Bd. 1, S. 249. Er zitiert aus L’Avenir Socialiste, 6.4.1934; weiterhin L’Avenir Socialist, 13.4.1934. Zu den Comités auch Fauvet-Messat, S. 165–171. Er betont, dass die Comités innerhalb von Stadtteilen agierten und dort die lokale Gemeinschaft mobilisieren konnten. Hierzu auch Marlin; Vergnon; Poggioli, Syndicalisme. Vergnon sieht in der Entstehung der zahlreichen Comités, auch im Rhône Département, einen Prozess der Politisierung, während Poggioli die Bedeutung des Antifaschismus für den Politisierungsprozess betont. 26 Zu Gewalt der radikalen Rechten in Lyon Passmore, Liberalism, 229–236; ders, Boy Scout­ ing. Passmore bezeichnet die Croix de Feu zwar als faschistische Organisation mit paramilitärischem Charakter, betont aber, dass die Rechte in Lyon und Frankreich allgemein zu schwach war, um gewaltsame Straßenkämpfe wie in Deutschland zu führen. Auch in anderen Teilen Frankreichs, vor allem in Paris, kam es immer wieder zu gewaltsamen politischen Auseinandersetzungen, auch wenn diese nie mit Deutschland vergleichbare Ausmaße erreichten, Fourcaut, Conquête; Wirsching, Weltkrieg, S. 578 f., 595–599; Dubief, S. 58 f. 27 Fauvet-Messat, S. 165. 28 La Voix du Peuple, 24.3.1934, Moissonnier, Bd. 1, S. 249 f. Frühere Beispiele in La Voix du Peuple, 10.3.1934, 17.3.1934.

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ruhig, trotz einer Gegendemonstration.29 Zwei Tage später, am Abend des Ersten Mai, versuchten »Faschisten« eine kostenlose Zeitung namens »6 Février« vor dem Gebäude des Progrès zu verteilen. Allerdings tauchten schnell kommunistische Kampfgruppen [Groupes d’auto-défense] auf, die den Rechten die Zeitungen entrissen; ähnliche Zwischenfälle spielten sich in den Arbeitervierteln Cordelier und Les Deux Passages ab.30 Eine Versammlung der Parti Socialiste de France (»Neosozialisten«, die in den Augen der Kommunisten »reine Faschisten« waren) endete schließlich in gewaltsamen Ausschreitungen. Kommunisten, so der Lyon Républicain – die Voix du Peuple behauptete, auch Sozialisten hätten sich beteiligt – hatten sich innerhalb des Saals versammelt, sangen die Internationale, riefen »Soviets partout«, und ließen auch während der Rede keine Ruhe aufkommen. Als ein kommunistischer Redner sich erhob, griffen die Rechten (der Voix du Peuple zufolge Mitglieder des Cartel Autonome!) mit Stühlen bewaffnet an und verletzten mindestens zehn Gegner.31 Gelegentlich gewannen diese Auseinandersetzungen auch eine internationale Dimension, so etwa am 27.  Mai, als französische und italienische Arbeiter gemeinsam gegen eine als Sportfest getarnte Veranstaltung italienischer Faschisten vorgingen.32 In dieser angespannten Stimmung wandte sich die Bezirksleitung der PCF an die Sozialisten und lud sie zu einem weiteren Treffen ein, das am 11. Juni 1934 stattfinden sollte.33 Beide Parteien einigten sich auf gemeinsame Losungen, die unter anderem die Freilassung des KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann forderten. Auf praktischer Ebene kamen die beiden Parteien überein, gemeinsam zu einer Demonstration gegen ein Treffen katholischer, in den Augen der Arbeiterbewegung faschistischer Turner am 24.  Juni aufzurufen.34 Bevor dieses allerdings stattfand, hatte die rechte Front National eine Versammlung für den 19. Juni im Arbeiterviertel Perrache geplant. Dieses Mal erwies sich der neugeschlossene Pakt zwischen Sozialisten und Kommunisten als effektiv, wie Maurice Moissonnier bemerkt. Während es im Saal selbst ruhig blieb, hatten sich mehrere Tausend Protestierende auf dem Place Garnot, nicht weit entfernt von der Veranstaltung, eingefunden, von wo aus sie zum Veranstaltungslokal marschieren wollten. Als die Ordnungskräfte sie daran hindern wollten, kam es zu schweren Ausschreitungen, bei denen dreißig Arbeiter verwundet wurden. 29 La Voix du Peuple, 5.5.1934, Lyon Républicain, 29.4.1934. Dem Lyon Républicain zufolge wurden sechs Kommunisten schwer verwundet. 30 La Voix du Peuple, 12.5.1934. 31 Zwei lebhafte Schilderungen der bagarre, finden sich in La Voix du Peuple, 19.5.1934, und Lyon Républicain, 13.5.1934. Zu diesem Zeitpunkt war der Lyon Républicain Kommunisten gegenüber noch relativ kritisch eingestellt. 32 Moissonnier, Bd. 1, S. 273; ADR 4/M/245, und La Voix du Peuple, 26.5.1934, 2.6.1934. 33 Zur Bedeutung der lokalen Kämpfe gegen die Rechten Fauvet-Messat, S. 160, 164. Er meint, die Blockadehaltung der beiden Parteiapparate sei durch die Einheitsbewegung an der Basis in den Auseinandersetzungen mit den Rechten überwunden worden. 34 Moissonnier, Bd. 1, S. 274 f.

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Dennoch wertete die Voix du Peuple den Tag als Erfolg, sei doch die Einheit der Arbeiterbewegung auf der Straße hergestellt worden. Welch tragische Folgen die Auseinandersetzung hatte, wurde aber erst einige Tage später deutlich, als der junge Bauarbeiter Louis Juston an den erlittenen Verletzungen im Krankenhaus verstarb. Seiner Beerdigung am 2. Juli wohnten mehr als 4.000 Personen, vor allem Bauarbeiter, bei, die das Begräbnis unter den Rufen »Les Soviets! Unité d’Action!« in eine politische Kundgebung verwandelten und schworen, Juston zu rächen.35 In der Zwischenzeit war die von Kommunisten und Sozialisten gemeinsam organisierte Demonstration gegen das Turnertreffen friedlich verlaufen.36 Diese Junitage waren entscheidend für die Annäherung der lokalen Arbeiterparteien, mehrere Wochen bevor die Übereinkunft zwischen SFIO und PCF auf nationaler Ebene am 27. Juli 1934 unterzeichnet wurde.37 Erste Ergebnisse bei Wahlen brachte die Aktionseinheit bei den Kantonalwah­ len am 7. Oktober 1934, aus denen das Bündnis zwischen SFIO und PCF gestärkt hervorging. In der Rhôneregion hatte sich die Stimmanzahl der PCF von 8.293 im Jahre 1931 auf 18.576 mehr als verdoppelt; in Lyon erhöhte sich die Stimmenanzahl von 3.974 auf 7.703 Stimmen, in Villeurbanne von 2.167 auf 5.812.38 Nach diesem kurzen chronologischen Überblick sollen nun einige Geschehnisse und Entwicklungen im Detail besprochen werden, um so den Aufschwung der Volksfront auf lokaler Ebene genauer zu verstehen. Weshalb gelang es den Arbeiterparteien, die sich noch im März 1934 nicht einig werden konnten, nur drei Monate später, ein solches Abkommen zu schließen? Weshalb kam es nun zu einer Kooperation der sich einst so feindlich gegenüberstehenden Arbeiter? Die beiden Fragen verweisen auf zwei unterschiedliche Entwicklungen, zum einen auf die Annäherung von PCF und SFIO, zum anderen auf die Poli­ tisierung der Arbeiterbewegung und, damit im Zusammenhang stehend, die Übernahme der Bauarbeitergewerkschaft durch die Kommunistische Partei. Die Beziehungen zwischen Kommunisten und Sozialisten in Lyon waren, wie im vorherigen Kapitel gezeigt, niemals in dem Ausmaß von Feindschaft oder gar Gewalt geprägt wie jene in Leipzig.39 Der fehlgeschlagene Versuch, im 35 Ebd., S. 275; Lyon Républicain, 20.6., 29.6., 2.7., 3.7.1934, La Voix du Peuple 30.6., 7.7.1934. In der Zwischenzeit hatten sich zwei weitere Vorfälle zugetragen. Nach einer Versammlung des örtlichen antifaschistischen Komitees wurden am 20. Juni zehn Polizeibeamte in Oullins mit Schusswaffen angegriffen, von denen einer verwundet wurde; am 23. Juni überfielen Anhänger der rechten Ligen den Sitz der Front Commun, dessen Verteidiger einen der Angreifer töteten, Moissonnier, Bd. 1, S. 281 f.; Lyon Républicain, 21.6., 23.6.1934 und die folgenden Tage. 36 Zu dieser Demonstration und den Gegenprotesten Moissonnier, Bd.  1, S.  279 f.; Fauvet-­ Messat, S. 174 f. 37 Moissonnier, Bd. 1, S. 265. Der zeitliche Ablauf der Ereignisse zeigt, so Moissonnier, dass Paris nicht einfach als Vorbild fungierte, und der Rest Frankreichs folgte. 38 Ebd., S. 305. 39 Das gleiche gilt für CGT und CGTU, die niemals alle Verbindungen abgebrochen hatten, Wolikow, S. 30. In Oullins allerdings störten Kommunisten noch 1936 eine sozialistische Wahlveranstaltung, Faure, S. 30. Allerdings scheint dies ein Einzelfall gewesen zu sein.

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März 1934 zu einer Einigung zu kommen, bietet hierfür ein gutes Beispiel. Bereits das Einladungsschreiben der Sozialisten an die Kommunisten verwies auf die Aktionskomitees, die »im Geiste der Einheit der Organisationen der Arbeiterbewegung« im Gefolge des 6. Februar entstanden seien. Nach dem Scheitern der Gespräche warfen sich beide Seiten gegenseitig vor, einen Kompromiss verhindert zu haben. Kommunisten wollten Vertretern aller Arbeiterorganisationen und auch »Unorganisierten« Zugang zu antifaschistischen Komitees erlauben, um so eine breite, antifaschistische Bewegung zu schaffen. Die Sozialisten aber befürchteten, dass die Kommunisten so insgeheim Kontrolle über die Komitees erlangen würden. »Die kommunistische Delegation bestand absolut darauf, dass die Unorganisierten, die Parteilosen [les sans parti], die wir nur zu gut kennen, einen Platz in den Leitungen dieser Komitees haben sollten, was faktisch bedeutet hätte, dass sie eine rein kommunistische Leitung gehabt hätten, da man in Anbetracht ihrer geheimen Parteizellenorganisation nie wissen kann, ob die Parteilosen nicht in Wahrheit Mitglieder der Kommunistischen Partei sind.« Wie auch in Leipzig trauten Sozialisten den Kommunisten nicht über den Weg. Eine solche Zusammenarbeit hätte bedeutet, dass sich Sozialisten de facto den Kommunisten unterordnen würden, was die Führung der SFIO nur ablehnen konnte. Sie schlug daher vor, dass sich die Leitungen der Komitees exklusiv aus Delegierten der beiden Parteien zusammensetzen sollten. Kommunisten ihrerseits warfen daraufhin der SFIO vor, keine wirkliche Volksfront gegen den Faschismus zu wollen.40 Die Komitees, die sich schließlich im April bildeten, fanden alle auf unterschiedliche Weise eine Antwort auf dieses Problem, sei es, dass sie nur aus Mitgliedern der beiden Parteien oder deren Jugendorganisationen bestanden, sei es, dass die Führungen aus Parteimitgliedern bestanden, die dann andere Organisationen repräsentierten; in anderen Fällen, wie in Villeurbanne, waren die Komitees vollkommen offen. Auf den ersten Blick mögen diese Vorgänge an Leipzig erinnern. Auch dortige Kommunisten versuchten, in Fabriken und Stadtvierteln eine »Einheitsfront von Unten« zu bilden, die vorgeblich überparteilich sein sollte, in der sie aber in Wahrheit den Ton angeben würden, um so (sozialdemokratische) Arbeiter zum Kommunismus zu bekehren, weshalb die Sozialdemokratie eine solche Einheitsfront von Unten ablehnte und Übereinkünfte auf nationaler Ebene forderte. Gleichwohl unterschied sich die Situation in Lyon von derjenigen in Leipzig. Eine gewissermaßen kommunistische Taktik anwendend, rief die SFIO in Lyon ihre Mitglieder auf, mit Kommunisten in Kontakt zu sein, sich mit ihnen zu verbrüdern, mit ihnen zu demonstrieren und somit einen »Einheitswillen« zu schaffen, sich aber von den Komitees der kommunistischen Führer fern­zuhalten, die nur Anweisungen aus Moskau folgten. Dabei behauptete die SFIO, die Anhänger der Kommunistischen Partei würden die Politik der Partei­ führung ablehnen; diese hätten während der jüngsten Ereignisse Gelegenheit 40 L’Avenir Socialiste, 17.3.1934, La Voix du Peuple, 17.3.1934.

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gehabt, sich vom »guten Willen« der Sozialisten und ihrem Glauben [bonne volonté et bonne foi] an die Einheitsfront zu überzeugen, ohne dabei den Parolen der kommunistischen Parteiführung zu folgen  – ein Argument, das auch Kommunisten über Sozialisten vorbrachten.41 Ein solcher Schritt seitens der Sozialdemokratie wäre in Leipzig undenkbar gewesen. Während Parteimitglieder, vor allem der SPD, in Leipzig allen Grund hatten, den Anhängern der gegnerischen Partei, vor allem der KPD, zu misstrauen, ermutigte die SFIO ihre Anhänger ausdrücklich, mit Kommunisten zusammenzuarbeiten und einen »Einheitswillen« zu schaffen  – so konnten die Grundlagen für Vertrauen geschaffen werden. Zwar gelang es den beiden Parteien der Arbeiterbewegung im März 1934 nicht, eine Übereinkunft zu erzielen, wie gegen den Faschismus vorgegangen werden sollte. Auf eine nur scheinbare Kleinigkeit aber konnten sie sich einigen: das Protokoll über das letztendlich erfolglose Treffen, das gleichlautend in den Zeitungen beider Parteien am gleichen Tag, dem 17. März 1934, veröffentlicht wurde, wobei auch die Positionen und Vorwürfe der gegnerischen Partei wiedergegeben wurden. Dieser Akt lässt sich als Grundlage für eine Vertrauens­ bildung interpretieren. Beide Parteien erkannten die Vorwürfe des anderen an, beide waren ehrlich genug, die Differenzen zuzugeben. Indem sie die Position des jeweils anderen im eigenen Blatt abdruckten, zeigten sie, dass sie ein Versprechen – den gleichen Bericht zu drucken – hielten. Aber auch die Leserschaft der Zeitungen konnte so Vertrauen in Parteien und ihre Zeitungen gewinnen, zeigte es doch einerseits, dass beide Parteien ernsthaft an einer Einheitsfront interessiert waren, andererseits, dass zumindest diese Berichte in den Zeitungen nicht vollkommen einseitig gefärbt waren. Schließlich wurden die Probleme, die eine Zusammenarbeit zwischen den Parteien verhinderten, auf den Tisch gelegt. In der Zukunft ließen sich, wie die nachfolgenden Gründungen von diversen Komitees zeigen, Lösungen hierfür finden, was andeutet, dass Vertrauen geschaffen wurde, auch wenn die Quellenlage keine ausführliche Analyse, wie dies geschah, zulässt. Eine Art »epistemische Krise«, wie sie in Leipzig existierte, wo niemand wusste, was wahr und was falsch war, ließ sich so vermeiden. Damit stellten das Treffen und die gemeinsam veröffentlichten Berichte hier­über gleichsam einen ersten Vertrauensbeweis dar, auf dem sich aufbauen ließ. Zumindest inoffiziell nahmen Sozialisten bereits vor dem Februar 1934 an kommunistischen Demonstrationen teil. Im Herbst 1933 etwa sollten mehrere Sozialisten aus der Partei ausgeschlossen werden, weil sie sich an einer Antikriegsdemonstration beteiligt hatten, die vom »im Kern kommunistischen« Antikriegskomitees organisiert worden war. Allerdings forderte die sozialistische Fédération du Rhône eine »Amnestie« für die beschuldigten Sozialisten, da diese »mit pazifistischen Zielen im Kopf und im Glauben an den Sozialismus 41 L’Avenir Socialiste, 17.3.1934.

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und die Einheit der Arbeiter« gehandelt hätten.42 Offenbar hatten sich die So­ zialisten ohne sich allzu große Sorgen zu machen an der Demonstration be­ teiligt, und ihre Parteioberen konnten diese Erklärung akzeptieren. An der Basis scheinen Anhänger beider Parteien miteinander ausgekommen zu sein.43 Die Parteiführung der SFIO scheint ihren Mitgliedern vertraut zu haben und verzichtete auf ein System umfangreicher Kontrollen. Verglichen mit Leipzig jedenfalls finden sich kaum Belege für Misstrauen; nicht zuletzt wurden Vertrauen und vor allem Misstrauen wesentlich seltener dezidiert von Akteuren thematisiert, was allein schon belegt, dass es kein großes Problem war.44 Hierin ist zumindest eine Vorbedingung für den Erfolg der Volksfront in Lyon zu ­sehen. In der Forschung wird die Volksfront immer wieder als eine im Kern antifaschistische Bewegung beschrieben, der es um die Verteidigung der Republik gegen die Bedrohung des Faschismus ging. Die Reaktionen der Sozialisten auf die Februarereignisse in Lyon belegen, dass auch für sie der Gedanke an die Republik von zentraler Bedeutung war. Die gemeinsame Demonstration von Sozialisten und Kommunisten gegen die klerikalen Turner Ende Juni 1934 bietet ein weiteres Beispiel für diesen Republikanismus, war es doch, so Maurice Moissonnier, der Antiklerikalismus der SFIO, ein zentrales Element der republikanischen Ideologie, der den sozialistischen Protestaufruf motivierte.45 Noch konnten republikanische Ideale Arbeiter mobilisieren. Einzig diese republikanische und antifaschistische Rhetorik in den Blick zu nehmen hieße allerdings, die Bedeutung der Straßengewalt zu verkennen. Ein genauerer Blick auf die Bauarbeiter Lyons lohnt sich in diesem Kontext. Wie im vorigen Kapitel gezeigt, war das Bauarbeitermilieu in Lyon von teils durchaus gewaltsamen Konflikten zwischen verschiedenen Gewerkschaftsrichtungen, Autonomes und Kommunisten, gekennzeichnet. Nun aber, im Februar 1934, verschwanden diese Konflikte weitgehend, während sich Bauarbeiter massiv an den Auseinandersetzungen mit der radikalen Rechten beteiligten – ein dramatischer Wandel, der erklärungsbedürftig ist. Entscheidend ist, dass sich das Terrain, im wörtlichen wie übertragenen Sinn, der Auseinandersetzungen verlagerte. Es war nicht länger ein sozialer Konflikt zwischen Arbeitern und Arbeitgebern, der auf Baustellen ausgetragen wurde, sondern ein politi42 L’Avenir Socialiste, 4.11.1933; Moissonnier, Bd.  1, S.  223. Andererseits schloss die Parteiführung alle Mitglieder aus, die sich dem Comité Amsterdam-Pleyel anschlossen, war der Zweck dieser Comités doch einzig, so die Begründung, Sozialisten für den Kommunismus zu gewinnen. Allerdings scheint dies nur eine Entscheidung der Parteiführung gewesen zu sein, die nicht unbedingt der Praxis vor Ort entsprechen musste, Fauvet-Messat, S. 150 f. 43 Heftige und teils gewaltsame Konflikte, wie sie für Leipzig beschrieben wurden, gab es in Lyon nicht. Dort verliefen die internen Konfliktlinien innerhalb der Arbeiterbewegung zwischen verschiedenen Gewerkschaftsorganisationen. 44 Dieses vergleichende Argument über die Absenz von Praktiken basiert sowohl auf Polizeiakten wie auf internen Berichten der Kommunistischen Partei. 45 Moissonnier, Bd. 1, S. 275.

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scher Kampf gegen die radikale Rechte, der auf den Straßen Lyons ausgefochten wurde und für den in Versammlungssälen der Viertel mobilisiert wurde. In diesem Kontext spielte die Organisation von Arbeitern am Arbeitsplatz, um erfolgreich (lokale)  Streiks für bessere Arbeitsbedingungen zu führen, eine immer geringere Rolle. Stattdessen stand die Mobilisierung von Arbeitern in ihren Vierteln und in den antifaschistischen Komitees, auf den Straßen und Plätzen im physischen Kampf gegen die Ligen im Mittelpunkt. Entscheidend ist nicht so sehr, dass Arbeiter einen gemeinsamen Feind hatten – diesen hätten sie, zumindest theoretisch, auch vor 1934 im Unternehmertum gehabt – sondern dass es ein neuer Feind war, der an einer ganz anderen »Front« bekämpft werden musste. Während das vergleichsweise geringe Maß an Misstrauen eine Annäherung der beiden Parteien und eine breite Mobilisierung gegen den Faschismus ermöglichte, war es die Politisierung der Arbeiterbewegung, die alte gewerkschaftliche Differenzen vergessen machte. Dies war ein gravierender Wandel vom Sozialen zum Politischen.46 Bevor dieser Wandel anhand des Aufstiegs der PCF und insbesondere ihrer Machtübernahme in der Bauarbeitergewerkschaft diskutiert werden kann, ist allerdings ein Blick auf die Wirtschaftskrise in Lyon zu werfen.

5.2 Die Wirtschaftskrise und ihre Folgen in Lyon In den frühen 1930er Jahren erreichte die Große Depression schließlich auch Lyon und dort insbesondere das Baugewerbe.47 Sowohl Arbeitslosigkeit als auch die Zahl der Betriebsschließungen stieg rapide an; Arbeiter konnten Streiks seltener gewinnen, während die Arbeitgeberseite mit wachsendem Erfolg Streikbrecher einsetzte.48 Zwar werden im Folgenden erneut Bauarbeiter im Mittelpunkt der Analyse stehen, was aber nicht bedeutet, dass andere Gewerbe nicht auch litten.49 Seit 1933 ohne gültigen Tarifvertrag, befanden sich viele Gewerk46 Shorter u. Tilly, S. 74 f., die m. E. jedoch den Zusammenhang zwischen der politischen, antifaschistischen Mobilisierung und den genuin sozialen Fragen missverstehen. 47 Siehe die in der Einleitung zitierte Literatur zur Krise. Zur Krise in Lyon speziell Moissonnier, Bd. 1, S. 87–105. 48 Meldeten 1929 erst 317 Firmen Bankrott an, so waren es 1934 bereits 550, Fauvet-Messat, S. 58. Ochandiano, Formes, S. 133 f. betont, dass die Arbeitslosigkeit in Lyon in den 1920er Jahren relativ gering war. Basierend auf ADR 10/MPD/27/2 bietet er Zahlen zur Arbeitslosigkeit nach 1931. In der Rhôneregion erreichte sie 1936 mit knapp 17.000 Arbeitslosen einen Höhepunkt. Nach Fauvet-Messat, S. 61, gab es 1934 in Lyon selbst 5.477 Arbeitslose, in Villeurbanne 2.324, und in Vénissieux 338 (darauf basierend prozentuale Zahlen anzugeben war mir nicht möglich). Diese Zahlen schließen allerdings nicht die partiell Arbeits­ losen (les chômeurs partiels) ein, deren Anzahl immerhin dreimal so hoch gewesen sein mag. Hierzu auch Passmore, Liberalism, S. 165–167. 49 Lewis, S. 56 f. Lewis behauptet, Ende 1931 hätte es 20.000 Arbeitslose in Lyon gegeben, basierend auf ADR 10/MPD/5. Der Unterschied mag darin liegen, dass Ochandiano jährliche

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schaften im Baugewerbe in einer prekären Situation. Anfangs war die Situation für das Baugewerbe noch günstig gewesen, hatte doch der Staat einige größere Bauprojekte begonnen, die die Krise zunächst hinauszögerten, was dann aber 1933/34 dazu führte, dass sich die Krise durch die Beendigung einiger dieser Bauprojekte, wie das des neuen Hospitals Grange-Blanche, des Quartiers des Etats-Unis, oder des Gratte-Ciel in Vielleurbanne, nochmals verschärfte. Gleichzeitig bekam das Baugewerbe nun auch den Transformationsprozess der Arbeit selbst zu spüren, der nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzt hatte.50 In der Krise unter erhöhtem Profitdruck stehend, versuchten Arbeitgeber nun vermehrt mittels neuer Mechanisierungen die Zahl der nötigen Arbeitskräfte zu senken.51 Schließlich versuchten Arbeiter aus anderen Branchen, in denen die Arbeitslosigkeit früher zunahm, im Baugewerbe Arbeit zu finden, was zunächst zu Spannungen führte, da diese Arbeiter geringere Löhne erhielten.52 Für das Cartel stellte Arbeitslosigkeit ein massives Problem dar, zum einen weil erwerbslose Bauarbeiter eher gewillt waren, als Streikbrecher zu arbeiten, zum anderen, weil Arbeitslosigkeit die Konstituierung der Gemeinschaft am Arbeitsplatz bedrohte. Arbeitslose Bauarbeiter verloren nicht nur ihr Einkommen, sondern ebenso den Kontakt mit ihren Kollegen und dem Cartel, was letztlich ihre Identität als Bauarbeiter, die so sehr in ihrem Metier verwurzelt war, bedrohte.53 Das Cartel reagierte auf diese Krise, indem es versuchte, Erwerbslose in die sozialen Kämpfe einzubinden, etwa in Kämpfe gegen Überstunden, die das Cartel für Arbeitslosigkeit verantwortlich machte. Im Juni 1933 beispielsweise erzwang eine Gruppe Arbeitsloser die Einhaltung des Acht-Stunden-Tages auf einer Baustelle in Villeurbanne. Allerdings blieb das Arbeitslosenkomitee, so Ochandiano, insgesamt erfolglos und verschwand aus den oben genannten Gründen 1934. Dem Cartel war bewusst, welche Gefahr die Arbeitslosigkeit darstellte, doch war es hiergegen hilflos. Es musste einsehen, dass es außerhalb seiner Macht lag, etwas gegen Arbeitslosigkeit zu tun. Stattdessen wandten sich die Gewerkschaften an die (städtische)  Obrigkeit und forderten von ihr eine Fortsetzung der öffentlichen Bauprojekte – in Anbetracht der stets Durchschnittswerte gibt, und die Arbeitslosigkeit, vor allem unter Bauarbeitern, im Winter höher war. Lewis betont vor allem die Auswirkungen, die die Krise auf ausländische Arbeiter hatte, von denen viele abgeschoben wurden. 50 Zur Mechanisierung und Taylorisierung Noiriel, Workers, S. 116–119. Zu Lyon spezifisch Mann, Forging, Kap. 7 u. 8. 51 Ochandiano, Formes, S.  147–152. Beton beispielsweise ersetzte Steine als Baumaterial, Kräne wurden öfters benutzt. Das Cartel versuchte erfolglos, diese Mechanisierung auf­ zuhalten. 52 Ochandiano, Formes, S.  133–135. Das Cartel selbst stand diesem Zustrom an Arbeitern skeptisch gegenüber. Es konnte mit seinem lokalen Horizont die nationale und interna­ tionale Dimension der Krise nicht erfassen, und warf stattdessen dem Patronat vor, ein Komplott zu schmieden. 53 Ochandiano, Formes, S. 136; L’Effort, 10.6.1933.

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betonten Unabhängigkeit vom Staat, wozu auch die Stadtverwaltung zählte, ein bemerkenswerter Schritt. Gleichzeitig nahmen im Moment der Krise Spannungen mit ausländischen Arbeitern, insbesondere jenen aus Nordafrika, zu.54 Wie im vorigen Kapitel ausgeführt, gab es seit dem späten 19. Jahrhundert eine erhebliche Anzahl aus­ ländischer Arbeiter im Baugewerbe. In den 1920er Jahren kamen diese nicht nur aus Italien und Spanien, sondern ebenso aus der Schweiz, Russland, Polen, Armenien und den französischen Kolonien im Maghreb.55 Französischen Arbeitern waren diese ausländischen Kollegen teils ein Dorn im Auge, fungierten sie doch, so der Vorwurf, als Lohndrücker, waren als Streikbrecher tätig, leisteten Überstunden und respektierten grundsätzlich nicht die »Sitten und Gebräuche« im Gewerbe. Die Gewerkschaften hatten die Präsenz ausländischer Arbeiter immer wieder thematisiert, wobei sie einerseits über diese klagten, andererseits versuchten, sie in die communtiy zu integrieren.56 Gelegentlich sprach aus den Erklärungen des Cartels eine tief sitzende Xenophobie, etwa als H. Jouve während eines Kongresses 1925 über das »Problem der ausländischen Arbeiterschaft« sprach, das sich von Tag zu Tag verschlimmere. In seinen Augen waren ausländische Arbeiter »ungebildet, ängstlich, ignorant und, nun ja, all zu oft schwach.«57 Andererseits gab es auch Stimmen im Cartel, die sich gegen diese Xenophobie wandten. Als sich etwa ein Maurer 1928 über Kollegen beklagte, die vor allem auf kleineren Baustellen Sonntagsarbeit leisteten und »natürlich« Ausländer waren, widersprachen andere Maurer, es dürfe »keine Sticheleien zwischen den einen und anderen geben«, da die »Arbeiter kein Vaterland haben« und es »einzig an Bildung mangelt, was die Bourgeoisie mit allen Mitteln verhindert.«58 Diese Solidaritätsbekundungen hielten das Cartel aber nicht davon ab, sich 1932 bei der Polizei zu beschweren, dass ausländische Arbeiter als Streikbrecher eingestellt würden.59 Gleichzeitig versuchte das Cartel, ausländische Arbeiter zu agitieren und sie in die Gemeinschaft zu integrieren, etwa indem es Flugblätter auf Spanisch oder Italienisch verteilte. Offizieller Standpunkt des Cartels war, dass sich jeder Arbeiter, gleich welcher Nationalität oder Rasse er angehöre, einer Gewerkschaft anschließen müsse. »Er ist ein Genosse, wenn er sich einer Gewerkschaft anschließt und sich am Klassenkampf beteiligt. Aber gleich ob französischer Kamerad oder nicht, wenn er ein Renegat sein will, nennen wir ihn einen ›Gelben‹

54 Die Bezeichnungen für diese Arbeiter variieren in den Quellen. Manchmal werden sie als Muslime, manchmal als Algerier, manchmal als Nordafrikaner bezeichnet. 55 Zu spanischen Arbeitern Galan, S. 26 f. Ihr zufolge standen spanische Arbeiter im Ruf, als Streikbrecher zu arbeiten, was allerdings nicht der Realität entsprochen habe. 56 Ochandiano, Formes, S. 137. 57 Zitiert in ebd., S. 138. 58 Zitiert in ebd., S. 139. 59 Ebd.

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und werden ihn bekämpfen.« Ob das Cartel hiermit Erfolg hatte, lässt sich jedoch schwerlich sagen.60 Mit Beginn der Krise im Baugewerbe 1933/34 verschlimmerte sich diese Situa­tion. Das Cartel machte sich nun vermehrt Sorgen um eine wachsende Ausländerfeindlichkeit in seinen Reihen. Nach der Gründung eines Komitees französischer Arbeitsloser [Comités des chômeurs français] im September 1933 betonte es beispielsweise, es sei immer das Ziel des Cartels gewesen, auch ausländische Arbeiter zu organisieren.61 Andererseits könne es aber auch »die Situa­tion vieler arbeitsloser französischer Genossen verstehen, die Baustellen sehen müssten, auf denen ausschließlich ausländische Arbeiter tätig sind. Wir haben niemals gefordert, dass sie kommen sollen; ebenso wenig können wir verlangen, dass sie gehen. Dies liegt in der Verantwortung der Obrigkeit.«62 Die Angelegenheit betraf die staatliche Obrigkeit, war mithin eine politische Angelegenheit, womit sich das Cartel nicht befasste. Das Cartel vertrat somit einen überaus ambivalenten Standpunkt. Einerseits blieb es dem proletarischen Internationalismus treu und lehnte xenophobische Tendenzen ab, andererseits konnte es solche Tendenzen in der Arbeiterschaft auch nicht einfach ignorieren. Arbeiter aus den französischen Kolonien in Nordafrika waren von der Krise besonders betroffen, war ihre soziale und rechtliche Position doch besonders prekär. Zumeist waren sie nur temporär im Hexagon, wo sie keine familiären Bindungen besaßen; sie gehörten, anders als italienische oder spanische Arbeiter, keiner starken Gemeinschaft an. Rechtlich gesehen waren sie weder Ausländer noch französische Bürger, sondern nur französische Untertanen, was bedeutete, dass es für sie, anders als für andere ausländische Arbeiter, keinerlei soziale Sicherheit gab.63 Angesichts dieser sozial und wirtschaftlich schwierigen Situation sahen sie sich immer wieder gezwungen, Streikbrecherarbeiten anzunehmen. Dabei spielten die Organisationen, zunächst das Comité de Protéction des Nord-Africains, später der Service des Nord-Africains, eines rechtsgerichteten Polizeibeamten namens J. Azario, eine entscheidende Rolle. Dieser vermittelte nordafrikanische Arbeiter an Unternehmen, allerdings unter der Bedingung, dass sich die Arbeiter von linker Politik oder Gewerkschaften fern-

60 Ochandiano, Formes, S. 140, zufolge gab es kaum militants, deren Namen eine ausländische Herkunft nahelegen. Zumindest die Führung der Syndicats war fest in französischer Hand. 61 Wo die Gruppe ideologisch stand, bleibt etwas unklar. Der Name legt nahe, dass es sich um eine nationalistische, rechtsgerichtete Gruppe handelte, und das Cartel warf ihr vor, gegen ausländische Arbeiter zu kämpfen, bemerkte aber gleichzeitig, dass ihr Anhänger der CGTU, CGT und des SUB angehörten, L’Effort, 14.10.1933. Ochandiano hält diese Vorwürfe nicht für absolut glaubhaft, da es sich bei den genannten Organisationen um Rivalen des Cartels handelte. Im Juli 1935 schließlich nahm das Comité an einem Aufmarsch der Volksfront teil, was andeutet, dass es auf Seiten der Linken stand, Lyon Républicain, 14.4.1935. Beide Texte sind zitiert in Ochandiano, Formes, S. 141, Fn. 25. 62 Zitiert in ebd. 63 Zur Situation von Immigranten aus Nordafrika Lewis, S. 188–215.

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hielten.64 Mit seiner Hilfe versuchten Arbeitgeber die Macht des Cartels zu brechen. Es mag daher nicht überraschen, dass es immer wieder zu gewaltsamen Konflikten zwischen als Streikbrecher arbeitenden Nordafrikanern und autonomen Bauarbeitern kam. Die im Folgenden vorgestellte »Affaire Versillé« stellt dabei nur den bekanntesten und schwerwiegendsten Zwischenfall dar. Die Firma Versillé war mit Kanalbauten im Vorort St. Fons befasst. Seit dem Frühjahr 1934 hatte es auf einer der dortigen Baustellen Arbeitskonflikte gegeben, da das Cartel Autonome und andere Gewerkschaften höhere Löhne durchsetzen wollten. Dass hier verschiedene Gewerkschaften zusammenarbeiteten, mag, en passant bemerkt, durchaus ein Ergebnis der Einheitsbewegung seit dem Februar 1934 gewesen sein. Im Juli drangen dann mehrere Arbeiter, die, so die Firma in einem Brief an die Polizei, nicht zur Belegschaft gehörten, auf die Baustelle ein und mussten von der Polizei verjagt werden. Einige Tage später entließ die Firma mehrere Arbeiter, da sie zu langsam arbeiten würden; allerdings weigerten sich drei der gefeuerten Arbeiter, die Baustelle zu verlassen. Erneut musste die Polizei gerufen werden. Am 16. Juli entschloss sich die Firma schließlich, die gesamte Belegschaft zu entlassen und die Baustelle für zwei Wochen zu schließen. Am gleichen Abend kam es im Anschluss an eine Unter­ redung der Betriebsführung mit der Polizei zu einer Auseinandersetzung, während der »der Ingenieur und der Baustellenvorsteher belästigt wurden.« Bislang hatte es nur auf einer von drei Baustellen, auf der vornehmlich Erdarbeiter tätig waren, Schwierigkeiten gegeben, nun aber, am 17. Juli, weigerten sich die Arbeiter auf den beiden anderen Baustellen ebenfalls, zur Arbeit anzutreten. Nach einigen Tagen schien das Problem gelöst zu sein, und die Baustellen sollten wieder eröffnet werden. Dies traf allerdings nicht auf die erste Baustelle zu, wo die Arbeiter erschienen und behaupteten, wieder eingestellt worden zu sein, aber wieder weggeschickt wurden. Aus Solidarität traten auch die beiden anderen Baustellen erneut in Streik. Die Firma drohte daraufhin, alle Arbeiter, die bis zum 27. Juli nicht zur Arbeit zurückkehren würden, zu entlassen, während die Arbeiter forderten, die gesamte Belegschaft der ersten Baustelle wieder einzustellen. Nun entschloss sich die Firma, alle Baustellen zu schließen, »damit sich die Stimmung der Leute beruhige«, während die Firma selbst nach neuen Arbeitern suchte. Sie stellte in der Tat zwölf neue Arbeiter ein, von denen nur sieben zur Arbeit erschienen, »die aber von einer Gruppe vormaliger Arbeiter aufgehetzt erklärten, die Arbeit nicht annehmen zu wollen, da sie ›nach der Arbeit nicht verprügelt werden wollten.‹ […] Als der Bauleiter ihnen erklären wollte, was ihre Aufgaben waren und sie ins Lager schickte, trafen sie auf eine Gruppe vormaliger Arbeiter, die kurz mit ihnen redeten. Nach einer kurzen Diskussion berieten sich unsere Arbeiter für einen Moment untereinander und erklärten 64 Für ein anderes Beispiel ADR 10/M/471, über einen Streik bei Vergne & Fils im März 1935. Ein Arbeiter war gefeuert worden, weshalb seine Kollegen in Streik traten, um seine Wiedereinstellung zu erzwingen. Der Patron entließ daraufhin die gesamte Belegschaft und stellte neue Arbeiter ein, unter ihnen viele Nordafrikaner, die von Azario vermittelt wurden.

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dann dem Bauleiter, dass sie in Anbetracht der Umstände nicht arbeiten würden, da sie Schläge nach der Arbeit fürchteten.«65 Da sich zunächst keine anderen Arbeiter fanden, wandte sich die Firma an den Service des Nord-Africains, die der Firma algerische Arbeiter vermittelte.66 Die Firma rechnete nun mit Problemen, weshalb sie vorsorglich um Polizeischutz für die Baustelle bat. Da die Gewerkschafter die Streikbrecher also nicht auf der Baustelle selbst stellen konnten, warteten sie am späten Nachmittag des 6. August am Fuße des quai Fulchron auf die heimkehrenden Arbeiter.67 Über die folgende Auseinandersetzung gibt es widersprüchliche Berichte. Dem Lyon Républicain zufolge verlangten die Gewerkschafter, den Gewerkschaftsausweis von einem 36jährigen algerischen Arbeiter namens Saïd Mossiq zu sehen. Statt seines Ausweises aber zog er einen Revolver und schoss. Dem Polizeibericht zufolge hingegen griffen die Gewerkschafter Mossiq mit Schlägen an, der nur in Notwehr schoss. Nach einem zweiten Schuss aber traten Ladehemmungen auf. »Die Gewerkschafter nahmen nun Rache für ihren verwundeten Genossen: der Araber wurde gelyncht, getreten«, so der Lyon Républicain. Kurz danach traf die Polizei ein, die vermutlich Mossiqs Leben rettete, der, laut Lyon Républicain, kaum zu erkennen war. In diesem Augenblick aber eröffnete eine zweite Gruppe algerischer Arbeiter das Feuer auf die fliehenden Gewerkschafter, so die Version des Vorfalls im Lyon Républicain. Der Polizeibericht hingegen behauptete, auch diese Gruppe sei von streikenden Arbeitern attackiert worden, und die Algerier hätten nur in Notwehr geschossen. Was auch immer die Wahrheit ist, sie töteten das 38jährige CGT-Mitglied Gérôme Bossard; weiterhin wurde Lionel Perrain, 44 Jahre alt und Anhänger des Cartel Autonome, schwer verletzt.68 Zwei Tage nach dem Zwischenfall, am 8. August, gab der Lyon Républicain den Tod Bossards bekannt. Über die Rolle, die die »Araber« spielten, schrieb das Blatt: Sicherlich, die Männer in unserer Branche sind schroff, aber sie sind aufrichtig und loyal. Voilà, Leute die kämpfen, die leiden, die eher auf ihr Brot verzichten als dass sie unter Bedingungen arbeiten würden, die ihren Gefährten Schaden zufügen würden. Sie treten in Streik – das ist nicht lustig, das kann ich Ihnen versichern – und dann sehen sie, dass ihre Bemühungen von einigen Arabern zunichte gemacht werden. Man wird ihre Verbitterung verstehen. Wir sind keine Anti-Araber. Diese Männer haben 65 Zur Versilléaffäre ADR 10/M/470, sowie Ochandiano, Formes, S. 143 f. 66 Die Organisation wird in unterschiedlichen Quellen unterschiedlich bezeichnet. La Voix du Peuple, 11.8.1934, sprach von einem Comité d’aide et de défense des Nord-Africains, eine in ihren Augen faschistische Organisation. 67 Der Streik war, so La Voix du Peuple, 11.8.1934, eine von wenigen Gelegenheiten, bei denen die vier verschiedenen Gewerkschaften (Cartel, SUB, CGT, CGTU) ein gemeinsames Streikkomitee gebildet hatten. 68 ADR 10/M/470, Lyon Républicain, 7.8.1934. Die Syndicats antworteten mit einem 48-stündigen Generalstreik und setzten die Firma Versillé auf den Index. Alle Namen sind er­ funden.

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das Recht zu arbeiten, ebenso wie wir. Aber sie dürfen anderen Arbeitern des Gewerbes keinen Schaden zufügen. Hierzu müssen sie den Anweisungen der Gewerkschaft folgen. Das wollten sie nicht verstehen.69

Der Zwischenfall bei Versillé hatte weitere Folgen.70 Im Oktober 1934 forderte ein Gewerkschaftsdelegierter eine Gruppe algerische Erdarbeiter auf, die Arbeit einzustellen; kein Algerier dürfe in Lyon arbeiten, da »sie« nicht verraten hätten, wer sie bewaffnet hatte. Die »Nordafrikaner« protestierten zwar und ar­ beiteten zunächst auch weiter, als aber später ein weiterer Delegierter kam und sie bedrohte, entließ der Bauleiter die algerischen Arbeiter aus Angst, einen weiteren Zwischenfall auszulösen. Dies trug nicht dazu bei, die Spannung zwischen französischen und algerischen Arbeitern zu mindern. »Diese Araber waren sehr verwundert über diese Gewerkschafter, die für ihre Entlassung gesorgt hatten; es gab Arbeit für sie, so sagen sie, doch sie würden von der Arbeit abgehalten werden.« Die Probleme, denen sich speziell algerische Arbeiter ausgesetzt sahen, herunterspielend, bemerkte das Arbeitsamt [Office de Placement], dass sich auch nicht-algerische Arbeiter, die sich weigerten, den Anweisungen der Gewerkschaft Folge zu leisten, ähnlichen Bedrohungen und gar Gewalt ausgesetzt sahen. Dies war nur eine weitere »Illustration jener bedauerns­werten Sitten und der meines Erachtens unerträglichen Dreistigkeit unter gewissen Bauarbeitergewerkschaften.«71 Gewissermaßen zwischen allen Stühlen, dem Cartel und der Arbeitgeberseite sitzend, versuchten algerische Arbeiter mit der Situation zurecht zu kommen. Im April 1935 beispielsweise schrieben einige algerische Bauarbeiter dem Präfekten, sie wären von vier oder fünf Männern aufgesucht worden, die behaupteten, Gewerkschaftsdelegierte zu sein und die sie anwiesen, sofort die Arbeit einzustellen. Die Algerier wandten ein, dass sie Not litten und die Arbeit brauchten, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, woraufhin die Delegierten sie aufforderten, fünf Francs zu bezahlen, dann dürften sie arbeiten. »Angesichts der drohenden Haltung der französischen Gewerkschafter und um unsere Arbeit fürchtend, gaben wir alle ihnen fünf Francs.« Ein anderer Arbeiter behauptete gar, er hätte zehn Francs zahlen sollen und sei, da er keinen Centime dabei hatte, von den Delegierten geschlagen worden. Nach der Zahlung der geforderten Summe erhielten die Algerier ihre Gewerkschaftsausweise. In Folge dieses Zwischenfalls verloren sie eine ganze Arbeitsstunde, was sie weitere sechs Francs kostete. Bemerkenswerterweise, so fügte der Commissaire Spécial de Police hinzu, wurde kein französischer Arbeiter bedroht. Einige Tage später kam M. Machtel, Chef der Firma Borrie, zu Azario und erklärte, er schätze zwar die Arbeit der Algerier, habe aber einen Vertrag mit dem Cartel Autonome unterzeichnet, demzufolge er nur Arbeiter mit Aus­weisen 69 Lyon Républicain, 8.8.1934. 70 Der Ausgang des Streiks bleibt unklar. 71 ADR 10/M/470.

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[Cartes syndicales] des Cartels einstellen würde. »Ihm sei nun bewusst geworden, dass er zu eng mit dem Cartel verbunden sei, aber er erklärte, er habe unter Druck gestanden, den Vertrag zu akzeptieren, da ihm die Gewerkschaftsführer Krawall angekündigt hätten, sollten nicht gewerkschaftlich organisierte ›Elemente‹ eingestellt werden.«72 Das Beispiel zeigt einmal mehr eindrucksvoll, wie mächtig das Cartel auf den Baustellen Lyons war, auch wenn Azario faktisch die staatliche Macht hinter sich hatte. Die Algerier mussten aber nicht nur mit Druck seitens des Cartels zurecht kommen, sondern auch mit Azario, der nicht nur Arbeitsstellen vermittelte, sondern auch für die geringe soziale Wohlfahrt zuständig war, die algerische Arbeiter etwa in Form von Lebensmittelmarken erhielten.73 Als entschiedener Anti-Kommunist sorgte er dafür, dass keiner seiner Arbeiter linken Ideen anhing. Faktisch konnte er unliebsame algerische Arbeiter auf schwarze Listen setzen, wie linksgerichtete Algerier klagten. Selbst die von Algeriern frequentierten Kaffeehäuser und Restaurants, in denen diese Arbeit fanden, wurden immer wieder von Azarios Gehilfen besucht, die Algerier, die sich nicht seiner Organisation unterwerfen wollten, beleidigten und bedrohten.74 Der Arbeiter Benbalah, Mitglied der »Union des musulmans nationalistes communistes«, bietet ein Beispiel für Schwierigkeiten, die linken Algeriern von dieser Seite drohten. Im Mai 1935 wurde er beim Verteilen kommunistischer Flugblätter erwischt und kurz darauf entlassen. Selbstverständlich verlor er Azarios Fürsprache, was es ihm unmöglich machte, Arbeit zu finden. So erklärte ihm ein Arbeitgeber, er würde nur jene Algerier einstellen, die von Azario empfohlen waren. Erst als er dem Sonderkommissar der Polizei versprach, sich von kommunistischen Aktivitäten fernzuhalten, und der Kommissar daraufhin Azario bat, ihm eine erneute Empfehlung auszustellen, fand Benbalah eine neue Stelle.75 72 Zu beiden Fällen ADR 10/M/225. Manchmal scheint das Cartel von algerischen Arbeitern verlangt zu haben, sich ihm anzuschließen – womit es diese behandelte wie alle anderen Arbeiter auch. Andererseits gab es auch Situationen, in denen arbeitslose (französische) Arbeiter verlangten, dass ihre ausländischen Kollegen gefeuert werden sollten. Im April 1929 beispielsweise wurden zwei arbeitslose Maurer wegen entrave à la liberté du travail festgenommen. Sie hatten die cartes syndicales auf einer Baustelle in Villeurbanne sehen wollen und zwangen die Arbeiter anschließend, die Arbeit einzustellen. Bei ihrer Befragung durch die Polizei gaben sie an, sie wollten gegen die Anwesenheit von »fremden« [étrangers] Arbeitern (ob sie damit ausländische Arbeiter meinten oder solche, die nicht dem Cartel angehörten, wird nicht ganz klar) protestieren, Lyon Républicain, 12.4.1934. Leider konnte ich keine Beispiele aus anderen Gewerben finden, was nicht bedeutet, dass es sie nicht gab, einzig, dass sie nicht in den Quellen überliefert sind. 73 Lewis, S. 200–207. 74 ADR 10/M/223; siehe auch die Akte zu Versillé in ADR 10/M/470. Azario habe, so eine Beschwerde algerischer Arbeiter bei Berliet, dafür gesorgt, dass sie gefeuert wurden, weil sie angeblich Mitglieder des Etoile Nord-Africaine, einer kommunistischen Organisation, seien. Azario wies diese Vorwürfe natürlich scharf zurück. 75 ADR 10/M/223.

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5.3 Niedergang des Cartels und Aufstieg der Kommunistischen Partei In dieser Situation wirtschaftlicher Krise und politischer Unruhe machte das Cartel eine schwere interne Krise durch.76 Im März 1934 hatte eine Gruppe Maurer den Sekretär des Cartels, Vacheron, angegriffen. Im Verlauf des Jahres, bis zum Kongress des Cartels im Oktober 1934, nahmen die Spannungen zu, wobei es immer wieder zu Gewalt kam. Am Ende des Jahres wurden mehrere Mitglieder der alten Führung ausgeschlossen.77 Worin lagen die Gründe für diese Krise? Den Ausgeschlossenen wurde vorgeworfen, Rechnungen gefälscht zu haben um so Veruntreuungen zu verbergen, was die Bauarbeitergewerkschaft an den Rand des finanziellen Kollaps brachte. Einige Monate später, zu Beginn des Jahres 1935, wurde schließlich Gustave Eysseris, die »Seele« der alten Führung, wegen Unterschlagung von Geldern angeklagt. Im März 1935 machte der neue Sekretär, Chaintreuil, diese Vorwürfe in einer Serie von Artikeln im Effort öffentlich. Schließlich musste auch Eysseris gehen, und das Cartel zeigte ihn formal an. Die ausgeschlossenen Führer schlossen sich zunächst der CGT an, wurden aber bei der Vereinigung von CGT, CGTU und Cartel im Frühjahr 1936 erneut ausgeschlossen, um eine Vorbedingung der autonomen Maurergewerkschaft zu erfüllen.78 Sie gründeten daraufhin ein neues »Syndicat autonome«, das eine dezidiert rechte Position einnahm und sogar mit den Arbeit­gebern zusammenarbeitete.79 Ob diese Beschuldigungen der Wahrheit entsprachen, lässt sich nicht sagen, aber zumindest im Fall von Eysseris, so Ochandiano, scheinen sie plausibel zu sein. Gleichwohl ist es, wie Ochandiano weiter argumentiert, nur sekundär, wie berechtigt diese Vorwürfe waren. Entscheidend ist vielmehr, welche Konsequenzen sich aus dem Konflikt ergaben, und tatsächlich ließe sich spekulieren, ob die gesamte Affäre nicht eine politische Zielsetzung hatte. Der nach den Februarereignissen herrschenden grundsätzlichen Einheitsstimmung zum Trotz blieb die Führung des Cartels ihrer syndikalistischen und antikom­ munistischen Grundhaltung treu, etwa indem sie das politische System der Sowjetunion als »roten Faschismus« denunzierte.80 Unter dem Eindruck der politischen Mobilisierung auf den Straßen Lyons, die den Kommunisten einen enormen Prestigegewinn einbrachte, verlor diese Fraktion an Rückhalt, weshalb die alte Führung kaum noch Unterstützung fand, als sie von der »Minderheit« 76 Zum Niedergang des Cartels und der Aufstieg der PCF im Baugewerbe nach den Sommerstreiks 1936 Ochandiano, Formes, S. 152–154, 166–160; Moissonnier, Bd. 1, S. 297 f., 322–327, 334 f. 77 L’Effort, 21.4.1934, 6.10.1934, zitiert in Ochandiano, Formes, S. 153. 78 ADR 10/M/471. 79 Ochandiano, Formes, S. 153 f. 80 Ebd., S. 154. Er zitiert aus L’Effort, 7.4.1934.

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angegriffen wurde. Nachdem die Gruppe um Chaintreuil Anfang 1935 die Führung des Cartels übernommen hatte, nahm der Einfluss der Kommunisten unter den Bauarbeitern rapide zu. Im Dezember 1935 schließlich fand ein Treffen zwischen Cartel und CGTU statt; die Vereinigung folgte nur zwei Wochen später, am 12. Januar 1936.81 Welche Auswirkungen diese grundsätzliche Einheitsstimmung für Beziehungen zwischen Kommunisten und Autonomen hatte, zeigt ein Zwischenfall im Frühjahr 1934 auf der Baustelle Montée de Choulans, den Albert Fau beschreibt. Er belegt, so Fau, wie sich die Beziehungen zwischen beiden Gruppen  – Fau gehörte der kommunistischen Fraktion an  – geändert hatten. Gemeinsam mit einem Genossen der CGTU sollte Fau dort nach Arbeitsschluss um Mitglieder werben, was ihnen zunächst auch gelang. Dann aber tauchte überraschend ein kräftiger Autonome auf, der »nicht den Ruf hatte, um ›schlagende‹ Argumente verlegen zu sein.« Er war sichtlich verärgert über die Erfolge Faus, und so sah es zunächst so aus, als würde es zu einer Schlägerei kommen. Dann aber schlug der Autonome, sehr zur Erleichterung Faus, eine gemeinsame Versammlung vor, die ihnen erlaubte, die Situation »ohne Gesichtsverlust zu bereinigen.« So wurde »jene abscheuliche Stimmung des Kampfes zwischen den verschiedenen Organisationen« überwunden.82 Anders als im März 1931, als ein ähnlicher Zwischenfall in einer Schlägerei geendet hatte, konnte der Konflikt im Frühjahr 1934 friedlich gelöst werden. Gleichwohl bedeutete dies nicht, dass von nun an Harmonie im Bauarbeiter­ milieu herrschte. Zahlreiche Maurer, dem wichtigsten Gewerbe im Cartel, folgten der ausgeschlossenen Führung zur CGT, deren Maurergewerkschaft nun immerhin 800 Mitglieder zählte, was der CGT erlaubte, eine effektive Kontrolle über einige Baustellen durchzusetzen. Ohne Mitgliedskarte der CGT ließ sich dort keine Arbeit finden. Damit schien ein Wiederaufflackern der Konflikte von 1930 wieder möglich, nicht zuletzt, weil im Mai 1935 der Gewerkschafts­ sekretär des Syndicat des maçons confédérés von einer Gruppe Unitaires zusammengeschlagen worden war.83 Diese Konflikte belasteten auch die Ver­ einigung von CGT und CGTU insgesamt im Département du Rhône, wo sich zahlreiche Bauarbeitergewerkschaften noch nicht vereinigt hatten, weshalb sie auf dem Einigungskongress keine Stimme haben würden, was die Position der CGTU schwächte. Erst nach einigen Querelen, bei denen sich der Führer der CGT, Marius Vivier-Merle, den Unmut kommunistischer Bauarbeiter zuzog, wurde die Einheit der Bauarbeitergewerkschaften im April 1936 erreicht. ­Vivier-Merle blieb aber unter Bauarbeitern verhasst.84

81 Zum Einigungsprozess Ochandiano, Formes, S. 154–158. 82 Fau, S. 135. 83 In anderen Gewerben, wie bei den Erdarbeitern, kam es nicht zu solchen Konflikten, Ochandiano, Formes, S. 155. 84 Ebd., S. 157.

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Der Aufstieg der Kommunistischen Partei war nicht aufs Baugewerbe beschränkt, was sich erneut bei den Kommunalwahlen im Mai 1935 zeigte.85 In Lyon konnte die Kommunistische Partei erhebliche Stimmgewinne verbuchen, deren Stimmenanzahl von 7.352 auf 9.067 wuchs, während die Sozialisten noch deutlicher verloren und nun nur noch 15.942 nach zuvor 22.317 Stimmen errangen.86 Hinzu kam, dass die PCF nun den Bürgermeister in zwei von Lyons Arbeitervororten stellte, Villeurbanne und Vénissieux, was der Partei neue finanzielle Spielräume eröffnete.87 Allerdings erbten die Kommunisten auch ein finanzielles Desaster in Villeurbanne, für das der vorherige sozialistische Bürgermeister Goujon verantwortlich zeichnete, was die Möglichkeiten, kommunistische Politikvorstellungen umzusetzen, massiv einschränkte.88 Der einzige Wermutstropfen für die Kommunisten war der Verlust des Vororts Vaulxen-Velin, wo ein sozialistischer Kandidat mit Unterstützung der Parti Radical den kommunistischen Amtsinhaber verdrängte.89 Zahlenmäßig explodierte die PCF förmlich. Ein interner Parteibericht vom 15. Juni 1935 behauptete, die Zahl der Bezirksgruppen [rayons] in der gesamten Region Lyon hätte sich binnen Jahresfrist von 6 auf 9 erhöht, die der Zellen von 74 auf 102, wobei es 12 Fabrikzellen gab, die bisher eine große Schwäche der Partei dargestellt hatten, auch wenn der Bericht immer noch über den Mangel an Betriebszeitungen klagte. Insgesamt habe die Mitgliedschaft innerhalb des vergangenen Jahres um 50 % zugenommen. Die Bezirksgruppe von Villeurbanne allein habe seit April 1935, so die vielleicht übertriebene Angabe des Berichts, 1.000 neue Mitglieder zu verzeichnen gehabt. Auch in den verschiedenen antifaschistischen Komitees der Region, in denen zahlreiche parteilose Arbeiter und Gewerkschafter Mitglied waren, übten die Kommunisten entscheidenden Einfluss aus, auch wenn die Mitgliedszahl der insgesamt 41 Komitees im Juni 1935 von 3.200 im Vorjahr auf 2.500 Personen gesunken war. Die Anschuldigungen der Sozialisten, die Kommunisten würden diese nur scheinbar unabhängigen Komitees dazu missbrauchen, parteilose oder sozialistische Arbeiter für kommunistische Politik zu instrumentalisieren, scheinen daher nicht unberechtigt 85 Zur neuen Stärke der PCF Noiriel, Workers, 154–174; Mortimer, S.  240–255. Beide betonen die Bedeutung von Fabrikzellen, hierzu auch Girault, Implantation. Speziell zu Lyon Olivieri. Er argumentiert, Kommunisten hätten sich, auch wenn die Fabrikzellen vor 1935 schwach blieben, in den Fabriken einen gewissen Ruf erarbeitet, der die Partei für Arbeiter attraktiv machte. Allerdings werden für diese These kaum Belege geboten. Mir erscheint sie daher die Rolle der Fabrikzellen vor 1935 zu überschätzen. 86 Insgesamt bleiben die Sozialisten während der Volksfront relativ unsichtbar. Im Unterschied zu den Kommunisten scheinen sie kaum nennenswerte Aktivitäten entfaltet zu haben. Sie traten damit nicht als treibende Kraft der Volksfront in Erscheinung. 87 Zu diesen Wahlen Moissonnier, Bd. 1, S. 339–361, Zahlen S. 357, Fn. 128; AD SSD 3 MI 6/117, Séquence 743. 88 Zu Villeurbanne und dem dortigen finanziellen Debakel Meuret. 89 Selbst in kommunistischen Hochburgen wie im »Roten« Bobigny konnte die PCF erst im Verlaufe der Volksfront einen Massenanhang gewinnen, so Fourcaut, Bobigny, S. 101 ff.

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gewesen zu sein. Schließlich verdoppelten sich auch die Verkaufszahlen der Voix du Peuple von 3.500 auf 7.000.90 Der Stadtteil Monplaisir diente als besonders gutes Beispiel. Im vorausgegangenen Jahr hatte es dort nur eine Zelle mit 26 Mitgliedern ge­geben, nun gab es fünf mit insgesamt 76 Mitgliedern. Ein gutes Beispiel für die Rekrutierungsarbeit einer Zelle: Im Herbst 1934 hatte die Stadtteilzelle von Monplaisir etwa dreißig Mitglieder gezählt; unsere Genossen entschieden, nachdem sie gute Ergebnisse erzielt hatten, zwei neue Zellen zu gründen, eine in dem neuen Viertel. Im April hatten sie weitere Gelegenheiten die Rekrutierungsarbeit zu intensivieren, weshalb sie eine Fabrikzelle in der Metallfabrik des Stadtteils gründeten; während der darauffolgenden Kommunalwahlen schufen sie eine weitere Zelle in einer anderen Gegend des Stadtteils, und in den letzten Tagen schließlich schufen sie in einer Elektrofabrik, in der hauptsächlich Frauen angestellt sind, eine Fabrikzelle, die eine Frau als Zellenleiterin hat, was zeigt, dass unsere Genossen die Bedeutung des weiblichen Elements im revolutionären Kampf ver­ standen haben.91

Gegenüber der im vorigen Kapitel dargestellten Situation hatte sich die Lage komplett gewandelt. Vor der Krise war das lokal organisierte Cartel Autonome du Bâtiment die tonangebende Kraft in der Arbeiterbewegung Lyons gewesen, während Arbeiter in anderen Branchen insgesamt betrachtet wenig Aktivitäten gezeigt hatten. Die Kommunistische Partei hatte kaum Erfolge verbuchen können, von ihr losgetretene Streikbewegungen waren regelmäßig katastrophal gescheitert. In den Auseinandersetzungen mit dem Cartel Autonome 1930 hatte die Partei keinerlei Chance. Nun hingegen war die alte, autonome Führung des Cartels davongejagt und durch eine pro-kommunistische Führung ersetzt worden. Revolutionärer, autonomer Syndikalismus hatte seine Attraktivität für Bauarbeiter eingebüßt.92 Die Kommunistische Partei dagegen hatte, nicht nur unter Bauarbeitern, dramatisch an Ansehen gewonnen. Kommunistische Fabrikzellen, die vor 1934/35 weitgehend bedeutungslos geblieben waren, begannen nun die Bourses du Travail als zentrale Orte der Arbeiterbewegung zu

90 AD SSD 3 MI 6/117, Séquence 743; Mann, Forging, S. 149. Zur wachsenden Bedeutung von Kommunisten in Gewerkschaften Boulouque. Dieser sieht jedoch keine Politisierung der Gewerkschaften, sondern eine »Syndikalisierung« der Kommunistischen Partei. Allerdings wird dieses Argument nicht unbedingt von den von ihm vorgestellten Belegen gestützt, vor allem weil er kaum auf Praktiken schaut. 91 AD SSD 3  MI 6/117, Séquence 743. Wenn auch die PCF in Monplaisir unter Frauen an Zustimmung gewonnen hatte, so spielten Frauen in der Partei doch eine eher geringe Rolle. 92 Ratel, S.  100–107, meint, revolutionärer Anarchosyndikalismus habe weiterhin eine An­ ziehungskraft auf Bauarbeiter gehabt. In der Tat gewann die CGT-SR, die sich nicht der wiedervereinigten CGT anschloss, an Mitgliedern hinzu, dies aber nicht in dem Maße wie die CGT.

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ersetzen, wie Gérard Noiriel betont hat.93 Dies wirft die Frage auf, weshalb das einst so erfolgreiche Cartel einen solch rapiden Niedergang erlebte, und was auf der anderen Seite den Aufstieg der Kommunistischen Partei sowohl unter Bauarbeitern als auch im »neuen Proletariat« (Noiriel) begünstigte. Grundsätzlich fiel die Antwort der Kommunisten auf die doppelte Krise überzeugender aus als jene des Cartels. Die ökonomische Krise führte, wie oben ausgeführt, dazu, dass das Cartel nicht mehr in der Lage war, die Gemeinschaft auf den Baustellen am Leben zu erhalten. Die Stärke des Cartels hatte darin bestanden, Arbeiter auf lokaler oder bestenfalls regionaler Ebene zu organisieren, ohne dass es nach dem Staat als intervenierender oder regulierender Kraft gerufen hätte. Diese autonome Strategie funktionierte in sozialen Auseinandersetzungen mit der lokalen Arbeitgeberschaft; sie funktionierte nicht mehr im Moment der Krise. Die Rufe nach staatlicher Intervention in Form von großen Bauvorhaben zeigen, dass sich das Cartel nicht mehr auf seine eigene Stärke verlassen konnte. Seine Theorie eines »Komplotts« der Arbeitgeber gegen die Arbeiter, das für die Krise verantwortlich sei, zeigt den beschränkten Horizont des Cartels, seine Ambivalenz gegenüber ausländischen Arbeitern, die es nur unzureichend integrieren konnte, zeigt schließlich die praktischen Probleme dieses lokalistischen Ansatzes, ein Problem, das wohl durch die gemeinsamen regionalen Wurzeln vieler französischer Arbeiter noch verschärft wurde. Das Cartel war, kurz gesagt, nicht in der Lage, mit den Problemen einer Krise, die über den lokalen Horizont hinausreichte, umzugehen. Hinzu kam, dass der ausschließliche Blick auf soziale Auseinandersetzungen und die Weigerung, sich in politische Fragen einzumischen, keinen Lösungsansatz für die eminent politische Krise, in der sich die Republik im Frühjahr 1934 befand, bieten konnte, trotz der Behauptung, dass die Gewerkschaften den Faschismus am besten bekämpfen könnten. Das Urteil Gérard Noiriels, der Bauarbeiter als »altes Proletariat« kategorisiert, dessen Organisations- und Aktionsformen zunehmend anachronistisch wirkten, trifft zu.94 Oben wurde das Lyoner Bauarbeitermilieu nicht ohne Sympathie beschrieben; dennoch, jegliche Nostalgie wäre verfehlt. In einer (inter-) nationalen politischen und wirtschaftlichen Krise konnte es nicht bestehen. Die Kommunistische Partei erwies sich in dieser Situation als flexibler und letztlich überzeugender. Indem sie, trotz der theoretischen Privilegierung der Fabrikzellen, Arbeiter de facto vor allem auf Stadtteilebene organisierte, konnte sie nicht nur Arbeiter verschiedener Branchen, sondern auch Erwerbslose erfassen, selbst wenn die Erfolge der kommunistischen Erwerbslosenbewegung zweifel93 Noiriel, Workers, S. 154 f. Zu Fabrikzellen in Lyon Mann, Forging, S. 150. Er behauptet, 1936 hätte es 47 Fabrikzellen mit 894 Mitgliedern in Lyon und seinen Vororten (ohne Villeurbanne), sowie 53 Nachbarschaftszellen mit 1.216 Mitgliedern gegeben; 1938 hatte sich das Gewicht zu Fabrikzellen verschoben, von denen es nun 71 gegenüber 47 Nachbarschafts­ zellen gab, wobei unklar ist, ob sich diese überlappten. Seine Quelle ist Chevalier, S. 125–127. 94 Noiriel, Workers, 146 f.

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haft bleiben. Das Cartel hingegen, das äußert effizient Bauarbeiter organisieren konnte, wollte und konnte weder Arbeiter anderer Branchen noch Arbeitslose integrieren. Diese umfassendere Form kommunistischer Organisierung erwies sich im Moment der Krise als wesentlich effizienter. Vor allem aber rückten Kommunisten Politik in den Vordergrund. Zunächst konnte sich die Kommunistische Partei als einzige Kraft präsentieren, die konsequent und erfolgreich den Faschismus bekämpfte, womit sie selbst auch ihre Wahlerfolge erklärte. So hieß es nach den Wahlen 1935, in »Lyon wie auch überall sonst in Frankreich erscheint unsere Partei als Sieger [champion] im antifaschistischen Kampf.«95 Darüber hinaus konnte Politik in dieser Situation eine integrative Kraft entfalten, ganz im Gegensatz zu Leipzig, wo Politik eher eine spaltende und destruktive Wirkung hatte. War es der anti-politische Syndikalismus gewesen, der helfen sollte, politische Differenzen zu überbrücken, so war es nun Politik, die über Differenzen in Gewerkschaftsfragen hinweg Einheit schuf. Das Cartel hatte alle Bauarbeiter, ungeachtet ihrer politischen Meinung, organisieren wollen, was solange funktionierte, wie es nicht zu einer politischen Krise kam. Im Februar 1934 aber ließ sich Politik nicht länger ignorieren, wohl aber ließen sich gegensätzliche Standpunkte in Gewerkschaftsfragen leichter ignorieren. So ließen sich Arbeiter aus verschiedenen Gewerkschaften und verschiedenen Branchen unter der Fahne des Antifaschismus mobilisieren. Nicht zuletzt konnten auf diese Weise ausländische Arbeiter, insbesondere aus Spanien und Italien, integriert werden. Darüber hinaus konnten die Kommunisten auf einen starken, interventionistischen Staat verweisen, der vor der Krise der kapitalistischen Welt gefeit war: die Sowjetunion. Indem das Cartel nach staatlichen Interventionen verlangte, näherte es sich also der kommunistischen (wie auch sozialistischen) Position an. Und schließlich konnten die Kommunisten eine Erklärung der internationalen Krise bieten, die der Situation eher angemessen war als die lokalistischen Verschwörungstheorien des Cartels.96 All diese Faktoren begünstigten den Aufstieg der Kommunistischen Partei in Lyon. Allerdings wurden in diesem Prozess auch die sozialen Bindungen, die speziell das Bauarbeitermilieu zusammengehalten hatten, aufgelöst, wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird. Der Fokus auf die politische Gesamtsituation führte zu einer Vernachlässigung spezifischer lokaler Machtverhältnisse und letzt­ endlich dazu, dass erfolgserprobte Taktiken keine Anwendung mehr fanden. Bevor jedoch der rapide Niedergang der Volksfront in den Blick rücken kann, soll zunächst ihr größter Triumph, die Sommerstreiks 1936, diskutiert werden.

95 AD SSD 3 MI 6/117, Séquence 743. 96 Mortimer, S. 247. Er erklärt den Aufstieg der PCF damit, dass die Unterscheidung zwischen Parteien und Gewerkschaften im Zuge der Politisierung 1936 verschwand. Dieses Argument scheint mir überzogen zu sein, auch wenn es in die richtige Richtung weist.

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5.4 Die Sommerstreiks 1936 in Lyon Auf nationaler Ebene errang die Volksfront im Frühjahr und Sommer 1936 ihre spektakulärsten Siege. Die kommunistische und sozialistische Partei sowie die linksrepublikanische Parti Radical hatten sich darauf geeinigt, dass nur noch derjenige Kandidat, der im ersten Wahlgang zur Nationalversammlung am 26.  April 1936 die meisten Stimmen auf sich hatte vereinigen können, zu den Stichwahlen am 3. Mai antreten würde. Auch wenn die Parteien der Volksfront insgesamt kaum einen Stimmenzuwachs erreichen konnten, so führten ihre Wahlabsprachen doch zu einem dramatischen Gewinn an Sitzen in der Nationalversammlung, wo die Kommunisten nun 72 (nach zuletzt 11) Abgeordnete stellten. Sozialisten konnten ihr Ergebnis immerhin von 132 auf 149 ver­ bessern, während die Parti Radical Sitze einbüßte und nur noch auf 111 anstatt auf 160 Sitze kam. Als Vorsitzender der stärksten Partei bildete Léon Blum die erste Volksfrontregierung, wobei die Kommunisten dem Kabinett allerdings fernblieben.97 In Lyon hatten Kommunisten zwei Sitze hinzugewonnen, die Sozialisten einen, während die Radikalen fünf verloren hatten.98 Wenige Wochen nach den Wahlen brachen die berühmten Sommerstreiks in Paris aus, wobei es zu zahlreichen Fabrikbesetzungen kam. In Lyon war zunächst nur die kleine Gießerei Rivolliet von den Streiks betroffen.99 Die dor­ tigen Arbeiter verlangten sowohl die Wiedereinstellung von drei entlassenen Arbeitern, von denen zwei Gewerkschaftssekretäre der CGT waren, sowie eine erhebliche Lohnerhöhung. Dem Beispiel ihrer Pariser Kollegen folgend besetzten auch sie die Fabrik um Streikbrecher vom Betreten der Fabrik abzuhalten.100 Eine größere Streikbewegung entstand in Lyon allerdings erst nachdem die Übereinkünfte von Matignon am 8. Juni unterzeichnet worden waren, in denen die Arbeitgeber den Arbeitern unter dem Druck der Ereignisse wie auch der Regierung eine erhebliche Lohnerhöhung zugestanden hatten, während die Gewerkschaften sich im Gegenzug verpflichteten, die Streiks zu beenden. Den Anfang machten in Lyon die Arbeiter beim Autohersteller Berliet, die ihre Fabrik am 11. Juni besetzten. Erst dann breitete sich die Streikbewegung zunächst in den Vororten, danach im Zentrum Lyons aus, wo selbst Kellner ihre Arbeit niederlegten. Auf dem Höhepunkt der Streikbewegung waren in der Region Lyon, so der Präfekt, etwa 50.000–55.000 Arbeiter in den Streik getreten, in der ge 97 Siehe grundsätzlich die erwähnte Literatur zur Volksfront. Zu den Wahlen auch ADR 4/M/236. 98 Für detaillierte Zahlen Faure, S. 22; Moissonnier, Bd. 1, S. 477–498. 99 Zum Folgenden Walter. 100 Walter, S. 68 ff.; Moissonnier, Bd. 1, S. 507; Lyon Répubicain, 3./4.6.1936. Zu den Fabrik­ besetzungen Bodin; Torigian; Prouteau. Die These, bei den Besetzungen habe es sich um eine revolutionäre Bewegung gehandelt, findet kaum noch Zustimmung. Vielmehr wollten die Arbeiter wohl Streikbrecher von den Fabriken fernhalten, Sirot, Grève, S. 119–124.

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samten Rhôneregion sogar mehr als 70.000.101 Die Lage beruhigte sich erst im August, auch wenn die Streiks damit keineswegs ein Ende gefunden hatten. Die große Welle enthusiastischer Streiks aber war zu Ende, und dementsprechend änderte sich die Stimmung bei den Streiks. Julian Jackson bezeichnete diese massive Streikbewegung im Sommer 1936 treffend als »soziale Explosion«.102 Im Gegensatz zu den Proteststreiks im Februar 1934 standen soziale Auseinandersetzungen und nicht Politik im Vordergrund dieser Streiks.103 Entgegen früheren Deutungen der Streiks als politisch-revolutionärer Aktion argumentiert Nicolas Walter, der eine exzellente Mémoire de maîtrise über die Streiks in Lyon vorgelegt hat, dass Arbeiter vor allem höhere Löhne wollten. Nur ein einziges Mal innerhalb der zweimonatigen Streikwelle tauchte die Forderung nach »Arbeiterkontrolle« [contrôle ouvrier] auf. Den Arbeitern ging es um Verbesserungen innerhalb des kapitalistischen Systems, und nicht darum, diesem einen »finalen Schlag« zu versetzen. »Der Generalstreik und die bessere Welt sind bald vergessen.«104 Gleichwohl unterschied sich die soziale Mobilisierung im Sommer 1936 fundamental von jenen vorheriger Jahre, nicht zuletzt deshalb, weil das »neue Proletariat« die (politische) Bühne betrat. Zum ersten Mal beteiligten sich Arbeiter neuer Industrien, wie Metall- oder Chemiearbeiter, massiv an einer Streik­ bewegung, wie auch Angestellte im Dienstleistungsbereich wie Kellner oder Verkäuferinnen und Verkäufer großer Warenhäuser.105 Diese breite Mobilisierung der Arbeiterschaft stellte eine der entscheidenden Neuerungen der Volksfront dar. Arbeiter »alter« Industrien, wie Bauarbeiter, spielten auch weiterhin eine wichtige Rolle, allerdings war auch ihre Arbeit im Zuge fortschreitender Mechanisierungen einem rapiden Wandel unterworfen. Wie fügt sich diese soziale Streikbewegung in das bisher gezeichnete Bild einer zunehmenden Bedeutung des Politischen ein? Im Kern, so das hier vorgebrachte Argument, schuf die politische Mobilisierung seit dem Februar 1934 gleichsam einen Raum, in dem sich eine soziale Mobilisierung vollziehen konnte. Die politische Organisierung der Arbeiter über Gewerbegrenzen hinweg führte zu deren sozialer Integration, auf der die Streikbewegung 1936 auf101 Zu Lyon, Walter, Grèves, S. 110. Zum Département du Rhône, ADR 4/M/236. Dem Präfekten zufolge befanden am 10. Juli 71.000 Arbeiter im Streik. 102 Jackson, Popular Front. 103 Dies entgegen Shorter u. Tilly. Aus ihrer Sicht war es ein politischer Streik, da Arbeiter eine Staatsintervention wollten. Dies ist zunächst überaus spekulativ. Sicherlich kam es im Ergebnis zu einer Intervention des Staates, aber sie bieten keine Belege dafür, dass dies die Intention der Arbeiter war. Darüber hinaus übergehen sie so den Unterschied zwischen dem genuin politischen Streik 1934 und den Streiks zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen 1936. 104 Walter, S. 120; Lyon Républicain, 16.6.1936, wo eine Gruppe von »distributeurs d’essence« erklärte: »Notre mouvement n’a rien de politique.« 105 Zu den Streiks die genannte Literatur und speziell Duclos u. a. Eine andere Interpretation bietet Prost, Grèves; jüngst Sirot, Vague.

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bauen konnte.106 In diesem Sinne bestand, so die These, ein enger Zusammenhang zwischen politischer und sozialer Mobilisierung während der Volksfront, deren Dynamik sich im lokalen Rahmen Lyons nachvollziehen lässt. Hierzu ist es hilfreich, einen Blick auf lokale Vorläufer der großen Streikwelle zu werfen. An diesen Streiks lässt sich eine neue und andere Mobilisierungsdynamik ablesen, die von der vorangegangenen politischen Mobilisierung profitierte.107 Zu einem ersten größeren Streik (außerhalb des Baugewerbes) kam es im Februar 1935 in der Textilfabrik Gillet in Villeurbanne.108 Die Firmenleitung hatte versucht, eine zwölfprozentige Lohnminderung durchzusetzen, wogegen 1.800 Arbeiter in den Streik traten. Nach drei Tagen Streik gelang es ihnen, die Lohnminderung wenigstens auf sechs Prozent zu mildern, woraufhin im Juni 1935 eine weitere zweiprozentige Kürzung geplant war. Maurice Moissonnier sieht in diesem Streik ein erstes Anzeichen dafür, dass sich die gesellschaftliche Stimmung zu ändern begann. Fünf Monate später, im Juli 1935, brach ein erneuter Streik in der Firma aus, der die Zurücknahme der Lohnminderungen sowie bessere Arbeitsbedingungen, Hygieneeinrichtungen und nicht zuletzt die Wiedereinstellung des CGTU-Sekretärs Edouard Aubert zum Ziel hatte.109 Zunächst akzeptierte die Betriebsleitung Forderungen nach besseren Hygie­ neeinrichtungen und Schichtregeln, lehnte es aber ab, Aubert wieder einzustellen oder die Lohnkürzungen rückgängig zu machen. Unter, wie es scheint, kommunistischer Führung traten bald darauf die Arbeiter vier weiterer Textilfabriken in einen kurzen Solidaritätsstreik für ihre Kollegen bei Gillet.110 Unterdessen unterstützte die neugewählte kommunistische Kommunalverwaltung von Villeurbanne den Streik, indem sie streikenden Arbeitern gestattete, im örtlichen Theater Versammlungen abzuhalten, während die Brasserie du Théâtre einen Solidaritätsball organisierte. Schließlich halfen einige weitere Organisa­ tionen, etwa Arbeitslosenkomitees oder die Ligue économique, aber auch kleine Händler, den Streikenden finanziell. Eine solche Unterstützung der Streikenden durch die lokale Gemeinschaft hatte es bei Streiks von Bauarbeitern, die allein auf ihre Kraft vertrauten, nicht gegeben. In der Mobilisierung lokaler Unterstützer für den Streik ist daher eine entscheidende Neuerung zu sehen, die auch die Streiks im Sommer 1936 charakterisieren sollte.111 Am Ende des Streiks stand ein Erfolg, da die Lohnminderungen zurückgenommen wurden, auch wenn Gillet sich konsequent weigerte, Aubert wieder einzustellen. Die Streikwillig-

106 Zur Schaffung lokaler Milieustrukturen unter dem Mantel der PCF auch Fouraut, ­Bobigny, S. 38 f., 101–104, sowie grundsätzlich Kap. IV u. V. 107 Faure, S. 63–66. 108 ADR 10/M/471; Moissonnier, Bd. 1, S. 401–404. 109 Zu Aubert Moissonnier, Bd. 1, S. 402; Maitron, Bd. 17, S. 280–282. 110 Moissonnier, Bd. 1, S. 403. 111 Zur Mobilisierung der lokalen Gemeinschaft um den Streik materiell zu unterstützen und damit die Moral und den Gemeinschaftssinn der streikenden Arbeiter zu stärken, Sirot, Grèves, S. 139.

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keit von Arbeitern, das hatte die Auseinandersetzung gezeigt, war im Zunehmen begriffen. Ein zweiter größerer Streik im Vorfeld der Sommerstreiks 1936 fand in der Automanufaktur von Berliet, die Standorte in Vénissieux und Monplaisir hatte, im März und April 1936 statt.112 Maurice Moissonnier berichtet, die dortige Belegschaft habe lange Zeit Lohnminderungen und die Einführung des Taylorismus klaglos hingenommen. Aber am 18.  März 1936 hatte dies ein Ende. Etwa 500  Arbeiter verließen ihren Arbeitsplatz und riefen ihre Kollegen auf, sich ihnen anzuschließen. Nicolas Walter zufolge waren noch viele der Streiks im Frühjahr 1936 von alten Streikmustern gekennzeichnet, was bedeutet, dass nur eine kleine, radikale Minderheit der Arbeiter den Arbeitgebern die Stirn bot, während sich diese auf die Mehrheit ihrer Arbeiter verlassen konnten.113 Auch dies änderte sich mit dem Streik bei Berliet. Nach nur zwei Tagen hatten 4.500 Arbeiter die Arbeit niedergelegt, woraufhin Berliet die verbliebenen Arbeiter ausschloss. Kurz darauf trafen Arbeiter anderer Gewerbe, etwa öffentliche Transportarbeiter, Anstalten, die Metallarbeiter finanziell und moralisch zu unterstützen. Auch in diesem Fall konnten die Arbeiter auf die Unterstützung der kommunistischen Gemeindeverwaltung, in diesem Fall derjenigen von Vénissieux, bauen, die praktische Hilfe leistete, indem sie eine Suppenküche zur Verfügung stellte. Weitere Organisationen, wie die Groupe de défense des immigrés espagnoles, der Club de Foot-Ball, oder die Boule Populaire, sammelten Geld für die streikenden Arbeiter.114 Örtliche Kleinhändler erklärten sich mit dem Streik solidarisch und öffneten aus Protest gegen Berliet ihre Läden eine Stunde später. Auch in diesem Fall unterstützte die Gemeinschaft die streikenden Arbeiter. Allerdings war diesem Streik kein Erfolg beschieden, so dass die Arbeiter Ende April, nach mehr als anderthalb Monaten des Kampfes, an ihre Arbeitsplätze zurück kehrten. Aber die Bühne für weitere Kämpfe war geschaffen.115 Während der Streik bei Berliet noch andauerte, brach ein weiterer Streik in der Textilfabrik T. A. S. E. in Vaulx-en-Velin aus, die ebenfalls dem Textil­ konglomerat von Gillet gehörte.116 Erneut war es Aubert, der bei der Organisation des Streiks eine maßgebliche Rolle spielte.117 Dieser Streik hob sich von den 112 ADR 10/M/236; Lyon Républicain, März und April 1936, und La Voix du Peuple, März und April 1936; Moissonnier, Bd. 1, S. 465–468; Boyer; Corbel, Vénissieux. 113 Walter, S. 52 f. 114 La Voix du Peuple, 28.3.1936, 25.4.1936. 115 Der Streik ist auch aus anderen Gründen von Interesse. So weigerten sich Arbeiter am ersten Streiktag den Betrieb zu verlassen, was in gewisser Weise Fabrikbesetzungen anti­ zipierte. Während des Streiks funktionierte die Integration nordafrikanischer Arbeiter relativ gut. Trotz rassistischer Beleidigungen seitens eines streikenden Arbeiters erklärten die algerischen Arbeiter ihre Solidarität mit den streikenden Arbeitern. Schließlich verlief der Streik auch extrem gewaltsam. 116 Moissonnier, Bd. 1, S. 468–470, 498–500; Lyon Républicain, April und Mai 1936. 117 Im April 1936 führte er beispielsweise eine Demonstration streikender Arbeiter gegen die Verhaftung einer Arbeiterin und eines Arbeiters an, Moissonnier, Bd. 1, S. 470.

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vorhergehenden insofern ab, als sich unter den Streikenden viele Frauen befanden, wie der Lyon Républicain betonte, die sich bei Ausschreitungen im Mai als kaum weniger militant als ihre männlichen Kollegen erwiesen.118 Die Firmenleitung hatte versucht, Streikbrecher in Vénissieux anzuheuern, von wo aus sie mit Autos zur Fabrik in Vaulx-en-Velin gebracht werden sollten. Bei den streikenden Arbeiterinnen und Arbeitern löste dies große Unruhe aus, so dass die Situation am 13.  Mai eskalierte. Als die Autos gegen sieben Uhr morgens in Vénissieux eintrafen, warfen sich, so der Bericht im Lyon Républicain, Frauen zusammen mit ihren kleinen Kindern vor die Autos in der Hoffnung, diese aufzuhalten. Die Polizei wies die Fahrer daraufhin an, die Streikbrecher andernorts abzuholen, so dass es zunächst schien, als ob sich eine Eskalation vermeiden ließe. Aber eines der Autos kehrte zum Place Jules Grandclément zurück, wo sich die streikenden Frauen versammelt hatten. »Dies wurde als Provokation angesehen. Die Frauen und ihre Kinder legten sich vor die Autos um sie am Wegfahren zu hindern.« »In der Hoffnung, die Herzen der Autoinsassen zu rühren«, so das Streikkomitee, hielten sie ihre Kinder in die Höhe; »sie hofften, [die Streikbrecher in den Autos] daran zu erinnern, dass es ihre Pflicht war, auf Seiten der streikenden Arbeiter zu stehen, die für ihr Brot und dasjenige ihrer Kinder stritten.« Auf diese Weise machten die streikenden Frauen den Streik zu einer Familienangelegenheit, aber zeigten gleichzeitig, dass ihr Familienleben – die Kinder mit Brot zu versorgen – eine öffentliche Angelegenheit war. In diesem Moment schritt die Polizei mit aller Gewalt ein. Das Ergebnis waren vier verwundete Streikbrecher, die in dem Auto gesessen hatten, dreißig verletzte streikende Arbeiterinnen und Arbeiter, sowie ein verletzter Beamter. Zeugen zufolge agierte die Polizei mit großer Brutalität. Joly, der kommunistische Bürgermeister von Vénissieux: »Während dieser Szene sah ich eine Frau, die einen Schlag mitten ins Gesicht erhielt, der ihr die Lippen aufriss.«119 Diesmal endete der Streik mit einem Erfolg, und die Arbeiterinnen erhielten Lohnerhöhungen. Verglichen mit den im vierten Kapitel diskutierten Streiks im Baugewerbe zeichneten sich diese Streiks dadurch aus, dass sie die örtliche Nachbarschaft miteinbezogen, ein Muster, das auch die Sommerstreiks 1936 kennzeichnete. Hierin zeigt sich, so die hier vorgebrachte These, eine Auswirkung der politischen Mobilisierung nach den Februarereignissen 1934, hatten sie doch ebenfalls im Rahmen von Stadtteilen und über Gewerbegrenzen hinweg stattgefunden. Bei den Streiks im Vorfeld der großen Streikwelle wie auch bei jener selbst konnte gleichsam auf die während der politischen Mobilisierung geschaffenen sozialen Bindungen zurückgegriffen werden. In diesem Sinne konnte die soziale Mobilisierung von der ihr vorangegangenen politischen Mobilisierung profitieren.

118 Lyon Républicain, 15.4.1936, 13.5.1936. 119 Lyon Républicain, 14.5.1936.

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Um diese These zu untermauern, soll ein genauerer Blick auf die Beziehungen zwischen streikenden und besetzenden Arbeitern im Sommer 1936 und der Gemeinschaft um sie herum geworfen werden. »Das Bild einer geschlossenen, auf sich selbst beschränkten Fabrik ist falsch«, so Nicolas Walter pointiert, »weil es die notwendigen Verbindungen zwischen der Innen- und Außenwelt, die außergewöhnliche Öffnung der Fabrik gegenüber dem Viertel verdeckt.«120 Trotz der Streikposten und den Kontrollpunkten am Eingang zur Fabrik, wo jede eintreffende und gehende Person kontrolliert wurde, funktionierte der Streik nur in Verbindung mit dem quartier. Kleinhändler, Bäcker und Metzger unterstützten die Streikenden etwa mit Kantinen. In Vénissieux erklärten sich, so Walter, die Kleinhändler »mit den Kleinen gegen die Großen« solidarisch, auch wenn es sich nicht immer um eine selbstlose Solidarität handelte, gaben die Händler ihre Waren doch nur auf Kredit und nicht kostenlos heraus.121 Mittels Demonstrationen drückten einerseits ganze Stadtviertel, vor allem in Villeurbanne und in Vaise, Solidarität mit »ihren« streikenden Arbeitern aus.122 Andererseits veranstalteten die Belegschaften von Fabriken, deren Streiks bereits erfolgreich beendet waren, immer wieder Demonstrationen um ihre noch streikenden Kollegen zu unterstützen oder dem Viertel zu danken. Dabei demonstrierten, wie Walter betont, weder die Arbeiter eines spezifischen Ge­ werbes, noch einfach jene, die bereits siegreich aus dem Streik hervorgegangen waren, sondern die Arbeiterschaft eines Viertels: sie demonstrierten durch »­ihnen bekannte Straßen«, für ihnen »persönlich bekannte Genossen«. »Wenn die Fabrik kämpft, dann kämpft das ganze Viertel mit ihr, natürlich die Familien der Besetzer, aber auch Ladeninhaber und alle Arbeiter, die diesen Kampf als den ihren betrachten.«123 Dankesdemonstrationen siegreicher Arbeiter führten mehr oder weniger ziellos durch die Stadtteile wie Vaise oder Gerland zu den dortigen Fabriken, die über das gesamte Gebiet verstreut lagen.124 Zwar argumentiert Walter, dass diese Unterstützung oft spontan organisiert wurde und dass sozialistische oder kommunistische Bürgermeister versuchten, sich dabei zurückzuhalten, so dass sie als neutrale Vermittler fungieren konnten, aber lokale kommunistische Zellen scheinen, wie beispielsweise in Villeurbanne, eine tragende Rolle bei der Organisation dieser Unterstützung gespielt zu haben.125 Unabhängig von der genauen Rolle der Kommunisten ist hinter die 120 Walter, S. 126. 121 Ebd., S. 140. 122 Ebd., S. 140 ff. Siehe auch die verschiedenen Berichte im Lyon Républicain im Juni 1936, beispielsweise 12.6.1936: »Le ravitaillement s’organisa rapidement, et toute la soirée on vit de longues queues de femmes se dirigeant vers l’usine pour y apporter des vivres… et des jeux de cartes ou des boules.« 123 Walter, S. 141. 124 Ebd., S. 151. 125 Lyon Républicain, 17.6.1936, im Kontext des Streiks in der Färberei Doua,Villeurbanne: »Le ravitaillement est assuré par la municipalité de Villeurbanne ou par les cellules communistes.«

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These, die Unterstützung sei vollkommen spontan, quasi aus dem Nichts heraus entstanden, ein Fragezeichen zu setzen. Zu vermuten ist, auch wenn sich diese These schwerlich genau aus den Quellen nachweisen lässt, dass die politische Mobilisierung in den antifaschistischen Komitees dieser gleichsam den Boden bereitet hatte. Was im Innern der besetzten Fabriken geschah, die Besetzungen und deren ausgelassener, festivalartiger Charakter, ist in der Forschung oft behandelt worden. Auch in Lyon finden sich solche Bilder fröhlicher und feiernder Arbeiter. Zwar setzt Walter dem entgegen, dass der Streik eine harte und »gnaden­lose« Auseinandersetzung zwischen Arbeitern und Patrons war,126 aber die Streiks waren auch eine Ausnahmesituation, in der sich Ordnungen und Machtbeziehungen auflösten und umkehrten  – was manchem Arbeiter sicherlich Anlass zum Lächeln gab. Einerseits gab es strikte Regeln in besetzten Fabriken, die beispielsweise regelten, dass Arbeiterinnen und junge Arbeiter die Nacht nicht in der Fabrik verbringen durften, womit moralischer Kritik seitens der bürger­ lichen Presse vorgebeugt werden sollte, wie Walter meint.127 In manch anderer Hinsicht wurde aber insbesondere die Geschlechterordnung umgeworfen.128 Frauen hatten beispielsweise das Recht, in besetzten Fabriken abzustimmen, obwohl sie auf politischer Ebene kein Wahlrecht hatten. Sie beteiligten sich an Versammlungen und stellten in manchen Gewerben, insbesondere in der Textilbranche, sogar die Streikleitungen. Manchmal übernahm gar der Mann Haushaltsaufgaben, etwa in Villeurbanne, wo die Frau in der Fabrik schlief, während ihr Mann, der nicht mehr streikte, ihr das Essen in die Fabrik brachte.129 Aber nicht nur die Geschlechterordnung wurde vielfach infrage gestellt. Sobald einmal die interne Ordnung der besetzten Fabrik hergestellt war, nahmen die Besetzungen jenen festlichen Charakter an, über den vielfach geschrieben wurde.130 Arbeiterinnen und Arbeiter sangen, tanzten, spielten Fußball, und genossen das Leben in den Fabriken. Vor allem die neuerrungene 40-StundenWoche wurde gefeiert. Diese Praktiken, so Stéphan Sirot in seiner Studie über Streiks in Frankreich, stärkten das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den streikenden Arbeiterinnen und Arbeitern ebenso wie die Solidarität mit der Gemeinde.131 In den Somua-Fabriken organisierten Arbeiter »eine Versammlung für das ›Baby-40-Stunden‹, dessen Geburt gefeiert wird. […] Ein geschminkter Streikführer nähert sich ihm [dem Baby] und tauft es. Bei Fil Dynamo wird 126 Walter, S. 126. 127 Ebd., S. 134. 128 Etwa Reynolds. 129 Faure, S. 90. Er zitiert nach Vivas, journal municipal de la Ville de Villeurbanne, »1936, le Front Populaire, des Villeurbannais se souviennet«, juin 1936, S. 12, témoignage de Mme Renée Picon. 130 Der festliche Charakter der Streiks wurde vielfach beschrieben, etwa Prost, Front populaire, S. 94–99; Dell. 131 Faure, S. 94 f.; Sirot, Grève, S. 147–150. Sirot zitiert aus der Humanité, die bemerkte, während eines Konzerts könnten streikende Arbeiter all ihre Sorgen vergessen.

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eine Hochzeit gefeiert, die Hochzeit zwischen Mademoiselle-40-Stunden, ganz in weiß gekleidet, und Monsieur Angleichung-der-Löhne, der Frack und Zylinder trägt. Taufe und Hochzeit – zwei Sakramente, die das Individuum transformieren. Man kann die Hoffnung spüren, die erreichten Verbesserungen durch Ritualisierungen zu bestätigen. […] Falsche Zeremonie, wahrer Karneval. Eine Karnevalisierung der Welt, eine Umwertung der Werte […].« Fabriken zu besetzen war, so Walter weiter, »ein Höhepunkt [paroxysme] im Leben, der sich von den kleinen Sorgen des Alltagslebens abhob.« Arbeiterinnen und Arbeitern war wohl bewusst, dass dies eine Ausnahmesituation war.132 In dieser Ausnahmesituation findet sich die Berechtigung für das Bild lächelnder Arbeiter. Auch wenn es eine harte Auseinandersetzung war, bei der viel auf dem Spiel stand – für den Moment war es ein »Karneval«, ein Moment, in dem die bestehende Ordnung zusammenbrach.133 Die außergewöhnliche Dynamik der Sommerstreiks hat sicherlich etwas mit dieser Ausnahmesituation zu tun. Die politische Mobilisierung im Frühjahr 1934 und der Wahlsieg der Volksfront schufen die Bedingungen für die »soziale Explosion«, aber der enorme Erfolg der Sommerstreiks kann nur aus der Dynamik des Ereignisses selbst erklärt werden. Eine solch exzeptionelle Situation konnte aber nicht von Dauer sein. Bereits während der Sommerstreiks wurden die Grundlagen für weitere Konflikte gelegt, die schließlich im Kollaps der Volksfront enden sollten. Insbesondere nahmen die Spannungen zwischen Arbeitern und Unternehmern zu. Die Arbeitgeberseite hatte eine erniedrigende Niederlage erlitten und sann nun auf Rache. Um diese Eskalationsdynamik zu verstehen, soll zum Abschluss des Kapitels erneut ein Blick aufs Baugewerbe geworfen werden. Im Baugewerbe hatte es im Frühjahr einen Streik der Maurer gegeben, um Lohnminderungen zu verhindern. Zwar mussten die Maurer am Ende erheb­ liche Einbußen hinnehmen, doch diese fielen weniger hoch aus als von den Arbeitgebern ursprünglich gefordert. Es hatte sich dabei um eine relativ kurze Streikbewegung gehandelt, von der nur zwei Firmen tatsächlich betroffen waren. Der Sommerstreik im Baugewerbe unterschied sich hiervon dramatisch. Er dauerte länger, vom 19. Juni bis zum 28. Juli, umfasste fast die gesamte Bauarbeiterschaft, und erforderte die Intervention der Regierung in Paris um ihn zu beenden. Die Gewerkschaften verlangten die Anwendung des Matignonabkommens auch im Baugewerbe, was zu einer Lohnerhöhung von 7–12 % geführt hätte, während die Arbeitgeber nur 5 % anboten. Um ihre Forderungen durchzusetzen, entschieden sich die Bauarbeiter für den Streik. Andere Branchen als Vorbild nehmend besetzten sie Baustellen. Um die streikenden Arbeiter zu unterstützen, sammelte das Cartel Spenden in der Bevölkerung und erhob eine Streiksteuer von zunächst 5 Francs pro Tag, dann 10 Francs. Anstatt 132 Walter, S.  136 f. Zur Ausnahmesituation des Streiks grundsätzlich Sirot, Grève, Kap.  6, S. 141–143. 133 Jackson, Popular Front, S. 287.

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das Geld aber direkt an die streikenden Arbeiter auszuzahlen, organisierte das Cartel eine Suppenküche, wo Bauarbeiter und ihre Familien essen konnten.134 Während des Streiks versuchte das Cartel mit der den Arbeitgebern der Chambre Patronale du Bâtiment zu verhandeln, aber erste Gespräche scheiterten. Um die Front der Arbeitgeber zu durchbrechen, begann das Cartel, Verträge mit einzelnen Firmen abzuschließen, die willens waren, die vom Cartel geforderten Löhne zu bezahlen – eine altbekannte und erprobte Taktik. Es dauerte allerdings bis zum 16. Juli, bis es zu erneuten Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite kam. Da keine Einigung erzielt werden konnte, entschieden sich die Verhandlungspartner, die Schlichtung des Innenministers zu akzeptieren. Am 22. Juli wurde daraufhin eine Delegation des Cartels sowie Rousseau, Vorsitzender der Arbeitgebervereinigung, vom Innenminister, dem Arbeitsminister und Léon Blum empfangen. Diese verdeutlichten den Arbeitgebern, dass die Übereinkünfte von Matignon auf alle Branchen anzuwenden seien, auch wenn die Maurer gerade erst einen Vertrag unterzeichnet hatten. Rousseau weigerte sich daraufhin, sich der Schlichtung zu unterwerfen und erklärte, er habe nicht die Autorität, sofort eine Antwort zu geben, er würde bis zum 24. Juli antworten. Das Cartel hingegen unterwarf sich erwartungsgemäß der Schlichtung.135 Am 24.  Juli geschah nichts, woraufhin sich das Cartel entschied, zur »­direkten Aktion« zu schreiten. Während sich eine Arbeiterdelegation zum Sitz der Chambre Patronale begab, um die Entscheidung der Arbeitgeber in Erfahrung zu bringen, hielt das Cartel eine Versammlung in der Bourse du Travail ab. Das Gespräch zwischen der Arbeiterdelegation und den Arbeitgebern blieb kurz, verweigerten die Arbeitgeber doch schlicht jede Diskussion. Als die Vertreter der Chambre Patronale aber das Gebäude verlassen wollten, fanden sie die Treppen von streikenden Arbeitern besetzt vor; auch in den umliegenden Straßen hatte sich eine Menge versammelt. Die Unternehmer waren de facto Geiseln der Bauarbeiter in ihrem eigenen Domizil, auf dem die Arbeiter auch noch die Rote Fahne gehisst hatten. Die Arbeitgeber telefonierten sofort nach dem Präfekten, der seinen Polizeichef [Secrétaire Générale pour la Police], Bussière, schickte. Die Delegation des Cartels begleitete daraufhin die Arbeit­geber zur Präfektur, wo schließlich Verhandlungen stattfanden. Unter dem Druck der versammelten Arbeiter, die auch die Präfektur umzingelt hatten, gaben die Arbeitgeber schließlich nach und unterwarfen sich dem Schlichterspruch des Präsidenten des Appelationsgerichts, Vuillemot. Dieser verkündete am folgenden Tag seine Entscheidung, derzufolge die Matignonabkommen auch im Bau­gewerbe gelten würden. Nach drei weiteren Treffen erreichten die Löhne schließlich wieder das Niveau von 1930.

134 Ochandiano, Formes, S.  160–166. Seine Darstellung basiert vornehmlich auf dem Lyon Républicain, Juni und Juli 1936. 135 Ochandiano, Formes, S. 163.

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Der Streik legte, wie Jean-Luc de Ochandiano herausgearbeitet hat, die Grundlage für weitere Konflikte.136 Beide Seiten hatten zur Eskalationsdynamik des Streiks beigetragen. Im Gegensatz zu früheren Streiks, bei denen stets eine beiderseitige Verhandlungsbereitschaft bestanden hatte, weigerten sich die Arbeitgeber in diesem Streik überhaupt zu verhandeln, bis sie vom Staat und den mobilisierten Arbeitern dazu gezwungen wurden. Hier zeigt sich, wie angespannt die Beziehungen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern waren. Letztere hatten, wie Albert Fau bemerkt, »in offener Feldschlacht« [en rase campagne] kapitulieren müssen.137 Die Arbeiter hatten gewonnen, aber zu einem hohen Preis. Die Unternehmer fühlten sich gedemütigt, sie hatten die Besetzungen der Baustellen akzeptieren müssen und waren in der Chambre Patronale festgesetzt worden. Danach war die Arbeitgeberschaft, und insbesondere Rousseau, auf Revanche aus.138 Die Kommunistische Partei und ihre Symbole spielten während des Streiks eine wichtige Rolle. Die Rote Fahne beispielsweise wehte nicht nur auf der Chambre Patronale, sondern auch auf den meisten besetzten Baustellen, während Bauarbeiter auf ihren Versammlungen regelmäßig die Internationale sangen. Schließlich demonstrierten die Bauarbeiter nach Beendigung des Streiks in Villeurbanne, um dem dortigen kommunistischen Bürgermeister zu danken. In dieser Unterstützung für den Kommunismus lag, so Ochandiano, ein Grund für die Weigerung der Arbeitgeber, überhaupt zu verhandeln. Den Kommunismus unter den Bauarbeitern zu bekämpfen wurde eines der wichtigsten Ziele der Arbeitgeber, die auf einer Sitzung der Chambre Patronale im Juli 1937 schworen, dafür zu kämpfen, dass »die Arbeiterklasse, dem rechtmäßigen Syndikalismus treu bleibend, sich endgültig weigert, denjenigen Führern zu folgen, die politische Ziele in ihre Berufsorganisationen eingebracht haben, um in Frankreich ein marxistisches Regime zu installieren, das die Freiheiten und Naturrechte zerstören würde.«139 Hiermit war die Basis für neue Konflikte gelegt.

136 Ebd., S. 164 f. 137 Fau, S. 152. 138 Ochandiano, Formes, S. 165. 139 Lyon Républicain, 7.7.1937, zitiert in Ochandiano, Formes, S. 165.

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6. Der Niedergang der Volksfront Anfang September 1936 kam es zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung am Place du Pont in Lyon, wo eine Arbeiterin, der Presse zufolge eine Vorarbeiterin bei Gillet in Vaise, gemeinsam mit ihrem Ehemann eine Gruppe Kolleginnen angriff. »[Die Vorarbeiterin] zeigte ihrem Ehemann, in dessen Begleitung sie war, drei Arbeiterinnen, die gerade dabei waren, vollkommen friedlich den Prisunic zu betreten, um dort ihre Besorgungen zu machen. Völlig grundlos ging der Mann brutal auf unsere Genossin los und schlug sie hart mit einem stumpfen Objekt«, schrieb Aubert im Namen der CGT. Die Hintergründe der Auseinandersetzung sind etwas unklar, aber die Mitgliedschaft der Vorarbeiterin im »gelben« Syndicat Professionnel Français (SPF), das der CGT feindlich gesinnt war und von der rechten Parti Social Français (PSF) finanziert wurde, dürfte eine gewisse Rolle gespielt haben. Die CGT forderte daher die Fabrikleitung auf, die Frau zu entlassen. Zunächst schien es, als sei die Fabrikleitung der Aufforderung nachgekommen, aber da die Arbeiterin die nächsten Tage schlicht nicht zur Arbeit erschien, dachte die Belegschaft wohl, sie habe selbst gekündigt und sah die Sache als erledigt an.1 Ein paar Tage später kam es zu einem weiteren Zwischenfall in den Fabriken von Gillet. Der CGT zufolge hatte eine Anhängerin der SPF einen Gewerkschafter der CGT »brutal beleidigt«. Empört über diese »faschistischen« Umtriebe verlangte der Fabrikdelegierte die Entlassung auch dieser Arbeiterin. Wie schon ihre Kollegin erschien auch diese Frau einige Tage einfach nicht zur Arbeit, so dass sich die Situation beruhigte. In der Zwischenzeit verlangten Arbeiter bei Rhodiaceta in Décines die Entlassung von sechs Anhängern der Croix de Feu, die CGT-Mitglieder auf ähnliche Weise beleidigt hatten. Zur Überraschung aller kehrte die Vorarbeiterin aber einige Tage später, am 14.  September, an ihren Arbeitsplatz zurück. Offenbar hatte sie nur ein paar Tage Urlaub genommen. Die Arbeiter waren außer sich vor Wut. Gegen Mittag versammelten sich etwa achtzig Arbeiter vor den Fabriktoren und erklärten, ein Streik sei für die Werkstatt, in der die Vorarbeiterin tätig war, proklamiert worden. Während des Nachmittags wuchs die Streikbewegung, und am frühen Abend fand schließlich eine Kundgebung statt, auf der die Entlassung der Vorarbeiterin gefordert wurde. Im weiteren Verlauf des Abends besetzten Arbeiterinnen die Fabrik und kontrollierten die umliegenden Straßen. 1 Zum gesamten Fall, Moissonner, Bd.  1, S.  599–601. Er bezieht sich auf den Lyon Soir und Le Progrès (14.9., 15.9., 16.9., 18.9., 23.9., 28.9.1936), und die Voix du Peuple, 26.9.1936 und 3.10.1936. Das Zitat ist aus Le Progrès, 16.9.1936. Ein ähnlicher Text von Aubert findet sich im Lyon Républicain, 17.9.1936.

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Ein Fabrikdirektor und drei Ingenieure wurden gezwungen, über Nacht in der Fabrik zu bleiben, und kamen erst nach der Intervention der Präfektur wieder frei. Die Fabrikbesetzung, während der dank des mäßigenden Einflusses von Aubert sogar weitergearbeitet wurde, dauerte bis zum 28.  September an. Die Vorarbeiterin durfte zwar ihre Stelle behalten, musste aber in einer anderen Werkstatt arbeiten. Die Fabrikdirektion erkannte auch explizit die Gewerkschaftsfreiheit [liberté syndicale] an und versprach, niemanden wegen des Streiks zu maßregeln. Im Sommer 1936 hatten Volksfront und Arbeiterbewegung sowohl an den Wahlurnen als auch in den Fabriken einen beeindruckenden Sieg errungen. Aber die Siegesfreuden währten nur kurz. Schon im Herbst 1936 begannen neue Konflikte, und im Frühjahr 1938 scheiterte ein zweites Kabinett unter Léon Blum. Die Volksfront war am Ende.2 Wo liegen die Ursachen für diesen rapiden Niedergang? Die Forschung hat einige Gründe hierfür herausgearbeitet, ins­besondere Guy Bourdé, der argumentiert, dass die Volksfront vornehmlich eine wahltaktische Allianz dreier Parteien mit unterschiedlichen Zielen war – die Parti Radical wollte vor allem die Institutionen der Republik erhalten, die Sozialisten wollten weitreichende Sozialreformen umsetzen, während die Kommunisten eine weitere rechte Diktatur im Herzen Europas verhindern wollten. Nach den Wahlerfolgen traten diese Differenzen in den Vordergrund, was zur raschen Auflösung der Allianz führte.3 Weitere Gründe für das Scheitern der Volksfront sind erstens in der ökonomischen Krise zu sehen, die die Regierung Blum nicht erfolgreich bekämpfen konnte, und zweitens in den internationalen Entwicklungen, die einen europäischen Krieg immer wahrscheinlicher werden ließen.4 Dieses Kapitel wird diesen Niedergang der Volksfront in Lyon schildern. Dabei spielten sowohl die radikale Rechte als auch die Arbeitgeberseite eine tragende Rolle, da sich beide schnell reorganisieren und der Arbeiterbewegung schwere Schläge versetzen konnten.5 Der Arbeiterbewegung gelang es nicht, auf diese Herausforderungen Antworten zu finden. Vor allem konnte die politische und soziale Mobilisierung zahlreicher Arbeiter, auf der sich der Erfolg der Volksfront gegründet hatte, nicht aufrecht erhalten werden. Ohne deren Unterstützung aber konnte die Volksfront nicht überleben. In diesem Sinne wird das Kapitel sowohl von der Destruktion als auch der Desintegration Volksfront handeln. 2 Zum (internationalen) Hintergrund der Ereignisse 1938 Martin. 3 Bourdé, S. 9. Siehe auch Kap. 1 zu zunehmenden sozialen Spannungen und Kap. 2 zu den Herausforderungen, denen sich die Regierung Blum gegenüber sah. 4 Prost, Front populaire, Kap.  4, S.  105, 112–115. Er betont insbesondere die internationale Krise und die Kriegsgefahr, die ein Ende der 40-Stunden-Woche zumindest in der Rüstungsindustrie notwendig machten. Grundsätzlich Bourdé, S. 10f, 42 f.; Bernard u. Dubief, S. 316; Wolikow, S. 207–249. 5 Dieser Aspekt wird oft unterschätzt, ist aber ein wichtiger Aspekt der Volksfront, Kolboom.

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Wenn die Volksfront im Kern eine antifaschistische Bewegung gegen die Croix de Feu und andere Ligen war, wie etwa Serge Wolikow argumentiert,6 dann hätten Arbeiter allen Grund gehabt, weiter für die Republik und gegen den Faschismus zu streiten, war die radikale Rechte doch angeschlagen, aber keineswegs geschlagen.7 Colonel de La Rocques Parti Social Français beispielsweise zählte, je nach Quelle, zwischen 600.000 und 1,2 Millionen Mitglieder, mehr als doppelt so viele wie die Kommunistische Partei.8 Auch flammten gewaltsame Konflikte zwischen Rechten und Linken in Lyon und Umgebung bereits im Juni 1936 mit neuer Intensität auf. Gleichzeitig verloren die sozialen Konflikte nicht an Intensität. Zwar nahm die Zahl der Streiks nach dem Sommer 1936 rapide ab, aber dies bedeutete nicht, dass nun sozialer Friede herrschte. Vielmehr versuchten Arbeitgeber, die Errungenschaften der Volksfront rückgängig zu machen.9 Die oben geschilderte Streikbewegung stellt ein Beispiel sowohl für politische Konflikte wie auch soziale Spannungen dar, und vor allem dafür, wie sich beides vermischte. Einerseits ging es um den Einfluss der CGT am Arbeitsplatz, was dem Konflikt eine soziale Dimension gab; andererseits war es auch ein politischer Konflikt mit den rechtsgerichteten SPF. Die Angriffe der Rechten und der Arbeitgeber auf die Volksfront waren ein Grund für deren Niedergang. Wie oben bemerkt, muss jedoch auch die Desintegration der Arbeiterbewegung an der Basis in den Blick genommen werden, um das Scheitern der Volksfront zu verstehen. Dabei spielte, so die These dieses Kapitels, die Politisierung der Arbeiterbewegung eine entscheidende Rolle. Hatte die politische Mobilisierung im Frühjahr 1934 noch dazu beigetragen, der sozialen Explosion im Sommer 1936 gleichsam den Boden zu bereiten, so sah sich die politisierte Arbeiterbewegung nun Problemen gegenüber, die in viel­ facher Hinsicht an die Situation in Leipzig erinnern.10 Im Gefolge der Sommerstreiks 1936 konnten sowohl Gewerkschaften als auch Parteien, vor allem die Kommunistische Partei, zahlreiche Neuzugänge verzeichnen. Allerdings ge 6 Wolikow, S. 16 f.; Jackson, Popular Front, S. 42 ff. 7 Ein guter Überblick über die politische Rechte während der Volksfront findet sich in R ­ ichard. 8 Angaben zur Mitgliedschaft der PSF variieren. Bourdé, S.  39f, nennt 600.000  Mitglieder, Bernard u. Dubief, S. 324, 800.000, Prost, Front populaire, S. 105, 1.000.000, und Richard, S. 68, 1.200.000, ein Drittel von ihnen Frauen oder jünger als 21. Zur PSF allgemein Thomas, der allerdings argumentiert, die PSF sei keine rechte Partei gewesen, eine Sichtweise, die wenige Zeitgenossen geteilt haben dürften. Passmore, Liberalism, betont dagegen, die PSF sei, verglichen mit den Croix de Feu, ihrer Vorgängerorganisation, eine relativ »normale« rechte Partei gewesen, hatte sie doch ihren paramilitärischen Charakter verloren und war zur reinen Wahlpartei geworden. 9 Bourdé, S. 15–31. Er spricht von einem »sozialen Guerrillakrieg«. Ähnlich Wolikow, S. 222– 225; Jackson, Popular Front, S. 104–111; Prost, Front populaire, S. 106–112. 10 Zur Vermischung des Sozialen und Politischen, vor allem P. Weber, S. 991–1090, sowie Woli­ kow, S. 17 f. Ein wichtiges Element dieser Vermischung vormals getrennter Bereiche lag in den staatlichen Eingriffen in die soziale Sphäre, da etwa soziale Konflikte und die Situation am Arbeitsplatz staatlich reguliert wurden, womit sie automatisch zu politischen Angelegenheiten wurden, ders., S. 184–191.

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lang es keiner dieser Organisationen, ihre Neumitglieder effektiv zu integrieren, wie im zweiten Teil des Kapitels gezeigt werden wird.11 Vielleicht hätte der proklamierte Antifaschismus und Republikanismus eine Klammer bilden können, der die verschiedenen Fraktionen der Arbeiterbewegung hätte vereinen können. Dem standen allerdings Praktiken auf lokaler Ebene, in Gewerkschaften und Komitees, entgegen, die verhinderten, dass sich die starke Bewegung in ein aktives und stabiles Milieu transformierte. Dabei spielten sowohl politische Differenzen als auch Konflikte um die Rolle, die Politik haben sollte – eine, wie diskutiert, alte Streitfrage in der Arbeiterbewegung – eine entscheidende Rolle. Internationale Entwicklungen trugen zur Formierung ebenso wie zum Niedergang der Volksfront bei. Dies fand auch im lokalen Rahmen Lyons seinen Niederschlag. Allerdings wurde der Blick nur selten gen Deutschland geworfen, das als abschreckendes Beispiel dafür diente, was nach einer Machtübernahme der radikalen Rechten geschehen würde, sondern vor allem nach Spanien, wo im Juli 1936 rechtsgerichtete Militärs gegen die dortige Volksfrontregierung zu putschen versuchten. Der folgende spanische Bürgerkrieg war selbst eine hochgradig internationale Angelegenheit, fochten doch auf beiden Seiten ausländische Kräfte. Weltweit, auch in Lyon, mobilisierte die Arbeiterbewegung für die Unterstützung der republikanischen Kräfte in Spanien. Der dritte Teil  dieses Kapitels wird sich diesen Unterstützungskampagnen widmen, dabei aber fragen, welche Auswirkungen die Geschehnisse in Spanien für die lokale Arbeiterbewegung in Lyon hatten. Auch die Geschichte der Volksfront in Lyon, so wird sich zeigen, lässt sich nur transnational schreiben. Das Ende des Kapitels wird sich dann ein letztes Mal den Bauarbeitern zuwenden, deren Gewerkschaft zu diesem Zeitpunkt fest in kommunistischer Hand war. Zum letzten Mal organisierten sie im Herbst 1938 eine massive Streikbewegung, die sich schnell radikalisierte und spektakulär scheiterte. Es war eine fatale und endgültige Niederlage der einst so starken Bauarbeiterbewegung in Lyon, wobei, wie zu zeigen sein wird, der kommunistische Einfluss eine entscheidende Rolle spielte. Zwar beteiligten sich auch die Arbeiter Lyons am Generalstreik des 30. November 1938, der ganz Frankreich erfasste. Die Macht der Arbeiterbewegung in Lyon war allerdings schon vorher gebrochen. Zu dem hier geschilderten Niedergang der Volksfront, zu zunehmenden politischen und sozialen Spannungen, zu Streiks und zum Wiedererstarken der radikalen Rechten kam es nicht nur in Lyon, sondern in ganz Frankreich. Insofern sind die hier geschilderten Vorgänge gut untersucht.12 Daher wird im Folgenden analytisch vor allem der Blick auf die Beziehung zwischen poli­ 11 Prost, Front populaire, S. 110–112. Während die Führung der CGT die Arbeiter aufrief, mit dem 1936 Erreichten zufrieden zu sein, sahen sich viele Arbeiter und ihre Delegierte vor Ort Problemen am Arbeitsplatz sowie Preissteigerungen, die Lohnerhöhungen zunichte machten, gegenüber, weshalb sie immer wieder streikten. 12 Zumeist stehen in der Forschung die Erfolge der Volksfront und der Sommerstreik 1936 im Vordergrund. Eine wichtige Ausnahme bildet Bourdé.

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tischen und sozialen Auseinandersetzungen zu richten sein, eine Frage, die bereits die Zeitgenossen beschäftigte. Während der Volksfront waren die Grenzen zwischen beiden Bereichen verschwommen und durchlässig geworden. Léon Jouhaux, Generalsekretär der CGT, war nur zu bewusst, wie eng Fragen der Arbeitszeit – in den Augen der französischen Arbeiterbewegung ein »direktes Interesse«  – mit der (politischen) Frage der Aufrüstung zusammenhingen. Der Konflikt um die 40-Stunden-Woche in der Rüstungsindustrie, der nach dem Ende der zweiten Regierungszeit Blums die Diskussionen beherrschte, hing damit unmittelbar und unleugbar mit diplomatischen Erfolgen oder Misserfolgen in München zusammen.13 Diese Zusammenhänge zwischen politischer und sozialer Mobilisierung in den Blick zu nehmen, bietet somit nicht nur eine neue Perspektive auf den Aufstieg, sondern auch den Fall der Volksfront. Ähnlich wie in Leipzig hatte Parteipolitik letztendlich fragmentierende und demobilisierende Folgen. Gleichwohl, die Volksfront war von Anbeginn an eine politische Bewegung; eine Politisierung der Arbeiterbewegung war nur die logische Konsequenz dessen. Was zunächst die Stärke der Volksfront gewesen war, führte letztendlich und vielleicht paradoxerweise zu ihrer Schwächung.

6.1 Die Gegenoffensive der Rechten Weder die radikale Rechte noch die Arbeitgeber waren willens, den Sieg der Volksfront kampflos hinzunehmen. Politische und oftmals gewaltsame Auseinandersetzungen flammten bald nach dem Wahlsieg der Volksfront im Mai 1936 wieder auf.14 Gleichzeitig analysierten die Arbeitgeber die Ursachen ihrer vernichtenden Niederlage während der Sommerstreiks und suchten nach neuen Organisationsformen, um der Macht der Arbeiterbewegung etwas entgegensetzen zu können, wobei sie zunehmend Vorstellungen einer korporatistischen Wirtschaftsordnung entwickelten, die, wie Ingo Kolboom argumentiert, die Ideologie des Vichyregimes vorwegnahmen.15 Ende Juni 1936, als der Generalstreik in Lyon auf seinem Höhepunkt war, fanden mehrere linke und rechte Demonstrationen im Zentrum Lyons statt, wo 13 Zum Streik am 30. November 1938 Bourdé, Kap. 4–8. Zur französischen Reaktion auf die nationalsozialistische Bedrohung und insbesondere die Münchenkrise Duroselle. 14 Bourdé, S.  26–21; Prost, Front populaire, S.  106–110; Bernard u. Dubief, S.  316; Wolikow, S. 219–222. Wolikow zufolge stellten die zahlreichen politischen Versammlungen, Demonstrationen und Festivals eine Massenpolitiserung in Frankreich dar. Zur radikalen Rechten Passmore, Liberalism, S.  262–266. Zwar hatte die PSF keinen paramilitärischen Charakter wie die Croix de Feu, ihre Praktiken resultierten jedoch in mehr Gewalt, etwa bei poli­ tischen Versammlungen. Diese Gewalt stellte in den Augen der Linken eine faschistische Bedrohung dar. 15 Zum Patronat Kolboom; Dard. Eine detaillierte Analyse des Wachstums der CGT bieten Bourdé, Kap. 1; Prost, Front populaire, Kap. 6.

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es auf dem Place Bellecour immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen der beiden Protestzüge kam. Wer dort angeblich im Namen der Volksfront demonstrierte, bleibt, wie Nicolas Walter ausführt, unklar. Walter spekuliert sogar, dass es sich um Angehörige rechter Organisationen handelte, die durch inszenierte Straßenschlachten die Volksfront diskreditieren wollten, was ihnen bei den Mittelklassen, die zunächst mit der Volksfront sympathisiert hatten, auch gelang.16 Dies waren nicht die einzigen Fälle von Gewalt. Insbesondere der September 1936, während dem auch die oben geschilderten Streiks stattfanden, war von gewaltsamen Auseinandersetzungen geprägt. Am 6. September wollte Paul Chopine, der Propagandabeauftragter der Croix de Feu gewesen war, sich aber von der Organisation abgewandt hatte und nun gegen seine vormaligen Kameraden agitierte, einen Vortrag über die Methoden der Croix de Feu in Lyon halten. Als der Sozialist Reynard Chopine dem Publikum vorstellen wollte, sah er sich einer Menge von Anhängern der PSF gegenüber, die mit lautem Gebrüll versuchte, Chopine vom Reden abzuhalten. Chopine begann seinen Vortrag dennoch, wurde aber immer wieder unterbrochen. Die Versammlung endete, nachdem ein gewisser Feynet, Mitglied der Parti Social Français, gesprochen hatte, während Chopine und seine Anhänger mit erhobener Faust die Marseillaise sangen. Einen Monat später wurde die Veranstaltung im Palais d’Hiver wiederholt, wo, so die Voix du Peuple, 3.000 Personen den Ausführungen Chopines folgten. Die mittlerweile unter kommunistischer Führung stehende Bauarbeitergewerkschaft stellte den Saalschutz.17 In der Zwischenzeit hatten sich schwerwiegendere Zwischenfälle zugetragen. Colonel de la Rocques Parti Social Français hatte für den 15.  September 1936 zwei Veranstaltungen in Lyon angekündigt, eine in Ainay im Zentrum Lyons, die andere im Arbeiterviertel La Guillotière.18 Vor allem die zweite Veranstaltung zog den Zorn der Arbeiterbewegung auf sich. Kommunisten riefen Arbeiter auf die Straßen. »Vorsicht! Der faschistische Abschaum regt sich wieder. Sie planen eine Versammlung mitten in unserem Viertel […].«19 Dem Nouvelliste zufolge folgten mindestens 2.000  Personen dem Aufruf. Gegen 9  Uhr abends wollte die Präfektur die Veranstaltung verbieten, aber es war zu spät. In der Rue Victorien Sardou, wo die Veranstaltung stattfinden sollte, »war das Pflaster über mehrere Meter hinweg aufgerissen, Steine prasselten auf den salle François Copplé nieder.«20 Bis Mitternacht wurden mindestens 17  Personen verletzt, von denen vier ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten, so der 16 Walter, S. 92. Walters ansonsten exzellente Arbeit basiert vornehmlich auf dem Lyon Républicain, was ihre Perspektive etwas einschränkt. Weiterhin ADR 4/M/236, und Lyon Républicain, 24.6.1936, 25.6.1936, 5.7.1936. 17 Moissonnier, Bd. 1, S. 631; La Voix du Peuple, 6.10.1936. 18 Pinol, S. 88–96. 19 Ein kommunistisches Flugblatt, zitiert im Lyon Soir, 16.9.1936, zitiert in Moissonnier, Bd. 1, S. 633. Diese Territorialisierung der Politik erinnert durchaus an Leipzig. 20 Le Nouvelliste, 17.9.1936.

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Lyon Soir; der Nouvelliste sprach gar von mehr als hundert Verwundeten. Von dieser Menge bedroht erklärte die PSF, sie würde die 2.000 Anhänger, die sich in Ainay versammelt hatten, zu Hilfe rufen, wenn die Polizei die Versammlung in La Guillotière nicht beschützen würde. Dies hätte sicherlich zu schweren Ausschreitungen geführt, wären nicht mehrere Tausend Gegendemonstranten aus Villeurbanne in Ainay eingetroffen. Zwar konnten die Teilnehmer dieser Versammlung von der Polizei beschützt abziehen, manche von ihnen klagten jedoch über aufgeschlitzte Autoreifen.21 Nur vier Tage später kam es schließlich zu einem tödlichen Zusammenstoß in der Nachbarstadt Vienne. Im dortigen Boulestadion hatten die Jeunesses Communistes eine Tanzveranstaltung organisiert, die gegen Mitternacht mit einer Rede der örtlichen Vorsitzenden der Jeunesses Communistes enden sollte. Als sich die Besucherinnen und Besucher um die Rednerin geschart hatten, warf jemand ein Paket mit einer Bombe in den Hof. Geistesgegenwärtig warf es Gaston Perriolat, eine ehemaliger Grenadier, wieder über die Mauern und verhinderte so ein größeres Blutbad. Erst im letzten Moment konnte er sich selbst in Sicherheit bringen. Sofort nahmen einige junge Kommunisten die Verfolgung der flüchtenden Angreifer auf. Sie waren kurz davor, einen von ihnen zu stellen, als sich dieser umdrehte und zwei Schüsse abgab, die den jungen Kommunisten Daniel Llancer im Bauch trafen. Er verstarb, bevor er das Krankenhaus erreichte.22 Die Gewalt ebbte nach dem September 1936 zwar etwas ab, aber die radikale Rechte agitierte dennoch weiter.23 Ende Dezember 1936 und Anfang Januar 1937 verteilten einige Anhänger der Croix de Feu, wie der Lyon Républicain die PSF trotz deren offiziellen Auflösung weiterhin nannte, Flugblätter in einer ­Citroënwerkstatt in Lyon. Zunächst ignorierten die etwa 200 Arbeiter, von denen 70 der CGT angehörten, die Croix de Feu, wohl darauf hoffend, dass der Spuk bald ein Ende haben würde, wenn die Croix de Feu realisierten, wie gering ihre Erfolgsaussichten waren. Als sich diese Hoffnung als trügerisch erwiesen hatte, organisierten Arbeiter eine Demonstration vor den Fabriktoren, an der sich auch Arbeiter anderer Metallfabriken beteiligten, insgesamt etwa 1.000 Personen, um »den Croix de Feu und der Fabrikleitung zu zeigen, dass alle Metallarbeiter Lyons die Arbeiter bei Citroën unterstützen und sie genauso wenig wie jene tolerieren können, dass die Syndicats professionnels den Betriebsfrieden stören.«24 Dass die Demonstranten kaum zwischen den Croix de Feu und den gelben Syndicats professionnels unterschieden, lässt sich als weiterer 21 Moissonnier, Bd. 1, S. 632–634; La Voix du Peuple, 19.9.1936. 22 Moissonnier, Bd. 1, S. 634–636. Seine Schilderung basiert auf verschiedenen Zeitungen (Le Progrès, 20.9.1936, Le Nouvelliste, 21.9.1936, Lyon Soir, 21.9.1936). Auch La Voix du ­Peuple, 26.9.1936, wo sich ein Bericht von der Beerdigung Llancers findet, die, wie Moissonnier, Bd. 1, S. 636, betont, in kommunistischem Gebiet stattfand. 23 Weitere Beispiele bei Moissonnier, Bd. 1, S. 641–645. 24 Lyon Républicain, 5.1.1937.

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Beleg dafür sehen, wie eng politische und soziale Konflikte miteinander ver­ woben wurden.25 Es mag ausreichen, weitere gewalttätige Zusammenstöße, die sich im Verlauf des Jahres 1937 zutrugen, kurz zu schildern, um zu zeigen, wie sich die Situa­tion zuspitzte. Im Februar 1937 hielt die PSF einen Kongress in Lyon ab, bei dem es zu den erwarteten Ausschreitungen linker Gegendemonstranten mit der Polizei kam, die den Kongress schützte; sieben Demonstranten wurden verhaftet und zwei Beamte schwer verwundet.26 In politischer Hinsicht beruhigte sich die Situation danach etwas, auch wenn es im Frühjahr und Sommer 1937 zu einigen mit Härte geführten Streiks kam, auf die später näher einzugehen ist.27 Im August 1937 folgte dann ein weiterer tödlicher Zusammenstoß in Villeurbanne, wo ein kommunistischer Arbeiter mit spanischen Wurzeln von seinem rechten Nachbarn erschossen wurde. Während konservative Zeitungen in der Bluttat nur einen Nachbarschaftskonflikt mit tragischem Ende sahen, lag die Sache für die Linke anders: Edouard Louis Pallier hatte Joseph Antoine Fuentès getötet, weil dieser Kommunist war. Pallier, so berichtete der Lyon Républicain, war in der Nachbarschaft weithin verhasst. »Immer wieder hatte er sich Auseinandersetzungen mit Leuten aus der Nachbarschaft geliefert und der Ausdruck ›dreckige Kommunisten‹ kam oft aus seinem Mund.«28 Innerhalb der Arbeiterschaft löste der Mord, so ein Bericht der Präfektur, eine gewisse »Unruhe« aus. Dass immerhin 50.000  Personen zu seinem Begräbnis erschienen, belegte nachdrücklich die Mobilisierungsfähigkeit der Arbeiterbewegung.29 Im Oktober schließlich kam es zu einem weiteren tödlichen Zwischenfall im Vorort Saint-Fons, wo die PSF eine Versammlung abhielt, die der Lyon Républicain als »wahre Expedition« beschrieb.30 Wie immer gab es eine Gegendemonstration vor dem Versammlungssaal. Die genauen Umstände der folgenden Aus­ einandersetzung sind unklar; sicher ist nur, dass gegen Ende der Versammlung ein Mitglied der PSF in die Menge schoss und zwei Personen verwundete, von denen einer, Barthélemy Germain, am nächsten Tag seinen Verletzungen erlag. Laut dem Lyon Républicain hatte er mit der Volksfront und der PCF sympathisiert, war aber kein Parteimitglied. Bei seiner Beerdigung bestand seine Familie darauf, dass nur das Abzeichen der Chemiearbeitergewerkschaft, der er angehört hatte, gezeigt werden sollte, was die Kommunistische Partei akzeptierte.31 25 Moissonnier, Bd.  1, S.  626–629, betont, dass die syndicats professionnel eng mit der poli­ tischen Rechten verbunden waren. 26 Lyon Républicain, 15.2.1937. 27 Siehe etwa den unten, S. 281 f., diskutierten Streik bei Gillet im Frühjahr 1937, sowie ADR 10/M/487–495. 28 Lyon Républicain, 17.8.1937. 29 Lyon Républicain, 22.8.1937, und die folgenden Tage, ADR 4/M/236. Auch die Polizei glaubte an einen tragischen Nachbarschaftskonflikt, Moissonnier, Bd. 2, S. 122–133. Dort finden sich auch mehr Beispiele für rechte Aktivitäten. 30 Lyon Républicain, 8.10.–15.10.1937, Zitat vom 13.10.1937. 31 Lyon Républicain, 14.10.1937; ADR 4/M/236, Bericht vom 25.10.1937.

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Nicht nur die politischen Gegner der Volksfront leisteten Widerstand. Auch die Unternehmer, von den Fabrikbesetzungen geschockt, reagierten umgehend. Mit einer aktiven und gut organisierten Arbeiterbewegung konfrontiert, deren CGT mit einigem Recht behaupten konnte, die gesamte Arbeiterklasse zu repräsentieren, erkannten die Arbeitgeber die Schwäche ihrer eigenen Organisationen. Ihr Verband, die Confédération Générale de la Production Française, setzte sich vornehmlich aus Großbetrieben zusammen, kümmerte sich jedoch kaum um kleinere Firmen, die besonders unter den in den Matignonabkommen vereinbarten Lohnerhöhungen litten. In dieser organisatorischen Schwäche lag zumindest ein wichtiger Grund für die schnelle Niederlage der Arbeitgeber im Sommer 1936. Schnell setzte sich daher bei ihnen die Einsicht durch, dass auch kleinere Betriebe eine Stimme in einer neuen Organisation haben müssten, die schließlich unter dem Namen »Confédération Générale du Patronat Français« entstand.32 Trotz anfänglicher Dissonanzen gelang es den Arbeitgebern, sich zügig neu zu organisieren. Im Mai 1937 hieß es dann in einem Bericht der Präfektur, »die neuerlichen Konflikte erlauben die Beobachtung, dass die Arbeitgeber zunehmend gewillt sind, Widerstand zu leisten, was sich bereits auf den jüngsten Versammlungen der Arbeitgeberverbände zeigte.«33 Auch im Bau­gewerbe, wo nach wie vor kleine Firmen dominierten, reorganisierten sich die Unternehmer und gründeten Anfang 1938 das »Syndicat général des entrepreneurs de bâtiment et travaux publics de Lyon et de la Région«.34 Zwar hatten die Arbeitgeberverbände auf nationaler Ebene den Matignonabkommen zugestimmt, einzelne Firmen versuchten aber, die dort festgelegten Bestimmungen zu umgehen, weshalb es auch nach dem Ende der großen Streikwelle im August 1936 immer wieder zu kleineren Streiks kam. Nach wie vor mussten Arbeiter für die 40-Stunden-Woche, Lohnerhöhungen und die Rechte der Gewerkschaften am Arbeitsplatz kämpfen.35 So versammelten sich beispielsweise am 25. August 1936 zwischen fünf- und sechshundert Arbeiter vor dem Sitz der Metallarbeitgeber [Chambre syndicale des industries métallurgiques] und forderten die Anwendung der Pariser Verträge in Lyon.36 Im Baugewerbe kam es zu einem langen und erbittert geführten Streit über bezahlten Urlaub. Nur mit Hilfe des Arbeitsministeriums und nach langen juristischen Auseinandersetzungen konnten die Bauarbeiter durchsetzen, dass der Streik 1936 nicht als Unterbrechung der Zeitspanne gesehen wurde, die sie bei einer Firma eingestellt sein mussten, um ein Anrecht auf bezahlten Urlaub zu erhalten.37 Im Frühjahr 1937 kam es schließlich bei Gillet, dem Ort zahl­reicher 32 Wolikow, S. 224 f.; Lacroix-Riz, S. 60 f. 33 ADR 4/M/236, Bericht vom 25.5.1938, auch zitiert in Ochandiano, Formes, S. 171. 34 Ochandiano, Formes, S. 171 f.; Moissonnier, Bd. 1, S. 532 f. Zur nationalen Ebene Kolboom. 35 Siehe die zahlreichen Artikel im Lyon Républicain im Herbst 1936. Im November beispielsweise musste das Syndicat Berliet immer noch die Anwendung der 40-Stunden-Woche einfordern. 36 Moissonnier, Bd. 1, S. 598. 37 Ochandiano, Formes, S. 177–181. Zu weiteren Streiks ADR 10/M/472.

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wichtiger Streikbewegungen, zu einem Solidaritätsstreik, um die Entlassung von 80 Arbeitern zu verhindern. Erneut besetzten Arbeiter die Fabrik, und erneut druckte die Presse Photos lächelnder Arbeiter. Gleichwohl, der Streik hatte nur noch wenig von jenem fröhlichen Charakter, der die Sommerstreiks gekennzeichnet hatte. Die Verhandlungen zogen sich hin, und im Juni kam es gar zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Dennoch endete der Streik für die Arbeiter relativ erfolgreich, musste Gillet den entlassenen Arbeitern doch Kompensationen bezahlen.38 Ein wichtiger Teil der Strategie der Arbeitgeber bestand darin, die unternehmensfreundlichen Syndicats Professionnels Français (SPF) als Gegenkraft zur CGT aufzubauen. Diese forderten einen »Syndikalismus der Zusammenarbeit zwischen den Klassen« und eine strenge Regulierung von Streiks, die nur in einer geheimen Wahl und nach Vermittlungsversuchen zwischen beiden Parteien beschlossen werden sollten. Ihr Einfluss blieb, wie ein Bericht der Prä­ fektur vom September 1936 notierte, zunächst gering.39 Als sich die wirtschaftliche Lage aber nicht besserte und die Linke ihr Momentum verlor, gewannen sie an Einfluss und Mitgliedern, zunächst unter Angestellten im Finanzsektor, dann aber auch in der Textil- und Metallindustrie, sonst eine Hochburg vormaliger Unitaires. Auch im Baugewerbe konnten sie Fuß fassen, wo die Arbeitgeber im April 1937 einen Vertrag mit der Bauarbeitersektion der SPF unterzeichnete.40 Im Gegenzug boykottierte die Bauarbeitergewerkschaft der CGT die Firma Vergne, bei der Mitglieder der SPF eingestellt waren.41 Im Februar 1938 bemerkte die Präfektur schließlich, dass sich eine wachsende Anzahl Arbeiter aus allen Branchen den SPF anschloss, da diese »offensichtlich von gewissen Arbeitgebern favorisiert wurden, aber auch von der Unterstützung von Arbeitern profitierten, die von den Ergebnissen der CGT enttäuscht waren.«42 Schließlich unterstützten die Arbeitgeber rechtsgerichtete Parteien auch direkt finanziell, etwa über die im September 1936 von Großindustriellen und Bankiers gegründete »Société anonyme centrale de l’industrie et du commerce«.43 Auch die neugegründete Arbeitgebervereinigung im Baugewerbe machte aus ihrer politischen Haltung keinen Hehl, hatten die Arbeitgeber doch schon im Juli 1937 geschworen, kommunistische Tendenzen unter ihren Arbeitern zu bekämpfen.44 Hier zeigt sich, wie soziale Konflikte zwischen Arbeitern und Arbeitgebern eine politische Dimension erhielten, die sie so vor der Volksfront noch nicht gehabt hatten. Diese Politisierung führte zu einer Verhärtung der Fronten und erschwerte die Suche nach Kompromissen, wie der zum Ende des Kapitels zu diskutierende Bauarbeiterstreik im Herbst 1938 zeigen wird. 38 Lyon Républicain, Mai und Juni 1937; Moissonnier, Bd. 2, S. 64 f. 39 ADR 4/M/236; Moissonnier, Bd. 1, S. 602. 40 Ochandiano, Formes, S. 184 f.; Passmore, Liberalism, S. 277 f. 41 Ochandiano, Formes, S. 185. Er bezieht sich auf ADR 10/MPC/99. 42 ADR 4/M/236. 43 Lacroix-Riz, S. 62. 44 Siehe oben, S. 281.

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Seit dem Herbst 1936 sah sich die Arbeiterbewegung politisch wie sozial in der Defensive. Auch wenn die Arbeitgeber verkündeten, sie würden einzig einen anti-politischen Kampf gegen den Einfluss von Parteien in den Betrieben führen, so unterstützten sie doch de facto selbst rechts gerichtete Parteien und die unternehmensfreundlichen Syndicats professionnels und trugen somit dazu bei, dass die Grenzen zwischen sozialen und politischen Konflikten verschwammen. Die großen Demonstrationen, die die Arbeiterbewegung noch 1937 veranstalten konnte, belegen, dass sie nach wie vor dazu in der Lage war, Tausende Arbeiter auf die Straßen zu mobilisieren, etwa am Ersten Mai 1937, als laut Lyon Républicain 120.000 »Bürger enthusiastisch und würdevoll für den Sieg der republikanischen Freiheiten und die Forderungen des Volkes [les revendications populaires] demonstrierten.«45 Dem Polizeibericht zufolge, der von nur 25.000 bis 28.000 Teilnehmern sprach, war die Demonstration von Kommunisten beherrscht. Insbesondere unter Metallarbeitern seien häufig kommunistische Parolen, etwa »les Soviets partout!« zu hören gewesen.46 Gleichwohl, die Linke befand sich in der Defensive, während die radikale Rechte eine immer bedrohlicher werdende Gefahr darstellte. In harten Auseinandersetzungen, und immer öfter erfolglos, versuchte die Arbeiterbewegung, ihre Errungenschaften vom Sommer 1936 zu verteidigen.47 Der Lyon Républicain brachte diesen Wandel im Juli 1938 auf den Punkt: »Im Juni 1936 mussten die Arbeiter gegenüber einem egoistischen Unternehmertum [patronat] ihre Freiheiten durchsetzen. Heute müssen die errungenen Freiheiten um jeden Preis verteidigt werden, sie müssen gegen die Zumutungen und die Unversöhnlichkeit eines kämpferischen Unternehmertums verteidigt werden. Dem Aufruf ihrer Gewerkschaften folgend erhoben sich im Juni 1936 alle Arbeiter; heute müssen sie begreifen, dass die Lage so ernst ist wie nie zuvor und ihre geschlossene Anwesenheit erfordert.«48 Zu diesem Zeitpunkt war Blum bereits zum zweiten Mal zurück getreten. Unterdessen versuchte der neue Ministerpräsident Edouard Daladier Frankreich auf den Krieg vorzubereiten, den er angstvoll erwartete.49 Aber waren die machtvollen Demonstrationen der Arbeiterbewegung nicht ein Zeichen dafür, dass »alle Arbeiter« verstanden hatten, was auf dem Spiel stand? Waren sie nicht ein Zeichen der ungebrochenen Stärke der Linken? Dies wäre eine Fehlinterpretation. An der Basis hatte die Arbeiterbewegung ihre Stärke eingebüßt, wie nicht zuletzt der Zulauf für die SPF belegt. Die andauern45 Lyon Républicain, 2.5.1937. 46 ADR 4/M/236, Bericht vom 25.5.1937; weiter der Bericht vom 24.7.1937 über die Demonstration am 14. Juli 1937, organisiert vom Comité départemental du Rassemblement populaire du Rhône, an der nur 12.000 Personen teilnahmen, deutlich weniger als in den Vorjahren. Am 1. Mai 1938 demonstrierten nur 13.000 Arbeiter, so die Polizeiberichte, ADR 4/M/236, Bericht vom 27.5.1938. 47 Zum Rest Frankreichs Bourdé, Kap. 1. 48 Lyon Républicain, 7.7.1938. 49 Prost, Front populaire, S. 106.

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den politischen und sozialen Konflikte, die Gewalt und die Streiks, die die Arbeiterbewegung immer seltener gewinnen konnte – all dies belegt ihre Schwäche verglichen mit dem Sommer 1936. Der Lyon Républicain war sich dessen bewusst. Auch große Demonstrationen konnten diesen Niedergang nicht verbergen. Die Gegenoffensive von Arbeitgebern und Rechten spielte hierbei sicherlich eine ebenso wichtige Rolle wie nationale und internationale Entwicklungen, wie etwa die absehbare Niederlage der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg oder die Unfähigkeit der Regierung Blum, die Wirtschaftskrise zu bekämpfen.50 Darüber hinaus aber sind auch die internen Dynamiken der Arbeiterbewegung in den Blick zu nehmen.

6.2 Der Zerfall der Volksfront In Lyon wie auch in ganz Frankreich verzeichneten CGT und PCF nach den Sommerstreiks 1936 enorme Mitgliederzuwächse.51 Im November 1936 hatte die PCF internen Berichten zufolge in der Rhône-Ain-Region 7.000  Mitglieder, verglichen mit nur 2.400 Ende 1934. Die Anzahl der Zellen hatte von 60 auf 265 zugenommen, wobei es allein in Villeurbanne 52 gab, die bis Oktober 1937 nochmals auf 60 zunahmen und 1.500  Mitglieder zählten.52 Im Gegensatz zur PCF blieb die SFIO relativ schwach, zumal sie mit internen Querelen zu kämpfen hatte.53 Auch die Mitgliedszahlen der CGT in der Rhôneregion nahmen dramatisch zu, von 35.000 im Jahre 1935 auf 200.000 1937. Im Oktober 1936 zählte die Metallarbeitgewerkschaft der Vororte Lyons 26.000 Mitglieder in 800 verschiedenen Betrieben.54 Vormalige Unitaires, die den Kommunisten nahestanden, kontrollierten die Gewerkschaften in der Metall-, Textil-, und Chemieindustrie sowie im Baugewerbe, während ehemalige Confédérés vor allem im öffentlichen Sektor, etwa bei den Gas- und Elektrizitätswerken oder bei den öffentlichen Transportbetrieben, wo der CGT-Vorsitzende in Lyon, Marius Vivier-Merle, tätig war, stark waren.55

50 Bourdé, Einleitung, Kap. 2; Prost, C. G. T., Kap. 4; Bernard u. Dubief, S. 311–317; Wolikow, S. 208–215. 51 Landesweit zählte die wiedervereinigte CGT 1937 immerhin mehr als vier Millionen Mitglieder, Prost, Front populaire, S.  153. Die PCF hatte immerhin 318.000  Mitglieder, womit sie deutlich vor der SFIO mit 216.000 Mitgliedern lag, Tartakowsky, Histoire du P. C. F., S. 42. Zur PCF auch Wolikow, S. 233–241. 52 Moissonnier, Bd. 1 S. 546–548. Dort auch weitere Zahlen, basierend auf Lyon Républicain, 5.10.1937. 53 Moissonnier, Bd. 1, S. 549–551; ADR 4/M/236, Bericht vom 24.7.1937: »Le parti socialiste ­paraît assez divisé et incertain.« 54 Moissonnier, Bd. 1, S. 544. 55 Moissonnier, Bd. 1, S. 539. Über Lyon hinaus Prost, Front populaire, Kap. 6.

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In der Forschung wurden diese Zahlen als Zeichen neuer Stärke der Arbeiterbewegung interpretiert.56 Gleichwohl ist hier eine gewisse Vorsicht angebracht.57 Die entscheidende Frage ist, ob es gelang, aus diesen zahlreichen Neumitgliedern ein dauerhaft starkes und aktives Milieu zu formen, das in Momenten der Krise mobilisiert werden konnte. Dies geschah nicht. Auch wenn Tausende auf Demonstrationen erschienen – eine ähnlich machtvolle Gemeinschaft wie diejenige der Bauarbeiter zu Zeiten des alten Cartels entstand nicht. Vielmehr war die soziale und politische Massenbewegung, die das Rückgrat der Volksfront gebildet hatte, in einem rapiden Auflösungsprozess begriffen. Schon bald nach den Sommerstreiks registrierte die Polizei sowohl unter Arbeitern als auch unter Arbeitgebern eine vermehrte Organisationstätigkeit, zumal die neue Sozialgesetzgebung kollektive Tarifverträge vorschrieb.58 Allerdings registrierte die Polizei ebenso schnell zunehmende interne Konflikte in den Gewerkschaften. Viele der Neumitglieder weigerten sich, den Anweisungen der CGT Folge zu leisten, hieß es bereits im Oktober 1936. Gewisse anarchistische Tendenzen zeigend, sahen sie »in dieser Organisation [der CGT] eine neue Regierungsform [une forme gouvernementale nouvelle]«, die sie ablehnten. Stattdessen versuchten sie, ihre Kollegen davon zu überzeugen, »dass der Syn­dikalismus den Vorgaben der Basis folgen muss, das heißt, dass die Gewerkschafter [militants] in jedem Betrieb rücksichtslos gegen den Chef [patron] kämpfen müssen, ohne sich um irgendwelche Ratschläge oder Schlichtungen zu scheren, und ohne sich selbst irgendwelchen Direktiven unterzuordnen, die nicht von den Gewerkschaftern [syndiqués] ihrer Fabrik kommen.«59 Ende 1937 hatte sich die Situation weiter verschlimmert. »Die Stimmung in der Arbeiterschaft ist recht verwirrt und unsicher. Gewisse Anzeichen deuten darauf hin, dass die Organisationen der Arbeiterklasse nicht mehr das gleiche Vertrauen in ihre Führer haben, nicht mehr dieselbe Tatkraft [volonté d’action], nicht mehr die gleiche ›Dynamik‹ wie noch im Vorjahr«, hieß es in einem Bericht vom Oktober 1937. Insbesondere die erst 1936 rekrutierten Mitglieder konnten »nur unter Schwierigkeiten die Gewerkschaftsdisziplin akzeptieren und [waren] mit dem Vorgehen der Verantwortlichen unzufrieden.«60 Zumindest der Einschätzung der Polizei nach gelang es der CGT nicht, trotz oder sogar wegen der zahlreichen Neumitglieder, zu einer starken Gewerkschaft mit disziplinierter und motivierter Gefolgschaft zu werden. Warum geschah dies nicht? Drei Gründe sollen im Folgenden hervorgehoben werden, erstens die Politisierung sozialer Kämpfe, zweitens die Auswirkungen der neuen Sozialgesetzgebung, und drittens der Fokus der Volksfront auf Kul56 Bourdé, S. 20–22; Noiriel, Workers, S. 170–181; Prost, Front populaire, S. 153–155. 57 Jackson, Popular Front, S. 281 ff. Er sieht einen der Gründe für das Scheitern der Volksfront in der Unfähigkeit der Kommunisten, sich als Führer der Massen zu etablieren. 58 ADR 4/M/236, Bericht vom 24.8.1936. 59 ADR 4/M/236, Bericht vom 22.10.1936. Prost, Front populaire, S. 110–112, beschreibt ähn­ liche Probleme im Rest Frankreichs. 60 ADR 4/M/236, Berichte vom 25.10.1937 und 29.11.1937.

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tur und Arbeiterbildung. Hatte die politische Mobilisierung der Arbeiterschaft während des Aufstiegs der Volksfront noch die Grundlage für die soziale Mobilisierung während der Sommerstreiks gelegt, so führte die Politisierung der Arbeiterorganisationen nach dem Ende der großen Streikwelle zu internen Konflikten, da weder politische Konflikte noch solche über die Rolle, die Politik in der Arbeiterbewegung spielen sollte, beigelegt waren.61 Dem wachsenden Einfluss der Kommunistischen Partei zum Trotz scherten sich viele der erst jüngst organisierten Arbeiter nicht um Politik. »Ideologische Fragen«, so ein Polizeibericht vom September 1936, traten gegenüber den »konkreten Forderungen« in den Hintergrund. Vor allem die zahlreichen Neumitglieder wollten den Gewerkschaftsführungen nicht zugestehen, dass diese sich mit politischen Kämpfen befassten.62 Für die Polizei war dies sicherlich eine erleichternde Nachricht, bedeutete es doch, dass von der Menge der Neumitglieder der Gewerkschaften keine politische Gefahr ausging. Gleichzeitig kommt in dem Bericht eine gewisse Sorge zum Ausdruck, die Arbeiter könnten nicht realisieren, dass es den Führern der Gewerkschaft durchaus um Politik ging und sie die Arbeiter nur für solche Ziele missbrauchten. Einerseits sollte Politik keine Rolle in Gewerkschaften spielen, andererseits forderte die Basis einen rücksichtsloseren Kampf gegen der Arbeitgeberschaft. Die kommunistische Minderheit in der CGT setzte alles daran, diese Situation zu ändern, agitierte ohne Unterlass unter den Mitgliedern der Organisation und ließ keine Gelegenheit aus, »die Lehre des Klassenkampfs in die Praxis umzusetzen«, wie ein Polizeibericht behauptete. Wie erfolgreich sie dabei waren, bleibt unklar.63 Einerseits gelang es der Kommunistischen Partei, in verschiedenen Gewerkschaften eine starke Position zu erlangen und ihre Delegierten in Wahlen durchzusetzen, insbesondere in der Metallgewerkschaft.64 Andererseits klagten reformistische Gewerkschafter über die kommunistischen Versuche, in den Gewerkschaften politisch zu agitieren. Im Dezember 1936 beispielsweise wollte eine Gruppe Friseure aus Villefranche eine unabhängige Gewerkschaft gründen. Zwar wollten sie mit ihren Kollegen aus Lyon zusammenarbeiten, »aber wir wollen nicht, dass man uns eine Schule aufdrückt, die nicht die unsere ist. Zur Verteidigung unserer Interessen organisiert sein, ja! Aber für die Politik einer Partei, nein!«65

61 Zu einer ähnlichen Situation im Rest des Landes Bourdé, Kap. 1 u. 5. Diskussionen über das Verhältnis zu politischen Parteien auf dem CGT-Kongress in Nantes führten dort zu heftigen Auseinandersetzungen. 62 ADR 4/M/236, Bericht vom 22.9.1936. 63 ADR 4/M/236, Bericht vom 22.10.1936. Weitere Berichte in der Akte aus den Jahren 1936/37 weisen auf kommunistische Agitationsversuche hin, etwa 24.3.1937, oder 20.8.1937. 64 Beispielsweise ADR 4/M/236, Berichte vom 28.12.1937, 29.1.1938, 24.7.1938. Trotz der Tat­ sache, dass Kommunisten zu Delegierten gewählt wurden, scheiterten kommunistische Versuche, Streiks auszulösen, wie der letzte Polizeibericht betont. 65 Moissonnier, Bd. 1, S. 540.

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Die Präfektur berichtete von ähnlichen Konflikten. Während der Sommerferien 1937 vermerkten ihre Berichte an das Innenministerium eine »Malaise« in den Gewerkschaften wegen des in manchen Gewerkschaftsführungen maßgeblichen Einflusses »kommunistischer Elemente«, was alte Gewerkschafter zutiefst beunruhige. Diese Konflikte gaben der Präfektur Anlass, ernste Spannungen innerhalb der Gewerkschaften vorherzusagen, sollte die CGT versuchen, erneut Druck auf die Regierung auszuüben. Dieser kommunistische Einfluss stieß, wie zum Ende des Berichts nochmals betont wurde, vor allem bei Anhängern eines »politisch unabhängigen Syndikalismus« auf erheblichen Widerstand.66 Zwar nahm die Anzahl tatsächlicher Arbeitskonflikte gegen Ende 1937 ab, nicht jedoch, so die Präfektur, die internen Spannungen in den Gewerkschaften.67 Kommunistische Gewerkschafter unter Chambon, dem Führer der Metall­arbeitergewerkschaft, zeigten »während jüngster Veranstaltungen energische, um nicht zu sagen revolutionäre Absichten, […] Es könnte sein, dass sie von Anhängern der CGT-SR der sozialistischen oder der anarchistischen Linken in diese Richtung gedrängt werden, die ihnen Halbherzigkeit und Opportunismus vorwerfen«, hieß es im Oktober 1937.68 Im Folgemonat hatten sich die Spannungen weiter verschärft. »Auseinandersetzungen in den Gewerkschaften nehmen jüngst an Schärfe zu. Die kommunistischen Gewerkschaftsführer sind zunehmend Angriffen von Anhängern des reinen Syndikalismus ausgesetzt, die in der CGT verblieben sind, und ebenso von Mitgliedern der CGTSR.« Kommunisten hingegen blieben gegenüber den Gewerkschaftsführern, die aus der alten CGT kamen, misstrauisch. Insbesondere war ihnen der lokale CGT-Führer Vivier-Merle verhasst, der während einer Veranstaltung der Gewerkschaft der Metallarbeiter und Techniker am 23. November 1937 so niedergebuht wurde, dass er kaum sprechen konnte. Es waren solche Konflikte, die zu der oben notierten Unsicherheit und Verwirrung unter vielen Gewerkschaftsmitgliedern führten.69 Diese Konflikte dauerten auch 1938 an. Bei zahlreichen Versammlungen der Metallgewerkschaft in der Bourse du Travail beobachtete die Polizei zunehmende Dissonanzen zwischen den Gewerkschaftern. Die Mehrheit der einfachen Mitglieder und sogar einige der Führer waren immer weniger willens, »gewalttätigen Parolen« [mots d’ordre d’action violente] zu folgen. Dies hielt aber die »aufgeregten« Elemente (Trotzkisten und Anhänger der CGT-SR) nicht davon ab, »die Autorität der Führung zu beschädigen«, indem sie ihr »Weichheit und politische Bindungen« vorwarfen. Ebenso wenig fanden Konflikte zwischen ehemaligen Unitaires, vor allem Chambon, und Vivier-Merle ein Ende. 66 ADR 4/M/236, Bericht vom 20.8.1937. 67 Beispielsweise ADR 4/M/236, Bericht vom 20.8.1937. 68 ADR 4/M/236, Bericht vom 25.10.1937. 69 ADR 4/M/236, Bericht vom 29.11.1937. Auch die Zitate zur Schwäche der Synidcats stammen aus diesen Berichten.

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Da die vormaligen Unitaires »ihn [Vivier-Merle] nicht brutal eliminieren konnten«, versuchten »die kommunistischen Führer ihn mit ihnen ergebenen Aktivisten zu umgeben, die ihn überwachen und seine Autorität Schritt für Schritt untergraben sollten.«70 Im Zentrum dieser Konflikte stand vielfach die Rolle, die Politik in den Gewerkschaften spielen sollte. Alte Syndikalisten standen dem Einfluss der Kommunistischen Partei in den Gewerkschaften ablehnend gegenüber. Selbst in Gewerkschaften, in denen die Kommunisten die Vorherrschaft hatten, gehörte diese Frage zu den am meisten umstrittenen.71 Auf dem Vereinigungskongress von Tours im Frühjahr 1936 waren diese Spannungen mithin keineswegs beigelegt worden, sondern wurden gleichsam Teil des Gewerkschaftslebens der CGT, was die Organisation erheblich schwächte.72 Arbeiter lehnten kommunistische Führungsansprüche ab, und Gewerkschaften zeigten unter dem Eindruck radikaler Politik Auflösungserscheinungen.73 Trotz ihrer Erfolge bei Delegiertenwahlen gelang es den Kommunisten weder, die zahlreichen Neumitglieder noch die Anhänger des alten, politisch unabhängigen Syndikalismus unter ihrer Führung zu integrieren. Beide Gruppen blieben gegenüber Politikern in Führungspositionen der Gewerkschaften misstrauisch. Durch die Wahlerfolge der Volksfront und insbesondere das Matignon­ abkommen wurden gesellschaftliche Beziehungen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern, die den Ideen des alten Syndikalismus zufolge außerhalb der staatlichen Sphäre standen, zum Gegenstand staatlicher Politik. Nie zuvor hatte der französische Staat so stark in Arbeitsbeziehungen eingegriffen und sie politisch reguliert.74 Angesichts dieser Entwicklungen war es naheliegend, dass sich Gewerkschaften um politische Konflikte kümmerten, da sich die nationale Politik mit sozialen Konflikten befasste. So überlagerten sich auf nationaler Ebene die politische und die soziale Sphäre, was nicht zuletzt der Arbeitgeberschaft Angst machte, die ihre Macht massiv durch die Volksfrontregierung gefährdet sah. Im Gegensatz zu den Arbeitgebern konnte die Linke jedoch nicht mit dieser Situation umgehen. Die staatliche Regulierung von Arbeitsbeziehungen hatte nicht zuletzt tiefgreifende Auswirkungen auf Praktiken sozialer Kämpfe.75 Die Sozialgesetz­ 70 ADR 4/M/236, Bericht vom 27.4.1938. 71 Ochandiano, Formes, S. 167; Prost, Front populaire, S. 110. Prost erwähnt zahlreiche wilde Streiks ohne Zustimmung der CGT. 72 Prost, Front populaire, S. 165–167. 73 Der Polizei zufolge  – auch wenn sich dies kaum verifizieren lässt  – betrieb die PCF eine Politik »d’inspiration démocratique et d’esprit conciliant« in Hinsicht auf nationale Fragen, aber eine Politik der »désagrégation« in Hinsicht auf andere Parteien, die Gewerkschaften und vor allem ihre Fabrikzellen, ADR 4/M/236, Bericht vom 29.11.1937. 74 Diese Idee basiert auf Wolikow, S.  21, 184 f. Siehe weiter Bourdé; Prost, Front populaire, Kap. 4; Shorter u. Tilly, S. 22–26. 75 Zu neuen sozialen Praktiken Poggioli, Pratiques. Poggioli sieht jedoch nicht die negativen Auswirkungen dieser Praktiken auf die Formierung der Arbeitergemeinschaft.

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gebung der Volksfront stärkte beispielsweise die Rechte der Arbeiterdelegierten und verschaffte ihnen rechtlichen Schutz, so dass sie nicht wegen ihrer Tätigkeiten als Delegierte entlassen werden konnten. Wurde ein Delegierter entlassen, so konnte er vor Gericht ziehen, um feststellen zu lassen, ob er aus »individuellen« Gründen entlassen worden war, in welchem Fall er nicht durch das Gesetz geschützt war, oder wegen seiner Tätigkeit als Delegierter, in welchem Fall ihn das Gesetz schützte. Aus Sicht der Arbeitgeber bedeutete dies einen Eingriff in ihre unternehmerische Freiheit, einzustellen und zu entlassen, wen sie wollten.76 Um ihre unternehmerische Autorität zu verteidigen, entließen die Arbeitgeber auch weiterhin Delegierte. Auch wenn, wie Guy Bourdé schreibt, Arbeiter immer wieder in Streik traten, um ihre Delegierten zu verteidigen,77 so riefen die Gewerkschaften doch auch oft nach einem Schlichter, der zu entscheiden hatte, ob der kollektive Tarifvertrag verletzt worden war. Die Arbeitgeberseite argumentierte für gewöhnlich, kaum überraschend, der Delegierte sei wegen individueller Verfehlungen entlassen worden. Im Februar 1938, um nur ein Beispiel zu geben, hatte der Delegierte Maret, der in der Metallfabrik Genoud in Villeurbanne angestellt war, gegen die »missbrauchenden und unangemessenen« Anweisungen protestiert, die der Fabrikeigentümer einer Arbeiterin gegeben hatte. Daraufhin verließ Maret während der Arbeitszeit die Fabrik, um seine Gewerkschaft zu informieren und die Hilfe eines Gewerkschaftsvertreters zu holen, obwohl ihm dies ausdrücklich verboten worden war. Das war Grund genug, Maret zu entlassen. Vor Gericht argumentierte seine Gewerkschaft, er sei nur wegen seiner Tätigkeit als Delegierter entlassen worden, was illegal sei, während sein Arbeitgeber betonte, dass Maret selbst als Delegierter nicht einfach seinen Arbeitsplatz verlassen konnte, wenn es ihm beliebte. Der Schlichter entschied, dass kein kollektiver Arbeitsvertrag gebrochen worden sei, weshalb der Fall außerhalb seiner Kompetenz lag, womit er faktisch zugunsten des Arbeitgebers entschieden hatte. Diese Entscheidung mag aus juristischer Sicht durchaus gerechtfertigt gewesen sein. Bezeichnend ist jedoch, dass die Gewerkschaft nicht versuchte, die Wiedereinstellung Marets mit einem Streik durchzusetzen, sondern sich auf das juristische Prozedere verließ.78 Bei Lohnkonflikten kam es zu einer ähnlichen Entwicklung. Verglichen mit den Jahren vor 1936 kam es 1937 zu mehr und länger dauernden Streiks, wie eine statistische Analyse Ochandianos zeigt. Konflikte zu lösen, so seine 76 Prost, Front populaire, S. 106 f. 77 Bourdé, S. 21. Bourdé zufolge funktionierte der Vermittlungsprozess, nicht zuletzt weil Arbeiter erfolgreich mit einem neuen »1936« drohen konnten. Allerdings präsentiert er kaum Belege hierfür. Die Ergebnisse dieser Studie deuten in eine andere Richtung. 78 Zu diesem Fall ADR 10/M/494. Weitere Fälle finden sich in den ADR 10/M/487–495. Eine andere Strategie der Arbeitgeber bestand darin, die Einstufung der Arbeiter zu ändern. Das Syndicat ouvrier de Chauffage beispielsweise protestierte im Mai 1938 gegen das »déclassement« einiger Arbeiter bei Gentilini et Barthon. Statt jedoch zu streiken, wandte sich das Syndicat an den Oberschlichter (surarbitre), der zugunsten des Arbeitgebers entschied, ADR 10/M/495. Ein ähnlicher Fall findet sich in 10/M/491.

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Schlussfolgerung, wurde zunehmend schwieriger. Gleichzeitig nahm jedoch die Anzahl der beteiligten Arbeiter dramatisch ab, womit sich ein Trend, der in den späten 1920er Jahren begonnen hatte, fortsetzte. Am auffälligsten ist jedoch, dass es im Frühjahr 1937, der traditionellen Jahreszeit für Streiks im Baugewerbe, nicht zu einem Streik im Zuge von Lohnforderungen kam. Stattdessen wurde gesetzesgemäß ein Vermittler eingeschaltet, was den Bauarbeitern 1937 auch gute Ergebnisse brachte. Dieses Vertrauen in »eine Autorität außerhalb der Arbeiterbewegung« stellte, so Ochandiano, »einen Bruch mit bisherigen Praktiken dar, die sich ausschließlich auf die direkte Aktion und die Arbeiterautonomie gestützt hatten.«79 Ziel der neuen Sozialgesetzgebung war es gewesen, die Interessen und Rechte von Arbeitern zu stärken. In der Praxis führte sie jedoch zu anderen Ergebnissen. Da Gewerkschaften sich nun zunehmend auf den Staat und seine Schlichter verließen, konnten die sozialen Kämpfe mit den Arbeitgebern nicht mehr zur Formierung einer starken Gemeinschaft beitragen. Gerade weil die Arbeiterdelegierten keinerlei rechtlichen Schutz genossen und auf den Willen ihrer Kollegen, sie notfalls mit einem Streik zu verteidigen, angewiesen waren, spielten sie vor 1936 eine solch wichtige Rolle für die Schaffung einer Gemeinschaft im Baugewerbe.80 Nach ihrer offiziellen Institutionalisierung büßten sie diese integrative Funktion ein. Auch wenn es nach wie vor zu Streiks für Delegierte kam, so wurden Entscheidungen über ihre Entlassungen (und Wiedereinstellung) doch zunehmend in Gerichtssälen verhandelt, und nicht mehr durch Kraftproben am Arbeitsplatz selbst entschieden.81 Gleiches gilt für Lohn­konflikte, die nicht am Arbeitsplatz, sondern im Schlichtungsprozess entschieden wurden. Kam es zu Streiks, so beteiligte sich kaum noch die gesamte Gemeinschaft. Auf diese Weise trug die Regulierung von Arbeitskonflikten dazu bei, dass Praktiken, mittels derer einst eine starke Gemeinschaft entstehen konnte, an Bedeutung verloren. Die neue Sozialgesetzgebung führte zwar einerseits zu einer Befriedung von Arbeitskonflikten,82 bedeutete aber gleichzeitig auch, dass sich Arbeiter nicht mehr einzig auf ihre eigene Stärke verlassen mussten, um ihre gemeinsamen Interessen zu verteidigen.83 Dass der Staat eine größere Rolle in sozialen Auseinandersetzungen übernahm, geriet der Arbeiterbewegung nicht unbedingt zum Vorteil. Schließlich sind die Auswirkungen des immensen Kultur- und Bildungs­ programms zu bedenken, das die Volksfront und vor allem die CGT in Lyon und 79 Ochandiano, Formes, S. 174. 80 Diesen Bruch betont auch ebd. 81 ADR 4/M/236. 82 Damit reiht sich die Volksfront in eine langfristige Tendenz seit dem 19. Jahrhundert ein. Grundsätzlich nahm die Zahl an Arbeitskonflikten zu, sie wurden aber gleichzeitig vermehrt reguliert und damit befriedet, Sirot. 83 Aus diesem Grund lehnte auch die CGT-SR, die den Prinzipien des revolutionären Syndi­ kalismus treu blieb, die neue Sozialgesetzgebung und vor allem die Kollektivverträge ab, Ratel, S. 108.

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ganz Frankreich initiierte.84 Zu den Errungenschaften der Volksfront gehörte, dass den Arbeitern durch Arbeitszeitverkürzungen und bezahlten Urlaub ein gehöriges Maß an zusätzlicher Freizeit zur Verfügung stand, das die CGT zu organisieren versuchte. In einem Traktat mit dem Titel »Für die totale Befreiung« [Pour l’emancipation totale] behauptete die CGT, der Kapitalismus habe den Arbeitern eine »künstlerische Bildung« und »intellektuelles Wissen« vorenthalten; hierzu seien die persönlichen Anstrengungen der Arbeiter notwendig.85 Um dieser »neuen Kultur« eine Basis zu geben, plante die CGT eine ganze Reihe von Festen: zu Ehren der Arbeit, des Friedens, der Freiheit und des Frühlings, und, um die Französische Revolution gleichsam »wiederzubeleben«, eine Gedenkfeier für die »großen Toten«, womit das Kulturprogramm der CGT in eine republikanische Tradition gestellt wurde.86 Darüber hinaus gründete die CGT einen Chor und ein Orchester, bot Arbeitern Kurse in Rhythmik, plastischer Kunst, Tanzen, Sport und Theater an,87 aber auch zu Themen wie der Geschichte der Arbeiterbewegung, der französischen Revolution, und Organisationsfragen.88 Nicolas Walter zufolge gelang es der CGT, mit diesem Bildungsprogramm neu hinzugewonnene Mitglieder zu integrieren. »Die alten Führer bringen den jungen Gewerkschaftern schnell bei, dass reine Begeisterung ohne Organisierung und Bildung nichts bringt. Sie übernehmen die Verantwortung dafür, die Strukturen, die zum reibungslosen Funktionieren der Gewerkschaftsorganisation notwendig sind, zu schaffen.«89 Die oben diskutierten Polizeiberichte sprechen demgegenüber eine andere Sprache. Die Bildungsanstrengungen der CGT konnten keine starke Gemeinschaft schaffen. Kulturprogramme, Festivitäten, Chöre und die Schwimmbäder, die die kommunistisch geführten Gemeinden bauten, mögen Freude in das Leben von Arbeitern gebracht haben,90 boten aber keine Möglichkeit, eine politisch handlungsfähige Gemeinschaft zu formen. In gewissem Sinne lenkten die kulturellen Angebote – auch wenn offen bleiben muss, wie viele Arbeiter sich wirklich für sie interessierten – von politischen und sozialen Konflikten ab. Die Volksfront, die als politische und so­ziale Bewegung begonnen hatte, wurde gleichsam zu einer kulturellen Bewegung, was sie politisch und sozial schwächte.91 84 Jackson, Popular Front, Kap. 4. Auch er bemerkt, S. 283, dass das kulturelle Programm der Volksfront zu einer Depolitisierung geführt haben könnte, und damit einen demobilisierenden Effekt hatte. Ähnlich Wolikow, S. 194–205. 85 Zitiert in Moissonnier, Bd. 1, S. 543. In der selben Schrift beklagte die CGT sterbende Theater, verlassene Konzerthallen und leere Bibliotheken, was allein die Schuld des Kapitalismus sei. Der Text wurde am 1. August 1936 verteilt. 86 Moissonnier, Bd. 1, S. 543. 87 Ebd., S. 544. 88 Walter, S. 231–240. 89 Ebd., S. 240. 90 Über den gesamten Sommer 1937 hinweg finden sich zahlreiche Berichte in der Voix du Peuple über die Erfolge der kommunistisch geführten Munizipalverwaltung von Villeurbanne. Siehe auch Meuret. 91 Ähnlich Jackson, Popular Front, S. 282 f.

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6.3 Die internationale Situation im lokalen Rahmen Lyons Dass sich Aufstieg und Fall der Volksfront nur in ihrem internationalen Kontext verstehen lassen, gehört in der Forschung zum Allgemeingut. Ohne die Aus­ wirkungen der nationalsozialistischen Machtergreifung, den Einfluss der Kommunistischen Internationale auf die französischen Kommunisten oder die Konflikte innerhalb der Volksfront um die Haltung zum spanischen Bürgerkrieg zu verstehen, bliebe jede Analyse der Volksfront unvollständig.92 Welche Faktoren – internationale, nationale, oder lokale – höher zu gewichten sind, ist in der Forschung umstritten. Diese Arbeit hat zwar lokale Faktoren hervorgehoben, was aber nicht bedeutet, dass internationalen Entwicklungen irre­levant sind.93 Diese hatten, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, auch im lokalen Rahmen in Lyon tiefgreifende Auswirkungen. Daher lässt sich auch die Geschichte der Volksfront in Lyon nur aus transnationaler Perspektive schreiben.94 Allerdings spielte im lokalen Rahmen weniger der Blick nach Deutschland eine Rolle, sondern die Solidaritätsbewegung für das republikanische Spanien, der es zunächst gelang, die (selbst internationale) Arbeiterschaft Lyons zu mobilisieren.95 Gleichwohl traten auch hier bald politische Differenzen zutage. Als der spanische Bürgerkrieg im Juli 1936 mit einem versuchten Staatsstreich rechtsgerichteter Offiziere gegen die Frente Popular begann, befand sich die französische Volksfront auf ihrem Höhepunkt. Zunächst reagierte Léon Blum positiv auf Unterstützungsgesuche seiner spanischen Genossen, aber unter dem Druck der britischen Regierung und des außenpolitischen Ausschusses des Senats wich die Regierung zurück und favorisierte nun eine Nichteingriffspolitik, die von den Kommunisten heftig angegriffen wurde.96 In Lyon hin­ 92 Zum Einfluss der Komintern Agosti, S. 41 f. Zwär lässt sich der Einfluss Moskaus nicht abstreiten, so Agosti, aber es ginge doch zu weit, die Volksfront auf in Moskau getroffene Entscheidungen zu reduzieren. Vielmehr müssten in der Gesamtschau drei Faktoren berücksichtigt werden: die Mobilisierung an der Basis und der dortige Kampf gegen die Ligen, die Entwicklungen innerhalb der nationalen Parteien, sowie schließlich Entscheidungen in Moskau. Agosti bezieht sich dabei auf Dermott u. Agnew, S. 129. Essays zu Frankreich und dem spanischen Bürgerkrieg finden sich in Leitz u. Dunthorn. 93 Die Bedeutung internationaler Entwicklungen (des spanischen Bürgerkrieges sowie der aufziehende Konflikt mit dem nationalsozialistischen Deutschland, der in der Münchenkrise einen ersten Höhepunkt fand) für die Volksfront in Frankreich wurde immer wieder betont, etwa Bernard u. Dubief, S. 316–322; Wolikow, S. 208–219. 94 Im Zuge der Volksfront gelang es der französischen Arbeiterbewegung, insbesondere italienische und spanische Arbeiter zu integrieren, konnten diese doch erfolgreich unter dem Banner des (internationalen!) Antifaschismus mobilisiert werden, Levy; Guillen. Zu italienischen Einwanderern während der Volksfront grundsätzlich Milza. Auch auf nationaler Ebene stellte der spanischen Bürgerkrieg, der im folgenden Exkurs im Mittelpunkt stehen wird, die Volksfront vor erhebliche und letztlich ungelöste Probleme. 95 Galan; Corbel, Vénissieux la rebelle, S. 102. 96 Wolikow, S. 211–215; Hunt; Jackson, Popular Front, S. 201–209.

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gegen begannen linke Gruppen bald damit, eine Unterstützungskampagne für die spanische Republik zu organisieren, insbesondere unter den zahlreichen Arbeitern spanischer Herkunft.97 Bereits in den ersten Tagen nach dem Beginn des Bürgerkriegs gründeten spanische Einwanderer in Villeurbanne, wo etwa 2.500 Spanier lebten, das »Comité Regional de Acciòn Antifascista de Lengua Española«, das in den folgenden Wochen Ableger in den Städten und Dörfern der Region, wie Lyon, Vénis­sieux, Givors oder Oullins, gründete. Diese exklusiv spanische Initiative sammelte immerhin zwei Millionen Francs um die republikanische Seite zu unterstützen. Dem Geist der Volksfront treu bleibend beteiligten sich alle politischen Fraktionen an dem Komitee.98 Auch die Kommunistische Partei in Lyon beteiligte sich bald an dieser Solidaritätskampagne für Spanien. Im August berichtete die Voix du Peuple über mehrere Solidaritätsversammlungen für die spanischen Antifaschisten. An einem Festival in Oullins, auf dem Waffen und Flugzeuge für Spanien gefordert wurden, hätten sich beispielsweise, so die kommunistische Zeitung, 5.000 Arbeiter beteiligt; in Villeurbanne hatten sich immerhin 2.000 Arbeiter eingefunden, um Spenden für Spanien zu sammeln.99 Eine Woche später demonstrierten zwischen 7.000 und 8.000  Arbeiterinnen und Arbeiter in Lyon gegen das Waffenembargo gegen Spanien.100 Bereits im August hatte das Blatt stolz von 73 spanischen Genossen berichtet, die in ihre Heimat zurückkehrten, um sich den republikanischen Truppen anzuschließen. Auch die folgenden Ausgaben der Zeitung waren voll von detaillierten Schlachtberichten aus Spanien, in denen insbesondere die Taten von Kommunisten aus Lyon gepriesen wurden.101 Polizeiberichte bestätigen, dass sich zahlreiche politisch aktive Arbeiter, insbesondere solche mit spanischen Wurzeln, unmittelbar nach Kriegsbeginn nach Spanien begaben, um auf Seiten der Republik zu kämpfen. Seit dem 1.  Oktober 1936 waren, so ein Bericht vom Dezember, etwa tausend Freiwillige nach Spanien gegangen. Der berichtende Polizeioffizier bezweifelte jedoch, dass reiner Idealismus das ausschlaggebende Motiv war. »Die meisten dieser Personen scheinen Arbeitslose zu sein, die sich aus ihrer bitteren Not heraus den republikanischen Truppen in Spanien anschließen.«102 Zwar setzten kommunistische Organisationen ihre Rekrutierungstätigkeit fort, ob sie jedoch so erfolgreich waren, wie die kommunistische Presse glauben machen wollte, darf bezweifelt 97 Videlier, S. 18. In der Region Lyon stellten Spanier 24 % der ausländischen Bevölkerung, verglichen mit 12 % in ganz Frankreich. In Lyon selbst lebten etwa 8.300 Spanier, in Vénissieux 3.500, in Villeurbanne 2.500, in Oullins 1.200 und in Givors 1.500. 98 Zur Solidaritätsbewegung für Spanien Videlier, S. 19. 99 La Voix du Peuple, 12.9.1936. 100 La Voix du Peuple, 19.9.1936. 101 La Voix du Peuple, 8.8.1936, 12.9.1936, 19.9.1936, und öfters. Ein Bericht über aus Lyon stammende Milizionäre findet sich in der Ausgabe vom 12.12.1936. 102 ADR 4/M/303, Bericht vom 14.12.1936. Die Familien von Freiwilligen erhielten finanzielle Unterstützung.

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werden. So hieß es über ein kommunistisches Treffen von Kriegsfreiwilligen für Spanien am 5. Dezember 1936: »Zunächst rief man die Freiwilligen auf, wobei etwa fünfzig von ihnen nicht mit ›anwesend‹ antworteten. Etwa hundert Personen waren zu der Versammlung erschienen, unter ihnen 30 Deutsch-Schweitzer, 20 Italiener, 30 aus Villeurbanne, 9 aus Vénissieux; der Rest setzte sich aus einzelnen Personen aus Chalon, St. Etienne, etc. zusammen. […] Man hatte den Eindruck, dass es sich bei den Freiwilligen mit Ausnahme der Deutsch-Schweitzer, die alle gut gekleidet waren, um ›arme Teufel‹ handelte, armselige Gestalten, die nach einem Weg suchten, ihren Hunger zu bekämpfen, aber keinerlei ›heiliges Feuer‹ hatten.«103 Zwar bestätigen andere Polizeiberichte, dass zumindest manche Kommunisten aus idealistischen Gründen nach Spanien gingen, insgesamt ist hinter den Idealismus der Freiwilligen jedoch ein großes Fragezeichen zu setzen. Kommunistische Zeitungen hingegen berichteten enthusiastisch über die Freiwilligen aus Lyon, wobei sie immer wieder deren internationale Biographien hervorhoben. Im Sommer 1937 beispielsweise berichtete die Voix du Peuple über die Begräbnisse mehrerer italienischer Freiwilliger aus Villeurbanne, die in Spanien gefallen waren. Mehr als 2.000 Italiener und Franzosen waren gekommen, um den Gefallenen die letzte Ehre zu erweisen – ein Zeichen wahrer internationaler Solidarität, wie sie auch einer der gefallenen »Helden«, ein gewisser Guffo aus Turin, vorgelebt hatte. In seiner Jugend hatte er sich dort gegen den Faschismus engagiert, musste jedoch nach Frankreich fliehen, wo er sich für die Interessen der italienischen Arbeiter einsetzte und half, eine franko-italienische Freundschaft aufzubauen, was ihm den Respekt seiner französischen Kollegen einbrachte. Als der Bürgerkrieg in Spanien ausbrach, schloss er sich kommunistischen Kräften an und fiel im Alter von 43 Jahren.104 Mögen die Motive für die Kriegsfreiwilligen auf Seiten der republikanischen Truppen zu kämpfen und zu fallen auch unklar bleiben, sicher ist, dass die Solidaritätsbewegung für das republikanische Spanien die Arbeiterbewegung in Lyon selbst zu mobilisieren vermochte. Der spanische Bürgerkrieg wurde so gleichsam Teil des Alltags der Arbeiterschaft in Lyon. Maurice Moissonnier behauptet gar, viele Arbeiter hätten anhand von Karten zuhause die Kriegsentwicklung in Spanien verfolgt.105 Dabei unterstützten nicht nur Kommunisten den Kampf gegen Franco. Der spanische Bürgerkrieg ist nicht zuletzt wegen der dortigen anarchistischen Experimente bekannt, die dem antifaschistischen Kampf die Sympathien vieler libertärer Linker auf der ganzen Welt eintrugen. Auch in Lyon gab es unter den spanischen Arbeitern starke anarchistische Sympathien, wobei sie von etwa fünfhundert französischen Anarchisten unterstützt wurden. Zunächst arbeiteten Anhänger dieser verschiedenen Tendenzen in 103 ADR 4/M/303, Bericht vom 5.12.1936, über ein meeting im Palais du Travail in Villeurbanne. 104 La Voix du Peuple, 30.7.1937 und 6.8.1937. 105 Moissonnier, Bd. 2, S. 100 f.

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antifaschistischen Komitees zusammen. In der Solidarität mit dem spanischen Kampf gegen Franco konnten sich die Fraktionen der Arbeiterbewegung noch einmal zusammen finden. Dies änderte sich jedoch bald, da Konflikte zwischen Kommunisten und Anarchisten die Solidaritätsbewegung für Spanien ent­zweiten, was zum Thema dieses Kapitels zurück führt: wie die Volksfront in Lyon zerbrach. Im August 1936 hatten sowohl die Sozialistische Partei als auch die Ligue des droits de l’homme die Kommunistische Partei zur Mitarbeit in einem »Comité d’action pour le soutien au peuple espagnol« eingeladen, was die Kommunisten jedoch ablehnten, hätte dies doch nur die Schaffung eines weiteren Komitees bedeutet, was »die für das spanische Volk unternommenen Anstrengungen gespalten hätte.«106 Gleichwohl hatte sich bereits im Herbst des Jahres die kommunistische Herangehensweise geändert. In Vénissieux lud die lokale Sektion des Secours Rouge, der französischen Schwesterorganisation der Roten Hilfe, zu einer Veranstaltung am 13. November 1936 ein, um ein »Comité de soutien des républicains espagnols« zu gründen. Bald danach traten in der Region von Lyon zahlreiche Gruppen des kommunistisch dominierten »Comité régional d’aide aux familles des combattants de la liberté« auf den Plan. Im Dezember 1936 verließen die Kommunisten schließlich das Comité d’action antifasciste.107 In der Folgezeit kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen beiden Komitees, die dabei verschiedene Strategien verfolgten. Während die Kommunisten ihre Gegner wegen falscher politischer Ansichten angriffen, warf das Comité antifasciste den Kommunisten vor, Politik überhaupt zu betreiben. Im September 1937 schrieb die kommunistische Entreaide mit einer gewissen Ironie über »zwei Unterstützungskomitees für Spanien mit zwei verschiedenen politischen Ansätzen«. Das Comité antifasciste habe einem Comité anarchiste in Perpignan 50.000 Francs gesandt, das das Geld für die Herausgabe einer Zeitung ausgab, »in der die [spanische] Regierung Negrin als Mörder und zu hundert Prozent konterrevolutionär dargestellt wird«, und in der die Internationalen Brigaden, die Volksfront, die Kommunistische Partei und die Sowjetunion diffamiert würden. Das war die Politik des Comité antifasciste, so die kommunistische Seite. Das kommunistische Komitee hingegen forderte eine einheit­ liche (militärische) Führung und militärische Disziplin.108 Das Comité antifasciste wies diese Anschuldigungen zurück und weigerte sich, Anweisungen von der Kommunistischen Partei entgegenzunehmen. »Hatten sie das Recht, uns eine solche Anweisung zu geben, uns, die von Anfang an dabei waren?«109 In seinen Reihen seien vor allem »einfache Antifaschisten von der Basis« organisiert, von denen sich nur wenige politischen Parteien an­ 106 La Voix du Peuple, 15.8.1936, zitiert in Videlier, S. 19. 107 Videlier, S. 19 f. 108 L’Entreaide, September 1937, zitiert in Videlier, S. 20. 109 Supplément au Bulletin d’Information du Comité Antifasciste, 15.7.1937, zitiert in Videlier, S. 20.

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geschlossen, diese aber wieder verlassen hätten, sobald sie die »vergiftete Atmosphäre« gesehen hatten, die »diese bösen Insekten, die ›politisch‹ genannt werden, zum Leben brauchen.«110 Die Auseinandersetzungen blieben nicht auf die Presse beschränkt, sondern nahmen teils sogar gewaltsame Formen an. In Givors stürmten Kommunisten eine öffentliche Versammlung und beleidigten Mitglieder des Comité antifasciste. In Villeurbanne musste das Komitee sein Versammlungslokal räumen, und in Vénissieux, wo Kommunisten die Gemeindeverwaltung kontrollierten, konnte das Comité de Acciòn überhaupt keine Veranstaltungsräume finden.111 »Wir werden dieser Handvoll unverantwort­ licher Individuen nicht erlauben, unsere Aktion zu sabotieren und so naiv sein, ihnen eine Versammlungshalle zu geben, wo sie ihr übles Handwerk fortsetzen können«, schrieb die Voix du Peuple.112 Das Comité de Acciòn antwortete auf diese Vorwürfe, indem es fragte, ob man eine »antifaschistische, proletarische, aber unpolitische Organisation« so behandeln dürfe, wie man es normalerweise von rechtsgerichteten Regierungen gewohnt war.113 Zwar stellte keine der beiden Gruppierungen ihre Sammeltätigkeiten für Spanien ein, aber es ist dennoch davon auszugehen, dass diese Bruderkämpfe innerhalb der Linken die Solida­ ritätsbewegung schwächten. Für den Zerfall der Volksfront in Lyon ist diese kurze Geschichte der Soli­ daritätsbewegung für Spanien in zweierlei Hinsicht relevant. Zunächst zeigt sie, zu welchen Verwerfungen internationale Entwicklungen auf lokaler Ebene in Lyon führen konnten. Hatte die Solidaritätsbewegung anfangs eine integrative Wirkung entfalten können, die vielleicht eine Möglichkeit geboten hätte, die verschiedenen Fraktionen der Arbeiterbewegung in Lyon zu vereinigen, so zeigte sich schnell, dass die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Anarchisten in Spanien selbst auch in Lyon nicht ohne Konsequenzen bleiben konnten. Zweitens zeigt der Konflikt zwischen den beiden Komitees, dass die Rolle von Politik und politischen Parteien nach wie vor umstritten blieb. Immer noch gab es eine starke antipolitische, das heißt in diesem Fall vor allem antikommunistische Tradition. Anhänger dieser Richtung fürchteten die spaltende Wirkung, die Parteipolitik in einer breiten Solidaritätsbewegung haben konnte. Gleichwohl war es angesichts der Konflikte zwischen Kommunisten und Anarchisten in Spanien selbst wohl kaum möglich, neutral und überparteilich zu bleiben. Einzig den Kommunisten die Spaltung der Solidaritätsbewegung vorzuwerfen, wie es etwa Philipp Videlier tut, ist daher unan­ gebracht.114 Man musste (rote oder schwarze) Farbe bekennen.

110 Supplément au Bulletin d’Information du Comité Antifasciste, 1.3.1938, zitiert in V ­ idelier, S. 21. 111 Videlier, S. 21. 112 La Voix du Peuple, 12.12.1938, zitiert in Videlier, S. 21. 113 Bolitin de Informaciòn del Comité de Acciòn, 15.7.1937, zitiert in Videlier, S. 21 f. 114 Videlier, S. 22.

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6.4 Der gescheiterte Bauarbeiterstreik im Herbst 1938 Zum Abschluss des Kapitels ist ein letztes Mal der Blick auf die Bauarbeiter ­Lyons zu richten. Gegenüber den frühen 1930er Jahren, als das Cartel Autonome die lokale Bauarbeiterschaft beherrschte, hatte sich die Situation 1938 grundlegend geändert. Nun war die Bauarbeitergewerkschaft Lyons Teil einer nationalen Organisation, die unter kommunistischem Einfluss stand.115 Auch strukturell hatten sich die Bedingungen geändert, unter denen Bauarbeiter agierten. Erstens sah sich das Baugewerbe einer steigenden Arbeitslosigkeit gegenüber, weshalb sich eine zunehmende Anzahl von Arbeitern von der Gewerkschaft abwandte.116 Zweitens mussten sie sich nun staatlichen Interventionen und Schlichtersprüchen unterwerfen. Drittens hatte sich das Arbeitgeberlager unter dem Eindruck einer Politisierung beider Lager reorganisiert, was sich enorm konfliktverschärfend auswirkte.117 Somit sah sich die Bauarbeitergewerkschaft großen Herausforderungen gegenüber. Die Streikbewegung 1938 zeigt, wie sich die Praktiken der Bauarbeiter unter dem Eindruck dieser Entwicklungen geändert hatten, was letztendlich zu einem dramatischen Machtverlust der Gewerkschaft führte.118 Die Ursprünge des Streiks sind im Frühjahr 1937 zu suchen. Durch die in­ flationssteigernde Politik der Regierung Blum hatten die Arbeiter die Lohnsteigerungen nach den Sommerstreiks effektiv wieder eingebüßt, weshalb die Bauarbeiter im Februar 1937 eine zwanzigprozentige Lohnerhöhung verlangten.119 Allerdings kam es 1937 nicht zum Streik, da der Konflikt durch Vermittlungen und Schlichtungen gelöst werden konnte, wobei der Schlichter den Arbeitern angesichts der Inflation eine Lohnerhöhung von einem Franc pro Tag, was 13 % entsprach, zusprach  – ein Erfolg für die Arbeiter. Noch waren die Arbeitgeber, wie Ochandiano betont, nicht in der Lage, sich erfolgreich einem solchen Schiedsspruch zu widersetzen.120 Doch die rapide Inflation machte auch diese Lohnerhöhungen schnell zunichte, so dass die Bauarbeiter im November 1937 erneut eine Lohnerhöhung von 20 % sowie eine Erhöhung der Familienzuschläge, die mit denen in Paris gleichgestellt werden sollten, forderten. In der Zwischenzeit aber hatte sich die Arbeitgeberschaft reorganisiert und war nicht willens, eine weitere drastische 115 Ochandiano, Formes, S. 166 f. 116 Ebd., S. 181–186. 117 Ebd., S. 170–173. 118 Zum Streik Ochandiano, Formes, S. 181–197; Fau, S. 210–236; Tissot. Tissot ist ein Neffe Marceau Quétauds, dessen Bruder Marius Sekretär der Maurergewerkschaft ge­wesen war. Sein Buch ist eine romanhafte Darstellung des Streiks. Weiterhin Archives de la CGT Lyon, Fond UD 69 No 6 (1938). 119 Zu den inflationsbegünstigenden Effekten der Wirtschaftspolitik Blums Bernard u. ­Dubief, S. 312 f.; Wolikow, S. 241–244; Jackson, Popular Front, S. 159–188. 120 Ochandiano, Formes, S. 186 f.

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Erhöhung der Produktionskosten hinzunehmen. Zunächst verzögerten die Arbeitgeber den Vermittlungsprozess bis zum 4. März, als die Vermittler beider Seiten schließlich eine Einigung für unmöglich erklärten. Nun war es an einem Oberschlichter namens P. Reuthenauer, einen Schlichterspruch zu verkünden, was einen Monat später geschah. Erneut sah alles nach einem Sieg für die Arbeiter aus. Dem Schlichterspruch gemäß sollten sie einen Franc pro Tag mehr erhalten; weiterhin sollten die Familienzuschläge angehoben und Überstunden mit 12 % mehr Lohn bezahlt werden. Allerdings legte die Arbeitgeberseite formellen Protest gegen den Schiedsspruch ein. Dem Gesetz zufolge sollte nun ein übergeordnetes Gericht binnen acht Tagen über die Richtigkeit des Schlichterspruchs entscheiden. Da das Gericht aber keine Entscheidung fällte, überließ es die Arbeitgeberkammer den einzelnen Firmen darüber zu entscheiden, ob sie gewillt waren, die von Reuthenauer verfügten Löhne zu bezahlen.121 Erst im Juli verkündete das Gericht seine Entscheidung. In der Zwischenzeit waren beide Seiten zu dem Schluss gelangt, dass eine längere und härtere Auseinandersetzung bevorstand.122 In politischer Hinsicht war die Volksfront mit dem Rücktritt der zweiten Regierung Blum im April 1938 endgültig gescheitert.123 Dass soziale Spannungen zunahmen, hatte ein Bauarbeiterstreik im benachbarten Département d’Isère im Juni gezeigt, bei dem ein Mitglied der rechten Parti Social Français in eine Menge streikender Arbeiter geschossen hatte.124 Schließlich brach Ende Juni ein bitterer Streik auf einer Baustelle für den neuen Hafen aus, auf dem die rechten SPF aktiv waren. Die CGT boykottierte die dort tätige Firma Borrie, verlangte die Wiedereinstellung ihres Delegierten und im Gegenzug die Entlassung von Machetel, dem Chef der rechtsgerichteten Gewerkschaft.125 Um die Situation noch weiter anzuheizen, kündigten die Arbeitgeber Ende Juni die Kollektivverträge, die es im Anschluss an die Sommerstreiks 1936 hatte schließen müssen.126 Für den 7. Juli hatte die Bauarbeitergewerkschaft gemeinsam mit der Metallarbeitergewerkschaft, deren Anhänger mit massen­haften Entlassungen zu kämpfen hatten, zu einer Versammlung geladen, die um fünf Uhr nachmittags beginnen sollte, was bedeutete, dass Arbeiter ihre Stelle eine Stunde vor dem regulären Arbeitsende verlassen mussten – sie würden de facto eine Stunde streiken. Angaben über die Beteiligung an der Versammlung unterscheiden sich erheblich. Während die CGT von 20.000 Teilnehmern sprach, hatte der Lyon Républicain 15.000  Teilnehmer gezählt, die Polizei gar nur 6.000. Offiziell sollte die Möglichkeit eines Streiks diskutiert werden, aber die Versammlung nahm bald einen politischen Charakter an, da Sprecher beider 121 Ebd., S. 187. 122 Ebd., S. 188. 123 Wolikow, S. 167–170; Bourdé, S. 49–54. 124 Ochandiano, Formes, S. 188. 125 Zu diesem Streik ADR 10/M/497; Ochandiano, Formes, S. 188; Moissonnier, Bd. 2, S. 339– 341. Moissonnier zufolge finanzierte die Firma Borie die PPF. 126 Ochandiano, Formes, S. 188.

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Gewerkschaften, die jeweils von Kommunisten dominiert wurden, der »Reformpause« der (zu diesem Zeitpunkt schon lange zurückgetretenen) Regierung Blum vorwarfen, sie hätte nur den Interessen der Kapitalisten gedient. Ob Bauarbeiter in den Streik treten sollten, wurde nicht mehr diskutiert.127 Der Verlauf der Versammlung zeigt somit einmal mehr, wie politische Fragen auf nationaler Ebene wichtiger geworden waren als lokale Streiks. Dass eine ähnlich politische Diskussion in den frühen 1930er Jahren stattgefunden hätte, ist schwer vorstellbar. Die Frage nach einem Streik kam erneut gegen Ende des Monats auf, als das übergeordnete Gericht den Schiedsspruch Reuthenauers annulliert und einen gewissen Dilhac als neuen Oberschlichter bestimmt hatte. Die Firmen, die bislang die von Reuthenauer verfügten Löhne bezahlt hatten, reduzierten diese sofort. Obwohl der Schlichtungsprozess noch nicht abgeschlossen war und der Präfekt Bollaert die Gewerkschaften ausdrücklich vor einem Generalstreik gewarnt hatte, bereiteten jene genau diesen vor. Dabei war es nicht nur Bollaert, der gegen den Streik argumentierte. Selbst innerhalb der Bauarbeitergewerkschaften wurden Zweifel laut, ob ein erneuter Streik sinnvoll sei. Im Mai 1938 hatte beispielsweise die Schreinergewerkschaft im Effort argumentiert, massive Lohnerhöhungen würden nur zu mehr Wettbewerb unter den Firmen und damit zu mehr Arbeitslosigkeit führen. Mit ähnlichen Argumenten stellten sich Gewerkschafter anderer Branchen, allen voran der Sekretär der lokalen CGT, Vivier-Merle, gegen hohe Lohnforderungen. Trotz dieser Zweifler und trotz der insgesamt schwierigen Situation beschloss die Bauarbeitergewerkschaft im August den Streik. Dabei ist der Zeitpunkt von Interesse. In früheren Jahren hatten Bauarbeiter zumeist im Frühjahr gestreikt, da sie zu diesem Zeitpunkt am effektivsten Druck auf die Arbeitgeber ausüben konnten. Die Logik des Vermittlungsprozesses hingegen führte 1938 dazu, dass die Arbeiter zu einem für sie ungünstigen Zeitpunkt streikten, da die meisten Bauprojekte mit dem Ende des Sommers ohnehin ihren Abschluss fanden. Der am 5.  August 1938 beschlossene Streik sollte am 8.  August beginnen. Würden sich die Arbeitgeber nicht den Forderungen der Arbeiter beugen, so sollte der Streik bald auf das gesamte Département ausgedehnt werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Dilhac noch keinen Schlichterspruch verkündet, womit die Arbeiter die Regeln der Schlichtung verletzten. Zunächst wurden jene Firmen, die die von Reuthenauer geforderten Löhne zahlten, vom Streik ausgenommen, was die sozialistische Kooperative l’Avenir einschloss. Noch tätige Bauarbeiter mussten eine Streiksteuer von 10 Francs bezahlen, eine hohe Summe, die belegt, dass sich die Gewerkschaften auf einen langen Streik einstellten. Da die Arbeitgeber sich als unnachgiebig erwiesen, setzten die Gewerkschaften ihre Drohung in die Tat um und dehnte den Streik auf den Rest des Départements aus. Am 17.  August schlossen sich Bauarbeiter in benachbarten Orten dem Streik an. Zwei Tage später verkündete Dilhac seinen Schlichterspruch. Er hielt 127 Ebd.; Lyon Républicain, 8.7.1938, und ADR 4/M/236, Bericht vom 24.7.1938.

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die Forderungen der Arbeiter nach höheren Löhnen, um die Inflation auszugleichen, für berechtigt, sprach ihnen aber nur 5–7 % zu, je nach lokalen Inflationsraten, und lehnte jede Erhöhung von Familienzuschlägen ab. Für die Arbeiterseite bedeutete dies, verglichen mit dem Schiedsspruch von Reuthenauer, eine inakzeptable Lohnminderung. Der Streik wurde daher fortgesetzt, und am 22. August traten auch die Bauarbeiter in Villefranche in den Streik. Der Streik gewann rasch eine nationale politische Bedeutung, die weit über Lyon hinaus wies. Am gleichen Tag, an dem Dilhac seinen Schiedsspruch verkündet hatte, hatte Premierminister Daladier erklärt, es wäre Zeit, Frankreich wieder zurück zur Arbeit zu bringen, was die Abschaffung der 40-Stunden-Woche bedeutete.128 Aus Gewerkschaftssicht war dies Teil der Offensive gegen die »Welt der Arbeit«. Auf einer Protestversammlung gegen die Erklärung Daladiers am 25. August, auf der auch für Unterstützung für die streikenden Bauarbeiter geworben wurde, betonte Labrousse, Delegierter der Bauarbeitsgewerkschaft, denn auch den nationalen Charakter des Streiks in Lyon.129 Ochandiano zufolge scheint es so, als wollten die Pariser Bauarbeiter, die auch einen Streik planten, den Konflikt in Lyon gleichsam als Testlauf für ein Kräftemessen nutzen.130 Auf der lokalen Ebene betonte die Gewerkschaft, dass der Streik die Arbeiter aller Gewerbe anging, weshalb alle Arbeiter die streikenden Bauarbeiter wenn möglich mit einem Stundenlohn pro Woche unterstützen sollten.131 Offenbar standen größere, politische Fragen, und nicht nur die »direkten Interessen« der unmittelbar betroffenen Arbeiter auf dem Spiel. Im Zuge der Politisierung des Streiks verhärteten sich die Positionen beider Parteien. Anfang September fanden erste Verhandlungen über neue Tarifverträge statt, die ab dem 1. Oktober die alten Verträge ersetzen sollten. Arbeiter und Arbeitgeber hatten am 2. September vereinbart, so schnell wie möglich zu verhandeln, und wollten sich am 9.  September erneut treffen. Trotz dieser Vereinbarung entschieden sich die Bauarbeiter am 6. September, den Arbeitgebern ein Ultimatum zu stellen. Würden die Arbeitgeber nicht bis zum 9. September den Schlichterspruch Reuthenauers akzeptieren, so würde es ab dem 12. September zum Generalstreik im Baugewerbe kommen, was bedeutete, dass alle Firmen, auch diejenigen, die nach wie vor die Löhne gemäß dem Schiedsspruch von Reuthenauer zahlten, bestreikt werden würden, selbst die Kooperative l’Avenir. »Was auch immer die Konsequenzen sein mögen«, drohte Gewerkschaftsführer Arrachard »es wird zum Generalstreik kommen. Dieser Streik wird nicht in der Bourse du Travail stattfinden; stattdessen werden die Arbeiter auf die Straßen Lyons gehen, selbst wenn sich ihnen die Gardes mobiles und die

128 Prost, Front populaire, S. 112–116; Wolikow, S. 270–273; Bourdé, Kap. 4. 129 Ochandiano, Formes, S. 191 f. Er zitiert aus ADR 4/M/236. Worin dieser »nationale Charakter« genau bestand, bleibt allerdings unklar. 130 Ebd., S. 192. 131 Ebd. Er zitiert aus Gewerkschaftsarchiven, die mir nicht zugänglich waren.

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Polizei dort in den Weg stellt. Sie wissen zu kämpfen!«132 Dieser Schritt war eine entscheidende Radikalisierung des Streiks. Albert Fau zufolge war es die nationale, von Kommunisten geleitete Gewerkschaftsführung, die diesen Schritt gegenüber den lokalen Aktivisten durchsetzte. Ging es nach den Wünschen der nationalen Führung, so sollte der Streik in Lyon aktiver werden, um in der Region eine Führungsrolle einzunehmen, »und dies mit der Perspektive eines nationalen Generalstreiks.«133 Einige lokale Gewerkschaftsführer wie Chaintreuil wandten sich gegen diese Strategie, da die Verhandlungen Anlass zur Hoffnung gaben, aber die nationale Führung bestand auf dem Ultimatum, das dann auch gestellt wurde.134 Das folgende Treffen zwischen Gewerkschaftern und Arbeitgebern blieb kurz, da Rousseau, der erneut die Arbeitgeberseite vertrat, es ablehnte, unter dem Druck eines Ultimatums zu verhandeln. Der Dialog hatte ein Ende gefunden, so dass es am 12.  September wie angekündigt zum Generalstreik im Baugewerbe Lyons kam.135 In dieser Radikalisierung des Konflikts ist ein Ergebnis seiner Politisierung zu sehen, für das sowohl die Kommunisten auf Seiten der Arbeiter als auch Rousseau, dem die kommunistisch politisierten Gewerkschaften zutiefst verhasst waren, verantwortlich zu machen sind. Während des großen Streiks 1930 war es, um den Unterschied deutlich zu machen, niemals zu einem Abbruch der Verhandlungen gekommen. Damals war es dem Cartel gelungen, die Front der Arbeitgeber zu durchbrechen und so einen Sieg zu erringen. Dieser Möglichkeit hatten sich die Arbeiter 1938 beraubt, indem sie den Streik zum Generalstreik machten. Sie zwangen die Arbeitgeber in eine geschlossene Front. Im Zuge der Radikalisierung des Streiks änderten sich auch seine Methoden. Erneut machten die Gewerkschafter von der »direkten Aktion« Gebrauch, jedoch in einem gänzlich anderen Kontext: das Baugewerbe war in einer tiefen Krise, die nationale und internationale politische Situation wurde zunehmend kritisch, und vor allem wurde die Gewerkschaft nun von Kommunisten kontrolliert, die den Streik für politische Ziele gebrauchen wollten und nicht nur, um konkrete Ergebnisse im lokalen Kontext zu erreichen. Arbeiter besetzten Baustellen, die jedoch schnell von der Polizei geräumt wurden. Zusammenstöße mit Arbeitgebern und Streikbrechern verliefen immer öfters gewalttätig. Am 13. September wurden bei einer Auseinandersetzung zwischen einer ­Roulante und einem Betriebsinhaber in Limonest Schüsse abgegeben; am 15. September stieß eine andere Roulante mit den Gardes mobiles in La Croix Rousse zusammen, wobei elf streikende Arbeiter festgenommen wurden.136 Auch auf Baustellen kam es vermehrt zu Gewalt gegen Streikbrecher. Nach dem Ende der Ge132 Ochandiano, Formes, S. 192. Er zitiert Fau, S. 211. 133 Fau, S. 235. Zitiert bei Ochandiano, Formes, S. 192 f. 134 Ochandiano, Formes, S. 193. 135 Ebd. 136 Ebd. Zu einem weiteren Beispiel einer Konfrontation mit den Gardes mobiles, die beinahe gewaltsam endete, Fau, S. 212 f.

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spräche zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern berichtete der Präfekt, dass »die Führer der Bauarbeitergewerkschaft mehrere ›Strafexpeditionen‹ zu Baustellen organisiert haben, die [durch die Ordnungskräfte] wieder eröffnet wurden, wobei einige [der Gewerkschaftsführer] verhaftet wurden. Dies bestärkte die Führer der Arbeitgeberschaft in ihrer unnachgiebigen Haltung.«137 Da konkrete Ergebnisse in immer weitere Ferne rückten, hatte die Gewerkschaftsführung, so Ochandiano, immer größere Schwierigkeiten, die Disziplin der Arbeiter aufrecht zu erhalten.138 Auch auf politischer Ebene wurde die Situation immer angespannter, zumal die Pariser Bauarbeiter ihren Streik während der Verhandlungen in München aufgegeben hatten, um so nationale Rüstungsanstrengungen nicht zu behindern, was einmal mehr verdeutlicht, dass selbst lokale Streiks im internationalen Kontext zu verstehen sind.139 Auch in Lyon machte die Gewerkschaft dem Präfekten ein ähnliches Angebot, allerdings unter der Bedingung, dass die von Reuthenauer geforderten Löhne bezahlt werden sollten, was der Präfekt Bollaert ablehnte.140 Die Situation eskalierte schließlich am 3.  Oktober 1938. Mehrere hundert streikende Arbeiter erschienen auf der Baustelle des Hafens Edouard Herriot um Streikbrecher von der Arbeit abzuhalten. Daraufhin begaben sie sich in die Vitriolerie, wo die Firma Riousset eine Baustelle betrieb, auf der unter anderem die vormaligen Führer des Cartel Autonome, Charre und Longy, die nun ein winziges »Syndicat autonome des maçons« leiteten, de facto als Streikbrecher tätig waren. Nur zwanzig Polizisten bewachten die Baustelle. Diese konnten nichts gegen die Menge von Bauarbeitern ausrichten, die die zehn Streikbrecher mit einem Steinhagel bedachte, wobei Charre am Kopf getroffen und schwer verletzt wurde. Erst als Verstärkung eingetroffen war, griffen die Beamten ein und nahmen achtzig Arbeiter fest, von denen 26 in Haft blieben, unter ihnen der Gewerkschaftssekretär Bressand. Am folgenden Tag wurde Albert Fau, Sekretär der Erdarbeitergewerkschaft verhaftet, und am 16. Oktober Ducourthial, Sekretär der Maurergewerkschaft. Mitte Oktober waren mehr als hundert streikende Arbeiter in Haft, unter ihnen die Mehrheit der Gewerkschaftsführer.141 Arbeitgeber nutzten diesen und viele andere gewaltsame Zwischenfälle, um die Streikführer anzugreifen; nun weigerten sie sich erst recht, zu verhandeln. Selbst einen Vermittlungsversuch des gemäßigten Vivier-Merle lehnte Rousseau mit Verweis darauf ab, dass Vivier-Merle Generalsekretär der Union Départemantale der CGT sei, was ihn organisatorisch mit der Bauarbeitergewerkschaft in Verbindung brachte. In einem Brief an Bollaert erklärte Rousseau im Namen der Arbeitgeberkammer, er betrachte die Bauarbeitergewerkschaft nicht als Repräsentantin der in ihren Firmen beschäftigten Arbeiter; einzig mit 137 Ochandiano, Formes, S. 193. Er zitiert aus ADR 10/MPC/127 (jetzt ADR 10/M/495). 138 Ochandiano, Formes, S. 193. 139 Ebd.; Fau, S. 216. 140 Ochandiano, Formes, S. 193 f. 141 Ebd., S. 194; ADR Uca 1068 und 1069.

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Delegierten, die wirklich seine Arbeiter vertraten, würde er verhandeln. Mit diesen würde er sogar einen kollektiven Tarifvertrag unterzeichnen. Diese Delegierten sollten von ihren Kollegen gewählt werden, wobei ihm aber der Wahlmodus mitgeteilt werden müsste. Darüber hinaus wollte er deren »moralische Qualitäten« beurteilen. Die Arbeitgeber wollten nicht, so Ochandiano, verhandeln, sondern den Widerstand der Arbeiter brechen. Es war endlich eine Gelegenheit, die Autorität der Arbeitgeber auf den Baustellen wieder herzustellen, zumal die »gelben« Syndicats professionnels in der Arbeiterschaft Fuß hatten fassen können. Dementsprechend betonte Rousseau in einem Brief an Bollaert, er würde nur mit dem »gelben« »Syndicat professionnel des corporations du bâtiment« einen Vertrag schließen, aber mit keiner der anderen Gewerkschaften, »die einer politischen Richtung anhängen, was auch immer diese sein mag und mit welcher [politischen] Gruppe auch immer sie verbunden sein mögen. Wir wollen unserem festen Willen Ausdruck verleihen, keinen Einfluss einer politischen Lehre zu akzeptieren. Wir sind Industrielle und Händler und haben vor, in der industriellen und ökonomischen Sphäre zu bleiben.« Selbstredend zählten Gewerkschaften mit Verbindungen zur rechten Parti Social Français nicht als »politisch«, wollten sie doch ausschließlich »auf beruflichem Terrain« kämpfen.142 Die Bauarbeitergewerkschaft stand zunehmend unter Druck. Die wachsende Stärke der SPF und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, den Streik immer öfter mit Gewalt durchsetzen zu müssen, zeigen, dass die einst so starke Gemeinschaft der Bauarbeiter im Zerfall begriffen war. Dies setzte einen Teufelskreis in Gang, da die zunehmende Gewalt Arbeiter nur noch weiter von der Organisation entfremdete und so die Gemeinschaft schwächte. Auch die öffentliche Meinung wandte sich vom Streik ab, zumal die Gewalt in Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften, vor allem den Gardes mobiles, in der ganzen Stadt sichtbar war. Ein Stadtrat behauptete gar, die Räumlichkeiten der Bourse du Travail hätten sich in Folterkammern verwandelt.143 Politik spielte, wie Ochandiano zurecht betont, eine entscheidende Rolle in diesem Zerfallsprozess. Im Gegensatz zur Führung des alten Cartels gelang es der neuen kommunistischen Gewerkschaftsführung nicht, die Arbeiter davon zu überzeugen, dass sie ausschließlich für ihre Interessen stritt. Vor allem hielt ihre politische Haltung sie davon ab, pragmatisch zu bleiben und die Tür zu Verhandlungen offen zu halten. So scheint die Politisierung der Bauarbeitergewerkschaft dazu geführt zu haben, dass sich viele Arbeiter von der Organisation entfremdeten, der sie nicht mehr zutrauten, ihre Interessen effektiv zu vertreten.144 Um den Streikwillen endgültig zu brechen, bedurfte es in dieser Situation nicht mehr viel. Die Gewalt erreichte schließlich am 11. Oktober einen Höhe142 Ochandiano, Formes, S. 194–197. Er zitiert aus ADR 10/M/495. 143 Ochandiano, Formes, S. 196. Er zitiert aus ADR 10/M/495, extrait de la séance du Conseil Municipal, 17.10.1938. 144 Ochandiano, Formes, S. 197.

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punkt, als ein Vorarbeiter polnischer Herkunft, Ladislas Wieczorkowski, nahe einer Baustelle, auf der er trotz des Streiks arbeitete, erschossen wurde. Die rechtsgerichtete Presse machte sofort die streikenden Bauarbeiter zumindest in moralischer Hinsicht für den Mord verantwortlich, hatten sie doch eine solch angespannte und gewalttätige Atmosphäre geschaffen. Drei Tage später wurden drei streikende Bauarbeiter verhaftet, von denen einer zugab, dem Vorarbeiter eine Lektion erteilt zu haben, aber bestritt, auf ihn geschossen zu haben. Seine Genossen bestritten jegliche Beteiligung.145 Was auch immer die Wahrheit ist, der Mord isolierte die Gewerkschaft endgültig. Weder der Arbeitsminister noch der Präfekt konnten Rousseau davon überzeugen, Verhandlungen aufzunehmen. Die streikenden Arbeiter waren am Ende ihrer Kräfte. Nach mehr als zwei Monaten des Kämpfens beschlossen sie, am Montag den 24. Oktober die Arbeit wieder aufzunehmen. Sie hatten spektakulär verloren. Der Streik markierte das Ende der einst so mächtigen Bauarbeitergewerkschaft. Zahlreiche Gewerkschafter mussten für mehrere Monate ins Gefängnis, viele andere wurden entlassen.146 Aber nicht nur Repressionen zerstörten die Gemeinschaft und zwangen Arbeiter, sich den Syndicats professionnels anzuschließen. Eine wachsende Zahl von Arbeitern verlor das Vertrauen in die Gewerkschaftsführung. Die Arbeiter der Kooperative l’Avenir beispielsweise verlangten nicht nur offenzulegen, wofür während des Streiks das Geld der Gewerkschaft ausgegeben wurde, sondern forderten auch den Rücktritt der gesamten Führung der Maurergewerkschaft. Da ihren Forderungen nicht Folge geleistet wurde, entschieden sie, in Zukunft ihre Mitgliedsbeiträge direkt an die regionale Gewerkschaftszentrale der CGT zu bezahlen.147 Eine Folge der Repression seitens der Arbeitgeber war, dass die Gewerkschaften ihre Präsenz auf den Baustellen nicht aufrecht erhalten konnten. Gewerkschaftsdelegierte konnten Bauarbeiter nicht länger am Arbeitsplatz kontrollieren und so die Gewerkschaftsdisziplin durchsetzen. Anstatt auf Baustellen Versammlungen abzuhalten, mussten sie sich in Restaurants, Bars oder den Gewerkschaftssitzen treffen. Damit hatten die Gewerkschaften die Grundlage ihrer Macht, nämlich die Kontrolle über den Zugang zum Arbeitsmarkt, v­ erloren.148 Die neuen kollektiven Tarifverträge minderten die Macht der Gewerkschaften weiter. Die erste Frage war, welche Gewerkschaft die Arbeiter des Berufs repräsentierte. Das Gesetz schrieb vor, dass diejenige Gewerkschaft, die die meisten Arbeiter vertrat, den Tarifvertrag unterschreiben sollte, weshalb es für die kommunistisch geführte Bauarbeitergewerkschaft entscheidend war, dass sie weiterhin die Mehrheit der Bauarbeiter in Lyon organisierte, wie es in den Vorjahren zweifelsohne der Fall gewesen war. Ende 1938 jedoch entschied der zuständige Beamte [Inspecteur divisionnaire du Travail], dass die gelben SPF die 145 Ebd.; Lyon Républicain, 11.10.1938. 146 ADR Uca 1068 und 1069. 147 Ochandiano, Formes, S. 199 f. 148 Ebd., S. 200.

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Mehrheit der Bauarbeiter Lyons repräsentierten. Ob diese Entscheidung die wirklichen Zahlenverhältnisse widerspiegelte, lässt sich nicht sagen. Es ist aber bezeichnend, dass selbst Chaintreuil im April 1939 zugab, dass man »was Lyon betrifft hierüber diskutieren könnte«, auch wenn Versuche, die SPF in anderen Orten der Region zu etablieren, erfolglos geblieben waren. Allerdings kamen auch die meisten Bauarbeiter aus Lyon. Insbesondere große Gewerkschaften wie jene der Erdarbeiter und der Maurer litten unter Mitgliederschwund, während kleinere, wie die Gewerkschaft der Heizungsinstallateure, weniger betroffen waren.149 Ochandiano zufolge hatte diese Entwicklung schon vor geraumer Zeit begonnen. Wachsende Arbeitslosigkeit, zunehmende Mechanisierung und eine größere Anzahl an Arbeitern unterschiedlicher lokaler Herkunft hatten zur Erodierung der Gemeinschaft beigetragen, die sich einst aus Maurern des Limousin gebildet hatte. Der gescheiterte Streik beschleunigte diese Entwicklung, zumal die Gewerkschaft nicht länger glaubhaft behaupten konnte, die Interessen der Arbeiter erfolgreich zu verteidigen. »Die Arbeiter haben daher weniger Schwierigkeiten, die Gewerkschaft zu verlassen, die für sie nur noch ein Instrument ist, ihre Lage zu verbessern, aber keine Bedeutung mehr in ihrem Leben hat«, so Ochandiano, nicht ohne eine gewisse Nostalgie. Schließlich verschwanden auch die Symbole, die eine kollektive Identität der Bauarbeiter geformt hatten.150 Sie wurden, so wäre hinzuzufügen, durch kommunistische Symbole ersetzt, die allerdings keine kollektive Identität formen konnten. Politik, so scheint es, entfremdete die Arbeiter von »ihrer« Organisation. Mit den neuen, von den SPF unterschriebenen Tarifverträgen verloren die Arbeiter viele der Errungenschaften der Streiks von 1936. Streiks, die vorher als Teil des Verhandlungsprozesses zwischen Gewerkschaft und Arbeitgebern gegolten hatten, wurden nun als Vertragsbruch angesehen, was den Arbeitgebern die Möglichkeit gab, die Verantwortlichen zu verklagen.151 Ebenso verloren die Delegierten einen Großteil ihrer Rechte. Sie hatten 1936 »unter der direkten und dauerhaften Kontrolle der Gewerkschaftsorganisationen« gestanden, wie es im Vertrag hieß. Der neue Vertrag hingegen betonte, dass sie einzig ihre »Kameraden auf der Baustelle« vertraten und keine Gewerkschaftsorganisation. Laut altem Tarifvertrag konnten sie »auf ihren Wunsch hin einen Vertreter der Gewerkschaft ihres Gewerbes zu Hilfe holen.« Im neuen Vertrag hieß es ausdrücklich, dass keine »der Firma fremde« Person die Baustelle oder den Betrieb betreten durfte. Der Vertrag regelte sogar, wie Delegierte gewählt werden sollten. Zuvor waren sie einfach durch Handzeichen in öffentlicher Versammlung gewählt worden, was den Gewerkschaften eine gewisse soziale Kontrolle verschaffte. Nun wurden sie in geheimer Wahl und unter Aufsicht der Betriebsinhaber gewählt. Auch andere praktische Rechte verloren die Delegierten. Sie 149 Ochandiano, Formes, S. 201–204. 150 Ebd., S. 204. 151 Ebd., S. 205.

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konnten, selbst außerhalb der Arbeitszeiten, keine Versammlungen auf den Baustellen durchführen, sie durften weder Beiträge sammeln noch Mitgliedsausweise verteilen, noch für Gewerkschaften oder politische Gruppen agitieren, und durften grundsätzlich nichts tun, was die Arbeit unterbrach. Sie hatten keine Mitsprache bei der Arbeitsorganisation, Entlassungen und Einstellungen, oder auf welcher Baustelle Arbeiter arbeiten sollten. All dies hatte traditionell in den Aufgabenbereich der Delegierten gehört. Ohne diese Aufgaben wahrnehmen zu können, konnten die Delegierte nicht länger effektiv die Interessen der Arbeiter vertreten.152 Der Streik markierte das Ende der einst so mächtigen Bauarbeitergewerkschaft in Lyon. Weshalb endete der Streik mit einer so spektakulären Niederlage? Zurückblickend meint Albert Fau, damals einer der Streikführer, dass die Radikalisierung und Ausweitung des Streiks im September ein Fehler war. »Mit viel Mühe hatten wir die Unterschrift von 300 Unternehmern erlangt [die die von Reuthenauer vorgeschlagenen Löhne zahlen würden]. So hatten wir eine erste Bresche in die Front der Arbeitgeber geschlagen.« Mit altbewährten Taktiken war es gelungen, die Solidarität der Arbeitgeber zu erschüttern. Das Ultimatum und die Ausweitung des Streiks machten diesen Erfolg zunichte. Die Arbeiter zwangen die Arbeitgeber regelrecht in eine Einheitsfront und beraubten sich dabei selbst einer »wichtigen Quelle der Solidarität«, nämlich der Streiksteuer.153 Die Radikalisierung des Streiks bedeutete eine Abkehr von erprobten Streiktaktiken. Selbstkritisch erklärt Fau diesen Schritt: »Unser Fehler in diesem Konflikt war vielleicht, dass wir nationalen Anweisungen [einer kommunistischen Gewerkschaftsführung, die mit dem Streik politische Ziele verfolgte] zu schnell und ohne große Diskussionen befolgten, Anweisungen, die unsere lokalen und regionalen Partikularitäten, die sich vielfach als erfolgreich erwiesen hatten, ignorierten.«154 Hierin lag wohl einer der wichtigsten Gründe für sein Scheitern. Ochandiano hebt zwei weitere Gründe hervor, erstens dass der Schlichtungsprozess die Gewerkschaft zwang, im Herbst und nicht im Frühjahr zu streiken, und zweitens die generelle Krise im Baugewerbe, die einen Streik ohnehin zu einem schwierigen Unterfangen machte. Hinzu kam, wie Fau betont, dass die internationale Lage (der Sieg Francos in Spanien und das Münchner Abkommen) die allgemeine Stimmung gegen die streikenden Arbeiter aufbrachte. Albert Faus Bemerkung untermauert eine der zentralen Thesen dieser Arbeit: dass Politik einen überaus problematischen Einfluss auf soziale Kämpfe haben konnte. Der Bauarbeiterstreik von 1938 ist ein hervorragendes Beispiel für dieses These. Ein Streik bedurfte einer effektiven und disziplinierten Mobilisierung aller beteiligten Arbeiter. Vor 1936 war dem Cartel eine solche 152 Ochandiano, Formes, S. 205–209. 153 Fau, S. 234 f. 154 Ebd., S. 235 f.

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Mobilisierung nicht zuletzt deshalb gelungen, weil es eine starke Gemeinschaft geschaffen hatte, die sich auf einer beruflichen Identität und gemeinsamen »unmittelbaren Interessen« gründete. Die (nationale)  kommunistische Führung aber hatte andere Ziele als jene »unmittelbaren Interessen« der Arbeiter im Auge. Ein Sieg mit Hilfe der »alten Methoden« mag, wie Fau andeutet, in Reichweite gewesen sein, allerdings wäre es kein Sieg im Sinne der politisierten nationalen Gewerkschaftsführung gewesen. In deren Augen sollte der Streik in Lyon vor allem den Boden für eine größere Streikbewegung bereiten. Der Streik war keine lokale Angelegenheit, die nur die Bauarbeiter Lyons betraf, sondern hatte eine nationale und politische Bedeutung. Ein Sieg auf lokaler Ebene wäre aus dieser Perspektive bedeutungslos gewesen. Um wenigstens die Chance zu haben, sein politisches Ziel zu erreichen, musste der Streik radikalisiert werden. Dies scheiterte jedoch. Unter der Last der Politisierung brach die gesamte Bewegung zusammen. Der gescheiterte Bauarbeiterstreik markierte de facto das Ende der Volksfront in Lyon. Zwar beteiligten sich auch dort Arbeiter an dem nationalen Generalstreik vom 30. November 1938, aber es war offensichtlich, dass die lokale Arbeiterbewegung mit der Zerschlagung der Bauarbeitergewerkschaft einen entscheidenden Schlag hatte hinnehmen müssen. War der Streik in Lyon tatsächlich eine Art Testfall für eine größere Auseinandersetzung gewesen, so war das Ergebnis klar: Er hatte eindeutig die Schwäche der Arbeiterbewegung offenbart. Der Generalstreik am 30. November endete in Lyon wie auch in ganz Frankreich mit einer Niederlage. Nur etwa 40 % der Arbeiterschaft beteiligten sich, so der Lyon Républicain. »Lyon behielt sein normales Stadtbild.«155 Während die kommunistische Voix du Peuple den Streik trotz der Repressionsmaßnahmen als Erfolg pries, zeichnete der sozialistische Avenir Socialiste ein realis­tischeres Bild. Zwar erkannte das Blatt den Mut derjenigen Arbeiter an, die dem Aufruf der CGT gefolgt waren, musste jedoch eingestehen, dass der Streik nicht wirklich allgemein gewesen war. Das Blatt verbarg auch nicht seine Verärgerung über die Feigheit vieler Arbeiter, denen jene mutigen Genossen zum Opfer gefallen waren. »Die Massen sind mutig, solange nichts auf dem Spiel steht. Unter der sozialistischen Regierung stellen sie gewaltsam Forderungen und bringen damit ihre Regierung in Bedrängnis, wohl wissend, dass diese keine Zwangsmaßnahmen gegen die Arbeiterklasse ergreifen wird. Aber es bedarf nur Beschlagnahmungen und der Polizei, um jeglichen Widerstand verschwinden zu lassen.« Vor allem jene Arbeiter, die im Juni 1936 die meisten Forderungen gestellt hatten, hatten sich nun »feige zurückgezogen«.156 Wie im Rest Frankreichs hatten sich auch in Lyon vornehmlich Metall- und, zum letzten Mal, Bauarbei155 Lyon Républicain, 30.11.1938/1.12.1938. Der Voix du Peuple, 3.12.1938, zufolge lag die Streikbeteiligung bei 70–75 %, der Polizei zufolge nur bei 22 %, ADR 4/M/236. Weiterhin Mann, S. 241 f. 156 L’Avenir Socialiste, 3.12.1938.

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ter am Streik beteiligt, während Arbeiter im öffentlichen Sektor, vor allem jene in den öffentlichen Nahverkehrsbetrieben, zur Arbeit gingen. Nach dem Streik setzten harte Repressionsmaßnahmen ein. Zahlreiche Arbeiter wurden entlassen und etwa fünfzig verhaftet. Ein Polizeibericht vom Dezember 1938 bemerkte zufrieden, dass die Gewerkschaften zahlreiche Mitglieder verloren hatten und ihre Macht am Arbeitsplatz gebrochen war, da aktive Gewerkschafter entlassen wurden.157 In Lyon wie in ganz Frankreich war die Macht der Arbeiterbewegung gebrochen. Die Rolle, die Politik beim Generalstreik spielte und spielen sollte, gehörte zu den am heftigsten umstrittenen Fragen. Sowohl die Regierung als auch die konservative Presse warfen den Gewerkschaften vor, einen politischen Streik zu führen, um die Regierung zu stürzen, während die CGT seinen rein »professionellen« Charakter betonte. Auch in Lyon ging die Polizei von einem politischen Streik aus. Kommunisten versuchten, so die Polizeiberichte, den Generalstreik in revolutionärem Sinne zu nutzen. Beispielsweise sollten sie »typische Auszüge aus ›Mein Kampf‹ präsentieren, um eine Verständigung mit Deutschland zu verhindern«, was dem Streik eine außenpolitische Dimension verlieh.158 Dass es bei dem Streik auch um Politik ging, ist letztendlich kaum zu bestreiten. Mit dem Streik sollte gegen die Notverordnungen [Décrets-lois] protestiert werden, die der 40-Stunden-Woche ein Ende bereiteten, die wiederum als Hindernis für die Aufrüstung Frankreichs angesehen wurde. Jouhaux wies auf diesen Zusammenhang ausdrücklich hin. Diese Verordnungen seien, so Jouhaux, nur eine Folge von München und dem Willen der Regierung, Hitler zu zeigen, dass die französische Regierung gegenüber der Arbeiterbewegung die selbe Haltung vertrat wie der deutsche Führer.159 Eine Vermengung politischer und sozialer Fragen, etwa die Länge der Arbeitswoche betreffend, zu vermeiden, war in dieser Situation von politischer Krise und Kriegsgefahr unmöglich, zumal diese Fragen politisch reguliert wurden. Gerade im Zeitalter industrieller Kriegs­ führung konnte es keine klare Trennung zwischen Politischem und Sozialem mehr geben. Der Generalstreik mag daher ein letztes Beispiel dafür bieten, wie sehr sich zwei vormals strikt getrennte Felder, jene des Politischen und des So­ zialen, im Verlaufe der Volksfront durchdrangen. Konflikte über die Rolle von Politik in der Arbeiterbewegung dauerten auch während der Besetzung und Résistance an. Wie in ganz Frankreich fand auch in Lyon die Einheit der Arbeiterbewegung mit der Veröffentlichung des Hitler157 ADR 4/M/236. 158 ADR 4/M/236. 159 Zur Debatte über den politischen oder »professionellen« Charakter des Streiks, Bourdé, Kap. 7, insbesondere S. 161 zu Jouhaux. Nach dem Streik warfen Anhänger der alten Gewerkschaftsautonomie innerhalb der CGT ihren kommunistischen Kollegen vor, einen politischen Streik gegen das Münchner Abkommen durchgeführt zu haben, der nur in einer Niederlage enden konnte. In Marseille kam es hierüber sogar zu Gewalttätigkeiten. Erneut zeigt sich, wie konfliktträchtig Fragen der Politik innerhalb der französischen Gewerkschaftsbewegung sein konnten, ders., S. 245 f.

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Stalin-Pakts und des »Verrats« der Kommunisten ein jähes Ende. Erneut spaltete sich die CGT. Allerdings geschah dies nicht aus blauem Himmel, wie René Mouriaux betont, hatte doch der wachsende Einfluss vormaliger Unitaires bei alten Confédérés zu Verunsicherung und Verärgerung geführt.160 Zwar änderte sich die politische Gesamtsituation mit der Invasion der Sowjetunion durch die Wehrmacht, aber Spannungen zwischen Kommunisten und alten Syndikalisten bestanden fort. Während sich Kommunisten aktiv am Kampf gegen die Besatzung und das Vichy-Regime beteiligten, sorgte sich der CGT-Führer VivierMerle vor allem um das Überleben der Organisation und versuchte, die alten Rechte und Freiheiten der Arbeiter zu verteidigen, ohne sich aber am politischen Widerstand gegen Vichy zu beteiligen, wie Marcel Ruby hervorhebt. Bis zu seinem Tod bei einem amerikanischen Bombenangriff auf Lyon im Mai 1944 blieb Vivier-Merle den Kommunisten gegenüber zutiefst misstrauisch, da er befürchtete, sie könnten der Arbeiterklasse mit ihrem »mutigen« Kampf eher schaden als helfen. Erst als vormalige Unitaires in den Gewerkschaften, vor allem in der Metall- und Bauarbeiterbranche, aber auch in der Chemieindustrie, an Einfluss gewannen, entstand eine aktivere Widerstandsbewegung. Zu Zeiten eines zutiefst ideologisierten Weltkriegs vermochte der alte, antipolitische Syndikalismus Arbeiter nicht mehr zu mobilisieren. Der kommunistischen Action Ouvrière gelang dies.161 Während des Aufstiegs der Volksfront, so lässt sich zusammenfassend festhalten, erwies sich Politik als integrativer Faktor. Unter dem Banner des Anti­ faschismus konnte die Arbeiterklasse mobilisiert werden, Differenzen ließen sich so überbrücken. Diese politische Mobilisierung legte gleichsam den Grundstein für die soziale Mobilisierung während der Sommerstreiks 1936. Durch den Sieg der Volksfront lösten sich die Grenzen zwischen dem Politischen und So­ zialen weiter auf. Der Staat intervenierte zunehmend in sozialen Fragen, während politische Parteien, vor allem die PCF, auf Gewerkschaften Einfluss nahmen.162 Diese Vermischung von Politik und Sozialem führte bald zu neuen Problemen. Es stellt sich die Frage, weshalb die Politisierung der Arbeiterbewegung zunächst eine solch integrative Wirkung haben konnte, dann aber zum Zerfall der Volksfront beitrug. Ein Grund mag darin liegen, dass die Volksfront im Frühjahr und Sommer 1936 ihren Höhepunkt erreicht hatte. Mit dem Wahlerfolg im Mai war ein zentrales Ziel erreicht worden, so dass nun Differenzen wieder zum Vorschein traten, zumal sich die Arbeiterbewegung wie auch die Regierung der Volksfront zunehmend internen und externen Problemen ausgesetzt sahen. Die politische 160 Mouriaux. 161 Ruby, S. 68–72, 549–567; Rude; Chauvy. Diese Studien zur Résistance in Lyon verbleiben jedoch zumeist im Empirischen, weshalb die vorgebrachten Argumente nur als Vorschläge zu betrachten sind. 162 Bourdé, S.  112–117. Er meint, die Kommunistische Partei habe insgeheim versucht, die CGT zu unterwandern, wogegen alte Gewerkschaftler vehement protestierten.

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Mobilisierung hatte eine »soziale Explosion« ermöglicht, aber zu keinen stabilen Organisationsformen geführt. Altbewährte Taktiken verschwanden im Zuge dieser Politisierung, was letztlich zur Auflösung der Gemeinschaft führte. Zweitens ist zu bedenken, dass die »soziale Explosion« 1936 zwar durch die politische Mobilisierung ermöglicht wurde, dass sie aber noch nicht, wie der Bau­ arbeiterstreik 1938, unter der absoluten Kontrolle von Politik stand. Drittens ließe sich argumentieren, nach den festivalartigen Sommerstreiks 1936 seien die Arbeiter »erschöpft« gewesen und hätten gleichsam nicht mehr die Kraft gehabt, kleinere, defensive und weitaus weniger freudige Streiks zu führen. Schließlich ist zu betonen, dass sich Frankreich, zumindest in der Wahrnehmung der Zeitgenossen, im Frühjahr 1934 einer politischen Krise ausgesetzt sah. Diese Krise erforderte eine politische Antwort. Ein antipolitischer Syndikalismus bot hier keine Lösung. Zwar überlebte die Volksfront nur zwei Jahre, aber ihr zentraler Erfolg sollte dennoch nicht vergessen werde, wie Julian Jackson hervorhebt: Die Republik wurde erfolgreich verteidigt. Sie fiel erst unter dem Ansturm der Wehrmacht.163 Ein Erfolg der rechten Ligen wäre ohne die politische Mobilisierung in der Volksfront durchaus vorstellbar gewesen.164 Nostalgische Gefühle für das Cartel Autonome sind daher alles andere als angebracht. In Zeiten politischer und wirtschaftlicher Stabilität konnte es sich gegenüber der lokalen Arbeitgeberschaft durchsetzen, eine Antwort auf eine politische und wirtschaftliche Krise besaß es nicht. Es gab keine Alternative zu einer politischen Mobilisierung.

163 Jackson, Popular Front, S. 284. 164 Vergleiche jedoch Kolboom, S. 223. Dieser meint, auch ohne das miliärische Debakel 1940 wäre ein rechtsgerichtetes Regime à la Vichy wahrscheinlich gewesen.

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Schlussbetrachtung Vergleicht man schnappschussartig die Situationen, in denen sich die deutsche beziehungsweise französische Arbeiterbewegung im Sommer 1936 befanden, so könnte der Kontrast nicht deutlicher sein. Während deutsche Kommunisten und Sozialdemokraten in Konzentrationslagern darbten – das berühmte, 1933 verfasste Moorsoldatenlied legt eindrucksvoll Zeugnis davon ab –, feierten französische Arbeiter die Siege der Streikwelle des Sommers. Nicht umsonst sind Photos freudig lächelnder streikender Arbeiter essentieller Teil  der Ikonographie der Volksfront.1 In Frankreich hatten die Arbeiter allen Grund zur Hoffnung, in Deutschland blieb nach der Niederlage nur der trotzige Glaube, ewig könne es »nicht Winter sein«, wie es im Moorsoldatenlied heißt. Vergleicht man die Situation der dreißiger Jahre mit der Lage direkt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, so zeigt sich eine Umkehrung der Lage. Zwar hatten deutsche Kommunisten so manche blutige Niederlage erleiden müssen, zwar waren die Freicorps der radikalen Rechten am Erstarken, aber insgesamt war die deutsche Arbeiterbewegung doch auf dem Höhepunkt ihrer Stärke. Die alte Monarchie hatte sich aufgelöst, die Republik war ausgerufen worden, und Arbeitgeber mussten die Gewerkschaften in der Zentralen Arbeitsgemeinschaft als Partner akzeptieren, nicht zuletzt um die Arbeiterschaft zu befrieden, die sich sonst noch weiter radikalisiert hätte. In Frankreich hingegen endete der kurze Generalstreik 1920 mit einer vollständigen Niederlage der Arbeiterbewegung, die die Regierung sogar dazu nutzen wollte, die CGT zu verbieten, ohne dass dies auf großen Widerstand gestoßen wäre. Hätte die deutsche Regierung versucht, den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) zu verbieten, so hätte dies, wie Petra Weber argumentiert, zweifelsohne in einem massiven Streik gemündet.2 Die Lage in Deutschland sah, kurz gesagt, sicherlich nicht blendend aus, aber gab Arbeitern doch mehr Anlass zur Hoffnung als jene in Frankreich. Wie konnte sich diese Situation binnen 15  Jahren so dramatisch wandeln? Diese Studie versuchte in vergleichender Weise, einen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage zu leisten, wobei sie sich auf die Zuspitzung der Ereignisse zum Ende der Weimarer Republik beziehungsweise der Dritten Republik in Frankreich konzentrierte. Es steht außer Frage, dass eine vollständige Beantwortung dieser Frage eine Vielzahl von Faktoren aufnehmen müsste, sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene, die in dieser Arbeit nicht zur Sprache kamen, nicht zuletzt die Auswirkungen der ökonomischen Krise, die hier eher am Rande behandelt wurde. Eine vergleichende Lokalstudie jedoch kann, 1 Jackson, Popular Front, S. 287. 2 P. Weber, S. 300–302.

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so wurde argumentiert, zu einem besseren Verständnis nationaler Entwicklungen beitragen, da Dynamiken an der Basis, unterhalb oder jenseits der Parteiführungen, eine entscheidende Rolle spielten. Gerade das französische Beispiel zeigt, dass Parteiführungen auf den Druck der Basis reagierten, einen Druck, den es in Deutschland nicht gab. Dies bedeutet selbstredend nicht, dass Entscheidungen der Parteiführungen irrelevant waren. Vielmehr kam in Frankreich beides zusammen – Druck von der Basis und die Einsicht der Parteiführungen, vor allem seitens der PCF und der Komintern in Moskau, dass eine Einheitsfront mit den Sozialisten notwendig war  –, während in Deutschland beides fehlte. Das Ausbleiben eines solchen Drucks in Deutschland ist erklärungsbedürftig, insbesondere wenn man, wie unter anderem Klaus-Michael Mallmann zeigte, von einer relativen Autonomie der kommunistischen Basis ausgeht, die eben nicht Parteisoldaten gleich den Befehlen aus Berlin oder Moskau folgte. Dabei wäre es sicherlich voreilig, aus einer vergleichenden Lokalstudie wie der vorliegenden auf ganz Deutschland oder ganz Frankreich zu schließen. In anderen Städten und vor allem auf dem Land mag die Lage anders ausgesehen haben. Gleichwohl, insbesondere weil beide Städte Zentren der Arbeiterbewegung waren, bietet sie Ansatzpunkte für eine Erklärung des Scheiterns beziehungsweise des Erfolgs der jeweiligen Arbeiterbewegungen. Zwei Faktoren wurden diesbezüglich betont. Zunächst ist die Rolle von Vertrauen und Misstrauen hervorzuheben. In Leipzig trug, wie in Kapitel 3 argumentiert wurde, ein weitverbreitetes Misstrauen innerhalb der Arbeiterbewegung dazu bei, dass es zu keinem Wunsch nach Einheit an der Basis kam. Kommunisten entsandten Spitzel in die SPD, gaben sich als »oppositionelle Sozialdemokraten« aus, versuchten im Namen der SPD, Sammlungen durchzuführen, denunzierten Sozialdemokraten als Arbeiterverräter und Streikbrecher und verübten zumindest manchmal Gewalttaten, in einem Fall gar einen Mord, an Sozialdemokraten. Auf der anderen Seite denunzierten Sozialdemokraten Kommunisten bei der Polizei oder bei Fabrik­ leitungen und bestätigten somit aus kommunistischer Sicht den Vorwurf des »Sozialfaschismus«. Das Ergebnis dieser Praktiken wurde als »soziale epistemische Krise« dargestellt: Politische Akteure wussten zu oft nicht, wer die Wahrheit sagte und wer log, ob ein Gesprächspartner wirklich Kommunist oder Sozialdemokrat war, wie er (und seltener sie) vorgab; skeptisch und misstrauisch zu bleiben, war oft die bessere Alternative. Dieses Misstrauen schuf nicht nur Probleme zwischen den beiden Parteien der Arbeiterbewegung, sondern auch innerhalb der Parteien selbst. Sozialdemokraten misstrauten ihren eigenen Genossen, die in Wahrheit vielleicht kommunistische Spitzel sein konnten, und auch in der Kommunistischen Partei waren die Beziehungen an der Basis sowie zwischen Basis und Führung durch ein tiefgreifendes Misstrauen gekennzeichnet. Angesichts dieser Praktiken ist das tatsächliche Ausmaß an Zusammen­ arbeit zwischen Angehörigen beider Parteien nach 1933 fast überraschend. In Lyon hingegen ist die Rolle von Vertrauen und Misstrauen schwerer zu fassen, nicht zuletzt deshalb, weil sie selten explizit angesprochen wurde. Dies 322 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

allein deutet darauf hin, dass Misstrauen in Lyon keine mit Leipzig vergleichbare Rolle spielte. Die Analyse des Cartel Autonome du Bâtiments, der bei weitem stärksten Organisation innerhalb der Arbeiterbewegung Lyons vor 1934, zeigte, dass es diesem gelang, eine auf Vertrauen basierende »institutionelle Kultur« aufzubauen, die durch Mechanismen der Kontrolle effektiv ergänzt wurde.3 Ebenso unterschieden sich die Verhältnisse innerhalb und die Beziehungen zwischen den beiden Arbeiterparteien SFIO und PCF in Lyon von denjenigen in Leipzig. Zwar misstrauten auch die dortigen Sozialisten der Geheimorganisation kommunistischer Zellen, aber sie fanden in den Wochen nach den Februarereignissen 1934 Wege, dieses Misstrauen zu überwinden, auch wenn die Quellen nicht erlauben, dies en detail zu rekonstruieren. Sowohl für die Verständigung zwischen den Parteiführungen als auch für die Mobilisierung an der Basis in den zahlreichen antifaschistischen Komitees war Vertrauen, wie in Kapitel 5 argumentiert wurde, eine zentrale Voraussetzung. Vertrauen war eine soziale Ressource, mit der die Arbeiterbewegung in Lyon arbeiten konnte. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären? Um das gegenseitige Misstrauen in Leipzig und das Fehlen eines ähnlichen Problems in Lyon zu erklären, muss auf eine zweite Kernthese der Arbeit verwiesen werden, welche die Rolle der Parteien in den jeweiligen Arbeiterbewegungen betrifft. Grundsätzlich spielten Parteien in Leipzig eine zentrale Rolle, weshalb die dortigen Gewerkschaften auch nur am Rande analysiert wurden, während sie in Lyon vor 1934 marginal blieben, ein Phänomen, das wiederum die grundsätzlich größere Durchdringung von Politik und Gesellschaft in der Weimarer Republik spiegelt. Da sich das Misstrauen sowohl in Leipzig als auch in Lyon vornehmlich innerhalb der parteipolitischen Sphäre entwickelte, gab es in Leipzig gleichsam mehr Gelegenheit, dieses Misstrauen zu erlernen. In Leipzig gab es praktisch keinen Raum, wo es Kommunisten und Sozialdemokraten möglich gewesen wäre, fernab von Politik Geselligkeit zu pflegen und dabei Vertrauen zu schaffen, auch wenn sich Anhänger beider Parteien nach genau solchen Räumen sehnten. Zwar fürchteten sich auch die Sozialisten in Lyon vor im Geheimen operierenden kommunistischen Zellen, aber die dortige PCF hatte wohl niemals die Kapazitäten, die SFIO effektiv zu unterwandern. Die Arbeiter, die sich nach den Februarereignissen 1934 in Scharen den antifaschistischen Komitees anschlossen, waren zumeist erst jüngst politisiert worden und hatten somit keine Gelegenheit gehabt, Misstrauen zu lernen. In diesem Sinne stellte sich, paradoxerweise, die organisatorische Schwäche der Arbeiterbewegung in Lyon als Stärke im Moment der Krise heraus. Die vergleichsweise Schwäche der französischen Arbeiterbewegung in den 1920er Jahren mag sich noch in anderer Hinsicht positiv ausgewirkt haben. Die Revolution in Deutschland 1918/19 führte dazu, dass Sozialdemokraten staatstragende Funktionen erhielten, nicht zuletzt in Sachsen und Leipzig, wo sie un3 Ich möchte mich bei Marie Muschalek dafür bedanken, diesen Begriff vorgeschlagen zu haben. Ausführungen hierzu bei Hull.

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ter anderem den Polizeipräsidenten stellten. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und der Staatsmacht, wie etwa am 1. Mai 1929 in Berlin, dem berühmten »Blutmai«, aber auch immer wieder in Leipzig, konnten so von Kommunisten als Auseinandersetzungen mit der Sozialdemokratie interpretiert werden. In Frankreich und Lyon hatten Sozialisten vor 1936 keine solch staatstragende Funktion, auch wenn sie in einigen Kommunen Bürgermeister stellten. Diese Situation trug sicherlich dazu bei, dass sich Beziehungen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten in Deutschland wesentlich feindseliger gestalteten als in Frankreich. Auf lokaler Ebene ist schließlich die gewaltsame Politisierung der Arbeiterviertel zu bedenken, zu der vor allem die Nationalsozialisten beitrugen. Ohne diese ist es kaum vorstellbar, dass auch die Konflikte zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten auf den Straßen so eskalierten. Sozialdemokratische Flugblattverteiler wurden gewissermaßen Nationalsozialisten gleichgesetzt und als Bedrohung kommunistischer »Herrschaft« über bestimmte Straßenzüge wahrgenommen und daher gewalttätig angegriffen. Darüber hinaus sorgte die Politisierung des linken Arbeitermilieus in Leipzig dafür, wie Kapitel 2 zeigte, dass der parteipolitische Konflikt zwischen SPD und KPD zu einer Alltagserfahrung für viele Arbeiter wurde, insbesondere derjenigen, die auf irgendeine Weise mit einer Partei verbunden waren, aber auch für jene, die zu Zeugen der zahlreichen und oftmals gewalttätigen Konflikte wurden. Die Politisierung des Alltags trug somit zur Fragmentierung der deutschen Arbeiterbewegung an der Basis bei. Aber die Fragmentierung der Arbeiterbewegung war nicht das einzige Problem, das sich aus deren Politisierung ergab. Politik stellte sich oftmals als »Belästigung« dar, der kaum zu entkommen war. Dies aber wollten viele aktive Arbeiter, selbst jene, die in der KPD organisiert waren, die als Partei eine möglichst weitgehende Politisierung gesellschaftlicher Teilbereiche anstrebte. Diese Aktivisten sehnten sich nach Räumen, in denen sie von Politik in Ruhe gelassen wurden, Momenten, in denen sie sich einfach nur im Freibad entspannen und die Sonne genießen konnten; sie wollten beim Bier mit Fußballfreunden zusammensitzen, ohne sich um Parteipolitik Gedanken machen zu müssen. Standen Kommunisten beispielsweise in Sportvereinen vor der Wahl zwischen politischen Aktivitäten und dem Vereinsleben, so optierten sie oft für letzteres. Geselliges Vereinsleben war ihnen wichtiger als Politik. In diesem Sinne hatte die politische Durchdringung des Alltags demobilisierende und, paradoxerweise, letztendlich depolitisierende Effekte. Dies wirft die Frage auf, weshalb Politik so belästigend sein konnte. Verschiedene Formen der Politisierung konnten auf verschiedene Art und Weise lästig sein. Gewalt zwischen politisch verfeindeten Nachbarn machte es unmöglich, gute nachbarschaftliche Beziehungen zu pflegen. Sich von Politik grundsätzlich fernzuhalten mochte in dieser Lage als Weg gesehen werden, das Nachbarschaftsleben friedlich zu gestalten. Auf der anderen Seite stellten allgegenwärtige kommunistische Agitationsversuche, im Schwimmbad, wo Kommunisten »Wählt Liste 3!« riefen, im Sportverein, wo sie die Beschlüsse des 6. Weltkon324 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

gresses der Komintern diskutieren wollten, oder im Betrieb, wo sie, statt zu arbeiten, Propagandamaterial verteilten, eine Belästigung dar. Dabei versuchten Kommunisten, kleine Alltagsprobleme in Bezug zur Weltpolitik zu setzen, was implizierte, dass sich die »kleinen« Probleme nur durch Änderungen im Großen, letztendlich durch eine kommunistische Revolution, lösen ließen. Teils mögen es diese recht kruden Versuche gewesen sein, »Weltpolitik« in den Alltag zu tragen, die Politik zu einer solchen Belästigung werden ließen. Die Menschen wollten schlichtweg nicht die ganze Zeit über Politik reden. Wichtiger aber noch ist, dass eine Politisierung von Konflikten wie Streiks oft deren Radikalisierung bedeutete, da diese einzig dem Ziel einer Revolution dienen sollten. Konfliktlösungen, vor allem solche, von denen die Arbeiter profitierten, wurden so erschwert. Die sozialdemokratische Gegenstrategie, Kommunisten wie Nationalsozialisten gegenüber, bestand darin, Politik zu professionalisieren und im Idealfall von der Straße zu verbannen. Dann würde politische Vernunft und nicht der im Kern als apolitisch begriffene jugendliche Irrationalismus der Kommunisten und Nationalsozialisten herrschen. Sozialdemokraten analysierten zwar die nationalsozialistische Bewegung, aber konnten sie als politischen Gegner allein schon deshalb nicht bekämpfen, weil sich der Gegner aus sozialdemokratischer Sicht nicht im politischen Feld befand. So marschierten Sozialdemokraten zigtausendfach zur Verteidigung der Republik auf, aber eben nicht, um die Nationalsozialisten politisch zu bekämpfen, sondern gleichsam als Wachmannschaft für die Republik. Eine solche Herangehensweise stand einer parteiübergreifenden Mobilisierung an der Basis entgegen, zum einen, weil Sozialdemokraten ein grundsätzlich anderes Politikverständnis von Kommunisten trennte, zum anderen, und dies ist noch wichtiger, weil in dieser Mobilisierung auf der Straße kein genuin politischer Akt gesehen wurde. Die Lage in der Agglomération Lyonnaise unterschied sich hiervon grundlegend. Den Traditionen des französischen Syndikalismus treu bleibend hatten sich Bauarbeiter von politischen Parteien ferngehalten und die »direkte« Auseinandersetzung mit dem Klassenfeind, dem lokalen Unternehmertum, gesucht. Das Cartel Autonome du Bâtiment bietet somit ein Beispiel dafür, wie effektiv und erfolgreich eine radikale Arbeiterorganisation im sozialen Feld agieren konnte. Gleichwohl, es überstand die politische und wirtschaftliche Krise der 1930er Jahre nicht. Mit dem Aufschwung der Volksfront zwischen 1934 und 1936 gewann Politik an Bedeutung. Unter der politischen Fahne des Antifaschismus konnten sich Arbeiter verschiedener gewerkschaftlicher Tendenzen vereinen. Gleichzeitig bereitete die politische Mobilisierung nach dem Februar 1934 der »sozialen Explosion« im Sommer 1936 den Boden, wie in Kapitel 5 argumentiert wurde. Dabei wurde der Alltag in Lyon nie in dem Maße politisiert wie es in Leipzig der Fall war, zumindest insoweit die Quellenlage ein Urteil zulässt. Erneut lässt sich der mobilisierende Effekt der Politisierung in Lyon aus der vorherigen Schwäche der politischen Parteien und der geringen Bedeutung von 325 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

Politik im lokalen Kontext erklären. Vor 1934 war es in der Arbeiterbewegung zu Konflikten darüber gekommen, wie dem Unternehmertum, einem sozialen Gegner, gegenübergetreten werden sollte. Angesichts der politischen Krise spielten diese Fragen nach dem Februar 1934 nur noch eine untergeordnete Rolle. Nun war ein politischer Gegner, die radikale Rechte, zu bekämpfen. Zwar wurde diese massiv von Unternehmern unterstützt, nicht zuletzt deren Gewerkschaften; das Feld der Auseinandersetzung aber hatte sich ins Politische verlagert. Diesen Feind gemeinsam zu bekämpfen fiel Arbeitern leicht. Vor 1934 hatte Politik weder zur massiven Spaltung der Arbeiterbewegung an der Basis beigetragen, noch stellte Politik eine solche Belästigung wie in Leipzig dar, auch wenn das Cartel mit Nachdruck und Erfolg gegen den Einfluss von Parteien in Gewerkschaften stritt. Hinzu kam, dass zwischen Sozialisten und Kommunisten in Lyon, anders als in Leipzig, kein fundamentaler Dissens über das Terrain des Politischen bestand. Innerhalb der Arbeiterbewegung in Lyon war nie umstritten, ob die Straße als politischer Ort zu gelten hatte und ob Straßendemonstrationen eine genuin politische Praxis waren. Hier mögen republikanisch-revolutionäre Traditionen, in denen die Straße seit jeher ein Ort der Politik war, zum Tragen gekommen sein.4 Eine politische Verständigung an der Basis und deren Mobilisierung auf der Straße waren unter diesen Bedingungen wesentlich leichter und wahrscheinlicher als in Deutschland. Schließlich ist im Vergleich zwischen Leipzig und Lyon auch kurz das beziehungsgeschichtliche Element anzusprechen, das allerdings nicht überbewertet werden sollte, insbesondere was die deutsche »Vorbildrolle« anbelangt. Zwar hatten die Arbeiter Lyons das warnende Beispiel Deutschlands vor Augen, wie etwa Äußerungen auf der Versammlung im September 1933 zeigen, aber allein dieses Bewusstsein führte nicht zu Überwindung der Differenzen. Hierfür waren die lokalen Faktoren der Mobilisierungsdynamik im Zuge der Politisierung wichtiger. Die internationale Situation spielte in den Jahren nach 1936 eine wichtigere Rolle im lokalen Rahmen, einerseits weil die Arbeiter Lyons eine Solidaritätskampagne für die republikanischen Kräfte im spanischen Bürgerkrieg organisierten, die sich dann aber selbst entlang politischer Gräben spaltete, andererseits, weil die wachsende Kriegsgefahr, die vom nationalsozialistischen Deutschland ausging, die Position der Arbeiterbewegung auch bei lokalen Streiks, vor allem dem Bauarbeiterstreik im Herbst 1938, schwächte. Auch hier zeigt sich, dass die Arbeiterbewegung immer weniger im lokalen Rahmen funktionierte, in dem sie vor 1934 so erfolgreich hatte agieren können. Für die Aktivitäten der Arbeiterbewegung in Leipzig hingegen spielte die internationale Situation nur eine marginale Rolle, nicht zuletzt, weil es in Leipzig, anders als in Lyon, kaum Einwanderer gab. Die Leipziger Arbeiterbewegung konnte somit auch nicht, wie jene in Lyon, von den Erfahrungen italienischer Arbeiter mit dem Faschismus in ihrem Heimatland profitieren, wobei dahingestellt bleiben mag, welche Auswirkungen dies in Leipzig gehabt hätte. 4 Zu Straßendemonstrationen in Frankreich grundsätzlich Tartatowsky, Manifestations.

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Nach den Erfolgen der Volksfront im Sommer 1936 begann Politik auch in Lyon, die Arbeiterbewegung zu schwächen, wie in Kapitel 6 argumentiert wurde. Soziale Kämpfe erhielten eine politische Dimension. Es ging in ihnen nicht länger nur um höhere Löhne, bessere Arbeitszeiten oder um die Macht der Delegierten am Arbeitsplatz, sondern eben um Politik, sowohl auf Seiten der Arbeiter als auch auf Seiten der Arbeitgeber, die nichts unversucht ließen, die politisierten Arbeiterorganisationen zu bekämpfen. Kompromisse in diesen politisch aufgeladenen Streiksituationen zu finden, in denen gleichsam das Schicksal der Nation auf dem Spiel stand, erwies sich ebenso als unmöglich wie die Anwendung altbewährter und pragmatischer Taktiken. Hinzu kam, dass die Institutionalisierung von Fabrikdelegierten und die Regulierung von Arbeitskonflikten dazu führten, dass alte Praktiken, mit Hilfe derer sich vor allem eine Gemeinschaft der Bauarbeiter herausgebildet hatte, an Bedeutung verloren. Die Sozialgesetzgebung der Volksfront trug so zur Desintegration des lokalen Arbeitermilieus bei. Allerdings wäre jegliche Nostalgie für die anti-politischen Organisations­ formen des Cartels verfehlt. Selbst innerhalb Lyons erwies sich der revolutionäre Syndikalismus des Cartels nur für Bauarbeiter attraktiv, die in relativer Auto­ nomie arbeiten konnten. Für die Arbeiter der »neuen« Industrien, vor allem Chemie- und der Metallbranche, war der revolutionäre Syndikalismus keine Option. Eine politische Krise, wie sie Frankreich anfangs der 1930er Jahre erlebte, machte aber eine politische Mobilisierung über die engen Grenzen eines Gewerbes hinweg nötig. In Anbetracht der Stärke des Cartels in Lyon ließe sich fragen, ob eine antipolitische und parteiferne Organisierung der Arbeiterschaft am Arbeitsplatz eine Alternative für die Arbeiterbewegung in Leipzig dargestellt hätte, wie es etwa die Schriften von James Wickham nahelegen.5 Eine Antwort hierauf muss, auch in vergleichender Perspektive, entschieden negativ ausfallen. In Deutschland hatte der politische Arm der Arbeiterbewegung, die sozial­demokratische Partei, bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine größere Rolle gespielt als in Frankreich, wo die CGT in der Charte d’Amiens auf ihre Unabhängigkeit gegenüber Parteien pochte. Die deutsche Niederlage im Weltkrieg und die nachfolgende Revolution politisierten die Arbeiterbewegung weiter, auch wenn es zunächst im Moment staatlicher Schwäche zu einem kurzzeitigen Aufflackern des Syndikalismus etwa im Ruhrgebiet kam.6 Anders als in Frankreich, wo die Dritte Republik nie ernsthaft gefährdet war, musste eine neue politische Verfassung der Nation gefunden werden. An den Auseinandersetzungen hierüber hatte die tief gespaltene Arbeiterbewegung großen Anteil, sowohl die Sozialdemokratie, eine der wichtigsten Unterstützerinnen der Republik, als auch die Kommunisten, die die Republik bis aufs Blut bekämpften. Die Unterscheidung zwischen einer 5 Wickham, Social Fascism; ders., Movement. 6 Zum Syndikalismus in Deutschland Bock, Geschichte; ders., Anarcho-Syndikalismus; P. Weber, 200–238.

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politischen und einer sozialen Sphäre, die in Frankreich vor der Volksfront funktionierte, machte in Deutschland keinen Sinn, hing doch, wie Petra Weber betont, das Überleben der Weimarer Republik davon ab, ob die wohlfahrtsstaatlichen Versprechungen gehalten werden konnten. In Frankreich existierte eine solche Verbindung nicht.7 Der Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung und die zunehmende Gewalt auf den Straßen der Republik ließen Politik noch wichtiger werden. Politik zu vermeiden und sich einzig auf Auseinandersetzungen mit den Arbeitgebern zu konzentrieren, machte in dieser strukturell politisierten Lage schlicht keinen Sinn. Politik ließ sich, in Leipzig wie in Lyon ab 1934, insbesondere im Kampf gegen Nationalsozialisten und rechtsradikale Ligen, nicht vermeiden  – auch wenn sich selbst viele Anhänger der Arbeiter­ bewegung genau danach sehnten: Politik und politischen Auseinandersetzungen wenigstens kurz in ihrem Alltagsleben zu entkommen.

7 P. Weber, S. 1093 ff.; M. Geyer.

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Danksagung Über die letzten Jahre hinweg unterstützten eine Vielzahl Freundinnen und Freunde, Kollegen und Kolleginnen die Fertigstellung der Dissertation, aus der dieses Buch hervorgegangen ist. Zunächst bin ich den Mitgliedern meines Dissertation Committees an der University of Chicago, Leora Auslander, Michael Geyer, Bill Sewell und Moishe Postone, zutiefst dankbar. In zahlreichen Gesprächen halfen sie mir nicht nur, Gedanken und Ideen zu präzisieren, sondern gaben mir auch stets das Gefühl, an einem wichtigen Projekt zu arbeiten. Insgesamt waren die Jahre in Chicago eine intelektuell überaus stimulierende Zeit, nicht zuletzt wegen der spannenden Diskussionen in den Workshops, in denen ich auch meine Arbeit vorstellen durfte, namentlich dem Modern European and Russian History Workshop, dem Social Theory Workshop, dem Political History Workshop und dem Interdisciplinary Workshop in Paris. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Workshops kritisierten meine Arbeit in produktiver Weise und gaben mir wertvolle Hinweise, wofür ich ihnen danke. Ein ebenso wichtiger Ort für das Dissertationsprojekt war das Berliner ­Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas (BKVGE). Es ermöglichte mir nicht nur ausgedehnte Archivstudien in Europa, sondern gab mir auch die Gelegenheit, diese Arbeit mit Kollegen in den Teerunden zu diskutieren. Namentlich sei Elise Julien, Christiane Reinecke, Benno Gammerl, Agnes Arndt und Tetyana Pavlush gedankt, ebenso wie Arnd Bauerkämper, Bernhard Struck, Tatjana Tönsmeyer und Nenad Stefanov, nicht zuletzt für die Organisation eines überaus anregenden Kolloquiums, das immer wieder Gelegenheit zum Blick über den Tellerrand der Dissertation hinaus gab. Schließlich schätze ich mich glücklich, am BKVGE in Harmut Kaelble, Etienne François und Jürgen Kocka kritische und zugleich ermutigende Betreuer gefunden zu haben. Insbesondere Jürgen Kocka gilt mein Dank, auf dessen Initiative die Veröffentlichung der Arbeit in den Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft zurückgeht. Durant mes recherches à Lyon, j’ai eu le grand bonheur de rencontrer et discuter avec Jean-Luc de Ochandiano. Lire son travail sur les gars du bâtiment de Lyon a profondément influé mon propre travail. A mon avis, son mémoire de maîtrise Formes Syndicales et Luttes Sociales dans l’Industrie du Bâtiment, Lyon 1926–1939: Une Identité Ouvrière Assiégée? et son livre Lyon. Un C ­ hantier ­Limousin sont parmi les meilleurs travaux historiques que je connaisse. Je ne peux que recommander ses travaux à tous ceux qui s’intéressent à l’histoire du mouvement ouvrier et ses pratiques. Merci beaucoup! Sans votre travail, ma thèse n’existerait pas. Merci beaucoup aussi à Henriette Moissonnier et à Alain Bujard, avec lesquels j’ai discuté de l’histoire du mouvement ouvrier Lyonnais. 329 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

Et finallement, merci à Léopoldine Chazeaud pour m’aider des temps en temps avec les traductions. Zurück in Deutschland konnte ich an den Kolloquien zur Alltagsgeschichte von Alf Lüdtke in Göttingen und Erfurt teilnehmen. Auch wenn oder vielleicht sogar weil ich in einigen Punkten mit Alltagshistorikerinnen nicht übereinstimme, gehörten die Diskussionen mit ihnen doch stets zu den anregendsten. Ich mag gegenüber mancher Kritik stur gewesen sein; gleichwohl, die Ausein­ andersetzungen zwangen mich dazu, meine Argumente zu präzisieren. Nicht zuletzt lernte ich in Göttingen Tilmann Siebeneichner kennen, mit dem ich seitdem zahlreiche kontroverse Diskussionen geführt habe. Ebenso gebührt mein Dank Klaus-Michael Mallmann, von dem ich Vieles über Kommunisten in der Weimarer Republik lernte. Ein besonderer Dank an Moritz Föllmer, der immer wieder mit kritischem Auge meine Texte las und mir in schwierigen Momenten des Historikerdaseins Mut machte; an Sean Dunwoody, der mir immer wieder mit Fragen zum Englischen aushalf und meine Kapitel mit Argusaugen las; an Barry Haneberg, der mich beizeiten daran erinnerte, dass es ein Leben außerhalb der Historie gibt, sowie an meine Kommilitoninnen und Kommilitonen in Chicago, namentlich Erika Vause, Jake Smith, Ke-chin Hsia, Ronen Steinberg und Susan Gaunt Stearns. Chicago Grad Students, you were always a terrifically supportive ­community! Schließlich gebührt mein Dank den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der verschiedenen Archive, die meine Arbeit stets hilfreich unterstützten. Ebenso bin ich der University of Chicago, der Gerda Henkel Stiftung, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst sowie dem Deutschen Historischen Institut ­Paris für die großzügige finanzielle Förderung der Arbeit zu Dank verpflichtet. Die Gerda Henkel Stiftung und die Boehringer Ingelheim Stiftung finanzierten den Druck des Buches, wofür ich ebenso danke. Jenseits der akademischen Welt möchte ich mich beim »Haus« in Leipzig für ein großartiges Jahr bedanken, namentlich bei Negar Habibi, Carsten Wonneberger, Lisa und Till Gathmann sowie Martin Czygan, bei meinen Freunden in Berlin, namentlich David Graumann, bei Melanie Treuhaft für ein wunder­ volles gemeinsames Jahr in Chicago, sowie bei meinen Eltern für gründliches Korrekturlesen.

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Abkürzungen AF Action Française AfA-Bund Allgemeiner freier Angestelltenbund ARAC Association Républicaine des Anciens Combattants ATSB Arbeiter Turn- und Sportbund BVG Berliner Verkehrs-AG CGT Confédération Générale du Travail CGT-SR Confédération Générale du Travail – Syndicaliste Révolutionaire CGT-U Confédération Générale du Travail - Unitaire DDP Deutsche Demokratische Partei DMV Deutscher Metallarbeiter Verband FNTB Fédération Nationale des Travailleurs du Bâtiment HJ Hitler Jugend KJVD Kommunistischer Jugendverband Deutschlands Komintern Kommunistische Internationale KPD Kommunistische Partei Deutschlands KPO Kommunistische Partei Deutschlands – Opposition KS Kampfstaffeln KV Konsumverein LNN Leipziger Neueste Nachrichten LVZ Leipziger Volkszeitung NLZ Neue Leipziger Zeitung NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei OTL Omnibus et Tramways de Lyon PCF Parti Communiste Français PSF Parti Social Français PUP Parti d’unité prolétarienne RFB Roter Frontkämpferbund RGO Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition SA Sturmabteilung SAJ Sozialistische Arbeiter Jugend SAP Sozialistische Arbeiterpartei SAW Sächsische Arbeiterwehr SAZ Sächsische Arbeiterzeitung SFIO Section Française de l’Internationale Ouvrière SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPF Syndicats Professionnels Français SRI Secours Rouge International SS Schutzstaffel SUB Syndicat Unitaire du Bâtiment TeNo Technische Nothilfe UBL Unterbezirksleitung USPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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DY 55 – VVN/BdA RY 1 – KPD RY 22 – Archiv des Instituts für Sozialforschung Frankfurt

Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Ministerium des Inneren – 17036

Sächsisches Staatsarchiv Leipzig (SStAL) Amtsgericht Leipzig Amtshauptmannschaft Leipzig Arbeitsgericht Leipzig Erinnerungsberichte KZ Coldiz Landgericht Leipzig Polizeipräsidium Leipzig

Sportmuseum Leipzig Stadtarchiv Leipzig (StAL)

Arbeits-, Fürsorge- und Wohlfahrtsamt Kapitelakten Photos Schulamt

Straßenbahnarchiv Leipzig Lyon Archives Départementales du Rhône (ADR) Série 4M – Police Série 10 – Travail et Main d’œuvre dans le Rhône Série U – Justice

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Archives Départementales Seine-Saint-Denis (AD SSD) Archives du PCF

Archives de la CGT Lyon

Sonstige Quellen und Literatur Film Maetzig, K., Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse, 140 min, DDR 1955.

Zeitungen Leipzig (siehe Stadtarchiv Leipzig)

Leipziger Volkszeitung (LVZ) Leipziger Neueste Nachrichten (LNN) Neue Leipziger Zeitung (NLZ) Sächsische Arbeiterzeitung (SAZ)

Lyon

L’Avenir Socialiste (Bibliothèque Municipale de Lyon) La Voix du Peuple (Bibliothèque Municipale de Lyon/Archives Municipale de Villeur­ banne) L’Effort (ADR, PER 307/308) Le Travail (ADR, PER 859) Lyon Républicain (Bibliothèque Municipale de Lyon)

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Register Kursiv gesetzte Seitenzahlen verweisen auf Fundstellen in den Fußnoten.

Personenregister Amouroux 252 Assmann, Waldemar  102 Aubert, Edouard  274 f., 282 f. Auzias, Claire  201 Azario, J. 261 f., 264 f. Bachmann, Heinrich  51, 58 f. Baier, Gregor  54 Beiersdorf 161 Benbalah 265 Benz, Elisabeth  103–105 Benz, Herbert  103–105 Benz, Inge  103–105 Bergmann  103, 133, 168, 170, 181 Berthold 163 Blum, Léon  246, 272, 280, 283, 286, 292 f., 301, 306–308 Blümel, 52, 83, 102 Bochow, Herbert  191 Bohm-Schucht, Klara  143 Böhme, Rudolf  59 f. Bollaert  308, 311 f. Borsch, Hannah  124 f. Bossard, Gérôme  263 Bourdé, Guy  283–285, 298 Brandmann, Paul  36, 127 f. Braun 155 Buchheim, Alfred  98, 153 Cellier 220 Chaintreuil, Hildebert  248, 266 f., 310, 314 Chambon 296 Chapat, Jean Pierre  195 f.

Charre 311 Chopine, Paul  287 Clamamus, Jean-Marie  95 Clet 224 Daladier, Edouard  246, 292, 309 Dasecke 187 Dellhagen  7–9, 20 f. Dilhac  308 f. Dobson, Sean  44 Dornberger, Bernhard  53 Ducourthial, Raymond  211, 215, 311 Duhnke 129 Dupain 233, 239, 242 Ebert, Friedrich  45 Endomeit 54 Engels, Friedrich  93 Engler 111 Erdmann, Georg  56, 101 Erkmann, Alfred  52 f. Eysseris, Gustave  226, 266 Fallada, Hans  97 f. Fau, Albert  206, 267, 287, 315 Fauvet-Messat, Arnaud  251 Ferro, Emile  217 Feynet 287 Fischer, Frau  101 Fleißner, Heinrich  65–68, 134, 153 Flûme, Joseph  195 f., 212, 216 f. Franco, Francisco  303 f., 315 Franke, Johannes  52, 83, 85, 90, 99 f., 137

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Frevert, Ute  164 Friedmann 110 Fuentès, Joseph Antoine  289 Galle, Hauptmann  66 Gellert, Cornelius  107, 139 Georgi, Charlotte  97 Germain, Barthélemy  289 Geyer, Curt  45 Giesecke 68 Gießer, Rudolf  81 Girditz, Kurt  157 Glasmacher, Else  191 Glatzer, Leni  186 Gorget, Pierre  195 f. Gottschalk, Erika  190 Goujon, Lazare  236, 268 Graupner 163 Großmann 60 Grosz 168 Grudener, Otto  153 Guffo 303 Guilleminot  222 f. Gusbert 103 Halfer, Friedhelm  55 Halmert, Friederike Luise  102 Harr, Karl  246 Harthmann, Peter Gregor  167, 169 Hartmann, Erhardt Hubert  52 f. Hartmann, Rudolf  157 Hascher, Karl  79 Haussmann, Georges-Eugène Baron  198 Heidenreich  129 f. Heinrich, Frieda  53 Heinze 55 Heinze, Walter  184 Heise, Walter Otto  122 Henriot 252 Hermsdorf  102 Herriot, Éduoard  232, 311 Hilbert, Karl  102 Hitler, Adolf  8, 19, 63, 86, 90, 169, 183, 188, 235, 317 Hof 172–174 Hofberg 67 Holter, Werner  54 f.

Illmann 172 Jackson, Julian  247, 250, 273, 319 Jessler  104 f. Joly 276 Jost 125 Jouhaux, Léon  286, 317 Jouve, H. 260 Jünger 125 Juston, Louis  254 Kahn, Michael  103 Kaiser, Burkhart  68 Karzig, Albert  167, 169 Kästner 118 Kesserich, Marinus  103 Knofe  66, 86 Koch 112n67 Kodding 104 Kolboom, Ingo  286 Kramer, Max  43 f., 65 Kranz 173 Kron, Karl  75 Kühn 118 Kurz  165 f., 173 La Rocques, François de  284, 287 Labrousse 309 Langscheidt, Karl  98 Lenz  162 Lerch, Felix  43 Leuchtmann 79 Lichtenberg, Emilia  103, 168–170, 181 Lieberasch 116 Liebmann, Hermann  174 f. Llancer, Daniel  288 Longy 311 Luhmann, Niklas  20–22, 24 Machtel, M. 264 Maier 172 Mallmann, Klaus-Michael  13, 16–18, 34, 91, 95 f., 97, 100, 103, 105 f., 110, 113, 114 f., 144, 149, 159, 170 f., 180, 227, 322, 330 Mandler 162 Manietta, Alfred  52

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Maret 298 Marsallon 222 Martès, Fernando  230 Marx, Karl  93 Meißner, Willy  108–112 Meyer (NSDAP) 59 Meyer (SPD) 99f, 137 Moissonnier, Maurice  211, 248, 250, 253, 257, 274 f., 303 Möller, Eberhard Willy  59 Mossiq, Saïd  263 Moulin 241–243 Mouriaux, René  318 Müller 72 Murgel, Albert  55 Mussolini, Benito  85, 237 Negrín, Juan  304 Noiriel, Gérard  14, 270 Nouaudie, René Joseph  220 Ochandiano, Jean-Luc  37, 39, 199, 202, 205–208, 210, 215–218, 258–261, 266, 281, 298 f., 306, 309, 311–315, 329 Pallier, Edouard Louis  289 Pankok 129 Papen, Franz von  7 f. Pélard, Luis  214 f., 223 f., 226 Perrain, Lionel  263 Perriolat, Gaston  288 Pezzoni 224 Pinnenberg, Johannes  98 Plato, Alexander von  47, 94, 112, 113 Plottke 117 Poesche, Hans  154 Promm, Albert  58 f., 103 Promm, Gerhard Anselm  58 f., 103 f. Promm, Hubert  58, 103 f. Protze, Dr. 52 Putter, Maria  104 Quétaud, Marceau  306 Quétaud, Marius  210 Rädel, Siegfried  169 Ratel, Boris  202

Reemtsma, Jan Philipp  21, 164, 167, 210 Reichardt, Sven  13, 25, 180 Reichert 129–131 Reidel, Alfred  68 Reim, Ernst Kurt  61 Reimann, Friedrich  55 Reuthenauer, P. 307–309, 311, 315 Revol 220 Reynard 287 Richter 79 Riester 130 Rocher 244 Rochet, Waldeck  252 Röntig  172 f. Ross, Kurt Armin  167–169, 180 Roth, Winfried  144 Rousseau  280 f., 310–313 Ruby, Marcel  318 Ruhmann, Karl Friedrich  50 f. Ruilot, Christoph  217 Saaler, Lotte  159 f. Sandmann  151 f. Schäfer, Hermann  126 Schick, Manfred  157 Schiffels, Marianne Inge  59 Schmidt, Hans  118 Schmidt, Herbert  180 Schmitt, Carl  27 Schöne  59 f. Schönstedt, Walter  98 Schreiber, Carsten  158, 170 Schröder 55 Schütt, Rosa  190 Selbmann, Fritz  153 Sendelhofer, Karl  74, 180 Severing, Carl  8 Seydwitz, Max  152 Sirot, Stéphan  278 Sommer, Ghama  186 f. Späther, Alfred  62, 116, 126 Stavisky, Alexandre  246 Straube, Otto  129 Sundmann 103 Swett, Pamela  11 f., 51, 57, 61, 105, 129

357 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

Thälmann, Ernst  7–9, 20 f., 63 f., 86, 90, 169, 180, 253 Tham 103 Thau 172 Tillmann, Fritz  110 Tissot  306 Tremel 172 Vacheron  244, 266 Videlier, Philipp  305 Vivier-Merle, Marius  247, 267, 293, 296 f., 308, 311, 318 Vogel, Jesko  45–47, 91, 175 Vuillemot 280 Walter, Nicolas  273, 275, 277–279, 287, 300 Wantig, Walter  103 Warkus, Max  43, 62, 65, 73, 81, 90, 144, 164 f. Weber, Petra  32, 321, 328 Weise, Hans  138

Weiss  172 f. Weitz, Eric  11, 13, 16, 33, 115, 128, 135 Wichmann, Albert  102 Wickham, James  327 Wieczorkowski, Ladislas  313 Wiehl, Bertram  181 Wildt, Michael  57 Wilke, Albert  162 Windmuth 162n46 Winkelmüller 59 Winter, Gustav Herbert  61, 116 Wölbing, Richard  171 Wolf, Herbert  152 Wolikow, Serge  284, 286 Zeichner, Margret  159 f. Zeigner, Erich  45 Zöger, Heinz  144 Zollitsch, W. 114 f. Zschocher, Gert  96, 100, 157, 178 f. Zwahr, Hartmut  44

Orts- und Sachregister 40-Stunden-Woche  278, 283, 286, 290, 309, 317 6 Février  253 Abzeichen, politische  25, 58 f., 73 Action directe  202 f., 280, 310, 312 Action Française  228 f. Action Ouvrière  318 ADGB  7, 17, 91, 321 Agglomération Lyonnaise  36, 325 Agitation  31, 33, 52, 80, 93, 114, 128 f., 134 f., 137, 144, 154, 160, 175, 188, 220, 226, 234, 238, 240, 295, 324 Ainay  287 f. Allgemeiner freier Angestellten Bund  7 Alltagserfahrung  29 f., 95, 97, 324 Alltagsgeschichte  26, 33, 330 Amnestie  59, 214, 218, 230, 232, 256 Anarchismus 201 Antialkoholismus  206, 208

Antifa  76 f., 81, 85–87 Antifaschismus  10, 245, 252, 271, 285, 301, 318, 325 Antikriegsbewegung  140, 155, 231, 234, 256 Antimilitarismus  208, 228 f. Antirepublikanismus 14 ARAC  232, 251 Arbeiter Illustrierte Zeitung  129 Arbeiter Radfahrer Bund Solidarität  185 Arbeiter Turn- und Sport Bund  7, 107 Arbeiter- und Soldatenräte  45 Arbeiterbewegung, –– Dynamiken in der  36, 293 –– lokale  26, 36, 170, 285, 316 –– Mobilisierungsfähigkeit der  135 f., 147, 285, 289 –– Organisation(en) der  16, 26, 40, 191, 196, 255, 290

358 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

–– Politisierung der  31 f., 39 f., 254, 258, 284, 286, 318 –– Scheitern der  10, 19, 31, 35 –– Spaltung der  11, 37, 39, 65, 94, 106 f., 119, 123, 170, 182, 326 f. –– Zerschlagung der  40, 182 Arbeiterklasse  11, 30, 33, 91, 130, 163, 202, 219–222, 247, 281, 290, 316, 318 –– Einheit der  9, 94, 220, 227 –– Herausbildung der  44 –– Kampf der  243, 248 –– lokale 158–160 –– Organisationen der  33, 94, 294 –– revolutionäre 166 –– Spaltung der  237 –– Verrat an der  7, 158, 161, 182, 222 Arbeitersamariter  53, 111 f., 176 Arbeitersängerbund siehe Deutscher Arbeiter Sänger Bund Arbeiterschaft, –– Organisation(en) der  25, 134 –– politische Mobilisation der  96, 126, 273, 295, 301, 327 Arbeitersportvereine  26, 32, 106, 111 f. Arbeitervereine  44, 91, 94 f., 106, 112, 134, 139, 184 Arbeitgeber  27, 30, 135, 142, 177, 189, 195, 197 f., 203–211, 214–216, 218 f., 222–224, 231, 236, 257–259, 262, 265 f., 272, 275, 278 f., 283 f., 286, 290–294, 298 f., 306–315, 325–328 –– -kammer, -verband, – vereinigung  280, 290 f., 307, 311 –– -schaft  209, 270, 281, 295, 297, 306, 311, 319 –– -seite  30, 213, 220, 258, 264, 279 f., 283, 298, 307, 310 Arbeitsgericht  125 f. Arbeitslose  11, 30, 64, 69, 71, 78, 98, 115n78, 122 f., 128, 130 f., 133 f., 157n35, 207, 216, 230, 233–235, 258 f., 261, 265n72, 270 f., 302 Arbeitslosenunterstützung  132 f., 197 Arbeitslosenversicherung 133 Arbeitslosigkeit  10, 13–15, 69, 71, 115, 123, 132, 227, 234 f., 258 f., 306, 308, 314

Arbeitsnachweise  63, 66, 69, 75, 98, 128 Arbeitsplatz 18, 26, 39, 55, 58, 94–96, 114–119, 125, 134, 162, 177, 197, 200, 205, 208 f., 220, 225, 238, 241, 250, 258 f., 275, 282, 284 f., 290, 298 f., 313, 317, 327 Armenien 260 Associations des Chômeurs  251 ATSB  7, 107–109, 139, 176, 187, 190 Aufmärsche  49, 53, 74, 76, 78, 81, 89 f., 139, 161, 174, 183, 252, 261 Augustusplatz  59, 78, 83 f. Ausschreitungen  12, 15, 38, 47, 52 f., 77, 83, 86 f., 164 f., 183, 246 f., 252 f., 276, 288 f. Aussperrungen  213, 216 f., 223 f. Autonomie  12, 36, 61, 105, 107, 129, 159n38, 170 f., 195, 204, 217, 219, 224, 233n129, 322, 327 Avenir Socialiste  38, 214, 223, 228–232, 251 f., 308 f., 316 Baugewerbe  36, 40, 197, 199–203, 208, 212–215, 220, 239, 258–261, 266, 268, 274, 276, 279 f., 290 f., 293, 299, 306, 309–310, 315 Baustellen –– Clet 223 –– Grange Blanche  221, 259 –– Gratte-Ciel  211, 259 –– Montée de Choulans  267 –– Vezzini 224 Baustellendelegierte  203, 208–210, 222 Berliet 231, 239, 265, 272, 275 Berlin  11, 13, 19, 36, 66, 68, 78, 85, 98, 105, 110, 116, 120 f., 133, 140 f., 145, 147 f., 155 f., 169, 171, 180, 183, 322, 324 Betriebsrat  28, 55, 116–118, 124–126, 176 f. Blutmai  11, 324 Bobigny  95, 268 Böhlitz-Ehrenberg  63, 76 Boissy  211 f., 223 Borrie  264, 307 Borsig Werke  8 Boule Populaire  275

359 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

Bourgeoisie  235, 260 Bourse du Travail  195 f., 202, 243, 280, 296, 309, 312 Buchenwald 7 Bürgerkrieg, Spanischer  37, 285, 293, 301–303, 326 Bürgertum  44, 46, 110, 117, 127 f., 206 BVG  7 f., 85, 120 Caluire 252 Camelots du Roi  228, 247 Canuts 248 Cartel Autonome du Bâtiment  25 f., 36–40, 195, 197 f., 204–213, 215–228, 237–239, 244, 248–251, 253, 259–267, 269–271, 279 f., 306, 310–312, 315, 319, 323, 325–327 CGT  202–204, 226, 237, 243, 247, 254, 261, 263, 266 f., 269, 272, 282, 284– 286, 288, 290 f., 293–297, 299 f., 307 f., 311, 313, 316–318, 321, 327 CGT-SR  204, 243, 251, 269, 296, 299 CGTU  197 f., 203 f., 211, 214, 219–226, 233 f., 238, 243, 254, 261, 263, 266 f., 274 Chalon 303 Chambre Patronale du Bâtiment  280 f. Charpennes  211, 222 Charte d’Amiens  31, 204, 327 Chemieindustrie  36, 235, 238, 293, 318, 327 Chemnitz  107, 141, 155 CIBA  210 Citroën  210, 288 Club de Foot-Ball  275 Codes  22, 206 Colditz  185 Comité anarchiste  304 Comité antifasciste  251 f., 304 f. Comité central des chômeurs  251 Comité contre la guerre et le fascisme 251 Comité d’action antifasciste  304 Comité d’action pour le soutien au ­peuple espagnol  304 Comité d’Amsterdam-Pleyel  231, 257 Comité de Acciòn  305

Comité de Protéction des Nord-Africains  261 Comité de soutien des républicains espagnols 304 Comité Français  235 Comité régional d’aide aux familles des combattants de la liberté  304 Comité Regional de Acciòn Antifascista de Lengua Española  302 Comités d’unité d’action  251 Compagnonnage 201, 215 Connewitz  60, 183 Confédération Générale de la Production Française 290 Confédération Générale du Patronat Français 290 Cordelier 253 Croix de Feu  252, 282, 284, 286–288 Cuire 195 DDP  7, 175 DDR  7, 39, 62, 96, 179, 181 Décines 282 Demokratie  14, 57, 70, 89 f., 95, 175, 205 Demonstrationen  37 f., 51 f., 57, 65 f., 69–71, 83–85, 88, 98, 135, 138, 141 f., 154 f., 158, 182 f., 206, 234, 236–238, 248, 250–253, 275, 277, 286, 288 f., 293 f., 326 –– der CGTU  226 –– gewalttätige  12, 15, 50 –– kommunistische  41, 54, 65, 70 f., 78, 83, 111, 134, 142, 149–151, 251–254, 256 f., 292 –– der Rechten  53, 59, 76 f., 82, 89, 182, 246 f., 252 –– sozialdemokratische  89–91, 94, 140 f., 143–145, 148, 166, 173, 181, 184, 254 Denunziation  25, 55, 101–104, 119, 148 f., 158–163, 165 f., 170, 186, 195, 230 f., Der rote Straßenbahner  116, 162 Deutsche Turnerschaft  176 Deutscher Arbeiter Sänger Bund  184 DMV  126 Drei-Pfeile-Abzeichen  7, 59, 79, 205

360 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

Dresden  107 f., 170, 183 Dreyfus-Affäre  13, 202 Effort  195, 205, 207 f., 214, 221, 223, 225–227, 243 f., 266, 308 Ehrlichkeit  9, 20, 22, 24, 145, 147 Einheitsfront  9, 12, 17 f., 64 f., 92, 120, 141, 149, 150 f., 155 f., 158, 178, 182– 184, 189, 225, 235, 243, 252, 255 f., 315, 322 Eiserne Front  7, 58, 77, 88, 155, 183, 205 Emanzipation  204 f., 235 Entlassungen  115, 136, 213 f., 218, 223 f., 232, 236, 264, 282, 291, 299, 307, 315 Erster Weltkrieg  13, 16, 33, 36, 44, 50, 53, 72, 127, 135, 199, 202 f., 259, 318, 321, 327 Erwerbslose siehe Arbeitslose Erwerbslosenunterstützung siehe Arbeits­losenunterstützung Erwerbslosigkeit siehe Arbeitslosigkeit Europa  9, 12, 199, 203, 283, 329 Eythra 52, 83, 85 Fabrik  55, 59, 73, 114 f., 135, 140, 188, 200 f., 221, 232, 238 f., 241, 255, 268– 270, 272, 275–279, 282 f., 288, 290 f., 294, 297 f., 322, 327 Fahnen, 31, 74 f., 83, 97, 102, 143, 149 f., 152, 157, 183, 188, 245, 271, 280 f., 325 Faschismus  8, 12, 20, 25, 37, 65, 84, 87, 107, 143, 168, 236 f., 243 f., 248 f., 251 f., 255–258, 266, 270 f., 284, 303, 326 –– debatte  15 –– gefahr  56, 178, 227, 235 Fatalismus 191 Fédération du Rhône  256 Feldjäger 186 »Felsenkeller« 55 Feminismus  28, 80 Film  7, 9 Flugblätter  43, 49–51, 57, 63 f., 73 f., 76– 78, 81, 88, 92, 134, 140 f., 143, 153, 165–167, 176, 188, 191, 223, 236, 260, 265, 287 f., 324 FNTB 202–204

Fregestift  131, 162 Freicorps 321 Frente Popular  301 Front Commun  254 Front National  253 »Führer seiner Klasse«  7 Fürsorge  30, 70, 127 f., 130, 132–135, 137, 141, 164, 165 siehe auch Sozialfürsorge Fürstenenteignung  45, 92 Fußballbund 108 Gerland  237, 277 Geschlechterbeziehungen 29, 99, 100 Geschlechterordnung 278 Geselligkeit  95, 106–109, 111, 113, 136, 139, 187, 202 f., 206 f., 323 Gestapo 186 Gewalt –– »kleine«  47, 49, 58, 61 –– Dynamiken der  47 –– Feindschaft und  47, 59, 61, 91, 197, 254 –– kommunistische  56 f., 79, 82, 86 f., 88 –– nationalsozialistische  10, 80 –– politische  11, 15, 39, 47–50, 55, 58, 60 f., 66, 70, 78, 81, 134, 197, 228 f., 243 –– -praktiken  74, 86, 212 –– kulturelle 25, 159, 205–208 –– politische  31, 39, 57, 73, 109, 227, 249 –– symbolische  25, 74, 205 –– auf der Straße  86, 184, 228, 257 –– bei Streiks  195, 203, 215 f., 228, 241, 293, 310, 312, 322 –– territoriale  57, 73 –– zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten  62–64, 69, 91, 96, 164 f., 175, 229 Gewerkschaft –– der Bauarbeiter  15, 197 f., 200, 205, 244, 254, 258, 264, 266 f., 287, 291, 306–308, 311–313, 315 f. –– der Chemiearbeiter  289 –– der Erdarbeiter  311, 314 –– der Heizungsarbeiter  196 –– der Heizungsinstallateure  314

361 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

–– der Lehrer  235 –– der Maurer  201–204, 214 f., 220, 226, 237, 266 f., 306, 311, 313 f. –– der Metallarbeiter  121, 293, 295 f., 307 –– der Ofenmaurer  207 –– der Schreiner  308 –– der Zementarbeiter  217 f. Gewerkschaftsbewegung 201, 317 Gewerkschaftstribunale 217 Gillet  274 f., 282, 290 f. Givors  252, 302, 305 »Grenzjäger« 55 Grimma 84 Großbritannien 10–12 Groupe de défense des immigrés ­espagnoles  275 Groupe de Vigilance  235 Groupe Scolaire  195 Hakenkreuz  58, 74, 85, 188 Hamburg  128 Hammer-und-Sichel  30, 58, 155 f., 183 Hanau  94 Handwerk  44, 60, 120 f., 199–201, ­205–207, 305 Häuserschutzstaffeln  51, 72, 76, 81 Heimatdank 127 Hitler-Stalin-Pakt 318 Hitlergruß  188 f. Hitlerjugend  155, 191 Holland 99 Hyperinflation 136 Imprimerie Intersyndicale  225 f. Industrialisierung 44 Internationale Arbeiterhilfe  122, 168 f. Internationale Brigaden  304 Isère 307 Italien  199, 237, 260, 271 Jeunesses Communistes  229, 251, 288 Jeunesses Patriotes  247 Jeunesses Socialistes  228 f., 251 Junge Garde  64 Kaiserreich  44, 73, 94 Kameradschaftlichkeit  146 f.

Kampfbund gegen den Faschismus  168 »Kämpfende Jugend«  98, 100 Kampfgemeinschaft der Arbeitersänger  184 Kampfgemeinschaft für Rote Sport­ einheit  113, 187 Kampfstaffel 60, 62, 64 f., 79, 98, 138, 153, 174 f., 179, 182, 190 Kapitalismus  28, 65, 70 f., 137, 155, 235 f., 300 Kapp-Putsch  10, 45 Kassel 94n6 KJVD  46, 57, 64, 92, 100, 131, 147 f., 155, 157, 180, 187, 190 Klassen –– -bewusstsein  29, 73, 94, 112, 123, 132, 137, 205, 219 f. –– -kampf  29, 31, 71, 83, 99, 107, 114, 128, 137, 220, 244, 260, 295 –– -solidarität  71, 83, 94, 164 –– -staat 69 »Kleiner Mann, was nun?«  97 f. »Kleines Volkshaus«  61, 80 Kleinzschocher  75, 183 Knautkleeberg 64 Kollektives Handeln  70, 72 Komintern  12, 19, 109, 111, 227, 248, 301, 322, 325 Komitee gegen Krieg und Faschismus  251 Kommunalwahlen  111, 234, 268 f. Kommunisten und Nationalsozialisten  10, 29, 34, 47, 57 f., 79, 85 f., 89, 91 f., 95, 102, 115, 121, 128 f., 137, 183, 325 Kommunisten und Sozialdemokraten –– Gewalt zwischen  62–64, 69, 91, 96, 164 f., 175, 229 –– Konflikte zwischen  49, 65, 112, 115, 119, 125, 144, 179, 183, 324 –– Zusammenarbeit zwischen  9, 18 f., 34, 45–47, 50, 63 f., 79, 85, 88, 91 f., 96, 98, 113, 119, 141, 144, 149, 155 f., 190, 255, 322 Konsumvereine  136 f. Konzentrationslager  7, 185, 191, 321 Kooperative l’Avenir  223, 308 f., 313

362 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

KPD  7, 9–11, 19, 22, 25, 30, 32, 38 f., 46, 50, 53–57, 60, 63–66, 68–71, 74, 78, 80–82, 85 f., 90, 92–104, 106–116, 119–126, 129–133, 136–139, 1­ 44–157, 159, 164–170, 174–180, 182–191, 197 f., 209, 253, 256, 324 –– -Führung  12 f., 18 f., 24, 73, 82, 87, 96, 105, 112, 114 f., 123 f., 128, 134, 141, 147, 170–174, 177 f., 180 –– -Mitglieder  16–18, 23, 26, 40, 45, 63, 81, 96, 101, 109, 112, 128, 145 f., 167, 171, 175 f., 179 f., 184 f., 187, 189–191 KPO 46, 57, 65, 82, 92, 116, 118, 207 Kriegsversehrte  30, 67 Krise, epistemische  144, 148, 156, 158, 180, 205, 256, 322 La Croix Rousse  310 La Guillotière  199, 202, 287 f. Le Havre  40 Le Progrès  228, 247, 253 Les Deux Passages  253 Lebensmittelplünderungen 69–72 Leipziger Neueste Nachrichten  121 Leipziger Wollkämmerei  55 Lernprozess  21 f. Leuna Werke  118 Leutzsch  59, 75 f., 82, 88, 117, 174 Ligue des Droits de l’Homme  251, 304 Ligues de combattants de la paix  251 Limousin  199 f., 207, 314, 329 Lindenau 43, 50, 53, 58, 75 f., 81 f., 84, 88, 191 Löhne  28, 30, 208 f., 213, 219 f., 240, 259, 262, 273, 279 f., 307–309, 311, 315, 327 Lößnig  51, 75, 183 LVZ  14, 38, 43 f., 62–71, 73, 75–79, 84– 90, 93 f., 99 f., 116–118, 121, 129–134, 138, 153–157, 161–163, 165 f., 169, 175, 182–184 Lyon Républicain  38, 215, 253 f., 263, 276, 288 f., 292 f., 307, 316 Machtbeziehungen  27, 29 f., 278 Mädler-Passage 52 Maghreb 260 Maifeiertag  11, 75, 91, 292, 324

Marseille  17, 317 Marxismus  26 Märzaktion 136 MASCH 178 Maschinenfabrik Krause  122 Matignonabkommen  272, 279 f., 290, 297 Meier & Weichelt  188 Metallfabrik Bonnet-Spazin  221 Metallfabrik Eenberg  236 Metallfabrik Genoud  298 Metallfabrik Goguet  214 Metallfabrik Rudolf Sack  176 Metallfabrik Unruh und Liebig  126 Metallindustrie 36, 114, 176, 235, 239, 291, 293, 318, 327 Mikrogeschichte 36, 57 Milieu  16, 22, 25, 28, 94 f., 100 f., 103, 105, 113, 121, 134, 139, 215, 285, 294 –– Arbeiter- 49 f., 61, 69, 91, 95 f., 148, 159 f., 232, 324, 327 –– Bauarbeiter- 199, 201, 211 f., 245, 257, 267, 270 f. –– links-proletarisches  45–47, 65, 95, 106, 158, 197, 203 –– nationalsozialistisches 73 –– -organisationen  46, 95, 106, 138 –– sozialdemokratisches  31, 44, 47, 144 –– -strukturen  16, 106, 135, 274 Militarismus 232 Misstrauen  9, 19–24, 32, 35, 39 f., 118 f., 125, 140, 144, 146–149, 152 f., 155 f., 163 f., 168, 170 f., 180 f., 197, 212, 230– 232, 256–258, 322 f. Mobilisierung –– politische  32, 96, 105, 136, 249, 266, 273 f., 276, 278 f., 283 f., 286, 295, 318 f., 325, 327 –– soziale  249, 273 f., 276, 283, 286, 295, 318 Mockau  51 f., 81, 111 Monplaisir-la-Plaine  251, 269, 275 Moskau  12 f., 39, 56, 75, 116, 178, 248 f., 255, 301, 322 Mössingen 19 München 286, 301, 311, 317

363 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

Nationalsozialisten –– und Kommunisten  10, 29, 34, 47, 57 f., 79, 85 f., 89, 91 f., 95, 102, 115, 121, 128 f., 137, 183, 325 –– Machtergreifung der  10, 17, 40, 139, 153 f., 183, 189, 301 –– und Sozialdemokraten  51, 55, 77, 88, 97, 120, 185 Nordafrika  260 f. Notverordnungen  58, 317 NSDAP  10 f., 13, 55 f., 78, 81, 84–86, 120, 121, 139, 154 f., 158, 180, 189 –– Mitglieder  54, 59–62, 75, 97, 99, 102–104 Österreich 15 OTL  239 f., 242 Oullins 223, 243, 254, 302 Paris  12 f., 17, 38, 78, 198, 210, 221, 224, 227, 242, 246, 248, 250, 252, 254, 272, 279, 290, 306, 309, 311 Pariser Verträge  290 Parlament  30, 50, 74, 89 f., 94, 137 f., 210, 246 Partei –– -ausschluss  107, 109–111, 113, 157, 163, 167, 172 f., 178, 184, 218 –– -führung, kommunistische  12 f., 18 f., 24, 73, 82, 87, 96, 105, 112, 114 f., 123 f., 128, 134, 141, 147, 170–174, 177 f., 180, 220, 226 f., 232 f., 242 f., 248, 250, 255 f., 257, 322 f. –– -führung, sozialdemokratische  7, 13, 18 f., 24, 46, 63, 87, 96, 99, 105, 107, 115, 130, 134, 138, 141, 144 f., 148, 152 f., 174, 178, 189 f., 250, 322 f. –– -hierarchie 147 –– -politik  11, 27, 31, 47, 95, 97, 101 f., 108, 130, 134, 159, 162, 228, 230, 286, 305, 324 –– -tag  75, 90 –– -versammlungen  137, 158 Parti Radical  12, 232, 246, 268, 272, 283 Parti Social Français  15, 282, 284, 287, 307, 312 Parti Social-National  243

Parti Socialiste de France  253 Patrons siehe Arbeitgeber »Père Crescent«  207 Perpignan 304 Perrache 253 Piemont 199 PCF  12, 16 f., 38–40, 95, 198, 203, 220, 226, 233, 242, 249, 251, 253 f., 258, 266, 268 f., 271, 274, 289, 293, 297, 318, 322 f. Plagwitz  75, 184 Plakate 46, 63, 79, 98, 142 f., 150, 161, 176, 183 PLM 224 Plünderungen  49, 69–72 Polen 260 Politikverständnis  28, 74 f., 82, 84, 90 f., 96, 112, 133, 136–138, 325 Politisierung des Alltags  19, 29 f., 39, 49, 58, 61, 69, 72, 80, 91, 95 f., 112, 134, 198, 324 Politologie 20 Polizeiberichte  33 f., 37, 53 f., 56, 59 f., 67 f., 81, 104, 121 f., 160, 182, 184, 220, 224, 226, 230, 237, 248, 263, 292, 295, 300, 302 f., 317 Prag 189 Preußen  7, 10, 18, 111 Preußen Mockau  111 Preußenschlag  7, 10, 18 Probstheida 60 Proletariat  40, 44, 46, 65, 71, 73, 76, 83, 219, 243,f., 250, 270, 273 Proletarische Wehrorganisation  52, 55, 167 Propaganda  7 f., 24, 31, 51, 93, 96 f., 112, 115, 119, 122 f., 130, 136, 138, 150, 175, 178, 187 f., 214, 235 f., 287, 325 Provokationen  15, 80 f., 224, 237, 276 PSF 282, 284, 286–289 PUP 251 Reformpolitik 45 Reichsbanner Schwarz Rot Gold  7, 43 f., 51, 62–64, 69, 77 f., 81, 83 f., ­88–90, 120, 150, 154, 157, 161–165, 175, ­182–184

364 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

Reichsjugendtag  64, 154, 156, 161 Reichspräsidentenwahl 169 Reichstagswahlen  51, 57 f., 90, 119 Religion 28 Renseignements Généraux  38 Republik –– Bedrohung der  14, 57, 65, 85, 90, 92, 247 f., 270, 293 –– Verteidigung der  7, 10, 24, 92, 138, 166, 202, 248, 257, 284 f., 302 f., 319, 325–327 Republikanismus  14, 248 f., 257, 285 Résistance  317 f. Reudnitz  50, 54, 74 f., 178 Revolution –– französische 300 –– November  1918 13, 31, 44 f., 106, 136, 323, 327 –– proletarische  86, 108, 123, 137 f., 189, 204, 219, 325 –– russische 203 Rey 210 RFB 62, 171, 174 RGO  114–116, 119, 121, 124–126 »Rheingold-Festsäle«  56, 83, 86 f. Rhodiaceta 282 Riousset 311 Rivolliet 272 Rhône  14, 40, 199, 215, 252, 254, 258, 267, 273, 293 Roanne 234 »Rosenkranz«  76, 78 f., 81 Rot-Frontkämpfer Bund  45, 100 Rote Fahne  152, 183 Rote Hilfe  60, 68, 129, 167–169, 181, 304 »Rote Lyra«  184 Roulantes  203, 210 f., 215, 217, 222 Rowdytum  50, 64, 85 f., 89, 92 Ruhrgebiet  47, 112, 327 Russland  172, 260 SA  7, 11, 15, 19, 52, 60 f., 76 f., 79, 80 f., 86, 97, 102, 104, 122, 138, 154, 178, 180, 182, 185 f., 188 f., 191 Saalschlachten  47, 55 f., 228, 230 Saalschutz  60, 63, 287

Sachsen  9, 25, 36, 44 f., 107, 133, 136, 185, 187, 323 Sachsenhausen  65 SAJ  17, 43, 46, 56 f., 63 f., 76, 84, 92, 94, 97, 100, 140 f., 143, 146, 152, 154–157, 161, 175, 178 f., 190 Salle Blanchon  252 Sâone 247 SAP  152 SAW  54 f., 174 SAZ  38, 53, 56, 60, 63, 66–70, 72, 75–79, 81–84, 87, 93, 98–100, 108, 117–121, 129–133, 136, 146, 153, 157, 161–166, 183, 187 »Schiessers Restaurant«  55 Schlägereien  25, 47, 49, 53, 56–59, 63 f., 79 f., 84, 88, 171, 175, 226, 243, 267 Schleußig  53, 83 Schlichter  217, 280, 298 f., 306–309 Schlosserei Kron  75 Schönefeld  75, 80, 101 Schusswaffen  53 f., 66, 80, 184, 223, 254 Schutzpolizei  159, 186 Schweiz 260 Secours Rouge  304 SED 153 Seeburgerviertel  50 Seidenhaus Indanthren  124 f. Service des Nord-Africains  261, 263 SFIO  16, 38, 228, 232, 244, 248 f., 251 f., 254–257, 293, 323 Sicherheitsstandards 208 Société anonyme centrale de l’industrie et du commerce  291 Société anonyme Seux et Charel  214 Somua-Fabriken 278 Sonderwegsthese  10 Sowjetstern  74 f., 116, 140 Sowjetunion  16, 46, 173, 178, 186, 234, 266, 271, 304, 318 Sozialbehörden 49 Sozialdemokraten und Kommunisten –– Gewalt zwischen  62–64, 69, 91, 96, 164 f., 175, 229 –– Konflikte zwischen  49, 65, 112, 115, 119, 125, 144, 179, 183, 324

365 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

–– Zusammenarbeit  9, 18 f., 34, 45–47, 50, 63 f., 79, 85, 88, 91 f., 96, 98, 113, 119, 141, 144, 149, 155 f., 190, 255, 322 Sozialdemokraten und Nationalsozia­ listen  51, 55, 77, 88, 97, 120, 185 Sozialdemokratie  16, 44, 46 f., 65, 72, 84 f., 90–94, 106, 120, 128, 133 f., 220, 232, 255 f., 324, 327 Sozialfaschismus  11, 30, 46, 66 f., 69, 85, 92, 116, 118, 130, 177, 322 Sozialfürsorge siehe Fürsorge Sozialgesetzgebung  294, 297, 299, 327 Sozialismus  71 f., 94, 175, 203, 256 Sozialversicherungen 219 Soziologie 20 Spanien  199, 260, 271, 285, 301–305, 315 SPD  8–11, 14–19, 22, 25, 30, 32, 64 f., 69, 75 f., 78 f., 86–98, 106, 109–112, 116, 118, 120–124, 127, 129–134, 136, ­138–144, 149, 155–158, 166, 170, 175 f., 179, 181 f., 197, 322, 324 –– -Führung  7, 13, 18 f., 24, 46, 63, 87, 96, 99, 105, 107, 115, 130, 134, 138, 141, 144 f., 148, 152 f., 174, 178, 189 f. –– -Mitglieder  24, 38, 44 f., 91, 96, 138 f., 142, 151, 154, 157, 183, 185, 187, 256 SPF  282, 284, 288, 291 f., 307, 312–314 Spinnerei Pfaffendorf  162 Spitzel  21, 23, 55, 110, 146, 148, 151–153, 155, 158, 162, 165, 168–170, 172–174, 180, 189, 197, 230 f., 237, 322 Sportvereine  26, 32, 94, 106, 110–113, 134, 175, 324 Sprechakte 25 SRI 251 St. Etienne  226, 234, 303 St. Fons  234, 236, 262 Stahlhelm  58, 77, 85, 168, 185 Stimmungsberichte 38 Stötteritz  75, 165 Straßenpolitik  49, 50, 62, 72, 83 f., 86, 103 Straßenschlachten  75, 78, 81, 287 Streik –– Bauarbeiter- 244, 291, 306 f., 315 f., 319, 326

–– -brecher  120–122, 159 f., 165 f., 195 f., 207, 210, 212, 215, 217 f., 223, 226, 241, 258–263, 272, 276, 310 f., 322 –– Bummel- 213 –– Eisenbahner- 16 –– Frühjahrs- 224 –– General- 10, 18 f., 154, 202, 213, 240, 246, 248, 263, 273, 285 f., 308–310, 316 f., 321 –– Gewalt bei  195, 203, 215 f., 228, 241, 293, 310, 312, 322 –– Heizungsinstallateure der  195 f. –– -karten  209 –– Klempner- 121 –– -komitee  120, 195 f., 201, 225, 241 f., 263, 276 –– Massen- 183, 213 –– Maurer- 218 –– Metallarbeiter- 216, 273 –– -posten  121 f., 195, 215, 242, 277 –– Protest- 240, 273 –– Solidaritäts- 274, 291 –– Sommer- 40, 249, 266, 271 f., 275 f., 279, 284–286, 291, 293–295, 306 f., 318 f. –– -steuer  216, 279, 308, 315 Sturmlokal  61, 74 SUB  204, 223, 226, 261, 263 Surrealismus 208 Symbole, politische  22, 25, 75, 85, 149 f., 205, 281, 314 Symbolkampf  50, 74 f. Syndicat autonome siehe Cartel Autonome du Bâtiment Syndicat autonomes des maçons  237, 311 Syndicat confédéré siehe CGT Syndicat général des entrepreneurs de bâtiment et travaux publics de Lyon et de la Région  290 Syndicat ouvrier de Chauffage  298 Syndicat professionnel  312 Syndicat unitaire siehe CGTU Syndikalismus  26, 31, 37, 201–203, 205, 227, 249, 269, 271, 281, 291, 294, 296, 299, 318 f., 325, 327

366 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370285 — ISBN E-Book: 9783647370286

Tageszeitungen 38 Tarifvertrag  120, 258, 294, 298, 309, 312–314 TeNo 154 Textilfabrik Sack  124,105 Textilfabrik Stöhr & Co. 121, 124 Textilfabrik T. A. S. E. 275 Textilindustrie  85, 234, 239, 278, 291, 293 Tittel & Krüger  119, 121–123, 160 Tour  16, 297 Transparente 64, 134, 142 f. Travail  220–223, 225 f., 228 f. 236, 238 Turin 303 Überstunden  207 f., 217, 238, 259 f., 307 Uniformen  58 f., 76, 81, 85, 87, 100, 122, 179 Union des musulmans nationalistes communistes 265 Unruh und Liebig  126 Urbanisierung 44 USPD 44, 45, 127 Vaise  277, 282 Vaulx-en-Velin 268 Vénissieux  199, 230, 258, 268, 275–277, 302–305 Vereine siehe Arbeitersportvereine, Arbeitervereine, Sportvereine Vergne & Fils  212, 262, 291 Versammlungen, 49 f., 53, 55, 57, 66, 76, 111, 137, 146, 153 f., 158, 183, 214, 228, 230 f., 238 240, 243, 250–252, 274, 278, 281, 286, 290, 296, 302, 313, 315 Versillé  225, 262–265 Vichyregime  95, 286, 318 f. Video 7 Vienne 288 Villefranche  295, 309 Villeurbanne  16, 193, 199, 211, 235 f., 248, 251, 254 f., 258 f., 265, 268–270, 274, 277 f., 281, 288 f., 293, 298, 300, 302 f., 305 Vitriolerie 311

Voix du Peuple  38, 207, 219 f., 229–232, 234–239, 243 f., 251–254, 269, 287, 302 f., 305, 316 Volkmarsdorf  50 f., 53 f., 75, 77 f., 80, 88, 180 Volkschor Nord  184 Volksfront  12, 16 f., 19, 26 f., 34, 37–40, 198, 211, 246–250, 254 f., 257, 261, 268, 271–274, 279, 283–287, ­289–291, 293–295, 297–302, 304 f., 307, ­316–319, 321, 325, 327–328 Wahlergebnisse  76, 91, 139 Wahlrecht  141, 278 Wahrheit 20–23, 62, 84, 144, 147, 154, 156–158, 161 f., 167, 177, 196, 223, 263, 266, 313, 322 Wehrmacht  318 f. Weimarer Republik, Zusammenbruch der  9, 11, 61, 105 Weltpolitik  112, 132, 170, 325 Weltwirtschaftskrise  14, 98, 114, 213, 234 f., 258, 293 Werkstätte Heiterblick  116 Wiederitzsch 84 »Winkelhaken« 184 Winterbeihilfe 133 Wohlfahrt  31n86, 36, 95, 127 f., 133, 265 Wohlfahrtsämter 26, 129 Wohlfahrtsunterstützung  70 f., 130, 203, 216, 219, 230 Xenophobie 260 Zeitungen  22, 30, 37 f., 43, 52, 116–119, 130, 132, 134, 167, 230, 237, 253, 256, 268, 289, 303 Zentrum  7, 175 »Zu den Drei Glocken«  71 »Zum Anker«  60 »Zum Bierstall«  54 »Zur Grenze«  80 Zusammenstöße 18, 34, 39, 47, 49 f., 57, 60, 63, 68, 77, 85, 102, 142, 161, 179, 181, 227, 230, 246 f., 252, 287–289, 310 Zwangsräumungen 69–71 Zweinaundorf 75

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