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German Pages 270 Year 2019
Fabian Thunemann Verschwörungsdenken und Machtkalkül
Ordnungssysteme
Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael
Band 53
Fabian Thunemann
Verschwörungsdenken und Machtkalkül
Herrschaft in Russland, 1866 – 1953
Gedruckt mit Unterstützung der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius
ISBN 978-3-11-061647-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061928-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061672-9 ISSN 2190-1813 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Für J – M − J
Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner im Juni 2017 an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin verteidigten Dissertation. An erster Stelle sei meinem Betreuer Jörg Baberowski für die Unterstützung gedankt. In ihm fand ich nicht nur einen gleichermaßen humorvollen wie unermüdlichen Gesprächspartner, sondern auch einen Menschen, der sich hartnäckig um meine materielle Absicherung kümmerte. Claudia Weber möchte ich herzlich für die Zweitbetreuung meiner Arbeit und wertvolle Hinweise danken. Dass aus einer Idee ein Buch wurde, verdankt sich Institutionen, Kritikern, Kollegen und Freunden. In vermutlich willkürlicher Reihenfolge seien genannt: DFG, DAAD, DHI Moskau, EH-Stiftung, Hoover Institution, Felix Schnell, Robert Kindler, Sarah Matuschak, Benjamin Beuerle, Alexander Frese, Christian Teichmann, Sandra Grether, Claus Bech Hansen, Simon Ertz, Mirjam Galley, Robert Lučić, Benedikt Vogeler, Molly Pucci, Jurij Darminov, Tadzio Schilling, Ilʼja Šumov, Tabea Nasaroff, Jakub Krajczynski, Alexander Schnickmann, Markus Mirschel, Pedro Stoichita, Louis Berger, Eva Jenke, Samuel Kunze, Antje Pausder, Andreas Weiß, Hajo Raupach, Martin Wagner, Malte Rolf, Norman Naimark, Paul Gregory, Amir Weiner, Ronald Suny, David Shearer, Nicolas Werth. Für die Aufnahme meines Textes in die Reihe ›Ordnungssysteme‹ sei schließlich den Herausgebern, Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael, gedankt. Meine Eltern und später hinzugestoßenen Eltern brachten mir stets eine Zuwendung entgegen, die Außenstehenden manchmal naiv erscheinen musste. Am intensivsten haben in den letzten Jahren meine Partnerin und meine Kinder unterschiedlichste Formen von Abwesenheit mit mir durchlebt. Ihnen sei das Buch gewidmet.
https://doi.org/10.1515/9783110619287-001
Inhalt Macht und Verschwörung. Eine Einleitung
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20 Das goldene Zeitalter der Konspiration Reform und Revolution 20 Die Geburt der Konspiration 28 37 Russische Pythagoreer Die Zeit drängt 49 56 Organisation des Unbedingten Die Zelle 63 „Sentimentalität ist ein Verbrechen“
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95 Das Phantom der Souveränität Die Macht der Bedrohung 95 Abrechnung als Gefahr 108 Vergangenheitsbewältigung Bolschewistisch Pädagogik der Unberechenbarkeit 139
120
158 Der Kampf gegen den sterblichen Gott Machtausbau als Kontrollverlust 158 178 Die Vergangenheit der Zukunft Macht und Gedächtnis 190 Thronfolge als Gefahr oder die gelungene Verschwörung Schlussbetrachtung
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Literaturverzeichnis
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Personenregister
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Macht und Verschwörung. Eine Einleitung „Wir werden die Terroristen überall jagen… Und wenn wir sie – bitte verzeihen Sie – auf der Toilette aufspüren, werden wir sie eben in der Latrine ersaufen. Damit ist die Angelegenheit endgültig erledigt.“ Mit diesen Worten kündigte Vladimir Putin, der gerade ausgeschiedene FSB-Direktor und unscheinbare Günstling des amtierenden russischen Präsidenten Boris Jelzin, im September 1999 seinen entschlossenen Kampf gegen den Terrorismus an. In den Wochen zuvor war es in Bujnaksk, Moskau und Volgodonsk zu verheerenden Bombenattentaten auf Wohneinheiten gekommen, in deren Folge rund 300 Menschen starben und mehr als 1000 Personen verletzt wurden.¹ Nur zwei Tage vor Putins stilprägender Rede hatten die Sicherheitsbehörden im Keller eines Hauses in Rjazanʼ ein auffälliges Paket sicherstellen können und es schien, als sei damit nicht nur eine weitere Katastrophe verhindert, sondern endlich die Anschlagsserie durchbrochen worden. Bald allerdings griff das Gerücht um sich, der russische Geheimdienst selbst und insbesondere dessen bisheriger Leiter Putin seien in die Anschläge verwickelt, um politisches Kapital aus der Verunsicherung der eigenen Gesellschaft zu schlagen. Als der Amtsnachfolger und nunmehrige Vertraute Putins, Nikolaj Patrušev, den Zwischenfall in Rjazanʼ mit zwiespältigem Selbstbewusstsein als Trainingseinheit des Geheimdienstes ausgab, nahmen die Zweifel noch zu. Da bis heute kein offizielles Bekennerschreiben aufgetaucht ist, Ministerpräsident Putin indes wenige Monate nach den Attentaten zum Präsidenten der Russischen Föderation aufstieg und mit den Morden an Anna Politkovskaja und Aleksandr Litvinenko zwei seiner prominentesten Kritiker für immer zum Schweigen gebracht wurden, konnte sich das Gegeneinander von offiziellen und inoffiziellen Deutungen weiter verfestigen. Damit legt der Fall exemplarisch Zeugnis darüber ab, dass Verschwörungsdenken die Herrschenden und Beherrschten gleichermaßen zu erfassen vermag.²
Vgl. John Dunlop: The Moscow Bombings of September 1999. Examinations of Russian Terrorist Attacks at the Onset of Vladimir Putinʼs Rule, New York 2014, Zitat: S. 80 und David Satter:The Less You Know, the Better You Sleep. Russia’s Road to Terror and Dictatorship under Yeltsin and Putin, New Haven 2016, S. 1– 39, S. 121– 126, S. 171 f. Vgl. zu dieser historischen Konstante Bernhard Bailyn: The Ideological Origins of the American Revolution, Cambridge 1967; Richard Hofstadter: The Paranoid Style in American Politics, in: Ders., The Paranoid Style in American Politics and Other Essays, Cambridge 1996, S. 3 – 40 und Timothy Melley: Agency Panic and the Culture of Conspiracy, in: Peter Knight (Hg.), Conspiracy Nation, New York/London 2002, S. 57– 81. https://doi.org/10.1515/9783110619287-002
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Macht und Verschwörung. Eine Einleitung
In der Diskussion über undurchsichtige politische Ereignisse fällt rasch die Formel cui bono, die Frage also nach den Nutznießern. Daran wiederum schließt sich nicht selten der Kurzschluss an, in den durch die Ereignisse Begünstigten auch ihre Verursacher zu sehen.³ Als eine ›Verschwörungstheorie der Gesellschaft‹ klassifizierte der Philosoph Karl Popper vor über siebzig Jahren diese Sichtweise.⁴ Dabei ist die Gegenüberstellung von res factae und res fictae so alt wie die Geschichtsschreibung selbst. Ebenso alt ist jedoch auch der Streit über den Verlauf der Grenze zwischen Wahrheit und Lüge, bei dem sich Popper nicht weiter aufhält. Natürlich wird der Historiker, etwa im Gegensatz zum Schriftsteller und seinen Geschichten über mögliche Wirklichkeiten, stets für sich in Anspruch nehmen, von tatsächlich Geschehenem zu berichten.⁵ Gleichwohl attestierte bereits Jacob Burckhardt der historischen Disziplin den geringsten Grad an Wissenschaftlichkeit.⁶ So bleibt das Problem zurück, dass vergangene Wirklichkeit nie mit dem zur Deckung kommt, was „sprachlich in ihr und über sie artikuliert werden kann.“⁷ Diese Mahnung Reinhart Kosellecks bezieht sich zwar auf das grundsätzlich schwierige Verhältnis von Vergangenheit und Interpretation, sie gilt allerdings umso mehr den Geschichten, die ihrer Natur nach im Grenzbereich von Wahrheit und Lüge angesiedelt sind, für Geschichten über Verschwörungen und ihre Interpretationen. Es verwundert nun nicht, dass viele ernstzunehmende Publizisten und Historiker in der Anschlagsserie vom September 1999 ein zynisches Machtkalkül des aufstrebenden Politikers Putin erkennen wollen, trugen sie damit doch lediglich dem Umstand Rechnung, dass sich die „tatsächliche Verschwörung als Teil des politischen Prozesses“ nur sehr schwer von der „rein eingebildeten Ver-
Auf klassische Weise wird dieser Umstand behandelt bei Niccolò Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, Stuttgart 2007, S. 319. Vgl. Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 2: Falsche Propheten: Hegel, Marx und ihre Folgen, München 1980, S. 181. Popper ist nach Machiavelli einer der wenigen philosophischen Denker, die sich mit dem Thema Verschwörung überhaupt beschäftigt haben. Vgl. zur Kritik an Popper Brian L. Keeley: Of Conspiracy Theories, in: The Journal of Philosophy 96 (1999), S. 109 – 126 und Matthew Dentith: The Philosophy of Conspiracy Theories, Basingstoke 2014, S. 7– 38. Vgl. zur Abgrenzung zwischen literarischer und historischer Form Aristoteles: Poetik, Kapitel 9 (St. 1451b1– 8), Berlin 2008. Vgl. Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, in: Ders., Das Geschichtswerk. Band I, Frankfurt am Main 2007, S. 825. Vgl. Reinhart Koselleck: Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 1/3 (2007), S. 39 – 54, Zitat: S. 47.
Befunde und Prämissen
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schwörung abgrenzen lässt.“⁸ Eben diese Überlappung von Verschwörungsdenken und Machtkalkül ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit.
Befunde und Prämissen Am Beginn lag der Befund, dass autoritäre Herrschaft und Verschwörungsdenken auf besondere Weise miteinander verwoben sind; diese Verknüpfung also systemischen Charakter aufweist.⁹ Hinzu kam die Beobachtung, dass sich dieser Umstand besonders an einer Geschichte illustrieren lässt, die ihren Ausgang bei den Verschwörern des späten Zarenreiches nimmt, um dann ihren Erben nachzuspüren, die im Oktober 1917 an die Macht kamen und sich fortan selbst von Verschwörungen bedroht sahen. Die Beschreibung der Jahre von 1866 bis 1953 als einer von Verschwörungsdenken und Machtkalkül geprägten Periode ist somit eine verdichtete Geschichte, deren Ausläufer sich bis in die jüngste Vergangenheit erstrecken und deren Ursprünge weit zurückreichen. Bereits die Herrschaft des ersten gekrönten Zaren, die Zeit Ivans IV. (1530 – 1584), war von Ränkespielen (skloka) und konspirativer Politikführung, Misstrauen und Machtkalkül geprägt. Ivan war es auch, der sich zum Schutze eigener Herrschaft seine persönliche Leibgarde, eine zarische Variante der Prätorianer, schuf und als erster systematisch auf einen Geheimdienst zurückgriff.¹⁰ Zugleich lassen sich in der russischen Geschichte früh Hinweise darauf finden, dass die Machthaber in ihrer eigenen Schutzmacht auch eine Bedrohung sahen. Mit dem Aufstand der Strelizen unter Peter dem Großen, aber vor allem
Hier sei auf den Historiker Jurij Fel’štinskij verwiesen, der seit seinen frühen Arbeiten zu den linken Sozialrevolutionären dem Thema Macht und Verschwörung besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat. Vgl. exemplarisch Jurij G. Fel’štinskij: Voždi v zakone, Moskau 2008 und Yuri Felshtinsky [Jurij Fel’štinskij]/Alexander Litvinenko: Blowing up Russia. The Secret Plot to Bring Back KGB Terror, London 2012 und Il’ja Jablokov: Feinde, Verräter, Fünfte Kolonnen. Verschwörungstheorien in Russland, in: Osteuropa 65 (2015), S. 99 – 114, Zitat: S. 100. Vgl. ferner Jeffrey M. Bale: Political Paranoia v. Political Realism. On Distinguishing between Bogus Conspiracy Theories and Genuine Conspiratorial Politics, in: Patterns of Prejudice 41 (2007), S. 45 – 60. Vgl. zum Verschwörungsdenken allgemein Cornel Zwierlein/Beatrice de Graaf: Security and Conspiracy in Modern History, in: Dies. (Hg.), Security and Conspiracy in History, 16th to 21st Century, Köln 2013, S. 7– 45. Vgl. ferner Ute Caumanns/Mathias Niendorf (Hg.): Verschwörungstheorie: Anthropologische Konstanten – historische Varianten, Osnabrück 2001; Wolfgang Sofsky/ Rainer Paris: Figurationen sozialer Macht, Frankfurt am Main 1994 und Manfred F. R. Kets de Vries: Lessons on the Leadership by Terror. Finding Shaka Zulu in the Attic, Cheltenham 2004. Ruslan G. Skrynnikow: Iwan der Schreckliche und seine Zeit, München 1992 und Richard Hellie (Hg.): Ivan the Terrible. A Quarcentenary Celebration of his Death, o.O. 1987.
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Macht und Verschwörung. Eine Einleitung
dem Dekabristenaufstand, fand diese Konstellation wirkmächtig Eingang in die neuere Geschichte. So hatten im Dezember 1825 ausgerechnet diejenigen dem Zaren den Gehorsam verweigert, die ihrer Bestimmung nach für dessen Schutz verantwortlich, damit aber eben auch im Besitz einer wesentlichen Machtressource waren. Nicht ohne Grund sieht der berühmte russische Historiker Vasilij Ključevskij, der die Palastrevolutionen des 18. Jahrhunderts als maßgebliches Charakteristikum russischer Geschichte überhaupt ausmachte, Phänomene wie Aufstand (vosstanie), Konspiration (konspiracija) oder Verschwörung (zagovor) in enger Nachbarschaft.¹¹ Die Herrschaft in Russland war stets fragil. Allein geographische Faktoren wie die schiere Größe des Reiches bedingten eine störanfällige Infrastruktur und erschwerten nicht zuletzt deshalb eine institutionelle Durchdringung des politischen Raums. Die Behördenstruktur war schwach entwickelt, eine bürgerliche Mittelschicht existierte nicht. Noch kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert lag die Alphabetisierungsrate bei nur 21 Prozent. Die Unterschiede also zu den Gesellschaften westlichen Typs waren gewaltig.¹² Gerade diese Fragilität jedoch und die Personalisierung der Macht eröffneten den Kontrahenten einen besonderen Spielraum; denn sie wussten um die Anfälligkeit. Somit lässt sich am russischen Beispiel die auch in anderen Kontexten beobachtbare Dynamik von Verschwörungsdenken und Machtkalkül besonders anschaulich verdeutlichen. Die vorliegende Arbeit nimmt den Zusammenhang von Machtbehauptung und befürchtetem Machtverlust in den Blick, die Angst vor politischer Verschwörung und das nicht selten gerade dadurch ausgelöste Verschwörungsdenken. Im Mittelpunkt steht die sowjetische Herrschaft, insbesondere die Diktatur Stalins. Es werden allerdings auch die terroristischen Verschwörungen des späten Zarenreichs beschrieben, die eine »Staatsversessenheit« (Walter Sperling) begünstigten.¹³ Am Ende dieser Zuspitzung stand die Revolution und brachte die Verschwörer an die Schalthebel der Macht. Sie waren nun nicht nur mit der Herausforderung konfrontiert, einen neuen Staat zu etablieren, sondern auch Vgl.Vasilij Osipovič Ključevskij: Sočinenija v devjati tomach. IV, Moskau 1989, S. 336 – 339; I. V. Volkova/I.V. Kurukin: Fenomen dvorcovych perevorotov v političeskoj istorii Rossii XVII – XX vv., in: Voprosy istorii 5 – 6 (1995), S. 40 – 61 und Trude Maurer: ›Rußland ist eine Europäische Macht‹. Herrschaftslegitimation im Jahrhundert der Vernunft und Palastrevolten, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 45 (1997), S. 577– 596. Vgl. Jeffrey Brooks: When Russia Learned to Read. Literacy and Popular Literature, 1861 – 1917, Evanston/IL 2003, S. 4 und Dietrich Geyer: ›Gesellschaft‹ als staatliche Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekte des russischen Behördenstaates im 18. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland, Köln 1975, S. 20 – 52. Vgl. Walter Sperling: Der Aufbruch der Provinz. Die Eisenbahn und die Neuordnung der Räume im Zarenreich, Frankfurt/New York 2011, S. 18 – 20.
Befunde und Prämissen
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damit, diesen Staat mit einem ambivalenten historischen Erbe zu versöhnen. Somit wird die Wirkung dieses Erbes auf die neuen Machthaber der sowjetischen Ordnung und ihre besondere Neigung untersucht, sich von Verschwörungen bedroht zu sehen und dabei immer wieder im Verweis auf die eigene Tradition mit dieser häufig nur vorgestellten Möglichkeit abzurechnen. Anhand zentraler historischer Stationen werden die Schichten von Dichtung und Wahrheit, Konstruktion und Projektion freigelegt. Es geht um Vorstellungswelten als treibende historische Kraft, um die Potenziale mutmaßlicher Verschwörungen als Kern realer Eskalation.¹⁴ Die Arbeit geht also auch der Frage nach, was es bedeutet, wenn die Politik sich immer stärker von realen und greifbaren Gegnern hin zu einem Kampf gegen Möglichkeiten entwickelt – damit jedoch erst recht Anlässe weiterer Gegnerschaft und Projektion in der realen Welt hervorbringt.¹⁵ Auf diese Weise wird die durchaus plausible Gefahr einer Verschwörung für die Machthaber zu einer Wahrnehmung der Welt als Verschwörung und offenbart, wie sehr tatsächliche Verschwörungen und verschwörungstheoretische Antizipation ineinandergreifen können.¹⁶ Obgleich sich Terrorismus und Staatsterror großer Aufmerksamkeit erfreuen, wurde die Überlagerung von realem und fiktionalem Terrorismus unter dem Gesichtspunkt verschwörerischer Politik bisher nur als kursorische Beobachtung in die Forschung eingestreut.¹⁷ Diese Perspektive ist allerdings vor allem deshalb
Vgl. Ernst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917 – 1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt am Main 1987, S. 547 passim und Michael Ellman: The Role of Leadership Perceptions and of Intent in the Soviet Famine of 1931 – 1934, in: Europe-Asia Studies 57 (2005), S. 823 – 841. Das berühmte Thomas-Theorem ist hierfür ein eindringliches Beispiel. Vgl. William Isaac Thomas/Dorothy Swaine Thomas: The Child in America. Behavior Problems and Programs, New York 1928, S. 553 – 575, bes. S. 572. Vgl. ferner Betty Glad: Why Tyrants Go Too Far. Malignant Narcissism and Absolute Power, in: Political Psychology 23 (2002), S. 1– 37. Vgl. exemplarisch Ron Suskind: The One Percent Doctrine. Deep Inside America’s Pursuit of Its Enemies Since 9/11, New York 2006; Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburg 2009; Bernd Greiner: 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen, München 2011 und Heribert Prantl: Der Terrorist als Gesetzgeber. Wie man mit Angst Politik macht, München 2008. Vgl. beispielhaft Edward A. Rees: Political Thought from Machiavelli to Stalin. Revolutionary Machiavellism, New York 2004, S. 145, S. 152 passim; Erik van Ree: The Political Thought of Joseph Stalin. A Study in Twentieth-Century Revolutionary Patriotism, London/New York 2002, S. 9, S. 13, S. 16 passim; James H. Billington: Fire in the Minds of Men. Origins of the Revolutionary Faith, New York 1980; Marc Junge: Die Gesellschaft ehemaliger politischer Zwangsarbeiter und Verbannter in der Sowjetunion. Gründung, Entwicklung und Liquidierung (1921 – 1935), Berlin 2009 und Sandra Dahlke: Individuum und Herrschaft im Stalinismus. Emelʼjan Jaroslavskij (1878 – 1943), München 2010, S. 33 – 88, S. 149 – 206, S. 408. Vgl. ferner Stefanie Ortmann/John Heathershaw: Conspiracy Theories in the Post-Soviet Space, in: Russian Review 71 (2012), S. 551– 564.
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Macht und Verschwörung. Eine Einleitung
vielversprechend, da die Perioden vor 1917 und danach gerade im Hinblick auf die politische Verschwörung, den Terrorismus und die Frage der Macht auf exemplarische Weise verknüpft sind.¹⁸ So schienen die terroristischen Zirkel der Zarenzeit ebenso wie die sowjetische Machtclique nichts mehr zu fürchten als Verrat oder Verschwörungen, die ihrer Macht Schaden hätte zufügen können.¹⁹ Die eine Gruppe kämpfte aus einer unterlegenen Position gegen den zarischen Staat, musste aber gerade deshalb den Verrat in den eigenen Reihen fürchten; die andere Gruppe dagegen besaß die Macht, fürchtete aber nun erst recht den Verrat und die Abweichung. Nicht umsonst wird schließlich die Erscheinung des Terrorismus in der Forschung vielfach auf die Tradition des Tyrannenmordes zurückgeführt und zeigt damit allein schon genetisch den engen Zusammenhang beider Phänomene an.²⁰ Im Zeitalter der Französischen Revolution fand der ›Terror‹ als herrschaftliche Prophylaxe gegenüber wahren oder nur vorgestellten und potenziellen Feinden umfassenden Gebrauch und wurde damit als Begriff in seiner bis heute üblichen Verwendung etabliert. Die Auswüchse dieser Gewalt mögen den Verfechtern der neuen Ordnung als klassische Sorgfaltspflicht erschienen sein, während die Opfer sie als Staatsterror empfanden.²¹ In einem strikten Sinne kann Terrorismus demgegenüber als jede Form des Aufbegehrens gegen die etablierte politische Ordnung aufgefasst werden. Andere, die diese Sichtweise nicht akzeptieren wollen, mögen in einem erfolgreichen Gewaltakt gegen einen Staatsführer, der seine renitenten Untertanen als Terroristen kennzeichnet, nichts anderes als die
Die einzige mir bekannte Arbeit, die in diese Richtung argumentiert, stammt von James F. McDaniel: Political Assassination and Mass Execution. Terrorism in Revolutionary Russia, 1878 – 1938, University of Michigan 1976. Vgl. zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Terrorismus und Terror exemplarisch Rudolf Walther: Terror und Terrorismus. Eine begriffs- und sozialgeschichtliche Skizze, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Band 1, Hamburg 2006, S. 64– 77 und Martin A. Miller: The Intellectual Origins of Modern Terrorism in Europe, in: Martha Crenshaw (Hg.), Terrorism in Context, University Park 1995, S. 27– 62.Vgl. ferner Heinrich Popitz: Realitätsverlust in Gruppen, in: Ders., Soziale Normen, Frankfurt am Main 2006, S. 175 – 187. Vgl. zu dieser Sichtweise etwa Peter Waldmann:Terrorismus. Provokation der Macht, Hamburg 2005, S. 47; Carola Dietze/Frithjof Benjamin Schenk: Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr. Soldatisch-aristokratische Tugendhaftigkeit und das Konzept der Sicherheit im späten 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 368 – 401 und David George: Distinguishing Classical Tyrannicide from Modern Terrorism, in: The Review of Politics 50 (1988), S. 390 – 419. Vgl. zuletzt eindrücklich Adam Zamoyski: Phantom Terror. The Threat of Revolution and the Repression of Liberty, 1789 – 1848, London 2014.Vgl. ferner Rudolf Walther: Terror, Terrorismus, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 6, Stuttgart 1990, S. 323 – 444 und Henner Hess: Terrorismus und Terrorismus-Diskurs, in: Ders. et al. (Hg.), Angriff auf das Herz des Staates. Erster Band, Frankfurt am Main 1988, S. 55 – 74.
Befunde und Prämissen
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Tradition des Tyrannenmordes aufgerufen sehen.²² Die Gegenüberstellung von Staatsterror und Terrorismus wird folglich den ambivalenten Spielarten des Terrors nicht gerecht. Allein die kurzen Ausführungen zeigen, dass die Verwendung allein vom jeweiligen Kontext bestimmt wird und je nach Zustimmungsrate dann verfängt. All diese Spiegelungen gelten in besonderer Weise auch für die Verschwörer des Zarenreiches, aber erst recht für die Zeit, die mit der Etablierung der sowjetischen Ordnung anbrach. Gerade das späte Zarenreich, das sich im Kampf mit einem realen terroristischen Untergrund befand, oder die sowjetischen Machthaber in ihrer Auseinandersetzung mit realen und potenziellen Feinden, die das Regime zunehmend im Untergrund vermutete, bieten für die Analyse der erwähnten Spielarten des Terrors eine faszinierende, zugleich aber problematische empirische Basis. Wenn auch Daten als klarster Anhaltspunkt gelten und Quellen den Interpreten leiten, so wird doch bei näherem Hinsehen schnell deutlich, dass die Herstellung von historischen Zusammenhängen vor allem ein kreativer Akt ist, der zwar auf Quellen beruht, aber dennoch auf Vorannahmen zurückgreifen muss und letztlich auf das Kriterium der Plausibilität statt der Faktizität zurückgeworfen bleibt.²³ Man möge in diesem Zusammenhang etwa an Johann Gustav Droysen denken, der davon sprach, dass das „wahre Faktum […] nicht in den Quellen“ zu finden sei.²⁴ So gesehen produziert die historische Arbeit allein Erzählungen über die Möglichkeitsformen des Faktischen – und dies im Falle der behandelten Phase des Zarenreiches und der sowjetischen Ordnung umso mehr, als diese Periode von einer ebenso stereotypen wie ambivalenten Quellensprache bestimmt ist, für die schließlich das inzwischen sprichwörtliche Veto-Recht der Quellen nur bedingt in
Vgl. exemplarisch Boaz Ganor: Defining Terrorism: Is One Man’s Terrorist Another Man’s Freedom Fighter?, in: Police Practice and Research 3 (2002), S. 287– 304 und Bruce Hoffman: Terrorismus – der unerklärte Krieg. Neue Gefahren politischer Gewalt, Frankfurt am Main 2006. Hier sei auf das Verfahren anhand sogenannter ›stylized facts‹ oder auf den klassischen ›Idealtypus‹ verwiesen. Vgl. zum grundlegenden Problem Andrea Graziosi: The New Soviet Archival Sources. Hypotheses for a Critical Assessment, in: Cahiers du Monde russe 40 (1999), S. 13 – 64; Robert C. Tucker: The Soviet Political Mind. Stalinism and Post-Stalin Change, New York 1972, S. 49 – 86; Stephen Kotkin: The State – Is It Us? Memoirs, Archives, and Kremlinologists, in: Russian Review 61 (2002), S. 35 – 51; Stephan Merl: Politische Kommunikation in der Diktatur. Deutschland und die Sowjetunion im Vergleich, Göttingen 2012, S. 15 passim und Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1981, S. 187. Zitiert nach Wilfried Nippel: Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008, S. 32. Vgl. ferner Timothy Garton Ash: The File. A Personal History, New York 1998.
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Macht und Verschwörung. Eine Einleitung
Anschlag gebracht werden kann.²⁵ Umso wichtiger sind daher starke Prämissen und modellhafte Überlegungen.
Modelle und Forschungslage Gordon Tullock sah in der Auffassung, Revolutionen als Akt der Selbstbefreiung zu begreifen, einen Hang zum Romantizismus. Überhaupt, fuhr er fort, habe der Alleinherrscher in politischen Krisen viel weniger Revolutionen als Palastrevolutionen zu fürchten.²⁶ Hinter diesem Argument gibt sich die alte Warnung Niccolò Machiavellis zu erkennen, der zufolge durch Verschwörungen mehr Machthaber ihr Leben verloren hätten als durch offenen Krieg, eine Warnung, die inzwischen empirisch belegt worden ist.²⁷ So haben allein in den letzten 60 Jahren durch Palastrevolten mehr Herrscher Amt und Würde verloren als durch militärische Intervention oder Aufstände. Nicht die Erhebung unterdrückter Massen also, sondern Ränkespiele an der Staatsspitze brachten folglich neue Machtverhältnisse hervor. Somit konnte die prominent von Machiavelli eingenommene Betrachtungsweise über den Zusammenhang von Alleinherrschaft und Verschwörung in den letzten Jahrzehnten statistisch untermauert werden. Das macht deutlich, dass ein Alleinherrscher sowohl Antreiber als auch Getriebener der eigenen Macht werden kann und die Angst vor möglichen Verschwörungen gleichsam einen systemisch verankerten Hang zur Paranoia mit sich bringt. Folglich droht dem Alleinherrscher mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verschwörung, wobei das tatsächliche Ereignis unberechenbar bleibt. Die Verbreitung von Angst wiederum zur Abschreckung erhöht nur die Chancen auf den eigenen Sturz. Mithin löst der Mechanismus dieser Herrschaftsform im Herrscher eine »Befehlsangst« (Elias
Vgl. Hayden V. White: The Burden of History, in: History and Theory 5 (1966), S. 111– 134 und Kuromiya: The Voices of the Dead, S. 6 – 12, S. 254. Vgl. ferner Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft, Frankfurt am Main 1989, S. 176 – 207, hier: S. 206. Vgl. ferner Mark Harrison: Fact and Fantasy in Soviet Records. The Documentation of Soviet Party and Secret Police Investigations as Historical Evidence, in: Warwick Economics Research Papers Series, Coventry: University of Warwick 1110 (2016) und Paul W. Blackstock: ›Books for Idiots‹: False Soviet ›Memoirs‹, in: Russian Review 25 (1966), S. 285 – 296. Vgl. Gordon Tullock: The Social Dilemma. Of Autocracy, Revolution, Coup d’État, and War, Indianapolis 2005, S. 163 – 173, S. 201 und Edward Luttwak: Coup D’État. A Practical Handbook, New York 1969.Vgl. ferner Joseph Roisman: The Rhetoric of Conspiracy in Ancient Athens, Berkeley 2006 und Victoria Emma Pagán: Conspiracy Narratives in Roman History, Austin 2004. Vgl. Machiavelli: Discorsi, S. 296 und Milan W. Svolik: The Politics of Authoritarian Rule, Cambridge 2012, S. 4 f., S. 53 – 84, spezifizierend S. 149 f.
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Canetti) aus – eine Angst vor der Gefahr, „in der man wäre, wenn die vielen mit dem Tode Bedrohten sich gegen einen zusammenschließen […].“²⁸ Die grundlegenden Züge dieser prekären Allianz haben mit dem Mythos von Damokles Eingang in die kulturelle Tradition gefunden und werden nicht weniger facettenreich in der wohl frühesten Abhandlung über Misstrauen und Verschwörungsangst von Xenophon überliefert.²⁹ In ihr spricht der Tyrann Hiero von den Tücken seiner als unbeschränkt geltenden Herrschaft und beklagt sich wortreich darüber, wie trügerisch doch der Glaube an Treueschwüre seiner Untergebenen sei. Schließlich hätten gerade die vermeintlich loyalsten Mitstreiter Zugang zum Machthaber und seien dadurch stets auch in der Lage, sich des Herrschers zu entledigen.³⁰ Das Paradox ungeteilter Herrschaft besteht folglich in ihrer inhärenten Schwäche: dem Gemisch aus Allmachtstreben bei gleichzeitig notwendiger Machtteilung und dem Zweifel an der Loyalität der Untergebenen.³¹ Bereits enge Weggefährten der sowjetischen Führer erkannten, dass ihre auf Mutmaßungen, Desinformation und Lügen gebaute Herrschaft sie zu Gefangenen der eigenen Schöpfung machte.³² Informationen und Aufklärung fungierten innerhalb dieser Machtarchitektur nicht als Korrektiv, sondern begünstigten vielmehr eine Welt als Wille und Verschwörung.³³ In der vorliegenden Arbeit geht es Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt am Main 2003, S. 364. Vgl. Xenophon: Hiero or Tyrannicus, in: Leo Strauss, On Tyranny, Chicago 2000, S. 3 – 21 und Leo Strauss: Restatement on Xenophonʼs Hiero, in: Ders., On Tyranny, Chicago 2000, S. 177– 214. Die Legende von Damokles wird in seiner klassischen Variante – „o Damocle, quoniam te haec vita delectat […].“ – überliefert von Marcus Tullius Cicero: Tusculanae Disputationes, 5. Buch, Satz 61– 62, in: Olof Gigon (Hg.), Gespräche in Tusculum/Tusculanae Disputationes, Düsseldorf/ Zürich 1998, S. 362. Vgl. Xenophon: Hiero or Tyrannicus.Vgl. zu diesen Überlegungen auch Schmitt: Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Stuttgart 2008. Vgl. Carles Boix/Milan W. Svolik: The Foundations of Limited Authoritarian Government: Institutions, Commitment, and Power-Sharing in Dictatorships, in: The Journal of Politics 75 (2013), S. 300 – 316 und Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, München 2009, S. 146, S. 416 f. Vgl. Anastas Mikojan: Tak bylo. Razmyšlenija o minuvšem, Moskau 1999, S. 552– 558.Vgl. ferner John Mearsheimer: The Tragedy of Great Powers, New York 2001; Stephen Kotkin: Stalin. Waiting for Hitler, 1929 – 1941, New York 2017, S. 124 und Graziosi: The New Soviet Archival Sources; Jonathan Bone: Soviet Controls on the Circulation of Information in the 1920s and 1930s, in: Cahiers du Monde russe 40 (1999), S. 65 – 90. Vgl. Iain Lauchlan: Chekist Mentalité and the Origins of the Great Terror, in: James Harris (Hg.), The Anatomy of Terror, Oxford 2013, S. 13 – 28, hier: S. 21 und J. Arch Getty: The Origins of the Great Purges. The Soviet Communist Party Reconsidered, 1933 – 1938, Cambridge 1985. Vgl. ferner Alexey Tikhomirov: The Regime of Forced Trust. Making and Breaking Emotional Bonds between People and State in Soviet Russia, 1917 – 1941, in: The Slavonic and East European Review 91 (2013), S. 78 – 118.
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um eben diese Auswirkungen, von denen sowohl die Verschwörer des späten Zarenreiches als auch die sowjetische Führung betroffen waren.³⁴ In beiden Fällen erwies es sich nicht als entscheidend, ob die Kommunikation auf etwas rekurrierte, was tatsächlich der Fall war. Entscheidend war, ob die Kommunikation der Gruppe oder dem jeweiligen Netzwerk plausibel erschien und den „süßen Klang“ der Loyalität verbreitete.³⁵ Seien es also die Verschwörer aus dem Untergrund, die Terroranschläge auf den zarischen Staat verübten und stets die konspirative Gegenwehr aus der eigenen Gruppe und damit seitens des Staates fürchteten, oder die Kamarilla um Lenin und später Stalin, die als neue Staatsmacht ihre Souveränität durch Abwehr vermeintlicher Verschwörer – dem Geiste ihrer eigenen Vorläufer verpflichtet – immer wieder bekräftigten.³⁶ Ohne spezifische Konstellationen zu negieren, möchte die vorliegende Arbeit dem methodologischen Umstand Rechnung tragen, dass hinter historischen Erklärungen stets Annahmen über basale menschliche Verhaltensweisen stehen.³⁷ Diesem Anspruch sieht sich insbesondere die Perspektive der politischen Ökonomie verpflichtet. Sie bedeutet seit den ersten Abhandlungen des 17. Jahrhunderts in ihrer grundlegenden Form nichts anderes als die Betrachtung der Politik unter dem Gesichtspunkt von Gesetzmäßigkeiten, die sich aus der Handlungsmotivation der Individuen in ihren jeweiligen Gemeinschaften ableiten lassen.³⁸ Eine ganz ähnliche Handlungsanweisung ist bereits seit der Scholastik bekannt und wird häufig mit dem Philosophen Wilhelm von Ockham in Verbindung ge-
Vgl. als literarisierte Variante Michail Ossorgin: Zeugen der Zeit, Berlin 2016. Vgl. ferner Mark Harrison: One Day We Will Live Without Fear. Everyday Lives Under the Soviet Police State, Stanford/CA 2016 und Andrei Markevich: How Much Control is Enough? Monitoring and Enforcement under Stalin, in: Europe-Asia Studies 63 (2011), S. 1449 – 1468. Von einem „süßen Klang“ lässt Xenophon seinen Hiero sprechen. Vgl. Xenophon: Hiero or Tyrannicus, S. 5. Vgl. ferner zur Logik der Gewalt einerseits Jacob N. Shapiro: The Terroristʼs Dilemma. Managing Violent Covert Organizations, Princeton/Oxford 2013 und andererseits Svolik: The Politics of Authoritarian Rule. Vgl. in diesem Zusammenhang Mancur Olson: The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of Groups, Cambridge 1975; Michael Barkun: Chasing Phantoms. Reality, Imagination, and Homeland Security Since 9/11, Chapel Hill 2011 und Winfried Speitkamp: Gewaltgemeinschaften, in: Christian Gudehus/Michaela Christ (Hg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013, S. 184– 190. Vgl. Wolfgang Sofsky: Systematische und historische Anthropologie. Adnoten zu Hans Medicks ›Quo Vadis historische Anthropologie‹, in: Aloys Winterling (Hg.), Historische Anthropologie, Stuttgart 2006, S. 239 – 244 und Mark Edele: Stalinism as a Totalitarian Society. Geoffrey Hosking’s Socio-Cultural History, in: Kritika 13 (2012), S. 441– 452. Vgl. Lothar Gall: Das Argument der Geschichte, in: Stefan Weinfurter/Frank Martin Siefarth (Hg.), Geschichte als Argument, München 1997, S. 325 – 334 und Michel Foucault: Analytik der Macht, Frankfurt am Main 2005, insbes. S. 156, S. 166 – 170.
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bracht. So sei für die Erklärung eines Phänomens jeweils der sparsamsten von mehreren, womöglich widerstreitenden, Annahmen der Vorrang einzuräumen und der Rest mit einem Rasiermesser abzutrennen.³⁹ Durch den Gebrauch überschaubarer Prämissen sucht dieser Ansatz ebenso tragfähige wie transparente Aussagen über menschliches Verhalten zu treffen.⁴⁰ Für diesen Zugang hat der Sinologe aus Canettis Blendung die keinesfalls allein ironisch intonierte Wendung gefunden: „Wissenschaft ist die Kunst des Übersehens.“⁴¹ Dass Menschen ihr Handeln auf die für sie kalkulierbaren und je situativ günstigsten Resultate hin ausrichten, gilt für den Alleinherrscher und seine Untertanen gleichermaßen. Da Untertanen in der Umgebung eines Alleinherrschers die Kosten mit dem möglichen Nutzen einer Verschwörung verrechnen werden, gehört es zum Machtkalkül eines Alleinherrschers, dieser Berechnung entgegenzuwirken. Er wird also stets eine Akkumulation bei gleichzeitig langfristiger Aufrechterhaltung von Macht anstreben, um die Kosten gegenüber dem möglichen Nutzen einer Verschwörung so hoch zu treiben, dass der Umsturz unattraktiv wird.⁴² Entsprechend wird in dieser Arbeit dafür argumentiert, dass die sowjetische Abrechnung mit tatsächlichen oder vermeintlichen Feinden vor allem die Eskalation einer instrumentellen Überlegung war, die dem Amalgam möglicher Verschwörung und einer zunehmend hermetischen Machtarchitektur entsprang. Im sowjetischen Fall kam hinzu, dass ihre Repräsentanten selbst einer revolutionär-konspirativen Kultur entstammten und daher das systemische Dilemma der Alleinherrschaft auch vor dem Hintergrund dieser Erfahrung konzeptualisierten.⁴³ Einige Forscher haben in der manichäischen Weltsicht der sowjetischen Führer nicht allein einen Ausdruck paranoider Phantasie erkennen wollen, sondern sie als Antwort auf reale Ursachen interpretiert – eine Deutung, die auf schwachen Füßen steht, weil sie die Verlautbarungen des Regimes zu Kronzeu-
Die Methode wurde auf die Formel „Pluralitas non est ponenda sine necessitate“ gebracht. Sie wird zwar mit Wilhelm von Ockham (um 1285 – 1347) verbunden, geht allerdings nicht auf ihn zurück. Vgl. Wolfgang Hübener: ›Occam’s Razor not Mysterious‹, in: Archiv für Begriffsgeschichte 27 (1983), S. 73 – 92. Vgl. ferner David Aaronovitch: Voodoo Histories. How Conspiracy Theory Has Shaped Modern History, London 2010, S. 6 f. Vgl. exemplarisch dazu die Nobelpreis-Rede von Gary S. Becker: The Economic Way of Looking at Life, in: Coase-Sandor Institute for Law & Economics Working Paper 12 (1993), S. 1– 25. Elias Canetti: Die Blendung, Frankfurt am Main 2012, S. 479. Vgl. zur Implikation dieses Kalküls auch die Theorie ›offensive realism‹ bei John Mearsheimer: The Tragedy of Great Powers, New York 2001. Vgl. ferner Tullock: The Social Dilemma, S. 48 – 62. Vgl. etwa zu den Situationen, die Stalin als Attentatsversuche hat einschätzen können Oleg Chlevnjuk: Stalin. Žizn’ odnogo voždja, Moskau 2015, S. 62– 64.
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Macht und Verschwörung. Eine Einleitung
genquellen und geradezu ungefiltert zur historischen Evidenz erklärt.⁴⁴ Entsprechend sehen andere Forscher im Agieren des sowjetischen und insbesondere des stalinistischen Regimes unverkennbar paranoide, geradezu megalomanische Züge.⁴⁵ Etwas zurückhaltender hatte sich Hannah Arendt positioniert, als sie zu bedenken gab, dass sich in totalitären Systemen die Vorstellung der Feindschaft gerade deshalb zu einer der Verschwörung wandelt, da sich mit dem Machtantritt die Ideologie realpolitisch materialisiere.⁴⁶ Im Fahrwasser dieser Interpretation attestierten einige Forscher dem Diktator einen hohen Grad politischen Kalküls bei einer gleichzeitigen Neigung zur Überreaktion.⁴⁷ Der Historiker John Gaddis schließlich hat diesen Irrgarten der Deutungen auf zwei grundlegende Positionen eingegrenzt, als er feststellte, dass der Forschung entweder die Vorstellung eines situational behavior oder eines dispositional behavior zugrunde liege.⁴⁸ Die Betonung systemischer Faktoren der Alleinherrschaft gegenüber denen der Persönlichkeit des Alleinherrschers ist allein schon wegen des Verlangens nach darstellerischer Plastizität, also aus ästhetischen Gründen kompliziert.⁴⁹ So werden historische Ereignisse gelegentlich allzu leichtfertig mit idiosynkratischen Faktoren bestimmter Personen verknüpft und überlagern damit strukturelle Erklärungen.⁵⁰ Natürlich lässt sich autoritären Ordnungen oder Diktaturen
Eine reine Position in diese Richtung vertreten Michael Sayers/Albert E. Kahn: The Great Conspiracy against Russia, New York 1946. Vgl. als seriösere Beispiele Sarah Davies/James Harris: Stalinʼs World. Dictating the Soviet Order, New Haven/London 2014 und Oleg Chlevnjuk: Stalin. Žiznʼ odnogo voždja. Vgl. ferner Michael Barkun: A Culture of Conspiracy. Apocalyptic Visions in Contemporary America, Berkeley/Los Angeles 2003. Vgl. klassisch Robert C. Tucker: Stalin as Revolutionary. 1879 – 1929, New York/London 1974, xi – xx passim.Vgl. ferner Robert C. Tucker: The Soviet Political Mind, New York 1972; Simon Sebag Montefiore: Young Stalin, London 2007 und Simon Sebag Montefiore: Stalin. Am Hof des roten Zaren, Frankfurt am Main 2009. Vgl. Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism, New York/London 1994, S. 470 f. Vgl. Isaac Deutscher: Stalin. Eine politische Biographie, Berlin 1990, S. 765 – 772; van Ree: The Political Thought of Joseph Stalin und Ronald Grigor Suny: Breaking Eggs, Making Omelets. Explaining Terror in Lenin and Stalin’s Revolution, Cambridge 2014. Vgl. John Lewis Gaddis: We Now Know. Rethinking Cold War History, Oxford 1997, S. 20 – 24. Vgl. Andreas Oberender: Annäherungen an einen Unfassbaren. Stalin und seine Biographen, in: Osteuropa 62 (2012), S. 37– 51.Vgl. als Beispiel für Plastizität Sebag Montefiore: Stalin. Am Hof des roten Zaren und als Beispiele, die den Blick auf systemische Faktoren richten, Paul Gregory: Terror by Quota. State Security from Lenin to Stalin, New Haven/London 2009 und Mark Harrison: The Rational-Choice Dictator. A Reply, in: Europe-Asia Studies 58 (2006), S. 1148 – 1154. Auf dieses Problem weist insbesondere die Diktaturforschung hin, die sich der politischen Ökonomie bzw. Rational-Choice-Theorie verpflichtet sieht. Vgl. exemplarisch Barry R. Weingast/ Donald A. Wittman (Hg.): The Oxford Handbook of Political Economy, Oxford 2006. Vgl. ferner die Überlegungen zur ›Terroratio‹ bei Reemtsma: Vertrauen und Gewalt, S. 329 – 451.
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schwerlich die prägende Kraft der sie repräsentierenden Persönlichkeiten absprechen, doch ist, um mit Wolfgang Sofsky zu sprechen, Macht weniger Besitz als Struktur.⁵¹ So folgen ihre Repräsentanten einem Kalkül, das Clausewitz einmal für den Krieg als Verrichtung „in einem bloßen Dämmerlicht“ beschrieben hat.⁵² Um nun dieses Dämmerlicht, die über kontingente Faktoren hinausweisende politische Dynamik zu erhellen, ist es entscheidend, die intrinsische Logik autoritärer Ordnung stets mitzubedenken.⁵³ Wenn sich mit Clausewitz die Strategie politischer Akteure als das berühmte Stochern im Nebel verstehen lässt, weil die Motive des Gegners dunkel und die konkreten Handlungen nicht selten willkürlich wirken, verwundert es nicht, dass Terroristen oder Diktatoren in grellen Farben beschrieben und nicht selten als pathologische Fälle betrachtet werden. Allerdings haben sich dieser Zuschreibungen auch die Terroristen des Zarenreiches und die sowjetischen Führer befleißigt und für ihre jeweiligen Widersacher ebenfalls diese Kategorien gewählt.⁵⁴ Somit zeigt die Anwendung mentaler Zustände auf zweifellos sehr unterschiedliche Akteure, wie problematisch die Überführung einer solchen Rhetorik in das Feld der Wissenschaft ist.⁵⁵ Die vorliegende Arbeit sucht daher nach dem analytischen Nenner, indem sie die spezifische Folgerichtigkeit herrschaftlicher Logik beschreibt, die natürlich durchaus pathologisch erscheinen mag.⁵⁶ Damit wird eine Position jenseits der alten Kontroverse zwischen Vertretern des Totalitarismus und Revisionismus eingenommen. Weder soll dafür argumentiert werden, dass der Gewaltexzess aus der Verbindung von permanenter Feindbestimmung und modernen Mitteln staatlicher Verfolgung erwuchs noch dafür, dass Stalin, gleichsam durch äußere Umstände und instabile parteistaat-
Vgl. Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt am Main 1993, S. 152. Vgl. Carl von Clausewitz: Vom Kriege, München 2000, S. 91– 166, Zitat: S. 109. Vgl. Aloys Winterling: Caligula. Eine Biographie, München 2003, S. 7– 11, S. 175 – 180.Vgl. ferner den Versuch, beide Aspekte wieder stärker zusammenzubringen, bei Stephen Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, 1878 – 1928, New York 2014 und Kotkin: Stalin. Waiting for Hitler. Vgl. exemplarisch Gary Saul Morson: What Is the Intelligentsia? Once More, an Old Russian Question, in: Academic Questions 6 (1993), S. 20 – 38 und James Ryan: Leninʼs Terror. The Ideological Origins of Early Soviet State Violence, London/New York 2012. Vgl. zu diesem Gedanken P. R. Gregori [Paul Gregory]: Nužen li byl Stalin?, in: Fond ›Prezidentskij centr B.N. El’cina‹ (Hg.), Istorija stalisma: Itogi i problemy izučenija, Moskau 2011, S. 10 – 20 und Michael David-Fox: On the Primacy of Ideology. Soviet Revisionists and Holocaust Deniers (In Response to Martin Malia), in: Kritika 5 (2004), S. 81– 105. Vgl. Theodore H. von Laue: Why Lenin? Why Stalin? Why Gorbachev? The Rise and Fall of the Soviet System, New York 1993 und Leo Strauss: Restatement on Xenophonʼs Hiero, in: Ders., On Tyranny, Chicago 2000 und Elias Canetti: Masse und Macht, S. 516 – 549
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liche Institutionen geschwächt, zu einer reaktiven Gewalt getrieben wurde.⁵⁷ Demgegenüber wird dafür argumentiert, dass die Gewalt zwar aus der fortwährenden Feindbestimmung erwuchs, diese jedoch aus der Antizipation widerständigen Verhaltens und potenzieller Verschwörungen entsprang, die anzunehmen wiederum durchaus plausibel war.⁵⁸ Somit wird hier nicht, wie es wirkmächtig von Gábor Rittersporn vertreten worden ist, davon ausgegangen, dass ein gleichsam unbeugsamer Glaube an Verschwörungsszenarien a priori existiert habe.⁵⁹ Vielmehr, so die zentrale Annahme, war es die in der erratischen Herrschaftsform liegende Potenzialität, die virulente Möglichkeit einer Verschwörung, die eine Wirklichkeit eigenen Typs schuf.⁶⁰ In dieser Wirklichkeit wurde der Herrscher – wie Hiero – ebenso zum Antreiber wie Gefangenen der eigenen Macht. So wird es im Folgenden um die Dynamik eines Verschwö Als klassische Bestimmung siehe Arendt: Totalitarianism, S. 322 passim und Carl J. Friedrich/ Zbigniew K. Brzezinski: Totalitarian Dictatorship and Autocracy. Second Edition, Revised by Carl J. Friedrich, Cambridge 1965. Vgl. ferner Martin Wagner: Revisionismus. Elemente, Ursprünge und Wirkungen der Debatte um den Stalinismus ›von unten‹, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 66 (2018), S. 651– 681; die Sondernummern der Russian Review: The Russian Review 45 (1986) und The Russian Review 46 (1987); Graeme Gill: The Origins of the Stalinist Political System, Cambridge 1990 und Michael Geyer/Sheila Fitzpatrick (Hg.): Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared, Cambridge 2009. Vgl. Peter Holquist: State Violence as Technique:The Logic of Violence in Soviet Totalitarianism, in: David Lloyd Hoffmann (Hg.), Stalinism. The Essential Readings, Malden 2003, S. 128 – 156; Peter Holquist: ›Information Is the Alpha and Omega of Our Work‹: Bolshevik Surveillance in Its Pan-European Context, in: Journal of Modern History 69 (1997), S. 415 – 450 und Karl Schlögel: Utopie als Notstandsdenken – einige Überlegungen zur Diskussion über Utopie und Sowjetkommunismus, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 77– 96. Vgl. dazu klassisch Gábor T. Rittersporn: The Omnipresent Conspiracy. On Soviet Imagery of Politics and Social Relations in the 1930s, in: J. Arch Getty/Roberta T. Manning (Hg.), Stalinist Terror. New Perspectives, Cambridge 1993, S. 99 – 115 und Gábor T. Rittersporn: Anguish, Anger, and Folkways in Soviet Russia, Pittsburgh 2014, S. 23 – 30. Auch Oleg Chlevnjuk und Hiroaki Kuromiya argumentieren in diese Richtung, da sie dem Argument einer vermeintlichen ›Fünften Kolonne‹ durchaus Plausibilität zusprechen. Vgl. exemplarisch Oleg Khlevniuk: The Objectives of the Great Terror, 1937 – 1938, in: David Lloyd Hoffmann (Hg.), Stalinism. The Essential Readings, Malden 2003, S. 82– 104 und Hiroaki Kuromiya: Accounting for the Great Terror, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 53 (2005), S. 86 – 101. Vgl. Norman Cohn: Europeʼs Inner Demons. An Enquiry Inspired by the Great Witch-Hunt, Sussex/London 1975 und Hiroaki Kuromiya: Stalinʼs Great Terror and International Espionage, in: The Journal of Slavic Military Studies 24 (2011), S. 238 – 252. Vgl. ferner Stefan Plaggenborg: Staatlichkeit als Gewaltroutine. Sowjetische Geschichte und das Problem des Ausnahmezustands, in: Alf Lüdtke/Michael Wildt (Hg.), Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes, Göttingen 2008, S. 117– 144 und Günter Frankenberg: Staatstechnik. Perspektiven auf Rechtsstaat und Ausnahmezustand, Berlin 2010, S. 190.
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rungsdenkens gehen, dass sich im späten Zarenreich entfaltete und schließlich als kultureller Boden und Bezugspunkt für das sowjetische Regime präsent bleiben sollte. Die Verbindung und historische Interaktion von Terrorismus, Staatsterror und Verschwörungsangst ist im Falle des späten Zarenreichs und der Sowjetunion bemerkenswert.⁶¹ Beide Perioden verband nicht zuletzt die Gewohnheit der Machthaber, sich den Untertanen in Parks oder auf offener Straße zu zeigen, und Warnungen ihrer Umgebung immer wieder in den Wind zu schlagen.⁶² Allen Beteiligten war jedoch klar, dass diese Demonstration der Macht zugleich sichtbarer Ausdruck ihrer Verletzlichkeit war.
Aufbau und Quellen Die Zeit Alexanders II. fand als heroische Epoche der Konspiration Eingang in das kollektive Gedächtnis. Nicht allein, weil sie den Beginn des revolutionären Aufbruchs markierte und es einer Handvoll von Verschwörern gelungen war, die etablierte Ordnung zu erschüttern, sondern auch, weil die Bolschewiki sich als Vollender dieses Erbe verstanden.⁶³ So wurden die Verschwörer der Vergangenheit zunächst als Helden gefeiert, wobei Lenin insbesondere ihre Machttechnik schätzte, ihnen in theoretischer Hinsicht indes äußerst skeptisch gegenüberstand.⁶⁴ Mit zunehmender Machtfülle sollte Stalin allerdings bald immer häufiger die Warnung ausgeben, dass sich derjenige, der die Narodnaja Volja zum Vorbild erkläre, doch nur Terroristen heranziehe.⁶⁵ Es war folglich weniger das sprunghafte Milieu marodierender Banden und Gewalttäter der Zeit Alexanders II. oder
Vgl. exemplarisch RGASPI, Fond 77, op. 1, d. 434, l. 5 und RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 583, ll. 274– 275; Vasilij F. Antonov: Narodničestvo v Rossii. Utopija ili otvergnutye vozmožnosti, in: Voprosy istorii 1 (1991), S. 5 – 19; Nadeschda Mandelstam: Das Jahrhundert der Wölfe. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 1970, S. 278 und den Roman zum Thema von Serge: Die große Ernüchterung. Vgl. exemplarisch zu Zar Alexander II. und Stalin die Beschreibungen bei Richard Wortman: Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. Vol. 2, Princeton 2000, S. 110 und Feliks Čuev: Tak govoril Kaganovič. Ispoved’ stalinskogo apostola, Moskau 1992, S. 190 f. Vgl. James Frank Goodwin: The Afterlife of Terrorists. Commemorating the Peopleʼs Will in Early Soviet Russia, in: Anthony Anemone (Hg.), Just Assassins, Evanston/IL 2010, S. 229 – 246 und Kuromiya: The Voices of the Dead, S. 255. Vgl. ferner die Erzählung ›Das beste Lob‹ in Warlam Schalamow: Linkes Ufer. Erzählungen aus Kolyma 2, Berlin 2009, S. 96 – 115. Vgl. David Allen Newell: The Russian Marxist Response to Terrorism, 1878 – 1917, Stanford University 1981, S. 168 – 223. Vgl. „[…] esli my na narodovolʼcach budem vospityvatʼ našich ljudej, to vospitaem terroristov […].“ RGASPI, Fond 77, op. 1, d. 434, l. 5.Vgl. ferner Yuri Slezkine: The House of Government. A Saga of the Russian Revolution, Princeton/Oxford 2017, S. 592.
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der Jahre 1905 – 1907, das die sowjetischen Funktionäre irritierte, sondern eher die kühl geplante Verschwörung, die sie schließlich selbst erst an die Macht gebracht hatte.⁶⁶ Nicht zuletzt deshalb wollte Stalin nach dem Mord an Sergej Kirov endgültig ein bisher positiv konnotiertes Gedenken an die vorrevolutionäre Zeit unterbinden.⁶⁷ Im ersten Teil der Arbeit wird es um eben diese heroische Epoche – Das goldene Zeitalter der Konspiration – gehen. Dabei wird sich zeigen, dass die Revolutionäre des späten Zarenreichs keinesfalls die idealistischen Träumer waren, als die sie sich selbst gerne ausgaben und die später auch die Forschung in ihnen zu erkennen glaubte oder hoffte. Vielmehr wird dieser Teil der Arbeit das Milieu junger Verschwörer und die besondere Dynamik angesichts eines vermeintlich übermächtigen Staates beschreiben und verdeutlichen, dass die Konzentration auf den Umsturz wenig Raum für Reflexion ließ und die Entschlossenheit, mit der die Souveränität des zarischen Staates in Frage gestellt wurde, ein Zweck an sich war.⁶⁸ Gerade deshalb wurde diese Generation für die späteren bolschewistischen Machthaber ebenso zum Bezugspunkt wie zum Objekt der Verachtung. Den unmittelbaren Erfahrungshorizont dieser Ambivalenz, der im zweiten Teil der Arbeit behandelt wird, bilden die Jahre vom Attentat auf Alexander II. bis zur Revolution von 1917. Nachdem der zarische Staat sich zunächst wieder ins Spiel bringen und die Revolutionäre relativ erfolgreich zurückdrängen konnte, sollte es ausgerechnet einer Gruppe, die lange Zeit von marginaler Bedeutung gewesen war, gelingen, mit Entschlossenheit dem historischen Lauf eine neue Wendung zu geben. Somit gingen die Bolschewiki aus den Ereignissen des Jahres 1917 gleichermaßen als Nachlassverwalter der alten Ordnung und des revolutionären Erbes hervor. Gemäß Lenins Bekenntnis, dass Sentimentalität ein Verbrechen sei, sahen sie sich nunmehr mit dem Dilemma der Alleinherrschaft und den Geistern ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert und sollten die Macht der Verschwörung in ihrer doppelten Bedeutung zur Politik erheben.
Vgl. zu dem Zeitraum 1905 – 1907 als „Epoche der Gewalt“ Peter Holquist: Violent Russia, Deadly Marxism? Russia in the Epoch of Violence, 1905 – 21, in: Kritika 4 (2003), S. 627– 652. Vgl. ferner Lutz Häfner: Die Bombe als ›Notwendigkeit‹: Terrorismus und die Debatten der Staatsduma um die Legitimität politischer Gewalt, in: Walter Sperling (Hg.), Jenseits der Zarenmacht, Frankfurt/New York 2008, S. 433 – 461. Vgl. Antonov: Narodničestvo v Rossii. Vgl. zur ›zweiten‹ Generation der Terroristen Anna Geifman: Thou Shalt Kill. Revolutionary Terrorism in Russia, 1894 – 1917, Princeton/New York 1993; Joan Neuberger: Hooliganism. Crime, Culture, and Power in St. Petersburg, 1900 – 1914, Berkeley 1993 und Jörg Baberowski: Das Handwerk des Tötens. Boris Sawinkow und der russische Terrorismus, in: Comparativ 23 (2013), S. 75 – 90. Julija Safronova: Russkoe obščestvo v zerkale revoljucionnogo terrora. 1879 – 1881 goda, Moskau 2014, S. 254– 295.
Aufbau und Quellen
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Der dritte Teil der Arbeit – Das Phantom der Souveränität – widmet sich der Etablierung sowjetischer Herrschaft aus dem Geist der Unordnung. Das Attentat auf den deutschen Gesandten, Graf Mirbach, und das Attentat auf Lenin offenbarten eindrücklich die Fragilität der neuen Ordnung. Die frühen Schauprozesse gegen die Sozialrevolutionäre und die Ingenieure von Šachty zeigen, inwiefern aus dieser Schwäche allmählich Macht wurde. Mit der Niederschlagung der letzten Kräfte offener Opposition und der Zunahme von Stalins Machtfülle allerdings sollte das Verschwörungsdenken nur weiter zunehmen. Es verdankte seine Nahrung vor allem dem Umstand, dass die sowjetischen Führer sich zunehmend dem zwiespältigen Klang der Loyalität ausgesetzt sahen, sie angesichts dieser Lage jedoch nur mit umso verschlageneren Feinden rechneten. Daher wird es im letzten Teil der Arbeit – Der Kampf gegen den sterblichen Gott – um den dynamischen Zusammenhang von Machtanspruch, Machtausbau und drohendem Kontrollverlust gehen. Die Verschwörungen der frühen 1930er Jahre, mit denen das Regime vor dem Hintergrund der Kollektivierung abrechnete, zeigen, wie nunmehr die Szenarien an den Erfahrungen vergangener Verschwörungen plausibilisiert wurden und eine Wirklichkeit eigener Ordnung entstand. Es waren nicht einfach zynische Erfindungen der sowjetischen Ordnung, sondern Erzählungen, die sich der ganz spezifischen Logik dieses Systems verdankten. Gerade die Erinnerung an das revolutionäre Erbe, die Feierlichkeiten zum 50jährigen Jubiläum der Narodnaja Volja im Jahre 1929, stehen sinnbildlich für diesen Zusammenhang. Standen die revolutionären Vorläufer doch für die verehrte Tradition ebenso wie für die Gefahr der Verschwörung, die den neuen Machthabern mit dem Mord an Kirov 1934 und die bewusste Bezugnahme des Attentäters auf eben diese Tradition vor Augen geführt worden war. Der alternde Machthaber schließlich, die sogenannte Leningrader Affäre und das besondere Problem der Nachfolge bilden den Endpunkt der vorliegenden Arbeit. Somit wird das allgemeine Problem autoritärer Herrschaft am Beispiel sowjetischer Ordnung illustriert. Dabei werden bewusst zentrale Ereignisse dieser Geschichte in den Blick genommen, um zu ermessen, ob sich dieser Ansatz bewährt. In der Arbeit geht es um die Metastasen eines Verschwörungsdenkens, das im späten Zarenreich zur Blüte kam und später die zur Macht gekommenen Verschwörer selbst heimsuchen sollte. Sie waren somit nicht nur ihrer eigenen Tradition ausgesetzt, sondern zugleich auch der systemischen Anfälligkeit der Alleinherrschaft für Verschwörungsdenken. Der Blick wird vornehmlich nach innen, auf die Staatsspitze gerichtet und fängt allein aus dieser Perspektive die außenpolitische Dimension ein. So spielen etwa auch die nationalen Operationen des Zweiten Weltkriegs, während derer bekanntlich Verschwörungsszenarien massiven Ausmaßes grassierten, keine Rolle; zumal sich an den Szenarien lediglich bekannte Mechanismen unter den Bedingungen des Krieges erkennen lassen.
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Macht und Verschwörung. Eine Einleitung
Auch der ›Große Terror‹ der Jahre 1930er Jahre wird nicht eigens ausführlich behandelt, sondern im Sinne der hier verfolgten Interpretation als besonders drastische Ableitung bereits zuvor etablierter Muster gedeutet. Terroristische Attentate sind Kommunikation, Verschwörungen sind Lautsprecher. Ihr Auftreten erlangt denn auch zumeist welthistorische Bedeutung.⁶⁹ Nicht weniger Wirkung als die erfolgreiche Verschwörung kann allerdings auch von den präemptiv ergriffenen Maßnahmen ausgehen, mit denen sich die politische Ordnung vor der Gefahr zu schützen sucht.⁷⁰ Dabei lässt sich die darin liegende Willkür durchaus auch als erfolgreicher Umgang mit der potenziellen Gefahr verstehen. In diesem Zwischenreich, zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen der Vorderbühne offizieller Politik und ihrer Gewalt, und der Hinterbühne, auf der die Vorstellungen der Akteure ihr Recht fordern, findet die Geschichte von Verschwörungsdenken und Machtkalkül statt. Von diesem Reich handelt die vorliegende Arbeit.⁷¹ Für diese Arbeit wurde auf diverse unveröffentlichte und veröffentlichte Quellenbestände zurückgegriffen. Es wurden programmatische Schriften, Gerichtsakten, Protokolle, Geheimdienst-Archivalien, Korrespondenzen, Nachlässe führender Politiker, Tagebücher und Erinnerungen, Zeitungsberichte und Periodika ausgewertet. Insbesondere in Moskau wurden die Bestände aus dem Russländischen Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte (RGASPI), aus dem Staatsarchiv der Russländischen Föderation (GARF) und dem Russländischen Staatsarchiv für die neueste Geschichte (RGANI) recherchiert. Die einzelnen Bestände werden im Literaturverzeichnis aufgeführt. Ferner erwiesen sich etwa die Nachlässe von Vladimir Burcev und Ekaterina Breško-Breškovskaja oder die Boris Nicolaevsky Collection, die sich allesamt in der Hoover Institution on War, Revolution and Peace (HIA) an der Stanford University befinden, als sehr aufschlussreich. Schließlich sei noch auf die Dmitri Volkogonov Papers, die sich in der Library of Congress in Washington befinden, verwiesen. Die Umschrift russischer Begriffe, Namen und Orte folgt in der Regel der wissenschaftlichen Transliteration. Nach Dudenumschrift werden Bezeichnungen
Vgl. Carola Dietze: Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA 1858 – 1866, Hamburg 2016. Vgl. etwa The U.S. Army and Marine Corps (Hg.): Counterinsurgency Field Manual, Chicago/ London 2007; Wolfgang Sofsky: Operation Freiheit. Der Krieg im Irak, Frankfurt am Main 2003 und Greiner: 9/11. Klassisch dazu Arno J. Mayer: The Furies. Violence and Terror in the French and Russian Revolutions, Princeton/New Jersey 2000, S. 4, S. 7, S. 17, S. 23 passim. Vgl. zur Unterscheidung von Vorder- und Hinterbühne Erving Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life, Edinburgh 1956.
Aufbau und Quellen
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transkribiert, wenn ein in der Lautung eigenständiger deutscher Name existiert bzw. wenn es sich um im Deutschen gebräuchliche Begriffe handelt (etwa Moskau, Kreml, Zarennamen, Trotzki, Bolschewiki, Sowjet, Zentralkomitee, Politbüro). Abweichungen von der wissenschaftlichen Transliteration können sich auch durch Zitate ergeben. Personen werden bei der ersten Nennung mit Vor- und Nachnamen aufgeführt, danach wird nur noch der Nachname genannt. Sofern nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen vom Verfasser. Alle Datumsangaben ab Februar 1918 folgen dem gregorianischen Kalender.
Das goldene Zeitalter der Konspiration Die Gerechtigkeit ist das größte Übel auf der Welt. Weil es sie nämlich nicht gibt. […] Der Alte verließ diese Welt gelassen. Seine Gerechtigkeit würde er jenseits des Irdischen finden. Aber der, der nicht die geringste Hoffnung hatte dort hinzukommen, dessen Leben nur den einen Sinn hatte, die Gerechtigkeit hienieden zu verwirklichen: Was sollte der tun? Jurij Trifonow, Die Zeit der Ungeduld¹
1. Reform und Revolution Als Cato im Senat seinen Mitstreitern das Ausmaß der Catilinarischen Verschwörung vor Augen führte, machte er unmissverständlich deutlich, dass im Falle revolutionärer Umtriebe einzig die harte Hand des Staates zum Erfolg führen könne. Zögerliches Abwarten hingegen käme einer Bankrotterklärung gleich.² Ganz ähnlich sollten viele Jahrhunderte später Interpreten der revolutionären Ereignisse des 18. Jahrhunderts argumentieren. Alexis de Tocqueville etwa schildert in seinem Buch Der alte Staat und die Revolution seine Skepsis gegenüber revolutionären Bestrebungen. Seine Analyse sah er auf der Erfahrung fußen, „daß der gefährlichste Augenblick für eine schlechte Regierung der ist, wo sie sich zu reformieren“ beginne, führt der König doch nur noch die Sprache des Gebieters, gehorche in Wahrheit aber einer öffentlichen Meinung. Für Tocqueville stand fest, dass die Gefahr eines Aufstandes keineswegs vom Volk ausgehe, sondern „von der Regierung, von deren vornehmsten Vertretern, von den Privilegierten selbst“ im Namen einer abstrakten Vorstellung davon, woran es dem Volk mangele.³ Als Tocqueville diese Gedanken niederschrieb, rumorte es bereits in Russland. Während einige Forscher das Jahr 1848 als entscheidendes Ereignis für den revolutionären Aufbruch hervorheben, gilt anderen der Aufstand der Dekabristen 1825 als Schlüsselereignis. Wieder andere sehen in dem ersten Attentat auf Alexander II. von 1866 die Geburtsstunde einer qualitativ neuen Bewegung.⁴
Jurij Trifonow: Die Zeit der Ungeduld, Bern/München 1975, S. 54, S. 61. Sallust: Die Verschwörung Catilinas. Catilinae Coniuratio, Düsseldorf/Zürich 2003, S. 79 – 81. Alexis de Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution, Münster o. J., S. 210, S. 208, S. 214. Ähnlich argumentierte auch Tocquevilles Generationsgenosse, der Staatsphilosoph Juan Donoso Cortés. Vgl. dazu Waldmann: Terrorismus, S. 50. Isaiah Berlin: Russian Thinkers, London 2013; Anke Hilbrenner: Gewalt als Sprache der Straße. Terrorismus als Form der politischen Kommunikation im Russischen Reich vor 1917, Bonn 2014; Claudia Verhoeven: Time of Terror, Terror of Time. On the Impatience of Russian Revolutionary https://doi.org/10.1515/9783110619287-003
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Obgleich für all diese Daten unleugbar unterschiedliche Ereignisse stehen, lag die jeweils neue Qualität darin, dass nun nicht mehr eine Hofkamarilla den Machtkampf unter sich ausmachte, sondern die etablierte Macht mit moralischen Forderungen bedrängt wurde. So folgte auf die allmähliche Öffnung der Macht nicht nur Kritik, sondern auch die Erkenntnis, dass den Untertanen eine entscheidende Machtressource zur Verfügung stand – die geheime Verabredung zur politischen Tat.⁵ Es war also nicht so sehr die Entwicklung vom revolutionären Gedankengut zum Terrorismus, wie es immer wieder zu lesen und in dem griffigen Topos ›Väter und Söhne‹ inzwischen kulturgeschichtlich verankert ist. Vielmehr war der Wille zur Tat, zur Konspiration, bereits von Beginn an eine treibende Kraft der gesamten revolutionären Phase, spätestens aber seit 1825.⁶ Somit ist eher davon zu sprechen, dass sich libertäres Gedankengut und revolutionäre Zirkelbildung komplementär zueinander festzusetzen begannen, zumal politische Agitation innerhalb der zarischen Ordnung letztlich gar nicht anders als im Geheimen stattfinden konnte.⁷ Nicht zuletzt deshalb sah etwa Alexander Herzen, einer der Begründer des russischen Populismus, gerade in François Noël Babeuf nicht nur einen Vorkämpfer des Sozialismus, sondern auch einen wesentlichen Impulsgeber konspirativer Aufstandstaktik.⁸ Von seinem Vater Nikolai I. hatte Zar Alexander II. nicht nur die Erfahrung des Dekabristenaufstands und die als Reaktion auf den Aufstand wenige Monate später eingerichtete Geheimpolizei, die berüchtigte ›III. Abteilung seiner kaiserlichen Majestät eigenen Kanzlei‹ geerbt, sondern auch ein außenpolitisch angeTerrorism (Early 1860s – Early 1880s), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58 (2010), S. 254– 273; Stephen A. Smith: Russia in Revolution. An Empire in Crisis, 1890 to 1928, Oxford 2017, S. 42 und Anthony Anemone: Introduction. Just Assassins?, in: Ders. (Hg.), Just Assassins, Evanston 2010, S. 3 – 23, hier: S. 6 f. Vgl. allgemein zum Thema ›Anfänge‹ in der Geschichte Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Ders., Das Geschichtswerk. Band I, Frankfurt am Main 2007, hier: S. 767. So manifestierte sich in diesen Jahren auf exemplarische Weise, was Reinhart Koselleck für die absolutistische Welt herausgearbeitet hat.Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/München 1973. Vgl. exemplarisch E. L. Rudnickaja (Hg.): Revoljucionnyj radikalizm v Rossii. Vek devjatnadcatyj, Moskau 1997, S. 300. Vgl. ferner HIA, Nicolaevsky Collection, Box 161, Folder 5. Vgl. klassisch Franco Venturi: Roots of Revolution. A History of the Populist and Socialist Movements in 19th Century Russia, London 2001 oder zuletzt Hilbrenner: Gewalt als Sprache der Straße. Für die hier vorgeschlagene Argumentation vgl. Oleg V. Budnickij: Terrorizm v rossijskom osvoboditel’nom dviženii: ideologija, ėtika, psichologija (vtoraja polovina XIX – načalo XX v.), Moskau 2000, bes. S. 45. Vgl. zu Herzen und Babeuf Edward Acton: Alexander Herzen and the Role of the Intellectual Revolutionary, Cambridge 1979.
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schlagenes Reich.⁹ Als der Krimkrieg im ersten Jahr seiner Regentschaft in einem militärischen Desaster endete, glaubte die zarische Elite dem drohenden Zerfall der Autokratie nur mit einem ambitionierten Modernisierungsprogramm begegnen zu können. Die innenpolitische Erneuerung unter Alexander II. resultierte folglich aus einer pragmatischen Anerkennung politischer Gegebenheiten. Allerdings waren die Reformbestrebungen nicht allein eine Reaktion auf die militärische Niederlage, sondern auch Ergebnis einer viel älteren Entwicklung, die mit der Etablierung moderner Staatlichkeit in Russland verbunden ist. Gemeinhin wird in diesem Zusammenhang an die Epoche Peters des Großen erinnert. Die Einführung der Rangtabelle 1722 war dabei ein entscheidender Schritt hin zur Modernisierung des Staatswesens. Indes fiel es den nachfolgenden Herrschern zu, den eingeschlagenen Weg zu befestigen. So ging etwa Katharina II. daran, das russische Universitätsleben zu entfalten und 1775 die Gouvernementsverwaltung zu reformieren. Dort, wo Institutionen fehlten und ein Mangel an geeignetem Personal herrschte, wurden die späteren Staatsdiener für die Ausbildung ins Ausland geschickt. Auf diese Weise wurde „Peter der Große zum Vorbild aller in den Westen strömenden Russen, die auf der Suche nach Verbesserung und Aufklärung waren. Der Reise Peters folgten daher in den nächsten 200 Jahren viele Russen – die Söhne der Petersburger Adligen besuchten die Universitäten in Paris, Göttingen und Leipzig.“¹⁰ Zar Alexander I. etablierte das bis 1917 bestehende System der Ministerien, deren oberste Repräsentanten fortan allein vom Regenten bestimmt und ihm gegenüber verantwortlich waren. Durch die Ministerien war der Grundstein einer funktional-differenzierten Bürokratie gelegt, in der später jene aufgeklärten Beamten saßen, die für den Reformprozess der 1860er Jahre eine so wichtige Rolle spielen sollten.¹¹ Bereits Nikolai I. empfand allerdings diese neue Verwaltungsstruktur als unangenehme Einschränkung. Auf der einen Seite sah er sich von den Ideen bedrängt, die nun unaufhörlich aus dem Westen eindrangen und bei
Vgl. Ludmilla A. Trigos: Historical Models of Terror in Decembrist Literature, in: Anthony Anemone (Hg.), Just Assassins, Evanston 2010, S. 25 – 52; Nikolaus Katzer: Der gescheiterte Staatsstreich des aufgeklärten Adels. Der Dekabristenaufstand von 1825 in Rußland, in: Uwe Schultz (Hg.), Große Verschwörungen, München 1998, S. 175 – 192 und Sidney Monas: The Third Section. Police and Society in Russia under Nicholas I., London 1961. Orlando Figes: Nataschaʼs Dance. A Cultural History of Russia, London 2002, S. 61. Vgl. auch Jan Kusber: Katharina II., das Russländische Imperium und die Bildung seiner Untertanen, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 56 (2008), S. 358 – 378. Ausführlich dazu George L. Yaney: The Systematization of Russian Governemt. Social Evolution in the Domestic Administration of Imperial Russia, 1711 – 1905, Urbana 1973. Vgl. Larisa Zakharova: The Reign of Alexander II. A Watershed?, in: Dominic Lieven (Hg.), The Cambridge History of Russia, Cambridge 2006, S. 593 – 616.
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liberalen Denkern der russischen Öffentlichkeit auf äußerst fruchtbaren Boden fielen. Auf der anderen Seite empfand er die Bürokratie, die sich seit Peter allmählich entwickelt hatte, zunehmend als eine Bedrohung, geradezu als Aushöhlung der Autokratie von innen.¹² Der spezifisch russische Konflikt bestand folglich darin, dass der Staat eine Beamtenschaft hervorgebracht hatte, deren Geist dem aufgeklärten westlichen Standard genügen sollte, sich gerade deshalb jedoch mit dem autokratischen Machtmodell immer weniger vereinbaren ließ. Viele Beamte hatten die revolutionären und aufständischen Bestrebungen im westlichen Europa erlebt und ein Gefühl dafür bekommen, was es hieß, wenn eine Öffentlichkeit auf die eigene Regierung Druck aufzubauen begann. Eben diese jungen Beamten wollten nicht mehr nur abstrakte Ideale mit sich herumtragen, sondern sie in ihrer konkreten beruflichen Praxis geprüft und angewandt sehen. So machen erst die tiefe Verunsicherung des autokratischen Staates nach dem Krimkrieg auf der einen und ein beratendes Umfeld aufgeklärter Beamter am Hof des Zaren auf der anderen Seite die Entwicklungen der Jahre nach 1856 verständlich.¹³ In seiner berühmten Moskauer Rede vom März 1856 gab Alexander II. bekannt, dass es besser sei, die Leibeigenschaft von oben abzuschaffen, als von einer Befreiung von unten überrumpelt zu werden. Die Rede markiert den Beginn einer Ära, die dem Zar das Attribut ›Befreier‹ einbrachte und die gelegentlich als Zeit beschrieben worden ist, in der eines der größten staatlich gelenkten Sozialprojekte vor dem 20. Jahrhundert angestoßen wurde.¹⁴ Seinen Beinamen verdankt Alexander in erster Linie der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861, die auf den ersten Blick die Einrichtung lokaler Selbstverwaltungskörperschaften
Vgl. Zhand P. Shakibi: Central Government, in: Dominic Lieven (Hg.), The Cambridge History of Russia, Cambridge 2006, S. 429 – 448, hier: S. 439. Vgl. ausführlich zur entstehenden Bürokratie Bruce W. Lincoln: In the Vanguard of Reform. Russiaʼs Enlightened Bureaucrats 1825 – 1861, DeKalb 1982. Vgl. Dietrich Beyrau: Einführung. Rußland und der Westen, in: Dietrich Beyrau/Igor’ Čičurov/ Michael Stolleis (Hg.), Reformen im Rußland des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1996, S. 1– 23. Vgl. zur Diskussion des im russischen Kontext schillernden Begriffs ›Gesellschaft‹ (obščestvo) exemplarisch Dietrich Geyer: ›Gesellschaft‹ als staatliche Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekte des russischen Behördenstaates im 18. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland, Köln 1975, S. 20 – 52. Vgl. Larissa Zakharova: Autocracy and the Reforms of 1861 – 1874 in Russia. Choosing Paths of Development, in: Ben Eklov/John Bushnell/Larissa Zakharova (Hg.), Russia’s Great Reforms, 1855 – 1881, Bloomington 1994, S. 19 – 39, hier: S. 20.
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(zemstva) oder die Durchführung einer Justizreform seit 1864 und ein ganzes Bündel kleinerer Reformen in den Schatten stellte.¹⁵ Mit den Gesetzen zur Bauernbefreiung 1861– 1863 erhielten Schätzungen zufolge 80 bis 85 Prozent der russischen Bevölkerung, von denen etwa die Hälfte als Staatsbauern und die andere Hälfte als Leibeigene arbeiteten, einen zivilen Status und formal die Unabhängigkeit von ihren Herren.¹⁶ Die Hoffnung der Bauern jedoch, mit der Freiheit (volja) endlich auch das Land (zemlja) zu erhalten, das sie bearbeiteten und daher als ihres betrachteten, wurde schnell enttäuscht. Der Befreiungsprozess gestaltete sich kompliziert und die gesetzlich erlassene Befreiung der Bauern von ihren Herren zeitigte für die meisten von ihnen kaum wahrnehmbare Auswirkungen. Die Landvergabe war entweder zu knapp bemessen oder verlief aufgrund der Pflicht, für das empfangene Land eine Ablösezahlung zu entrichten oder Frondienste zu leisten, nur zögerlich.¹⁷ Übersteigerte Erwartungen der Bauern, Missverständnisse und von Aufwieglern und Verschwörern bewusst geweckte Hoffnungen führten besonders in den ersten Jahren nach dem Erlass des Befreiungsstatuts immer wieder zu Bauernunruhen. Dadurch sah sich der zarische Staat einer neuen Dimension politischer Bedrohung ausgesetzt. Denn zu dem traditionell schwachen Einfluss der Autokratie auf Gouvernementsebene und vor allem darunter kam nun erschwerend hinzu, dass mit der Bauernbefreiung der adlige und damit auch autokratische Einfluss auf dem Lande vermindert, zugleich aber die Dringlichkeit einer funktionalen Verwaltung erhöht worden war. Somit verschärften die rund 22 Millionen ehemaligen Leibeigenen die seit jeher schwelenden Provinzkonflikte.¹⁸ Um den staatlichen Machtanspruch zu untermauern und die ländliche Modernisierung voranzutreiben, ordnete Alexander II. 1864 per Dekret die Einrich-
Vgl. exemplarisch Ben Eklov/John Bushnell/Larissa Zakharova (Hg.): Russia’s Great Reforms, 1855 – 1881, Bloomington 1994 und Bruce W. Lincoln: The Great Reforms. Autocracy, Bureaucracy, and the Politics of Change in Imperial Russia, DeKalb 1990. Vgl. zu den Zahlen Frank W. Thackeray: The Great Reforms, 1861 – 1881, in: Ders. (Hg.), Events that Changed Russia Since 1855, Westport 2007, S. 1– 6, hier: S. 3 und David Moon: Peasants and Agriculture, in: Dominic Lieven (Hg.), The Cambridge History of Russia, Cambridge 2006, S. 369 – 393. Vgl. dazu Jerome Blum: Lord and Peasant in Russia. From the Ninth to the Nineteenth Century, Princeton 1972, S. 575 – 600; Alexander Gerschenkron: Economic Backwardness in Historical Perspective. A Book of Essays, Cambridge 1962, S. 119 – 151 und Jeffrey Brooks: When Russia Learned to Read, S. 3 – 34. Vgl. ausführlich zur Bauernbefreiung Daniel Field: The End of Serfdom. Nobility and Bureaucracy in Russia, 1855 – 1861, Cambridge 1976 und Blum: Lord and Peasant in Russia, S. 504– 562.
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tung lokaler Selbstverwaltungsorgane auf Gouvernements- und Kreisebene an.¹⁹ Diese formal allständisch konzipierten Körperschaften sollten die Lücke zwischen der zentralen Regierungsbürokratie und der Dorfgemeinde schließen. Ihre Aufgaben lagen insbesondere im Gesundheits-, Bildungs-, und Ingenieurswesen, sodass sie für den Straßen- und Brückenbau, den Unterhalt von Krankenhäusern und Schulen verantwortlich waren. Die Aufsicht über diese Bereiche brachte es mit sich, dass für die tägliche Arbeit eine nicht geringe Zahl von Akademikern und Fachleuten, unter ihnen Lehrer, Feldschere, Ärzte, Veterinäre, Statistiker, Ingenieure, Buchhalter und Schreiber beschäftigt werden mussten.²⁰ Sie waren nun die unmittelbaren Ansprechpartner vor Ort und direkt mit den Problemen konfrontiert. Es verwundert denn auch nicht, dass gerade in diesem Milieu eine junge und protestbereite Schicht heranwuchs.²¹ Die gesellschaftliche Bewegung erhielt schließlich durch die Reform des Justizwesens im Jahre 1864 rechtsstaatliche Rückendeckung. Mit ihr kam in einem ganz besonderen Maße der drängende Impuls zur Verwestlichung der neu entstandenen Bürokratie zum Ausdruck.²² Aus einer Justiz, die keinen Unterschied zwischen Richter und Untersuchungsrichter gemacht hatte, in der das Personal schlecht ausgebildet, eine Verteidigung nicht bekannt und deren gerichtliche Instanzen nach dem Stand organisiert waren, sollte eine moderne Rechtsprechung hervorgehen, für die Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Richter und Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz zum Maßstab erhoben wurde: „Das Kassationsverfahren, die freie und selbstverwaltete Advokatur, gewählte Friedens-
Vgl. Terence Emmons/Wayne S. Vucinich (Hg.): The Zemstvo in Russia. An Experiment in Local Self-Government, Cambridge 1982. Vgl. Kermit E. McKenzie: Zemstvo Organization and Role within the Admistrative Structure, in: Terence Emmons/Wayne S. Vucinich (Hg.), The Zemstvo in Russia, Cambridge 1982, S. 31– 78. Vgl. zur Alters- und Sozialstruktur der jungen Radikalen Andreas Kappeler: Zur Charakteristik russischer Terroristen (1878 – 1887), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 27 (1979), S. 520 – 547. Vgl. ferner Nathaniel Knight: Was the Intelligentsia Part of the Nation? Visions of Society in Post-Emancipation Russia, in: Kritika 7 (2006), S. 733 – 758; Richard Pipes (Hg.): Die Russische Intelligentsia, Stuttgart 1962 und Elise Kimerling Wirtschafter: Structures of Society. Imperial Russiaʼs ›People of Various Ranks‹, DeKalb 1994. Vgl. zur Justizreform Friedhelm Berthold Kaiser: Die russische Justizreform von 1864. Zur Geschichte der russischen Justiz von Katharina II. bis 1917, Leiden 1972; Richard S. Wortman: The Development of a Russian Legal Consciousness, Chicago 1976 und Jörg Baberowski: Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1864 – 1914, Frankfurt am Main 1996.
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richter, vor allem aber die Schwurgerichtsbarkeit waren institutionalisierter Ausdruck dieses Aufbruchs in die Moderne.“²³ Die mit der Reform in die Praxis eingeführte Idee der Rechtsstaatlichkeit offenbarte rasch, dass es in Russland einen unauflösbaren Widerspruch zwischen den aufgeklärten Bürokraten und ihren verheißungsvollen Ideen einerseits und der traditionellen, über Jahrhunderte gewachsenen Organisationspraxis des zarischen Staates andererseits gab.²⁴ In diesem Spannungsverhältnis entwickelte sich ein gesellschaftliches und institutionelles Klima, in welchem schon bald der revolutionäre Untergrund leichtes Spiel hatte, die Autokratie öffentlichkeitswirksam vorzuführen. Der Zar hatte sich selbst zur Prozesspartei gemacht und konnte zunächst nichts gegen die eigenen Justizbeamten unternehmen, die teilweise öffentlich mit den Gegnern des Staates sympathisierten.²⁵ Obwohl die Reformen Alexanders II. die erschütterte Macht stabilisieren sollten, hatten sie in der Konsequenz den Entfremdungsprozess nur verstärkt. Die Bauern sahen sich in ihren Hoffnungen getäuscht, endlich das Land zu erhalten, das sie als ihres betrachteten. Vielen liberalen Reformern gingen die Vorhaben nicht weit genug und die radikale Jugend interpretierte die Reformen als Zeichen der Schwäche. Daher wähnten sie sich am Beginn einer Konfrontation, im Zuge derer sie weitere Zugeständnisse wie Pressefreiheit, Recht auf Bildung, eine irgendwie geartete Konstitution zu erzwingen, bald gar die Staatsmacht zu übernehmen hofften. Adel und die autokratische Elite hingegen sahen ihre Kontrollgewalt schwinden, fürchteten um ihren Einfluss und erlebten, wie die staatsverordnete Liberalisierung den Staat allmählich aushöhlte und segmentierte.²⁶ Die explosiven Implikationen dieser Entwicklung hat Ivan Turgenev in dem Roman Väter und Söhne beschrieben. Vordergründig bekommt der Leser die politischen Zusammenhänge als einen Generationenkonflikt präsentiert, wobei die Hauptfigur Evgenij Bazarov im Verlauf der Handlung immer deutlichere Konturen
Jörg Baberowski: Europa in Rußland. Justizreformen im ausgehenden Zarenreich am Beispiel der Geschworenengerichte 1864 – 1914, in: Dietrich Beyrau/Igor’ Čičurov/Michael Stolleis (Hg.), Reformen im Rußland des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1996, S. 151– 174, hier: S. 152. Vgl. Thomas S. Pearson: The Great Reforms, in: Frank W. Thackeray (Hg.), Events that Changed Russia Since 1855, Westport 2007, S. 7– 21. Vgl. Baberowski: Autokratie und Justiz, S. 615 – 729 und Alfred J. Rieber: Alexander II. A Revionist View, in: The Journal of Modern History 43 (1971), S. 42– 58. Vgl. zur Vergesellschaftung Russlands Alfred J. Rieber: The Sedimentary Society, in: Edith W. Clowes/Samuel D. Kassow/James L. West (Hg.), Between Tsar and People, Princeton 1991, S. 343 – 366.
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gewinnt und sich als ein Charakter zu erkennen gibt, der weniger von einer aufklärerischen Utopie als vielmehr vom Weltenbrand beseelt ist.²⁷ Der zu allem bereite Bazarov ist somit die Personifikation einer radikalen Jugend, mit der sich die letzten Zaren der Romanov-Dynastie konfrontiert sahen. Diesen Kampf sollte die Autokratie nur bedingt für sich entscheiden können, da die jungen Verschwörer ein Instrument in die Politik eigeführt hatten, das in seiner unberechenbaren Allgegenwart die Souveränität an einer ihrer empfindlichsten Stellen traf – dem Sicherheitsversprechen. Aus dieser besonderen Gefahr, einer gelegentlich nur empfundenen Bedrohung, erwuchs schließlich eine Dynamik, der die zarische Macht und ihre Herausforderer gleichermaßen erlagen.
Diesbezüglich sei vor allem auf das Tischgespräch zwischen Arkadij, seinem Vater Nikolaj Kirsanov, seinem Onkel Pavel Petrovič und Evgenij Bazarov verwiesen. Iwan S. Turgenjew: Väter und Söhne, München 1964, hier: S. 344– 348.
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2. Die Geburt der Konspiration Der Zar sollte von seiner Gewohnheit Abstand nehmen, in den Parks von St. Petersburg Zerstreuung zu suchen. Schließlich war ihm diese Neigung am 4. April 1866 beinahe zum Verhängnis geworden.²⁸ Dass der Attentäter jedoch, dessen Identität später dem relegierten Jurastudenten Dmitrij Karakozov zugewiesen werden konnte, den Zaren verfehlte, schien vielen mehr als ein Zufall zu sein.²⁹ Und so verwundert es nicht, dass sich um das erste Attentat auf Zar Alexander II. viele Legenden ranken – Erzählungen, die nicht nur typisch für politische Großereignisse sind, sondern im besonderen Maße charakteristisch für das Phänomen der politischen Verschwörung. Besonderen Widerhall fand der Zwischenfall auch deshalb, weil nur wenige Wochen zuvor eine anonyme Zuschrift in der Kanzlei des Generalgouverneurs von St. Petersburg eingegangen war, die den bevorstehenden Anschlag auf den Zaren angekündigt und im Namen der beigefügten Proklamation „An die Arbeiterfreunde“ die Hatz auf den Zaren für eröffnet erklärt hatte.³⁰ Als sich abzeichnete, dass vor dem Attentat nicht einmal der Petersburger Generalgouverneur Aleksandr Suvorov von diesem ominösen Dokument Kenntnis erhalten hatte, hefteten sich an den Vorfall noch weitere Verdachtsmomente. Während bislang einige das Dokument als Fälschung der ›Dritten Abteilung‹, einer mit Suvorov rivalisierenden Behörde, ausgegeben hatten, schienen sich nach dem Schuss Karakozovs all diese disparaten Informationen zu fügen. Selbst Verbindungen in die obersten Etagen der Macht wurden nun nicht mehr ausge-
Vgl. zur genauen Kenntnis dieser Gewohnheit seitens des revolutionären Untergrunds Ėmilija Vilenskaja: Revoljucionnoe podpol’e v Rossii (60-e gody XIX v.), Moskau 1965, S. 418. Der Umstand schien die gleichsam sakrale Stellung des Autokraten belegt zu haben und daher wurde häufig sogar die Vokabel der Vorsehung bemüht.Vgl. die anschauliche Beschreibung von Wortman: Scenarios of Power, S. 110 – 114. Zur Einsetzung einer besonderen Schutzabteilung für den Zaren vgl. E. M. Sidorenko: Iz vospominanij o 1 marta 1881 g., in: Katorga i Ssylka 5 (1923), S. 50 – 53; Jonathan W. Daly: Autocracy under Siege. Security Police and Opposition in Russia, 1866 – 1905, DeKalb 1998, S. 17– 20 und Claudia Verhoeven: The Odd Man Karakozov. Imperial Russia, Modernity, and the Birth of Terrorism, Ithaca/London 2009, S. 16 f. Vgl. M. M. Klevenskij/K. G. Kotel’nikov (Hg.): Pokušenie Karakozova. Stenografičeskij otčet po delu D. Karakozova, I. Chudjakova, N. Išutina i dr., Moskau 1928, S. 293 f., S. 297 f. Vgl. ferner Adam B. Ulam: In the Name of the People. Prophets and Conspirators in Prerevolutionary Russia, New York 1977, S. 162 f. und Evgenij Kolosov: Spornyj vopros Karakozovskogo dela, in: Katorga i Ssylka 10 (1924), S. 66 – 88. Vgl. zur besonderen Bedeutung des Karakozov-Attentats HIA, Nicolaevsky Collection, Box 510, Folder 47.
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schlossen und sollten bei den Ermittlungen immer wieder eine Rolle spielen.³¹ Die Klärung des Falles war also von Beginn an nicht nur mit den klassischen Ambivalenzen, sondern auch einer weit zurückreichenden Geschichte belastet. So hatte bereits das Uloženie von 1649 Häresie und politische Staatsverbrechen wie Verrat und Verschwörungen als zwei Seiten ein und derselben Medaille interpretiert, denen allein mit der Todesstrafe beizukommen sei.³² Seit 1845 ließ sich diese Verbindung auch im Strafgesetzbuch erkennen, ebenso in der Gesetzgebung nach der Justizreform 1864. Mithin sah das Strafgesetzbuch allein schon für antizipierte Szenarien eine ganze Reihe drakonischer Strafen vor.³³ Insofern wurde erklärten Staatsfeinden de jure keine besonders hohe Überlebenschance in Aussicht gestellt, als mit den entsprechenden Paragraphen zu Staatsverbrechen und Geheimgesellschaften die Todesstrafe verbunden war, die möglichen und tatsächlichen Delinquenten und selbst Mitwissern drohte.³⁴ Vermöge des schwer fassbaren Straftatbestandes blieben diese Gesetze natürlich auch in der praktischen Handhabung unberechenbar, sodass im Zweifelsfall der anomische Raum, den Verschwörer wie Karakozov absichtlich wählten, keinen Schutz versprach, sondern im Gegenteil vom Staat zu seinen eigenen Gunsten rechtlich gefüllt werden konnte.³⁵ Der Staat und seine verschworenen Untertanen setzten sich gegenseitig vage Bilder der Bedrohung vor. Die Gegner des Staates antizipierten dabei die diffuse Angst der Herrschenden ebenso, wie auch die zarischen Repräsentanten ihre Angst auf vermeintliche oder tatsächliche Feinde projizierten.³⁶ Dabei lernten beide Parteien, die Hüter der Verfassung wie die Verschwörer, zugleich voneinander und potenzierten so die Szenarien der Gefahr. Der Umstand, dass die Bil-
Vgl. Ulam: In the Name of the People, S. 161 und Avrahm Yarmolinsky: Road to Revolution. A Century of Russian Radicalism, New York 1956. Zuletzt zu diesem Dokument Dietze: Die Erfindung des Terrorismus, S. 547– 556. Vgl. Richard Hellie (Hg.): The Muscovite Law Code (Ulozhenie) of 1649, Irvine 1988 und Nancy Shields Kollmann: Crime and Punishment in Early Modern Russia, Cambridge 2012, S. 332– 334. Vgl. Daly: Autocracy under Siege, S. 12– 48 und A. E. Presnjakov: Tajnye obščestva i obščestvenno-političeskie vozzrenija dekabristov, in: Katorga i Ssylka 21 (1925), S. 35 – 64. Vgl. N. Chochlov (Hg.): Polnij Svod Zakonov Ugolovnych. Ulošenenie o nakazanijach. Ugolovnych i ispravitel’nych, co vključeniem teksta vsech statej Svoda zakonov, na kotoryja ukazany ssylki v ulošenii o nakazanijach starago 1857 i novago 1866 g. izdanija, Moskau 1867, §§ 241– 248 und 318 – 324. Vgl. Presnjakov: Tajnye obščestva i obščestvenno-političeskie vozzrenija dekabristov. Vgl. zum anomischen Raum Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1993, S. 37 f. und Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. (Homo sacer II.1), Frankfurt am Main 2004, S. 8, S. 62. Vgl. zu diesem Wechselspiel etwa HIA, Victor Nikolaevich Russiyan: The Work of Okhrana Departments in Russia, S. 1– 32.
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dung der ›Dritten Abteilung‹ nach dem Aufstand der Dekabristen womöglich ausgerechnet auf die Pläne eines ihrer zentralen Anführer, Pavel Pestel’s, zurückging, mag dafür ein besonders eindringliches Beispiel sein.³⁷ So sehr dieser Befund zunächst überraschen mag, so wenig verblüffend ist es doch, dass sich ein Staat mit den Techniken seiner gefährlichsten Feinde vertraut macht, sie absorbiert und in das eigene Schutzsystem integriert. Ein Leben im Geheimen, in dem sich geradezu zwangsläufig die eigentlichen Absichten verlieren, hatten auch viele Mitglieder der ersten großen Verschwörung gegen den zarischen Staat gewählt. Der Aufstand vom Dezember 1825 markierte die Abkehr vom Zeitalter der Palastrevolten des 18. Jahrhunderts und den Beginn eines Zeitalters, in dem Untertanen einer langsam entstehenden Gesellschaft ihre Ansprüche durchaus auch mit den Mitteln gezielter Falschinformation gegenüber der Obrigkeit vorbrachten. Gerade weil diese revolutionäre Bestrebung an unterschiedlichste Denktraditionen anschlussfähig war und das Wechselspiel von Angreifer und Schutzherr besonders eindrücklich illustrierte, wurde der Aufstand der Dekabristen zum Referenzpunkt nicht nur späterer Verschwörer, sondern auch der großen liberalen Geister jener Epoche.³⁸ Auch wenn der Liberale Alexander Herzen der Gewalt als Mittel der Politik zeitlebens kritisch gegenüberstand und auf das Attentat Karakozovs zunächst distanziert reagierte, verloren sich zumindest zeitweilig seine Bedenken, als er erfuhr, dass mit der Aufarbeitung niemand anderes als Michail Murav’ëv, ehemals selbst Mitglied von Geheimbünden, Verhafteter der Dekabristenbewegung und Bruder des Dekabristenführers Aleksandr Murav’ëv, betraut war: „Kennen die Lakaien Murav’ëvs etwa nicht das französische Sprichwort einer durch ›Attentate beschränken Autokratie‹?“³⁹ In dem Umstand, dass es ausgerechnet Murav’ëv beschieden sein sollte, den Fall Karakozov zu prägen, drückte sich nicht nur für Herzen geradezu gleichnishaft die wesensverwandte Mentalität von Verteidigern und Feinden der Ordnung aus.⁴⁰ Aus der Perspektive des Staates jedoch bildete die Erfahrung des Untersuchungsführers als teilnehmendem Beobachter ver Vgl. Monas: The Third Section und Daly: Autocracy under Siege, S. 12. Vgl. exemplarisch Berlin: Russian Thinkers. Zitiert nach Philip Pomper: Sergei Nechaev, New Brunswick/New Jersey 1979, S. 44. Vgl. ferner zu Herzens ambivalenter Haltung etwa Vladimir Burcev: Pravda li, čto terror delajut, no o terrore ne govorjat [1897], in: Ders. (Hg.), Doloj carja!, London o. J., S. 10 – 19, hier: S. 11. Später sollte sogar Natalie Herzen mit Nečaev eine Liaison eingehen. Vgl. Michael Confino: Daughter of a Revolutionary. Natalie Herzen and the Bakunin-Nechayev Circle, London 1974 und Edward Hallett Carr: The Romantic Exiles. A Nineteenth Century Portrait Gallery, London 1933. Vgl. exemplarisch A. I. Gercen/N. P. Ogarev: Pol’ša v Sibiri i Karakozovskoe delo. 1 sentjabrja 1866, in: Kolokol (1866), S. 1843 – 1860 und A. I. Gercen/N. P. Ogarev: Zagovora ne bylo! 1 nojabrja 1866, in: Kolokol (1866), S. 1869 – 1876.
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schwörerischer Umtriebe offenbar eine entscheidende Expertise, um nun den ersten Fall eines terroristischen Attentats nach der Justizreform adäquat vorzubereiten. Der Gedanke, der hinter der Neubildung des Geheimdienstes im Jahre 1826 gestanden hatte, schien im Verlauf des Jahrhunderts fortwährend seine Legitimation zu finden. So wurde zur Unterstützung des Geheimdienstes bereits im Jahre 1862 eine spezielle Untersuchungsbehörde ins Leben gerufen, zu deren wichtigster Aufgabe es gehörte, mit allen Mitteln gefährlichen Absichten und Taten politischer Delinquenten auf die Spur zu kommen.⁴¹ Eben dieser Behörde, gewissermaßen der Kopf des Geheimdienstes, stand Murav’ëv vor und eben dieser Behörde oblag es nun, das offizielle Bild des Karakozov-Attentats zu prägen. Natürlich wurde damit einer gerichtlichen Prüfung der Frage vorgegriffen, ob mit dem Fall Karakozov überhaupt eine ganze Verschwörergruppe verbunden war.⁴² Von Beginn an galt folglich das Erkenntnisinteresse weniger der Auffindung realer Begebenheiten als vielmehr einer Ermittlung von Umständen, die den grundsätzlichen Verdacht, dass man es mit einer größeren Verschwörung zu tun habe, als zumindest nicht unwahrscheinlich erscheinen ließ. Die Erzählung, die sich um das erste Attentat auf Alexander II. zu ranken begann, fiel entsprechend kryptisch aus, entfaltete aber gerade dadurch erst recht ihre Wirkung. Mithin folgten die Interpretationen des 4. April 1866 den jeweils präferierten Interessen, da aufgrund vorhandener Belege für alles Mögliche an ein Vetorecht der Quellen kaum noch zu denken war.⁴³ So antwortete der Attentäter etwa auf die Frage nach den Motiven für seine Tat einmal weit ausdeutbar: „Nichts“. Anderen zufolge soll er nach dem Attentat die Worte gesprochen haben: „Ich habe es für euch getan!“⁴⁴ Während einige in diesen Aussagen die Niedergeschlagenheit nach dem gescheiterten Attentat zu erkennen glaubten, hielten andere sie für ein unverrückbares Indiz der Verschrobenheit Karakozovs. Zugleich legen die Aussagen aber auch die Verletzlichkeit des scheinbar allmächtigen Souveräns insofern offen, als Karakozov das gemeinhin gültige Wissensgefälle zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen irritierte.⁴⁵ Eben genau diesen Prozess manipuliert für gewöhnlich ein jeder Verschwörer gezielt. So
Vgl. Daly: Autocracy under Siege, S. 16. Vgl. Verhoeven: The Odd Man Karakozov, S. 10 – 19, S. 32. Vgl. dazu auch Kolosov: Spornyj vopros Karakozovskogo dela; D. V. Stasov: Karakozovskij process i priloženija, in: Byloe 4 (1906), S. 276 – 298 und A. A. Šilov: Karakozov i pokušenie 4 aprelja 1866 goda, Petrograd 1919. Vgl. Ulam: In the Name of the People, S. 3, S. 148 – 168. Kritisch zu diesen Aussprüchen Verhoeven: The Odd Man Karakozov, S. 176 – 178. Zur Straße als Ort der Begegnung vgl. Hilbrenner: Gewalt als Sprache der Straße, S. 70.
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rief denn auch Karakozov in einer Proklamation potenzielle Verschwörer dazu auf, die Autokratie selbst als den größten Feind zu erkennen, sei sie nun durch Alexander II., Alexander III. oder einen anderen repräsentiert.⁴⁶ Damit wurde der vage Verdacht, dass es sich bei dem Zwischenfall womöglich nur um einen ersten Ausläufer einer weitverzweigten Verschwörung handeln könnte, nur noch weiter angeheizt. Entsprechend schlugen die ermittelnden Behörden gleich nach dem Attentat die Einzeltäter-Theorie in den Wind und begaben sich auf die Suche nach einer großen Verschwörung.⁴⁷ Rasch entstand das Panorama eines von Geheimorganisationen durchsetzten Russischen Reiches, das wiederum eine neue Sicherheitspolitik zeitigte und dem obersten Repräsentanten eine spezielle Leibgarde bescherte.⁴⁸ Die politische Schlussfolgerung, dass die Gewohnheit des Zaren einen hohen Grad an Berechenbarkeit für potenzielle Verschwörer mit sich brachte, führte in der Folge zu einer ambivalenten Aufwertung seiner Bedeutung; einer Aufwertung, die zwischen Unantastbarkeit und Anfälligkeit changierte. Der Provokateur, so der Soziologe Rainer Paris, stellt den Mächtigen bloß und kann „sich für einen kurzen Moment einbilden, dem Mächtigen ebenbürtig, selbst mächtig zu sein.“⁴⁹ Auch Karakozov galt in der offiziellen Wahrnehmung bald als Provokateur eines konspirativen Zirkels unter dem Namen ›Hölle‹ (ad), der Elite einer größeren Gemeinschaft mit dem prosaischen Namen ›Organisation‹ (organizacija). Der Prozess gegen die vermeintlichen Mitglieder beider Gruppen fand auf Wunsch des Zaren in der berüchtigten Peter-und-Paul-Festung statt – an einem Ort also, der zuletzt Schauplatz der Prozesse gegen die Dekabristen und die Verschwörer um Michail Petraševskij gewesen war.⁵⁰ Innerhalb weniger Monate produzierte die Untersuchungsbehörde tausende von Akten über vermeintliche Strukturen einer Moskauer Geheimorganisation. Ihre Aktivität, so die ersten Ergebnisse, habe das gesamte Reich erfasst und mittels des Revolutionärs Ivan Chudjakov auch einen Ableger in St. Petersburg etabliert.⁵¹ Mit jeder Nachforschung, die buchstäblich rund um die Uhr erfolgte, Die Proklamation wird zitiert bei O. G. Bodunova: Idejno-psichologičeskie motivy prestuplenij terrorističeskoj napravlennosti v Rossii, in: Občestvo (terra humana) 2 (2007), S. 18 – 28. Die Annahme, ein Attentäter sei nur ausführendes Organ einer größeren Verschwörung, ist durchaus typisch. Vgl. Sven Felix Kellerhoff: Attentat, in: Christian Gudehus/Michaela Christ (Hg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013, S. 105 – 110, hier: S. 106. Vgl. Daly: Autocracy under Siege, S. 12– 48, bes. S. 19. Rainer Paris: Stachel und Speer. Machtstudien, Frankfurt am Main 1998, S. 71. Vgl. etwa Daniel R. Brower: Training the Nihilists. Education and Radicalism in Tsarist Russia, Ithaca/London 1975, S. 28. Vgl. Ulam: In the Name of the People, S. 148 – 168 und Klevenskij/Kotel’nikov (Hg.): Pokušenie Karakozova.
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gerieten immer mehr Personen in Verdacht. Sie alle wurden in das epidemische Ausmaße annehmende System möglicher Verstrickungen integriert, wodurch schließlich die Behörde selbst an ihre Grenzen geriet. Bald hielt der Bericht gleichwohl fest, dass Karakozov zu einer im Jahre 1863 entstandenen Organisation gehört haben müsse, die über 70 Personen umfasst habe.⁵² Auch wenn diese Zahl in der Forschung als Übertreibung gilt, bleibt im Falle einer Verschwörung die Korrektur nach unten ebenso schwer, wie es für eine Staatsmacht leicht ist, die Zahlen nach oben anzupassen.⁵³ Im Zentrum der Ermittlung stand folglich eine kleine Verschwörerzelle, die vorgeblich von Karakozovs Cousin Nikolaj Išutin gegründet worden war. Zur Erzwingung der Revolution habe sie nicht nur auf Gewalt gesetzt, sondern in einem Initiationsritus ihren Mitgliedern auch einen Schwur abverlangt, mit dem sie sich gegenseitig versicherten, einen jeden – selbst erklärte Mitkämpfer – mit dem Tod zu bestrafen, sollte er sich auf dem Weg zum Zarenmord als Hindernis erweisen.⁵⁴ Der Bericht Murav’ëvs sah es ferner als erwiesen an, dass dieser kleine Zirkel in eine größere Organisation eingebettet gewesen sei, die wiederum in direktem Austausch mit einem Komitee im europäischen Ausland gestanden habe; genauer mit dem Zentrum radikaler Umtriebe in Genf. Karakozov habe zudem das Attentat schnell durchführen wollen, weil ihm zugetragen worden sei, dass sich inzwischen auch eine geheime Partei um den Bruder des Zaren, den Liberalen Konstantin Nikolaevič, mit dem Ziel eines Systemwechsels gebildet habe.⁵⁵ Somit war das Attentat vom April 1866 mit allen Elementen ausgestattet, die klassischerweise zum Phänomen der Verschwörung gehören: Zunächst war da eine Dachorganisation, eine sagenumwobene Gemeinschaft innerhalb einer größeren Gruppe. Ferner seien die eigentlichen Absichten dieser Gruppe mit einer geheimen Gruppe innerhalb des autokratischen Systems selbst koordiniert worden, wobei sie sogar auf Unterstützung aus dem Ausland habe zählen können. Überhaupt erschien den Stützen des Staates die Verbindung zum Ausland überaus plausibel, fand doch inmitten der Ermittlungen, nur zwei Monate nach den Schüssen auf den Zaren, ein Attentat auf den Ministerpräsidenten von Preußen,
Vgl. Verhoeven: The Odd Man Karakozov, S. 17– 23. Weniger kritisch als Verhoeven gegenüber den Ermittlungsergebnissen des Staates Pomper: Sergei Nechaev, S. 41– 46. Vgl. Vilenskaja: Revoljucionnoe podpol’e v Rossii, S. 390 – 434 und Ulam: In the Name of the People, S. 155. Vgl. zu dem Schwur Verhoeven: The Odd Man Karakozov, S. 20 f. Vgl. GARF, Fond 272, op. 1, d. 11, ll. 230 – 231ob (16. April 1866). Vgl. ferner Klevenskij/ Kotel’nikov (Hg.): Pokušenie Karakozova; Verhoeven: The Odd Man Karakozov, S. 145 f. und Matthias Stadelmann: Großfürst Konstanin Nikolaevič. Der persönliche Faktor und die Kultur des Wandels in der russischen Autokratie, Wiesbaden 2012, S. 406 – 415.
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Otto von Bismarck, statt. Und war nicht bereits ein Jahr zuvor Abraham Lincoln einem Attentat zum Opfer gefallen, während im Jahr 1861 auf den König von Preußen, Wilhelm I., in einem Baden-Badener Kurpark geschossen worden war?⁵⁶ Die allgemeine Atmosphäre jener Jahre sprach augenscheinlich gegen die Herrscher der Welt. Zumindest lag es im Bereich des Möglichen, dass der zarische Staat es sowohl mit Feinden im Inneren als auch mit mittelbaren Agenten des Auslands zu tun hatte. In diesem aufgeheizten Klima wurde der Bericht Murav’ëvs schließlich Anfang August 1866 in dem offiziellen Journal (Severnaja Počta) des Innenministeriums veröffentlicht und fand sodann in allen größeren Zeitungen Verbreitung. Die zarische Macht bestimmte auf diese Weise nicht nur von vornherein die Lesart des Falles, sondern führte allen Beteiligten und Beobachtern unmissverständlich die eigene Souveränität auch dadurch vor Augen, dass sie für sich das Recht auf den prägenden Ersteindruck beanspruchte. Bereits vor der Veröffentlichung des genannten Berichts hatte Alexander II. den Obersten Strafgerichtshof unter Vorsitz von Pavel Gagarin mit der Aufgabe betraut, das Attentat in einem nichtöffentlichen Verfahren zu beurteilen. In den im August und September 1866 stattfindenden Prozessen konnte zwar die Existenz der Verschwörerzellen nicht endgültig geklärt werden, dennoch wurden am Ende 36 Personen rechtskräftig verurteilt. Genau ein halbes Jahr nach dem gescheiterten Attentat auf den Zaren galten die meisten Angeklagten als ihrer Teilnahme an einer Verschwörung überführt. Der Attentäter selbst und sein Cousin Išutin erhielten die Höchststrafe. Zehn weitere wurden mit dem zivilen Tod bestraft; neben einigen Freisprüchen wurden die meisten anderen zu mehreren Jahren Lagerhaft oder Gefängnis verurteilt. Išutin wurde, wie Fjodor Dostojewski im Jahr 1849, im letzten Moment, bereits mit verbundenen Augen und dem Strick um den Hals, durch den Zaren begnadigt und in die Verbannung geschickt.⁵⁷ Karakozov dagegen fand öffentlichkeitswirksam auf dem Schafott in St. Petersburg den Tod.⁵⁸
Vgl. zur globalen Perspektive Richard Bach Jensen: The Battle against Anarchist Terrorism. An International History, 1878 – 1934, Cambridge 2014 und Dietze: Die Erfindung des Terrorismus. „In ihrer höchsten Steigerung erscheint die Macht dort, wo die Begnadigung im letzten möglichen Augenblick erfolgt.“ Allerdings, auch das hat Elias Canetti beschrieben, wird jeder feindliche Akt gegenüber der Macht sehr genau verzeichnet. Canetti: Masse und Macht, S. 353 f., Zitat: S. 354. Dostojewski selbst hatte ja bekanntlich einer kleinen Zelle innerhalb des Petraševcy-Zirkels angehört, die sich für Gewalt gegen die Regierung ausgesprochen hatte. Vgl. Joseph Frank: Dostoevsky. The Years of Ordeal, 1850 – 1859, Princeton 1983, S. 8 f.Vgl. ferner Verhoeven: The Odd Man Karakozov, S. 32, S. 150 – 173.
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In der rechtlichen Absicherung des Urteils bediente sich die zarische Macht einer konsequenten Auslegung bereits bestehender, ausreichend vager Paragraphen des Strafgesetzbuches. Der Grundsatz nulla poena sine lege konnte indirekt eingehalten werden, obgleich er durch das ihm eigentlich entgegenstehende Analogieverfahren ergänzt wurde. Es musste also überhaupt nicht der Nachweis über den Bestand einer kleinen Verschwörerzelle erbracht werden, um die Angeklagten der Verschwörung zu überführen; hatte die Tat doch selbst für ausreichend Evidenz gesorgt. Dennoch sollte das Gesetz zu Geheimgesellschaften und Staatsverbrechen unter Artikel 44402 neu formuliert werden, um künftig leichteres Spiel mit Verschwörungen zu haben.⁵⁹ Pëtr Šuvalov wurde neuer Chef der Gendarmerie und III. Abteilung, die bald darauf die liberale Zeitschrift Sovremennik schließen ließ. Auf Bildungsminister Aleksandr Golovnin folgte der amtierende Leiter des Heiligen Synod, der zarentreue Dmitrij Tolstoj. Als neuer Justizminister stand Graf Konstantin von der Pahlen treu zu Diensten. So unberechenbar ein Attentat sein mag, so erwartbar ist doch – unabhängig vom historischen Kontext – die politische Wirkung. Die zwielichtigen Umstände rund um den Dekabristenaufstand oder das erste Attentat auf Zar Alexander II. verschafften den Akteuren die ihnen jeweils genehmen Instrumente.⁶⁰ In eben diesem Wechselspiel wurde die Verschwörung zum politischen Kampfmittel schlechthin. So rückte denn auch die Frage, ob es sich bei all den Kritikern des Staates tatsächlich um Verschwörer, gar Abgesandte eines kleinen Zirkels handelte, oder ob sie nur als Projektionsfläche eines verunsicherten Staates herhielten, zunehmend in den Hintergrund. Auch wenn eine Existenz der Verschwörergruppe ›Hölle‹ nie endgültig hatte geklärt werden können, war allein die Möglichkeit eines Bestehens für den zarischen Staat, aber auch für die Revolutionäre von Vorteil. So konnten nunmehr beide vom Nimbus der Unberechenbarkeit und Undurchschaubarkeit profitieren. Eben diese mangelnde Berechenbarkeit hatte auch Alexander Puschkin im Sinn, als er über die Dekabristen schrieb: „In froher Runde, zwischen Spottliedern und freundschaftlichen Debatten, bei Burgunder und Champagner, wurden diese Umsturzpläne ausgeheckt.“⁶¹ Ganz ähnlich sollte sich 1866 auch Išutin, mut-
Vgl. Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii, tom 42, čast 1, (27. März 1867), S. 329 – 331.Vgl. ferner Brower: Training the Nihilists, S. 19. Vgl. zu diesem Phänomen u. a. Reinhart Koselleck/Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung, München 1973; Carola Dietze: Terror in the Nineteenth Century. Political Assassination and Public Discourse in Europe and the United States, 1878 – 1901, in: GHI Bulletin 40 (2007), S. 91– 97 und Hayden White: The Narrativization of Real Events, in: Critical Inquiry 7 (1981), S. 793 – 798. Zitiert nach Katzer: Der gescheiterte Staatsstreich, S. 190.
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maßlicher spiritus rector der Verschwörung um Karakozov, auf die Bitte des Richters äußern, etwas über den kleinen Kreis ›Hölle‹ zu sagen: „›Hölle‹ hat nicht existiert – es war nicht mehr und nicht weniger als törichte Reden unter dem Einfluss von Wein.“⁶² Angesichts dieses Bekenntnisses ließ die Öffentlichkeit dem Kreis unverzüglich die Bezeichnung ›Trinkgelage‹ (vypivka) angedeihen.⁶³ Und dennoch widersprach die Aussage Išutins keineswegs den Befürchtungen des Staates – vielmehr erschien das Bekenntnis zur Zusammenkunft als entscheidender Anhaltspunkt. Überhaupt sollte sich der Topos vom verschwörerischen Umtrunk insofern als langlebig erweisen, als etwa im Stalinismus feucht-fröhlich begangene Treffen gelegentlich als Beweis für das Vorhandensein einer Verschwörung angeführt wurden.⁶⁴ Karakozovs Attentat hatte den Ausspruch sic semper tyrannis des LincolnAttentäters John Wilkes Booth zur unhintergehbaren Verpflichtung der radikalen Jugend Russlands erhoben.⁶⁵ Auch wenn sie die Tat nicht vorbehaltlos feierte, galt Karakozov dennoch als Märtyrer der erhofften Revolution. Selbst Dostojewski, dessen Romane durchaus eine gewisse Verachtung für den Revolutionär vom Schlage Karakozovs erkennen lassen, bekannte, dass es ihm doch unmöglich erschiene, einen Menschen anzuschwärzen, selbst wenn ihm bekannt gewesen sei, dass diese Person das Winterpalais des Zaren mit Dynamit in die Luft hätte sprengen wollen.⁶⁶ Der Zar hingegen trug fortan dafür Sorge, dass der geplante Weg seiner Entourage nicht mehr vorab in den Zeitungen veröffentlicht wurde.⁶⁷ Genau dies war das Klima, für das die neu entworfenen gesetzlichen Verordnungen geschaffen worden waren und in dem sich nach dem Attentat von 1866 das Gefühl der Bedrohung festsetzen konnte.⁶⁸
Klevenskij/Kotel’nikov (Hg.): Pokušenie Karakozova, S. 28. Vgl. Michail Katkov: Liberalizm našej intelligencii kak glavnoe uslovnoe razvitija nigilizma. Moskva, 7 & 15 marta 1880, in: Ders., Sobranie sočinenij v šesti tomach, St. Petersburg 2011, S. 428 – 445, hier: S. 439. Vgl. dazu etwa die Ausführungen in dieser Arbeit zur Verschwörung um Smirnov-ĖjsmontTolmačëv im Jahre 1932 und zur Leningrader Affäre der Jahre 1949 – 1950 auf den Seiten 170 – 175 und 203 – 205. Vgl. beispielhaft Dietze: Die Erfindung des Terrorismus, S. 152 f. Vgl. Ulam: In the Name of the People, S. 311. Vgl. Vera Figner: Nacht über Rußland. Lebenserinnerungen, Berlin 1985, S. 79 – 81. Vgl. Wortman: Scenarios of Power, S. 113.
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3. Russische Pythagoreer „Ich ging zu einem Zirkel (kružok), in dem eine Proklamation mit der Forderung nach allgemeiner Prügelstrafe für alle Vorgesetzten verlesen wurde. Erst später erfuhr ich, dass es Nečaev gewesen war, der diese Proklamation vorgetragen hatte.“ Seinerzeit jedoch, fährt der damals 17-jährige Revolutionär und bald berühmte Anthropologe Joseph Deniker fort, „habe er einzig den Sinn der Proklamation erfassen“ wollen.⁶⁹ Während die jungen Revolutionäre im Herbst 1869 noch darüber gerätselt haben mögen, ob sich der tiefere Sinn der Proklamation etwa schon in der genannten Forderung erschöpfte, werden sie einige Zeit später verstanden haben, dass Sergej Nečaev damals bereits seine letzten revolutionären Akte vollbracht hatte und die Arbeit an seinem Mythos in vollem Gange war; einem Mythos, dem seine Zeitgenossen nicht weniger erlagen als viele der Nachgeborenen.⁷⁰ Die Verschwörung als Akt der Revolution war die Essenz von Nečaevs politischem Programm.⁷¹ Nicht zufällig galt ihm daher das Attentat von 1866 als Epiphanie: „Der Anfang unserer heiligen Sache ist […] von Karakozov gemacht worden. […] Die Tat Karakozovs muss man sich als Prolog vorstellen! Ja, es war der Prolog! Strengen wir uns also an, Freunde, damit das Drama so schnell wie möglich beginnt!“⁷² Die demonstrative Verehrung des Attentäters findet sich in vielen seiner Ausführungen und hatte Nečaevs Überzeugung bestärkt, dass sich der Mangel an breiter Unterstützung allein durch eine Verschwörung kompensieren ließe.⁷³ Unverblümt sprach er sich daher gegen theoretische Einlassungen
I. E. Deniker: Vospominanija, in: Katorga i Ssylka 11 (1924), S. 20 – 44, hier: S. 24 f. Zur Verschwörung um Nečaev sehr anschaulich auch V. I. Zasulič: Vospominanija, Moskau 1931. Vgl. exemplarisch Albert Camus: Der Mensch in der Revolte. Essays, Reinbek 2006 und Hans Magnus Enzensberger: Die Träumer des Absoluten, in: Ders., Politik und Verbrechen. Neun Beiträge, Frankfurt am Main 1978, S. 285 – 360. Vgl. zu Nečaevs manipulativen Fähigkeiten L. B. Gol’denberg: Vospominanija. Moi vstreči s Lazarem Gol’denbergom, in: Katorga i Ssylka 10 (1924), S. 89 – 105 und V. P. Alekseev: Revoljucionnoe i studenčeskoe dviženie 1869 g. v ocenke tret’ego otdelenija, in: Katorga i Ssylka 10 (1924), S. 106 – 121. Ot Russkogo Revoljucionnogo Komiteta: Izdanija obščestva ›Naradnoj Raspravy‹. No 1, in: E. L. Rudnickaja (Hg.), Revoljucionnyj radikalizm v Rossii, Moskau 1997, S. 235, S. 237. Vgl. ferner B. P. Koz’min: Revoljucionnoe podpol’e v ėpochu ›belogo terrora‹, Moskau 1929, S. 146 f. Viele könnten, so hieß es bald, den Platz Karakozovs einnehmen. Vgl. dazu Koz’min: Revoljucionnoe podpol’e v ėpochu ›belogo terrora‹, S. 148.
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aus und wollte in einer Geheimorganisation „ohne praktische Erscheinungsformen“ nichts anderes als „lächerliche und ekelhafte Bubenstreiche“ erkennen.⁷⁴ Diesen verhassten Streichen setzte Nečaev das Spiel mit der Konspiration entgegen und nahm zum Wohle der Radikalisierung offenbar auch den Verrat an Unterstützern bewusst in Kauf. Dieser Verdacht kam auf, seit er im Frühjahr 1869 auf die Studentenunruhen in St. Petersburg und Moskau zusammen mit Pëtr Tkačëv – dem führenden Ideologen eines russischen Jakobinertums – maßgeblichen Einfluss genommen hatte und bald darauf die Namen von rund 100 Unterstützern bei der Polizei landeten und man Nečaev selbst für den Übermittler hielt. Als es einige Monate später dann zu einem mysteriösen Mord an einem Mitverschwörer kommen und Nečaev aus dem Exil zu seinen Sympathisanten unter Verzicht auf konspirative Kanäle Kontakt aufnehmen sollte, sie auf diese Weise gleichsam der Geheimpolizei auslieferte, nahm das Misstrauen noch zu.⁷⁵ Bereits nach den erwähnten Studentenunruhen hatte sich die III. Abteilung an die Fersen Nečaevs geheftet, weil sie in ihm „Haupt und Seele einer groß angelegten und gefährlichen revolutionären Organisation“ sah.⁷⁶ Auch wenn er sich dem Zugriff durch seine erste Flucht in die Schweiz entzog und dort seine berüchtigte Kooperation mit Michail Bakunin begründete, ließ er nicht davon ab, weiterhin ambivalente Signale an die zurückgebliebenen Anhänger zu senden. Man habe ihn verhaftet und in eine ihm unbekannte Festung verbracht, hieß es etwa in einer Notiz an Vera Zasulič.⁷⁷ Indem Nečaev sowohl den Staat als auch seine Gefolgsleute mit mehrdeutigen Hinweisen bedachte, fand er zunehmend in die Rolle des unfassbaren Phantoms. Die Verunsicherung, die das Attentat Karakozovs beim Staat hervorgerufen hatte, wurde durch Nečaevs Kooperation mit Revolutionären im Schweizer Exil und die neue Organisation Narodnaja Rasprava nur noch größer.⁷⁸
Vladimir Burcev (Hg.): Za sto let (1800 – 1896). Sbornik po istorii političeskich i obščestvennich dviženii v Rossii (v dvuch častjach), London 1897, S. 91. Vgl. L. B. Gol’denberg: Vospominanija. Moi vstreči s Lazarem Gol’denbergom; B. P. Koz’min: Nečaev i nečaevcy: Sbornik materialov (Političeskie processy 60 – 80gg.), Moskau 1931, S. 9 – 56, S. 63, S. 189;V. I. Zasulič:Vospominanija, Moskau 1931; Pomper: Sergei Nechaev, S. 27– 68, S. 72 und Feliks M. Lur’e: Nečaev. Sozidatel’ razrušenija, Moskau 2001, S. 65 – 67, S. 110 f. Vgl. ferner Karl Marx/Friedrich Engels: Die Allianz in Rußland, in: Dies.,Werke 18, Berlin 1973, S. 396 – 438. Zu den dadurch entdeckten Personen sollte etwa auch Vera Zasulič zählen. Rolf H.W. Theen: Nečaevs Auslieferung 1872. Der diplomatische Hintergrund, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 21 (1973), S. 573 – 583, Zitat: S. 575. Vgl. ferner Koz’min: Nečaev i nečaevcy, S. 5. Vgl. Zasulič: Vospominanija, S. 24. Vgl. zu dieser Phase Stephen T. Cochrane: The Collaboration of Nechaev, Ogarev, and Bakunin in 1869. Nechaevʼs Early Years, Giessen 1977. Die Organisation Nečaevs, ›Volksrache‹, firmierte
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Nečaev, der im Herbst 1869 nach Moskau zurückgekehrt war, wies seine Mitstreiter an, geheime Zellen mit jeweils fünf ihnen bekannten Personen zu bilden. Nach diesem System der Modularität sollte die Verschwörung sich wie ein Geschwür über ganz Russland ausbreiten.⁷⁹ Im Laufe der Jahre, so berichtete der Verschwörer Aleksej Kuznecov später, seien etwa 400 Personen zusammengekommen.⁸⁰ Mit nicht weniger imponierenden Zahlen hantierte auch der spiritus rector selbst und suchte zudem seine Unterstützer anhand konkreter Daten für den Umsturz zu gewinnen.⁸¹ Angesichts einer allein auf die Praxis ausgelegten Theorie verwundert es nicht, dass sich der Kreis um Nečaev insbesondere für Babeuf und seine Verschwörung interessierte und somit auch ein klassischer Text aus den Annalen der Verschwörung, das Buch von Phillipe Buonarroti, einen „kolossalen Eindruck“ hinterließ.⁸² Nečaev und seine Organisation Narodnaja Rasprava setzten auf Vertrauen und persönliche Netzwerke.⁸³ Gleichsam in konzentrischen Kreisen sollte die Anhängerschaft von den engsten Vertrauten Nečaevs angeworben werden und dann in die russische Gesellschaft ausstrahlen: „Jeder Genosse muss einige Revolutionäre zweiter und dritter Ordnung, also nicht vollständig eingeweihte, in seinen Händen halten. Auf sie soll er blicken wie auf einen ihm zur Verfügung stehenden Teil des allgemeinen revolutionären Kapitals.“⁸⁴ Unter Rückgriff auf das Prinzip der sukzessiven Einweihung neuer Mitglieder wandte die Gruppe um Nečaev folglich ein Verfahren an, das bereits bei der Verschwörung um Išutin und Karakozov zur Anwendung gekommen war und auch bei allen späteren Verschwörergruppen greifen sollte. Der strengen Geheimhaltung innerhalb der
offenbar zeitweilig auch unter dem Namen ›Gesellschaft der Axt‹ (obščestvo topora). Vgl. B. Bazilevskij (Hg.): Gosudarstvennye prestuplenija v Rossii v XIX veke. Sbornik izvlečennych iz official’nych izdanij pravitel’stvennych soobščenij, St. Petersburg 1906, S. 176. Vgl. Koz’min: Revoljucionnoe podpol’e v ėpochu ›belogo terrora‹, S. 109 – 122 und Koz’min: Nečaev i nečaevcy, S. 12 f. Vgl. Lur’e: Nečaev. Sozidatel’ razrušenija, S. 187. Die Revolution war auf den 19. Februar 1870 datiert worden. Vgl. etwa P. N. Tkačev/S. G. Nečaev: Programma revoljucionnych dejstvij, in: E. L. Rudnickaja (Hg.), Revoljucionnyj radikalizm v Rossii, Moskau 1997, S. 203 – 206 und Lur’e: Nečaev. Sozidatel’ razrušenija, S. 66. Zamfir Ralli-Arbore: Sergej Gennadevič Nečaev, in: Byloe 7 (1906), S. 136 – 146, Zitat: S. 137. Vgl. ferner Phillipe Buonarroti: Buonarrotiʼs History of Babeufʼs Conspiracy for Equality, London 1836; R. B. Rose: Gracchus Babeuf. The First Revolutionary Communist, Stanford 1978. Zu dem Zitat Bazilevskij (Hg.): Gosudarstvennye prestuplenija v Rossii v XIX veke, S. 182. Vgl. zum ›Katechismus des Revolutionärs‹ Bazilevskij (Hg.): Gosudarstvennye prestuplenija v Rossii v XIX veke, Zitat: S. 184.
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Gruppe entsprachen bewusst gestreute Gerüchte über die vermeintliche Existenz eines Revolutionären Komitees.⁸⁵ Ab dem Spätsommer 1869 arbeiteten Revolutionäre, die vermutlich mit Nečaev in Verbindung standen, in Elizavetgrad, auf dem Gebiet der heutigen Ukraine daran, den Zug des Zaren in die Luft zu sprengen. Von einem gewissen Konstantin Kloč’, der sich als Agent der Petersburger Polizei ausgab, wurde die Polizei von Elizavetgrad Ende Oktober darüber in Kenntnis gesetzt, dass zwei junge Männer „eine Mine unter den Eisenbahngleisen deponiert und während der Durchreise des Zaren eine Explosion“ hätten auslösen wollen. Das Attentat, so führte das Schreiben weiter aus, konnte lediglich vereitelt werden, da der Zar eine andere Reiseroute gewählt habe.⁸⁶ Trotz der spektakulären Nachricht stellte sich rasch der Verdacht ein, bei der Angelegenheit könne es sich um eine gezielte Provokation handeln, da schließlich bekannt war, dass der Zar nach dem Attentat von 1866 keine vorher festgelegten Routen mehr nahm.⁸⁷ So vermuteten auch die zarischen Behörden, dass Michail Troickij, einer der vermeintlichen Attentäter, selbst den Hinweis auf das bevorstehende Attentat gegeben habe.⁸⁸ Auch wenn die Ermittlungsbehörden früh an dem Fall Elizavetgrad Zweifel hegten und ihn sogar eher als Hirngespinst (plod vymysel) denn als eine reale Gefahr einzustufen bereit waren, illustriert er das Spiel mit der Möglichkeit realer Gefahr, dem sich die zarischen Machthaber und ihre revolutionären Herausforderer hingaben.⁸⁹ Der Verschwörer Troickij jedenfalls gehörte später zum Umfeld der Organisation Narodnaja Volja, die den Plan, den Zaren im Zug in die Luft zu sprengen, wieder aufnehmen sollte. Die anderen beiden verdächtigten Personen – Die Rede von irgendwelchen Komitees sollte das gesamte goldene Zeitalter der Konspiration begleiten. Vgl. zu dieser Episode Koz’min: Revoljucionnoe podpol’e v ėpochu ›belogo terrora‹, S. 123 – 134, S. 145 – 154, Zitat: S. 124. Zu Nečaevs Verbindung zu dieser Gruppe siehe auch I. Rakitnikova: Pamjati F.A. Borisova, in: Katorga i Ssylka 53 (1929), S. 186 – 192. Zu Nečaevs Haltung gegenüber dem sogenannten Tyrannenmord vgl. Pomper: Nechaev and Tsaricide. The Conspiracy within the Conspiracy, in: Russian Review 33 (1974), S. 123 – 138 und Koz’min: Revoljucionnoe podpol’e v ėpochu ›belogo terrora‹, S. 150 – 152. Allgemein zu Attentaten auf die Infrastruktur und zur Genese des sogenannten modernen Terrorismus Frithjof Benjamin Schenk: Attacking the Empire’s Achilles Heels. Railroads and Terrorism in Tsarist Russia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58 (2010), S. 232– 253. Vgl. Koz’min: Revoljucionnoe podpol’e v ėpochu ›belogo terrora‹, S. 130. Dafür mag auch sprechen, dass der ominöse Schreiber Kloč’ seinen Hinweis mit den Worten beendete, er könne sich leider aus terminlichen Gründen nicht mit den Kollegen in Elizavetgrad treffen. Vgl. dazu Koz’min: Nečaev i nečaevcy, S. 51. Insgesamt steht der Historiker Koz’min der Irritations-These kritisch gegenüber. Vgl. Koz’min: Revoljucionnoe podpol’e v ėpochu ›belogo terrora‹, S. 133 f. Zu dem Zitat Koz’min: Revoljucionnoe podpol’e v ėpochu ›belogo terrora‹, S. 133.
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ein gewisser Vasilij Kuntušev und Feofan Borisov – waren als Anhänger Išutins bereits zu acht Monaten Festungshaft verurteilt worden. Und schließlich hatte niemand anderes als Zasulič, die 1878 ein Attentat auf den Petersburger Stadtkommandanten Fëdor Trepov verüben sollte, ebenfalls geheimen Besprechungen beigewohnt.⁹⁰ Die Traditionslinien des Nečaev-Zirkels sind folglich äußerst vielschichtig. Da die Überlieferung seit jeher zur Geschichtspolitik der Verschwörer gehörte, berief man sich etwa auch auf die russische Jacquerie, verknüpft in erster Linie mit den Namen Sten’ka Razin und Emel’jan Pugačëv, die es nun im 19. Jahrhundert mit Attentaten abermals auszulösen galt. Daher setzte sich Nečaev als legitimer Nachfahr der Verschwörer von 1866 in Szene und sorgte für eine Kontinuität von Philosophie, Technik und Personal zwischen der Gruppe um Išutin und seinem Zirkel.⁹¹ Insbesondere die Inszenierung der Konspiration, das Spiel mit der potenziellen Gefahr wurde unter ihm perfektioniert. Nicht allein also die Taten, sondern vor allem auch zwielichtige Hinweise sollten das Gespenst der Verschwörung umgehen lassen. Daraus wiederum zogen die Verschwörer und der Staat in seiner bedingten Abwehrbereitschaft gleichermaßen Nutzen. Angesichts einer solchen Dynamik hat der Politikwissenschaftler Michael Barkun für die Unterscheidung einer intentionalen von einer zugeschriebenen Unsichtbarkeit plädiert und unterstrichen, dass die Arbeit im Verborgenen, die gezielte Unsichtbarkeit terroristischer Gruppen, auf Seiten des Staates eine Zuschreibung von Unsichtbarkeit und eine entsprechend angepasste Sicherheitsstrategie zeitige. Da beide Phänomene einander anstachelten, sei eine völlige Entkopplung nicht selten die Folge.⁹² Die Obsession, jeweils mit unsichtbaren Intentionen eines Gegners konfrontiert zu sein, begünstigt somit den Zweifel an der Realität. Dieser systemische Realitätsverlust wiederum gilt nicht nur für Personen, die außerhalb gewöhnlicher gesellschaftlicher Prozesse stehen, wie es etwa der Soziologe Heinrich Popitz für Sekten erforscht hat, sondern auch für diejenigen, die direkt mit solchen Gruppen konfrontiert sind, die politische Ordnung.⁹³ Die Angst vor Verrätern und Feinden gehört wie der Tatendrang zu einer jeden Verschwörung. So müssen denn auch die Machtspiele innerhalb der Gruppe um Nečaev, womöglich gar der sagenumwobene Mord an Ivan Ivanov, der 1872 zur
Vgl. Pomper: Sergei Nechaev, S. 98 und Koz’min: Revoljucionnoe podpol’e v ėpochu ›belogo terrora‹, S. 124– 129. Vgl. Koz’min: Revoljucionnoe podpol’e v ėpochu ›belogo terrora‹, S. 148 und Pomper: Sergei Nechaev, S. 46. Vgl. Barkun: Chasing Phantoms. Reality, bes. S. 3 – 13. Vgl. Popitz: Realitätsverlust in Gruppen, S. 175 – 186.
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Auslieferung aus der Schweiz und schließlich zur Verurteilung führen sollte, nicht unbedingt als Ausgeburt eines krankhaften Machtmenschen gedeutet werden, als der Nečaev bis heute in Forschung und Literatur verhandelt wird.⁹⁴ Vielmehr lassen sie sich als Ausfluss einer Dynamik begreifen, die mit dem gegenseitigen Versteckspiel staatlicher und revolutionärer Akteure, den beschriebenen Formen der Unsichtbarkeit, einherging. So war das Gespräch über das Töten mutmaßlicher Verräter und den Gebrauch einer bestimmten Methode – Strangulieren und dann Erschießen – keineswegs abseitig, sondern gehörte spätestens seit dem Fall Karakozov zum gewöhnlichen Austausch junger Verschwörer. Fortwährend sah sich die Gruppe um Nečaev der Gefahr des Verrats ausgesetzt und verkapselte sich – ganz im Geiste der ›Hölle‹ wenige Jahre zuvor – in immer kleineren Zirkeln.⁹⁵ Neben Nečaev gehörten nur noch Pëtr Uspenskij, Ivan Pryžov, Aleksej Kuznecov, Ivan Ivanov und Nikolaj Nikolaev zum Kreis der Auserwählten. Als Mitte November 1869 Uspenskij seinem Führer mitteilte, dass Ivanov nicht mehr zu trauen und mit Verrat zu rechnen sei, erhielten die langgehegten Befürchtungen eine reale Anregung.⁹⁶ Schnell wurde eine Krisensitzung einberufen und die Ermordung des mutmaßlich Abtrünnigen beschlossen. In der Nacht des 20. November lockten sie schließlich Ivanov unter einem Vorwand in eine im Park der Petrov-Akademie nahe Moskau gelegene Grotte, ermordeten ihn und versenkten den Leichnam unter dem Eis eines nahegelegenen Teichs.⁹⁷ Ungeachtet dessen war der zarische Geheimdienst der Gruppe seit einigen Monaten auf der Spur. Man hatte Wohnungen durchsucht, Proklamationen beschlagnahmt und einen verdächtigen Buchladen, über den Schrifterzeugnisse der Verschwörer verbreitet wurden, in Moskau hochgenommen. Während die III. Abteilung immer mehr Informationen über die Verschwörer zusammensetzte, waren Polizei und Justiz mit dem Fall einer zufällig entdeckten Leiche betraut worden. Zunächst ergab sich für die ermittelnden Behörden noch kein Zusammenhang zwischen der Leiche und der Gruppe um Nečaev. Als indes der Name des Toten auf
Vgl. Besonders einflussreich war dabei der Roman Besy (Dämonen) von Dostojewski. Darin ist die Figur des Pëtr Verchovenskij dem radikalen Nečaev und Ivan Šatov dessen Opfer Ivanov nachempfunden. Dostojewski wertete für seinen Roman die zugänglichen Akten und Zeitungsberichte des Nečaev-Prozesses aus. Später fand Camusʼ Abhandlung Der Mensch in der Revolte weite Verbreitung. Vor einigen Jahren hat sich auch der Schriftsteller John Coetzee in seinem Roman The Master of Petersburg mit Nečaev und Dostojewski auseinandergesetzt. Zur Forschung beispielhaft Lur’e: Nečaev. Sozidatel’ razrušenija. Vgl. Koz’min: Nečaev i nečaevcy, S. 11. Vgl. Zasulič: Vospominanija; Theen: Nečaevs Auslieferung 1872; Bazilevskij (Hg.): Gosudarstvennye prestuplenija v Rossii v XIX veke, S. 159 – 227 und Pomper: Sergei Nechaev, S. 113, S. 181. Vgl. Koz’min: Nečaev i nečaevcy und Pomper: Sergei Nechaev, S. 112– 132.
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einer beschlagnahmten Liste Uspenskijs auftauchte, erschien der Mord in einem anderen Licht. Seither gilt der Mord an Ivanov als eine Tat aus niederen Motiven, als ein Mord allein im Interesse des kleinen Verschwörerzirkels – was auch immer genau darunter verstanden werden mag.⁹⁸ Die ambivalente Quellenlage und erwartbar widersprüchliche Aussagen der Beteiligten ließen viel Raum für Spekulation. War der Mord an Ivanov ein unmissverständliches Indiz für Nečaevs Machthunger und pathologisches Misstrauen? Oder lässt er sich als eine besondere Form der Vergemeinschaftung, gar als eine präemptive Maßnahme zum Schutze der Gruppe begreifen?⁹⁹ Jedenfalls zeigte sich ein gewisser Georgij Enišerlov der zarischen Geheimpolizei gegenüber auffallend offenherzig, als er bekannte, dass Nečaev sich ihm gegenüber zu Methoden der Einschüchterung geäußert habe: „Es waren Wortspiele, Andeutungen (igra slov, nameki) […]. Für eine politische Organisation ist das Geheimnis unabdingbar, es muss mit allen Mitteln bewahrt werden, vor allem mit Angst. Spione und Agenten […] sollen von Zeit zu Zeit mit dem Tod (der Ermordung) durch irgendeinen von uns bedroht werden. Als Unterscheidungsmerkmal, gleichsam als Siegel, soll dabei die Tötungsmethode dienen: Jeder Spion wird zuerst erwürgt und danach wird ihm in den Kopf geschossen.“¹⁰⁰
Im Anschluss an diese durchaus belastende Aussage findet sich noch der nicht weniger bemerkenswerte Hinweis, dass er sich hinsichtlich der Bedeutung der Worte geirrt haben mag. Der Grund für die Relativierung der eigenen Aussage ist wohl Enišerlovs besonderer Rolle innerhalb der Gruppe zuzuschreiben. So gehörte er zwar einerseits zum engsten Zirkel um Nečaev und stilisierte sich in seinen später verfassten Memoiren sogar als dessen Ideengeber, andererseits wurde Enišerlov im April 1869, also noch vor dem Mord an Ivanov, freiwillig beim Moskauer Oberpolizeimeister vorstellig und verhaftet.¹⁰¹ Ob spätestens an diesem Punkt ein Doppelspiel begann, lässt sich schwer ermitteln. Ebenso wenig lassen sich seine Einlassungen jedoch als blanke Effekthascherei abtun. So ist überliefert, dass sich Enišerlov schon früh mit den Machenschaften Nečaevs im Studentenmilieu nicht einverstanden zeigte und bei einer geheimen Sitzung auf den
Vgl. dazu Koz’min: Nečaev i nečaevcy, S. 10 f., Zitat: S. 11 und Bazilevskij (Hg.): Gosudarstvennye prestuplenija v Rossii v XIX veke, S. 163, S. 229 – 252. Schon vor vielen Jahrzehnten zu den unterschiedlichen Zuschreibungen und der Quellenlage exemplarisch Koz’min: Nečaev i nečaevcy, bes. S. 3 – 7. Vgl. dazu die aus dem Fond des zarischen Geheimdienstes abgedruckte Quelle bei Koz’min: Nečaev i nečaevcy, S. 143. Vgl. Koz’min: Nečaev i nečaevcy, S. 203 und Lur’e: Nečaev. Sozidatel’ razrušenija, S. 405.
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Nutzen eines Mordkomplotts hinwies.¹⁰² Im März 1870 – also nach dem Mord an Ivanov – bot er schließlich der III. Abteilung an, die Ermordung Nečaevs selbst auszuführen: „Sein Tod ist leicht zu erreichen: man braucht nur mich als Mittel anzuwenden. […] Wenn er umgebracht wird, verliert die Regierung einen ausreichend gefährlichen Feind, der imstande ist, ihr noch viele weitere Jahrzehnte zu schaden.“¹⁰³ Enišerlov mag zwar allein aus Selbstschutz den Mord an einer Galionsfigur des revolutionären Untergrunds angeboten haben; eine engere Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst kam dennoch zustande. So schreibt etwa Zamfir RalliArbore in seinen Erinnerungen, dass es Enišerlov gewesen sei, der ihn zu Fall gebracht habe.¹⁰⁴ Auch die handschriftliche Bemerkung – „ausführliche Unterredung mit Enišerlov“ – eines Mitarbeiters des zarischen Geheimdienstes auf dem oben zitierten Verhörprotokoll lässt durchaus auf einen regen Austausch zwischen Enišerlov und der III. Abteilung schließen. Und da später ausgerechnet der mit Enišerlov betraute Geheimdienstler Konstantin Filippeus an der Aufspürung und Verhaftung Nečaevs besonderen Anteil haben sollte, muss von einer engen Verbindung zwischen Enišerlov und der III. Abteilung ausgegangen werden.¹⁰⁵ Nach dem Mord an Ivanov hatte sich Nečaev zunächst in die Schweiz absetzen können. Obgleich der Hauptverdächtige damit in weiter Ferne schien und sich ein Prozess gegen ihn aufgrund eines gut funktionierenden Verschwörernetzwerks im Ausland einerseits und unklarer diplomatischer Abkommen andererseits nicht sofort realisieren ließ, stieß der Geheimdienst dennoch schnell auf die vier anderen mutmaßlich am Mord beteiligten Personen. Bereits im Sommer 1871 konnte der erste Prozess, der aufgrund der Brisanz des Falles nicht in Moskau, am Ort des Mordes, sondern von der Gerichtskammer St. Petersburg unter Vorsitz des liberalen Richters Aleksandr Ljubimov geführt wurde, beginnen.¹⁰⁶ Gemäß den Paragraphen 249, 250 und 318 des Strafgesetzbuchs wurde 87 Personen – unter ihnen die vier Beteiligten, aber etwa auch Tkačëv und Zasulič – die
Vgl. Lur’e: Nečaev. Sozidatel’ razrušenija, S. 70. Koz’min: Nečaev i nečaevcy, S. 142 f., Zitat: S. 143. Vgl. Ralli-Arbore: Sergej Gennadevič Nečaev. Siehe auch Lur’e: Nečaev. Sozidatel’ razrušenija, S. 54. Vgl. Pomper: Sergei Nechaev, S. 167– 182. Vgl. Koz’min: Nečaev i nečaevcy, S. 11; Pomper: Sergei Nechaev, S. 119 – 124, S. 167– 215 und Woodford McClellan: Nechaevshchina: An Unknown Chapter, in: Slavic Review 32 (1973), S. 546 – 553. Ein Auslieferungsvertrag zwischen der Schweiz und Russland wurde erst am 17. November 1873 als direkte Folge der Nečaev-Affäre geschlossen. Vgl. zu dem Vertrag Peter Collmer: Die Schweiz und das Russische Reich 1848 – 1919. Geschichte einer europäischen Verflechtung, Zürich 2004, S. 620 – 629.
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Beteiligung an einer Verschwörung gegen den Staat zur Last gelegt.¹⁰⁷ Justizminister Graf Pahlen, Innenminister Aleksandr Timašev und die Polizei suchten das Verfahren dazu zu nutzen, der Öffentlichkeit das verbrecherische Potenzial vor Augen zu führen und „der revolutionären Sache einen Schlag zu versetzen.“¹⁰⁸ Schließlich wurden die vier Hauptangeklagten zu Strafen zwischen fünfzehn und siebeneinhalb Jahren Zwangsarbeit verurteilt; die meisten Mitangeklagten erhielten mildere Urteile, einige gingen sogar straffrei aus dem Prozess hervor.¹⁰⁹ Mit dem ersten Prozess hatte der Staat ein Zeichen seiner Verteidigungsbereitschaft gesetzt. Indirekte Schützenhilfe sollte er bald auch durch den Roman Besy (Dämonen) erhalten, für den Dostojewski unter anderem auf die Prozessakten, aber auch auf Informationen zurückgegriffen hatte, die ihm von seinem mit Ivanov und dessen Häschern persönlich bekannten Schwager anvertraut worden waren.¹¹⁰ Einer öffentlichen und strafrechtlichen Verurteilung Nečaevs stand 1871 allerdings entgegen, dass sich der mutmaßliche Strippenzieher weiterhin dem Zugriff des Staates entziehen und so für viele Generationsgenossen eine schillernde Identifikationsfigur bleiben konnte. Entsprechend intensivierte die III. Abteilung die Jagd auf Nečaev und wurde aufgrund der internationalen Dimension des Falles vom Außen- und Justizministerium unterstützt. Mithin konnte sich Graf Pëtr Šuvalov, Chef der III. Abteilung und der Gendarmerie, an die Botschafter in Europa wenden und sie um ihre aktive Unterstützung bei der Festsetzung des flüchtigen Verschwörers bitten.¹¹¹ Von Anfang an hatte sich die Fahndung auf die Schweiz konzentriert, die „wegen ihrer traditionellen Verteidigung des Asylrechts“ gewissermaßen zu einer
Vgl. Bazilevskij (Hg.): Gosudarstvennye prestuplenija v Rossii v XIX veke, S. 159 – 227. Letztlich wurde nur gegen 79 Personen Anklage erhoben. Vgl. dazu Koz’min: Nečaev i nečaevcy, S. 13. Vgl. ferner Chochlov (Hg.): Polnij Svod Zakonov Ugolovnych, §§ 249, 250 und 318. Pomper: Sergei Nechaev, S. 120. Vgl. zu dem Problem, diese Absicht zu realisieren, Baberowski: Autokratie und Justiz, S. 648. Vgl. Lur’e: Nečaev. Sozidatel’ razrušenija, S. 187; Bazilevskij (Hg.): Gosudarstvennye prestuplenija v Rossii v XIX veke, S. 159 – 227 und Koz’min: Nečaev i nečaevcy, S. 13, S. 27, S. 207, S. 212, S. 215, S. 219. Die vorherige Untersuchung hatte zunächst insgesamt 152 Personen beschuldigt, an der Verschwörung Nečaevs beteiligt gewesen zu sein. Aus Mangel an Beweisen – und dem vorzeitigen Tod von vier Angeklagten – wurde jedoch gegen fast die Hälfte der ursprünglich Beschuldigten keine Anklage erhoben. Vgl. Gudrun Braunsperger: Sergej Nečaev und Dostoevskijs Dämonen. Die Geburt eines Romans aus dem Geist des Terrorismus, Frankfurt am Main 2002. Vgl. Theen: Nečaevs Auslieferung 1872. In Preußen etwa kümmerte sich Fürst Bismarck persönlich um den Fall. Vgl. ferner Pomper: Sergei Nechaev, S. 119 f., S. 167.
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Enklave russischer Revolutionäre geworden war.¹¹² So fand sich denn auch im Zürcher Raum am 2. August 1872 der gesuchte Verschwörer unter dem Tarnnamen Stepan Graždanov im ›Café Müller‹ ein, um dort mit anderen Revolutionären und seinem ihm noch unbekannten Verräter zusammenzukommen. Im Vorfeld war die Polizei jedoch von dem ehemaligen polnischen Revolutionär und nunmehrigen Agenten der III. Abteilung Adolf Stempkowski über eben dieses Treffen in Kenntnis gesetzt worden. Mit einem von Nečaev stets befürchteten Verrat endete folglich eine „der intensivsten Menschenjagden im Europa des 19. Jahrhunderts […].“¹¹³ Unfreiwillig betrat Nečaev im Oktober 1872 wieder russischen Boden. Wenige Monate später, am 8. Januar 1873, wurde am Bezirksgericht in Moskau ein Geschworenengerichtsverfahren unter Vorsitz von Pëtr Dejer gegen den mutmaßlichen Hauptverschwörer eröffnet: „Endlich, in Begleitung zweier Gendarmen mit gezückten Säbeln, erschien der Angeklagte. Mit zurückgeworfenem Kopf und in einem unnatürlichen, mechanischen Gang – genau wie ein schlechter, melodramatischer Schauspieler kam er herein. […] Der Vorsitzende konnte sich nicht einmal mit der üblichen ersten Frage des Gerichts an den Angeklagten wenden, als dieser, in unnatürlicher Weise seine Stimme erhebend und irgendwie komisch mit seiner linken Hand gestikulierend […] erklärte, dass er dem russischen Gericht nicht das Recht zuerkenne, über ihn zu richten.“¹¹⁴
In unterschiedlichen Variationen erklärte Nečaev dem vorsitzenden Richter, dass er sich nicht als Angeklagter betrachte – überhaupt das Gericht nicht anerkenne. Nach Geschrei und Tumult wurde der Angeklagte des Gerichtssaales verwiesen und auch dem Publikum mit Ausschluss gedroht.¹¹⁵ Nachdem Nečaev wenig später in den Saal zurückgeführt worden war, verfolgte er zunächst unauffällig den vom Richter vorgetragenen Mordhergang an Ivanov. Bei der Frage des Richters jedoch, ob sich der Angeklagte gemäß Artikel 1453 Absatz 3 des Strafgesetz-
Theen: Nečaevs Auslieferung 1872, Zitat: S. 576. Vgl. ferner Collmer: Die Schweiz und das Russische Reich 1848 – 1919, S. 290 – 317 und Jan Marinus Meijer: Knowledge and Revolution. The Russian Colony in Zuerich (1870 – 1873), Assen 1955. Theen: Nečaevs Auslieferung 1872, Zitat: S. 573; Lur’e: Nečaev. Sozidatel’ razrušenija, S. 218 – 267 und Ralli-Arbore: Sergej Gennadevič Nečaev, S. 136 – 146. Zur Verfolgung Nečaevs klassisch R. M. Kantor: V pogone za Nečaevym. K charakteristike sekretnoj agentury III otdelenija na rubeže 70-ch godov, St. Petersburg 1922. Der einzige Augenzeugenbericht zur Festnahme stammt von Herman Greulich: Das grüne Hüsli. Erinnerungen, Zürich 1942. So hat der konservative Journalist Michail Katkov den Auftritt beschrieben. Zitiert nach P. Ščëgolev: S. G. Nečaev v Alekseevskom raveline, in: Krasnyj archiv 4 (1923), S. 222– 272, Zitat: S. 227. Vgl. Bazilevskij (Hg.): Gosudarstvennye prestuplenija v Rossii v XIX veke, S. 229.
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buches des Mordes für schuldig bekenne, fand Nečaev zu alter Form zurück. Lauthals gab er zu verstehen, dass die Ermordung Ivanovs als „eindeutig politische Angelegenheit“ und „Teil der Verschwörung“ zu gelten habe, die bereits in Petersburg verhandelt worden sei.¹¹⁶ Abermals goutierte das Gericht diesen Ausfall mit Ausschluss und setzte die Verhandlung vorerst ohne den Angeklagten fort. Auf eine Neuausrichtung des Verfahrens wollte sich das Gericht unter keinen Umständen einlassen, zumal der Schweiz vor der Auslieferung Nečaevs zugesichert worden war, dass es sich nicht um eine politische Angelegenheit, sondern um die Verfolgung eines Mordfalls handele. Indes mag dieser Umstand nicht einmal der ausschlaggebende Grund gewesen sein. Vielmehr passte die Entwicklung des Falles in das staatliche Kalkül, im Lichte der niederträchtigen Tat jegliche politische Grundsatzdiskussion als überflüssig erscheinen zu lassen. Das Urteil war eindeutig. Nečaev verlor seine bürgerlichen Rechte und wurde zu 20 Jahren Zwangsarbeit in einem Bergwerk mit anschließender Ansiedlung in Sibirien verurteilt. Seine letzten Worte vor Gericht sollen gewesen sein: „Nieder mit dem Despotismus!“ – ein Aufruf, der einem Polizeibericht zufolge lautes Gelächter im Gerichtssaal auslöste.¹¹⁷ Während die genaueren Umstände des Mordes an Ivanov bis heute im Dunkeln liegen, deuten die meisten Abhandlungen zur Verschwörung um Nečaev – interessanterweise die Sicht des Staates übernehmend – den Fall als logische Konsequenz einer sterilen Machttheorie. Dabei wird der ›Revolutionäre Katechismus‹ nur als einer von vielen Texten herangezogen, in dem auf exemplarische Weise der Märtyrergeste gehuldigt und das Beseitigen potenzieller Feinde zelebriert wird. Selbst wenn man diese Deutung nicht grundsätzlich fallen lässt, erlaubt der Blick auf die mit Verschwörungen gleichsam systemisch verbundene Dynamik eine erweiterte Interpretation. So hat etwa der sowjetische Historiker Boris Koz’min bereits im Jahr 1931 darauf hingewiesen, dass die bekannten Quellen fast nichts erklärt hätten (ne davali nam počti ničego) und dafür plädiert, sich in den spezifischen Kontext der Verschwörer hineinzuversetzen.¹¹⁸ Die geschilderte Mord-Episode lässt sich somit auch als Resultat einer ungewöhnlichen Lebensweise deuten. Hatte sie sich doch in einem Milieu ereignet, in dem Verfolgungsangst zu einer Obsession geworden war.¹¹⁹ In dieser Perspektive wirkt die
Bazilevskij (Hg.): Gosudarstvennye prestuplenija v Rossii v XIX veke, S. 233. Vgl. ferner Chochlov (Hg.): Polnij Svod Zakonov Ugolovnych, § 1453. Vgl. Bazilevskij (Hg.): Gosudarstvennye prestuplenija v Rossii v XIX veke, Zitat: S. 252. Vgl. ferner Pomper: Sergei Nechaev, S. 182. Vgl. Koz’min: Nečaev i nečaevcy, S. 4. Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere Theen: Nečaevs Auslieferung 1872.
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Angelegenheit zwar nicht weniger irritierend, allerdings wird sie nicht mit einem vorschnellen Rückschluss auf eine pathologische Charakterstruktur abgetan. Nečaev sollte jedenfalls ein wesentlicher Bezugspunkt des revolutionären Untergrunds bleiben. Liberale Stimmen sahen sich durch die Gerichtsverhandlung in ihrer Ablehnung der radikalen Jugend bestätigt, rückten damit allerdings in eine erstaunliche Nähe zu eben dem Staat, den sie eigentlich kritisierten. Gerade in diesem Versuch entschiedener Aufrichtigkeit gibt sich der schwindende Einfluss des liberalen Geistes zu erkennen.¹²⁰ Für radikalere Stimmen avancierte Nečaev demgegenüber zum unvermeidlich janusköpfigen Helden. Hatte er es doch nicht nur verstanden, Michail Bakunin für sich einzunehmen und im Zuge seiner Aufenthalte in der Schweiz sogar eine Liaison mit der Tochter des berühmten Herzen anzubahnen, sondern es auch auf unvergleichliche Weise vermocht, die Verschwörung als Instrument politischer Gestaltung in das Arsenal aufrührerischen Protests einzufügen.¹²¹ Ein Zeitgenosse sah daher in Nečaev allein einen Menschen, der, „obwohl verdorben, ihnen als eine Person erschien, die für die Sache einstand.“¹²² Obwohl also die historischen Grundzüge seit vielen Jahren bekannt sind, eröffnet der unvoreingenommene Blick auf den Fall eine durchaus andere Perspektive. So lässt sich Nečaev gleichsam als russischer Pythagoreer begreifen.Wie die Vertreter dieser antiken Gemeinschaft, in der manche Forscher sogar den Ursprung des Phänomens der Verschwörung sehen, verschrieb auch er sich kompromisslos seiner Sache. Einer Legende nach setzten einige Pythagoreer dem Leben ihres vermeintlichen Widersachers Hippasos ein Ende, nachdem dieser sich als Entdecker der irrationalen Zahlen an den Idealen einer pythagoreischen Weltordnung versündigt hatte.¹²³ Im Zeitalter der russischen Verschwörer war es daher nur folgerichtig, wenn ein möglicher Verrat an der politischen Linie ebenfalls nicht anders als mit dem Tod geahndet wurde.
Vgl. Berlin: Russian Thinkers. Vgl. Confino: Daughter of a Revolutionary und Carr: The Romantic Exiles. Koz’min: Nečaev i nečaevcy, S. 150. Vgl. Leonid Zhmud: Pythagorean Communities. From Individuals to a Collective Portrait, in: David Sider/Dirk Obbink (Hg.), Doctrine und Doxography. Studies on Heraclitus and Pythagoras, Berlin 2013, S. 33 – 52 und Charles Seife: Zero. The Biography of a Dangerous Idea, New York 2000, S. 26, S. 37 f.
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4. Die Zeit drängt Mit der Verurteilung Nečaevs trat das Zeitalter der Konspiration in eine neue Phase ein. Der Startschuss kam dabei aus dem direkten Umfeld des russischen Pythagoreers. Vera Zasulič, die in der Forschung als Geburtshelferin des Terrorismus im späten Zarenreich gilt, und der von dem Historiker Adam Ulam – entgegen ihrem eigenen Bekunden – eine kurze und heftige Liebschaft mit Nečaev attestiert worden ist, hatte als Schwägerin der führenden Verschwörer Pëtr Uspenskij und Lev Nikiforov mit dem Handwerk der Verschwörung schon in jungen Jahren einschneidende Erfahrungen sammeln können.¹²⁴ Auf ihr Engagement folgten im Jahr 1869 zunächst Verhaftung und dann Verbannung.¹²⁵ Einige Jahre später jedoch, im Jahr 1875, konnte sich Zasulič in die Hauptstadt des Reiches absetzen und in der Anonymität der Großstadt an ihre frühere Tätigkeit anknüpfen.¹²⁶ Zasulič war damit endgültig in der Illegalität gefangen. Der Historiker Stephan Rindlisbacher hat kürzlich noch einmal darauf hingewiesen, dass sich „ab den 1860er Jahren eine Schranke erkennen [lässt], welche die ›gewöhnlichen Menschen‹ in der Sympathisantensphäre von den ›auserwählten Mitgliedern‹ in den radikalen Zirkeln trennte“ und sich dadurch der Reiz des Radikalen gesteigert habe.¹²⁷ Zasulič sicherte sich einen Platz auf der großen Bühne der Auserwählten, als sie am 24. Januar 1878 während einer Audienz beim Petersburger Stadtkommandanten Trepov einen Schuss auf ihn abfeuerte.¹²⁸ Den Entschluss zur rächenden Tat hatte sie gefasst, nachdem Trepov – der unter anderem wegen der brutalen Niederschlagung des Aufstands in Polen 1863/64 weithin bekannt war – den politischen Häftling Archip Bogoljubov im Untersuchungsgefängnis Petersburgs mit Peitschenhieben hatte züchtigen lassen, obwohl Körperstrafen im Zuge der Justizreform für nicht rechtskräftig ver-
Zur Liebschaft und Schwägerschaft vgl. Zasulič: Vospominanija, S. 60 f.; Ulam: In the Name of the People, S. 179 und Stephan Rindlisbacher: Leben für die Sache. Vera Figner, Vera Zasulič und das radikale Milieu im späten Zarenreich, Wiesbaden 2014, S. 86. Zu Zasulič als Begründerin des Terrorismus klassisch Vera Figner: Zapečatlënnyj trud. Vospominanija, Moskau 1964, S. 3; Alphons Thun: Geschichte der revolutionären Bewegung in Russland, Leipzig 1883 und zuletzt Hilbrenner: Gewalt als Sprache der Straße, S. 76. Vgl. Koz’min: Nečaev i nečaevcy, S. 31 f., S. 203. Vgl. Rindlisbacher: Leben für die Sache, S. 2 f., S. 92 f., S. 135– 164. Rindlisbacher: Leben für die Sache, S. 96. Vgl. dazu Ana Siljak: Angel of Vengeance. The Girl Who Shot the Governor of St. Petersburg and Sparked the Age of Assassination, New York 2009. Vgl. ferner Zasulič: Vospominanija.
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urteilte Personen als abgeschafft galten.¹²⁹ Trepov überlebte das Attentat; die Attentäterin sah ihre Mission erfüllt und ließ sich ohne Gegenwehr festnehmen. Die Revolutionäre sahen Zasulič einem „schrecklichen, aber ruhmvollen Schicksal“ überantwortet: „Dich erwarten Verhöre ›mit Leidenschaft‹ (s pristrastiem), Folterungen, mit denen gelehrte Professoren schon Dmitrij Karakozov bedacht haben, und niemand wird dein Stöhnen hören.“ Und selbst wenn noch jemand zu ihr halte, fährt der Verfasser fort, würden auch sie nicht der Folter entgehen und „einem unmenschlichen Gerichtsurteil“ entgegensehen.¹³⁰ Die Realität indes sollte von dem antizipierten Verlauf eklatant abweichen. Justizminister Graf Pahlen stufte den Fall als unpolitisch ein und wollte ihn vor einem Petersburger Geschworenengericht verhandeln lassen. Womöglich erinnerte er sich an den Nečaev-Prozess, der gerade durch seine vermeintlich unpolitische Dimension die gewünschte Wirkung erzielt hatte. Als Graf Pahlen von dem Gerichtspräsidenten Anatolij Koni schon im Vorfeld die Garantie eines Schuldspruchs erhalten wollte, wurde er unverzüglich mit den Auswirkungen der Justizreform konfrontiert. So antwortete Koni auf die unzweideutige Frage des Justizministers, ob der Zar im Falle Zasulič nicht besondere Dienste seitens des Gerichts erwarten dürfe, süffisant: „Graf, gestatten Sie mir, Sie an die Worte zu erinnern, die d’Aguesseau an den König [sc. Ludwig XIV] richtete: ›Sire, la cour rend des arrêts et pas des services‹.“¹³¹ Resigniert winkte der Minister daraufhin ab, hielt allerdings an dem Entschluss fest, den Fall vor dem Geschworenengericht verhandeln zu lassen. Bald schon fanden sich auf den überfüllten Zuschauerbänken zahlreiche Vertreter der hauptstädtischen Prominenz ein: der russische Außenminister Aleksandr Gorčakov, der Verteidigungsminister Dmitrij Miljutin, etwa 100 Justizbeamte, hohe zarische Würdenträger, Mitglieder des Reichsrats, Senatoren und Gouverneure. Sogar der Schriftsteller Dostojewski war als Pressevertreter zugegen.¹³² Durch eine geschickte Verteidigung, die den Leidensweg der jungen Zas-
Der bürgerliche Name Bogoljubos lautete Aleksej Emel’anov. Vgl. Jakov Emel’janov: Vospominanija o brate A. S. Emel’janove (Bogoljubove), in: Katorga i Ssylka 72 (1931), S. 179 – 180. Die juristischen Nuancen der Auspeitschung, ob zulässig oder nicht, sind bis heute umstritten. Fest steht jedoch, dass die Peitschenhiebe einen Skandal auslösten, der in der Tat Zasuličs kulminierte. Vgl. zuletzt zu Bogoljubov und den Folgen Rindlisbacher: Leben für die Sache, S. 135 – 164. Proklamacija ›Zemli i voli‹: ›Pokušenie na žizn’ Trepova‹. Janvar’ 1878 g., in: S. S. Volk (Hg.), Revoljucionnoe narodničestvo 70-ch godov XIX veka, Moskau/Leningrad 1965, S. 47– 50, hier: S. 49 A. F. Koni: Sobranie Sočinenij. Tom 2, Moskau 1966, S. 74. Vgl. zu den Zuschauern Koni: Sobranie Sočinenij, S. 90 und G. Gradovskij: Iz gazet posle suda, in: M. Kovalenskij (Hg.), Russkaja revoljucija v sudebnych processach i memuarach, Moskau 1923, S. 65 – 70.
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ulič einem vermeintlich übermächtigen Staat gegenüberstellte, sollte es schließlich gelingen, das strafrechtlich relevante Faktum des versuchten Mordes nachgerade zu neutralisieren. Da jedoch in diesem Fall das Delikt zweifelsfrei feststand, hatte dennoch niemand einen Freispruch für möglich gehalten. Umso größer fiel der Tumult bei der Urteilsverkündung Ende März 1878 aus: „›Nicht schuld…‹, weiter konnte er [sc. der Gerichtsdiener] nicht sprechen… […] Schreie unbeherrschter Freude, hysterisches Schluchzen, verwegener Applaus, Getrampel mit den Füßen, Ausrufe: ›Bravo! Hurra! Ausgezeichnet! Vera! Veročka! Veročka!‹, alles verschmolz zu einem Krach, einem anhaltenden Geheul und Gezeter.“¹³³ In diesem Moment ließen sich die fassungslosen Anhänger der Autokratie aus dem „schrecklichen Albtraum“ nicht einmal durch das Bekenntnis eines Geschworenen wecken, dass es zum Freispruch allein aus Furcht vor dem am Gerichtsgebäude versammelten Mob (ogromnaja tolpa) gekommen sei.¹³⁴ Der Fall Zasulič war nun endgültig ein Politikum. Der Freispruch hatte eine Heldin erschaffen, der bald hohe Würdenträger, sogar der russische Außenminister, aber auch die internationale Presse erlagen. Vor dem Gerichtsgebäude bereitete eine johlende Menschenmenge der Attentäterin einen gebührenden Empfang.¹³⁵ Als kurz darauf das Gerücht die Runde machte, das Urteil solle kassiert werden – der Generalstaatsanwalt Aleksandr Lopuchin arbeitete tatsächlich daran –, kam es zu einem Schusswechsel mit den umstehenden Gendarmen, infolgedessen der Helm eines Gendarmen einen Schuss abfing, eine schwerverletzte Studentin und ein toter Student zu beklagen waren.¹³⁶ Angesichts der drohenden Revision setzte sich Zasulič ins Ausland ab und fand vorerst in Berlin, später in der Schweiz Unterschlupf. Nach dem Prozess nahm Trepov seinen Hut. Der Justizminister wurde von keinem geringeren als Vladimir Nabokov, dem Großvater des berühmten Schriftstellers, abgelöst. Fälle von Tätlichkeiten gegen Amtspersonen, überhaupt politisch motivierte Taten, wurden der Geschworenengerichtsbarkeit entzogen. Bogoljubov, Auslöser der ganzen Affäre, erkrankte im Gefängnis psychisch und Koni: Sobranie Sočinenij, S. 171 f. Vgl. Knjaz’ Meščerskij: Vospominanija, Moskau 2001, S. 403 – 429, Zitat: S. 415. Das Bekenntnis eines Geschworenen gegenüber der III. Abteilung ist abgedruckt bei A. A. Kunkl’: Vokrug dela Very Zasulič, in: Katorga i Ssylka 38 (1928), S. 57– 66, hier S. 62. Vgl. Baberowski: Autokratie und Justiz, S. 686 und Kunkl’: Vokrug dela Very Zasulič.Vgl. ferner Wolfgang Geierhos: Vera Zasulič und die revolutionäre Bewegung, München 1977, S. 43 – 77. Vgl. Kunkl’: Vokrug dela Very Zasulič und M. Fedorov: Iz vospominanij upravl. SPb domom predvarit. zaključenija M. Fedorova, in: M. Kovalenskij (Hg.), Russkaja revoljucija v sudebnych processach i memuarach, Moskau 1923, hier: S. 99 – 102. Vgl. zur erneuten Festsetzung Zasuličs Prikaz ob areste V. Zasulič, in: M. Kovalenskij (Hg.), Russkaja revoljucija v sudebnych processach i memuarach, Moskau 1923, S. 62.
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verstarb bald darauf. Zasulič selbst kehrte der terroristischen Strategie den Rücken und sollte es fortan vorziehen, sich brieflich – etwa mit Karl Marx – über die Revolution auszutauschen. Ihr Schuss hatte dennoch den Geist des organisierten Terrorismus endgültig und unwiderruflich (bespovorotno) aus der Flasche gelassen.¹³⁷ Dabei hatten die Revolutionäre bereits seit ihrem desaströsen ›Gang ins Volk‹ nicht mehr viel auf die Kraft des Wortes gegeben. Stattdessen sprachen sie von der Propaganda der Tat und konspirativer Aktion. Wenn überhaupt sollte die Volksmasse infolge des Sturzes der Zarenherrschaft erreicht werden. Durch die Fixierung auf die Machtfrage hatten sich die Fronten des sogenannten frühen Narodničestvo endgültig geklärt.¹³⁸ Entsprechend schlussfolgerte denn auch ein prominenter Revolutionär: „Die propagandistische Bewegung war eine vortreffliche Probe für die Macht des Wortes. Durch eine natürliche Rückwirkung versuchte man auf dem entgegengesetzten Wege zu experimentieren, dem der Tat. […] Zur Tat! Wurde ebenso allgemein, wie es einige Jahre vorher der Ruf: Unters Volk! gewesen war.“¹³⁹ So waren bereits vor dem Zasulič-Prozess bei Pahlen, Trepov und dem Chef der III. Abteilung und Gendarmerie, Nikolaj Mezencov, anonyme Zuschriften eingetroffen, in denen ihnen der Tod prophezeit wurde. In einem an Pahlen gerichteten Brief vom 26. Januar 1878 war etwa zu lesen: „Es gibt eine Kraft, die vor nichts haltmacht: Ein hündischer Tod allen Hunden.“ Und in einem anderen Brief desselben Datums stand: „Dem Hund Trepov einen hündischen Tod!!! Und ihnen, den Pahlens, Mezencovs […]! Judassen!!“¹⁴⁰ Es sollten keine leeren Drohungen bleiben, denn schon im August 1878 wurde Mezencov auf offener Straße erdolcht. Sergej Kravčinskij, der Täter, begründete seine Tat mit der zwei Tage zuvor erfolgten Hinrichtung eines Revolutionärs. Sein anschließend veröffentlichtes Pamphlet ›Tod für Tod‹ (smert’ za smert’) wurde gleichsam zur Gründungsakte des organisierten Terrorismus.¹⁴¹
Vgl. A. Jakimova: Pamjati Marii Aleksandrovny Kolenkinoj-Bogorodskoj, in: Katorga i Ssylka 31 (1927), S. 177– 186. Zu den Briefen etwa RGASPI, Fond 262, op. 1, d. 68 und ferner Rindlisbacher: Leben für die Sache, S. 203 – 240. Vgl. A. Jakimova: ›Bol’šoj process‹, ili ›process 193-ch‹, in: Katorga i Ssylka 37 (1927), S. 7– 31. Vgl. ferner Richard Pipes: Narodnichestvo. A Semantic Inquiry, in: Slavic Review 23 (1964), S. 441– 458 und Venturi: Roots of Revolution, bes. S. 586 – 632 mit ausführlichen Zitaten und vielen Quellenverweisen zu dieser Entwicklung. Sergej M. Kravčinskij: Das unterirdische Rußland. Porträts und Skizzen aus der Wirklichkeit, Bern 1884, S. 23. Im Exil trat Kravčinskij unter dem Pseudonym Stepnjak auf. Kunkl’: Vokrug dela Very Zasulič, S. 57– 66. Vgl. Sergej M. Kravčinskij: Smert’ za smert’ (Ubijstvo Mezenceva), in: E. L. Rudnickaja (Hg.), Revoljucionnyj radikalizm v Rossii, Moskau 1997, S. 397– 404.
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Die Tat Kravčinskijs reihte sich nahtlos in eine ganze Abfolge von Attentaten ein. Schon im Juni 1876 hatten die Terroristen Lev Dejč und Viktor Malinka in Odessa den enttarnten Verräter Nikolaj Gorinovič mit Schwefelsäure übergossen.¹⁴² Im August 1876 war der berühmte Anarchist Pëtr Kropotkin aus einem Petersburger Gefängnis befreit worden.¹⁴³ Im Januar 1878 leistete Ivan Koval’skij während seiner Festnahme in Odessa bewaffneten Widerstand. Just mit der auf dieses Ereignis folgenden Hinrichtung sollte Kravčinskij seine eigene Tat legitimieren, obwohl er Mezencov zuvor bereits zweimal hatte ermorden wollen.¹⁴⁴ Anfang Februar 1878 wurde der gegenüber der Polizei geständige Revolutionär Akim Nikonov in Rostov ermordet. Ebenfalls im Februar verübten Valerian Osinskij und andere Revolutionäre ein Attentat auf den Staatsanwalt Kotljarevskij in Kiev. Im Mai wurde der Gendarmerieoffizier Baron Gustav von Gejking von Grigorij Popko ebenfalls in Kiev auf offener Straße erstochen.¹⁴⁵ Es konnte allerdings auch vorkommen, dass Revolutionäre sich vermeintlichen Würdenträgern näherten, um ihnen dann mit vorgehaltener Pistole zu erklären: „Entschuldigen Sie, wir haben uns getäuscht!“¹⁴⁶ Kravčinskijs Diktum hatte offensichtlich den neuen Zeitgeist auf den Begriff gebracht. Überlegungen zu „Zarenmord und Verschwörung tauchten in den Köpfen der Menschen in unterschiedlichen Teilen Russlands“ auf.¹⁴⁷ Es waren nunmehr die spontan erscheinenden Ausbrüche der Gewalt, die vor allem mit den ›Südrebellen‹ und dem Namen Osinskij verbunden wurden. Auch wenn die Rebellen vordergründig einem dezentralen Terror frönten, so inszenierten sie ihre Aktionen doch als Beschlüsse eines ›Exekutivkomitees der sozialrevolutionären Partei‹. Ein Komitee zwar, dessen Existenz ebenso schleierhaft blieb wie einige Jahre zuvor das Komitee Nečaevs, das aber gerade dadurch seine Bedeutung erhielt – nämlich
Vgl. Jakimova: Pamjati Marii Aleksandrovny Kolenkinoj-Bogorodskoj und Leo G. Deutsch [Lev G. Dejč]: Sechzehn Jahre Sibirien. Erinnerungen eines russischen Revolutionärs, Stuttgart 1921, S. 7– 10 und David Footman: Red Prelude. The Life of the Russian Terrorist Zhelyabov, New Haven 1944, S. 67. Zu weiteren Morden an sogenannten Spionen Thun: Geschichte der revolutionären Bewegung in Russland, S. 161. Vgl. Pëtr Kropotkin: Memoiren eines Revolutionärs. Bd. 2, Münster 2002, S. 394– 408. Vgl. Verhoeven: Time of Terror, Terror of Time. Vgl. Lev Tichomirov: Vospominanija, Moskau/Leningrad 1927, S. 106 – 109; Grigorij Gol’denberg: ›Ispoved’‹ Grigorii Gol’denberga. S predisloviem R. Kantora, in: Krasnyj archiv 5 (1928), S. 117– 183 und Derek Offord: The Russian Revolutionary Movement in the 1880s, Cambridge 1986, S. 23. Schätzungen gehen von 35 erfolgreichen Attentaten in der Zeit von 1877 bis 1881 aus. Vgl. dazu Norman M. Naimark:Terrorism and the Fall of Imperial Russia, in: Terrorism and Political Violence 2 (1990), S. 171– 192. Tichomirov: Vospominanija, S. 107. Tichomirov: Vospominanija, S. 84.
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die Einschüchterung des Staates und die Attraktivität für potenzielle Unterstützer zu steigern.¹⁴⁸ Zudem unterstrichen sie mit ihrem offenen Bekenntnis zu Konspiration und Terror, dass sie diejenigen, die weiterhin an Propaganda und Aufklärung festzuhalten gedachten, für neurasthenische Weichlinge und Träumer hielten.¹⁴⁹ Die Schufte (podlecy) der Autokratie sollten mit Stumpf und Stiel ausgelöscht werden und der Prolog, der Nečaev zufolge mit dem Attentat Karakozovs eingesetzt hatte, endlich aufhören.¹⁵⁰ Zunächst fanden die Revolutionäre in der seit 1876 wiederbelebten Partei Zemlja i Volja (Land und Freiheit) ihre politische Heimat. Indes konnte sie die Spannung, wie die Revolution am schnellsten zu erreichen sei, nie entschärfen. Einerseits wollte man die Revolution nur mit dem Volk, also den Bauern, erreichen, andererseits sprach man sich für einen „gewaltsamen Umsturz“ aus, da an eine Volksbewegung und den Sturz der Autokratie nicht anders zu denken sei.¹⁵¹ So suchte das Programm sich zwar von den Radikalen zu distanzieren, indem es sie als „Sekte religiös-revolutionären Charakters“ desavouierte, forderte an anderer Stelle jedoch unumwunden die „systematische Vernichtung (istreblenie) der schädlichsten und exponiertesten Personen der Regierung.“¹⁵² Auch wenn der Wunsch nach Revolution durch Bildung nach der Erfahrung mit Nečaev von vielen Revolutionären als zentrale Losung ausgegeben worden war, ließen sie das Feigenblatt vermeintlich reiner Aufklärungsarbeit doch wieder fallen, als die Bewegung sich zu erholen begann. Nunmehr wollte sie sich weniger mit Fragen der Machtübernahme als vielmehr der Zerstörung zarischer Souveränität belasten.¹⁵³ Bekanntlich hatte Herzen schon in den 1860er Jahren die Vgl. Tichomirov: Vospominanija, S. 105 f. Zuletzt zu Osinskij Hilbrenner: Gewalt als Sprache der Straße, S. 88 – 92. Vgl. Lev Tichomirov: Teni prošlogo, Moskau 2000, S. 279. Nikolaj Morozov etwa spricht in seinen Memoiren davon, dass niemand in seiner Umgebung über die Frage des Sozialismus sprach. Letzterer zählt nicht mehr als 15 Personen zum Umfeld des vermeintlichen Exekutivkomitees. Vgl. Morozov: Povesti moej žizni. Memuary, Moskau 1965, S. 412– 415, S. 417. Vgl. Proklamacija odesskogo kružka I.M. Koval’skogo: ›Golos čestnych ljudej‹ po povodu pokušenija V. I. Zasulič na peterburgskogo gradonačal’nika Trepova. [ne ranee 15. marta 1878 g.], in: Volk (Hg.), Revoljucionnoe narodničestvo 70-ch godov XIX veka, Moskau/Leningrad 1965, S. 50 – 52, hier: S. 51 und Proklamacija ›Zemli i voli‹: ›K russkomu obščestvu‹ po povodu opravdanija V. I. Zasulič. Aprel’ 1878 g., in: Volk (Hg.), Revoljucionnoe narodničestvo 70-ch godov XIX veka, Moskau/Leningrad 1965, S. 53 – 55, hier: S. 53. Vgl. Programma ›Zemli i voli‹: [konca 1876 g. i maj 1878], in: Volk (Hg.), Revoljucionnoe narodničestvo 70-ch godov XIX veka, Moskau/Leningrad 1965, S. 27– 33, hier: S. 28. Programma ›Zemli i voli‹: [konca 1876 g. i maj 1878], in: Volk (Hg.), Revoljucionnoe narodničestvo 70-ch godov XIX veka, Moskau/Leningrad 1965, S. 30. Vgl. Tichomirov: Vospominanija, S. 83 – 136, bes. S. 86.
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Warnung ausgesprochen, dass der Ruf nach der Axt eine disziplinierte Bewegung und Organisation erforderlich mache und man auch nicht vor der Vorstellung zurückschrecken dürfe, sein Leben im Kampf zu lassen.¹⁵⁴ Derlei Bedenken provozierten inzwischen höchstens ein abschätziges Lächeln, ging es doch um nichts weniger als die „Verwirklichung der Revolution in der Gegenwart.“¹⁵⁵
Vgl. A. I. Gercen/N. P. Ogarev: Pis’mo iz provincii. 1 marta 1860, in: Kolokol (1860), S. 531– 535. Herzen hatte diesen aufklärenden Hinweis damals als Versuch zur Beschwichtigung der jungen Wilden – besonders Černyševskijs – formuliert, die zur Tat aufriefen. Morozov: Povesti moej žizni, S. 418.
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5. Organisation des Unbedingten Die Bedeutung der Zemlja i Volja liegt insbesondere in ihrer aktiven Rückbesinnung auf das russisch-jakobinische Erbe. Gemäß den Parteistatuten von 1878 wurde die Bildung von Zirkeln empfohlen, um die revolutionäre Schlacht – bis zum Tode ergeben – in das Zentrum zarischer Macht zu tragen. Längst heiligte in diesem Kampf der Zweck die Mittel (cel’ opravdyvaet sredstva) und offenbarte unverhüllt den konspirativen Geist des inzwischen so häufig erprobten Verfahrens. Der Einzelne erhielt seinen Wert durch den Einsatz für die Sache und sollte er Verrat begehen (vydaet kružkovye tajny ili boltaet o nich), so wäre der Rachemord nur die gerechte Strafe.¹⁵⁶ Auch wenn die Revolutionäre immer wieder ihre Verachtung gegenüber den Methoden Nečaevs vollmundig bekundet hatten, sah man sich gleichwohl diesem russischen Jakobiner verpflichtet. Die Petersburger Zentrale der Zemlja i Volja bemühte sich um das Dirigat der Revolution. Im ganzen Reich wurden Zellen mit je eigenen inneren Zirkeln installiert, die von der Hauptstadtzentrale aus gelenkt werden sollten. Die zahlenmäßige Ausbeute dieser Zellenbildung belief sich bald auf geschätzte 200 Mitglieder.¹⁵⁷ Geheime Pressen wurden eingerichtet, die Programme und revolutionäre Pamphlete druckten und Quartiere angemietet, in denen zum Schein bürgerliche Ehepaare einzogen, um die Treffen der Aktivisten zu tarnen. Auch Spione ließen sich erfolgreich anwerben. Als schließlich im Januar 1879 Nikolaj Kletočnikov in die III. Abteilung eingeschleust werden konnte, war ein entscheidender Coup gelungen; zumal das Trojanische Pferd erst im Januar 1881 enttarnt wurde.¹⁵⁸ Nach einer längeren Phase scheinbarer Hilflosigkeit, für die Mezencovs Ermordung symbolisch stand, suchte der Staat wieder Boden gutzumachen, indem er die Bildungsanstalten – insbesondere nach der Erfahrung der Studentenunruhen der Jahre 1876 und 1878 – strenger überwachte und die Polizeikräfte
Vgl. zu den Statuten Obščestvo ›zemli i voli‹: Ustav Organizacija. [aprel’-maj 1878 g.], in: Volk (Hg.), Revoljucionnoe narodničestvo 70-ch godov XIX veka, Moskau/Leningrad 1965, S. 34– 42. Vgl. O. V. Aptekman: Obščestvo ›Zemlja i Volja‹. 70-ch gg., Petrograd 1924, S. 199 f. Aptekman spricht von einem Kern von zunächst 25, dann 44 Mitgliedern, schließlich einem Verband von 150 Personen. Vgl. dazu auch Vasilij F. Antonov: Revoljucionnoe narodničestvo, Moskau 1965, S. 201 f. und Dietrich Beyrau/Manfred Hildermeier: Von der Leibeigenschaft zur Frühindustriellen Gesellschaft (1856 bis 1890), in: Gottfried Schramm (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands. Band 3. Von den autokratischen Reformen zum Sowjetstaat, Stuttgart 1983/1992, S. 5 – 202, hier: S. 161.Vgl. zum Aufbau der Organisation Figner: Nacht über Rußland, S. 71 f. Vgl. Venturi: Roots of Revolution, S. 616 f.
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aufstockte.¹⁵⁹ Zur effektiveren Verfolgung politischer Feinde schlug das Ministerkomitee Ausnahmegesetze vor: „Ein Ukaz vom 9. August 1878 überführte alle Fälle von bewaffneten Attentaten auf Beamte des Staates in die Rechtsprechungskompetenz von Militärgerichten. […] Am 1. September 1878 erweiterte das Ministerkomitee […] die Befugnisse der politischen Polizei. Es ermächtigte das Gendarmenkorps, politisch verdächtige Personen zu verhaften und ohne Zustimmung der Prokuratur unter Polizeiaufsicht zu nehmen.“¹⁶⁰ Anfang Dezember 1879 sollte Kriegsminister Dmitrij Miljutin von einem „über ganz Russland“ verhängten Belagerungszustand sprechen.¹⁶¹ Von schnelleren Verfahren und der abschreckenden Wirkung der Todesstrafe erhofften sich die Behörden ein baldiges Ende der Unruhen.¹⁶² Damit rückte das Selbsterhaltungsrecht des Souveräns ins Zentrum politischen Kalküls.¹⁶³ Im Januar 1879 gelang es dem Kiever Gendarmerieoffizier Georgij Sudejkin, dem Nachfolger des ermordeten Gejking, dem Verschwörer Osinskij auf die Schliche zu kommen. Obgleich dadurch das apostrophierte Exekutivkomitee des Südens entscheidend geschwächt wurde, konnten die Revolutionäre weiterhin Erfolge für sich verbuchen. Im Februar 1879 fiel Fürst Kropotkin, der Gouverneur von Char’kov und Cousin des berühmten Anarchisten, einem Attentat Grigorij Gol’denbergs zum Opfer.¹⁶⁴ Im selben Monat töteten Michail Popov und Nikolaj Šmeman einen Agenten der III. Abteilung namens Nikolaj Rejnštejn.¹⁶⁵ Im März entging Gendarmeriechef Aleksandr Drentel’n, der Nachfolger des ermordeten
Vgl. zur Eskalation der Gewalt bei Demonstrationen Figner: Nacht über Rußland, S. 54– 61 und Thun: Geschichte der revolutionären Bewegung in Russland, S. 176 – 179. Baberowski: Autokratie und Justiz, S. 696. Vgl. auch Daly: Autocracy under Siege, S. 12– 31. Vgl. S. S. Volk: Narodnaja Volja. 1879 – 1882, Moskau/Leningrad 1966, S. 104. Die relativ moderate Handhabe der Todesstrafe, die gemäß dem Strafgesetzbuch von 1866 nur bei Personen Anwendung finden sollte, die dem Zaren nach dem Leben trachteten oder des Hochverrats überführt werden konnten, hatte sich mit der Ausnahmegesetzgebung und der Einführung der Militärgerichtsbarkeit zwar de jure geändert, blieb aber zunächst faktisch gültig. Vgl. Peter Liessem: Die Todesstrafe im späten Zarenreich: Rechtslage, Realität und öffentliche Diskussion, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 37 (1989), S. 492– 523. Vgl. Schmitt: Politische Theologie, S. 18 f., S. 37 f. Auch Venturi spricht in diesem Zusammenhang von Selbsterhaltung (self-preservation). Venturi: Roots of Revolution, S. 606. Vgl. Gol’denberg: ›Ispoved’‹ Grigorii Gol’denberga. An der Kleidung Rejnštejns wurde die folgende Notiz angebracht: „Nikolaj Vasil’ev Rejnštejn, ein Verräter und Spion, verurteilt und hingerichtet durch russische Sozialistische-Revolutionäre; Tod den Judas-Verrätern!“ GARF, Fond 94, op. 1, d. 53, ll. 11– 15ob. Vgl. ferner GARF, Fond 94, op. 1, d. 53, ll. 1– 2.
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Mezencov, nur knapp einem Anschlag.¹⁶⁶ Im April verübte Aleksandr Solov’ëv ein Attentat auf den Zaren. Auf der anderen Seite wurden im Mai Osinskij, Ljudvig Brandtner und Pëtr Antonov in Kiev gehängt. Im Juni führte man dort auch Osil Bil’čanskij und Aron Gobst auf das Schafott. Im August wurden in Odessa Sergej Čubarov, Iosif Davidenko und Dmitrij Lizogub hingrichtet.¹⁶⁷ Diese Erfolge trugen indes eher zu einer Verschärfung der Situation bei, da geradezu jedem Protest mit scharfen Sanktionen begegnet worden war und in der Tat auch unschuldige Personen zu leiden hatten.¹⁶⁸ Nun verstanden wiederum ausgerechnet diejenigen daraus einen Nutzen zu ziehen, die sich längst für die gewaltsame Konfrontation ausgesprochen hatten und ihr Handeln als Selbstverteidigung (samozaščita) begriffen. Die Stufen der Desorientierung und Provokation staatlicher Überreaktion, die zum taktischen Handwerkszeug einer jeden terroristischen Gruppe gehören, ließen sich Ende der 1870er Jahre klar erkennen. Während der Staat die Lage in den Griff zu bekommen suchte, sahen immer mehr Revolutionäre ihre Überzeugung legitimiert, dass einzig der Terrorismus ihnen den Weg zur Souveränität ebnen würde. Im Sog der Ereignisse bezog auch die neu entstandene Partei Zemlja i Volja eine Haltung zum sogenannten roten und weißen Terrorismus – ließ sich der gewaltsame Weg doch immer weniger glaubwürdig hinter der üblichen Formel ›Desorganisation des Staates‹ verstecken. Das ehrgeizige Projekt, die revolutionären Energien des Reiches zu bündeln, drohte nun von eben dieser Dynamik zerrieben zu werden. Bald schon spaltete der Streit zwischen den Propagandisten und den Anhängern der Desorganisation die Redaktion der Zeitung Zemlja i Volja. Die Anhänger der terroristischen Strategie um ihren Wortführer Nikolaj Morozov fanden im Laufe des Jahres 1879 in dem Kampforgan Listok ihren vorläufigen Zufluchtsort. Dort kam es zum Schulterschluss mit den südlichen Rebellen, wodurch die terroristische Strategie endgültig in der Hauptstadt salonfähig wurde: „Der politische Mord ist vor allem ein Akt der Rache. […] Politischer Mord jedoch ist unter den gegenwärtigen Umständen einzig ein Mittel der Selbstverteidigung (sredstvo samozaščity) und eine der besten Agitationsmethoden. […] Schon immer haben sich die An-
Vgl. Proklamacija ›Zemli i voli‹: ›Pokušenie na žizn’ Drentel’na‹, in: E. L. Rudnickaja (Hg.), Revoljucionnyj radikalizm v Rossii, Moskau 1997, S. 412 f.; O. V. Aptekman: Obščestvo ›Zemlja i Volja‹, S. 356 und Figner: Nacht über Rußland, S. 73, S. 114. Vgl. Aptekman: Obščestvo ›Zemlja i Volja‹, S. 364; Kravčinskij: Das unterirdische Rußland, S. 61– 65 und Venturi: Roots of Revolution, S. 615 – 635. Vgl. Deutsch: Sechzehn Jahre Sibirien, S. 9 f. und Offord: The Russian Revolutionary Movement in the 1880s, S. 23 f.
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hänger der Freiheit in Geheimgesellschaften zurückgezogen, solange ihre Anhängerschaft klein war. […] Politischer Mord stellt die Verwirklichung der Revolution in der Gegenwart dar. […] Politischer Mord ist eine äußerst schreckliche Waffe gegen unsere Feinde, eine Waffe, gegen die weder grausame Armeen noch Legionen von Spionen helfen.“¹⁶⁹
Auf diese Weise grenzten sich die Radikalen von ihren ehemaligen Kampfgefährten ab und legten den Grundstein der Narodnaja Volja. ¹⁷⁰ Die Bemühungen der Zemlja i Volja, die Revolutionäre durch ein gleichzeitiges Bekenntnis zu Agitation und Desorganisation doch noch zusammenzuhalten, wirkten inzwischen beinahe hilflos, weil sie nur wieder die Kerndifferenz des revolutionären Untergrunds festschrieben. Der Grundsatzstreit, den die Bewegung nie hatte überwinden können, und der in der Verwerfung zwischen Herzen und Nikolaj Černyševskij einerseits, Pëtr Lavrov und Bakunin andererseits geradezu ikonographischen Ausdruck gefunden hatte, fiel immer hemmungsloser aus. Zasuličs Schüsse, die eskalierende Gewalt des Untergrunds und die staatliche Reaktion besiegelten somit den alten Methodenstreit der Revolutionäre und ließen die Verfechter der terroristischen Strategie obsiegen.¹⁷¹ Als der Terrorismus in Russland zur Partei wurde, endete die Volksverklärung endgültig. Nun war kein Platz mehr für die Sakralisierung eines apathischen oder gar dem Zaren ergebenen Volkes. Vielmehr sahen die Verschwörer ihr Lebenswerk durch die staatlichen Reaktionen gefährdet und beschworen daher den Geist Nečaevs und die Forderungen Tkačëvs. Teils überblendeten sie ihre Absichten auch mit programmatischen Forderungen, die in ihrer Konsequenz allerdings leicht als Formeln der Gewalt zu entschlüsseln waren. Mit der Propaganda der Tat sollte die etablierte Ordnung zu Fall gebracht werden, erst dann wollte man dem Volk zur Befriedigung seiner eigentlichen, wenn auch unbewussten Bedürfnisse verhelfen.¹⁷² Die Hebammen des Bauernvolkes optierten also für eine Zangen-
Listok Zemli i Voli No 2 – 3: 22 marta 1879 g., in: B. Bazilevskij (Hg.), Revoljucionnaja žurnalistika, Düsseldorf 1970, S. 282– 289, hier: S. 282 f. Vgl. auch Aptekman: Obščestvo ›Zemlja i Volja‹, S. 357. Vgl. Figner: Nacht über Rußland, S. 73 – 82. Vera Figner beispielsweise bestreitet in ihren Memoiren die Orientierung der Narodnaja Volja an Nečaev und der jakobinischen Tradition. Allerdings offenbart sie an anderer Stelle desselben Textes, dass sie von Nečaev fasziniert war und eine glühende Anhängerin der Gruppe wurde, die 1881 seine Befreiung anstrebte. Vgl. Figner: Nacht über Rußland, S. 86 – 89, S. 111– 115. Vgl. dazu u. a. das Programm des Exekutivkomitees der Narodnaja Volja – insbesondere den Abschnitt ›V‹ – vom Dezember 1879 Programma Ispolnitel’nogo Komiteta: Sentjabr’–dekabr’ 1879 g., in: Volk (Hg.), Revoljucionnoe narodničestvo 70-ch godov XIX veka, Moskau/Leningrad 1965, S. 170 – 174. Vgl. auch Figner: Nacht über Rußland, S. 82– 91.
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geburt, um die Revolution nicht länger vorzubereiten, sondern endlich zu machen:¹⁷³ „Er [sc. der Terrorist] ist eine mächtige Individualität. Er ist nicht mehr ganz Verleugnung wie sein Vorgänger, hat nicht mehr und sucht nicht mehr jenen Duft der moralischen Schönheit um sich zu verbreiten, welcher den Propagandisten gleich einem Wesen aus einer anderen Welt erscheinen ließ […]. Er hat seinen starken Arm der Sache des Volkes geweiht, aber er vergöttert es nicht mehr.“¹⁷⁴
Die Terroristen erklärten den Kopf des Zaren zur Achillesferse des autokratischen Systems. Sie gedachte man zu durchtrennen, um den Weg frei zu machen für eine neue Ordnung mit neuen Menschen.¹⁷⁵ Auch der enttäuschte Narodnik Solov’ëv hatte sich dieser Gedankenfolge verschrieben, als er am 2. April 1879 mit Unterstützung des terroristischen Arms der Zemlja i Volja fünf Schüsse auf den Zaren abgab. Zwar scheiterte er und endete auf dem Schafott; gleichwohl sah die radikale Bewegung in ihm einen Menschen, „der in sich die Tapferkeit des Helden, die Entsagung des Asketen und die Güte des Kindes vereinigte.“¹⁷⁶ Nur wenige Tage nach dem Attentat erschien die fünfte und letzte Ausgabe des Parteiorgans der Zemlja i Volja. Sie besiegelte unwiderruflich den Bruch zwischen Propagandisten und Terroristen. Der Staat passte abermals die Instrumente seines Selbsterhaltungsrechts an. Mit der seit dem 5. April 1879 beginnenden Inthronisierung von Generalgouverneuren in den Brennpunkten politischer Konfrontation – St. Petersburg, Odessa, Char’kov, Kiev, Warschau und Moskau – setzte die Autokratie es in das Ermessen dieser kleinen Diktatoren, das Strafmaß ihnen verdächtig erscheinender Personen festzulegen: „Die Maßnahmen führten zu einer massiven Dezentralisierung des imperial-administrativen Systems und zeitigten in den nächsten Monaten einen Zustand, den V.G. Korolenko und P.A. Zajončkovskij als ›Orgie von Denunziatio-
Vgl. den entsprechenden Tonfall bei P. N. Tkačev: ›Nabat‹, in: Ders., Izbrannye sočinenija, Moskau 1932, S. 219 – 231, hier: S. 221. Kravčinskij: Das unterirdische Rußland, S. 32. Vgl. die Proklamation ›Ot Ispolnitel’nogo Komiteta‹ po povodu pokušenija na Aleksandra II. 22. nojabrja 1879 g., in: Volk (Hg.), Revoljucionnoe narodničestvo 70-ch godov XIX veka, Moskau/ Leningrad 1965, S. 221– 222. Vgl. ferner Pis’mo ispolnitel’nogo komiteta k Aleksandru III. 10 marta 1881 g., in: Partija socialistov-revoljucionerov (Hg.), Literatura social’no-revoljucionnoj partii ›Narodnoj Voli‹, Leipzig 1977, S. 903 – 908. Figner: Nacht über Rußland. Lebenserinnerungen, S. 69. Vgl. ferner zum Attentat Solov’ëvs Astrid von Borcke: Die Ursprünge des Bolschewismus. Die jakobinische Tradition in Russland und die Theorie der revolutionären Diktatur, S. 385 f. und Thun: Geschichte der revolutionären Bewegung in Russland, S. 180 f.
5. Organisation des Unbedingten
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nen, Verhaftungen, Fahndungen und Verbannungen‹ respektive als ›Höhepunkt administrativ-polizeilicher Willkür‹ beschrieben haben.“¹⁷⁷ Durch diese Maßnahmen bedrängt, setzten die Revolutionäre für Ende Juni 1879 in Voronež einen Kongress an, auf dem die allgemeine Situation des Kampfes analysiert werden sollte. Die Befürworter der terroristischen Strategie, allen voran Morozov, fanden sich zunächst als Svoboda ili Smert’ (Freiheit oder Tod) zusammen.¹⁷⁸ Mitte Juni versammelten sich ihre wichtigsten Vertreter in einem Kurort bei Lipeck nahe Voronež, um sich auf den bevorstehenden Revolutionskongress Ende des Monats vorzubereiten. Morozov verglich ihr Vorgehen mit dem Kampf Wilhelm Tells und schwor die Versammlung auf den terroristischen Kurs ein.¹⁷⁹ Am Ende wurde er als politische Notwendigkeit anerkannt und ein programmatisches Bekenntnis zur Gewalt verabschiedet.¹⁸⁰ Einige Tage später kam der Kern der Zemlja i Volja in Voronež zusammen. Die bereits vorab eingeschworenen Anhänger der terroristischen Strategie suchten sich nun gegenüber den zahlenmäßig überlegenen Propagandisten zu behaupten. Zunächst verlas Morozov den letzten Brief Osinskijs und inszenierte den Zarenmord als testamentarische Verpflichtung ihres Märtyrers.¹⁸¹ Die Konfrontation spitzte sich noch zu, als Morozov der Versammlung nahelegte, politischen Mord als nichts anderes denn als Verwirklichung der Revolution in der Gegenwart zu begreifen. Auch wenn sich die Streithähne am Ende auf eine Doppelstrategie aus Propaganda und Terror mit je unterschiedlichen Organisationen verständigen konnten, war dennoch die Spaltung der Partei vollzogen.¹⁸² Die Propagandisten firmierten unter dem Namen Čërnyj Peredel (Schwarze Umverteilung) und verfügten über zwei Drittel der Finanzmittel. Ihre Wortführer Georgij Plechanov, Pavel Aksel’rod, Osip Aptekman und die geläuterte Zasulič sprachen sich dezidiert gegen den Terror aus. Stattdessen warben sie für eine gerechte Neuverteilung des Bodens und eine von reiner Propagandaarbeit gelei-
Daly: Autocracy under Siege, S. 26. Insbesondere die Generalgouverneure von Kiev und Odessa, Michail Čertkov und Ėduard Totleben, waren berüchtigt für ihr rücksichtsloses Durchgreifen. Die Mitglieder dieser Gruppe bildeten später das Exekutivkomitee der Narodnaja Volja. Vgl. A. V. Jakimova: Gruppa ›Svoboda ili Smert’‹, in: Katorga i Ssylka 24 1926, S. 14– 16. Vgl. Volk: Narodnaja Volja, S. 88. Vgl. auch Trifonow: Die Zeit der Ungeduld, S. 137 f. Vgl. zu den Kongressen in Lipeck und Voronež N. A. Morozov: Vozniknovenie ›Narodnoj Voli‹, in: Byloe 12 (1906), S. 1– 21; Michail Frolenko: Lipeckij u Voronežskij s˝ezdy, in: Byloe 2.1 (1907), S. 67– 86 und Volk: Narodnaja Volja, S. 85 – 92. Osinskijs Brief erschien in der 6. und letzten Nummer des Listok Zemli i Voli No 6: 14 ijunja 1879 g., in: B. Bazilevskij (Hg.), Revoljucionnaja žurnalistika, Düsseldorf 1970, S. 304– 312, hier: S. 304 f. Vgl. Aptekman: Obščestvo ›Zemlja i Volja‹, S. 378 und Volk: Narodnaja Volja, S. 92– 99.
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tete Revolution mit der Masse.¹⁸³ Die kleinere, aber umso entschlossenere Gruppe erhielt die restlichen Mittel des Parteihaushalts und gab sich den Namen Narodnaja Volja. ¹⁸⁴ Nicht mit der Masse gedachte sie die Revolution zu erstreiten, sondern zentralistisch für sie.¹⁸⁵ Zwar wollte auch sie dem Bekenntnis der Mutterpartei – Land und Freiheit für das Volk – treu bleiben, allerdings hatte sich zugleich eine Minderheit von rund 20 Personen nun selbst dazu ermächtigt, den Souverän zu stürzen und die Volksfreiheit für rund neunzig Millionen Menschen zu erkämpfen.¹⁸⁶
Vgl. Thun: Geschichte der revolutionären Bewegung in Russland, S. 223 – 245 und Geierhos: Vera Zasulič und die revolutionäre Bewegung, S. 116 – 128, S. 144– 153. Vgl. zur Geldvergabe Aptekman: Obščestvo ›Zemlja i Volja‹, S. 373. Vgl. ferner zu dem Phänomen einer Revolution mit bzw. für die Masse Zemlja i Volja No 5: 8 fevralja 1879 g., in: B. Bazilevskij (Hg.), Revoljucionnaja žurnalistika, Düsseldorf 1970, S. 235 – 276. Vgl. N. A. Morozov: Karl Marks i ›Narodnaja Volja‹ v načale 80-ch godov, in: Katorga i Ssylka 100 (1933), S. 142– 148. Vgl. zum Exekutivkomitee, deren Mitgliederzahl zwar unterschiedlich angegeben wird, aber etwa bei 20 Personen gelegen haben dürfte, die Porträts bei Ivan Teodorovič: Istoričeskoe značenie partii ›Narodnoj Voli‹, in: Katorga i Ssylka 57– 58 (1929), S. 7– 53. Vgl. ferner Tichomirov: Vospominanija, S. 94 f., S. 104.
6. Die Zelle
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6. Die Zelle Die eiserne Konzentration auf den Umsturz machte aus Verschwörern vor allem eins – einsame Subjekte. Durch die Isolation und Konzentration auf nur ein Ziel, bekannte eine Revolutionärin später, habe die Welt gleichsam zu existieren aufgehört.¹⁸⁷ Als Ende August 1879 führende Vertreter der Narodnaja Volja die systematische Vernichtung des Zaren forderten, konnte der Rang, den das Staatsoberhaupt in ihrer Agenda einnahm, nicht mehr übersehen werden.¹⁸⁸ Bereits im November begann die Arbeit an einer ihrer vorerst spektakulärsten Aktionen. Die Verschwörer hatten nämlich erfahren, dass der Zar seinen Urlaub in Livadija auf der Krim verbrachte und bei seiner Rückkehr in die Hauptstadt entweder zu Schiff bis Odessa und dann mit dem Zug reisen, oder aber mit dem Zug durch Char’kov über Moskau fahren würde. Gleich an drei Stellen bot sich daher ein Attentat an – in der Nähe Odessas, zwischen der Krim und Char’kov oder in der Nähe Moskaus. Für die Herstellung der ersten Bombe waren Nikolaj Kibal’čič, Aleksandr Kvjatkovskij und Figner verantwortlich. Nikolaj Kolodkevič, Michail Frolenko und Tatjana Lebedeva dagegen sollten das Attentat durchführen. Der Plan nahm Gestalt an, als Figner unter Vorspiegelung falscher Tatsachen den künftigen Schwiegersohn von Generalgouverneur Totleben, Baron Ungern-Šternberg, um Vermittlung einer Anstellung für Frolenko und Lebedeva als Bahnwärter ersuchte. Obgleich der Baron sie zunächst an den zuständigen Leiter des Streckenabschnitts verwies, fanden die mit falschen Papieren ausgestatteten Verschwörer schließlich eine Anstellung. Allerdings scheiterte das Attentat, weil der Zar aufgrund schlechter Wetterbedingen nicht die Route über Odessa nehmen konnte.¹⁸⁹ Da mit dieser Möglichkeit stets kalkuliert worden war, hatte Gol’denberg Dynamit von seinen Mitverschwörern in Odessa abgezweigt und sich auf den Weg nach Moskau begeben. Ausgerechnet in Elizavetgrad kam es zu einem unvorhergesehenen Zwischenfall; an einem Ort also, an dem bereits im Jahr 1869 Personen aus dem Umfeld Nečaevs das erste Attentat auf den Zug des Zaren angedroht hatten. Ein Stationsgendarm hatte Mitte November 1879 die Information erhalten, dass sich in einem Zug aus Odessa ein für seine Größe auffällig schwerer Koffer befände. Unverzüglich suchten daher die Verantwortlichen nach einer Möglichkeit, den Besitzer des Koffers ausfindig zu machen, ohne allzu viel Staub
Vgl. Marija Škol’nik: Žizn’ byvšej terroristki, Moskau 1930, S. 72 und Michail Frolenko: Načalo ›Narodovol’čestva‹, in: Katorga i Ssylka 24 (1926), S. 17– 26.Vgl. ferner Michail Ossorgin: Zeugen der Zeit, Berlin 2016. Vgl. Volk: Narodnaja Volja. 1879 – 1882, S. 1966, S. 100 f.; Venturi: Roots of Revolution, S. 639, S. 656, S. 681 und Figner: Nacht über Rußland, S. 80 f. Figner setzt den Zeitpunkt etwas früher an. Vgl. Figner: Zapečatlënnyj trud. Vospominanija, S. 209 – 215.
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aufzuwirbeln. Über einen Kofferträger gelangten sie an den Besitzer, der sich unbescholten gab und den Beamten nicht seinen richtigen Namen nannte. Kurze Zeit später jedoch ließen die Beamten im Beisein des Verdächtigen den Koffer öffnen und entdeckten eineinhalb Pud Dynamit.¹⁹⁰ Nachdem die III. Abteilung über den Vorfall unterrichtet worden war, stellte ihr Chef Drentel’n sofort einen Zusammenhang zwischen der Zugreise des Zaren und einem potenziellen Anschlagsversuch her. Ein Untergebener Drentel’ns informierte all die in der Nähe der potenziellen Reiseroute des Zaren befindlichen Städte über die „Möglichkeit eines Anschlags angelegentlich der Durchfahrt des Zaren aus Livadija nach Petersburg oder des Thronfolgers (Alexander III.) aus Petersburg nach Moskau…“¹⁹¹ Obgleich Gol’denberg festgenommen werden konnte und bald darauf mit dem Staat kooperierte, liefen die geplanten Aktionen der Verschwörer weiter. So wurde die zweite Bombe in der Nähe von Aleksandrovsk, einer kleinen Stadt zwischen der Krim und Char’kov, deponiert. Andrej Željabov, der im Wesentlichen für dieses Vorhaben verantwortlich war, gab sich in der Stadt als Kaufmann aus und unterhielt zur Aufrechterhaltung seiner Scheinidentität bewusst viele Bekanntschaften, um weitere Unterstützer als vermeintliche Angestellte in die Gesellschaft vor Ort einführen zu können. Tatsächlich arbeiteten sie daran, Sprengstoff unter den Bahngleisen zu verstecken. Als sich schließlich am 18. November der Zug des Zaren dem präparierten Gleisabschnitt näherte, versagte jedoch aufgrund eines Konstruktionsfehlers die Zündung und der Zug konnte auch diesen Abschnitt der Reise unbeschädigt passieren. Nur einen Tag später sollte der dritte Anschlag in der Nähe von Moskau stattfinden. Bereits im Vorfeld hatte Aleksandr Michajlov in Gleisnähe ein Haus gekauft, in das kurze Zeit später Lev Gartman und dessen angebliche Frau Sof’ja Perovskaja eingezogen waren.¹⁹² Mit weiteren Unterstützern hatten sie einen Tunnel gegraben, um unbemerkt an den Gleisen Sprengstoff anbringen zu können. Am Vorabend des Attentats traf eine chiffrierte Nachricht bei ihnen ein: „›Der Preis für Weizen ist 2 Rubel, unser Preis ist 4‹.“¹⁹³ Nun war klar, dass sich der Zar im 4. Waggon des 2. Zuges befand. Da die Verschwörer allerdings den ersten Zug für einen Testzug hielten, der häufig dem zarischen Zug vorausfuhr, zündeten sie
Das entsprach etwa 24 Kilogramm. Das Telegramm wird zitiert nach Gol’denberg: ›Ispoved’‹ Grigorii Gol’denberga, S. 124. Sof’ja Perovskaja, die spätere Koordinatorin des erfolgreichen Zarenattentats, war die Tochter des ehemaligen Gouverneurs von St. Petersburg, der im Zuge der Affäre um das Karakozov-Attentat seine Anstellung verloren hatte. Vgl. D. D. Obolenskij: Nabroski iz vospominanij knjazja D. D. Obolenskogo, in: Russkij archiv 9 (1894), S. 251– 286.
6. Die Zelle
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erst beim zweiten Signal die Bombe und brachten so lediglich den Waggon der Bediensteten und acht weitere Waggons zum Entgleisen.¹⁹⁴ Nach dieser spektakulären, allerdings erfolglosen Unternehmung verhängte das Exekutivkomitee der Narodnaja Volja Ende November 1879 abermals das Todesurteil über den Zaren.¹⁹⁵ Gleichwohl wurde nur wenige Tage nach der Explosion an den Moskauer Bahngleisen der in den Anschlag verstrickte Kvjatkovskij verhaftet. Ende 1879 geriet Aaron Zundelevič, der technische Kopf und Gründer verschiedener Druckerpressen der Narodnaja Volja, in die Fänge der zarischen Behörden, was nicht einmal Kletočnikov, der Spion bei der III. Abteilung, zu verhindern gewusst hatte. Durch den Verrat Gol’denbergs konnte der Staat im Dezember desselben Jahres auch noch Stepan Širjaevs habhaft werden. Einstweilen musste die Zeitung der Organisation beinahe für ein Jahr durch den Listok ersetzt werden, da alle Kräfte für den aktiven Kampf benötigt wurden:¹⁹⁶ „Die Regierung erklärt uns den Krieg; ob wir das wollen oder nicht – sie wird uns bekämpfen. […] Unser direkter Plan jedoch – wir gehen zum Angriff über und räumen dieses lästige Hindernis aus dem Weg, das uns nicht handeln lässt, uns täglich die besten Persönlichkeiten aus unseren Reihen herausreißt und uns mit einem System von Spionen, Denunziationen und kleinlichen Schikanen in einen unfruchtbaren Kampf verstrickt, in dem 99 von 100 unserer Kräfte unnötig verbraucht werden.“¹⁹⁷
Nach den jüngsten Rückschlägen wollten sich die Verschwörer am autokratischen Staat rächen: „Entweder fällt die Regierung, oder das Komitee wird zerquetscht“, wir oder sie hieß das Gebot der Stunde.¹⁹⁸ Jetzt oder nie (teper’ ili nikogda) wollte Vgl. Figner: Zapečatlënnyj trud. Vospominanija, S. 209 – 215 und Volk: Narodnaja Volja, S. 101 f. Bei dem Attentat wurde niemand verletzt. „Alexander II. ist die Personifikation der heuchlerischen, blutdürstig-feigen und verdorbenen Despotie. […] Er verdient die Todesstrafe.“ Vgl. die Proklamation ›Ot Ispolnitel’nogo komiteta‹ po povodu pokušenija na Aleksandra II. 22 nojabrja 1879 g., in: Volk (Hg.), Revoljucionnoe narodničestvo 70-ch godov XIX veka, Moskau/Leningrad 1965, S. 221– 222. Vgl. N. Buch: Pervaja tipografija ›Narodnoj Voli‹, in: Katorga i Ssylka 57– 58 (1929), S. 54– 93 und Figner: Nacht über Rußland, S. 92. Kvjatkovskij und Širjaev waren beide Mitglieder des Exekutivkomitees gewesen. Narodnaja Volja: Social’no-revoljucionnoe obozrenie. No. 1, in: Partija socialistov-revoljucionerov (Hg.), Literatura social’no-revoljucionnoj partii ›Narodnoj Voli‹, Leipzig 1977, S. 1– 11, hier: S. 8. Vgl. den Leitartikel der dritten Ausgabe vom 1. Januar 1880 Narodnaja Volja: Social’no-revoljucionnoe obozrenie. No. 3, in: Partija socialistov-revoljucionerov (Hg.), Literatura social’norevoljucionnoj partii ›Narodnoj Voli‹, Leipzig 1977, S. 151– 224, hier: S. 156 f., S. 161. Vgl. auch explizit zur terroristischen Strategie den Abschnitt ›D 2‹ des Programms Programma Ispolnitel’nogo Komiteta: Sentjabr’–dekabr’ 1879 g., in: Volk (Hg.), Revoljucionnoe narodničestvo 70-ch godov XIX veka, Moskau/Leningrad 1965, S. 173.
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die Narodnaja Volja in die Schlacht gegen den Staat ziehen, wobei es längst nicht mehr um die Wahrung des eigenen Lebens ging, sondern allein die Vernichtung des Gegners.¹⁹⁹ Zur Zelle der Verschwörung wurde das Exekutivkomitee. Von dort aus sollte die Verwirklichung des Parteiprogramms koordiniert und die prophezeite Revolution ins Werk gesetzt werden. Das Komitee bestand aus ungefähr 20 Personen zwischen 24– 30 Jahren und war der Kopf der Partei. Ihr Rumpf bestand aus einem Aktivistenfeld von ungefähr 500 Personen, der wiederum von ein paar Tausend Sympathisanten getragen wurde.²⁰⁰ Einzig das Exekutivkomitee konnte Programmänderungen vornehmen oder Todesurteile verhängen. Dabei verbrämte das Kontrollzentrum der Verschwörung diese sich selbst übertragene Macht als ›gewählten Zentralismus‹.²⁰¹ Mit diesen zuletzt von Nečaev verfolgten Prinzipien sollte auf der einen Seite die Führung vor Denunziation geschützt, auf der anderen Seite die Präsenz einer undurchschaubaren, mutmaßlich riesigen Organisation evoziert werden. Dem elitären Anspruch der Narodnaja Volja entsprach eine reservierte, wenn nicht gar ablehnende Haltung gegenüber dem erkorenen Revolutionssubjekt, dem Bauernvolk. So lautete die Forderung zwar, dass „die Macht der bestehenden Regierung zu entreißen und einer konstituierenden Versammlung zu übergeben“ sei, allerdings wurde die Frage der Machtkoordination nach dem Umsturz durch entschiedene Unbestimmtheit – wie schon im ›Revolutionären Katechismus‹ – der Zukunft anheimgestellt.²⁰² Mehr noch: Ausgerechnet der Programmpunkt, der sich auf die Durchführung des Umsturzes bezog, fiel auffällig kurz aus
Vgl. die Leitartikel der ersten, zweiten (September, November 1879) und dritten (Januar 1880) Ausgabe des Parteiorgans Narodnaja Volja: Social’no-revoljucionnoe obozrenie. No. 1; Narodnaja Volja: Social’no-revoljucionnoe obozrenie. No. 2 und Narodnaja Volja: Social’no-revoljucionnoe obozrenie. No. 3, in: Partija socialistov-revoljucionerov (Hg.), Literatura social’no-revoljucionnoj partii ›Narodnoj Voli‹, Leipzig 1977, S. 9 – 11, S. 75 – 150, hier: S. 75 – 83, S. 151– 161. Vgl. zu dem reichsweiten Einfluss, den Mitglieds- und Sympathisantenzahlen der Organisation Tichomirov: Vospominanija, S. 94 f., S. 104; Figner: Zapečatlënnyj trud. Vospominanija, S. 260 f. und Volk: Narodnaja Volja, S. 94– 99, S. 273 – 277. Zum Alter der Komiteemitglieder A. P. Korba-Pribyleva: Ispolnitel’nyj Komitet 1879 – 1881 g.g., in: Katorga i Ssylka 24 (1926), S. 27– 31. Vgl. Ustav Ispolnitel’nogo komiteta: 1879, in: Volk (Hg.), Revoljucionnoe narodničestvo 70-ch godov XIX veka, Moskau/Leningrad 1965, S. 200 – 209. Zu den Statuten und den Gerichtsaussagen Gol’denbergs zum Aufbau der Organisation vgl. Thun: Geschichte der revolutionären Bewegung in Russland, S. 204– 207, S. 214– 222. Vgl. zu dem Problem der Machtergreifung und zur Skepsis der Partei gegenüber den Bauern den Abschnitt ›D 5‹ und den Abschnitt ›V 3‹ im Programm des Exekutivkomitees Programma Ispolnitel’nogo Komiteta: Sentjabr’–dekabr’ 1879 g., in:Volk (Hg.), Revoljucionnoe narodničestvo 70ch godov XIX veka, Moskau/Leningrad 1965, S. 172, S. 174.
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und wurde letztlich nicht einmal zur Veröffentlichung freigegeben.²⁰³ Die Partei hatte sich dadurch nicht nur gegenüber ihren Feinden tarnen, sondern womöglich auch dem Eingeständnis entziehen wollen, dass die Macht solange in den Händen der Partei, also einer Minderheit, verbliebe, bis das Volk zu seinem eigentlichen, mit den Überzeugungen der Organisation übereinstimmenden Willen gefunden haben würde.²⁰⁴ Als Stepan Chalturin im zarischen Winterpalais als Tischler eine Anstellung fand, sollte die Praxis wieder einmal über alle Widersprüche hinweghelfen.²⁰⁵ Im Palastkeller wohnend, präparierte er um die Jahreswende 1879 – 1880 eine stetig wachsende Menge an Dynamit, um damit den im Stockwerk über den Schlafstellen der Tischler befindlichen zarischen Speisesaal in die Luft zu sprengen.²⁰⁶ Der Verschwörer erfüllte seine Rolle als ›Schläfer‹ ausgezeichnet. Wenn es sich anbot, feierte er ausgelassen mit den anderen Angestellten des Palastes und machte bei einer solchen Gelegenheit auf einen den Tischlern zugeteilten Gendarmen offenkundig einen derart guten Eindruck, dass dieser Chalturin seine Tochter als Braut antrug. Natürlich leistete sich Chalturin keine eindeutige Absage und erwies sich seinem Umfeld gegenüber weiterhin als zuverlässiger Partner.²⁰⁷ Eine voreilige Erledigung seiner eigentlichen Aufgabe strebte Chalturin nicht an. Er zögerte gar, als er zufällig einmal ganz allein auf den Machthaber traf und ihm kurz der Gedanke durch den Kopf geschossen sein mag, den Zaren mit seinem Tischlerwerkzeug auf der Stelle zu töten. Mit einer spontanen Umsetzung seiner
Vgl. Programma Ispolnitel’nogo Komiteta: Sentjabr’–dekabr’ 1879 g., in: Volk (Hg.), Revoljucionnoe narodničestvo 70-ch godov XIX veka, Moskau/Leningrad 1965, die Anmerkung und Fußnote dort S. 174, S. 379. Vgl. dazu weniger explizit Venturi: Roots of Revolution, S. 672, S. 675 f. Venturi bestreitet den jakobinischen Kern des Programms und die angelegte Parteiendiktatur der Narodnaja Volja. Auch Offord bestreitet diesen Umstand und führt als Beweis die Pamphlete eben dieser Partei an. Vgl. Offord: The Russian Revolutionary Movement in the 1880s, S. 34 f. Ich kann beiden Autoren nicht zustimmen. Vgl. zu dem Aspekt des Kampfes auf eigene Rechnung die Gerichtsrede Vera Figners aus dem Jahr 1884, die sich in ihren Memoiren abgedruckt findet. Figner: Nacht über Rußland, S. 178 – 184. Zu dem Aspekt der Gewaltlegitimation dort S. 132. Chalturin wurde zunächst von Kvjatkovskij unterstützt; nach dessen Verhaftung war Željabov der Verbindungsmann. Vgl. zu dem Anschlag im Winterpalais Lev Tichomirov: Teni prošlogo. Stepan Chalturin. S primeč. M.F. Frolenko, in: Katorga i Ssylka 25 (1926), S. 82– 96. Chalturin hatte sich bis dahin besonders durch seine Propagandaarbeit unter den Petersburger Arbeitern einen Namen gemacht. Manche sehen darin eine Keimzelle der russischen Sozialdemokratie. Vgl. zur Wirkung dieses Attentats Jonathan Frankel: Party Genealogy and the Soviet Historians (1920 – 1938), in: Slavic Review 25 (1966), S. 563 – 603.
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Tötungsabsicht hätte Chalturin ganz sicher dem von Herzen apostrophierten Zeitalter der Axt seinen Stempel aufgedrückt und – wie Chalturin selbst seinen Unterstützern gegenüber bekannte – mit der „Kühnheit eines einzelnen alles beendet.“ ²⁰⁸ Allerdings hätte er damit nicht nur Augʼ in Augʼ mit seinem Opfer, ohne den Schutz eines abstrakten Anschlagplans, einen Mord begehen müssen, sondern es wäre auch die beabsichtigte Machtdemonstration hintertrieben worden, die einem penibel im Verborgenen geplanten Attentat eigen ist. Am 5. Februar 1880 machte Chalturin die Bombe scharf und kam anschließend wie jeden Abend mit Željabov auf der Straße zusammen. Gemeinsam warteten sie, bis aus der Ferne ein lauter Knall ertönte. Sie sahen, wie für einen kurzen Moment alle Lichter erloschen und kurz darauf Teile des Winterpalais in Flammen standen. Die Verschwörer rechneten mit einer fatalen Wirkung, da die inzwischen immerhin 60 Kilogramm Dynamit ihrer Berechnung nach rund 500 Tote fordern würden. Dabei hatten die Terroristen ihren Opfern großmütig eingeräumt, nicht umsonst dem Tode überantwortet worden zu sein.²⁰⁹ Und tatsächlich forderte das Attentat diesmal viele unbeteiligte Personen, während der Zar und mit ihm 68 weitere Personen verschont blieben. Das Dynamit hatte nämlich nicht den zarischen Speisesaal, sondern den des Finnländischen Regiments, den Speisesaal der zarischen Leibwache, zerstört.²¹⁰ Der Anschlag auf das Winterpalais machte die Verschwörer in der ganzen Welt bekannt. Spätestens jetzt, da der oberste Repräsentant der Autokratie nicht einmal mehr in seinen eigenen Wohnräumen sicher war, schien ein düsterer Schatten über dem 25. Thronjubiläum von Zar Alexander II. zu liegen.²¹¹ Die Verunsicherung nahm noch zu, als bekannt wurde, dass der Geheimpolizei bereits Anfang November 1879 bei einer Festnahme verdächtige Notizen in die Hände gefallen, die anschließenden Durchsuchungen rund um den zarischen Speisesaal jedoch erfolglos geblieben waren. Auch die im Anschluss ergriffenen Maßnahmen, eine vergrößerte Palastpolizei und willkürlich vorgenommene Visitationen von Personen und Räumen innerhalb der Zarenresidenz, erwiesen sich
Der Ausspruch Chalturins wird zitiert bei Figner: Zapečatlënnyj trud. Vospominanija, S. 209. Vgl. Lev Tichomirov: Zagovorščiki i policija, Moskau/Leningrad 1928, S. 180 – 182 und Katkov: Neobchodimost’ diktatury dlja bor’by s kramoloj. Prikaz generala Gurko. Telegramma generala Bogdanoviča, in: Ders., Sobranie sočinenij v šesti tomach, St. Petersburg 2011, S. 409 – 412. Die Angaben über die Zahl der Toten und Verletzten variieren: Figner spricht von 50 Toten und Verletzten, in Tichomirovs Abhandlung gibt die Redaktion 10 Tote und 33 Verletzte an, Venturi spricht von 11 Toten und 56 Verletzten. Die Forschung folgt in der Regel Venturi. Der Attentäter Chalturin wurde im März 1882 gehängt. Vgl. zur weltweiten Resonanz dieses Attentats Volk: Narodnaja Volja, S. 103.
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als von der Realität widerlegt.²¹² Angesichts dieser empfundenen Machterosion fand der Gedanke an die rettende Kraft der Diktatur immer mehr Befürworter. Bereits einen Tag nach dem Anschlag sprach sich der konservative Journalist Michail Katkov für die Errichtung eines Regierungsorgans mit diktatorischen Vollmachten (diktatorskaja vlast’) aus.²¹³ Als Katkov einige Tage später einem Artikel die Worte salus republicae – suprema lex voranstellte, erinnerte er mit diesem auf Cicero anspielenden Ausspruch daran, dass die Durchsetzungskraft des Staates als Voraussetzung für die Wohlfahrt der Bevölkerung zu begreifen sei.²¹⁴ In schnörkelloser Prosa hatte Katkov damit die staatsrechtliche Tradition, für die insbesondere Namen wie Jean Bodin und Thomas Hobbes stehen, in den zarischen Diskurs eingeführt und als bedenkenswerten Bezugspunkt ausgegeben. Obgleich den Anschlägen stets Reaktionen gefolgt waren, hatten die sicherheitspolitischen Schritte weder das Leben des Zaren noch die Wohlfahrt des autokratischen Staates sicherstellen können.²¹⁵ Vielmehr schien das Vertrauen in die schützende Funktion eines Staates, der sich nicht einmal selbst zu schützen vermochte, weiter zu schwinden.²¹⁶ Auf eben genau diese Dynamik als Hebel eigener Macht hatten die Aufständischen stets gesetzt. So beschwor in dieser Atmosphäre denn auch keine geringere als Zasulič noch einmal die Tat Karakozovs als einschneidendes Ereignis, da es die einen gezwungen habe, „das Possenspiel der Reformen zu beenden, und die anderen, die philosophischen Sphären, die nur das Allgemeine der Situation erklären, zu verlassen und sich der dringlichen Sache zuzuwenden (obratit’sja k nasuščnomu delu).“²¹⁷ Die Instrumentalisierung verschwommener Kampflinien gehört zum Aktionsfundus von Verschwörern ebenso wie dem ihrer Gegner. Während die Unberechenbarkeit zur Machtressource der Staatsfeinde gehört, fügen sich auch Staaten, völlig unabhängig von der politischen Form, selbstredend nicht einfach
Vgl. Tichomirov: Teni prošlogo. Stepan Chalturin, S. 82– 96 und Tichomirov: Zagovorščiki i policija, S. 168 – 182.Vera Figner berichtet in ihren Memoiren davon, dass die Gendarmen mit dem Fund nichts hatten anfangen können und sich erst nach dem Anschlag einen Reim darauf machen konnten Figner: Zapečatlënnyj trud. Vospominanija, S. 209 f. Vgl. Katkov: Neobchodimost’ diktatury dlja bor’by s kramoloj. Prikaz generala Gurko. Telegramma generala Bogdanoviča, in: Ders., Sobranie sočinenij v šesti tomach, St. Petersburg 2011, S. 409 – 412. Vgl. Katkov: Potrebnost’ v tverdoj i ėnergičeskoj vlasti dlja bor’by s kramoloj, in: Ders., Sobranie sočinenij v šesti tomach, St. Petersburg 2011, S. 421– 423. Vgl. Daly: Autocracy under Siege, S. 17– 27 und Baberowski: Autokratie und Justiz, S. 615 – 643, S. 691– 699. Vgl. Daly: Autocracy under Siege, S. 24. Den Terroristen war daher stets daran gelegen, ihre Anschläge wie aus einem unerschöpflichen Reservoir kommend erscheinen zu lassen. Zasulič schrieb dies aus ihrem Schweizer Exil RGASPI, Fond 262, op. 1, d. 4, l. 5.
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in ihr Schicksal. Vielmehr stoßen sie gerade in Phasen der Adaption nicht selten über die Grenzen der Legalität hinaus und büßen damit zumindest zeitweilig Legitimität ein.²¹⁸ Im Bewusstsein eben dieser Dynamik pochte etwa Katkov in seiner Publizistik auf eine ordnungspolitische Tradition, die für einen sich im Zweifelsfall über alle formalen Beschränkungen erhebenden Souverän steht. Ohne falsche Rücksicht seien folglich „alle Gesetze den Forderungen der Sicherheit des Staates unterzuordnen, wenn dieser in Gefahr ist.“²¹⁹ Mit dem Gesetz zur Erhaltung des Staates vom 12. Februar 1880 erhielt der vormalige Generalgouverneur von Char’kov, Michail Loris-Melikov, zentrale diktatorische Vollmachten. Die als ›Diktatur des Herzens‹ bekannte Herrschaft LorisMelikovs, die Errichtung einer ›Höchsten Exekutivkommission zum Schutz der staatlichen Ordnung und gesellschaftlichen Ruhe‹, war die unmittelbare Antwort auf den Anschlag im Winterpalais.²²⁰ Dabei hält diese kommissarische Diktatur im Sinne Carl Schmitts die Pointe bereit, dass mit ihrer Etablierung endgültig die Gerüchte zerstoben, es werde zum 25. Jahrestag der Thronbesteigung Alexanders II. eine Konstitution erlassen.²²¹ Der Anschlag auf den Zaren hatte dieses auf mehr gesellschaftliche Teilhabe abzielende Vorhaben, in dem der notwendige Abschluss des Reformprogramms gesehen werden konnte, offenbar vereitelt und stattdessen den überlegt geführten Gegenschlag des Staates provoziert. Im August 1880 wurde die direkt dem Zaren unterstellte III. Abteilung abgeschafft und Loris-Melikov stieg zum Innenminister auf. Fortan unterstanden ihm sowohl die Aufrechterhaltung ziviler Ordnung als auch die Staatssicherheit. Durch die ministerielle Bündelung der Polizeigewalten gelang eine effektivere Bekämpfung der Staatsfeinde.²²² Dabei gingen die neuen Erfolge insbesondere auf den im Frühjahr 1881 ernannten Petersburger Geheimdienstchef Sudejkin zurück,
Vgl. exemplarisch Cornel Zwierlein/Beatrice de Graaf (Hg.): Security and Conspiracy in Modern History, in: Dies. (Hg.), Security and Conspiracy in History. 16th to 21st Century, Köln 2013, S. 7– 45; Barkun: A Culture of Conspiracy und Ron Suskind: The One Percent Doctrine. Katkov: Potrebnost’ v tverdoj i ėnergičeskoj vlasti dlja bor’by s kramoloj, in: Ders., Sobranie sočinenij v šesti tomach, St. Petersburg 2011, S. 421. Vgl. zu dieser Tradition beispielhaft Frankenberg: Staatstechnik. Vgl. ferner Carl Schmitt: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin 1989. Vgl. Loris-Melikovs Proklamation ›K žiteljam stolicy‹ wurde am 14. Februar 1880 im ›Pravitel’stvennyj vestnik‹ abgedruckt. Vgl. B. S. Itenberg/V. A. Tvardovskaja (Hg.): Graf M.T. Loris-Melikov i ego sovremenniki, Moskau 2004, S. 403. Über diese Option hatte die ausländische Presse ebenso wie die Narodnaja Volja berichtet. Vgl. Venturi: Roots of Revolution, S. 689. Vgl. ferner René Fülöp-Miller (Hg.): Unter drei Zaren. Die Memoiren der Hofmarschallin Elisabeth Narischkin-Kurakin, Wien 1930, S. 76 – 88. Vgl. Pëtr Zajončkovskij: Krizis samoderžavija na rubeže 1870 – 1880-ch gg., Moskau 1964, S. 230 – 299 und Daly: Autocracy under Siege, S. 4, S. 27– 31.
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der als Kiever Gendarmerieoffizier auf sich aufmerksam gemacht hatte. Sudejkin griff – den Feinden des Staates gleich – zu konspirativer Tätigkeit, anstatt die Hauptstadt in einen Kampfplatz politischer Interessen zu verwandeln.²²³ Neben verdeckter Ermittlung, Überwachung der Kommunikationswege und professionalisierten Verhörmethoden waren es vor allem die Spione und Überläufer, die dem revolutionären Untergrund stark zusetzten, zugleich jedoch dem Eindruck einer willkürlichen Staatspolitik entgegenwirkten.²²⁴ Bereits im Herbst 1880 standen im sogenannten ›Prozess der 16‹ die ersten erfolgreich festgesetzten Verschwörer vor dem Militärbezirksgericht von St. Petersburg. Dort verhandelten die Richter unter anderem die Fälle der prominenten Terroristen Andrej Presnjakov, Nikolaj Buch, Kvjatkovskij, Širjaev und Zundelevič. Auch wenn die meisten Angeklagten der Narodnaja Volja erneut die zarische Gnade zu spüren bekamen, galt sie nicht Kvjatkovskij und Presnjakov: „Ich vermag jenen zu vergeben,“ sprach der Zar, „die einen Anschlag auf mich verübt haben, aber ich habe nicht das Recht, diejenigen zu verschonen, die meinen Untertanen das Leben genommen haben, den Untertanen, die mein Leben geschützt haben.“²²⁵ Ganz offensichtlich war das Exekutivkomitee der Narodnaja Volja in Bedrängnis geraten. Dennoch sollte es sich noch einmal als besonders schlagkräftig erweisen.²²⁶ Zu Beginn des Jahres 1881 hatten die Verschwörer den typischen Bewegungsradius des Zaren auf einige Straßen von St. Petersburg eingrenzen können.
Unter anderem diesen gegenseitigen Lernprozess hat Joseph Conrad in seinem Buch Under Western Eyes verarbeitet. Vgl. Alexej T. Wassiljew: Ochrana. Aus den Papieren des letzten russischen Polizeidirektors, Wien 1930, S. 7– 40; Dominic Lieven: The Security Police, Civil Rights, and the Fate of the Russian Empire, 1855 – 1917, in: Olga Crisp/Linda Edmondson (Hg.), Civil Right in Imperial Russia, Oxford 1989, S. 235 – 262; Katkov: Pokušenie protiv Gr. Loris-Melikova. Moskva, 20. fevralja 1880, in: Ders., Sobranie sočinenij v šesti tomach, St. Petersburg 2011, S. 426 f. und Daly: Autocracy under Siege, S. 26, S. 40 – 48. Vgl. zu dem sogenannten Prozess der 16 N. K. Buch: Pervyj process narodovol’cev, in: Katorga i Ssylka 80 (1931), S. 108 – 141 und Narodnaja Volja: Social’no-revoljucionnoe obozrenie. No. 4, in: Partija socialistov-revoljucionerov (Hg.), Literatura social’no-revoljucionnoj partii ›Narodnoj Voli‹, Leipzig 1977, S. 285 – 330, hier: S. 301– 314. Vgl. zu Gol’denberg, anderen Überläufern und den gescheiterten Anschlägen der Narodnaja Volja Katkov: ›Revoljucionnye marionetki‹. Pokazanija Gol’denberga, in: Ders., Sobranie sočinenij v šesti tomach, St. Petersburg 2011, S. 488 – 499. Im Zuge der Verhaftungen war auch Aleksandr Michajlov, einer der Köpfe der Terroristen, den zarischen Behörden in die Hände gefallen. Bisher war ausschließlich von ihm die Rede; im Folgenden wird von einem anderen Michajlov, von Tomofej Michajlov, gesprochen. Dieser neue Herrschaftsstil, der dem Phänomen der sogenannten kommissarischen Diktatur nahe kam, wird weithin mit der berühmten ›Ochrana‹ (Schutz) assoziiert. Vgl. allerdings zu dem problematischen Begriff der Ochrana-Abteilung Daly: Autocracy under Siege, S. 5.
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Allerdings blieb dem Exekutivkomitee für das geplante Attentat nur wenig Zeit, da der Staat ebenso umtriebig war. Ende Januar wurde Kletočnikov, der wertvolle Spion der Partei, enttarnt. Im Februar ging der Supervisor des bevorstehenden Attentats, Željabov, den zarischen Behörden ins Netz. Nachdem er durch Perovskaja ersetzt worden war, setzten die verbliebenen Verschwörer alles auf eine Karte und suchten das für den 1. März geplante Attentat um jeden Preis zum Erfolg zu führen.²²⁷ Die Techniker Kibal’čič, Grigorij Isaev und Michail Gračevskij stellten die Bomben bereit, für deren Anwendung die sogenannten Werfer Nikolaj Rysakov, Ignatij Grinevickij, Timofej Michajlov und Ivan Emel’janov ausgewählt wurden. Sie postierten sich rund um den Nevskij Prospekt und warteten auf das Eintreffen des Zaren. Nachdem dieser die sonntägliche Militärparade auf dem Manežnaja Ploščad’ abgenommen hatte, nahm die Kutsche nicht den vermuteten Weg durch die Malaja Sadovaja, sodass eine unterirdisch gelegte Bombe ohne Verwendung bleiben musste.²²⁸ Mit einem Taschentuch signalisierte Perovskaja die neue Route des Zaren und ließ auf dem damaligen Ekaterinskij Kanal Aufstellung nehmen. Da die Kutsche an der Uferstraße in der Nähe der Theaterbrücke das Tempo verringern musste, warf Rysakov eben dort seine Bombe.²²⁹ Die Explosion verwundete einige Passanten und einen kleinen Jungen. Der Zar allerdings war unversehrt geblieben und näherte sich seinem mittlerweile von Soldaten und einer Menschenmenge umstellten Attentäter. Als Alexander II. den Ort des Geschehens wieder verlassen wollte, warf sich ihm Grinevickij mit seiner Bombe direkt vor die Füße: „When the smoke began to disperse, Alexander II was seen lying on his back by the canal, scarcely breathing. He was losing blood, and said only, ›Help me, help me‹, and ›Cold, cold‹. Next him was Grinevitsky, fatally injured. Alexander II was quickly taken to the Winter Palace and died about an hour later. Grinevitsky died at the hospital during the evening, without even admitting his name. About twenty people had been more or less seriously wounded in the two explosions; of these three died within a few hours.“²³⁰
Vgl. Figner: Zapečatlënnyj trud. Vospominanija, S. 265. Vgl. zu dem als Käsegeschäft getarnten Laden, von dem aus ein Tunnel unter der Malaja Sadovaja Straße 56 gegraben wurde, um den Zaren bei seinem Vorbeiritt in die Luft zu sprengen Figner: Nacht über Rußland, S. 110 – 121. Vgl. A. Jakimova: Iz dalekogo prošlogo (Iz vospominanij o pokušenijach na Aleksandra II.), in: Katorga i Ssylka 8 (1924), S. 9 – 17 und Dietze/Schenk: Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr, S. 368 – 370. Venturi: Roots of Revolution, S. 713.
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Einen Tag später brüsteten sich die Verschwörer mit ihrer Tat. In einem Pamphlet versicherten sie dem Sohn des getöteten Zaren ihre Entschlossenheit, den Despotismus (despotizm) nun endgültig brechen zu wollen.²³¹ Mit besonderer Hingabe spielte die Gruppe mit der Angst vor der unkalkulierbaren Kraft von Verschwörungen: einer Kraft – tönte die Warnung –, die sich durch den Galgen der sterbenden Ordnung (otživajuščij porjadok) ebenso wenig eindämmen ließe, wie „der Kreuzestod des Messias die verkommene antike Welt vor dem Triumph des reformierenden Christentums“ hatte bewahren können.²³² Während die Verschwörer sich noch am eigenen Erfolg berauschten, sollte die Realität die Zelle allerdings schon bald einholen. Zunächst verhinderte das Attentat buchstäblich das auf Initiative Loris-Melikovs eingebrachte Dekret zu mehr gesellschaftlicher Beteiligung. Wie schon nach dem Anschlag auf das Winterpalais ein Jahr zuvor wurde also eine Entwicklung vereitelt, der die Gewalt vermeintlich galt.²³³ Statt eines Signals der Öffnung verabschiedete das Ministerkomitee am 14. August Ausnahmeregelungen, die Nikolaj Ignat’ev, der Nachfolger Loris-Melikovs im Innenministerium, ermächtigten, über bestimmte Regionen den Ausnahmezustand zu verhängen. Fortan konnten Generalgouverneure, Gouverneure und Stadthauptleute unliebsame Beamte von ihren Aufgaben entbinden. Zudem konnten zur ›Wahrung der staatlichen Ordnung und gesellschaftlichen Ruhe‹ Lehranstalten oder Presseorgane geschlossen werden.²³⁴ Der 1. März 1881 hatte gezeigt, dass für den maximalen Erfolg einer Verschwörung nicht unbedingt die erfahrensten Köpfe erforderlich waren. Vielmehr verbürgte offenbar die unbedingte Entschlossenheit den Triumph. Einge-
Vgl. ›Ot ispolnitel’nogo komiteta‹. 2 marta 1881 g., in: Partija socialistov-revoljucionerov (Hg.), Literatura social’no-revoljucionnoj partii ›Narodnoj Voli‹, Leipzig 1977, S. 897 f. Pis’mo ispolnitel’nogo komiteta k Aleksandru III. 10 marta 1881 g., in: Partija socialistov-revoljucionerov (Hg.), Literatura social’no-revoljucionnoj partii ›Narodnoj Voli‹, Leipzig 1977, S. 904. Zu den Verfassern des Pamphlets vgl. Venturi: Roots of Revolution, S. 716. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass einer der Verfasser dieser Proklamation, Morozov, in seiner Gefangenschaft später ein Buch über Jesus schrieb.Vgl. dazu Anna Larina Bucharina: Nun bin ich schon weit über zwanzig. Erinnerungen, Göttingen 1989, S. 80 f. Vgl. Thomas S. Pearson: Russian Officialdom in Crisis. Autocracy and Local Self-Government, 1861 – 1900, New York 1989, S. 103 – 118; Offord: The Russian Revolutionary Movement in the 1880s, S. 37 f. und Daly: Autocracy under Siege, S. 31– 48. Vgl. zum Ausnahmegesetz von 1881, das in immer wieder neu justierter Form bis 1917 bestand Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii, Sobr. III-e, tom 1, No 350.Vgl. ferner Baberowski: Autokratie und Justiz, S. 703; Pavel E. Ščëgolev: 1 marta 1881 g. Special’nyj nomer, in: Byloe 4– 5 (1918); A. V. Pribyleva: Process 17 lic v 1883 godu, in: Byloe 11 (1906), S. 221– 243 und A. P. Pribyleva-Korba: Po povodu processa 17-ti, in: Byloe 12 (1906), S. 249 – 256.
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denk dessen wurde Katkov nicht müde, seine Leser vor der trügerischen Ruhe zu warnen, die das Reich stets nach terroristischen Anschlägen ergriffen habe. Bereits nach dem verheerenden Anschlag auf das Winterpalais hatte er appelliert, keinesfalls naiv zu sein und sich mit dem Gedanken zu trösten, dass die Verhaftungen der letzten Zeit auch das revolutionäre Nest (revoljucionnoe gnezdo) ausgehoben hätten. Gerade der verräterischen Ruhe sei doch nicht zu trauen, da „ein sich schließendes Geschwür (zakryvšajasja jazva) bei weitem keine Heilung“ verspreche.²³⁵ Das erfolgreiche Attentat auf den Zaren schien ihm Recht gegeben zu haben.
Katkov: ›Revoljucionnye marionetki‹. Pokazanija Gol’denberga, in: Ders., Sobranie sočinenij v šesti tomach, St. Petersburg 2011, S. 488 und Julija Safronova: Russkoe obščestvo v zerkale revoljucionnogo terrora, S. 254– 308. Vgl. zu den Opferzahlen dieser Terrorwelle V. M. Sablin (Hg.): Chronika socialističeskogo dviženija v Rossii. 1878 – 1887, Moskau 1906, S. 349 – 458.
„Sentimentalität ist ein Verbrechen“ Isolation und Misstrauen sind Signaturen der Verschwörung und das zwangsläufige Elixier der Staatsfeinde. Ihr Leben ist dabei sehr „viel langweiliger und schwieriger“, als man glauben mag, da „der Terrorist oft monatelang als einfacher Mensch leben“ muss, ohne eine Möglichkeit, „seine Kameraden“ zu treffen.¹ Eben diese auf Vereinzelung ausgelegte Lebensführung hatte sich für die zarische Ordnung in den vergangenen Jahrzehnten als scheinbar undurchdringliches Dickicht erwiesen. Nach dem furiosen, in der Ermordung des Souveräns gipfelnden Finale jedoch wandte sich der einstmalige Vorteil zum Nachteil. Vor dieser Entwicklung hatten die Gegner der terroristischen Taktik stets gewarnt, waren für ihre Ratschläge indes mit Spott überzogen und teilweise als Feinde der selbsterklärten Volksfreunde diffamiert worden. Nun sollte die bewusst in Kauf genommene Entfremdung die Rückkehr der zarischen Ordnung ermöglichen. Allein der Umstand, dass der Machtantritt Alexanders III. von Terroristen herbeigeführt worden war, ließ erwarten, dass die neue Regentschaft keinesfalls von einer weiteren Liberalisierung oder gar einem Optimismus geprägt sein würde, durch die sich etwa der Journalist Katkov in den zurückliegenden Jahren immer wieder zu eindringlichen Mahnungen veranlasst gesehen hatte. Demnach fanden nun Konservative und der Zar in der Überzeugung zusammen, dass ein Herrscher, der sich behaupten will, imstande sein muss, „schlecht zu handeln, wenn die Notwendigkeit es erfordert.“² Die Politik des neuen Zaren stand somit ganz im Zeichen der Ordnung, für die insbesondere Katkov, der Oberprokuror des Heiligen Synods, Konstantin Pobedonoscev, und schließlich der Nachfolger des amtierenden Innenministers Ignatʼev, Graf Dmitrij Tolstoj, kämpfen sollten.³ Während Katkov und Pobedonoscev mangels eines Regierungsamtes allein in beratender Funktion zu Diensten standen, machte Tolstoj auf der politischen Bühne seinen Einfluss geltend. Vor allem die enge Zusammenarbeit mit Sudejkin, dem Inspektor der Geheimpolizei, und Polizeidirektor Vjačeslav Pleve sollte sich für den Zaren in den nächsten Jahren als außerordentlich fruchtbar erweisen. Bald schon konnte erfolgreich auf deutlich schärfere Presse- und Zensurbestimmungen hingewirkt werden. Und nachdem im Jahr 1884 der Vertraute Tolstojs, Boris Savinkov: Erinnerungen eines Terroristen, Nördlingen 1985, S. 183. Vgl. ferner Marija Školʼnik: Žiznʼ byvšej terroristki, Moskau 1930, S. 72. Machiavelli: Der Fürst, Frankfurt am Main 2001, S. 78. Vgl. ferner Andreas Renner: Defining a Russian Nation. Mikhail Katkov and the ›Invention‹ of Nationalist Politics, in: The Slavonic and East European Review 81 (2003), S. 659 – 682. Vgl. Heide W. Whelan: Alexander III and the State Council. Bureaucracy and Counter-Reform in Late Imperial Russia, New Brunswick 1992. https://doi.org/10.1515/9783110619287-004
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Bildungsminister Ivan Deljanov, ein die Hochschulautonomie beschneidendes Universitätsstatut verabschiedet hatte, sah sich mancher Zeitgenosse in dem Eindruck bestätigt, dass das Ministerium Tolstojs der eigentliche Staat sei.⁴ Unterstützer der Autokratie fanden sich allerdings nicht nur in den Reihen konservativ ausgerichteter Kräfte. So hielt etwa auch der liberal gesinnte Sergej Vitte die Zeit für gekommen, dem Terror mit Gegen-Terror zu begegnen. Damit nahm er selbst unter seinesgleichen keinesfalls eine abseitige Position ein.⁵ Nicht zuletzt deshalb haben Zeitgenossen und einige Historiker die Regentschaft Alexanders III. als einen von weiten Kreisen gedeckten Höhepunkt autokratischreaktionärer Herrschaft charakterisiert.⁶ Bedenkt man jedoch die lagerübergreifende Empörung über den Zarenmord, dann lässt sich die Politik Alexanders III. auch als geschickter Versuch begreifen, eben diese Stimmung für die Neuordnung der Autokratie zu nutzen.⁷ In den 1880er Jahren konnten die wichtigsten Terroristen verhaftet und abgeurteilt werden; die übrigen Verschwörer flohen vor der Geheimpolizei aus den Städten oder gingen ins Exil.⁸ Diesen Erfolg verdankte der Staat vor allem dem Umstand, dass es Sudejkin Ende 1882 gelungen war, eines der führenden Mitglieder der Narodnaja Volja, Sergej Degaev, als Agenten anzuwerben.⁹ Bereits zu Beginn des nächsten Jahres lieferte der Überläufer das wohl prominenteste Mitglied des Exekutivkomitees, Vera Figner, an den Staat aus. Auch wenn die Bedrohungslage im Jahre 1883 weiterhin als hoch eingeschätzt wurde, kann Figners Verhaftung in der Rückschau als entscheidender Schlag gegen die Verschwörer gewertet werden.¹⁰ So büßten die verbliebenen, meist im Exil lebenden Mitglieder nach dem Verrat allmählich ihren Nimbus ein und mussten schließlich der Zersplitterung der revolutionären Bewegung tatenlos zusehen.¹¹
Vgl. Pearson: Russian Officialdom in Crisis, S. 119 – 244; Tim-Lorenz Wurr: Terrorismus und Autokratie. Staatliche Reaktionen auf den Russischen Terrorismus 1870 – 1890, Paderborn 2017, S. 308 f. und Daly: Autocracy under Siege, S. 28. Vgl. Stephen Lukashevich: The Holy Brotherhood. 1881 – 1883, in: The American Slavic and East European Review 18 (1959), S. 491– 509. Vgl. Marc Raeff: A Reactionary Liberal. M. N. Katkov, in: The Russian Review 11 (1952), S. 157– 167 und Richard Pipes: Russian Conservatism and Its Critics. A Study in Political Culture, New Haven 2005, S. 115 – 178. Vgl. Theodore Taranovski: Alexander III and his Bureaucracy. The Limitations on Autocratic Power, in: Canadian Slavonic Papers 26 (1984), S. 207– 219 und Daly: Autocracy under Siege, S. 40. Vgl. Nikolaj Troickij, Narodnaja Volja pered carskim sudom, 1880 – 1891 gg., Saratov 1983, S. 48 f. Vgl. Troickij, Narodnaja Volja pered carskim sudom, S. 142– 156. Vgl. Rindlisbacher: Leben für die Sache, S. 184– 194. Die Degaev-Affäre verschlang Ende 1883 auch Sudejkin selbst. Lev Tichomirov hatte Degaev als Spitzel enttarnt und ihm zum Wohle der eigenen Rehabilitation die Ermordung Sudejkins
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Infolge der Verhaftung weiterer hochrangiger Verschwörer, vor allem German Lopatins im Jahre 1884, nahmen die zarischen Sicherheitsbehörden Ermittlungen gegen mehrere hundert Personen auf. Nach diesem der Degaev-Affäre vergleichbaren Schlag verlor der revolutionäre Untergrund weiter an Boden.¹² Als letztes Aufbäumen muss der 1. März 1887, der Jahrestag des Zarenattentats, gelten, als Lenins älterer Bruder Aleksandr Ulʼjanov, unter anderem zusammen mit Bronisław Piłsudski, dem älteren Bruder von Józef Piłsudski, den Versuch unternahm, die Terrororganisation Narodnaja Volja mit einem Attentat auf Alexander III. wiederzubeleben. Obgleich das Attentat scheiterte und die Hauptverschwörer zwei Monate später gehängt wurden, ist dem Ereignis selbst, vor allem aber dem Vladimir Ulʼjanov zugeschriebenen Satz, dass man selbst es anders machen werde, inzwischen eine beinahe mythologische Bedeutung zugewachsen.¹³ Nur ein Jahr später schwor einer der vielseitigsten Aktivisten der Narodnaja Volja, Lev Tichomirov, öffentlich der terroristischen Taktik ab. In seiner im Exil verfassten Beichte geißelt Tichomirov sich und seine ehemaligen Kampfgefährten als kleine, von den Volksmassen entrückte Gruppe, die sich eben dadurch als sehr viel tyrannischer erwiesen habe als die Autokratie selbst.¹⁴ Auf diese Weise wandte Tichomirov die Kritik an der eigenen Vergangenheit zu einer mindestens impliziten Eloge auf die Zarenherrschaft und unterstrich einmal mehr seine eigene intellektuelle Raffinesse. Noch im Jahr 1888 stellte der geläuterte Terrorist beim Zaren ein Gnadengesuch, dem nach einem von Innenminister Tolstoj verfassten Gutachten Ende des Jahres stattgegeben wurde. Nach Russland zurückgekehrt, begann Tichomirov auch für Katkov zu schreiben, einen Journalisten also, den seine ehemaligen Mitstreiter noch als mögliches Terrorziel ins Auge gefasst hatten.¹⁵ Statt terroristischer Akte fanden in den 1880er Jahren im ganzen Reich Prozesse statt. Offiziellen Zahlen zufolge wurden in den Jahren von 1881 bis 1891 rund 20.000 Personen wegen politischer Vergehen verurteilt und in der Zeit von 1881 aufgetragen. Vgl. Richard Pipes: The Degaev Affair. Terror and Treason in Tsarist Russia, New Haven 2003, S. 94– 118. Vgl. Troickij, Narodnaja Volja pered carskim sudom, S. 49. Vgl. HIA, Nicolaevsky Collection, Box 513, Folder 13. Vgl. ferner James D. White: ›No, We Wonʼt Go That Way; That Is Not the Way to Take‹, in: Revolutionary Russia 11 (1998), S. 82– 110. Die beste verfügbare Monographie über die Episode ist Philip Pomper: Leninʼs Brother. The Origins of the October Revolution, New York/London 2010. Vgl. Lev Tichomirov: Počemu ja perestal bytʼ revoljucionerom, Paris 1888, S. 7– 32, bes. S. 16. Vgl. Abbot Gleason: The Emigration and Apostasy of Lev Tikhomirov, in: Slavic Review 26 (1967), S. 414– 429 und zum Attentat auf Katkov Anna Ulʼjanova-Elizarova (Hg.): Aleksandr Ilʼič Ulʼjanov i delo 1 marta 1887, Moskau 1927, S. 195.
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bis 1894 rund 5.500 Personen verbannt. Neue Gesetze gestatteten zudem die Ausweisung ›unliebsamer‹ Personen, also von Personen, die nicht in erster Linie als politische Bedrohung galten. In demselben Zeitraum kam es allerdings immer wieder auch zu demonstrativen Gesten souveräner Milde. So wurden von 59 zwischen 1883 und 1894 zum Tode verurteilten Personen immerhin 47 begnadigt. Vor dem Tode bewahrt, konnten damit ausgerechnet die ehemaligen Staatsfeinde als Trophäen des Staats präsentiert werden.¹⁶ Die in Russland verbliebenen oder im Exil lebenden Verschwörer waren auf sich allein gestellt. Sie hatten erfahren, dass der Sicherheitspolitik des Zaren bereits eine lapidare Nachricht über die verfügbaren Kommunikationswege, ein Überläufer oder geschickter Agent genügte, um die Bekanntschaften der Revolutionäre untereinander offenzulegen. Sie wussten jedoch auch, wie Arnold J. Toynbee einmal bemerkt hat, dass sie „geboren waren, um unglücklich zu sein.“¹⁷ Und so betraten in eben dieser Phase des Niedergangs neue Akteure das Feld, wobei nun auch die Koordination des Kampfes von im Ausland lebenden Revolutionären Gestalt annahm. Dabei lässt sich die Aufnahme der alten Tradition seitens einer neuen Generation von Revolutionären insofern exemplarisch an der Verschwörung um Aleksandr Ulʼjanov nachvollziehen, als seine Gruppe zwar als Fraktion der Narodnaja Volja firmierte, jedoch personell und ideologisch schon mit dem im Entstehen begriffenen sozialrevolutionären und sozialdemokratischen Milieu verbunden war.¹⁸ Auch wenn all die revolutionären Gruppen heillos zerstritten und während der Herrschaft Alexanders III. spürbar in die Defensive geraten waren, wuchs das Geschwür (jazva), von Katkov im Jahre 1880 beschrieben, dennoch weiter. Abermals sollten Taten die Diskussion entscheiden, wie die Revolution zu bewerkstelligen, ob die Machtfrage über Aufklärung oder Verschwörungen zu klären sei, und wer überhaupt durch den gesellschaftlichen Aufbruch erreicht werden solle, die Arbeiter, die Bauern oder beide gleichermaßen. Die Partei der Sozialrevolutionäre wusste um die vergemeinschaftende Kraft des Terrors und setzte daher ganz auf die Verschwörung als Machttechnik. Durch ihre entschiedene
Vgl. Troickij: Narodnaja Volja pered carskim sudom, S. 213, S. 255 f.Vgl. ferner Wurr:Terrorismus und Autokratie, S. 292– 302 und Daly: Autocracy under Siege, S. 33 – 40. „We can also observe another fact in the life of an intelligentsia which is written large upon its countenance for all to read: an intelligentsia is born to be unhappy“ Arnold J. Toynbee: A Study of History, Abridgement of Volumes I – VI by D.C. Somervell, Oxford 1974, S. 394. Vgl. Ulʼjanova-Elizarova (Hg.): Aleksandr Ilʼič Ulʼjanov i delo 1 marta 1887 g., S. 189. Vgl. ferner Norman M. Naimark: Terrorists and Social Democrats. The Russian Revolutionary Movement under Alexander III, Cambridge 1983, S. 141– 153.
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Bereitschaft zum Risiko trat die Partei als Sammlungsbewegung das revolutionäre Erbe des 19. Jahrhunderts an. Die Konfrontation mit der Wirklichkeit belebte die Gewalt erneut. Dabei erschien den Revolutionären die Hungersnot der Jahre 1891 und 1892 zunächst als geeigneter Rahmen, um die Opfer dieser Katastrophe für den Kampf gegen die zarische Ordnung zu mobilisieren. Das Dorf indes erwies sich als wenig empfänglich für Revolutionsrhetorik, und so musste nun auch die neue Generation eine ähnliche Erfahrung wie ihre Vorgänger im Jahre 1874 machen. Dieser Umstand wiederum bestärkte den seit 1894 herrschenden Zaren Nikolai II. in seinem Glauben an eine tiefe Verbundenheit zwischen sich und dem Bauernvolk. Angesichts dieser verfahrenen Lage sollte sich Tichomirovs Diktum, dass letztlich jede revolutionäre Gruppe, die den Erfolg um jeden Preis will, irgendwann zur Gewalt greife, sehr viel schneller bewahrheiten, als es die erbitterte Debatte wenige Jahre zuvor noch hatte erahnen lassen.¹⁹ Spätestens seit der Jahrhundertwende hatte sich unter den Tatmenschen die Vorstellung eines sich fortwährend verschärfenden revolutionären Kampfes durchgesetzt.²⁰ Eine Vorstellung, die sich mit dem von Pëtr Karpovič Anfang 1901 auf Bildungsminister Nikolaj Bogolepov verübten Attentat festsetzte und vollends zur Realität geworden zu sein schien, nachdem im April 1902 ein als Soldat verkleideter Terrorist im Gebäude des Staatsrats einen Anschlag auf Innenminister Dmitrij Sipjagin verübt hatte.²¹ Die Tat Stepan Balmašëvs machte die auf den Terror spezialisierte Kampforganisation der Sozialrevolutionäre zur dominierenden Kraft des Untergrunds. Grigorij Geršuni, ihr Führer, gab nunmehr der Hoffnung Ausdruck, mit dem Attentat sei endlich der gordische Knoten durchtrennt worden.²² Zwar sollte es der Kampforganisation nicht gelingen, mit Pobedonoscev eine weitere hochrangige Symbolfigur zu ermorden. Allerdings fielen im Juli 1902 und im Mai 1903 die Gouverneure von Charʼkov und Ufa Attentaten zum Opfer.²³ Die Dynamik zwang nicht nur den Untergrund selbst zu neuen ideologischen Festlegungen, sondern auch die zarische Ordnung zu einer abermaligen Anpas-
Vgl. Wurr: Terrorismus und Autokratie, S. 303. Vgl. Hildermeier: Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, S. 64 f. Karpovič war im Untergrund sowohl mit sozialdemokratischen als auch sozialrevolutionären Gruppen verbunden und stand damit gleichsam ikonografisch für den neuen terroristischen Zeitgeist. Auch über die organisatorische Zugehörigkeit Balmašëvs entspann sich ein Streit zwischen Sozialrevolutionären und Sozialdemokraten. Vgl. Leonid G. Prajsman: Terroristy i revoljucionery, ochraniki i provokatory, Moskau 2001, S. 29 und Naimark: Terrorism and the Fall of Imperial Russia, S. 185. Vgl. Hildermeier: Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, S. 361.
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sung ihrer Sicherheitspolitik. So wurde Pleve, der ehemalige Polizeidirektor, zum Nachfolger des ermordeten Sipjagin bestellt und Aleksej Lopuchin von Pleve zum Leiter des Polizeidepartments bestimmt. Im September 1902 stieg der bisherige Chef der Moskauer Spezialabteilung, Sergej Zubatov, zum reichsweiten Führer des Sicherheitsdienstes auf.²⁴ Vor allem Pleve und Zubatov, der übrigens selbst dem revolutionären Milieu entstammte, setzten sich für die Investition von rund fünf Millionen Rubeln ein, um ein „Bollwerk gegen die Subversion“ zu errichten.²⁵ Dieser Neuausrichtung wiederum suchten die Revolutionäre mit dem Aufruf zu begegnen, sich unverzüglich ebenso professionell wie die zarischen Sicherheitskräfte zu organisieren.²⁶ Die Kampforganisation prägte in den folgenden Jahren die revolutionäre Lebenswelt. Ihr Chef, Geršuni, war das Bindeglied zur Parteispitze um Viktor Černov und Michail Goc, die sich im Exil aufhielten. Die Beinfreiheit der Organisation verdankte sich folglich zum einen dem Umstand, dass Černov und Goc aus dem Ausland lediglich den ideologischen Überbau, etwa die Statuten oder das Parteiorgan, kontrollieren konnten. Zum anderen ergab sich die vollständige Unabhängigkeit der Kampforganisation von der eigentlichen Parteiarbeit auch aus taktischen Überlegungen, da sich die bewusste Isolation, die Verschleierung der Identität auch gegenüber den eigenen Kampfgefährten, stets als Vorteil gegenüber der Macht erwiesen hatte. Aufgrund des erfolgreichen Umgangs mit der zarischen Sicherheitspolitik sollte die Parteiführung dem Leiter der Kampforganisation bald sogar den Namen ›Diktator‹ zusprechen.²⁷ Dem Innenminister war allerdings nicht entgangen, welche Bedeutung dieser Organisation zukam. Daher bestellte er Anfang 1903 Zubatov ein, übergab ihm ein Porträt Geršunis und befahl, das Bild so lange auf seinem Tisch aufzustellen, bis der Leiter der Kampforganisation festgesetzt sei.²⁸ Als im Mai 1903 dann die Verhaftung gelang, steigerte dies nur noch die Wut der Terroristen auf den Innenminister. Prompt wurde die Kampforganisation Evno Azef, dem bisherigen Stellvertreter Geršunis, übertragen, der nun einen neuen Stab um sich scharte. In diesem Umfeld sollten die Meisterverschwörer der kommenden Jahre heran-
Vgl. Daly: Autocracy under Siege, S. 124– 153. Vgl. Fredric S. Zuckerman: The Tsarist Secret Police in Russian Society, 1880 – 1917, Houndmills 1996, S. 83 – 99, hier: 94. Die Begründung des Avantgarde-Gedankens und die Aufforderung zur Professionalisierung der revolutionären Bewegung findet sich bekanntlich etwa in der 1902 veröffentlichten Schrift ›Was tun?‹ Vgl. Vladimir I. Lenin: Polnoe sobranie sočinenij. Tom 6, Moskau 1963, S. 126. Vgl. Prajsman: Terroristy i revoljucionery, S. 30 f. und Hildermeier: Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, S. 359. Vgl. Prajsman: Terroristy i revoljucionery, S. 33.
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wachsen; Dora Brilliant, Ivan Kaljaev und der schillernde Boris Savinkov. Ihr Ziel war die Ermordung Pleves. Sie ahnten nicht, dass Azef ein agent provocateur war, der alle Seiten hinters Licht führte und bald zur Verkörperung des Verrats schlechthin werden würde. Vielmehr, betonte Savinkov später, konnte Azef durch eine minutiöse, von seinem Vorgänger abweichende Planung, ihr Vertrauen gewinnen: „Es war bekannt, daß Plehwe im Gebäude des Polizeidepartements wohnte (Fontanka 16) und täglich zum Bericht zum Zaren fuhr, ins Winterpalais, nach Carskoe Selo oder nach Peterhof, je nach Jahreszeit und Aufenthaltsort des Zaren. Da es offenbar viel schwieriger war, Plehwe in seinem Hause zu ermorden, als auf der Straße, wurde beschlossen, ihn fortwährend zu beobachten. Dieses Observieren hatte zum Ziel, genau Tag und Stunde, Route und äußeres Aussehen der Ausfahrten Plehwes festzustellen. Nach Feststellung dieser Daten sollte sein Wagen durch eine Bombe auf der Straße gesprengt werden.“²⁹
Obwohl sie die Observation viele Monate durchführten, kamen die Terroristen ihrem Ziel nicht näher. Es folgten personelle Umstellungen – Nervosität machte sich breit. Die erfolglose Jagd auf Pleve beflügelte jedoch die Gewaltphantasien der Attentäter umso mehr. Revolution sei doch nichts anderes als Terror, bekannte der Verschwörer Aleksej Pokotilov.³⁰ Man müsse kaltblütiger werden, empfahl auch Savinkov, woraufhin Azef ihn wissen ließ, dass man überhaupt „zum Untergang der ganzen Organisation bis zum letzten Mann“ bereit sein müsse. Immerhin galt der spätere Attentäter, Egor Sazonov, als echter Revolutionär, weil er „weder Zweifel noch Schwanken“ kannte und moralische Fragen der Notwendigkeit des politischen Mordes unterordnete. Noch während der Vorbereitungsphase wusste er auf die Frage, was er nach der Ermordung Pleves wohl empfinden würde, nur mit den Gefühlen „Stolz und Freude“ zu antworten.³¹ Im Juni 1904 hatten die Terroristen endlich ein umfangreiches Bewegungsprofil ihres Opfers erstellt. Nach einem weiteren gescheiterten Anlauf konnte Sazonov, der sich als Eisenbahnangestellter verkleidet hatte, schließlich am 15. Juli das Attentat durchführen. Eine Bombe zerstörte die Kutsche auf der Straße und tötete Pleve auf der Stelle. Der Attentäter überlebte schwer verletzt. In einem Brief an die Mitstreiter sprach er von seinen Zweifeln, ob er die Partei angemessen vertreten habe, warb jedoch mit den Worten für Verständnis, dass er eben in der Frage des Terrors stets „ein Anhänger der Narodnaja Volja“ gewesen sei.³² Das Savinkov: Erinnerungen eines Terroristen, S. 6 f. Vgl. zu dem Ausspruch und zum Schicksal dieser Person Savinkov: Erinnerungen eines Terroristen, S. 27, S. 35 f. Savinkov: Erinnerungen eines Terroristen, S. 37 f., S. 47 f., S. 57. Savinkov: Erinnerungen eines Terroristen, S. 78.
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ganze oppositionelle Russland, so Manfred Hildermeier, sei sich einig gewesen, dass die Kampforganisation mit Pleve „jemanden gerichtet hatte, der seine Strafe verdiente.“³³ Nach diesem Erfolg wollte Azef sogleich nachlegen. Nun sollten die Großfürsten von St. Petersburg und Moskau und der Generalgouverneur von Kiev ermordet werden. Da sich allerdings rasch abzeichnete, dass die Koordination dreier Attentate die Kampforganisation überforderte, konzentrierte man sich zunächst auf Sergej Aleksandrovič, den Großfürsten und Generalgouverneur von Moskau und Onkel Nikolais II. Wieder erstellten die Verschwörer ein Bewegungsprofil; am 4. Februar 1905 führte der zum Attentäter bestimmte Kaljaev die Tat aus. Während Savinkov am Denkmal Alexanders II. wartete, hörte er in der Ferne einen Laut, „als ob jemand in einer Gasse aus einem Revolver geschossen hatte.“ Die Kutsche des Großfürsten, der von seiner Residenz, dem NikolaevskijPalast, zum Kreml fuhr, war in die Luft gesprengt worden.³⁴ Der Großfürst war das erste Opfer aus der Familie der Romanovs seit dem Attentat von 1881. Sein Tod galt vielen als Beleg dafür, dass sich Angriffe auf hohe Ziele der Autokratie wiederholen lassen würden. Geldspenden und Anfragen zur Mitwirkung gingen bei der Kampforganisation ein, Minister und andere hohe Würdenträger wurden als Opfer ins Auge gefasst. Nie wieder, so Savinkov, habe die Kampforganisation eine „solche Kraft und solche Bedeutung erreicht“ wie in diesen Monaten.³⁵ Vermutlich war es dieser Höhenflug, der einige Verschwörer an den Zaren als nächstes Opfer denken ließ.³⁶ Auch wenn ein solcher Plan in der Rückschau als folgerichtig erscheinen muss, so sehr verweist er doch auch auf das Dickicht aus Provokation und Doppelagententum. Selten nämlich lagen Dichtung und Wahrheit, eine gezielte Provokation seitens der zarischen Sicherheitsbehörden und ernsthafte Absichten der Terroristen so nah beieinander wie in dieser Phase völligen Realitätsverlusts.³⁷
Hildermeier: Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, S. 364. Vgl. ferner Prajsman: Terroristy i revoljucionery, S. 84– 88. Vgl. zum Terror als Revolution und zur Wirkung des Attentats Savinkov: Erinnerungen eines Terroristen, S. 47, S. 83 f. Vgl. Savinkov: Erinnerungen eines Terroristen, S. 80 – 144, Zitat: S. 124. Savinkov: Erinnerungen eines Terroristen, S. 83, Zitat: S. 162. Vgl. ferner Michael Melancon: Neo-Populism in Early Twentieth-Century Russia. The Socialist-Revolutionary Party from 1900 to 1917, in: Anna Geifman (Hg.), Russia under the Last Tsar. Opposition and Subversion 1894– 1917, Oxford 1999, S. 73 – 90 und Geifman: Thou Shalt Kill, S. 55 f. Vgl. Alexander Gerassimoff: Der Kampf gegen die erste russische Revolution, Frauenfeld 1934, S. 18 – 26. Vgl. die Diskussion bei Prajsman: Terroristy i revoljucionery, S. 296 – 320.
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Statt des ultimativen Schlags gegen die Autokratie sollte Verrat die Kampforganisation erheblich schwächen. Bereits im Februar 1905 hatte Nikolaj Tatarov, ein ZK-Mitglied der Sozialrevolutionäre in den Diensten des zarischen Geheimdienstes, Polizeichef Lopuchin entscheidende Hinweise zukommen lassen. Nur einen Monat später konnten bereits sechzehn Mitglieder der Petersburger Kampforganisation festgesetzt werden; weitere Verhaftungen folgten. Einzig Azef, Brilliant und Savinkov blieben als erfahrene Terroristen auf freiem Fuß – die Kampforganisation gab es eigentlich nicht mehr.³⁸ Damit waren die Verschwörer wieder in der Isolation gefangen: „Ich bin an die Illegalität gewöhnt. Genauso wie an die Einsamkeit. Ich will nicht in die Zukunft schauen. Ich möchte das Vergangene vergessen. Ich habe keine Heimat, keinen Namen, keine Familie.“³⁹ Mit diesen Zeilen hat Savinkov seine Erfahrungen im Untergrund zwar literarisch überhöht, damit allerdings keinesfalls den Boden quellengedeckter Psychogramme verlassen.⁴⁰ Mit dem Bekenntnis zur absoluten Gegenwart, einer quasireligiösen Anbetung der Gewalt, hatten die Verschwörer sich nicht nur gegen jedwede Einflussnahme seitens der eigenen Parteiführung im Ausland verwahrt, sondern sich auch eine verzerrte Perspektive auf die politische Umwelt zu eigen gemacht. Diese Sicht trübte sich nach den überwältigenden Erfolgen der Vergangenheit und den anschließenden Verhaftungen immer weiter ein. Sie immunisierte die Terroristen geradezu gegen die Vorstellung, dass der schwerwiegendste Verrat aus den eigenen Reihen womöglich noch bevorstehen könnte. Doch warum hätten sie ausgerechnet dem Mann misstrauen sollen, der mit ihnen gemeinsam die größten Erfolge errungen hatte?⁴¹ Während die Revolutionäre zur Lethargie verdammt schienen, sollte die zarische Inkompetenz im Russisch-Japanischen Krieg ihnen bald in die Hände spielen. Spätestens mit dem im September 1905 geschlossenen Vertrag von Portsmouth und dem Verlust Koreas und der Mandschurei realisierten die zeitweilig vom Patriotismus erfassten Untertanen die tiefgreifende Krise der Autokratie.⁴² Als sich am 9. Januar 1905 eine Sonntags-Prozession um den Priester Vgl. Savinkov: Erinnerungen eines Terroristen, S. 170 f.; Hildermeier: Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, S. 366 und Geifman: Thou Shalt Kill, S. 56. Boris Savinkov: Das fahle Pferd. Roman eines Terroristen, München 2017, S. 15. Vgl. Tichomirov: Vospominanija, S. 84 und Školʼnik: Žiznʼ byvšej terroristki, S. 72. Der Begriff der Selbstaufopferung (samootveržennostʼ) spielt in den Quellen jener Jahre eine herausragende Rolle und sollte damit doch nur den Verschwörer als Desperado verklären. Vgl. dazu auch Junge: Die Gesellschaft, S. 264. Eines der interessantesten Porträts der Affäre liefert Anna Geifman: Entangled in Terror. The Azef Affair and the Russian Revolution, Wilmington 2000. Vgl. exemplarisch Smith: Russia in Revolution; Teodor Shanin: The Roots of Otherness: Russia’s Turn of the Century, Vol. 1: Russia as a ›Developing Society‹, London 1985 und Teodor Shanin: The
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Georgij Gapon auf dem Weg zum Winterpalais begab, um den Zaren mit einer Bittschrift auf die prekäre Lage der Arbeiter aufmerksam zu machen, nahm die Konfrontation ihren Anfang. Obwohl der Zug, dem sich Zehntausende anschlossen, weniger einer Demonstration als einem religiösen Festzug glich – mit Zarenportraits, Ikonen und Gesang – wurde die Bitte nach grundlegenden Reformen mit Waffengewalt beantwortet.⁴³ Die Zahl der Verletzten und Toten heizte die Stimmung in der Bevölkerung nur noch weiter an: „Die Straßen waren zeitweise in der Hand des Mobs, und die ersten roten Fahnen tauchten auf. Aber diese Revolutionäre hatten keine Führer – und um Mitternacht waren die meisten nach Hause gegangen.“⁴⁴ Der ›Blutsonntag‹ forderte rund 200 Todesopfer und 800 Verletzte.⁴⁵ Die Szenen des Tages wurden von den isolierten Verschwörern als Beginn der Revolution gefeiert. In Vater Gapon, dem Anführer des Protests, fand die Krise der Autokratie ihr eindringliches Abbild. Hatte sich doch Gapon nicht nur früh der Sache der Armen angenommen, sondern auch mit dem Geheimdienst kooperiert und nach der Jahrhundertwende einen von der Polizei geduldeten Gewerkschaftsverband gegründet. Durch die innenpolitische Eskalation jedoch entpuppte sich dieses Doppelspiel als Gegenteil des beabsichtigten zarischen Kalküls – nämlich den Protest in staatlich gesteuerten Gewerkschaften zu organisieren und die moderaten Kräfte der Opposition von den Radikalen zu trennen. Im Verlauf des Jahres kam es zu Pogromen, Aufständen, Studentenprotesten und terroristischen Anschlägen. Reichsweit fanden 14.000 Streiks statt, an denen sich fast 2,9 Millionen Arbeiter beteiligten. An der Peripherie des Reiches – in Polen, den baltischen Provinzen und im Kaukasus – sahen nationale Minderheiten ihre Stunde gekommen. Auf dem Lande brandschatzten Bauern die Häuser ihrer Gutsherren, raubten das Holz und nahmen Besitz von den Feldern. Der Aufruhr erinnerte Adel und Regierung an die Bauernerhebungen des 17. und 18. Jahrhunderts.⁴⁶ Allein bis zum Herbst 1905 musste die Armee mindestens 2700 Mal ausrücken, um Aufstände niederzuschlagen. Dabei war es nach dem Krieg
Roots of Otherness: Russia’s Turn of the Century, Vol. 2: Russia 1905 – 07. Revolution as a Moment of Truth, Basingstoke 1986. Die Teilnehmerzahl variiert enorm: Von 50.000 bis 100.000 Teilnehmern spricht Abraham Ascher: The Revolution of 1905. Russia in Disarray, Stanford 1988, S. 90. Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 1998, S. 192. Vgl. Smith: Russia in Revolution, S. 47. Von weniger Opfern spricht Martin Aust: Die russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimperium, München 2017, S. 33. Vgl. Manfred Hildermeier: Die Russische Revolution 1905 – 1921, Frankfurt am Main 1989, S. 82 und Smith: Russia in Revolution, S. 49.
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gegen Japan um die Disziplin der Soldaten schlecht bestellt, zumal die große Mehrheit der Infanterie dem bäuerlichen Milieu entstammte. Befehlsverweigerungen und Meutereien waren die Folge.⁴⁷ Obwohl die Autokratie am Abgrund stand, schien der Zar, so erinnerte sich Vitte später, „vollkommen ruhig“; ein Herrscher, „von Natur aus indifferent – ein Optimist.“⁴⁸ Zwar hatte sich der Zar im Laufe des Jahres 1905 immer wieder zu kleineren Konzessionen bereit gezeigt, allerdings folgte das berühmte Oktobermanifest erst nach Wochen reichsweiter, von der Intelligenz unterstützter Arbeiteraufstände, die der Autokratie nur die Wahl zwischen einer Militärdiktatur oder politischer Öffnung zu lassen schien. Da die Gewaltoption rasch verworfen wurde, blieb nur der Versuch einer politischen Lösung. Selbst Alexander III., ließ Vitte den Zaren wissen, hätte angesichts einer solch schwerwiegenden Krise wohl diesen Weg gewählt.⁴⁹ Und so versprach der Zar grundlegende Freiheitsrechte, die Legalisierung von Parteien und ein durch Wahlen zu konstituierendes Parlament.⁵⁰ Mit diesem vom Vorsitzenden des Ministerkomitees, Sergej Vitte, entworfenen Manifest kam der Zar den seit vielen Jahren erhobenen Forderungen der Zemstvo-Liberalen nach, auch wenn viele sich die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung erhofft hatten. Gleichwohl konnten die liberalen Kritiker der Autokratie allmählich aus dem Umfeld der auf Umsturz setzenden Radikalen gelöst werden, da sich nunmehr ein reformerischer Weg abzuzeichnen begann.⁵¹ Es folgten Wochen chaotischer Freiheit. In kurzer Zeit entstanden über hundert neue Gewerkschaften.⁵² Zeitschriften und Zeitungen jeglicher Provenienz schossen aus dem Boden, da die Zensur erheblich gelockert worden war. Parteien kamen an die Oberfläche und organisierten sich in der Legalität neu, auch wenn die Untergrundarbeit radikaler Gruppen damit natürlich nicht aufhörte. Die Sowjets, allen voran der Petersburger Sowjet, traten nun ohne Scheu gegenüber den offiziellen Organen der Autokratie auf und wurden von vielen Arbeitern als legitime Repräsentation ihrer Interessen angesehen. Die Idee der Räte, ursprünglich zur Organisation des Generalstreiks ins Leben gerufen, verbreitete sich immer Vgl. John Bushnell: Mutiny and Repression. Russian Soldiers in the Revolution of 1905 – 1906, Bloomington 1985, S. 44– 73 und William C. Fuller, Jr.: Civil-Military Conflict in Imperial Russia 1881 – 1914, Princeton 1985, S. 129 – 168. Sergej Julʼevič Vitte: Vospominanija, memuary. Tom 2, Ast 2001, S. 62. Vgl. Andrew M. Verner: The Crisis of Russian Autocracy. Nicholas II and the 1905 Revolution, Princeton 1990, S. 343. Die Duma war bekanntlich kein souveränes Parlament westlichen Typs.Vgl. Geoffrey Hosking: The Russian Constitutional Experiment. Government and Duma, 1907 – 1914, New York 1973 und konzis Figes: Tragödie eines Volkes, S. 231– 240. Vgl. Richard Pipes: The Russian Revolution, New York 1990, S. 153– 194. Vgl. Hildermeier: Russische Revolution, S. 58.
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rascher und fand in dutzenden Städten Nachahmung. Obgleich die Opposition mit dem Oktobermanifest zunehmend gespalten werden konnte, erkannten die radikalen Kräfte das Entgegenkommen der Autokratie als Moment der Schwäche. Daher hofften die sozialistischen Parteien, Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten, sich zumindest jetzt an die Spitze der Bewegung stellen zu können, nachdem sie von den Ereignissen zu Beginn des Jahres 1905 ebenso überrascht worden waren wie die Autokratie.⁵³ So griff etwa Leo Trotzki, der den Petersburger Sowjet dominierte, die Revolutionseuphorie auf und hoffte gemeinsam mit dem erst im November 1905 zurückgekehrten Lenin auf den Umsturz. Trotz Übereinstimmung in Organisationfragen fanden die russischen Sozialdemokraten nicht mit der größten sozialistischen Partei, den Sozialrevolutionären, zusammen. Allerdings hatten sie verstanden, dass die Überwindung ideologischer Kleinkriege und die Hinwendung zur Tat ihnen Aufwind verschaffen konnte.⁵⁴ Die Liberalen hingegen fürchteten eine Gewaltorgie. Ebenso sehr waren sie jedoch in Sorge, dass der Staat seine Zugeständnisse wieder kassieren könnte, sobald die Opposition gespalten worden wäre. Die Dynamik des Geschehens ließ jedoch keinen Raum für Reflexionen, da für Staat und Revolutionäre allein noch der Aktionismus zählte. Mithin „zerbrach der Liberalismus an der ehrenwerten Fiktion, die Stimme der Nation“ zu sein.⁵⁵ Ende November 1905 wurde der Vorsitzende des Petersburger Sowjets, Georgij Chrustalëv-Nosarʼ, vom Staat festgesetzt; wenige Tage später kamen auch Trotzki und beinahe das gesamte Exekutivkomitee in Haft.⁵⁶ Ihre Zeitungen wurden konfisziert, Chefredakteure in Gewahrsam genommen. Der Schlag gegen die Sozialisten löste einen Monat später vor allem in Moskau noch einmal eine Welle der Gewalt aus. Als regierungstreue Regimenter den Aufstand mit aller Härte niederschlugen, zerbrach der Widerstand. Rund 70 Militär- und Polizeiangehörige und etwa 700 Revolutionäre und Zivilisten waren den Kämpfen zum Opfer ge-
Vgl. Hildermeier: Russische Revolution, S. 62. Im Jahr 1906 verfügten die Sozialrevolutionäre über rund 42.000 Mitglieder – die beiden Faktionen der Sozialdemokraten über rund 40.000 Mitglieder. Vgl. dazu Hildermeier: Russische Revolution, S. 62– 64 und Terence Emmons: The Formation of Political Parties and the First National Elections in Russia, New York 1983. Dietrich Geyer: Die Russische Revolution. Historische Probleme und Perspektiven, Stuttgart 1968, S. 40. Vgl. Hildermeier: Russische Revolution, S. 78.
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fallen.⁵⁷ Nach dieser vorerst letzten Eskalation wandten sich die liberalen Kräfte endgültig von den Radikalen ab. Die Revolutionäre hofften zwar weiterhin auf den Umsturz, allerdings schienen selbst Teile der Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre an einem Reformprozess im Verbund mit dem Zaren festhalten und Konflikte in der politischen Arena, der Duma, austragen zu wollen.⁵⁸ Gleichwohl kehrte das Misstrauen gegenüber der Ernsthaftigkeit staatlicher Konzessionen zurück, als Innenminister Pëtr Stolypin Anfang Juni 1907 55 Mitglieder der sozialdemokratischen Duma-Fraktion einer Verschwörung gegen den Staat bezichtigte und die Aufhebung ihrer Immunität forderte. Eine Eskalation nach der als Staatsstreich geltenden Auflösung der zweiten Duma im Juni 1907 mit anschließender Veränderung des Wahlrechts blieb – von kleineren Scharmützeln abgesehen – dennoch aus. Zu erschöpft seien die Menschen von den Unruhen der vergangenen Jahre gewesen, notierte der britische Botschafter.⁵⁹ Das Zarenreich war nunmehr eine ›Konstitutionelle Autokratie‹; der Zar übte zwar noch die ›höchste‹, aber nicht mehr die ›unbeschränkte‹ Macht aus. Da weder die Bürokratie noch die soziale Pyramide zerfallen war und sich nach den Gewalteruptionen ein Wille zur Ordnung abzeichnete, kehrte im Jahr 1907 wieder Ruhe ein.⁶⁰ Der Konflikt war damit politisch keinesfalls gelöst, sondern allein durch umfassende staatliche Ausnahmeregelungen eingefroren worden. So hat Abraham Ascher diese Fragilität einmal als gespiegelte Ähnlichkeit von Opposition und Autokratie beschrieben und damit die jeweils wenig ausgebildete Konzilianz dem Anderen gegenüber gemeint.⁶¹ Diese Unnachgiebigkeit führte schließlich auch innerhalb der zwei großen Lager, den Anhängern der Autokratie und ihren Kritikern, zu weiteren Verwerfungen. Folglich standen untereinander zerstrittene und zugleich hochpolitisierte Akteure, die nicht einmal mehr im Angesicht des erklärten politischen Feindes zusammenfanden, gewaltigen Problemen gegenüber.
Vgl. Laura Engelstein: Moscow, 1905. Working-Class Organization and Political Conflict, Stanford 1982, S. 219 – 221. Vgl. zur Mitarbeit der Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre in der Duma Benjamin Beuerle: Russlands Westen. Westorientierung und Reformgesetzgebung im ausgehenden Zarenreich 1905 – 1917, Wiesbaden 2016. Der Botschafter wird zitiert bei Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, München 2013, S. 1049 f. Vgl. ferner Ascher: The Revolution of 1905, S. 337– 368, bes. S. 364. Vgl. zur Ausweitung des reichsweiten Ausnahmezustands zum Kriegsrecht Peter Waldron: States of Emergency: Autocracy and Extraordinary Legislation, 1881 – 1917, in: Revolutionary Russia 8 (1995), S. 1– 25 und Naimark: Terrorism and the Fall of Imperial Russia, S. 187 f. Vgl. Ascher: The Revolution of 1905, S. 370 f.
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Im revolutionären Furor der Jahre 1905 bis 1907 prägten Attentate die alltägliche Erfahrung. Dabei muss allerdings stets bedacht werden, dass die für diese Jahre erfasste Zahl von rund 9000 Anschlagsopfern nicht nur Vertreter des Staats, sondern auch Zivilisten einschließt und nicht zuletzt deshalb so hoch ausfiel. Der allgemeine Ordnungsverlust hatte sehr unterschiedlichen Gruppen die Möglichkeit gegeben, Gewalt auf die Straßen des Imperiums zu tragen.⁶² Die Grenzen zwischen gewöhnlicher Kriminalität, Auftragsmorden, sogenannten Expropriationen, Hooliganismus und politischem Terrorismus verschwammen, weil es für Gewalttäter dieser Phase verlockend war, kriminelle Handlungen mit revolutionärer Rhetorik aufzuwerten.⁶³ Somit hatten die Dezimierung der Kampforganisation und die revolutionären Ereignisse vergangener Jahre auch den Untergrund verändert. Nie wieder sollte er zu alter Stärke zurückfinden. Die Verschwörer vergangener Jahre waren entweder tot, in Haft oder im Exil. Brilliant etwa war den zarischen Behörden Ende 1905 in die Fänge geraten und hatte im Gefängnis ihren Verstand verloren. Auch Savinkov war im Jahre 1906 verhaftet und zum Tode verurteilt worden. Er konnte allerdings aus der Haft entkommen und sich im Sommer ins Ausland absetzen. In eben dieser Zeit verdichteten sich auch die Hinweise, dass es sich bei Azef, dem so erfolgreichen Chef vergangener Verschwörungen, um einen Polizeispitzel handelte.⁶⁴ Als schließlich im Mai 1908 der im Exil lebende Vladimir Burcev, ein alter Narodnik und Chronist der revolutionären Bewegung, dem ZK der sozialrevolutionären Partei ein Dokument zukommen ließ, in dem er seine bereits früher geäußerten Verdächtigungen mit einer beigefügten Aussage des ehemaligen Polizeichefs Lopuchin anreicherte, herrschte helle Aufregung. Der Partei blieb nichts anderes übrig, als die Verstrickungen ihres Chefterroristen im Dezember öffentlich zu machen. Burcev, der den Beinamen ›Sherlock Holmes der russischen Revolution‹ zugesprochen bekam, brachte die verbliebenen Terroristen um ihr Erbe.⁶⁵ Savinkov wollte die Position der Schwäche einmal mehr in einen Vorteil verwandeln. Er warb für die Konzentration auf strategisch wertvolle Ziele und eine Abkehr von ubiquitärer Gewalt. Nur würdige Verwalter des terroristischen Erbes, so lautete seine Devise, könnten den Eindruck zerstreuen, dass vergangene Erfolge einzig mit staatlicher Unterstützung möglich gewesen seien. Trotz Absichtserklärungen blieben die Bedingungen jedoch prekär. Zunächst wurden Vgl. zu den Zahlen Geifman: Thou Shalt Kill, S. 21. Vgl. Neuberger: Hooliganism. Vgl. Geifman: Entangled in Terror, S. 85 – 122. Vgl. Jonathan W. Daly: The Watchful State. Security Police and Opposition in Russia 1906 – 1917, DeKalb 2004, S. 81– 109.
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weitere Doppelagenten enttarnt und die Verschwörer verloren immer weiter an Personal. Zudem war seit dem Frühjahr 1906 über 70 Prozent des Russischen Reiches der Ausnahmezustand verhängt worden, sodass der Staat mit Kriegsgerichtsbarkeit und Schnellverfahren seinen Widersachern zusetzen konnte.⁶⁶ Nicht zuletzt wegen dieser entschiedenen Versuche, das Gewaltmonopol durchzusetzen, konzentrierten sich die Verschwörer ganz auf den Zaren und Stolypin, den Ministerpräsidenten und Innenminister. Nach einigen gescheiterten Anläufen erklärte sich im Sommer 1911 Dmitrij Bogrov bereit, das Attentat auf Stolypin auszuführen. Zu diesem Zeitpunkt war zwar bereits bekannt, dass Bogrov auch mit dem Geheimdienst zusammengearbeitet hatte, dennoch gestanden ihm seine Mitstreiter zu, die Tat im Sinne einer Läuterung auszuführen. So agierte der als Neurastheniker charakterisierte Bogrov formal im Namen der Sozialrevolutionäre, sollte nach seiner Tat allerdings immer wieder darauf beharren, sie nicht im Namen einer bestimmten Organisation ausgeführt zu haben.⁶⁷ Damit war das letzte Attentat auf einen prominenten Würdenträger der zarischen Ordnung in vielerlei Hinsicht eine Reminiszenz an das Attentat von Karakozov. Es bezeugte noch einmal eindrücklich, dass im Sumpf der Verschwörungen klare Verhältnisse immer erst durch die Tat geschaffen wurden. Erst sie richtete die Welt wieder ein in Machthaber und Opponenten, selbst wenn ihre Drahtzieher vielfach willkürlich im Feld beider Gruppen verteilt waren. Nachdem nun Borgrov dem Geheimdienst bewusst falsche Informationen über bevorstehende Attentate hatte zukommen lassen, schoss er am 1. September 1911 in einer Theaterloge in Kiev aus nächster Nähe auf Stolypin. Wenige Tage später erlag der Ministerpräsident seinen Verletzungen – Bogrov wurde in der Nacht auf den 11. September gehängt.⁶⁸ Das Attentat auf Stolypin markierte den endgültigen Wendepunkt. Der Staat wurde immer häufiger der Verschwörer habhaft und stellte sie vor ein erhebliches Rekrutierungsproblem. Noch schwerer jedoch wog, dass Gerüchte über die Verbindungen Bogrovs zur zarischen Geheimpolizei längst auch die Öffentlichkeit erreicht hatten und deshalb die Ermordung Stolypins vielen als eine Verschwörung hinter der Verschwörung galt.⁶⁹ Es verwundert somit nicht, dass Savinkov zur Beschreibung dieser aussichtlosen Lage seinem literarischen Alter-Ego George geradezu mystische Formeln in den Mund legte: „Es wird gesagt, du sollst nicht töten. Es wird außerdem gesagt, den Minister, den sollst du töten, den Revolutionär, den nicht. Wie auch umgekehrt. Ich weiß nicht, warum man nicht töten
Vgl. Waldron: States of Emergency, S. 4. A. Serebrennikov (Hg.): Ubijstvo Stolypina. Svidetelʼstva i dokumenty, Riga 1990, S. 123 – 133. Vgl. Pipes: Russian Revolution, S. 189. Geifman: Thou Shalt Kill, S. 243.
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soll. Und ich werde es nie verstehen, warum das Töten im Namen der Freiheit gut ist und im Namen der Autokratie böse.“⁷⁰ Mit dem Tode Stolypins hatte die Autokratie einen ihrer fähigsten Politiker des späten Zarenreiches verloren. Die von ihm angestoßene Landreform, der größte Vorstoß seit dem Befreiungsstatut von 1861, und andere Initiativen – etwa im Bildungsbereich, im Bereich der Eigentumsrechte oder Administration – waren allesamt der Stabilisierung der autokratischen Ordnung und der Zurückdrängung oppositioneller Kräfte gewidmet gewesen, konnten sich letztlich jedoch nicht gegen den autokratischen Widerstand behaupten. Vielmehr galt Stolypin seinen Kritikern als Totengräber der Autokratie, weil sie erkannt hatten, dass die Reformen am Ende auch neue Formen gesellschaftlicher Teilhabe nach sich ziehen würden. Zu spät sollten sie begreifen, dass überhaupt erst seine Politik eine zeitweilige Stabilisierung der Autokratie ermöglicht hatte.⁷¹ In Russland brach nunmehr eine bleierne Zeit an. Zwar waren die Terroristen zurückgedrängt worden, hatten ihr Sympathisantenfeld und somit den legalen Arm eingebüßt, doch sollte dies den Autoritätsverlust der Autokratie nicht aufhalten können. Mit einer Mischung aus Selbstgewissheit und Ignoranz klammerte sich die zarische Elite an den status quo und ließ sich von der relativen Ruhe täuschen. In dieser geradezu schlafwandlerischen Stimmung schenkte sie schließlich auch einem Memorandum des Innenministers der Jahre 1905 – 1906, Pëtr Durnovo, vom Frühjahr 1914 keine besondere Aufmerksamkeit. Durnovo suchte den Zaren vor den unabsehbaren Folgen eines Krieges zu warnen, weil Russland zu schwach sei und am Ende in „hoffnungslose Anarchie stürzen“ würde, „deren Ausgang nicht vorauszusehen“ sei – doch die Worte verhallten.⁷² Als sich die außenpolitische Lage verschärfte und Russland für Serbien den militärischen Konflikt mit der Donaumonarchie und dem Deutschen Reich in Kauf nahm, schienen patriotische Aufwallungen kurzzeitig die innenpolitischen Verwerfungen zu verdecken. Rasch zeichnete sich indes ab, dass man einem modernen Krieg nicht gewachsen war; die Versorgung der Armee mit Gerät und die Sicherung der Heimat mit Nahrungsmitteln gerieten ins Stocken. Empfindliche Niederlagen an der Front und Teuerungen in der Heimat waren die Folge und
Savinkov: Das fahle Pferd, S. 10. Vgl. ferner Lynn Ellen Patyk: On Disappointment in Terrorism, War, and Revolution. Boris Savinkov’s ›What Didn’t Happen‹ and Leo Tolstoy’s ›War and Peace‹, in: Russian Review 77 (2018), S. 30 – 46 und A. S. Baranov: Obraz terrorista v russkoj kulʼture konca XIX – načala XX veka (S. Nečaev, V. Zasulič, I. Kaljaev, B. Savinkov), in: Otečestvennye nauki i sovremennostʼ 2 (1998), S. 181– 191. Vgl. Abraham Ascher: P.A. Stolypin. The Search for Stability in Late Imperial Russia, Stanford 2001. Zitiert nach Figes: Tragödie eines Volkes, S. 272.
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lösten eine Spirale der Unzufriedenheit aus. Im Jahr 1915 brachen die innenpolitischen Konflikte wieder voll auf.⁷³ Streiks und Demonstrationen prägten das Bild in den Großstädten. Unterdessen übernahm der Zar den Oberbefehl über die Armee und weilte im Hauptquartier der Armee in Mogilëv fernab des Zentrums. Nunmehr galt er vollends als Getriebener, dem die Geschicke des Staats längst entglitten waren und der arglos einer Verschwörung, angeführt von Rasputin und der deutschstämmigen Zarengattin, das Zentrum der Macht überlassen habe. Auch der Mord an Rasputin im Dezember 1916 durch Angehörige des Hochadels konnte die Krise des Reiches nicht mehr eindämmen. Allein in der Zeit zwischen September 1915 und Februar 1917 verschliss das Zarenreich vier Premierminister, fünf Innenminister, vier Landwirtschaftsminister, drei Außenminister, drei Kriegsminister und drei Verkehrsminister.⁷⁴ Inzwischen war auch die Zahl der Toten, Verwundeten, Vermissten und Gefangenen auf acht Millionen angestiegen.⁷⁵ Die Führung der Sozialrevolutionäre und die Faktionen der Sozialdemokraten befanden sich im Exil und verfügten im Reich allein über isolierte Haufen. Während die Sozialrevolutionäre und Menschewiki noch mit der Frage rangen, ob der Moment der Revolution nun gekommen sei oder ob nicht mit dem Krieg erst die Voraussetzung einer bürgerlichen Revolution geschaffen würde, also noch abgewartet werden müsse, suchte Lenin mit einer entschieden defätistischen Haltung – Desertion und offener Bürgerkrieg im Namen der Revolution – die Bolschewiki auf Linie zu bringen. Er setzte nicht mehr auf ideologische Finessen, sondern erhob die Praxis zum Ratgeber.⁷⁶ Im Februar 1917 entlud sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung auf der Straße.⁷⁷ Anders als gut zehn Jahre zuvor schlossen sich die desillusionierten Soldaten jedoch diesmal dem Protest an. Statt eines Blutbads folgte im März 1917 die Abdankung des Zaren. An die Stelle der Autokratie trat als Repräsentationsorgan der Revolution der Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten, während die Provisorische Regierung das Erbe der Duma antrat und den Weg zu einer Konstitution ebnen sollte. Dass die Furcht vor einer Eskalation der Gewalt größer war als die Rivalität zwischen den jeweiligen Akteuren der sogenannten Doppelherrschaft, wurde mit dem Eintritt der Sozialrevolutionäre und
Vgl. Dominic Lieven: Towards the Flame. Empire, War and the End of Tsarist Russia, London 2015, S. 291– 364. Vgl. Tsuyoshi Hasegawa: The February Revolution, Petrograd, 1917. The End of the Tsarist Regime and the Birth of Dual Power, Leiden 2018, S. 40. Vgl. Geyer: Die Russische Revolution, S. 55. Vgl. Hugo Fischer: Lenin. Der Machiavell des Ostens, Berlin 2018, S. 167– 229 und zu Lenins sogenannten April-Thesen Pipes: Russian Conservatism and Its Critics, S. 392– 394. Vgl. Hasegawa: The February Revolution, S. 201– 310.
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Menschewiki in die Provisorische Regierung deutlich. Allerdings bezeugten zugleich militärische Rückschläge, Kabinettsumbildungen, ein Putschversuch der Bolschewiki im Juli 1917 und schließlich die Absetzung von Oberbefehlshaber Lavr Kornilov, der eines Militärputsches verdächtigt wurde, die fragile Lage.⁷⁸ Durch ihren Eintritt in die Provisorische Regierung zeichneten nun auch Sozialrevolutionäre und Menschewiki für das militärische und politische Versagen verantwortlich. Genau dieser porösen Machtarchitektur bedienten sich Lenins Bolschewiki. Mit ihrer dezidierten Antikriegs-Rhetorik konnten sie in den Räten von Petrograd und Moskau die Mehrheit hinter sich versammeln und damit ihren bislang allein ideologisch vorgebrachten Avantgarde-Gedanken mit entsprechender Macht unterfüttern. Angesichts einer gelähmten Provisorischen Regierung und des für Ende Oktober angesetzten Zusammentretens des Zweiten Allrussischen Sowjetkongresses plädierte Lenin zwischenzeitlich geradezu jovial für eine Räteregierung im Verbund mit den Sozialrevolutionären und beiden Faktionen der Sozialdemokraten. Wenig später allerdings drängte er aus dem finnischen Exil seine Anhänger zum Putsch und setzte sich nach seiner Rückkehr auch gegenüber den Zweiflern – namentlich Lev Kamenev und Grigorij Zinovʼev – im engsten Führungskreis durch. Die Verschwörung, die Lenin und Trotzki, gestützt auf die Petrograder Garnison, in der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober 1917 anführten, war schließlich erfolgreich, weil die Putschisten im Chaos der überlebten Ordnung die eigene Machtbasis erkannten.⁷⁹ Hatten die Autokraten stets die Geschicke von oben zu regeln gehofft, sich dabei zuletzt zwar lediglich als Getriebene mit Taktstock erwiesen, aber dennoch daran geklammert, den status quo irgendwie halten zu können, brachte das Desaster des Weltkrieges, nach den Erfahrungen des Krimkriegs und des Kriegs gegen Japan, nun das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen. Die alte Furcht der Autokratie, dass ihr die Initiative entgleiten könnte, eine Furcht, die etwa auch den Weg für das Befreiungsstatut von 1861 und die Einrichtung der Duma frei gemacht hatte, sollte nun auch im Oktober des Jahres 1917 unter veränderten politischen Rahmenbedingungen handlungsleitend ausfallen. Durch die Absetzung der Provisorischen Regierung und die Schaffung vollendeter Tatsachen während des Zweiten Allrussischen Sowjetkongresses wurde die Macht der Verschwörung zur politischen Realität. Nicht die Volksmasse, sondern ein kleiner Zirkel hatte der Geschichte einen Stoß gegeben: „In der Aufhebung aller Autorität
Vgl. exemplarisch Smith: Russia in Revolution, S. 143 – 148. Vgl. Laura Engelstein: Russia in Flames: War, Revolution, Civil War 1914 – 1921, Oxford 2018; Catherine Merridale: Lenins Zug. Die Reise in die Revolution, Frankfurt am Main 2017 und Aust: Die russische Revolution.
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lag ein Element der Machtsicherung, freilich ein sehr provisorisches, das nicht aus der Stärke, sondern aus der Schwäche der neuen Herren kam.“⁸⁰ Mit massentauglichen Losungen – Frieden, Land, Brot – buhlten die neuen Machthaber um Unterstützung. Ihr zum Staat gewordenes Misstrauen manifestierte sich rasch in der Etablierung einer eigenen Armee und vor allem eines eigenen Geheimdienstes. Wer, so das Kalkül der ehedem isolierten und nun an die Macht gekommenen Verschwörer, aus der „Ochrana eine Tscheka“ zu formen verstehe, „würde Rußland beherrschen.“⁸¹ Die Macht der Verzweiflung, die zum Signum des Untergrunds gehört hatte, sollte ihnen fortan zum Organisationsvorteil an der Staatsspitze gereichen. In diesen neu geschaffenen Machtraum, so Stephen Kotkin, stießen vor allem vier Personen vor: Lenin, Trotzki, Sverdlov und Stalin. Ihnen allen gemein war eine Vergangenheit als Staatsfeinde.⁸² Und sie alle wussten, dass sie, wie die Radikalen der Französischen Revolution, die Brücken hinter sich abgebrochen hatten und vorwärts mussten, ob sie wollten oder nicht.⁸³ Ihre mangelnde Erfahrung in administrativen Angelegenheiten suchten sie durch ihre seit Jahrzehnten erprobte und keine Opfer scheuende Entschlossenheit zur Tat auszugleichen. Die Regierungsgeschäfte der neuen Ordnung übernahm der Rat der Volkskommissare, der zunächst auch die Suggestion aufrechterhielt, dass es sich lediglich um eine Interimslösung bis zum Zusammentritt einer Konstituierenden Versammlung handele. Nachdem bei den im November 1917 abgehaltenen Wahlen die Sozialrevolutionäre mit 40 Prozent der Stimmen rund 16 Prozentpunkte vor den neuen Machthabern lagen, schufen sie Anfang Januar 1918 durch die Auflösung der Konstituierenden Versammlung nach nur einer Sitzungsnacht neue Fakten.⁸⁴ Neben den Rat der Volkskommissare und das Zentralkomitee der Bolschewiki trat nun noch das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee als Machtinstanz. Mit ihren Taten hatte die Gruppe um Lenin der Kunst des Aufstands wieder einen Platz auf der politischen Bühne zugewiesen.⁸⁵
Geyer: Die Russische Revolution, S. 121. Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne, Frankfurt am Main 2015, S. 161. Vgl. ferner Daly: The Watchful State, S. 221– 226. Vgl. Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, S. 228. Vgl. zu dem Ausspruch von Philippe-François-Joseph Le Bas Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder, S. 163. Die Bolschewiki hatten in den urbanen Zentren und unter den Soldaten durchaus großen Zulauf verbuchen können. Vgl. Aust: Die russische Revolution, S. 149 und Oliver H. Radkey: Russia Goes to the Polls. The Election to the All-Russia Constituent Assembly, 1917, Ithaca/London 1990. Vgl. zum Aufstand als Kunst Geyer: Die Russische Revolution, S. 83 f., S. 93, S. 96, S. 99 – 106.
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Nicht die Unterstützung durch die Volksmassen, sondern der Krieg und eine kleine Gruppe entschlossener Verschwörer hatten das Tor der Revolution aufgestoßen. Bis dahin waren die Bolschewiki mit ihrer abwartenden Taktik immer wieder gescheitert, im Untergrund den Sozialrevolutionären sogar unterlegen gewesen und während der Revolution von 1905 – 1907 als Zaungäste geendet. Im Verlauf des Jahres 1917 jedoch hatte Lenin die Initiative ergriffen; wohl nicht zuletzt, weil er diesmal nicht Chronist bleiben wollte.⁸⁶ Er verwarf die dezidiert internationalistische Perspektive auf die Revolution und fügte sich der Erkenntnis, dass eine Revolution an einem konkreten Ort entschieden und gemacht werden musste. Seine Partei wurde zum Staat. Der Wille also zur Tat und die Erfahrung, dass eine Verschwörung eine neue politische Realität zu schaffen vermag, sollten nunmehr Lenins politische Agenda bestimmen. Er bewies, dass er die Umstände zu seinen Gunsten prägen konnte. Er wollte nicht wie seine revolutionären Vorgänger als »Träumer des Absoluten« (Hans Magnus Enzensberger) enden, sondern hatte aus der Vergangenheit gelernt, dass „Sentimentalität ein Verbrechen“ ist.⁸⁷
Vgl. Pipes: Russian Conservatism and Its Critics, S. 439 – 505; Peter Holquist: Making War, Forging Revolution. Russiaʼs Continuum of Crisis, 1914 – 1921, Cambridge 2002 und Fischer: Lenin. Vgl. Vladimir I. Lenin: Polnoe sobranie sočinenij. Tom 21, Moskau 1968, S. 409 und Enzensberger: Die Träumer des Absoluten, in: Ders., Politik und Verbrechen, S. 285 – 360.
Das Phantom der Souveränität Für einen Machthaber gibt es nichts Schlimmeres als eine Verschwörung. Ist eine solche gegen ihn angezettelt, so kostet sie ihn entweder das Leben oder seinen guten Namen. Gelingt sie, so stirbt er.Wird sie aufgedeckt und die Verschworenen hingerichtet, so glaubt man immer, die ganze Sache sei eine Finte des Machthabers, um seine Grausamkeit und Habsucht mit dem Blut und Vermögen der Hingerichteten zu befriedigen. Niccolò Machiavelli¹
1. Die Macht der Bedrohung Eine Ironie der Geschichte sieht der Historiker James Goodwin in dem Umstand, dass in den 1930er Jahren das Gedenken an die Narodnaja Volja endgültig aus dem öffentlichen Leben verbannt wurde – in einer Zeit also, als der Staatsterror in seine entscheidende Phase ging.² Darin jedoch liegt keineswegs allein eine bemerkenswerte Pointe. Vielmehr veranschaulicht die Koinzidenz, dass sich in diesen Jahren der Konnex von befürchtetem Terror aus dem Untergrund und potenzieller Palastrevolution mit einer besonderen Form der Vergangenheitsbewältigung verband. In der daraus entstandenen Politik lässt sich sowohl die nüchterne Antizipation eines möglichen, wenn auch schwer kalkulierbaren Angriffs auf die Machthaber, als auch ein instrumenteller Gebrauch von Bedrohungsszenarien erkennen, um, auf diese Weise legitimiert, mit erklärten Feinden abzurechnen. Welches dieser beiden Elemente handlungsleitend gewesen sein mag, zu welchen Überlagerungen es dabei kam, ist seit Jahrzehnten Gegenstand hitziger Kontroversen.³ Gleichwohl weist die Geschichte nach der Oktoberrevolution Konjunkturen auf, lässt den Stalinismus sogar als Knotenpunkt erscheinen, an dem neben anderen Faktoren auch die Tradition der Verschwörer zum Tragen kam. Somit erweist sich eine Betrachtung dieser Dynamik als Ergänzung dessen, was vielen als Enigma erscheint.⁴ Der Aufstand der Linken Sozialrevolutionäre im Juli 1918 legte den Grundstein der Verschwörungsangst des neuen Regimes. Vorausgegangen war dem Aufstand
Machiavelli: Discorsi, S. 319. Vgl. Goodwin: Afterlife of Terrorists, S. 241. Vgl. klassisch die Diskussion bei Edele: Stalinism as a Totalitarian Society und zuletzt Wagner: Revisionismus. Elemente, Ursprünge und Wirkungen der Debatte um den Stalinismus ›von unten‹. Von einem Enigma sprechen etwa Hiroaki Kuromiya: Stalin and His Era, in: The Historical Journal 50 (2007), S. 711– 724; Kuromiya: Accounting for the Great Terror und Schlögel: Utopie als Notstandsdenken, S. 93. https://doi.org/10.1515/9783110619287-005
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ein Koalitionsbruch der Linken Sozialrevolutionäre und Bolschewiki im Nachgang des Friedensvertrages von Brest-Litovsk Anfang März 1918. Nicht einmal ein halbes Jahr hatte also diese einmalige Regierungskoalition nach dem Oktoberumsturz Bestand gehabt. Besondere Wirkung entfaltete der Bruch, da wenige Monate zuvor, auf dem II. Allrussischen Sowjetkongress Ende Oktober 1917, die Partei der Sozialrevolutionäre endgültig zerfallen war, nachdem die Linken Sozialrevolutionäre ihre Machtbeteiligung über den Zusammenhalt der eigenen Partei gestellt hatten. Obgleich dieser Schritt ihnen zunächst eine Kooperation mit den Bolschewiki im Rat der Volkskommissare, den Sowjets und vor allem auch innerhalb des Geheimdienstes, der ČK, beschert hatte, hielten die Linken Sozialrevolutionäre den Friedensvertrag mit dem als imperialistisch angesehenen Deutschen Reich für inakzeptabel.⁵ Somit deutete viel darauf hin, dass nun die letzten von den Bolschewiki tolerierten Erben der Narodnaja Volja im offenen Kampf, im Walzwerk der neuen Ordnung aufgerieben werden würden.⁶ Zunächst jedoch suchten die Linken Sozialrevolutionäre nach neuen Einflussmöglichkeiten, zumal sie bei der bäuerlichen Bevölkerung weiterhin über großes Ansehen verfügten. Deshalb entsprach ihr Rückzug aus dem Rat der Volkskommissare, ein von vielen Revolutionären empfundener ›Verrat an der Revolution‹, durchaus einem nachvollziehbaren Kalkül.⁷ In dieser angespannten innen- und außenpolitischen Lage, die die russische Bevölkerung zur leidenden Ungeduld verdammte und für die nun allein die Bolschewiki verantwortlich gemacht werden konnten, vermochten die Linken Sozialrevolutionäre in den Sowjets ihren Einfluss zu steigern. Bis zum Sommer 1918 wurden sie mit ihrem von rund 60.000 auf etwa 100.000 angewachsenen Mitgliederstamm sogar zur zweitstärksten Partei.⁸ Bereits Ende Juni 1918 sprach sich auf dem Plenum der Linken Sozialrevolutionäre das ZK-Mitglied Marija Spiridonova für die Organisa-
Ausführlich zu diesen Problemen Lutz Häfner: Die Partei der linken Sozialrevolutionäre in der Russischen Revolution von 1917/18, Köln 1994, S. 102– 139, S. 351– 394, S. 505 – 535; Elisabeth White: The Socialist Alternative to Bolshevik Russia. The Socialist Revolutionary Party, 1921 – 1939, London/New York 2011, S. 14– 18 und Alexander Rabinowitch: The Bolsheviks in Power. The First Year of Soviet Rule in Petrograd, Bloomington 2007. Vgl. auch Socialisty-kontrrevoljucionery, in: N. D. Kostin (Hg.), Vystrel v serdce revoljucii, Moskau 1983, S. 220 – 231, hier: S. 223. Lenin war die virulente Lage angesichts des Friedens von Brest-Litovsk sehr wohl bewusst.Vgl. etwa seine Stellungnahme gegenüber dem deutschen Gesandten vom 16. Mai 1918: Dokumenty germanskogo posla v Moskve Mirbacha, in: Voprosy istorii 9 (1971), S. 120 – 129. Vgl. zur Stimmung gegenüber dem Vertrag von Brest-Litovsk auch Gustav Hilger: Wir und der Kreml. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1918 – 1941, Frankfurt am Main/Berlin 1956, S. 12. Die Bolschewiki, die zur selben Zeit etwa über 300.000 Mitglieder verfügten, verloren zunehmend Mitglieder. Vgl. Häfner: Die Partei der linken Sozialrevolutionäre, S. 5, S. 628.
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tion „terroristischer Akte gegenüber den prominentesten Vertretern des deutschen Imperialismus“ als Antwort auf die von den Bolschewiki favorisierte Politik aus.⁹ Wieder einmal stand die Machtfrage zur Disposition und die Möglichkeit einer Verschwörung wurde virulent.¹⁰ Anfang Juli 1918 fand auf dem V. Allrussischen Sowjetkongress im Moskauer Bolschoi-Theater zunächst ein verbaler Schlagabtausch statt. Trotzki unterbreitete den Delegierten einen Befehl, demzufolge all diejenigen auf der „Stelle zu erschießen“ seien, die sich der Sowjetmacht entgegenzustellen beabsichtigten.¹¹ Angesichts dieses Befehls, der kurze Zeit später als Resolution vorlag, und dessen Sanktionierung eine reine Formalität schien, zerrissen die letzten Bande zwischen Bolschewiki und Linken Sozialrevolutionären.¹² Ihren Angriffswillen hatten allerdings auch die Linken Sozialrevolutionäre unter Beweis gestellt, etwa als der redegewandte Boris Kamkov sich dazu verstieg, den prominenten Gast des Kongresses und offiziellen Vertreter der deutschen Politik, den Gesandten Wilhelm Graf von Mirbach-Harff, nicht nur indirekt zum Komplizen der Bolschewiki zu erklären, sondern ihn auch öffentlichkeitswirksam als Henker (palač) und Mistkerl (merzavec) zu brandmarken. Als der Rede schließlich Rufe wie „Nieder mit Mirbach“ folgten, schien der Skandal vorprogrammiert.¹³ Nunmehr sahen die Bolschewiki in ihren Widersachern nichts anderes denn Volksfeinde (vragi naroda) und verließen sich ganz auf ihren organisatorischen Machtvorteil. Die Linken Sozialrevolutionäre demgegenüber machten sich bereit für den Rückgriff auf das altbewährte Mittel terroristischer Verschwörung.¹⁴
Marija Spiridonova: Protokol zasedanija CK [PLSR]. 24. ijunja 1918 g., in: A. S. Velidov (Hg.), Krasnaja kniga VČK. Tom 1, Moskau 1989, S. 185 – 186, hier: S. 185. Vgl. zu Spiridonovas früherer Karriere als Terroristin Sally A. Boniece: The Spiridonova Case, 1906. Terror, Myth, and Martyrdom, in: Anthony Anemone (Hg.), Just Assassins, Evanston 2010, S. 127– 162. Vgl. exemplarisch Figes: Tragödie eines Volkes, S. 668. Vgl. allgemein zur Situation dieser Monate Rabinowitch: The Bolsheviks in Power, S. 213 – 401. Vgl. VCIK (Hg.): RSFSR. Sʺezd Sovetov: Pjatyj Vserossijskij s’’ezd Sovetov rabočich, soldatskich, krestʼjanskich i kazačʼich deputatov. Stenografičeskij otčet. Moskva 4 – 10 ijulja 1918 g., Moskau 1918, S. 5 – 235, hier: S. 23. Vgl. VCIK (Hg.): RSFSR. Sʺezd Sovetov: Moskva 4 – 10 ijulja 1918 g., S. 5 – 235, hier: S. 36 f. und Häfner: Die Partei der linken Sozialrevolutionäre, S. 530 f. Vgl. VCIK (Hg.): RSFSR. Sʺezd Sovetov: Moskva 4 – 10 ijulja 1918 g., S. 5 – 235, hier: S. 24. Zu Mirbachs Ankunft und ersten Dienstangelegenheiten in Moskau vgl. Bruce H. Lockhart: Memoirs of a British Agent. Being an Account of the Authorʼs Early Life in Many Lands and of His Official Mission to Moscow in 1918, London/New York 1932, S. 267– 269. Den später – vor allem unter Stalin – so gebräuchlichen Begriff ›Volksfeind‹ brachte Lenin gegenüber den Linken Sozialrevolutionären ins Spiel, als er ihnen angesichts ihres Rückzuges Defätismus vorwarf. Vgl. VCIK (Hg.): RSFSR. Sʺezd Sovetov: Moskva 4 – 10 ijulja 1918 g., S. 5 – 235, hier: S. 69. Allgemein zu dem Begriff, der seit der Oktoberrevolution zunehmend Anwendung
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Die für das Attentat auserkorene Person war gleichsam auf dem V. Allrussischen Sowjetkongress nominiert worden und sollte niemand geringeres als der deutsche Gesandte Graf Mirbach sein.¹⁵ Mirbach hatte nach den revolutionären Umwälzungen von 1917 als einer der ersten Repräsentanten einer ausländischen Macht die neue Hauptstadt Moskau betreten und galt den Linken Sozialrevolutionären als Personifikation des Imperialismus schlechthin.¹⁶ Mit einem Attentat sollte nun der Friede mit den sogenannten Imperialisten aufgekündigt und zugleich ein Volksaufstand, ja die Weltrevolution ausgelöst werden. Daher setzten die Verschwörer alles daran, sich Zutritt zum juristisch deutschen Territorium der Botschaft in Moskau zu verschaffen. Spätestens seit Juni 1918 arbeitete der Linke Sozialrevolutionär Jakov Bljumkin an einem geeigneten Vorwand.¹⁷ Vorteilhaft war dabei, dass Bljumkin nicht nur Mitarbeiter der sowjetischen Geheimdienstbehörde war, sondern innerhalb derselben auch für die wichtigste Unterabteilung, nämlich diejenige zur Bekämpfung der Konterrevolution und dort wiederum für die Abteilung Gegenaufklärung arbeitete. Er verfügte folglich „über umfangreiche Informationen“ und sollte bald „seinen Mitarbeiter Jakov Fišman als Elektriker in die Botschaft“ einschleusen können.¹⁸ In erster Linie ermittelte die Abteilung Gegenaufklärung die deutsche Haltung gegenüber der sowjetischen Regierung.¹⁹ Dabei ließ die Ambivalenz der
fand, Nicolas Werth: Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion, in: Stéphane Courtois et al. (Hg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus, München/Zürich 1999, S. 45 – 295, hier: S. 68 f., S. 74 f. Mirbach war von Dezember 1917 bis zu seiner Ermordung im Juli 1918 als ›Deutscher Gesandter‹ bzw. ›Außerordentlicher Gesandter‹ des Deutschen Reiches in Petrograd bzw. Moskau tätig. Trotz diplomatierelevanter Nuancen wird Mirbach in den Dokumenten zumeist als ›Botschafter‹ bezeichnet. Wenn es sich aufgrund von Zitaten nicht vermeiden lässt, kommt es daher zur synonymen Verwendung dieser Bezeichnungen. Vgl. dazu den Beitrag im Zentralorgan der Linken Sozialrevolutionäre ›Znamja Truda‹ Zametka o demonstracii levych ėserov. 5 ijulja 1918 und den Aufruf der Linken Sozialrevolutionäre an alle Arbeiter und Rotarmisten CK partii levych socialistov-revoljucionerov: Vozzvanie CK PLSR. [6 ijulja 1918 g.], in: Ja. V. Leontʼev/V. V. Ljuchudzaev (Hg.), Partija levych socialistov-revoljucionerov, Moskau 2010, S. 418 – 419. Vgl. zur Datierung Pokazanija M. Lacisa. 16 ijulja 1918 goda, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 261– 265, hier: S. 264. Vgl. auch die anschauliche Charakterstudie Bljumkins bei Mandelstam: Jahrhundert der Wölfe, S. 122 – 128. Boris Chavkin: Die Ermordung des Grafen Mirbach, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 10 (2006), S. 91– 114, Zitat: S. 97 f. Vgl. Library of Congress, Volkogonov Papers, Box 3, Folder 4 und zur ambivalenten Politik Deutschlands und zum brüchigen Frieden von Brest-Litovsk Winfried Baumgart: Die Mission des Grafen Mirbach in Moskau April – Juni 1918. Dokumentation, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 16 (1968), S. 66 – 96.
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deutschen Politik den Schluss zu, dass die Bolschewiki seit dem späten Frühjahr 1918 als Verlierer der Geschichte galten und bereits alternative Machtkonstellationen erwogen wurden. Dies wiederum nahmen die Entscheidungsträger in Moskau – wohl in gezielt konspirativer Absicht – zum Anlass, die deutsche Botschaft immer wieder vor möglichen Attentaten zu warnen.²⁰ So liegt die besondere Sprengkraft der Ereignisse um die Ermordung des Grafen Mirbach gerade in der sich zuspitzenden politischen Großwetterlage einerseits und andererseits dem Engagement Linker Sozialrevolutionäre, die innerhalb des sowjetischen Geheimdienstapparates auf die Aufklärung der deutschen Außenpolitik angesetzt worden waren.²¹ Geleitet wurde das Komplott von Spiridonova, die wiederum mit dem Koordinator des Attentats, Bljumkin, das gesamte Vorgehen engmaschig abstimmte.²² Über seinen Informanten in der deutschen Botschaft erhielt Bljumkin Kenntnis von der Raumaufteilung und den Sicherheitsvorkehrungen. Nun musste nur noch ein Treffen mit dem Gesandten selbst in die Wege geleitet werden. Dafür hatte Bljumkin einen gewissen Robert Mirbach im Köcher, seines Zeichens russischer Untertan, der nun von der ČK als österreichischer Kriegsgefangener deklariert und der Spionage bezichtigt wurde. Auch wenn eigentlich nicht mehr als eine zufällige Namensverwandtschaft mit dem deutschen Gesandten zu bestehen schien, entwickelte sie sich zum entscheidenden Baustein der Verschwörung. Am 17. Juni erhielt der sowjetische Geheimdienst ein Schreiben, in dem das dänische Konsulat, welches Österreich-Ungarn in Russland vertrat, bescheinigte, dass Robert Mirbach „tatsächlich einer Familie, die mit dem deutschen Botschafter Graf Mirbach verwandt ist, als Mitglied zuzuordnen ist.“²³ Dieses Schreiben und ein vorgeblich von der Hand Robert Mirbachs verfasstes Dokument, in welchem er zusicherte, „geheime Informationen über Deutschland und die deutsche Botschaft in Russland“ zu liefern, ermöglichten schließlich die Visite Bljumkins bei Graf Mirbach.²⁴
Vgl. George Leggett: The Cheka. Leninʼs Political Police, Oxford 1986, S. 73 und Baumgart: Die Mission des Grafen Mirbach. Eine Schilderung dieser Episode findet sich in den Erinnerungen des Botschaftsrats Gustav Hilger. Allerdings hatte sich Hilger selbst während des Attentats auf Mirbach nicht in der Botschaft aufgehalten. Hilger: Wir und der Kreml, S. 11– 19. Vgl. zu Hilger ferner Jörn Happel: Der OstExperte. Gustav Hilger – Diplomat im Zeitalter der Extreme, Paderborn 2018. Vgl. Pokazanija Spiridonovoj Marii Aleksandrovny, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 268 – 269. Vgl. Korolevskoe Datskoe Generalʼnoe Konsulʼstvo: Moskva, 17. ijunja 1918, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 197. Vgl. zu dem zweifelhaften, vermutlich von Bljumkin selbst gefälschten Dokument Graf Robert Mirbach: Objazatelʼstvo, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 200.
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Ausgestattet mit einer vermeintlich von Feliks Dzeržinskij selbst unterschriebenen Bescheinigung auf ČK-Papier, betraten die Verschwörer Bljumkin und Nikolaj Andreev am frühen Nachmittag des 6. Juli 1918 das Botschaftsgebäude in einer Seitenstraße des Arbat.²⁵ In offiziösem Ton trugen sie dem Pförtner ihr Anliegen vor und händigten ihm das mitgeführte Geheimdienstschreiben in Sachen Robert Mirbach nebst ihren Ausweispapieren aus. Als sie daraufhin vom Gesandtschaftsrat Kurt Riezler und dem Adjutanten des Gesandten, Leutnant Leonhard Müller, empfangen wurden und gemeinsam im Arbeitszimmer des Grafen Mirbach auf dessen Erscheinen warteten, ahnten sie wohl, dass ihr Plan aufgehen würde: „Er trat durch die breite Tür, an der Andrejew saß, ein und setzte sich nach kurzer gegenseitiger Begrüßung auf den Stuhl links von Blumkin. Blumkin begann das Gespräch mit der Mitteilung, daß sich in einem russischen Gefangenenlager ein Graf Mirbach befände, der vielleicht ein Verwandter des Gesandten sei. Träfe dies zu, so würde sich, wie er behauptete, die Sowjetregierung ein Vergnügen daraus machen, den Mann freizulassen, falls der Gesandte dies wünschen sollte. Der Gesandte erwiderte, der Kriegsgefangene sei ein sehr entfernter Vetter aus der protestantischen Linie der Familie […], daß er jedoch für alles dankbar sei, was dem Gefangenen sein Los erleichtern könnte. Hierauf erklärte Blumkin, er sei beauftragt, dem Gesandten mitzuteilen, daß die Tscheka einen terroristischen Plan zur Ermordung des Gesandten entdeckt habe. Er bringe, behauptete er, Papiere mit Einzelheiten, aus denen der Gesandte ersehen werde, daß er sehr vorsichtig sein müsse. Mit diesen Worten griff Blumkin mit der rechten Hand in seine Aktentasche, zog einen Revolver hervor, und feuerte, aufstehend, blitzschnell drei Schüsse ab, erst gegen den Gesandten, dann gegen dessen beide Mitarbeiter. Alle drei Schüsse gingen fehl, keiner der Anwesenden wurde verletzt. Graf Mirbach war beim ersten Schuß aufgesprungen. Er stürzte hinter Blumkins Rücken aus dem Salon, offenbar um in sein Schlafzimmer zu gelangen. Er hatte fast das Ende des Tanzsaales erreicht, als Andrejew, der bisher regungslos an der Tür gesessen hatte, ihm aus einer Kleinkaliberpistole eine Kugel nachsandte. Die Kugel traf den Gesandten in den Hinterkopf und kam an der Nase wieder heraus. Er brach auf der Stelle zusammen und war in wenigen Sekunden tot.“²⁶
Vgl. zu dem Schreiben F. Dzeržinskij: Cekretarʼ: Ksenofontov: Udostoverenie, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 195.Vgl. zur vermutlich gefälschten Unterschrift Dzeržinskijs Pokazanija F. Dzeržinskogo po delu ubijstva germanskogo poslannika Grafa Mirbacha. 10 ijulja 1918 g., in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 252– 261, hier: S. 257. Hilger: Wir und der Kreml, S. 14 f. Vgl. ferner die in einigen Details abweichenden Dokumente bei Kurt Riezler: Riezler an das Auswärtige Amt. Moskau, 6. Juli 1918 und Hans von Saucken: Aufzeichnungen Hans von Sauckens über einen mündlichen Bericht Riezlers, die Ermordung Graf Mirbachs betreffend. New York, 29. September/31. Oktober 1952, in: Karl Dietrich Erdmann (Hg.), Tagebücher – Aufsätze – Dokumente, Göttingen 1972, S. 713, S. 713 – 717.
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Die Attentäter entkamen im Rauch zweier von ihnen geworfener Bomben. Vor dem Botschaftsgebäude bestiegen sie ein Auto, das sie direkt zur Pokrovskij-Kaserne brachte, einer ČK-Behörde unter dem Kommando des Linken Sozialrevolutionärs Dmitrij Popov, in der inzwischen auch die wichtigsten Mitglieder des Zentralkomitees zusammengekommen waren.²⁷ Nachdem Dzeržinskij über das Ereignis unterrichtet worden war, verschaffte er sich zunächst am Ort des Geschehens einen Überblick, um anschließend das Rückzugsgebiet der Verschwörer aufzusuchen. Allerdings wurde er dort weder über den genauen Tathergang aufgeklärt, noch bekam er, wie erhofft, die Attentäter ausgehändigt. Vielmehr gewahrte der Geheimdienstchef, dass er zum Gefangenen der Verschwörer geworden war. Bald darauf wurde auch das Hauptquartier des sowjetischen Geheimdienstes, die Lubjanka, von Linken Sozialrevolutionären besetzt und Martin Lacis, Leiter der Abteilung zur Bekämpfung der Konterrevolution und nunmehr Ersatz des verhafteten Dzeržinskij, gefangen genommen und in die PokrovskijKaserne verbracht.²⁸ Inzwischen war klar, dass die laufende Abrechnung mit den Bolschewiki vor allem aus den Reihen des Geheimdienstes kam, gleichsam als Palastrevolte vor sich ging. Angesichts dessen haben Historiker immer wieder von einer für die Bolschewiki ungewöhnlichen »Fahrlässigkeit« (George Leggett) in der Frühphase ihrer Herrschaft gesprochen und vor allem hervorgehoben, dass bemerkenswerterweise sieben von zwanzig Sitzen im ČK-Kollegium mit Linken Sozialrevolutionären besetzt worden waren. So verwundert es denn auch nicht, dass in der Krise vom Sommer 1918 der Linke Sozialrevolutionär und Stellvertreter Dzeržinskijs, Vjačeslav Aleksandrovič²⁹, das Kommando des Aufstands übernehmen konnte.³⁰ Seit der Übernahme der wichtigsten Geheimdienststellen und des Post- und Telegrafenwesens durch die Linken Sozialrevolutionäre herrschte in der Haupt-
Vgl. Pokazanija F. Dzeržinskogo po delu ubijstva germanskogo poslannika Grafa Mirbacha und Jurij Vladimirovič Sablin: Pokazanija, in:Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 257– 260, S. 270 – 273 und Häfner: Die Partei der linken Sozialrevolutionäre, S. 535 f. Vgl. Pokazanija M. Lacisa. 16 ijulja 1918 goda, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 261– 265. Die Linken Sozialrevolutionäre verhafteten auch den Vorsitzenden des Moskauer Sowjets, Pëtr Smidovič, und versuchten ferner, den Volkskommissar für das Post- und Telegrafenwesen, Vadim Podbelʼskij, zu verhaften. Sein richtiger Name war Pëtr Dmitrievskij. Vgl. Pokazanija F. Dzeržinskogo po delu ubijstva germanskogo poslannika Grafa Mirbacha und Postanovlenie. Zaključenie sledstvennoj komissii pri VCIK, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 256, S. 250 – 251; Hilger: Wir und der Kreml, S. 15 – 19; Häfner: Die Partei der linken Sozialrevolutionäre, S. 535 – 558; Alexander Rabinowitch/Maria Spiridonova: Maria Spiridonovaʼs ›Last Testament‹, in: Russian Review 54 (1995), S. 424– 446 und Leggett: The Cheka, S. 74 f.
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stadt der Belagerungszustand. Alle Sowjets wurden darüber unterrichtet, dass die Macht des Staats nunmehr bei den Linken Sozialrevolutionären liege und Mitteilungen von Lenin, Trotzki und Sverdlov, den Menschewiki oder rechten Sozialrevolutionären, überhaupt von allen „Hassern der Rätemacht“ zurückzuhalten seien.³¹ Kurze Zeit später versandten die Verschwörer ein Telegramm, in dem sie die Verhaftung von Lenin und Trotzki und dem nominellen Staatsoberhaupt Jakov Sverdlov anwiesen.³² Für den Kampf standen den Linken Sozialrevolutionären vier bis sechs Geschütze, vier Panzer, 80 Personen der Kavallerie und 1800 Personen der Infanterie mit 48 Maschinengewehren, eine große Menge Handgranaten und andere Sprengmittel zur Verfügung. Zur Verteidigung der Bolschewiki standen vor allem die lettischen Schützen unter dem Kommando von Ioakim Vacetis mit 720 Personen Infanterie, zwölf Geschützen, vier Panzern, 72 Personen Kavallerie und eine Maschinengewehreinheit aus 40 Personen bereit.³³ Neben dem militärischen Ungleichgewicht war zudem nicht ausgemacht, ob sich die des Kämpfens überdrüssigen Soldaten den Bolschewiki gegenüber loyal verhalten würden. Ein Großteil der lettischen Schützen, die sowjetische Prätorianergarde, hatte außerdem just am Tag des Attentats den Johannistag auf dem Chodynkafeld nordwestlich von Moskau begangen und wurde zunächst durch schlechte Wetterbedingungen an der Rückkehr gehindert.³⁴ Noch in der Nacht auf den 7. Juli 1918 informierte Lenin den in Zarizyn, dem heutigen Volgograd, befindlichen Stalin über die Vorgänge in Moskau: „Heute gegen drei Uhr hat ein Linker Sozialrevolutionär Mirbach mit einer Bombe getötet. Dieser Mord ist offensichtlich im Interesse der Monarchisten bzw. der englisch-französischen Kapitalisten. Die Linken Sozialrevolutionäre wollten die Mörder nicht übergeben, haben Dzeržinskij und Lacis verhaftet und einen Aufstand gegen uns begonnen. Wir werden sie
Vasilij Lichobadin: K svedeniju tt. telegrafistov u telegrafistok, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 226. Vgl. ferner Vsem gubernskim, uezdnym, volostnym i gorodskim sovetam und Bjulletenʼ No 1 central’nogo komiteta partii levych socialistov-revoljucionerov, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 227, S. 209 – 210 und Leggett: The Cheka, S. 75. Vgl. Postanovlenie. Zaključenie sledstvennoj komissii pri VCIK, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 250 – 251, hier: S. 250. Die Zahlen entsprechen den offiziellen Angaben der Bolschewiki. Mangels vergleichbar ausführlicher Angaben folgt ihnen die Forschung in der Regel.Vgl. dazu N. Podvojskij/N. Muralov: V Sovet Narodnych Komissarov. Doklad tt. Podvojskogo i Myralova, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 243 – 248, hier: S. 244 f. Vgl. jedoch auch Häfner: Die Partei der linken Sozialrevolutionäre, S. 536 f., Fn. 172 und HIA, Isaac N. Steinberg, The Events of July 1918, S. 21. Bei Letzterem wird Vacetis zitiert, der von 1440 Personen der Infanterie und acht Panzern spricht, die ihm zur Verfügung gestanden hätten. Vgl. Figes: Tragödie eines Volkes, S. 670 f. und Häfner: Die Partei der linken Sozialrevolutionäre, S. 538 f., S. 554. Von einer Prätorianergarde spricht auch Rabinowitch: Bolsheviks in Power, S. 321.
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heute Nacht erbarmungslos liquidieren und sagen dem Volk die Wahrheit: Wir sind ein Haarbreit vom Krieg entfernt.“³⁵
Als Vacetis in derselben Nacht in den Kreml kam, um mit dem Revolutionsführer die Evakuation der Regierung zu besprechen, „herrschte eine Stimmung wie an der Front eines Kriegsschauplatzes“ und so fragte Lenin in fatalistischer Stimmung: „Genosse, können wir uns bis morgen halten?“³⁶ Wenige Stunden zuvor hatte Lenin am Schauplatz des Attentats die Demütigung ertragen, der deutschen Seite offiziell kondolieren zu müssen. Danach hatte er sich den Ort der Tat zeigen lassen und gab sofort, so bekannte der Gesandtschaftsrat und Augenzeuge Riezler später, „das ›Interesse des Technikers‹ für die Anordnung der Möbel, die Höhe des Fensters vom Erdboden sowie die Verwüstung durch die Handgranate“ zu erkennen.³⁷ Am Abend des Attentats – während des tagenden V. Sowjetkongresses – hatte Lenin dann die gesamte Fraktion der Linken Sozialrevolutionäre von über 400 Personen als „Faustpfand für Dzeržinskij“ verhaften lassen.³⁸ Am nächsten Morgen umstellten die lettischen Truppen das Hauptquartier der Linken Sozialrevolutionäre und eröffneten bald das Feuer. Nach einem etwa 40 Minuten andauernden Beschuss war der Kampf beendet. Neben dem gesamten Zentralkomitee der Aufständischen wurden mehr als 400, im Laufe der nächsten Zeit sogar bis zu 1000 Personen festgesetzt. Der Aufstand war somit nach gut 24 Stunden gescheitert. Der als Hauptverantwortliche ausgemachte Aleksandrovič und zwölf weitere Aufständische wurden noch am selben Tag zum Tode verurteilt und in der Nacht auf den 8. Juli erschossen.³⁹
Vladimir I. Lenin: Polnoe sobranie sočinenij. Tom 50, Moskau 1970, S. 114. Der Ausspruch Lenins gegenüber Vacetis wird zitiert nach HIA, Isaac N. Steinberg, The Events of July 1918, S. 21. Vgl. ferner Michail Ossorgin: Eine Straße in Moskau, Berlin 2015, S. 140. Hans von Saucken: Aufzeichnungen Hans von Sauckens über einen mündlichen Bericht Riezlers, die Ermordung Graf Mirbachs betreffend, New York, 29. September/31. Oktober 1952, in: Erdmann (Hg.), Tagebücher, S. 713 – 717, hier: S. 715. Lenin hatte in seinem an Stalin gerichteten Brief vom 7. Juli 1918 davon gesprochen, dass man hunderte Geiseln (založniki) der Linken Sozialrevolutionäre habe. Lenin: Polnoe sobranie sočinenij. Tom 50, S. 114. Vgl. zu dem Zitat auch Häfner: Die Partei der linken Sozialrevolutionäre, S. 553. Vgl. N. Podvojskij/N. Muralov: V Sovet Narodnych Komissarov. Doklad tt. Podvojskogo i Myralova, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 243 – 248, hier: S. 247 f.; Ot sobstvennogo korrespondenta: Mjatež v Petrograde, in: Izvestija VCIK (09.07.1918) und Leggett: The Cheka, S. 382, Fn. 38. Spiridonova spricht von zweihundert Personen, die im Anschluss an das Attentat auf Mirbach hingerichtet worden seien.Vgl. dazu Rabinowitch/Spiridonova: Maria Spiridonovaʼs ›Last Testament‹, S. 428, Fn. 17.
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Wenige Tage nach der Niederschlagung des Aufstandes bekannte der zeitweilig entmachtete Geheimdienstchef Dzeržinskij in einer Zeugenaussage, dass er Aleksandrovič während der gemeinsamen Arbeit im Geheimdienst stets volles Vertrauen geschenkt und nichts von „seiner Heuchelei (dvuličie) bemerkt“ habe. Dieses Vertrauen jedoch sei schändlich missbraucht worden und als „Ursache allen Übels“ anzusehen.⁴⁰ Bedenkt man die schwierige Ausgangslage der Bolschewiki, so sandte der Umgang mit den Abtrünnigen nun ein umso stärkeres Signal kompromissloser Überlegenheit aus. Entsprechend kommentierte auch der Botschaftsrat Gustav Hilger, dass der Aufstand der Linken Sozialrevolutionäre zwar „der bestorganisierte und bestvorbereitete Versuch [war], das kommunistische Regime von innen her zu stürzen“, dass jedoch gegenüber „der Entschlossenheit der Partei, die jüngst die Macht ergriffen hatte, […] aller Fanatismus der sozialrevolutionären Terroristen machtlos“ gewesen sei.⁴¹ Im November 1918 fanden sich die Führer der Linken Sozialrevolutionäre vor Gericht wieder, erhielten allerdings bemerkenswert milde Strafen.⁴² Erstaunlich war zudem, dass die Bolschewiki selbst gegenüber den Attentätern Bljumkin (in absentia) und Andreev diese Milde walten ließen und sie sich durch Flucht der Strafe entziehen konnten. Andreev verstarb nur ein Jahr nach dem Attentat in der Ukraine an Typhus. Bljumkin sollte bald – wie die meisten Linken Sozialrevolutionäre – die Seiten wechseln, organisierte einen Staatsstreich im Iran und avancierte in den 1920er Jahren zu einer sowjetischen Berühmtheit.⁴³ Im Jahr 1929 traf er allerdings den inzwischen in Ungnade gefallenen Trotzki in dessen Istanbuler Exil und schmuggelte einen an Oppositionelle adressierten Brief in die Sowjetunion. Ende 1929 schließlich wurde Bljumkin einer Verschwörung gegen Stalin für schuldig befunden und erschossen.⁴⁴ Die Gerüchte, die sich um das Attentat und den Aufstand der Linken Sozialrevolutionäre ranken, sind typisch für das Phänomen der Verschwörung. So stand denn auch in diesem Fall bald die Vermutung eines inside job im Raum. George Katkov etwa vertritt die These, Lenin selbst habe für das Attentat auf
Pokazanija F. Dzeržinskogo po delu ubijstva germanskogo poslannika Grafa Mirbacha. 10 ijulja 1918 g., in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 252– 261, hier: S. 260. Hilger: Wir und der Kreml, S. 17. Popov wurde in absentia als einziger zum Tode verurteilt. Das Urteil konnte allerdings erst im Jahre 1921 vollstreckt werden. Vgl. auch D. L. Golinkov: Krušenie antisovetskogo podpolʼja v SSSR. Kn. 1, Moskau 1978, S. 238 – 243. Vgl. Mandelstam: Jahrhundert der Wölfe, S. 122 – 128. Vgl. ferner Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, S. 278. Vgl. A. S.Velidov: Predislovie ko vtoromu izdaniju und Jakov Bljumkin: Pokazanija, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 3 – 42, hier: S. 27 f., S. 295 – 305 und Leggett: The Cheka, S. 77– 83.
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Mirbach gesorgt und auf diese Weise das Abrücken der deutschen Seite von den Bolschewiki hintertreiben wollen und zugleich über einen geeigneten Vorwand verfügt, die Linken Sozialrevolutionäre zu vernichten.⁴⁵ Der Historiker Boris Chavkin sieht in dem Umstand, dass Dzeržinskij in seiner Zeugenaussage zu Protokoll gab, er habe Bljumkin nicht näher gekannt und sei ihm selten begegnet, ein Indiz für eine mögliche Verwicklung des Geheimdienstchefs selbst; schließlich habe Bljumkin eine zentrale Funktion innerhalb der Behörde erfüllt. Ferner scheint ihm der Umstand, dass Dzeržinskij am Tag nach dem Attentat von seinem Posten zurücktrat, auf eine Verwicklung in die Verschwörung hinzudeuten.⁴⁶ Dass Dzeržinskij allerdings bald wieder seinen Posten einnahm und den Geheimdienst zu einer verlässlichen Instanz aufzubauen hatte – die Verschwörung war ja in der Tat aus den Reihen des Geheimdienstes mit vorbereitet worden –, stellt wenigstens für Chavkin keine Spannung dar. Lutz Häfner schließlich stellt die Frage, ob es sich überhaupt um einen Aufstand gehandelt habe und sieht vor allem in dem teils unentschlossenen und widersprüchlichen Agieren der Linken Sozialrevolutionäre ein Indiz dafür, dass diese nie ernsthaft einen „antibolschewistischen Umsturzversuch“ geprobt hätten.⁴⁷ Ungeachtet dessen mag doch gerade dieses in der Tat teils widersprüchliche, teils undurchsichtige Vorgehen einfach Ausdruck dafür gewesen sein, dass die Linken Sozialrevolutionäre eben keine abgerichtete, sondern vielmehr eine heterogene, ja zerstrittene Partei waren. In dieser Hinsicht wiederum waren sie ihren bolschewistischen Kontrahenten sehr ähnlich.⁴⁸ Die Umstände, die Häfner als Argumente gegen einen gezielten Umsturzversuch ins Feld führt, lassen sich nun dahingehend spezifizieren, dass die Linken Sozialrevolutionäre nicht in erster Linie die Macht erstreiten, sehr wohl aber die innenpolitische Lage destabilisieren und die Bolschewiki in Zugzwang bringen
Vgl. dazu klassisch George Katkov: The Assassiantion of Count Mirbach, in: Soviet Affairs 3 (1962), S. 53 – 93 und Jurij G. Felʼštinskij: Bolʼševiki i levye ėsery. Oktjabrʼ 1917 – ijulʼ 1918, Paris 1985. Vgl. Pokazanija F. Dzeržinskogo po delu ubijstva germanskogo poslannika Grafa Mirbacha. 10 ijulja 1918 g., in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 252– 261, hier: S. 256 f., Fn. 2 und Chavkin: Die Ermordung des Grafen Mirbach. Häfner setzt das Wort Putsch deshalb in einem Aufsatz und in seiner Studie über die Linken Sozialrevolutionäre in Anführungszeichen. Er lässt allerdings den Dokumenten und Aussagen der Linken Sozialrevolutionäre einen Glauben angedeihen, den er den Bolschewiki nicht entgegenbringt. Vgl. Häfner: Die Partei der linken Sozialrevolutionäre, S. 535 – 571, Zitat: S. 549 und Lutz Häfner: The Assassination of Count Mirbach and the ›July Uprising‹ of the Left Socialist Revolutionaries in Moscow 1918, in: Russian Review 50 (1991), S. 324– 344. Vgl. zur bolschewistischen Frühphase auch Pipes: The Russian Revolution, S. 606 – 670.
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wollten.⁴⁹ Die Macht stand folglich durchaus zur Disposition.⁵⁰ Allerdings resultierte die Unordnung aus dem Umstand, dass die Linken Sozialrevolutionäre zwar die Politik der Bolschewiki zu diskreditieren, jedoch nicht den entschiedenen Kampf mit ihnen suchten. Vermutlich ließ sie gar die Erfahrung zögern, weil sie wussten, wie schwer es sein würde, tatsächlich einen Volksaufstand auszulösen und zugleich das Dirigat zu führen. Angesichts dieser widersprüchlichen Lage erscheint das Vorgehen der Linken Sozialrevolutionäre gar nicht einmal so rätselhaft und veranlasste deshalb auch den Historiker Alexander Rabinowitch, ihnen suizidale Tendenzen zu attestieren – eine Neigung wiederum, die sie mit den Verschwörern der Vergangenheit verband.⁵¹ Letztlich erweisen all die Deutungen, die in den Bolschewiki die eigentlichen Akteure oder sogar geheime Verbündete der Linken Sozialrevolutionäre sehen, vor allem dem zu Beginn zitierten Diktum Machiavellis alle Ehre. Die unterstellte Finte, von der Machiavelli spricht, war somit Unvermögen auf beiden Seiten, wobei die Bolschewiki, wie Hilger treffend feststellte, den Fanatismus der Aufständischen mit ihrer Entschlossenheit ersticken konnten. Daher ist George Leggett darin zuzustimmen, dass der Aufstand der Linken Sozialrevolutionäre vor allem das brüchige Bauwerk des jungen Geheimdienstes gezeigt, sich gleichsam zeitweilig der Geheimdienst als Trojanisches Pferd erwiesen hätte. Nach dieser Erfahrung allerdings sei den Bolschewiki endgültig klar geworden, dass gerade diesem Apparat für das Überleben ihrer Ordnung eine essentielle Bedeutung zukommen musste.⁵² Deshalb waren sie fortan umso mehr bestrebt, auf allen staatspolitischen Ebenen allein den Willen der Revolution zu repräsentieren.⁵³ Verbunden damit war jedoch die Einsicht, dass ihren Gegnern allein der Weg in den Untergrund blieb und die Machthaber mit einer realen, zugleich aber völlig unberechenbaren Möglichkeit erneuter Verschwörung umzugehen zu lernen hatten. In diesem Umstand liegt der Kern für die Überschneidung von nacktem Machtkalkül und Paranoia, die Überlagerung historischer Abläufe und
Ähnlich argumentieren auch Figes: Tragödie eines Volkes, S. 671 und Rabinowitch: The Bolsheviks in Power, S. 294. So auch Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, S. 278. Das Kapitel zum Attentat auf Mirbach und den Folgen firmiert unter der Überschrift ›The Suicide of the Left Srs‹. Vgl. Rabinowitch: The Bolsheviks in Power, S. 283 – 309. Stephen Kotkin beschreibt diese Phase improvisierten Ordnungsstrebens als politischen Dadaismus. Vgl. Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, S. 227– 288. Vgl. ferner Leggett: The Cheka, S. 83. Nach dem Aufstand wurden die Linken Sozialrevolutionäre aus dem Geheimdienstapparat entfernt. Vgl. zur Bekämpfung der Linken Sozialrevolutionäre nach dem Attentat auf Mirbach Rabinowitch: The Bolsheviks in Power, S. 294– 309.
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psychologisierender Zuschreibungen.⁵⁴ So gaben sich bereits im Anschluss an das Attentat und die folgenden Ereignisse Verschwörungsdenken und Machtkalkül zu erkennen. Aus dem Gefängnis etwa schrieb die Linke Sozialrevolutionärin Aleksandra Izmajlovič am 17. Juli 1918 einen Brief an Spiridonova, die Koordinatorin des Mirbach-Attentats, in dem sie die rhetorische Frage erhob, wie man denn die Bolschewiki, die die „Verschwörung selbst erfunden haben“, überzeugen könne, dass „es keine Verschwörung gegeben hat?“ Und sie kommt zu dem Schluss, dass sich die Bolschewiki selbst eingeredet hätten, „dass es sich um eine Verschwörung handelt. Sie sind ja Besessene (manʼjaki).“⁵⁵ In dieser attestierten Geisteskrankheit jedoch hatte bereits Hilger nicht mehr als politische Entschlossenheit erkennen können und so mögen die Bolschewiki wiederum darin nichts anders gesehen haben als einen überlebensnotwendigen Machtinstinkt. Der von Izmajlovič eingebrachte Topos prallte daher mit einer interessanten Spiegelung an den Machthabern ab. So meinte etwa Trotzki, dass die Ereignisse eben nicht als Werk „einzelner Geisteskranker (otdelʼnye bezumcy)“, sondern allein als „handfeste Verschwörung (prjamoj zagovor)“ zu betrachten seien.⁵⁶ Auch wenn die Erbarmungslosigkeit der Abrechnung, die Lenin seinem treuen Mitstreiter Stalin noch brieflich prophezeit hatte, zunächst ausblieb, bewiesen die folgenden Monate indes einen berechnenden Blick auf die Affäre vom Juli 1918.⁵⁷ Wussten die Bolschewiki doch, dass ihre erst kürzlich erstrittene Macht fluide war und die Linken Sozialrevolutionäre ihre Chance beinahe ebenso hatten ergreifen können, wie sie die ihre rund ein Jahr zuvor.⁵⁸
Zum rationalen Kern der Paranoia klassisch Canetti: Masse und Macht, etwa S. 274 passim. Vgl. ferner Kets de Vries: Leadership by Terror; Ronald Wintrobe: The Political Economy of Dictatorship, Cambridge 1998 und zur ›Terroratio‹ Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt, S. 405 – 419. Der Brief vom 17. Juli 1918 wird zitiert nach Kremlʼ za rešetkoj. Podpolʼnaja Rossija, Berlin 1922, S. 13.Vgl. auch Häfner: Die Partei der linken Sozialrevolutionäre, S. 553. Häfner schreibt diesen Brief fälschlicherweise Spiridonova zu. So Trotzki am 9. Juli auf dem V. Sowjetkongress. VCIK (Hg.): RSFSR. S’’ezd Sovetov: Moskva 4 – 10 ijulja 1918 g., S. 5 – 235, hier: S. 108. Vgl. ferner Häfner: Die Partei der linken Sozialrevolutionäre, S. 540. Vgl. hierzu das Tagebuch des Journalisten und Schriftstellers Alfons Paquet, abgedruckt in: Winfried Baumgart (Hg.): Von Brest-Litovsk zur deutschen Novemberrevolution. Aus den Tagebüchern, Briefen und Aufzeichnungen von Alfons Paquet, Wilhelm Groener und Albert Hopman, Göttingen 1971, S. 51– 255. Vgl. Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, S. 278.
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2. Abrechnung als Gefahr Der Rote Terror war die inszenierte Reaktion auf den individuellen Terrorismus, bot er doch einen geeigneten Anlass, der Gewalt gegenüber tatsächlichen und vermeintlichen Feinden freien Lauf lassen und die Schlagkraft des sowjetischen Geheimdienstes endgültig unter Beweis stellen zu können. Im Hintergrund des Gewaltrauschs, der als ›Roter Terror‹ in die Geschichte eingegangen ist, standen die Zuspitzung der militärisch-politischen Lage und die neuen Möglichkeiten der Abrechnung, die das Regime nach den Ereignissen vom Juli 1918 ergriffen hatte. Die Bedrohung des neuen Regimes war mit der Niederschlagung des Aufstandes der Linken Sozialrevolutionäre nämlich keinesfalls verschwunden. Vielmehr hatte bereits an eben jenem 6. Juli 1918, an dem der deutsche Gesandte einem Attentat zum Opfer gefallen war, der Sozialrevolutionär Savinkov im Verbund mit anderen Verschwörern Aufstände unter anderem in Jaroslavlʼ, Rybinsk und Murom angezettelt, die auf beiden Seiten mit äußerster Brutalität ausgefochten wurden und mehrere Tausend Tote forderten.⁵⁹ Die Feindschaft zwischen Savinkov und den Bolschewiki währte bereits viele Jahre. Vor der Oktoberrevolution hatte Savinkov sich dem Kriegs- und Marineminister und kommenden Vorsitzenden der Provisorischen Regierung, Aleksandr Kerenskij, andienen können. Im Sommer 1917 ernannte dieser ihn sogar kurzzeitig zum stellvertretenden Kriegsminister, machte den Schritt allerdings wieder rückgängig, nachdem er von Savinkovs unverhohlenen Sympathiebekundungen für den Putschisten General Lavr Kornilov erfahren hatte.⁶⁰ Nach der Oktoberrevolution steckte Savinkov dann all seine Energie in den Aufbau einer bald rund 600 Personen umfassenden Einheit, die Attentate auf Lenin und andere bolschewistische Führer durchzuführen beabsichtigte.⁶¹ Ganz im Geiste ihrer Vorbilder wollten sie durch ein großangelegtes Attentat auf den Spezialzug Nummer 4001 mit einem Schlag ihre Pläne erfüllen.⁶² So sollte der Zug im März 1918 – als der Staatsapparat von Petrograd nach Moskau umzog – die gesamte No-
Vgl. HIA, Nikolaevsky Collection, Box 633, Folder 37; Velidov: Predislovie ko vtoromu izdaniju, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 3 – 42, hier: S. 23 und Engelstein: Russia in Flames, S. 363 – 400. Vgl. Jörg Baberowski: Das Handwerk des Tötens. Vgl. HIA, Nikolaevsky Collection, Box 633, Folder 33; Golinkov: Krušenie antisovetskogo podpolʼja v SSSR. Kn. 1, S. 175 – 183 und Velidov: Predislovie ko vtoromu izdaniju, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 3 – 42, hier: S. 19. Vgl. dazu die Anklageschrift für den Prozess gegen die Sozialrevolutionäre und die Ausführungen bei Marc Jansen: A Show Trial under Lenin. The Trial of the Socialist Revolutionaries, Moscow 1922, The Hague 1982, S. 85.
2. Abrechnung als Gefahr
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menklatura des neuen Staats, die Regierung und das Zentralkomitee, mitführen und hätte somit den Verschwörern die in der Geschichte des Terrorismus einmalige Chance geboten, mit einer einzigen Aktion einer politischen Ordnung nicht nur den Kopf, sondern auch den Rumpf zu nehmen. Diese Gefahr jedoch war den Bolschewiki nur allzu bewusst und so hatte Lenin seinen persönlichen Sekretär, Vladimir Bonč-Bruevič, dazu verpflichtet, die gesamte Operation „vollständig im Geheimen“ abzustimmen und nicht einmal „im Sovnarkom den Umzug zum Thema“ werden zu lassen.⁶³ Auch wenn das sowjetische Regime also die richtigen Vorkehrungen getroffen hatte, wurde der Zug an einem Zwischenstopp dennoch nachts von vermeintlichen Anarchisten angegriffen.⁶⁴ Der Angriff scheiterte zwar, allerdings stachelte er den ehrwürdigen Populisten Nikolaj Čajkovskij und den umtriebigen Savinkov nur umso mehr an. So bauten sie kurz darauf die Untergrundorganisation ›Bündnis für den Schutz des Landes und der Freiheit‹ mit Ablegern in Kazanʼ, Murom, Jaroslavlʼ, Rybinsk und Moskau auf.⁶⁵ Bald schon konnte das Bündnis nicht nur auf rund 5000 Mitglieder, sondern auch auf finanzielle Zuwendung insbesondere aus Frankreich und England zählen, wobei es vermutlich auch Beziehungen zum deutschen Botschafter unterhielt.⁶⁶ Ziel war es, den Krieg zwischen Russland und Deutschland erneut zu entfachen und die neue Ordnung durch eine Militärdiktatur zu ersetzen. Auch wenn die Moskauer Zelle bereits Ende Mai 1918 entdeckt wurde und etwa 100 Personen verhaftet werden konnten, entkam Savinkov seinen Häschern und
V. D. Bonč-Bruevič: Mart 1918 g. Poezd 4001, in: Kostin (Hg.), Vystrel v serdce revoljucii, S. 34. Vgl. ferner I. S. Ratʼkovskij: Krasnyj terror i dejatelʼnostʼ VČK v 1918 godu, St. Petersburg 2006, S. 114. Vgl. auch die taktischen Überlegungen des Sozialrevolutionärs Grigorij Semënov zu den Attentatsplänen jener Monate bei G. Semënov: Otryvok iz brošjury G. Semënova ›Voennaja i boevaja rabota partii socialistov-revoljucionerov 1917 – 1918 gg.‹. 2 dekabrja 1921 g., in: P. Posvjanskij/N. Ovsjannikov/St. Krivcov (Hg.), Pokušenie na Lenina, Moskau 1925, S. 162– 167. Vgl. zur ambivalenten Rolle Semënovs Scott B. Smith: Who Shot Lenin? Fania Kaplan, the SR Underground, and the August 1918 Assassiantion Attempt on Lenin, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 46 (1998), S. 100 – 119. Vgl. Ė. Ė. Smilga: Iz biografičeskoj chroniki V. I. Lenin, 1918, mart, 11, in: Kostin (Hg.), Vystrel v serdce revoljucii, S. 36 – 37. Vgl.Velidov: Predislovie ko vtoromu izdaniju, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 3 – 42, hier: S. 19 – 24. Die Struktur dieser Organisation (Sojuz zaščity rodiny i svobody) glich durchaus dem Nečaev-Zirkel; die (Gruppen‐)Führer sollten jeweils nicht mehr als vier ihrer Untergebenen kennen und Verrat wurde mit dem Tod durch Erschießen geahndet.Vgl. ferner Ratʼkovskij: Krasnyj terror i dejatelʼnostʼ VČK v 1918 godu, S. 95 – 117. Vgl. A. Pinka [A. A. Pinkus]: Sojuz zaščity rodiny i svobody. Raskrytie organizacii. Vozniknovenie organizacii. Programma organizacii, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 51– 61, hier: S. 52; Martin (Sostavil) Lacis: Učastie sojuznikov i financy, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 89 – 90 und Rabinowitch: The Bolsheviks in Power, S. 318 – 329.
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widmete sich den Aufständen in der Wolgaregion. In Jaroslavlʼ etwa trieben Aufständische den Vorsitzenden des Stadtsowjets aus seinem Haus, erschossen ihn und durchlöcherten seinen Körper mit Bajonetten, um ihn anschließend auf der Straße als abschreckendes Beispiel liegen zu lassen.⁶⁷ Ganze zwei Wochen hielten die Kämpfe an, bevor Savinkov und seine Anhänger abermals die Flucht antreten mussten.⁶⁸ Savinkovs Kampf gegen die neue Ordnung war damit beendet und sollte erst mit dem Schauprozess gegen die Sozialrevolutionäre im Jahre 1922 als negativer Bezugspunkt ein Nachleben erfahren. In der Zwischenzeit machten sich jedoch andere die Option individuellen Terrors zu eigen. Am Beginn einer Serie terroristischer Akte stand das Attentat auf Moisej Golʼdštejn, Journalist und Petrograder Kommissar für Pressewesen. Golʼdštejn, besser bekannt unter seinem nom de guerre V. Volodarskij, hatte sich am 20. Juni 1918 gerade auf dem Weg zu einer Parteiversammlung befunden, als der Terrorist N. Sergeev ihn auf offener Straße erschoss, anschließend eine Handgranate warf und im Dunst der Ereignisse entkam. Die gesamte Organisation hatte in den Händen des Sozialrevolutionärs und Leiters einer Petrograder Kampfeinheit, Grigorij Semënov, gelegen, der das auserkorene Opfer bereits über viele Wochen beobachten lassen und den Attentäter mit einer Waffe ausgestattet hatte.⁶⁹ Nur wenige Minuten nach dem Anschlag traf Zinovʼev, der Vorsitzende des Petrograder Parteikomitees, am verabredeten, nunmehr zum Tatort gewordenen Versammlungsort ein und erfuhr als erster bolschewistischer Funktionär von dem Vorfall. Sechs Tage später rügte Lenin den offenbar zögerlichen Zinovʼev und ließ ihn wissen, dass es keine Zügelung der staatlichen Reaktion, also des Terrors geben dürfe: „Das ist un-mög-lich (ne-voz-mož-no)! Die Terroristen werden uns für Weicheier (trjapki) halten. […] Es ist notwendig, die Energie und Massensichtbarkeit des Terrors gegen die Konterrevolutionäre anzuspornen, und dies insbesondere in Piter.“⁷⁰ Allerdings hatte sich bereits zu diesem Zeitpunkt die Organisation um Semënov an die Fersen des Petrograder Geheimdienstchefs Moisej Vgl. Ubijstvo tovarišča Zakgejma, in: Velidov (Hg.), Krasnaja kniga. Tom 1, S. 163 – 166. Vgl. HIA, Nikolaevsky Collection, Box 633, Folder 33 und Golinkov: Krušenie antisovetskogo podpolʼja v SSSR. Kn. 1, Moskau 1978, S. 175 – 183. Vgl. D. L. Golinkov: Krušenie antisovetskogo podpolʼja v SSSR. Kn. 2, Moskau 1978, S. 213 f. Die genauen Details um den Mord an Volodarskij liegen weiterhin im Dunkeln. Vgl. dazu A. L. Litvin: Vvedenie, in: V. K. Vinogradov et al. (Hg.), Pravoėserovskij političeskij process v Moskve, Moskau 2011, S. 5 – 20, hier: S. 13 – 15. Semënov wurde im Prozess gegen die Sozialrevolutionäre von Bucharin verteidigt; auch dieser Umstand sollte Bucharin später ins Verderben stürzen. Vgl. dazu etwa das ZK-Stenogramm vom 23. Februar 1937. RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 579, ll. 99 – 162 und Aleksej Litvin: Azef Vtoroj, in: Rodina 9 (1999), S. 80 – 84. Brief von Lenin an Zinovʼev vom 26.6.1918. Lenin: Polnoe sobranie sočinenij. Tom 50, S. 106.
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Urickij geheftet, das Bewegungsprofil des Führers der Roten Armee, Trotzki, und sogar das des Revolutionsführers selbst ausspioniert. Aus „strategischen Erwägungen“ maßen die Verschwörer einem Attentat auf Trotzki zunächst höchste Priorität bei, da mit seinem Tod die militärische Macht der Bolschewiki, also die äußere Souveränität, erschüttert werden sollte. Erst danach wollte man auch die innere Souveränität angreifen und sich ganz dem Kampf im Stile einer Partisaneneinheit verschreiben.⁷¹ Die Ereignisse überschlugen sich, als Maksimilian Filonenko, ein Verbündeter des Generals Kornilov und Savinkovs, die Bühne betrat und schnell unter Beweis stellte, dass er dem politischen Chamäleon Savinkov in nichts nachstand.⁷² Bereits im Mai 1918 hatte Filonenko seine Mitstreiter wissen lassen, dass er über fünf Blausäure-Ballons verfüge und gedenke, diese beim nächsten Allrussischen Sowjetkongress im wörtlichen Sinne platzen zu lassen, um mindestens die Mehrheit der Versammelten umzubringen.⁷³ Dieses Vorhaben war über eine bloße Absichtserklärung noch nicht hinaus, als Filonenkos Vetter, der Untergrundkämpfer Leonid Kannegiser, am Morgen des 30. August 1918 den Petrograder Kommissar des Inneren und Geheimdienstchef Urickij vor dessen Dienstgebäude erschoss. Das mit dem erst wenige Wochen zuvor ermordeten Volodarskij befreundete Opfer war seit dem Umzug der Regierung nach Moskau – neben dem Parteiführer Zinovʼev – die zentrale politische Figur in Petrograd und daher schon lange ein erklärtes Ziel der Terroristen. Auch wenn Kannegiser nach dem Attentat die Flucht gelang, wurde er schon bald gestellt und schließlich im Oktober 1918 erschossen.⁷⁴ Der weitaus spektakulärste Anschlag auf einen Führer der neuen Ordnung erfolgte am Abend des 30. August 1918 in Moskau. Es war keineswegs der erste Versuch, den Revolutionsführer umzubringen.⁷⁵ Allerdings kam ihm aufgrund der Tatsache, dass erst am Morgen desselben Tages in Petrograd der Geheimdienstchef einem Attentat zum Opfer gefallen war, neben der symbolischen eine besondere politische Bedeutung zu. Natürlich hatte Lenin längst von dem erfolgreichen Attentat auf Urickij erfahren, als er sich am 30. August auf den Weg zu
Vgl. Semënov: Otryvok iz brošjury G. Semënova ›Voennaja i boevaja rabota partii socialistovrevoljucionerov 1917 – 1918 gg.‹. 2 dekabrja 1921 g., in: Posvjanskij/Ovsjannikov/Krivcov (Hg.), Pokušenie na Lenina, S. 162– 167, Zitat: S. 162 f. Vgl. zu Filonenko exemplarisch Rabinowitch: The Bolsheviks Come to Power. The Revolution of 1917 in Petrograd, Chicago 2004, S. 99 – 108. Vgl. Golinkov: Krušenie antisovetskogo podpolʼja v SSSR. Kn. 2, S. 222. Vgl. Golinkov: Krušenie antisovetskogo podpolʼja v SSSR. Kn. 2, S. 220. Vgl. beispielhaft zu den verschiedenen Attentaten auf Lenin V. D. Bonč-Bruevič: Tri pokušenija na V. I. Lenina, in: Vospominanija o Lenine, Moskau 1965, S. 303 – 357.
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zwei Parteiveranstaltungen begab. Die Bedenken seiner Vertrauten schlug er jedoch in den Wind, weil es ihm gerade in diesem Moment darauf ankam, der allgemeinen Verunsicherung mit Entschlossenheit zu begegnen.⁷⁶ So wurde Lenin von seinem Chauffeur Stepan Gilʼ bei der Michelʼson Fabrik abgesetzt und bahnte sich den Weg durch die wartende Menge, wobei er auf seinen Wachschutz offenbar bewusst verzichtet hatte.⁷⁷ Er nutze die angespannte Atmosphäre gezielt für seine Rede und konfrontierte die Zuhörer mit dem berühmten Schlussakkord: „Sieg oder Tod!“⁷⁸ Anschließend strömte die Menge auf die Straße. Unterdessen hatte Lenins Chauffeur den Wagen gestartet, um jederzeit abfahrbereit zu sein. Nachdem Lenin sich mit einigen Personen unterhalten hatte, kam er auf das Auto zu. Plötzlich fielen drei Schüsse. Lenin sackte zu Boden.⁷⁹ Die mutmaßliche Attentäterin, die unter dem Namen Fanni Kaplan in die Geschichte Eingang gefunden hat, war schon seit vielen Jahren im Untergrund aktiv gewesen.⁸⁰ Nach einem gescheiterten Attentat auf den Generalgouverneur von Kiev im Jahre 1906 hatte sie – bis zu ihrer im Zuge der Februarrevolution 1917 erfolgten Amnestie – ein Leben in unterschiedlichen Gefängnissen in Sibirien gefristet, allerdings den Kontakt zu revolutionären Weggefährten wie der Mitgefangenen Spiridonova halten können.⁸¹ Von einer Anarchistin zur überzeugten Sozialrevolutionärin geworden, hatte Kaplan nach der Oktoberrevolution erneut den Kampfplatz betreten, war sodann mit der Einheit um Semënov in Kontakt getreten und hatte schließlich von ihm einen Revolver ausgehändigt bekommen.⁸²
Vgl. etwa Nina Tumarkin: Lenin Lives! The Lenin Cult in Soviet Russia, Cambridge 1997, S. 80. Vgl. den Augenzeugenbericht Stepan Kazimirovič Gilʼ: Šestʼ let c V. I. Leninym, Moskau 1957, S. 13 – 34. Ende 1922 wurde die Fabrik zum Gedenken an Lenins Auftritt und das Attentat in ›LeninFabrik‹ umbenannt. Der für die Zeitungen gekürzte Text seiner Rede findet sich in Vladimir I. Lenin: Polnoe sobranie sočinenij. Tom 37, Moskau 1969, S. 83 – 85. Die Anzahl und Abfolge der Schüsse und insgesamt der genaue Tathergang bleiben umstritten und so ranken sich auch um dieses Attentat viele Spekulationen. Vgl. zum Tathergang den Augenzeugenbericht Gilʼ: Šestʼ let c V. I. Leninym, S. 17 f.; aus verschwörungstheoretischer Sicht ferner Boris Orlov: Mif o Fanni Kaplan, in: Vremja i My 2 (1975), S. 153– 163; Boris Orlov: Mif o Fanni Kaplan, in: Vremja i My 3 (1976), S. 126 – 159; Semion Lyandres: The 1918 Attempt on the Life of Lenin: A New Look at the Evidence, in: Slavic Review 48 (1989), S. 432– 448 und schließlich die überzeugende Einschätzung von Smith: Who Shot Lenin? Ihr bürgerlicher Name war Fejga Rojdman. Vgl. zu ihren unterschiedlichen Namen Lyandres: The 1918 Attempt, S. 434 f. Vgl. Pokazanija Fanni Kaplan, in: Posvjanskij/Ovsjannikov/Krivcov (Hg.), Pokušenie na Lenina, S. 157– 160 und Iz pokazanij F. Kaplan, in: Kostin (Hg.),Vystrel v serdce revoljucii, S. 99 – 102. Vgl. ferner Library of Congress, Volkogonov Papers, Box 3, Folder 11 und Folder 12. Vgl. Scott B. Smith: Captives of Revolution. The Socialist Revolutionaries and the Bolshevik Dictatorship, 1918 – 1923, Pittsburgh 2011, S. 74– 80.
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Während Kaplan noch am Tatort gestellt werden konnte, wurde der schwer verletzte Lenin in seine Wohnung im Kreml gebracht. Eine der Kugeln hatte seine linke Schulter getroffen, eine andere war vom Nacken bis zum Schlüsselbein vorgedrungen.⁸³ Da keineswegs sicher war, ob der Revolutionsführer das Attentat überleben würde, brach im Zentrum der Macht Hektik aus. Am folgenden Tag wurde das Volk über das Ereignis unterrichtet und dazu aufgerufen, endlich die Reihen zu schließen.⁸⁴ Sverdlov, der Vorsitzende des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees, ließ wissen, dass mehrere Personen festgenommen worden seien und die Regierung ihre Arbeit unvermindert fortsetze. In dieser Phase wurden die Sitzungen alternierend vom Vorsitzenden des Obersten Rates für Volkswirtschaft, Aleksej Rykov, und Sverdlov geleitet. Damit lernte der Sovnarkom, sollte es bald heißen, „ohne seinen genialen Führer die Angelegenheiten zu erledigen.“ Und auch Sverdlov, gleichsam das nominelle Staatsoberhaupt, bekannte angesichts dieser Situation einmal gegenüber dem geschäftsführenden Sekretär des Sovnarkom, Bonč-Bruevič, dass „wir auch ohne Vladimir Ilʼič zurechtkommen.“⁸⁵ Gelegentlich ist diese Äußerung als Indiz dafür herangezogen worden, die Entwicklung um den 30. August 1918 als Auswuchs eines Machtkampfes an der Spitze des Staats zu deuten.⁸⁶ Dabei zeigen allerdings die Vertreter dieser Lesart eine bemerkenswerte Fähigkeit selektiver Interpretation; denn nur einen Satz später, in eben jener Kronzeugenquelle, gibt sich nicht – wie etwa Semion Lyandres schreibt – ein „völlig überraschter“ Bonč-Bruevič zu erkennen, sondern schlicht ein nüchterner Realpolitiker.⁸⁷ Zu jener Realpolitik gehörte auch, dass die mutmaßliche Attentäterin inzwischen in die Lubjanka gebracht, dort mehrmals
Zu den Kugeln, einem möglichen zweiten Schützen und den Spekulationen vgl. Smith: Captives of Revolution, S. 78, S. 304, Fn. 148 und zur Verhaftung Kaplans siehe Golinkov: Krušenie antisovetskogo podpolʼja v SSSR. Kn. 1, S. 188 f. Vgl. Pokušenie na predsedatelja Soveta Narodnych Komissarov tov. Lenina. Vsem sovetam rabočich, krestʼjanskich, krasnoarmejskich deputatov, vsem armijam, vsem, vsem, vsem, in: Izvestija VCIK (31.08.1918), S. 1. Bonč-Bruevič: Tri pokušenija na V. I. Lenina, in: Vospominanija o Lenine, Moskau 1965, S. 335 f. In dieser Weise wurde die Episode zuletzt interpretiert von Jurij G. Felʼštinskij: Tajna smerti Lenina, in: Voprosy istorii 1 (1999), S. 34– 63 und Lyandres: The 1918 Attempt. „Das zu hören, war schmerzlich und schwer; aber ich verstand natürlich die tiefere Bedeutung des Gedankens von Jakov Michajlovič, der Vladimir Ilʼič unermesslich liebte: So schwer und hart seine (sc. Lenins) Abwesenheit auch sein mochte, das politische Leben und der heftige Klassenkampf der schwierigen Phase der Diktatur des Proletariats brauchten eine Führung, und diese Führung existiert, war und wird sein […] – das war der Sinn dieser unerwarteten Worte von Jakov Michajlovič Sverdlov, mit denen er sich an mich wandte.“ Bonč-Bruevič: Tri pokušenija na V. I. Lenina, in: Vospominanija o Lenine, Moskau 1965, S. 336.
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verhört und nach etwaigen Unterstützern befragt worden war. Schließlich gestand Kaplan die Tat, beharrte jedoch darauf, ganz allein die Verantwortung zu tragen und keiner Partei anzugehören.⁸⁸ Das Geständnis schien durch mehrere offizielle Stellungnahmen der Sozialrevolutionäre gestützt, in denen sie jegliche Verantwortung – wie bereits bei den Attentaten auf Volodarskij und Urickij – weit von sich wiesen.⁸⁹ Gleichwohl schenkten die sowjetischen Behörden der von Kaplan vorgebrachten Einzeltäter-These nie ernsthaft Glauben. So forderte etwa der Čekist Jakov Peters die Attentäterin eindringlich auf, die „volle Wahrheit“ zu sagen, da er ihr einfach nicht glaube, dass „sie das Attentat allein ausgeführt“ haben könne.⁹⁰ Als denkbare Drahtzieher wurden nicht nur die Sozialrevolutionäre, sondern auch Feinde im Ausland gehandelt.⁹¹ Es war daher wenig überraschend, dass in jenen Tagen der Fall des britischen Diplomaten Bruce Lockhart wieder einmal hohe Wellen schlug, da man auch ihn beschuldigte, gemeinsam mit dem Agenten Sidney Reilly ein Attentat auf Lenin vorbereitet zu haben.⁹² Zwar waren die Belege dürftig, doch entwickelte die von Geheimdienstler Peters an Lockhart gerichtete Frage, ob ihm die Person Kaplan bekannt sei, bereits ausreichend suggestive Kraft. Die Antwort wiederum schien den Hang nur noch mehr zu bestärken, Zusammenhänge auch dort zu sehen, wo eigentlich keine Anhaltspunkte vorlagen. So verneinte Lockhart etwa nicht die Bekanntschaft mit Kaplan, sondern verwies lediglich auf sein Schweigerecht, um sodann auch allen weiteren Fragen mit Stille zu begegnen. In der Hoffnung auf eine entlarvende Reaktion arrangierte man schließlich sogar noch eine Gegenüberstellung von Kaplan und Lockhart. Allerdings zeitigte die Begegnung nicht den erhofften Erfolg. Lockhart wurde entlassen, Kaplan wieder in ihre Zelle verbracht.⁹³
Vgl. Pokazanija Fanni Kaplan, in: Posvjanskij/Ovsjannikov/Krivcov (Hg.), Pokušenie na Lenina, S. 157– 160 und Iz pokazanij F. Kaplan, in: Kostin (Hg.),Vystrel v serdce revoljucii, S. 99 – 102. Der Hintermann Semënov und einige seiner Mitstreiter wurden erst im Herbst 1918 verhaftet. Vgl. dazu Smith: Captives of Revolution, S. 79 f. Vgl. exemplarisch Centralʼnyj komitet partii socialistov-revoljucionerov: Zajavlenie ėserov. [Pravda, 6 sentjabrja 1918 g.], in: Posvjanskij/Ovsjannikov/Krivcov (Hg.), Pokušenie na Lenina, S. 141; Golinkov: Krušenie antisovetskogo podpolʼja v SSSR. Kn. 2, S. 214, S. 220 und Levye ėsery o pokušenii na Lenina ›Prava‹, 1 sentjabrja 1918 g., in: Kostin (Hg.), Vystrel v serdce revoljucii, S. 112. Iz pokazanij F. Kaplan, in: Kostin (Hg.), Vystrel v serdce revoljucii, S. 101 f. Vgl. etwa Library of Congress, Volkogonov Papers, Box 3, Folder 12. Die Rolle Lockharts ist, wie stets bei politischen Verschwörungen, ebenso faszinierend wie undurchsichtig. Vgl. beispielhaft Robert Service: Spies and Commissars. The Early Years of the Russian Revolution, London 2011. Vgl. Lockhart: Memoirs of a British Agent, S. 317– 320. Auch wenn Lockhart diese Beschreibung erst später abfasste, ist sie angesichts bekannter Parallelfälle durchaus plausibel. Vgl. ferner zur
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Auch wenn die genaueren Umstände der Ereignisse des 30. August diffus blieben, wurde Kaplan dennoch am 3. September von Pavel Malʼkov, dem Kommandanten des Kremls, erschossen.⁹⁴ Gerade diese Konstellation aus Unklarheit und rascher Aburteilung hat immer wieder für Spekulationen gesorgt; zumal die Quellenlage weiterhin dürftig blieb und die Meistererzählung für das Attentat erst im Zuge des ersten Schauprozesses gegen die Sozialrevolutionäre im Jahre 1922 etabliert wurde.⁹⁵ So ist etwa der Historiker Jurij Felʼštinskij der Meinung, dass sich das Attentat auf Lenin nur als Teil einer Palastrevolte – in der Sverdlov und Dzeržinskij eine Schlüsselfunktion eingenommen hätten – verstehen lasse und die Rolle Kaplans und gar ihr Tod überaus zweifelhaft seien.⁹⁶ Anhaltspunkte einer solchen Lesart finden sich bereits bei Alexander Solschenizyn. So weiß er in seinem Archipel Gulag von Gerüchten zu berichten, denen zufolge die Attentäterin nicht erschossen, sondern lediglich einer Odyssee von Gefängnis zu Gefängnis ausgesetzt worden und somit zu einer geradezu sagenhaften Existenz über das Jahr 1918 hinaus geworden sei.⁹⁷ Der Gelehrte Jean Norton Cru gab einmal zur Zeugenschaft zu bedenken, dass es unmöglich sei, „unter dreißig Beschreibungen auch nur zwei auszumachen, die wenigstens annähernd zueinander passen.“⁹⁸ Man könnte ergänzen, dass gerade erst in diesem Gemisch die sowjetische ›Welt als Wille und Vorstellung‹ heimisch werden und florieren konnte. Eine grundsätzliche Skepsis gegenüber staatlicher und insbesondere sowjetischer Deutungshoheit von Schlüsselereignissen bleibt folglich stets geboten. Dennoch erscheinen der einfache Umkehrschluss und ein womöglich leichtgläubig zugestandenes Vertrauen in die Zeugenschaft mutmaßlicher Opfer staatlicher Willkür ebenso fahrlässig. Bereits am Fall Mirbach und beispielhaft an der Inter-
vermeintlich englisch-französisch-amerikanischen Verschwörung um Lockhart Golinkov: Krušenie antisovetskogo podpolʼja v SSSR. Kn. 1, S. 243 – 247 und Golinkov: Krušenie antisovetskogo podpolʼja v SSSR. Kn. 2, S. 259 – 264. Vgl. P. Malʼkov: Zapiski komendanta Moskovskogo Kremlja, Moskau 1959, S. 159 – 161. Vgl. auch Library of Congress,Volkogonov Papers, Box 3, Folder 11 und Folder 12.Vgl. ferner die Schilderung bei Ossorgin: Eine Straße in Moskau, S. 308 f. Die zentralen Quellen stammen von den drei Augenzeugen – Stepan Gilʼ, Nikolaj Ivanov und Stefan Batulin – und bereits sie weisen Unstimmigkeiten auf, die sich im Laufe der Zeit noch potenzierten. Vgl. Gilʼ: Šestʼ let c V. I. Leninym, S. 13 – 34; K. Gilʼ: Pokazanie šoffera; N. Ja. Ivanov: Pokazanie predsedatelja zavkoma zavoda b. Michelʼson und S. N Batulin: Pokazanija očevidca Batulina, in: Posvjanskij/Ovsjannikov/Krivcov (Hg.), Pokušenie na Lenina, S. 152 f., S. 153 f., S. 154. Vgl. Jurij G. Felʼštinskij: Tajna smerti Lenina, in: Voprosy istorii 1 (1999), S. 34– 63. Vgl. Alexander Solschenizyn: Der Archipel GULAG 2. 1918 – 1956, Frankfurt am Main 2013, S. 480 f. Zitiert nach Hans-Joachim Neubauer: Fama. Eine Geschichte des Gerüchts, Berlin 2009, S. 121.
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pretation Häfners ist dieses Problem deutlich geworden. Es verweist auf die Unwägbarkeiten der Quelleninterpretation und die Grenzen dessen, was als letzter Ankerpunkt positivistisch gewendeter Geschichtswissenschaft vom vermeintlichen Veto-Recht der Quellen erhofft wird. Dabei hat Koselleck dieser gern zitierten Sentenz den Hinweis folgen lassen, dass eine Geschichte nie allein aus den Quellen ableitbar sei und es daher stets einer „Theorie möglicher Geschichten [bedarf], um Quellen überhaupt erst zum Sprechen zu bringen.“⁹⁹ Eine derart gewendete Erzählung verdankt sich somit zwar empirischen Befunden, lässt sich allerdings nicht unmittelbar aus ihnen gewinnen und wird folglich zu einer »Poetik der Geschichte« (Hayden White).¹⁰⁰ Ein erster Hinweis zur Theoriebildung mag in der rhetorischen Frage des Revolutionärs Burcev gesehen werden, ob es richtig sei, dass man „terroristische Akte verübt, aber nicht darüber spricht“, wobei ihn gerade die Gewissheit umtrieb, dass der Terrorismus selbst als performativer Akt zu verstehen sei.¹⁰¹ Entsprechend ist denn auch dem Historiker Scott Smith nur beizupflichten, wenn er in Bezug auf das Lenin-Attentat anmerkt, dass die Sozialrevolutionäre jener Jahre eben alles andere als mit einer Stimme gesprochen hätten und in der Geschichte des russischen Terrorismus überhaupt seit jeher die Tendenz verbreitet gewesen sei, in kleinen Gruppen zu agieren und sich über zentrale Beschlüsse hinwegzusetzen. Nicht zuletzt deshalb seien auch viele Fälle dokumentiert, bei denen das Zentralkomitee der Sozialrevolutionäre aus strategischen Gründen – wie etwa beim geplanten Attentat auf Nikolai II. – die Verantwortung von sich gewiesen und damit bewusst Spekulationen Vorschub geleistet hätte.¹⁰²
„Die Quellen haben ein Vetorecht. Sie verbieten uns, Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes schlichtweg als falsch oder als nicht zulässig durchschaut werden können. Falsche Daten, falsche Zahlenreihen, falsche Motiverklärungen, falsche Bewußtseinsanalysen: all das und vieles mehr läßt sich durch Quellenkritik aufdecken. Quellen schützen uns vor Irrtümern, nicht aber sagen sie uns, was wir sagen sollen.“ Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft, Frankfurt am Main 1989, S. 176 – 207, hier: S. 206. Vgl. ferner Mikojan: Tak bylo, S. 558 und Graziosi: The New Soviet Archival Sources. Dies wird konzis formuliert in der Einleitung bei Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 2014.Vgl. ferner White:The Narrativization of Real Events. Vgl. Burcev: Pravda li, čto terror delajut, no o terrore ne govorjat. Vgl. Smith: Who Shot Lenin?, S. 100 – 119. Vgl. ferner Geifman: Thou Shalt Kill, S. 65 – 69 und Jansen: A Show Trial under Lenin, viii, S. 3 f., S. 89. Der Umstand der Einzeltäterschaft betraf insbesondere die Attentate auf Volodarskij, Urickij und Lenin; alle Attentäter beharrten darauf, allein agiert und keine Verbindung zu irgendeiner Partei zu haben. Auch die Sozialrevolutionäre stritten jegliche Verbindung ab. Der Topos vom Einzeltäter sollte auch beim Kirov Attentat des Jahres 1934 eine wichtige Rolle spielen.
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In einem Artikel der Pravda vom 1. September 1918 sah sich auch Nikolaj Bucharin veranlasst, die kürzlich erfolgten Attentate auf Urickij und Lenin einer historischen Einordnung zu unterziehen. Unter Berufung auf die Tradition der Narodovolʼcy ließ er wissen, dass die Kämpfer dieser vergangenen Epoche, als „gekrönte Schwachköpfe“ (koronovannye tupicy) die Geschicke des Landes führten, ihren Heldenmut bewiesen und sich als Tyrannenmörder dem Staat entgegengestellt hätten. Demgegenüber jedoch seien diejenigen, die auf die Führer der neuen Ordnung schössen, als nichts anderes denn Pygmäen und bedauernswerte Leutchen (pigmei, žalkie ljudiški) zu betrachten. Mithin sei nicht nur ihre Unfähigkeit, den Unterschied der politischen Verhältnisse zu erkennen, durch den Rückgriff auf ein inzwischen überholtes Mittel politischen Kampfes zweifelsfrei belegt, sondern auch der Verdacht, dass es sich bei den Attentätern Kaplan und Kannegiser um Agenten der Bourgeoisie handeln müsse.¹⁰³ Trotz der wenig überraschenden Rhetorik bleibt der Text Bucharins insofern bemerkenswert, als er eines der frühesten Zeugnisse der neuen Machthaber ist, das in unzweideutiger Verdammnis eigener Tradition zugleich die Angst vor eben dieser Tradition erkennen lässt.¹⁰⁴ Folglich hatten die Attentate auch der neuen Ordnung die Gewissheit gebracht, dass eine kleine entschlossene Gruppe ausreichte, um im glücklichsten Falle nur die Verwundbarkeit eines übermächtig scheinenden Staats zu demonstrieren. Dennoch gehörte es zum Berufsrisiko hochrangiger Mitglieder der Nomenklatura, die Sicherheitsvorkehrungen gelegentlich außer Acht zu lassen, um den Abstand zu den Beherrschten zu überbrücken.¹⁰⁵ Deshalb sollte in dem Umstand, dass Lenin ohne Wachpersonal die Fabrik betreten hatte, nicht vorschnell unverzeihliche Nachlässigkeit oder gar ein Indiz für eine Verschwörung hinter der Verschwörung gesehen werden. Vielmehr gibt sich in der bewussten Schutzlosigkeit eine kalkulierte Gefahr zu erkennen, welche ein Politiker von Zeit zu Zeit in Kauf zu nehmen hat, um gegenüber den
Vgl. N. Bucharin: Lenin – Kaplan, Urickij – Kannegisser. [Pravda, 1. September 1918], in: Posvjanskij/Ovsjannikov/Krivcov (Hg.), Pokušenie na Lenina, S. 84– 86. Zumindest erwähnt sei in diesem Zusammenhang das von Anarchisten verübte Bombenattentat auf das Moskauer Parteikomitee vom 25. September 1918, bei dem von über 100 Anwesenden 12 Parteiführer getötet und 55 (darunter Bucharin) verletzt worden waren. Eine dokumentarisch-literarische Behandlung des Falles findet sich bei Ossorgin: Eine Straße in Moskau, Berlin 2015, S. 392, S. 396, S. 413. Zu Lenins Position gegenüber Sicherheitsvorkehrungen siehe Gilʼ: Šestʼ let c V. I. Leninym, S. 13 – 34.
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Beherrschten das machtrelevante Amalgam aus Distanz und Nähe auszuspielen.¹⁰⁶ So lässt denn auch der Chauffeur Stepan Gilʼ seine Erinnerungen an das Attentat damit beginnen, dass Lenin nach einem anstrengenden Tag gern allein durch die Straßen Moskaus ging, ohne dabei einer festgelegten Route zu folgen oder sich von Wachleuten begleiten zu lassen.¹⁰⁷ Gerade in Zeiten besonderer politischer Belastungen drückte diese Gewohnheit durchaus Gelassenheit aus und ließ sich überdies sogar als Reminiszenz an die Herrscher des Zarenreiches verstehen. Selbst am Arbeitsplatz des Revolutionsführers herrschte offenbar bis zum Tag des Attentats ein eher laxer Umgang. Als Graf Mirbach beispielsweise Lenin einmal „im Kreml besuchte, sah er vor dessen Arbeitsraum einen Posten, der nicht etwa das Gewehr präsentierte oder den Eintretenden zumindest ins Auge faßte, sondern ohne aufzublicken in einem Buch las.“¹⁰⁸ Augenscheinlich hatte Lenin lange Zeit darauf verzichten wollen, seine Macht mittels vermeintlicher Unverzichtbarkeit von Personenschutz zu unterstreichen und hatte stattdessen das erhöhte Risiko in Kauf genommen, um eben genau daraus einen Machtvorteil zu generieren. Dies sollte sich nach dem Attentat ändern. So veranlasste Lenins Sekretär Bonč-Bruevič unverzüglich, dass überall im Kreml Wachen aufzustellen seien und an allen Zugängen und Wänden zum Sovnarkom und Allrussischen Zentralen Exekutivkomitee ununterbrochen Wachdienst zu halten sei.¹⁰⁹ Als sich dann Gerüchte verbreiteten, der Lenker der Weltrevolution sei womöglich inzwischen verstorben und heimlich beerdigt worden, erfuhr Lenin mit dem Film KremlSpaziergang eine emphatische Rückkehr in den öffentlichen Raum.¹¹⁰ Nicht zuletzt aufgrund dieser bald bewusst in Szene gesetzten Überschneidung von Verwundbarkeit, Führungsanspruch und Vorsehung stellt die Historikerin Nina Tumarkin den Beginn von Lenins Personenkult in einen direkten Zusammenhang mit dem Attentat vom 30. August.¹¹¹ Auch wenn der sowjetische Führer die
Vgl. S. K. Gilʼ: Iz biografičeskoj chroniki V. I. Lenina, 1918, avgust, 30, in: Kostin (Hg.),Vystrel v serdce revoljucii, S. 83. Vgl. ferner Trutz von Trotha: Distanz und Nähe. Über Politik, Recht und Gesellschaft zwischen Selbsthilfe und Gewaltmonopol, Tübingen 1987. Vgl. Gilʼ: Šestʼ let c V. I. Leninym, S. 13 f. Baumgart: Die Mission des Grafen Mirbach, S. 66 – 96, Zitat: S. 70. Vgl.V. D. Bonč-Bruevič: Iz biografičeskoj chroniki V. I. Lenina, 1918, avgust, 30, in: Kostin (Hg.), Vystrel v serdce revoljucii, S. 86 f. Der vollständige Titel des Filmes lautet: Progulka V. I. Lenina po Kremlju v 1918 g. posle ranenija.Vgl. dazu V. D. Bonč-Bruevič: Progulka V. I. Lenina po Kremlju v 1918 gody posle ranenija, in: Vospominanija o Lenine, Moskau 1965, S. 358 – 364. Vgl. Tumarkin: Lenin Lives!, S. 87.
2. Abrechnung als Gefahr
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Volksnähe beinahe mit seinem Leben hatte bezahlen müssen, begründete dieser Zwischenfall doch eine Inszenierung, der zufolge Lenins historische Mission seine physische Verwundbarkeit stets überstrahlen würde. Somit hatte das Attentat und Lenins geradezu mythologisierte Auferstehung die sowjetische Theologie um das Dogma ergänzt, dass ihre Repräsentanten zwar sterblich sein mochten, die neue Ordnung allerdings längst den Weg zur Unsterblichkeit angetreten hatte.¹¹²
In diesem Zusammenhang sei auf die Probleme der Klimatisierung des Mausoleums verwiesen. Vgl. GARF, Fond R-5446, op. 16 A, d. 1343, ll. S. 1– 6.
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3. Vergangenheitsbewältigung Bolschewistisch Nachdem Lenin über das Attentat auf Urickij in Kenntnis gesetzt worden war, fragte er den Geheimdienstchef, ob es nicht sinnvoll sei, nachts Verhaftungen durchzuführen, um die „Fäden und Verbindungen der Konterrevolutionäre“ aufzuspüren; habe doch das Attentat die „offizielle Bestätigung einer Verbindung zwischen denen, die geschossen haben, und der Partei der Sozialrevolutionäre“ geliefert.¹¹³ Mit dem Attentat auf den Revolutionsführer schien endgültig festzustehen, dass sich die Feinde der neuen Ordnung keinesfalls kampflos geschlagen geben würden. Daher sollte Lenin bald von seinem Justizkommissar Dmitrij Kurskij eine „Intensivierung der Unterdrückung politischer Feinde“ fordern und Schauprozesse zur Aufklärung der Volksmassen in allen größeren Städten vorschlagen.¹¹⁴ Lenins Empfehlungen schlossen nahtlos an die seit Einrichtung des sowjetischen Geheimdienstes Ende 1917 von Dzeržinskij in Umlauf gebrachten Warnungen an, dass der Feind sich maskiere und es daher an der Zeit sei, auf „bolschewistische Weise mit den Konterrevolutionären“ abzurechnen.¹¹⁵ Seit den Ereignissen des Jahres 1918 wollten sich die Machthaber nicht mehr allein auf ihren „revolutionären Instinkt“ (revoljucionnoe čutʼe) verlassen, sondern die seit langem gehegten Vermutungen auch entsprechend behandelt sehen.¹¹⁶ Beweise ihrer Vermutungen glaubten sie nach den Attentaten auf Volodarskij und Urickij und vor allem nach dem Anschlag auf Lenin an der Hand zu haben. Und nicht zuletzt deshalb galt ihnen das rituelle Abstreiten jeglicher Beteiligung seitens der Sozialrevolutionäre erst recht als unzweifelhafte Bestätigung ihres Anfangsverdachts. Nur zu gut wussten die Bolschewiki, dass das Bestreiten und Streuen von Desinformation, das Plausibilisieren von Gerüchten und Legen falscher Fährten seit jeher zur Taktik revolutionärer Verschwörer gehört hatte. Schließlich hatte dadurch die Position der Schwäche in eine der Stärke gewendet und der Angegriffene unter Zugzwang gesetzt werden können, sollte das Monopol
Vladimir I. Lenin: Zapiska F. Ė. Dzeržinskomu. 30 avgusta 1918, in: Ž. G. Adibekova et al. (Hg.), V. I. Lenin i VČK, Moskau 1987, S. 84– 85. Auch wenn Lenin schon immer auf öffentliche Abrechnungen gesetzt hatte, formulierte er die Forderung nach Schauprozessen erst am 20. Februar 1922. Vgl. Vladimir I. Lenin: Polnoe sobranie sočinenij. Tom 44, Moskau 1970, S. 396 – 400, Zitat: S. 396. Zitiert nach Werth: Ein Staat gegen sein Volk, S. 71 f. Vgl. ferner Ž. G. Adibekova (Hg.): V. I. Lenin i VČK. Sbornik dokumentov (1917 – 1922), Moskau 1987, S. 19 – 24. Vgl. zum Phänomen des revolutionären Instinkts zuletzt Davies/Harris: Stalinʼs World, bes. S. 59 – 61.
3. Vergangenheitsbewältigung Bolschewistisch
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legitimen physischen Zwangs auch weiterhin erfolgreich in Anspruch genommen werden.¹¹⁷ In der Politik konnte die antizipierte Gefahr schon immer zum Agens einer besonderen Form selbst-erfüllender Prophezeiung werden.¹¹⁸ Entsprechend machte auch der Philosoph Karl Popper mit dem Topos einer ›Verschwörungstheorie der Gesellschaft‹ früh auf den Umstand aufmerksam, dass es gleichsam zur menschlichen Natur gehöre, hinter kontingenten sozialen Phänomenen stets einen geheimen Plan zu vermuten.¹¹⁹ Nun mag man dieser Einschätzung in ihrer Allgemeinheit zwar zustimmen, allerdings erscheint sie angesichts historischer Ambivalenz im Einzelfall doch zweifelhaft. So zeigten etwa die Monate nach der Oktoberrevolution, dass die neuen Machthaber an unterschiedlichen Fronten durchaus real herausgefordert worden waren und die Feinde sich dabei immer wieder absichtlich in die Rolle von Verschwörern begaben.¹²⁰ Folglich sahen sich die Bolschewiki von Beginn an mit einer Dynamik konfrontiert, bezüglich derer der Historiker Arno Mayer zu bedenken gegeben hat, dass die Exzesse einer Revolution gerade durch die realen, aber eben auch ideellen Kräfte der Opposition ausgelöst würden.¹²¹ Eben diesem Zwischenreich entsprang die bolschewistische Vergangenheitsbewältigung: Je diffuser ihnen die politischen Gegner erschienen, desto lebhafter wurden die Vorstellungen etwaiger Verschwörungen und entsprechend grobschlächtig fiel am Ende ihre Abrechnung aus.¹²² Insofern lässt sich die Gewalt, die als ›Roter Terror‹ und Bürgerkrieg historische Berühmtheit erlangt hat, nicht einfach durch eine vermeintlich besonders gewaltaffine russische Kultur erklären oder als unmittelbare Begleiterscheinung der Etablierung sowjetischer Ordnung oder spontane Protestgewalt angesichts
Der letzte Satz bezieht sich natürlich auf die Definition des Staats bei Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, S. 29. Vgl. dazu Fabian Thunemann: Stalins Höhlengleichnis. Verschwörungsdenken und Machtkalkül im Stalinismus, in: Jörg Baberowski/Robert Kindler (Hg.), Macht ohne Grenzen, Frankfurt am Main 2014, S. 69 – 95 und Baberowski: Räume der Gewalt, S. 195 – 213. Vgl. Popper: Die offene Gesellschaft. 2, S. 181– 183. Vgl. exemplarisch zur Kritik an Popper Charles Pigden: Popper Revisited, or What Is Wrong With Conspiracy Theories?, in: Philosophy of the Social Sciences 25 (1995), S. 3 – 34. Vgl. Mayer: The Furies, S. 23 passim. Vgl. ferner Donald J. Raleigh: Experiencing Russiaʼs Civil War. Politics, Society, and Revolutionary Culture in Saratov, 1917 – 1922, Princeton/Oxford 2002 und zuletzt Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, etwa S. 288. Vgl. Julie Anne Cassiday: The Enemy on Trial. Early Soviet Courts on Stage and Screen, DeKalb 2000 und Serge: Erinnerungen eines Revolutionärs.
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des Attentats auf Lenin.¹²³ Vielmehr drückte sich in ihr auch ein Phänomen aus, demzufolge etwas allein deshalb Realität werden kann, weil Menschen eine Situation für real halten und sich entsprechend verhalten.¹²⁴ So mag die Gewalt als radikale Antwort auf das Problem der Fragilität politischer Ordnung sui generis begriffen werden, als Versuch, die häufig nur antizipierten, also potenziellen Konsequenzen politischen Ordnungsverlustes – wie sie seit Niccolò Machiavelli, Jean Bodin und Thomas Hobbes diskutiert werden – mit allen Mitteln, bis an den Rand des Selbstwiderspruches, abzuwenden.¹²⁵ Für den Terror als Heilmittel der Souveränität stand von Beginn an die Institution des sowjetischen Geheimdienstes. Wie keine zweite Instanz verkörperte er den rasch pervertierten staatspolitischen Grundsatz protego ergo obligo und erhielt folglich den Zugriff auf vergleichsweise üppige personelle Ressourcen.¹²⁶ Während das Kommissariat des Inneren, zuständig für den riesigen Apparat der lokalen Regierungen der Sowjets, im Juni 1918 nur über etwa 400 Personen verfügte, konnte der Geheimdienst zur selben Zeit allein in seinem Hauptsitz, der Lubjanka in Moskau, auf einen Personenstab von rund 1000 Mitarbeitern zurückgreifen.¹²⁷ Am Ende des Bürgerkrieges arbeiteten bereits rund 90.000 Personen offiziell für den Geheimdienst, wobei sich die Zahl der inoffiziellen Mitarbeiter auf etwa 60.000 belaufen haben dürfte.¹²⁸ Auch wenn diese Zahlen nicht mehr als eine ungefähre Orientierung liefern und von offizieller Seite häufig nach unten korrigiert wurden, um einerseits weiteren Bedarf, andererseits die effiziente Arbeit trotz vermeintlichen Personalmangels zu signalisieren, so zeigen sie dennoch, wie schnell diese Institution seit ihrer Gründung im Dezember 1917 hatte
Vgl. zu den ersten zwei Interpretationen klassisch Leggett: The Cheka, S. 102 und zur Beschreibung der typisch sowjetischen Deutung beispielhaft die Ausführungen bei Werth: Ein Staat gegen sein Volk, S. 88 – 90. Vgl. ferner Suny: Breaking Eggs. Vgl. hierzu das sogenannte Thomas-Theorem bei Thomas/Thomas: The Child in America, S. 553 – 575, S. 572. Als ein frühes historisches Beispiel kann die sogenannte Tagancev-Verschwörung der ersten Jahreshälfte 1921 angesehen werden. Vgl. Machiavelli: Der Fürst, S. 78. Vgl. ferner Joachim Zelter: Die Politik des Als-Ob in der Theorie, Praxis und Literatur der Renaissance-Zeit: Machiavelli, Martyr, Marlowe & Shakespeare, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 39 (1998), S. 95 – 126 und Eckard Bolsinger: The Autonomy of the Political. Carl Schmittʼs and Leninʼs Realism, Westport 2001. In diesem Grundsatz sieht Carl Schmitt das ›cogito ergo sum‹ des Staats und die Essenz von Thomas Hobbes Staatslehre. Vgl. dazu Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, Berlin 1963, S. 53. Vgl. Leggett: The Cheka, S. 34 f. Vgl. A. I. Kokurin/N. V. Petrov (Hg.): Lubjanka. Organy VČK-OGPU-NKVD-NKGB-MGB-MVDKGB, Moskau 2003, S. 31.
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anwachsen können. Dem Schutzversprechen der ČK entsprach ein Wille zur Bestimmung von Freund und Feind.¹²⁹ Auch wenn sich die Opferzahlen der Gewalt, die sich in den Wochen nach dem Attentat auf Lenin Bahn brach, schwer beziffern lassen, so deuten doch bereits verstreute Hinweise das ganze Ausmaß an.¹³⁰ Schon im Juli 1918 wurden durch den Geheimdienst so viele Menschen erschossen wie in den vergangenen sechs Monaten zusammengenommen. Im August sollte sich diese Zahl dann noch einmal verdoppeln. In der ersten Septemberwoche schließlich wurden unter chaotischen Bedingungen mehr als 3000 Menschen erschossen – in den Wochen darauf fielen Tausende einer bald systematisch werdenden Gewalt zum Opfer.¹³¹ Allein die Hinrichtungsberichte für den Herbst 1918 sprechen von bis zu 15.000 Toten.¹³² Am Ende dieser ersten Welle hatten nicht nur Tausende ihr Leben gelassen, sondern die Repräsentanten der neuen Ordnung sprachen nun auch offen aus, was sie mit Vergangenheitsbewältigung meinten. Der Petrograder Parteichef Zinovʼev etwa bekannte in der Zeitschrift ›Kommune des Nordens‹ im September 1918, dass man nur für 90 der 100 Millionen umfassenden Bevölkerung Verwendung habe und der Rest eben zu vernichten sei.¹³³ Der Historiker Martin Aust hat zuletzt die Toten des Bürgerkrieges der Jahre 1918 – 1921 auf zehn Millionen beziffert, wobei er ergänzt, dass die „wenigsten in Kampfhandlungen starben.“¹³⁴ Ob der Rote Terror eine unmittelbare Folge der Attentate auf Urickij und Lenin war, ist eine ähnlich umstrittene Frage wie die, ob erst mit der Ermordung Kirovs ein Prozess in Gang gesetzt wurde, der schließlich im Großen Terror mündete und somit als Schlüsselereignis des Stalinismus zu verstehen sei. Solschenizyn beispielsweise mochte keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem Prozess gegen die Sozialrevolutionäre und den späteren Schauprozessen unter Stalin erkennen, weil er das Kontinuum der Gewalt für ausschlaggebend hielt. Und so zeigte er sich denn auch nicht bereit, den Angeklagten im ersten großen Schauprozess 1922 mehr Sympathien entgegenzubringen als ihren Anklägern, weil er
Für die Zuspitzung der Gewalt seit der Ermordung des Grafen Mirbach spricht etwa VCIK (Hg.): RSFSR. S’’ezd Sovetov: Moskva 4 – 10 ijulja 1918 g., S. 5 – 235, hier: S. 96 – 98. ›Roter Terror‹ im engeren Sinne betrifft nur die Wochen nach dem Attentat auf Lenin bzw. die offizielle Ausrufung desselben Anfang September 1918. Andere zählen auch die Periode des Bürgerkriegs bis 1921 dazu und kommen entsprechend zu weitaus höheren Opferzahlen. Vgl. den Beschluss des Rates der Volkskommissare über den ›Roten Terror‹, 5. September 1918, RGASPI, Fond 19, оp. 1, d. 192, l. 10. Vgl. ferner Engelstein: Russia in Flames und Holquist: Making War, Forging Revolution. Vgl. Ratʼkovskij: Krasnyj terror i dejatelʼnostʼ VČK v 1918 godu, S. 236, S. 238 f. Vgl. Werth: Ein Staat gegen sein Volk, S. 92. Dieser berühmte Ausspruch wird etwa zitiert bei Leggett: The Cheka, S. 114. Aust: Die russische Revolution, S. 196.
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beide gleichermaßen für Gewalttäter hielt.¹³⁵ Natürlich erntet ein Hinweis auf die Kurzatmigkeit monokausaler Erklärungen stets Zustimmung, allerdings bleibt davon die Erkenntnis unberührt, dass sich in den erwähnten Fällen politische Attentate und Verschwörungsszenarien als wesentlicher Motor machtpolitischer Entscheidungen zu erkennen gaben. Im Anschluss an den Gewaltrausch des ›Roten Terrors‹ wurde der Prozess gegen die Sozialrevolutionäre im Jahr 1922 nicht nur zur öffentlichen Abrechnung mit einer sichtbaren politischen Opposition, sondern gleichsam auch zu einer machtpolitischen Geschichtsstunde, wie die Ereignisse im Anschluss an die Revolution 1917 zu deuten seien. Eine ganz ähnliche Funktion sollten später die großen Moskauer Schauprozesse einnehmen, in denen die Ereignisse nach Lenins Tod eine gleichermaßen öffentlichkeitswirksame Inszenierung und historische Interpretation erhielten.¹³⁶ So lässt sich feststellen, dass die Offenbarungen der Sozialrevolutionäre Semënov und Lidija Konopleva eine ähnliche Wirkung entfalten sollten wie die Aussagen infolge des Attentats auf Kirov. Und diese jeweiligen Nachwirkungen lassen sich schließlich von der kontrafaktischen Frage, ob die Entwicklung nicht ohnehin zu erwarten gewesen sei, durchaus ablösen, da schlicht die jeweilige Dynamik den einzigen Überlieferungszusammenhang ausmacht.¹³⁷ Vor dem Hintergrund dieser Deutung ist die eingangs zitierte Stellungnahme Lenins durchaus nicht nur als Ausdruck zynischer Realpolitik zu begreifen, sondern ein zentraler Anhaltspunkt dafür, dass die sowjetische Führung sehr früh daran ging, ihren Gegnern Verschwörungen und Attentate zur Last zu legen, um dem schwer zu durchschauenden Tatbestand tatsächlicher oder vermeintlicher Opposition kompromisslos begegnen zu können.¹³⁸ Damit wird nicht etwa leichtgläubig die Selbstbeschreibung der Akteure im Sinne einer vermeintlich objektiven historischen Interpretation reproduziert, sondern dem Umstand Rechnung getragen, dass dem Interpreten in erster Linie nichts anderes als die
Vgl. Alexander Solschenizyn: Der Archipel GULAG 1. 1918 – 1956, Frankfurt am Main 2013, S. 344– 396. Vgl. Cassiday: The Enemy on Trial und William Chase: Stalin as Producer. The Moscow Show Trials and the Construction of Mortal Threats, in: Sarah Davies/James Harris (Hg.), Stalin. A New History, Cambridge 2005, S. 226 – 248. Vgl. zu diesen Überlegungen mit anderen Schlussfolgerungen Smith: Who Shot Lenin? und zuletzt die intentionalistische Interpretation von Norman M. Naimark: Stalin und der Genozid, Frankfurt am Main 2010. Ähnlich schlussfolgerte Alfons Paquet in seinem Tagebuch bereits am 8. Juli 1918. Vgl. dazu Baumgart (Hg.): Von Brest-Litovsk, S. 65.
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Selbstbeschreibungen von unmittelbar Beteiligten zur Verfügung stehen.¹³⁹ Somit bleibt dem Forscher allein die Analyse von Situationen und Kontexten, die ihre Akteure so behandelten, als ob sie der Realität entsprächen, selbst wenn inzwischen evident sein mag, dass sie dabei einem Irrtum oder einer Verzerrung aufsaßen.¹⁴⁰ Nun hatten die Bolschewiki ihre herbe Niederlage bei den ersten freien Wahlen zur Konstituierenden Versammlung am 12. November 1917, die den Sozialrevolutionären fast die Hälfte aller abgegebenen und gut doppelt so viele Stimmen wie ihnen selbst beschert hatten, nicht vergessen.¹⁴¹ Entgangen war ihnen auch nicht, dass die Sozialrevolutionäre nach der Auflösung der Konstituierenden Versammlung am 6. Januar 1918 noch über einen beachtlichen Rückhalt in den Sowjets und im Zentralen Exekutivkomitee verfügt hatten. Ihr politischer Einfluss schien erst gestoppt, nachdem sie zusammen mit den Menschewiki im Juni 1918 aus diesen beiden Institutionen ausgeschlossen worden waren. Allerdings wuchs damit für die Bolschewiki die Gefahr einer neuen Form politischer Konfrontation.¹⁴² Sie fürchteten „eine Wiederholung der traurigen Erfahrung der Zarenherrschaft, die vor gut einem halben Jahrhundert mit wechselhaftem Erfolg gegen den revolutionären Untergrund gekämpft hatte. Und daher bemühten sich die Bolschewiki, nicht nur den revolutionären sozialistischen (und anarchistischen) Untergrund zu vernichten und zu kompromittieren“, sondern sich selbst als alleinige Erben „revolutionärer Subkultur zu inszenieren.“¹⁴³ Ende 1919 begann die ČK damit, Mitglieder der Partei der Sozialrevolutionäre systematisch zu verfolgen. Bereits Mitte des Jahres 1921 befanden sich alle aktiven Mitglieder des Zentralkomitees im Gefängnis, außer denen, die sich ins Exil hatten absetzen können.¹⁴⁴ Machtstrategische Überlegungen auf der einen, historische Erfahrungen auf der anderen Seite prägten folglich den Umgang der Machthaber
Vgl. zu diesem Problem Kotkin: The State – Is It Us?; Kuromiya: The Voices of the Dead, S. 6 – 12, S. 254 und Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action fraçaise. Der italienische Faschismus. Der Nationalsozialismus, München 1979, S. 54. Vgl. zum Problem der Verzerrung angesichts der Differenz von Interpretierendem und Interpretiertem etwa Thomas Nipperdey: Kann Geschichte objektiv sein?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 30 (1979), S. 329 – 342. Bekanntlich hatten die Wahlzettel teilweise nicht zwischen Rechten und Linken Sozialrevolutionären unterschieden und ein entsprechend verzerrtes Ergebnis gezeitigt. Vgl. zu den Wahlen Radkey: Russia Goes to the Polls und Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, S. 242– 247. Vgl. Werth: Ein Staat gegen sein Volk, S. 79, S. 98 und Oleg B. Mozochin: VČK – OGPU. Na zaščite ėkonomičeskoj bezopasnosti gosudarstva i v bor’be s terrorizmom, Moskau 2004, S. 9 – 38. Konstantin Nikolaevič Morozov: Sudebnyj process socialistov-revoljucionerov i tjuremnoe protivostojanie (1922 – 1926). Ėtika i taktika protivoborstva, Moskau 2005, S. 3. Vgl. Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 14.
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mit ihren Kontrahenten.¹⁴⁵ Der Prozess gegen die Sozialrevolutionäre erweist sich daher keinesfalls als Farce, die einige Zeitzeugen und Historiker in diesem ersten sowjetischen Schauprozess zu erkennen glauben, sondern als eine konsequente, wenn auch zynische Behandlung des politischen Gegners.¹⁴⁶ So liegt die besondere Bedeutung, so zuletzt der Historiker Konstantin Morozov, in dem Umstand, dass vor Gericht zwei Parteien aufeinandertrafen, die sich jeweils als wahre Repräsentanten der Revolution inszenierten und ihr Gegenüber als Abweichler, als Verräter erscheinen lassen wollten.¹⁴⁷ Auch wenn die Sozialrevolutionäre in den Jahren nach der Oktoberrevolution ein widersprüchliches Bild abgegeben und zumindest die Mitglieder des Zentralkomitees gegenüber den Machthabern immer wieder versöhnliche Töne angeschlagen hatten, sahen die Bolschewiki darin doch nur eine taktische Antwort auf ihre eigene unversöhnliche Politik.¹⁴⁸ In einem an alle Organisationen der Sozialrevolutionäre gerichteten Schreiben vom Juni 1921 war der Aufruf zu lesen, endlich die Reihen zu schließen und sich auf die eigenen Wurzeln der Konspiration, auf das Leben in der Illegalität zu besinnen. Vordergründig schien es um die Überwindung einer besonders schwierigen Phase der Partei zu gehen und um eine Demonstration der Stärke gegenüber Verrätern und Provokateuren im Inneren. Die damit einhergehende Beschwörung der ruhmreichen Vergangenheit mündete allerdings in die unzweideutige Formulierung, dass früher, im Kampf mit den Feinden, „die Macht der Partei selbst unter den schwersten Schlägen nicht nachgelassen“ und sich als Form der „Selbsterhaltung“ (samosochranenie) erwiesen habe.¹⁴⁹ Auf eben diese Weise hatte zuletzt auch Spiridonova nach dem Attentat auf Mirbach von
Vgl. dazu auch Figes: Tragödie eines Volkes, S. 682 f. Vgl. exemplarisch zur Bewertung K. N. Morozov: Sudebnyj process socialistov-revoljucionerov 1922 g. kak prolog sovetskich političeskich processov, in: S. A. Krasilʼnikov/Alan Bljum (Hg.), Sudebnye političeskie processy v SSSR i kommunističeskich stranach Evropy, Novosibirsk 2010, S. 21– 28. Vgl. Morozov: Sudebnyj process socialistov-revoljucionerov i tjuremnoe protivostojanie, S. 3. Vgl. zu den scheinbar versöhnlichen Tönen und der allmählichen Zuspitzung HIA, Nikolaevsky Collection, Box 8, Folder 12; Centralʼnoe Organizacionnoe Bjuro P. S.-R.: Vsem organizacijam partii socialistov-revoljucionerov. 8 ijunja 1921 g., in: N. D. Erofeev (Hg.), Partija socialistovrevoljucionerov. Dokumenty i materialy, Moskau 2000, S. 733 – 735. Vgl. ferner auch die Einschätzung von Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 15. Centralʼnoe Organizacionnoe Bjuro P. S.-R.: Vsem organizacijam partii socialistov-revoljucionerov. 8 ijunja 1921 g., in: Erofeev (Hg.), Partija socialistov-revoljucionerov, S. 733 – 735. Auf dem IX. Parteitag hatten die Sozialrevolutionäre offiziell Abstand vom bewaffneten Kampf genommen. Vgl. dazu 9-j Sovet Partii Socialistov-Revoljucionerov. Ijunʼ 1919, Moskau, in: Erofeev (Hg.), Partija socialistov-revoljucionerov, S. 455 – 467, hier: S. 461.
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Selbsterhaltung und Selbstschutz gesprochen und damit die eigenen Taten als Reaktion menschlichen Instinkts auf den politischen Aggressor stilisiert. Der letzte Parteitag der Sozialrevolutionäre vom Sommer 1921 hatte dann ausgesprochen wenig Raum für Spekulationen gelassen. Ohne die geläufigen Sprachspiele waren die Delegierten darauf eingeschworen worden, die Machthaber als Feinde des Volkes zu behandeln und den Sturz der bolschewistischen Ordnung vorzubereiten.¹⁵⁰ Auch wenn sich zehn Mitglieder des Zentralkomitees und damit die eigentliche Führung der Sozialrevolutionäre aus dem Gefängnis gegen diesen Vorstoß aussprachen, verdunkelten sich die Wolken noch, als der Verschwörer Semënov dem ZK der Bolschewiki Anfang Dezember 1921 das Manuskript ›Militär- und Kampfarbeit der Partei der Sozialrevolutionäre in den Jahren 1917– 1918‹ zuspielte, mit dem die vermutete Verstrickung des Zentralkomitees der Sozialrevolutionäre in das Attentat auf Lenin ihre vermeintliche Bestätigung fand.¹⁵¹ Niemand geringeres als der aufstrebende Stalin machte sich nun dafür stark, im Politbüro eine Diskussion über die neuen Erkenntnisse und ihre mögliche Verhandlung vor Gericht zu führen.¹⁵² Rasch fügte sich das Dokument in den Kanon bolschewistischer Abwehrreflexe ein. Und dies umso mehr, als sich sein Verfasser bereits im Alter von nur 14 Jahren der verschwörerischen Tätigkeit verschrieben und bald darauf in engem Austausch mit zwei anderen Paradiesvögeln der Revolution, mit Azef und Savinkov, gestanden hatte. Nach der Oktoberrevolution sollte er die Bolschewiki bekämpfen und hatte eigener Aussage zufolge als Verbindungsmann zwischen dem Zentralkomitee der Sozialrevolutionäre und den Akteuren fungiert, die die Attentate auf Volodarskij, Urickij und Lenin verübt und viele weitere hatten ausführen wollen.¹⁵³ Im Herbst 1918 wurde Semënov verhaftet; ein Jahr später schwor er seinem bisherigen Werdegang ab, wurde amnestiert und stand seither vermutlich im Dienst des sowjetischen Geheimdienstes. Anfang 1921 war er auf Empfehlung von Avelʼ Enukidze in die Kommunistische Partei aufgenommen
Vgl. Rezoljucii X Soveta PSR, in: Erofeev (Hg.), Partija socialistov-revoljucionerov, S. 770 – 785. Vgl. die Auszüge, die Dzeržinskij an Lenin und Trotzki sandte. RGASPI, Fond 76, op. 3, d. 226, ll. 6 – 10. Vgl. ferner Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 16. Der Kommentar Stalins wird zitiert nach Litvin: Azef Vtoroj, S. 80 – 84. Die Broschüre Semënovs erschien erstmals Ende Februar 1922 unter dem Titel ›Voennaja i boevaja rabota partii socialistov-revoljucionerov za 1917– 1918 gg.‹ in Berlin und hatte eine Auflage von 20.000 Exemplaren. Der Urickij-Attentäter Kannegiser hatte allerdings keinerlei Verbindung zu der Gruppe um Semënov und daher beschränkten sich dessen Ausführungen lediglich auf die Verfolgung des Petrograder Geheimdienstchefs und die entsprechenden Attentatspläne. Vgl. dazu Litvin: Azef Vtoroj.
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worden und hatte nun dem Zentralkomitee das erwähnte Pamphlet zukommen lassen.¹⁵⁴ Ende Dezember 1921 legte Geheimdienstchef Dzeržinskij dem Plenum des ZK seine Einschätzung des Falles vor. Kurz darauf wurde ein Gerichtsprozess angeregt und eine Kommission – bestehend aus Dzeržinskij, Kamenev und Stalin – damit beauftragt, den richtigen Moment für eine öffentliche Ankündigung des Verfahrens zu bestimmen.¹⁵⁵ Am 28. Februar 1922 erschien auf der ersten Seite der Pravda ein Artikel über die ›Arbeit‹ der Sozialrevolutionäre.¹⁵⁶ Darin wurde die sowjetische Öffentlichkeit nicht nur über den Semënov-Bericht in Kenntnis gesetzt, sondern erfuhr auch von dem gegen die Sozialrevolutionäre angestrengten Gerichtsverfahren. Gleichsam als Schlussakkord war dem Artikel noch die Aussage einer gewissen Konopleva beigefügt, die ebenfalls zu den Sozialrevolutionären und dem terroristischen Umfeld Semënovs gehört hatte und nun entschieden dessen Aussagen bekräftigte.¹⁵⁷ Bereits einige Tage zuvor waren aus dem Butyrka-Gefängnis die inhaftierten Sozialrevolutionäre in die Lubjanka verlegt worden. Semënov und Konopleva sollten zwar offiziell als Angeklagte vor Gericht auftreten, übernahmen jedoch fortan die Rolle büßender Kronzeugen. Auch wenn dieser Umstand eine Gerichtsfarce nahelegt, lässt sich mit dem Historiker Scott Smith feststellen, dass es sich bei den Aussagen der Kronzeugen nicht ausschließlich um plumpe Übertreibungen und Lügen handelte und sie an zentralen Punkten wohl der Wahrheit entsprachen.¹⁵⁸ Zumindest hatten Mitglieder des ZK der Sozialrevolutionäre Personen wie Semënov in den eigenen Reihen geduldet, obwohl sie über deren Treiben unterrichtet gewesen waren. Hinzu kam, dass die Renegaten womöglich nicht einmal ausschließlich instrumentell, im Sinne des Selbstschutzes agierten,
Vgl. S. A. Krasilʼnikov/K. N. Morozov/I. V. Čubykin (Hg.): Sudebnyj process nad socialistamirevoljucionerami (ijunʼ – avgust 1922 g.). Podgotovka. Provedenie. Itogi, Moskau 2002, S. 910; Litvin: Azef Vtoroj und Smith: Who Shot Lenin? Vgl. Večernego zasedanija plenuma CK RKP (b): Iz protokola No 14, in: Ž. G. Adibekova et al. (Hg.), V. I. Lenin i VČK, Moskau 1987, S. 518. Die Ermittlungen während der Vorbereitung des Prozesses führte Jakov Agranov, der in den Jahren 1934– 1937 zum stellvertretenden Kommissar des Inneren aufsteigen sollte, bis er 1938 selbst Opfer des Terrors wurde. Vgl. ›Rabota‹ ėserov. Ot gos. političeskogo Upravlenija, in: Pravda (28.02.1922), S. 1. Vgl. Morozov: Sudebnyj process socialistov-revoljucionerov i tjuremnoe protivostojanie, S. 362– 370 und Smith: Captives of Revolution, S. 239 – 277. Vgl. exemplarisch die Stellungsnahme von Michail Tislenko HIA, Nikolaevsky Collection, Box 8, Folder 19 und ferner Evgenija Ratner: Reči podsudimych tovariščej, in: Erofeev (Hg.), Partija socialistov-revoljucionerov, S. 855 – 863. Vgl. ferner Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 29 f., S. 103 f. und Smith: Captives of Revolution, S. 244, S. 251 f. Exemplarisch die andere Interpretation von Lyandres: The 1918 Attempt.
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sondern, vom Gefühl der Reue erfüllt, tatsächlich auf eine Rückkehr in die revolutionäre Gemeinschaft hofften.¹⁵⁹ Dennoch bleibt natürlich die Behauptung des sowjetischen Historikers David Golinkov absurd, es habe sich bei dem Verfahren geradezu um ein Glanzstück rechtsstaatlicher Praxis gehandelt.¹⁶⁰ Während des vom 8. Juni bis 7. August 1922 in Moskau stattfindenden Schauprozesses lieferten sich die Matadore der Revolution letztmalig öffentlich einen vorgezeichneten, aber harten politischen Schlagabtausch. Dabei bestanden die insgesamt 34 Angeklagten – ursprünglich hatte eine Liste mit 177 Beschuldigten vorgelegen – aus zwei Gruppen. Zur ersten Gruppe gehörten 12 Mitglieder des Zentralkomitees, darunter Abram Goc, Evgenija Ratner und Dmitrij Donskoj, und zehn weitere aktive Parteimitglieder. Sie wurden als eigentliche Auftraggeber der Konterrevolution von den Machthabern in Szene gesetzt, sollten die politische Bühne jedoch durchaus für sich zu nutzen wissen. Zur zweiten Gruppe gehörten ebenfalls 12 Angeklagte, darunter Semënov und Konopleva, deren Geständnis, der terroristisch-verschwörerische Arm des ZK zu sein, von ihren Mitangeklagten noch bestärkt wurde. Auf diese Weise entstand ein Netz vermeintlicher Evidenz, das die erste Gruppe zunehmend in Bedrängnis brachte. Zur Verteidigung der ersten Gruppe waren – neben den russischen Verteidigern Nikolaj Muravʼëv und Aleksandr Tager – auch internationale Vertreter bestellt worden, unter ihnen der ehemalige Belgische Justizminister und Vorsitzende der II. Internationale, Émile Vandervelde, und Theodor Liebknecht, Bruder des berühmten Karl Liebknecht. Zur Verteidigung der zweiten Gruppe standen unter anderem Bucharin und Tomskij bereit.¹⁶¹ Die staatliche Anklage wurde von Nikolaj Krylenko, dem Vorsitzenden des Revolutionstribunals, Anatolij Lunačarskij und Michail Pokrovskij vertreten. Präsident des Gerichtsverfahrens war Georgij Pjatakov.¹⁶² Insgesamt vier Verbrechen legte die Anklage den Sozialrevolutionä-
Vgl. zu diesem Umstand das Schreiben Semënovs an das ZK der Bolschewiki. RGASPI, Fond 17, op. 84, d. 45, ll. 8 – 10 und Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 126 f. Diese Behauptung stellte er Ende 1970 auf.Vgl. Golinkov: Krušenie antisovetskogo podpolʼja v SSSR. Kn. 2, S. 211. Dieser Umstand sollte Bucharin während des Februar-März-Plenums 1937 zum Nachteil gereichen. Vgl. etwa RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 579, ll. 99 – 162. Zum Aufbau des Verfahrens immer noch klassisch Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 47– 82. Vgl. ferner S. A. Krasilʼnikov/K. N. Morozov: Predislovie, in: Krasilʼnikov/Morozov/ Čubykin (Hg.), Sudebnyj process nad socialistami-revoljucionerami (ijun’–avgust 1922 g.), Moskau 2002, hier: S. 25 – 36. Die internationalen Verteidiger der ersten Gruppe sollten knapp eine Woche nach Eröffnung des Verfahrens ihr Mandat niederlegen, da ihnen eine angemessene Verteidigung unmöglich schien. Die Angeklagten der ersten Gruppe verabschiedeten ihre Verteidiger am 14. Juni unter dem Gesang der Internationale; fünf Tage später verließen diese Russland. Gut eine
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ren zur Last. Dabei führte sie zunächst bewaffnete Aufstände, die Kooperation mit der internationalen kapitalistischen Gemeinschaft und Unterstützung der weißen Bewegung im Bürgerkrieg an, um die Angeklagten sodann, gleichsam als Crescendo, dem Vorwurf auszusetzen, terroristische Akte gegenüber Vertretern der Sowjetmacht organisiert und ausgeführt zu haben.¹⁶³ Für die Beschuldigten war die Ausgangslage von Beginn an prekär. Natürlich stand ihre Verurteilung im Grunde genommen fest, da in einem Schauprozess schließlich auf rechtsstaatliche Grundsätze keine Rücksicht genommen werden kann. Aufgrund der Suspendierung liberaler Rechtspraxis jedoch darauf zu schließen, dass das gesamte Verfahren und insbesondere die Urteilsbegründung jeder Grundlage entbehrten, wäre ebenso irreführend.¹⁶⁴ Mithin erwies sich der Handlungsspielraum der Angeklagten als gar nicht einmal so aussichtslos, wie es große Teile der heftig zerstrittenen internationalen sozialistischen Gemeinschaft – darunter Teile der II. Internationale, der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien und der Komintern – glauben machen wollten, um so zumindest aus der Distanz die Bolschewiki unter Druck zu setzen.¹⁶⁵ Bereits vor Prozessbeginn ließen die Angeklagten der ersten Gruppe ihre Verteidiger wissen, dass sie den Prozess nicht zu ihrer Verteidigung zu nutzen gedachten, da sie den Bolschewiki ohnehin das Recht absprachen, juristisch über ihren Fall zu befinden. Stattdessen sollte aus dem Prozess eine Arena politischer Konfrontation werden.¹⁶⁶ Wie ihre Vorgänger im späten Zarenreich waren die Angeklagten mit dem Prinzip des umgekehrten Schauprozesses bestens vertraut und so bezogen sie sich nicht unmittelbar auf die ihnen zur Last gelegten Verbrechen, sondern warfen ihre persönliche und die Geschichte der Partei, häufig das gesamte revolutionäre Erbe in die Waagschale.¹⁶⁷ Insofern wurde der Prozess zu einer Geschichtsstunde, während derer die Angeklagten den Interpreten der neuen Ordnung ihren Gehorsam allein schon durch demonstratives Sitzenbleiben
Woche später legten auch die russischen Verteidiger um Muravʼëv ihr Mandat nieder. Fortan verteidigten sich die Angeklagten der ersten Gruppe selbst. Vgl.Verchovnyj Tribunal VCIK (Hg.): Obvinitelʼnoe zaključenie po delu Centralʼnogo Komiteta i otdel’nych členov inych organizacij partii s.-r., Moskau 1922, S. 115 – 125. Dagegen wird die klassische Sicht etwa vertreten von Morozov: Sudebnyj process socialistovrevoljucionerov 1922 g. kak prolog sovetskich političeskich processov, in: Krasilʼnikov/Alan Bljum (Hg.), Sudebnye političeskie processy v SSSR, S. 21– 28 oder Werth: Ein Staat gegen sein Volk. Die vorzüglichen Arbeiten des Historikers Scott B. Smith sind eine Ausnahme. Vgl. zum internationalen Druck exemplarisch HIA, Nikolaevsky Collection, Box 8, Folder 19. Vgl. Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 57. Vgl. Moskovskij process socialistov-revoljucionerov. Reči podsudimych tovariščej, in: Erofeev (Hg.), Partija socialistov-revoljucionerov, S. 855 – 921.
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verweigerten. Auch in ihren Reden suchten sie der machtpolitischen Überlegenheit der Bolschewiki mit intellektueller Raffinesse zu begegnen, um so einen Kampf David gegen Goliath zu inszenieren. Da sich die ZK-Mitglieder der Sozialrevolutionäre keinesfalls bereit zeigten, eine Beteiligung an den terroristischen Akten des Jahres 1918 zu bekennen, und somit der zentrale Anklagepunkt weiterhin auf Vermutungen der Machthaber und den Geständnissen von Renegaten fußte, sollte nicht zufällig eine inszenierte Vergangenheitsbewältigung für Klärung sorgen. Durch die Beschwörung revolutionärer Tradition und die damit ergriffene Möglichkeit, sich als legitime Erben zu präsentieren, kämpften die Angeklagten einerseits um eine ideelle Rehabilitation. Andererseits wurde gerade dadurch der Verdacht einer erneuten Phase terroristischer Aktivität gestreut, von der etwa Goc oder Ratner nicht abzuraten schienen.¹⁶⁸ Daher handelte es sich an diesem Punkt des Verfahrens nicht allein um einen ideologischen Schlagabtausch. Von mindestens ebenso großer Bedeutung war schließlich die Tatsache, dass die Angeklagten und die Machthaber nicht zuletzt aus eigener Erfahrung wussten, wie außerordentlich effektiv Verschwörung und Attentat als Waffen der politisch Schwachen sein konnten.¹⁶⁹ So wurde ein von Lunačarskij unter dem Titel Byvšie Ljudi (Ehemalige) herausgebrachtes Pamphlet, in dem die Sozialrevolutionäre als degenerierter Rest einer heroischen Vergangenheit desavouiert wurden, zu einem wesentlichen Bezugspunkt der Prozessparteien.¹⁷⁰ Als Symptome des Niedergangs beschrieb Lunačarskij die Spaltungen und Verwerfungen, die Atmosphäre einer „inneren Konspiration“ und des Verrats, wobei er das Phänomen Azef, die Azefovščina, als signifikanteste Verfallserscheinung mit genüsslicher Verachtung ausbreitete.¹⁷¹ Anschließend verknüpfte Lunačarskij diese Erblast mit der Gegenwart. Während nämlich damals Burcev mit dem Tode bedroht worden sei, sollten sich seine Anschuldigungen gegenüber Azef als falsch erweisen oder das ZK nicht überzeugen, versuchten die Sozialrevolutionäre nun doch auch Semënov und Konopleva aufgrund ihrer Enthüllungen einzuschüchtern.¹⁷² Warum also – so die bescheiden versteckte Botschaft – sollte eine solche Partei, die das eigene Erbe
Vgl. Abram Goc: Reči podsudimych tovariščej, in: Erofeev (Hg.), Partija socialistov-revoljucionerov, S. 863 – 874, hier: S. 872, S. 874.Vgl. ferner HIA, Nicolaevsky Collection, Box 629, Folder 2. Vgl. Figes: Tragödie eines Volkes, S. 682 f. Inhaltlich war die Schrift Lunačarskijs von Bucharin und Krylenko unterstützt worden, also Kollegen der staatlichen Anklage. Vgl. Anatolij Lunačarskij: Byvšie ljudi. Očerk istorii partii ėsėrov, Moskau 1922. Vgl. ferner Smith: Captives of Revolution, S. 245. Vgl. Lunačarskij: Byvšie ljudi, S. 13 – 20, S. 78 – 81. Vgl. ferner zum Thema Agent Provocateur allgemein und zu Azef im Speziellen HIA, Nicolaevsky Collection, Box 633, Folder 2. Vgl. Lunačarskij: Byvšie ljudi, Moskau 1922, S. 14– 17.
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Das Phantom der Souveränität
längst verspielt hatte, nicht abermals Verrat begangen und Verschwörer ausgesandt haben und erneut ein Bekenntnis bewusst vermeiden? Evgenija Ratner griff die Ausführungen Lunačarskijs direkt auf und bescheinigte ihm mit einem Selbstbewusstsein, das in späteren Schauprozessen unvorstellbar sein sollte, eine völlige Unkenntnis der wahren Lehre des Sozialismus. Dieser Kampfansage schlossen sich Bemerkungen an, die sich zumindest als indirektes Geständnis lesen lassen. So spricht Ratner zunächst von der Arbeit der Sozialrevolutionäre im Zeitalter des Umbruchs, von Phasen der Legalität und Phasen der Illegalität. Dabei sei „die lebendige Idee des Kampfes stets die Basis dieser Partei gewesen, die notwendige Voraussetzung eines gesunden Zustands der Partei, die ohne diese Aufgabe nicht existieren kann.“ Und sie ergänzte, dass während eines Lebens im Untergrund der Meinungsaustausch schwer aufrechtzuerhalten gewesen sei und die Parteiführung daher eine geradezu zwangsläufig zersplitterte Organisation hätte leiten müssen.¹⁷³ Damit räumte Ratner nicht nur den Zerfall der Sozialrevolutionäre ein, wobei sie die Politik der Machthaber und insbesondere den Geheimdienst dafür verantwortlich machte, sondern ihre Ausführungen deuteten auch an, dass die Führung der Sozialrevolutionäre eine zumindest indirekte Beteiligung an den Attentaten des Sommers 1918 nicht ausschloss. Auch in den Redebeiträgen des ZK-Mitglieds Goc gab sich die revolutionäre Herkunft zweifelsfrei zu erkennen. So entgegnete er etwa auf den Einwand des Gerichtspräsidenten, er möge in den Ausführungen doch nicht allzu weit auszuholen, nur lapidar, dass er ja schon aufhöre; fügte allerdings sogleich hinzu: „Ich sehe bloß, dass meine Worte bei Krylenko ein Gelächter erzeugt haben. Dieses Lachen bringt uns allerdings ebenso wenig in Verlegenheit wie die Drohungen, erschossen zu werden.“ Und dann hob Goc noch einmal an und formulierte gleichsam sein revolutionäres Testament: „Ich weiß nicht, was das Schicksal für uns bereithält – das Leben oder den Tod. Wenn den Tod – dann sterben wir eben wie Revolutionäre, dem Tod furchtlos in die Augen blickend; wenn das Leben – dann werden wir unter Aufwendung aller Kraft im Namen der Arbeiterklasse wie Sozialisten weiterkämpfen.“¹⁷⁴ An einer Verurteilung zum Tode zweifelte im Grunde genommen keiner der Angeklagten der ersten Gruppe. Daher nutzten sie ihre letzten Reden in erster Linie dazu, den moralischen Bankrott, den Lunačar-
Vgl. Evgenija Ratner: Reči podsudimych tovariščej, in: Erofeev (Hg.), Partija socialistov-revoljucionerov, S. 855 – 863, hier: S. 855 f., Zitat: S. 859 f. Abram Goc: Reči podsudimych tovariščej, in: Erofeev (Hg.), Partija socialistov-revoljucionerov, S. 863 – 874, hier: S. 872, S. 874. Vgl. ferner HIA, Nicolaevsky Collection, Box 629, Folder 2.
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skij ihnen in seiner Schrift wortreich zur Last gelegt hatte, nun den Anklägern selbst vorzuwerfen. Die geschlagenen Sozialrevolutionäre suchten folglich die politische Überlegenheit des Gegners mit Fragen nach der Moral zu konterkarieren.¹⁷⁵ Als Personifikation des letzten Gefechts kann der Fall Ratner gelten; trat mit ihm doch das Dilemma zweifelhafter Glaubwürdigkeit als Familiendrama in Erscheinung. Der Bruder Ratners nämlich, ein gewisser Grigorij Ratner, saß als Angeklagter der zweiten Gruppe vor Gericht und bezichtigte nun die eigene Schwester der Lüge. Diese öffentliche Aufkündigung jeglicher Bindung gipfelte schließlich in dem Satz, dass man in der Lage sein sollte, „die eigene Schwester aufs Schafott zu schicken, wenn es die Revolution erfordert.“¹⁷⁶ Angesichts dieser Entwicklung spiegelte sich in den letzten Worten der Schwester noch einmal die ganze Dramatik der 48 Verhandlungstage. So sprach sie, auf den Kronzeugen Semënov anspielend, davon, dass der gesamte Prozess doch eigentlich dem durchschaubaren politischen Grundsatz gefolgt sei, demzufolge der „Verräter der Verräter ein ehrlicher Mensch“ sei. Und sie fuhr fort, den Anklägern zu attestieren, dass diese „merkwürdige algebraische Moral“ sich natürlich als nicht weniger erfolgreich erwiesen habe als die mathematische Regel, der zufolge Minus mal Minus plus ergebe.¹⁷⁷ Obgleich die Bolschewiki alles daran gesetzt hatten, den Prozess in ihrem Sinne zu popularisieren, Massenkundgebungen initiiert und für ausreichend Besucher und Zeitungsberichte gesorgt hatten, fiel der Erfolg am Ende zweifelhaft aus. Daher drängte das Politbüro Ende Juli 1922 auf ein rasches Ende des Spektakels. Am 7. August wurden die Angeklagten als Volksfeinde (vragi naroda) schuldig gesprochen.¹⁷⁸ Von den Beschuldigten der ersten Gruppe wurden 12,
Vgl. Evgenija Ratner: Poslednee slovo podsudimych, in: Erofeev (Hg.), Partija socialistov-revoljucionerov, S. 914– 919, hier: S. 917. Vgl. auch die Passage zur Realpolitik bei Machiavelli: Der Fürst, S. 78. Zitiert nach Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 81. Vgl. Evgenija Ratner: Poslednee slovo podsudimych, in: Erofeev (Hg.), Partija socialistov-revoljucionerov, S. 914– 919, hier: S. 917. Vgl. Morozov: Sudebnyj process socialistov-revoljucionerov i tjuremnoe protivostojanie, S. 3 – 22, S. 332– 361. Vgl. ferner zur Propagandaschlacht anlässlich des Prozesses Cassiday: The Enemy on Trial, S. 42– 50 und Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 62– 75, S. 141– 155. Im Gerichtssaal fanden etwa 1500 Personen Platz. Das Gericht tagte sechs Tage die Woche, einmal von 12 bis 17 Uhr und dann noch einmal von etwa 19 bis 24 Uhr (damit auch die Arbeiter an den Sitzungen teilnehmen könnten, so die Begründung). Am 20. Juni, dem vierten Jahrestag der Ermordung Volodarskijs, fanden u. a. in Moskau Kundgebungen statt, an denen offiziellen Angaben zufolge 300.000 Menschen teilnahmen. Während dieser Veranstaltungen wurde auch Milde gegenüber den Reumütigen, also den Angeklagten der zweiten Gruppe gefordert.
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darunter acht ZK-Mitglieder, zum Tode verurteilt. Auf die anderen zehn Angeklagten der ersten Gruppen warteten Gefängnisstrafen zwischen zwei und zehn Jahren. Von den Angeklagten der zweiten Gruppe wurden Semënov und Konopleva zum Tode verurteilt, während acht weitere Gefängnisstrafen zwischen zehn und zwei Jahren erhielten und zwei Angeklagte sogar freigesprochen wurden. Einen Tag später bestätigte das Präsidium des Zentralen Exekutivkomitees im Grundsatz das Urteil, hob allerdings die Vollstreckung der Todesstrafe für die 12 Angeklagten der ersten Gruppe auf und stellte Gefängnisstrafen unter der Voraussetzung in Aussicht, dass sie dem Kampf abschwören würden. Ferner kam das Präsidium dem Gesuch des Gerichts nach, alle Angeklagten der zweiten Gruppe zu begnadigen. Mit dieser Geste sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass diese Personen sich reumütig und der neuen Ordnung ergeben gezeigt hatten.¹⁷⁹ Trotz der Wendung sollte von den Angeklagten der ersten Gruppe nur ein einziger eines natürlichen Todes sterben. Arkadij Alʼtovskij kehrte 1955 nach Jahrzehnten Lagerhaft an der Kolyma heim und starb 1975.¹⁸⁰ Das Attentat auf Lenin vom August 1918 markiert einen Wendepunkt sowjetischer Geschichte. Mit ihm begann nicht nur die öffentlich inszenierte Durchsetzung bolschewistischer Alleinherrschaft, das ambivalente Nebeneinander von vermeintlich berechenbaren Verfahren und Rachefeldzügen gegenüber tatsächlichen oder möglichen Gegnern, sondern auch der Prozess des sich verflüchtigenden, für den Machthaber immer schwerer identifizierbaren Feindes, der den Exzess späterer Jahre prädisponierte. So hatte das Zentrale Exekutivkomitee bereits drei Tage nach dem Attentat auf Lenin – und drei Tage vor dem Dekret über den ›Roten Terror‹ – einen Beschluss gefasst, in dem als gleichsam »normativer Akt« (Oleg Mozochin) der Tod durch Erschießen festgeschrieben worden war.¹⁸¹ Im ersten sowjetischen Strafgesetzbuch von 1922, das nur wenige Tage vor dem Prozess gegen die Sozialrevolutionäre verabschiedet worden, dort indes dennoch zur Anwendung gekommen war, wurden terroristische Akte erstmals als Straftatbestand unter Artikel 64 gefasst. Im neuen Strafgesetzbuch von 1926 sollte dieser Artikel dann zum berüchtigten Artikel 58, Absatz 8 werden.¹⁸² Die Unschärfe, die den Phänomenen Terrorismus und politische Verschwörung
Vgl. Litvin: Azef Vtoroj. Vgl. zur Verfolgung und Überwachung der Sozialrevolutionäre Library of Congress, Volkogonov Papers, Box 3, Folder 6 und 7; Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 119 – 140 und Smith: Captives of Revolution, S. 259 f. Vgl. Mozochin: VČK – OGPU, S. 331. Das erste sowjetische Strafgesetzbuch wurde am 1. Juni 1922 verabschiedet. Vgl. zur sowjetischen Rechtspraxis Peter H. Solomon: Soviet Criminal Justice under Stalin, Cambridge 1996 und Louise I. Shelley: Policing Soviet Society. The Evolution of State Control, London/New York 1996.
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stets anhaftet, begünstigte auch damals ebenso unscharfe juristische Maßnahmen. Auch wenn die Sozialrevolutionäre und die sozialistische Weltöffentlichkeit die Bolschewiki für ihre Rechtspraxis kritisierten, hätten sich die Streitparteien doch vermutlich schnell darauf verständigen können, dass der rechtspositivistische Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege als nichts anderes denn als überkommener Rest einer bourgeoisen Weltordnung anzusehen sei und daher in einem revolutionären Zeitalter völlig neue Mechanismen zur Anwendung zu kommen hätten.¹⁸³ Entsprechend wurde Anfang 1919 auch die vom Zentralen Exekutivkomitee erlassene Amnestie gegenüber all jenen, die ihren Kampf gegen die Sowjetmacht zu beenden bereit gewesen waren, stillschweigend kassiert.¹⁸⁴ An vielen weiteren Beispielen ließe sich zeigen, dass das Recht seit der Oktoberrevolution allein als ›Situationsrecht‹ noch eine Berechtigung hatte.¹⁸⁵ Da nun die Sozialrevolutionäre bereits in der Vergangenheit selten mit einer Stimme gesprochen hatten und diese Sicht vor Gericht sogar von der Führung bestätigt worden war, mag es den Bolschewiki erst recht sinnvoll erschienen sein, diese Partei auszuschalten, um die Unberechenbarkeit einer solchen Kraft und die Gefahr ihrer Doppelzüngigkeit endgültig einzudämmen.¹⁸⁶ Insofern hat auch Oliver Radkey davon gesprochen, dass die Sozialrevolutionäre vor allem des Verwirrspiels und nicht so sehr einer Verschwörung für schuldig befunden worden waren.¹⁸⁷ In vielen Betrachtungen des ersten sowjetischen Schauprozesses wird das Problem eines unzulässigen Rückschlusses erkennbar. So folgte die Forschung in der Regel, auch wenn sie es nicht offen bekannte, dem Grundsatz post hoc ergo propter hoc und projizierte insbesondere die Erfahrungen des Stalinismus auf
Vgl. Krasilʼnikov/Morozov/Čubykin (Hg.): Sudebnyj process nad socialistami-revoljucionerami (ijunʼ – avgust 1922 g.), S. 305 f., S. 314– 318 und Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 131– 134. Vgl. Litvin: Vvedenie, in: Vinogradov et al. (Hg.), Pravoėserovskij političeskij process v Moskve, Moskau 2011, S. 5 – 20, hier: S. 17 f. und Dmitrij Kurskij: K processu s.-r., in: Izvestija (19.04. 1922), S. 2. Vgl. Schmitt: Politische Theologie, S. 19. Zu Schmitt und den Bolschewiki vgl. Bolsinger: The Autonomy of the Political. Vgl. ferner zu der Behauptung, die Bolschewiki hätten mit der Rechtsförmlichkeit des Verfahrens gehadert, Morozov: Sudebnyj process socialistov-revoljucionerov i tjuremnoe protivostojanie, S. 162 und Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 40 f. Die Anklage hatte von „schweigender Sanktionierung“ und „offizieller Verneinung“ terroristischer Akte gesprochen. Vgl. Verchovnyj Tribunal VCIK (Hg.): Obvinitelʼnoe zaključenie po delu Centralʼnogo Komiteta i otdelʼnych členov inych organizacij partii s.-r., Moskau 1922, S. 88 f. Vgl. Oliver H. Radkey: The Unknown Civil War in Soviet Russia. A Study of the Green Movement in the Tambov Region, 1920 – 1921, Stanford 1976, S. 198.
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die bolschewistische Frühphase.¹⁸⁸ Natürlich waren jeweils liberale rechtsstaatliche Prinzipien durch die ›revolutionäre Gesetzlichkeit‹ aufgehoben. Die Tatsache, dass ein Urteil im Rahmen einer solchen Rechtspraxis zustande gekommen ist, entzieht dem Ergebnis allerdings nicht per se jegliche Plausibilität. Auch wenn die Bolschewiki in ihren politischen Gegnern letztlich nichts anderes erkennen wollten als getarnte Terroristen, sollte diese durchaus schematische Weltdeutung nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Führung der Sozialrevolutionäre erst als geschwächte Instanz und als später Angeklagte darauf pochte, der Politik der Verschwörung längst den Rücken gekehrt und keinerlei Verbindung zu den terroristischen Attentaten des Jahres 1918 zu haben.¹⁸⁹ Die Niederlage, die die Bolschewiki bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung hatten erleiden müssen, war mit dem Prozess gegen die Sozialrevolutionäre einer erinnerungspolitischen Neuinterpretation unterzogen worden. Der Gegner war noch einmal auf der großen politischen Bühne erschienen und gleichsam als beinahe ebenbürtiger Kontrahent inszeniert worden. Gleichzeitig zelebrierten die Bolschewiki ihre eigene Macht dadurch, dass sie scheinbar problemlos mit ihnen fertig zu werden vermochten. Zwar war der Prozess sicherlich kein rechtsstaatliches Glanzstück und der Umstand, dass die Anklage im Wesentlichen auf den Geständnissen zweier Überläufer beruhte, den Beichten von Semënov und Konopleva, mag diesem Eindruck nicht gerade überzeugend entgegenzuwirken. Allerdings stand zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens in Zweifel, dass die Führung der Sozialrevolutionäre über die terroristischen Aktivitäten einiger ihrer Mitglieder sehr wohl im Bilde war.¹⁹⁰ Und auch wenn sie die Taten nicht sanktioniert hatte, so hatte sie dennoch ihre Anzeigepflicht versäumt, die im Falle solcher Kapitalverbrechen sogar in liberalen Rechtsstaaten gilt. Angesichts dessen ist Konoplevas Bemerkung gegenüber ihren ehemaligen Genossen, dass
Klassisch in diesem Zusammenhang die Interpretation von Solschenizyn: Archipel GULAG 1, S. 344– 396. Vgl. ferner Krasilʼnikov/Bljum (Hg.): Sudebnye političeskie processy v SSSR i kommunističeskich stranach Evropy. Sravnitel’nyj analiz mechanizmov i praktik provedenija. Eine wichtige Ausnahme ist Smith: Captives of Revolution, S. 276 passim. Zu einem im Ergebnis vergleichbaren Schluss ist auch der Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation in den 2000er Jahren gekommen, als er sich nicht bereit zeigte, die Sozialrevolutionäre zu rehabilitieren. Vgl. dazu Krasilʼnikov/Morozov: Predislovie, in: Krasilʼnikov/Morozov/Čubykin (Hg.), Sudebnyj process nad socialistami-revoljucionerami (ijunʼ – avgust 1922 g.), Moskau 2002, S. 21 f. Auch wenn Jansen diese Ausführungen wohl eher nicht teilen würde, behandelt er den Umstand der Mitwisserschaft dennoch eindeutig. Vgl. Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 83 – 104. Vgl. ferner S. V. Žuravlev: Čelovek revoljucionnoj ėpochi. Sud’ba ėsera-terrorista G.I. Semenov (1891 – 1937), in: Otečestvennaja istorija 3 (2000), S. 87– 105 und Smith: Captives of Revolution, S. 239 – 277.
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„terroristische Akte den physischen, Verrat jedoch den moralischen Tod“ nach sich zöge, durchaus interessant.¹⁹¹ Von diesem Gedanken nämlich sahen sich wohl beide Seiten angesprochen, sowohl die Renegaten als auch die jede Schuld von sich weisende Führung der Sozialrevolutionäre. Seit Peter I. waren Untertanen, selbst Priester, bei Kenntnis von Verbrechen gegen die Staatsgewalt zur Anzeige verpflichtet. Auch das sowjetische Strafgesetzbuch von 1926 sollte explizit fordern, dass Strafen zu verhängen seien, wenn „hinreichend bekannte bevorstehende oder vollzogene konterrevolutionäre Verbrechen“ nicht mitgeteilt würden.¹⁹² Mit dem Prozess gegen die Sozialrevolutionäre war endgültig ein Topos etabliert worden, der die nächsten Jahrzehnte prägen sollte: Stets waren auch dort Verbindungen zu suchen, wo auf den ersten Blick überhaupt keine bestanden, denn weder der Zufall noch die Welt, wie sie eingerichtet schien, konnten als Kategorien sowjetischer Herrschaftspraxis gelten. Der Schauprozess war somit auch das Ergebnis einer machtpolitischen Prognose angesichts potenzieller Gefahr. Da offener Widerspruch nun ausgeschlossen worden war, wurde die Antizipation von Gefahren aus dem Untergrund gleichsam auf Dauer gestellt.¹⁹³ Teils waren sich die Machthaber dieser Dynamik bewusst. In einem geheimen Zirkular hatte der Geheimdienst bereits 1920 davor gewarnt, dass man mit der eingeschlagenen Politik die Gefahr befördere, sich Angriffen aus dem Untergrund auszusetzen und die Kontrolle über die politische Opposition zu verlieren.¹⁹⁴ Diese Einschätzung war auch im Prozess von 1922 von einer Angeklagten unterstrichen worden, als sie davon sprach, dass ihnen die Politik letztlich nichts anderes übriggelassen habe, als sich dem Regime aus dem Untergrund entgegenzustellen.¹⁹⁵ Der erste sowjetische Schauprozess war nicht nur die Antwort auf offenen Widerstand und das Lenin-Attentat vom Sommer 1918, sondern er markierte auch den Weg hin zur Gefahr des unsichtbaren Feindes, den etwa der Lyriker Demʼjan Bednyj – der der Erschießung Kaplans beigewohnt hatte – in einem ›Dem Führer‹ gewidmeten Gedicht antizipiert hatte: „Uns drohte täglich die
Zitiert nach Morozov: Sudebnyj process socialistov-revoljucionerov i tjuremnoe protivostojanie, S. 364. Vgl. Oleg Kharkhordin: The Collective and the Individual in Russia. A Study of Practices, Berkeley 1999, S. 7 und Ministerstvo Justicii RSFSR (Hg.): Ugolovnyj kodeks RSFSR 1926 (22 nojabrja 1926 g. s 1 janvarja 1927 g.), Moskau 1950, § 58, Abs. 12, S. 43. Vgl. dazu das offene Bekenntnis erklärter Feinde der neuen Ordnung und die bolschewistischen Geheimdienstberichte in Library of Congress, Volkogonov Papers, Box 3, Folder 7. Vgl. Werth: Ein Staat gegen sein Volk, S. 99, S. 151. Vgl. Evgenija Ratner: Reči podsudimych tovariščej, in: Erofeev (Hg.), Partija socialistov-revoljucionerov, S. 855 – 863, hier: S. 859 f.
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Vergeltung / das erbarmungslos-feindliche Gericht / der Druck des offenen Angriffs / und die Intrigen des verborgenen Judas …“¹⁹⁶
Das Gedicht war am 4. Mai 1918 in der Pravda erschienen. Vgl. zu Bednyjs Anwesenheit bei der Erschießung Kaplans Malʼkov: Zapiski komendanta Moskovskogo Kremlja, S. 160 f. und Solschenizyn: Archipel GULAG 2, S. 480 f.Vgl. auch Robert Horvath:The Poet of Terror. Demʼian Bednyi and Stalinist Culture, in: Russian Review 65 (2006), S. 53 – 71 und Tumarkin: Lenin Lives!, S. 80.
4. Pädagogik der Unberechenbarkeit
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4. Pädagogik der Unberechenbarkeit Hatte der ›Rote Terror‹ noch innerhalb der Grenzen vermeintlicher Klassenzugehörigkeit stattgefunden, weitete sich der bolschewistische Feindbegriff mit zunehmender Machtfülle aus. Das Regime war damit in eine neue Phase eingetreten. Fortan sollte es darum gehen, Gegner hinter der Maske vermeintlicher Akklamation zu enttarnen.¹⁹⁷ So offenbarten die 1920er Jahre vor allem zweierlei: einerseits die zunehmende Hierarchisierung des sowjetischen Parteistaats und die Ausrichtung auf einen Führer, andererseits die auf den ersten Blick nicht unbedingt intuitive Einsicht, dass gerade damit die Angst vor dem Machtverlust zunahm. Die sowjetische Ordnung stand somit exemplarisch für die zwei Komponenten des Wortes Terror: In der Verbreitung von Angst nach außen, gegenüber den Untertanen und dem eigenen Machtzentrum gleichermaßen, spiegelte sich die Einsicht eigener Anfälligkeit. Der Terror nach außen wiederum beflügelte die Angst des Regimes und setzte dadurch einen todbringenden Kreislauf in Gang.¹⁹⁸ Bei der Betrachtung der frühen Prozesse, mit denen der sowjetische Staat seine politischen Gegner außer Gefecht zu setzten suchte, wird den Machthabern häufig eine Vollzugsgewalt attestiert, über die sie damals noch nicht verfügten.¹⁹⁹ Entsprechend verkürzte Betrachtungen lassen sich nicht nur bezüglich des Prozesses gegen die Sozialrevolutionäre finden, sondern insbesondere auch hinsichtlich des Šachty-Prozesses von 1928, eines Prozesses also, der zusammenfiel mit einer politischen und ökonomischen Neuausrichtung und dem Finale der Diadochenkämpfe nach Lenins Tod. Daher waren diese Prozesse gerade nicht Ausdruck eines „totalitären politischen Regimes“, wie es erst kürzlich wieder behauptet worden ist, oder eine sowjetische Variante des Intentionalismus. Vielmehr lassen sie sich als Elemente und Ursprünge eben einer solchen Herrschaft begreifen.²⁰⁰ Während sich der Prozess gegen die Sozialrevolutionäre noch
Vgl. exemplarisch S. A. Krasilʼnikov/A. I. Savin/S. N. Ušakova: Šachtinksij političeskij process 1928 goda. Istočniki v kontekste ėpochi, in: S. A. Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 1, Moskau 2011, S. 59. Darin besteht das klassische Dilemma des Alleinherrschers. Vgl. Xenophon: Hiero or Tyrannicus; Tullock: The Social Dilemma; Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München 2009, S. 55 und Canetti: Masse und Macht, S. 274 passim. Klassisch zu dieser Sicht Cassiday: The Enemy on Trial. Eine differenziertere Sicht vertreten etwa David R. Shearer: Policing Stalinʼs Socialism. Repression and Social Order in the Soviet Union, 1924 – 1953, New Haven 2009; Holquist: State Violence as Technique und Kuromiya: Stalin and His Era, S. 711– 724. Vgl. zu der erwähnten Behauptung Krasilʼnikov/Savin/Ušakova: Šachtinksij političeskij process 1928 goda. Istočniki v kontekste ėpochi, in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g.
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als Kampf mit einem offenkundigen Gegner ausnahm, wies der Šachty-Prozess bereits in eine neue Richtung. An ihm manifestierte sich eindrücklich der Kampf gegen potenzielle Bedrohungen und mutmaßlich maskierte Feinde, die durchaus viele Zeitzeugen – verschiedene Botschafter, aber auch Stalins Erzfeind Trotzki – am Werk sahen.²⁰¹ Es war gerade diese Dynamik, die sich in den folgenden Jahren weiter zuspitzen und zum Wesen des Stalinismus werden sollte. Zugleich steht er exemplarisch für die Verwicklung zweier Probleme, die jede Form erratischer Herrschaft betrifft: nämlich das Problem der Kontrolle und dasjenige der Notwendigkeit von Machtteilung.²⁰² Stalin hatte früh damit begonnen, seine Macht auf eine kleine Gruppe von Mitstreitern zu stützen. Seit er 1922 die bisher inexistente Position als ZK-Generalsekretär übernommen hatte, konnte er seine Basis noch strukturell ausbauen. Als Generalsekretär unterstanden ihm die Exekutivorgane des ZK, das Organisationsbüro und das Sekretariat, in denen die Sitzungen des Politbüros vorbereitet wurden, ferner die Zentrale Kontrollkommission, zuständig für die Parteidisziplin und zunächst geleitet vom loyalen Valerian Kujbyšev, später von Grigorij Ordžonikidze. Schließlich hatte Stalin Zugriff auf die Abteilung für Organisationsverteilung (Orgraspred), die für die Ernennung, Beförderung und Entsendung von Personen zuständig war.²⁰³ Durch organisatorisches Geschick auf der einen und informelle Politikführung auf der anderen Seite konnte Stalin seine Machtstellung stetig ausbauen. Auf die wichtigsten Positionen in Partei und Staat gelangten sukzessive treue Anhänger. Darüber hinaus hatte er exklusiven Zugriff auf den Geheimdienst, der 1922, im Anschluss an die Erfahrungen des ›Roten Terrors‹ und Bürgerkrieges, zunächst als GPU neu institutionalisiert worden war und die Kniga 1, S. 10 – 16, S. 59 – 70. Im Sinne der vorgeschlagenen Interpretation argumentiert auch Hiroaki Kuromiya: The Shakhty Affair, in: South East European Monitor 4 (1997), S. 41– 64. Vgl. Akten zur deutschen Auswärtigen Politik. 1918 – 1945. Aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes, Serie B 1925 – 1933, Band VIII, 1. Januar bis 30. April 1928, Göttingen 1976, S. 285 – 410, S. 446 – 496 und ›Nemeckij sled‹, in: S. A. Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 2, Moskau 2012, S. 842– 938. „I argue that two conflicts fundamentally shape authoritarian politics. […] I call the political problem of balancing against the majority excluded from power the problem of authoritarian control. […] A second, separate political conflict arises when dictators counter challenges from those with whom they share power. This is the problem of authoritarian power-sharing.“ Svolik:The Politics of Authoritarian Rule, S. 2. Vgl. Ot sostavitelej, in: O. V. Chlevnjuk/A. V. Kvašonkin/L. P. Košeleva/L. A. Rogovaja (Hg.), Stalinskoe Politbjuro v 30-e gody. Sbornik Dokumentov, Moskau 1995, S. 14– 21; James Harris: Stalin as General Secretary. The Appointments Process and the Nature of Stalinʼs Power, in: Sarah Davies/James Harris (Hg.), Stalin. A New History, Cambridge/New York 2005, S. 63 – 82 und Edward A. Rees: Stalin as Leader 1924 – 1937. From Oligarch to Dictator, in: Edward A. Rees (Hg.), The Nature of Stalinʼs Dictatorship, Basingstoke 2004, S. 19 – 58, hier: S. 21.
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Überwachung der sogenannten sozialistischen Gesetzlichkeit an das Kommissariat für Justiz hatte abtreten müssen. Nur ein Jahr später jedoch – nun auf Unionsebene – war er wieder in der alten Struktur als OGPU bei der Regierung beheimatet.²⁰⁴ Gemeinhin wird Schwäche nicht mit autoritärer Herrschaft assoziiert. Der Machtanalytiker Niccolò Machiavelli jedoch verwies gerade auf die Fragilität eben dieser Herrschaftsform, als er sich mit dem Phänomen der Verschwörung beschäftigte. Dabei sah er die Brisanz der Konspiration nicht nur darin, dass sie jedermann als Handlungsoption zur Verfügung stehe, sondern vor allem in dem Umstand, dass mehr Machthaber durch politische Verschwörungen um Leben und Herrschaft gebracht worden seien als durch offenen Krieg.²⁰⁵ Ganz im Sinne dieser Einschätzung aus dem frühen 16. Jahrhundert konnte in einer Untersuchung für die Jahre 1946 bis 2008 quantifiziert werden, dass beinahe 70 Prozent der autoritären Herrscher durch Palastrevolutionen ihre Macht verloren haben, wohingegen nur rund fünf Prozent durch militärische Intervention gestürzt wurden.²⁰⁶ Jeder autoritäre Herrscher sieht sich daher mit einem Dilemma konfrontiert: Ihm droht mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verschwörung, allerdings lässt sich mit dieser Option lediglich kalkulieren, sie lässt sich nicht prognostizieren. Um nun potenzielle Verschwörer abzuschrecken, sucht der Machthaber seinen Einfluss auszubauen und die Umgebung in Schach zu halten. Er wird danach streben, die ihn selbst bedrohende Wahrscheinlichkeit und Unberechenbarkeit des Machtverlustes einfach umzukehren. Folglich ist die Willkür auch Auswuchs dieses Dilemmas – das wiederum erhöht nur die Chance auf den eigenen Sturz. Entsprechend war im Stalinismus die Wahrscheinlichkeit für die Untertanen, vor allem aber auch Funktionsträger, hoch, als Verschwörer angeklagt und vernichtet zu werden.²⁰⁷ Als Machttechniker entwickelte sich Stalin zu einem Meister
Vgl. exemplarisch Solomon: Soviet Criminal Justice under Stalin; David R. Shearer/Vladimir Khaustov (Hg.): The Lubianka. A Documentary History of the Political Police and Security Organs in the Soviet Union, 1922 – 1953, New Haven/London 2015, bes. S. 1– 121 und Paul Hagenloh: Stalinʼs Police. Public Order and Mass Repression in the USSR, 1926 – 1941, Washington, D.C./Baltimore 2009. Vgl. Machiavelli: Discorsi, S. 296. Siehe auch Machiavelli: Der Fürst, S. 90 – 101. Vgl. Svolik: The Politics of Authoritarian Rule, S. 4 f., S. 53 – 84, spezifizierend S. 149 f. und Svolik: Power Sharing. Ein übermäßig hoher Prozentsatz an Staatsstreichen bleibt auch dann bestehen, wenn man nur diejenigen Herrscher betrachtet, die mehr als ein Jahr an der Macht waren. Vgl. Oleg B. Mozochin: Pravo na repressii. Vnesudebnye polnomočija organov gosudarstvennoj bezopasnosti (1918 – 1953), Moskau 2011, S. 741– 743; Chlevnjuk: Stalin. Žiznʼ odnogo voždja, S. 67 f. und V. P. Popov: Gosudarstvennyj terror v sovetskoj Rossii. 1923 – 1953 gg. (istočniki i ich interpretacija), in: Otečestvennye archive 2 (1992), S. 20 – 31.
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herrschaftlicher Stochastik und konnte bis zum eigenen Tod seinen Machtvorteil erfolgreich einsetzen. Auf dem Weg zur absoluten Alleinherrschaft nutzte er seine Möglichkeiten, drängte jedoch nicht danach, die Grenzen zu überschreiten.²⁰⁸ Die letzten Tage Stalins halten schließlich die ironische Wendung parat, dass der Diktator selbst Opfer seiner eigenen Verschwörungstheorie werden sollte, weil niemand das Zimmer des todkranken Herrschers zu betreten wagte oder wagen wollte.²⁰⁹ Am Beginn dieser Entwicklung jedoch, so Stephen Kotkin, standen „die Probleme der Revolution, die in Stalin ebenso die Paranoia auslösten, wie er zugleich auch selbst der inhärenten Paranoia der Revolution zum Ausbruch verhalf. Dabei bezeugten die Jahre 1926 und 1927 eine Steigerung eben dieses Verhältnisses, das wiederum in direkter Verbindung zu den Ereignissen und dem Crescendo der Opposition stand.“²¹⁰ Am 11. Juli 1926, neun Tage vor seinem Tod, informierte Dzeržinskij den Generalsekretär, dass Polen im Begriff sei, einen kriegerischen Angriff auf die Sowjetunion vorzubereiten. Polens de facto Führer Józef Piłsudski habe sich stets vor allem um außenpolitische Angelegenheiten gekümmert und setze nun offenbar alles daran, die Ukraine und Weißrussland aus der Union herauszulösen, um die sowjetische Ordnung dadurch zu destabilisieren. Da eine große Lieferung von Kriegsgerät aus dem faschistischen Italien erwartet würde, sei entgegen der bisherigen Prognose des revolutionären Kriegsrats zu befürchten, dass der Angriff nicht erst 1927, sondern bereits früher stattfinden könnte.²¹¹ Nur wenige Tage später wurde der stellvertretende Geheimdienstchef Genrich Jagoda mit der Aufgabe betraut, alle Geheimdienstarchive an der Grenze zu Polen und Rumänien
Vgl. etwa Shearer/Khaustov (Hg.): The Lubianka, S. 1– 121. Vgl. auch zur Beendigung des ›Großen Terrors‹ das Dokument RGASPI, Fond 17, op. 3, d. 1003, ll. 85 – 87 vom 17. November 1938, abgedruckt in: N. Vert/S. V. Mironenko (Hg.): Istorija Stalinskogo Gulaga. Konec 1920-ch–pervaja polovina 1950-ch godov. Tom 1. Massovye repressii v SSSR, Moskau 2004, S. 305 – 308. Vgl. ferner Gregory: Terror by Quota, S. 187– 201. Vgl.Yoram Gorlizki/Oleg Khlevniuk: Cold Peace. Stalin and the Ruling Circle, 1945 – 1953, New York/Oxford 2004, S. 153– 163 und Swetlana Allilujewa: Zwanzig Briefe an einen Freund, Wien 1967, S. 19 – 30, S. 297– 307. Uneindeutiger argumentierte zuletzt Chlevnjuk: Stalin. Žiznʼ odnogo voždja. Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, S. 597. Vgl. F. Dzeržinskij: Zapiska F. Ė. Dzeržinskogo I. V. Stalinu o podgotovke Polʼši k vojne c CCCP. 11 ijulja 1926 g., in: V. N. Chaustov/V. P. Naumov/N. S. Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i VČKGPU-OGPU-NKVD, janvarʼ 1922– dekabrʼ 1936, Moskau 2003, S. 118. Ferner glaubte man, dass Piłsudski die Macht in Polen überhaupt erst mit Unterstützung Englands erstritten hatte.Vgl. etwa Alaric Searle: Conflict between Britain and the Soviet Union – 1926, in: The Journal of Soviet Military Studies 3 (1990), S. 513 – 524.
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abzuziehen und die in den dortigen Gefängnissen befindlichen Spione, Weißgardisten und Banditen zu verlegen.²¹² Die allgemeine Unruhe fiel bei Stalin und seinen Getreuen auf fruchtbaren Boden. Und dies nicht allein, weil Jagoda bereits zwei Monate zuvor auf eine Intensivierung der polnischen Spionagetätigkeit hingewiesen hatte und bei der sowjetischen Führung ohne Unterlass Berichte über die Arbeit anderer ausländischer Geheimdienste eingegangen waren.²¹³ Auch im zehnten Jahr der Revolution, nach dem Engagement der Westmächte während des Bürgerkrieges und den Versuchen, die sowjetische Ordnung zu Fall zu bringen, herrschte die Angst vor kapitalistischer Einkreisung ungebrochen. Diese Angst sollte sich noch steigern, als im April 1927 die sowjetische Botschaft in Peking überfallen wurde und Chiang Kai-shek unverhohlen mit der Unterdrückung von Kommunisten in China begann, als einen Monat später England, einer der wichtigsten Handelspartner, seine diplomatischen Beziehungen abbrach und schließlich im Juni 1927 ein Attentat auf den sowjetischen Diplomaten Pëtr Vojkov in Warschau erfolgte. Die nebulösen Befürchtungen schienen wieder einmal unverkennbar belegt.²¹⁴ „Passt auf!“, kommentierte der Dichter Vladimir Majakovskij unverzüglich das Attentat.²¹⁵ Ebenso hatte Kriegskommissar Kliment Vorošilov der Wachsamkeitsrhetorik jener Monate seine Reverenz erwiesen, als er auf einer Parteikonferenz Anfang Januar 1927 seine Zuhörer wissen ließ: „Wir dürfen nicht vergessen, dass wir am Rande eines Krieges stehen.“²¹⁶ Die außenpolitische Dimension hatte natürlich Rückwirkungen auf innenpolitische Spannungen ebenso wie diese wiederum auf die Wahrnehmung der äußeren Bedrohungslage zurückwirkten. Jedenfalls tobte seit Lenins Tod im Jahre 1924 ein innenpolitischer Machtkampf Vgl. F. Dzeržinskij: Zapiska G. G. Jagode o prinjatii mer v svjazi s ugrozoj načala vojny. 15 ijulja 1926 g., in: A. A. Plechanov/A. M. Plechanov (Hg.), F. Ė. Dzeržinskij – predsedatelʼ VČK-OGPU 1917– 1926, Moskau 2007, S. 665. Vgl. exemplarisch F. Dzeržinskij: Specsoobščenie INO OGPU o politike Anglii i Kitaja s prilošeniem zapiski F. Ė. Dzeržinskogo V. L. Gersonu o neobchodimosti doložitʼ I. V. Stalinu. 24 janvarja 1926 g. und G. Jagoda: Specsoobščenie G. G. Jagody I. V. Stalinu ob usilenii raboty pol’skoj razvedki. 14 aprelja 1926, in: Chaustov/Naumov/Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i VČK-GPU-OGPU-NKVD, S. 111– 113, S. 117 f. Vgl. zum Attentat HIA, Nicolaevsky Collection, Box 375, Folder 40.Vgl. ferner zum Phänomen der Kriegsangst und zur wechselhaften Diplomatie jener Jahre Olga Velikanova: Popular Perceptions of Soviet Politics in the 1920s. Disenchantment of the Dreamers, Basingstoke 2013; John P. Sontag: The Soviet War Scare of 1926 – 27, in: Russian Review 34 (1975), S. 66 – 77 und Hugh D. Hudson: The 1927 Soviet War Scare: The Foreign Affairs-Domestic Policy Nexus Revisited, in: The Soviet and Post-Soviet Review 39 (2012), S. 145 – 165. Vgl. auch Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, S. 616 – 660. Das Gedicht wird hier zitiert nach Solschenizyn: Archipel GULAG 1, S. 49. Zitiert nach Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, S. 619.
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zwischen unterschiedlichen Gruppierungen.²¹⁷ Zwar konnte Stalin immer wieder erfolgreich neue Koalitionen schmieden und sollte Anfang der 1930er Jahre endgültig siegreich aus den Thronfolgekämpfen hervorgehen, allerdings fiel eben das Lavieren jener Jahre mit den erwähnten außenpolitischen Spannungen und einer entsprechend fundamentalen Neuausrichtung der Innenpolitik zusammen. Die Überlappung dieser Konflikte setzte die Atmosphäre der Bedrohung gleichsam auf Dauer. Während man den Feind im Inneren auf dem Rückzug, ihn gar im Untergrund wähnte, schienen seine potenziellen Erfüllungsgehilfen im Ausland demgegenüber eindeutige Signale abzusetzen. Dabei fürchteten die sowjetischen Machthaber vor allem eine Intensivierung der Spionagetätigkeit und die Unterstützung terroristischer Anschläge; waren sie doch überzeugt, dass ihren Gegnern einzig der Weg geheimer Aktion geblieben war. Nachdem am 10. Mai 1923 der sowjetische Diplomat Vaclav Vorovskij – nur zwei Tage nach dem CurzonUltimatum – in Lausanne von einem Emigranten der Weißen ermordet worden war und dann im Sommer 1927 das besagte Attentat auf den Diplomaten Vojkov stattgefunden hatte, konnte die sowjetische Wahrnehmung als angemessen empfunden werden.²¹⁸ Nun war Vojkov durch seine Teilnahme an der Ermordung der Zarenfamilie weniger ein zufälliges als vielmehr ein symbolträchtiges Opfer. Vermutlich aus Rache hatte sich der Attentäter zu dem Mordanschlag entschlossen. Seine Tat löste schließlich teils offenen Zuspruch, teils klammheimliche Freude aus. Der berühmte Dichter des sogenannten Silbernen Zeitalters etwa, Konstantin Balʼmont, sah den Attentäter Boris Koverda gar auf Augenhöhe mit Kaplan und Kannegiser und wies ihm daher in Gedichtform einen Ehrenplatz in der Ahnenreihe vermeintlicher Tyrannenmörder zu.²¹⁹ Stalin sah den Fall demgegenüber wesentlich prosaischer und schrieb einen Tag nach dem Attentat an seinen Vertrauten Vjačeslav Molotov:
Immer noch klassisch zur sogenannten linken, neuen bzw. Leningrader, vereinigten und rechten Opposition Robert Vincent Daniels: The Conscience of the Revolution. Communist Opposition in Soviet Russia, Cambridge 1960. Vgl. exemplarisch ferner Catherine Merridale: Moscow Politics and the Rise of Stalin. The Communist Party in the Capital, 1925 – 32, Houndmills 1990. Der Attentäter Vorovskijs, Maurice Conradi, hatte eigentlich den sowjetischen Außenminister Georgij Čičerin als Opfer ins Auge gefasst. Conradi wurde später sogar freigesprochen, was die sowjetische Führung sogleich als Bestätigung ihrer Deutung der Dinge auffasste. Vgl. Alfred Erich Senn: Assassination in Switzerland. The Murder of Vatslav Vorovsky, Madison 1981.Vgl. ferner Davies/Harris: Stalinʼs World, S. 92– 130. Balʼmont war in seiner Jugend Teil eines illegalen Zirkels gewesen, der Proklamationen der Narodnaja Volja verbreitet hatte. Später wandelte er sich zum Feind des Kommunismus. Das erwähnte Gedicht trägt den Namen ›Bukva Ka‹ und wurde von ihm in der französischen Emigration verfasst. Vgl. Vladimir Markov: Balmont. A Reappraisal, in: Slavic Review 28 (1969), S. 221– 264.
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„Ich habe die Information über die durch einen Monarchisten begangene Ermordung Vojkovs erhalten. Die Hände Englands sind zu spüren. Sie wollen einen Konflikt mit Polen provozieren. Sie wollen Sarajevo wiederholen […]. Wir müssen eine offizielle Bekanntmachung oder Erklärung […] mit dem Hinweis darauf abgeben, dass die öffentliche Meinung der UdSSR in der konservativen Partei Englands den Anstifter des Mordes sieht. Alle bekannten Monarchisten, die bei uns im Gefängnis oder Konzentrationslager sitzen, müssen unverzüglich zu Geiseln erklärt werden. Es müssen sofort fünf oder zehn Monarchisten mit der Erklärung erschossen werden, dass für jeden weiteren Anschlagsversuch eine neue Gruppe Monarchisten erschossen werden wird.“²²⁰
Kurz darauf berichtete die sowjetische Presse von dem Fall und rief den Lesern die bisherigen Versuche Englands, die Sowjetunion mittels des Agenten Reilly und des Diplomaten Lockhart zu destabilisieren, in Erinnerung. Zudem war von einem nur wenige Wochen zuvor vereitelten Attentatsversuch im Bolschoi-Theater zu lesen, der Bucharin, Rykov und Stalin gegolten habe, von durchkreuzten Bombenanschlägen auf den Geheimdienst und schließlich von einem erfolgreichen Bombenanschlag auf einen Diskussionsklub der Partei in Leningrad, in dessen Folge 30 Verletzte zu beklagen gewesen seien.²²¹ Es war diese typische Mischung aus Verschwörungsdenken und konkretem Attentat, die als politische Traumdeutung letztlich niemandem mehr eine Chance ließ, wahre, überzeichnete und schlicht falsche Elemente noch sauber voneinander zu trennen. Seit den vergangenen Attentaten war das Spiel mit Halbwahrheiten in vollem Gange und ergriff von der sowjetischen Führung immer weiter Besitz. Entsprechend verfing sich auch Stalin – im Sinne eines konspirativ geschulten argumentum ad ignorantiam – zunehmend in einer besonderen Pfadabhängigkeit politischer Entscheidungen.²²² So wurden nur einen Tag nach dem Attentat auf Vojkov 20 der Spionage verdächtige Weißgardisten ohne gerichtliches Urteil vom Geheimdienst erschossen, wodurch gewissermaßen die bisherigen Vermutungen in valide Prämissen verwandelt worden waren.²²³ Wie eine „große
Šifrotelegramma I. V. Stalina V. M. Molotovu ob užestočenii karatelʼnoj politiki v svjazi s ubijstvom polnomočnogo predstavitelja SSSR v Polʼše P. L. Vojkova. 8 ijunja 1927 g., in: Chaustov/ Naumov/Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i VČK-GPU-OGPU-NKVD, S. 133 f., S. 795. Vgl. ferner Davies/Harris: Stalinʼs World, S. 105. Vgl. exemplarisch V Varšave ubit Polpred SSSR tov. Vojkov, in: Pravda (08.06.1927), S. 1 und Pravitelʼstvennoe soobščenie, in: Pravda (09.06.1927), S. 1. „Another way that Men ordinarily use to drive others, and force them to submit their Judgments. And receive the Opinion in debate, is to require the Adversary to admit what they allege as a Proof, or assign a better. And this I call ›Argumentum ad Ignorantiam‹.“ John Locke: An Essay Concerning Human Understanding, (Book IV, Chapter XVII, Of Reason), Oxford 2008, S. 444. Vgl. L. Košeleva/V. Lel’čuk/V. Naumov/O. Naumov/L. Rogovaja/O. Chlevnjuk (Hg.): Pisʼma I. V. Stalina V. M. Molotovu, 1925 – 1936 gg. Sbornik dokumentov, Moskau 1995, S. 99 – 101.
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schwarze Wolke“, schrieb ein schwedischer Diplomat in die Heimat, „legt sich die Angst über die ganze Gesellschaft und lähmt alles.“²²⁴ Zu den Spiegelungen der Angst und Verzerrungen der Wahrheit hat bereits John Sontag 1975 angemerkt, dass sie nicht einfach nur eine Schöpfung der sowjetischen Führung gewesen seien, sondern auf Fakten rekurrierten, von deren Übertreibung sich der Kreis um Stalin, aber auch ihre Herausforderer einen Nutzen versprachen.²²⁵ Erst dadurch konnten sich Deutungen festsetzen, die weit über die eigentlichen Anlässe hinauswiesen und in ihrer Wirkung dann zu einer Realität eigener Ordnung wurden. Die Abkehr von der ›Neuen Ökonomischen Politik‹, der Drang nach einer sowjetischen Modernisierung durch Kollektivierung und Industrialisierung und schließlich die tatsächliche und empfundene Isolation begünstigten ein Klima, in dem die Machthaber ihre Ordnung als besonders fragil beschrieben und sich ihre Vorstellungen als vermeintliche Realpolitik festsetzen konnten. Angesichts verwehrter Kredite aus England und Frankreich galten die Industriestätten erst recht als essenziell für das politische Überleben und damit zugleich als eben die Orte, die man am ehesten als Ziel von Angriffen vermutete. Innerhalb der sowjetischen Führung wurden Unfälle nicht mehr als gewöhnliche Vorkommnisse betrachtet, sondern mussten vielmehr als Vorboten längst antizipierter Angriffe gewertet werden. Diese Form arbiträrer Interpretation erfasste das gesamte Regime. Sie ist mithin weniger Indiz für die vermeintliche Machtfülle des aufstrebenden Diktators, sondern vielmehr Ausdruck eines Prozesses, an dessen Ende – etwa durch die sich allmählich zu Stalins Gunsten verändernde Zusammensetzung des Politbüros – erst seine Machtfülle stehen sollte.²²⁶ Eben durch diese Fähigkeit, Deutungen zu bedienen, die der idiosynkratisch-sowjetischen Vorstellungswelt entsprachen, konnte Stalin schließlich auch, mit beinahe wörtlichen Anleihen bei der Erklärung Lenins vom Frühjahr 1922, die Abhaltung von Schauprozessen zum Wohle der Ordnung fordern.²²⁷
Zitiert nach Velikanova: Popular Perceptions, S. 74. Vgl. Sontag: Soviet War Scare. Vgl. exemplarisch V. P. Danilov: Vvedenie. Stenogrammy plenumov CK VKP(b) 1928 – 1929 gg., in: V. P. Danilov/O. V. Chlevnjuk/A. Ju. Vatlin (Hg.), Kak lomali NĖP Stenogrammy plenumov CK VKP(b). 1928 – 1929 gg. Tom 1, Moskau 2000, S. 5 – 14. Dabei wird deutlich, dass für die Abstützung der Argumentation immer wieder die späteren Entwickelungen vorausgesetzt werden. Somit zeigt sich eine teleologische Leseart, die zwar glatt daherkommt, aber dadurch nicht überzeugender wirkt, zumal sie sich in Widersprüche verstrickt; etwa dort S. 7– 9. Vgl. zur Zusammensetzung des Politbüros und zu den politischen Entscheidungsorganen Edward A. Rees: Stalin as Leader 1924 – 1937. Vgl. Šifrotelegramma I.V. Stalina V. P. Menžinskomu o zadačach OGPU. 23 ijunja 1927 g., in: Chaustov/Naumov/Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i VČK-GPU-OGPU-NKVD, S. 135. Vgl. zur
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Ende Februar 1928 erreichte ein Bericht von Andrej Andreev, dem Gebietssekretär des Nord-Kaukasus, das Zentralkomitee der Bolschewiki. Der Mitteilung war zu entnehmen, dass es dem örtlichen Geheimdienst unter der Leitung von Efim Evdokimov gelungen sei, eine Gruppe von Saboteuren im Donezbecken zu enttarnen.²²⁸ Da den Vorkommnissen in der Region Šachty vermutlich ein „eher größeres Ausmaß“ zukomme, resümiert der Verfasser, werde Evdokimov persönlich nach Moskau reisen und Bericht erstatten. Anfang März kam Evdokimov dann für beinahe zwei Stunden mit dem stellvertretenden Geheimdienstchef Jagoda und anderen im Arbeitszimmer Stalins zusammen, um anschließend auch noch Stalin und Molotov über die Verschwörung zu unterrichten.²²⁹ Wenige Tage später fasste das Politbüro den Beschluss, dass eine gerichtliche Untersuchung der Angelegenheit einzuleiten sei.²³⁰ Nun wurde auch die Öffentlichkeit über die aufgedeckte Verschwörung in Kenntnis gesetzt. Die Menschen erfuhren, dass seit mehreren Jahren von einer ganzen Reihe von Ingenieuren und Technikern – im Verbund mit ehemaligen, nun im Ausland lebenden Eigentümern – gezielt Angriffe auf die Industrie verübt worden seien. Im Verlauf der bisherigen Untersuchung hätten nicht nur Verbindungen ins kapitalistische Ausland, vor allem nach Polen und Deutschland,
Atmosphäre dieser Jahre Michael Jabara Carley: Silent Conflict. A Hidden History of Early SovietWestern Relations, Lanham 2014. Nun kam die beinahe einjährige Arbeit an der Aufdeckung einer Verschwörung durch den Geheimdienst und die Vorbereitungsarbeit des Politbüros auf der einen mit dem Impuls zur Bekämpfung der Sabotagetätigkeit (vreditel’stvo) auf der anderen Seite zusammen. Vgl. dazu exemplarisch Krasilʼnikov/Savin/Ušakova: Šachtinksij političeskij process 1928 goda. Istočniki v kontekste ėpochi, in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 1, S. 10, S. 61. Vgl. A. A. Černobaev (Hg.): Na priëme u Stalina. Tetradi (žurnaly) zapisej lic prinjatych I.V. Stalinym, Moskau 2008, S. 27 und Pisʼmo V. M. Molotova i I. V. Stalina členam Politbjuro CK VKP(b) c predloženijam po organizacii komissii po ›Šachtinskomu delu‹, in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 1, S. 163 f. Vgl. zu Evdokimov Stephen G. Wheatcroft: Agency and Terror. Evdokimov and Mass Killing in Stalin’s Great Terror, in: Australian Journal of Politics and History 53 (2007), S. 20 – 43. Wann genau die Verschwörung „entdeckt“ wurde, ist umstritten. In der Forschung hält sich die unter anderem auf Avtorchanov zurückgehende Vermutung, dass sich der Fall seit Ende 1927 entwickelte. Vgl. dazu Abdurakhman Avtorkhanov: Stalin and the Soviet Communist Party. A Study in the Technology of Power, München 1959, S. 28 – 30 und insbesondere auch die spätere Aussage Evdokimos während des Februar-März-Plenums, 3. März 1937 RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 599, ll. 88 – 99. Vgl. Šifrotelegramma sekretarja Severo-Kavkazskogo krajkoma VKP(b) A.A. Andreeva I.V. Stalinu o raskrytii ›vreditel’skoj‹ dejatel’nosti gruppy specialistov ugolʼnoj promyšlennosti kraja. 27 fevralja 1928 g. und Postanovlenie Polibjuro CK VKP(b) o razbiratelʼstve dela šachtinskich specialistov v sudebnom porjadke. Iz protokola zasedanija Politbjuro, in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 1, S. 72, S. 73 f.
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festgestellt werden können, sondern auch konterrevolutionäre Machenschaften, die sich über das Donezbecken hinaus auf Charʼkov und Moskau erstreckten. Letztlich sei die Verschwörung darauf ausgerichtet gewesen, mit der Sabotage eines zentralen Industriegebietes die sowjetische Ordnung insgesamt anzugreifen und zu destabilisieren. Am Ende der Bekanntgabe erging an die Leser der gleichermaßen beruhigende wie warnende Hinweis, dass die Verbrecher verhaftet und die Angelegenheit bald gemäß Artikel 58 vor dem Obersten Gericht der Sowjetunion verhandelt werden würde.²³¹ Parallel zu dieser Bekanntmachung hatte das Politbüro eine Kommission zur Aufarbeitung der Šachty-Affäre eingerichtet, die in ihrer Arbeit von den in die Donbass-Region entsandten Emissären Tomskij, Molotov und Emelʼjan Jaroslavskij unterstützt wurde.²³² Dass gerade mit derlei Instanzen eine besondere Form machtpolitischer Personalpolitik verbunden war, die reservierte Stimmen allmählich zum Schweigen brachte und letztlich der Stalin-Fraktion die Deutungshoheit sicherte, ist nicht unwahrscheinlich. So sprach etwa der Vorsitzende der Regierung, der in dieser Angelegenheit eher skeptische Rykov, auf dem AprilPlenum 1928 offen von den Zweiflern, die nichts anderes erkennen wollten als eine „künstlich aufgeblähte Sache“, um dann jedoch festzuhalten, dass der Fall doch ernster sei als zunächst erwartet.²³³ Auch Tomskij sollte offenbar Farbe bekennen, als der Stalin ergebene Vorošilov an ihn die doppeldeutige Bitte richtete, ganz offen die Frage zu beantworten, ob man sich mit einem Gerichtsverfahren
Vgl. exemplarisch P. Krasnikov: Ot prokurora verchovnogo suda sojuza. Soobščenie o raskrytii kontrrevolucionnogo ėkonomičeskogo zagovora, in: Pravda (10.03.1928), S. 1 und Preprovoditelʼnoe pisʼmo zamestitelja predsedatelja OGPU G. G. Jagoda I. V. Stalinu k obzoru OGPU ›po delu ob ėkonomičeskoj kontr-revoljucii v južnom kamennougol’nom rajone‹, in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 1, S. 74– 79. Vgl. ferner Kuromiya: The Shakhty Affair. Vgl. RGASPI, Fond 17, op. 162, d. 6, l. 65 und l. 76. Vgl. ferner Postanovlenie Politbjuro CK VKP(b) o sozdanii komissii po ›Šachtinskomu delu‹. Iz protokola zasedanija Politbjuro; Postanovlenie Polibjuro CK VKP(b) o polnomočijach komissii i meroprijatijach v svjazi s ›Šachtinskim delom‹. Iz protokola zasedanija Politbjuro und Postanovlenie Politbjuro CK VKP(b) ob izmenenii sostava komissii po ›Šachtinskomu delu‹. Iz protokola zasedanija Politbjuro, in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 1, S. 178 f., S. 179 f., S. 209 f. Die Emissäre waren vom Politbüro als Bevollmächtigte des ZK entsandt worden. Vgl. Krasilʼnikov/Savin/Ušakova: Šachtinksij političeskij process 1928 goda. Istočniki v kontekste ėpochi, in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 1, S. 49, S. 64. Obʺedinënnyj plenum CK i CKK VKP(b) 6 – 11 aprelja 1928 g. Stenografičeskij otčet, in: Danilov/Chlevnjuk/Vatlin (Hg.), Kak lomali NĖP, S. 156. Vgl. ferner Zapisʼ peredannogo po telefonu v Politbjuro CK VKP(b) mnenija V. V. Kujbyševa o razbiratel’stve dela šachtinskich specialistov v sudebnom porjadke. Ne ranee 27 fevralja 1928 g., in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 1, S. 73 und Kendall E. Bailes: Technology and Society under Lenin and Stalin. Origins of the Soviet Technical Intelligentsia, 1917 – 1941, Princeton/NJ 1978, S. 69 – 94.
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nicht in Unannehmlichkeiten manövriere. Der Emissär Tomskij verstand die Finte sehr genau und rapportierte, dass es nicht stören würde, wenn man noch ein halbes Dutzend Kommunisten einsperrte.²³⁴ Zunächst wurden Hunderte Verdächtige verhaftet, von denen zwar ein Teil bald wieder auf freien Fuß kam, aber immerhin noch 82 Personen in einem außergerichtlichen Verfahren abgeurteilt wurden. Beim Schauprozess in Moskau sollten schließlich 53 Personen auftreten.²³⁵ Während der Prozess gegen die Sozialrevolutionäre noch zu Lebzeiten Lenins stattgefunden hatte und mit ihm gleichsam die Geister revolutionärer Vergangenheit ausgetrieben worden waren, galt der Šachty-Prozess von 1928 weniger dem identifizierbaren Feind. Vielmehr war er die erste Großinszenierung des Stalinismus und richtete sich als Disziplinierungsmaßnahme nach innen, auf den mutmaßlich unsichtbaren und potenziellen Feind. In dem Prozess erfuhren zudem die seit Jahren beschworene vermeintliche außenpolitische Einkreisung und der Kampf gegen die Abweichler in den eigenen Reihen eine Engführung. Schließlich war erst Ende 1927 die ›Vereinigte Opposition‹ mit ihren prominenten Mitgliedern Trotzki, Kamenev und Zinov’ev endgültig zerschlagen und aus der Partei ausgeschlossen worden, wobei sich im Anschluss daran bereits abgezeichnet hatte, dass die Macht Stalins nicht unangefochten bleiben würde. So äußerten bald Bucharin, Rykov und Tomskij Kritik an seiner Politik des ›Großen Umschwungs‹.²³⁶ In jenen Jahren konnte Stalin politische Volten immer wieder erfolgreich in einen Machtvorteil verwandeln. Der Wankelmut sollte dabei nicht ihm, sondern ausgerechnet jenen zum Nachteil gereichen, die ihrerseits einen kohärenteren Politikstil forderten. Als Stalin Ende der 1920er Jahre seine Strategie politischer Unzuverlässigkeit auch gegenüber Kritikern der forcierten Getreidebeschaffung, die bald als erster Fünfjahrplan firmieren sollte, anwandte, gab sie sich endgültig als sein Machtkalkül zu erkennen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Stalin
Vgl. K. E. Vorošilov – M. P. Tomskij. 29 marta 1928 g., in: A.V. Kvašonkin/L. P. Košeleva/O. V. Chlevnjuk/L. A. Rogovaja/A.V. Kvašonkin/L. P. Košeleva (Hg.), Sovetskoe rukovodstvo. Perepiska 1928 – 1941 gg., Moskau 1999, S. 28. Vgl. ferner O. V. Chlevnjuk/V. P. Danilov: Aprelʼskij plenum 1928 g., in: Danilov/Chlevnjuk/Vatlin (Hg.), Kak lomali NĖP, S. 29 – 32. Offiziell firmierte der Fall unter dem Rubrum ›Über die ökonomische Konterrevolution im Donbass‹ (delo ob ėkonomičeskoj kontrrevoljucii v Donbasse). Vgl. Krasilʼnikov/Savin/Ušakova: Šachtinksij političeskij process 1928 goda. Istočniki v kontekste ėpochi, in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 1, S. 19. Vgl. Daniels: Conscience of the Revolution und Sheila Fitzpatrick: On Stalinʼs Team. The Years of Living Dangerously in Soviet Politics, Princeton 2015, S. 15 – 63.
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Vorbehalte gegenüber seiner Politik nicht einfach als Sachfragen behandelte, sondern in politischen Kontrahenten stets zugleich Kontrahenten um die Macht, also Feinde zu erkennen meinte.Während in pluralistischen Systemen politisches Scheitern zumeist weiterhin Optionen bereithält, zieht es in Diktaturen nicht selten völlige Ausgrenzung oder den Tod nach sich.²³⁷ Nun legt die revolutionäre Tradition beredt Zeugnis darüber ab, dass politisches Abseits den heimlichen Zusammenschluss begünstigt. So beschreibt etwa Victor Serge, Sohn berühmter Narodovolʼcy und Anhänger Trotzkis, in seinen Memoiren, wie Trotzki seine Mitstreiter auf einem geheimen Treffen wissen ließ, dass er seine Niederlage keinesfalls hinnehmen, sondern ihr „mit unbesiegtem Geist entgegengehen“ würde. Es gab nur „eine Chance gegen 100 für die Wiederherstellung der Revolution“, so Serge über das oppositionelle Kalkül, „und die Chance mußten wir auf jeden Fall erproben.“²³⁸ Auch Michail Laševič, der stellvertretende Kriegskommissar, hatte an solchen Treffen teilgenommen und die oppositionellen Bestrebungen in der Armee als hervorragend bezeichnet.²³⁹ Nachdem jedoch die Parteikontrollkommission von diesen Treffen erfahren hatte, wurde Laševič seines Postens enthoben und aus dem ZK ausgeschlossen. Dzeržinskij gab lapidar zu Protokoll, dass er bei früherem Bekanntwerden der Angelegenheit die Teilnehmer am liebsten mit einer Spezialeinheit an Ort und Stelle erledigt hätte.²⁴⁰ Die Enttarnung eben solcher Treffen war es, die Stalins Vorstellung von einer vermeintlichen Intensivierung des Klassenkampfes stets weitere Nahrung zuführte.²⁴¹ Die Alleinherrschaft und ihre Feinde verweisen existenziell aufeinander. Gerade deshalb haben die Warnungen des Machthabers nicht nur instrumentel-
Vgl. zu diesem Phänomen exemplarisch Bruce Bueno de Mesquita/Alastair Smith/Randolph M. Siverson/James D. Morrow (Hg.): The Logic of Political Survival, Cambridge 2003, S. 8, S. 37– 76, S. 104 f. Serge: Erinnerungen eines Revolutionärs, S. 248. Serge hieß mit bürgerlichem Namen Viktor Kibal’čič. Seine Eltern und einige seiner Verwandten waren herausragende Figuren der Narodnaja Volja gewesen. Vgl. Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, S. 603 und Merridale: Moscow Politics, S. 21– 46. Ausgerechnet Martemʼjan Rjutin hatte die Parteikontrollkommission über den Fall unterrichtet. Vgl. Košeleva et al. (Hg.): Pisʼma I. V. Stalina V. M. Molotovu, S. 51 f., S. 70 – 78; Institut Marksa-Ėngelʼsa-Lenina-Stalina pri CK KPSS (Hg.): Rezoljucija ob’’edinennogo plenuma CK i CKK VKP(b), prinjataja 23 ijulja 1926 g.: Po delu Laševiča i dr. i o edinstve partii, in: Kommunističeskaja Partija Sovetskogo Sojuza, Moskau 1953, S. 160 – 166 und Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, S. 605. Vgl. insbesondere den Brief Stalins an Molotov vom 15.06.1926. Košeleva et al. (Hg.): Pisʼma I. V. Stalina V. M. Molotovu, S. 70 f.
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len, sondern auch vorausschauenden oder gar präemptiven Charakter.²⁴² Vor dem Hintergrund der Šachty-Affäre sprach Stalin somit keinesfalls allein zynisch, als er die Schlussfolgerung zog: „Wir haben Feinde im Innern. Wir haben Feinde außen. Das dürfen wir, Genossen, zu keiner Minute vergessen.“²⁴³ Man mag in diesem Zusammenhang an das Phänomen des »objektiven Feindes« (Hannah Arendt) denken, an die Vorstellung von einem Feind, der sich gerade dadurch auszeichnet, dass er nicht im eigentlich Sinne verdächtig ist, allerdings dennoch wie der „Überträger einer Krankheit“ betrachtet wird. Der objektive Feind erweist sich folglich als realer Handlanger des potenziellen Verbrechens, der drohenden Verschwörung.²⁴⁴ Genau dieser Feindbegriff begann sich mit dem Šachty-Prozess durchzusetzen. Zwar konnten die Angeklagten nicht im strikten Sinne als verdächtig gelten, wie es die Sozialrevolutionäre plausiblerweise geblieben waren, gleichwohl standen sie für die potenzielle Gefahr der neuen Ordnung, boten Anhaltspunkte, wodurch das Verfahren sodann auch legitimiert schien.²⁴⁵ Dem Prozessbeobachter Eugene Lyons stach vor allem die karnevaleske Atmosphäre des Verfahrens gegen die mutmaßlichen Saboteure von Šachty ins Auge.²⁴⁶ Auf der einen Seite stand die inszenierte Verteidigung gegenüber empfundener politischer Isolation und kapitalistischer Einkreisung, auf der anderen Seite das deutliche Signal nach innen, endlich den Kampf mit den tatsächlichen, vor allem aber potenziellen Gegnern der sowjetischen Ordnung aufzunehmen. Die Prämissen des Regimes waren durchaus folgerichtig, da die Grenzen des Feindbegriffs sich zunehmend verflüchtigten.²⁴⁷ Dennoch wird ein an Machtak-
Carl Schmitt beschrieb den Feind bekanntlich „als unsere eigene Frage als Gestalt.“ Vgl. Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963, S. 87. I. V. Stalin: O rabotach aprelʼskogo ob’’edinennogo plenuma CK i CKK. Doklad na sobranii aktiva Moskovskoj organizacii VKP(b), in: Danilov/Chlevnjuk/Vatlin (Hg.), Kak lomali NĖP, S. 401– 416, Zitat: S. 416. Vgl. Arendt: Totalitarianism, S. 423 – 432, S. 465, S. 470 f. Terry Martin spricht in diesem Zusammenhang von einer „metaphorischen Wahrheit“ Stalins. Vgl. dazu Terry Martin: Politics and Sociology of State Information-Gathering in the USSR, Stanford 2013. „In the spacious Hall of Columns, there was an atmosphere of carnival.“ Eugene Lyons: Assignment in Utopia, London 1938, S. 114. Lyons war zum Zeitpunkt der Abfassung seines Prozessberichts bereits ins Lager der sogenannten Renegaten gewechselt. Insofern sind seine Ausführungen durchaus mit Vorsicht zu genießen. Die Behandlung der Schuldfrage jedoch erhält gerade durch seine politische Haltung eine besondere Bedeutung. Vgl. zu dem Problem und Nutzen der Zeitzeugenschaft im Falle des Stalinismus insbesondere Michael David-Fox: Memory, Archives, Politics: The Rise of Stalin in Avtorkhanovʼs Technology of Power, in: Slavic Review 54 (1995), S. 988 – 1003. Vgl. Wintrobe: Political Economy; Tullock: The Social Dilemma und Svolik: Politics of Authoritarian Rule.
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kumulation ausgerichteter Herrscher mit zunehmender Macht einerseits die stets drohende Gefahr gezielt zu instrumentalisieren wissen, um die erfolgreiche Meisterung solch vermeintlicher Krisen als Ausdruck eigener Vollkommenheit erscheinen zu lassen. Andererseits wird ein solcher Herrscher aber auch erfahren, dass gerade diese Einlassungen ihn an Folgeentscheidungen binden, die dann nur noch bedingt in seiner Macht stehen. Auch wenn Rykov durchaus Vorbehalte gegenüber der Šachty-Angelegenheit hegte, bekannte er dennoch während des April-Plenums 1928, dass eine politische Partei sich „nicht von abstrakten Prinzipien der Bestrafung gemäß der Gerechtigkeit (po spravedlivosti) leiten lassen solle.“ Wenn es vorteilhaft erscheine, fuhr Rykov fort, „dann könnten wir natürlich notorische Gauner in die Freiheit entlassen. Vom Standpunkt der Interessen der Arbeiterklasse ist daran überhaupt nichts Verbrecherisches.“ Rykov sprach sich folglich für eine Politisierung des Rechts aus und hielt den Prozess für eine geeignete Möglichkeit, das Misstrauen der neuen Ordnung gegenüber den alten Eliten zu verhandeln. Und da die Angelegenheit „nicht nur nicht aufgeblasen worden ist, sondern sich als größer erweist“, als es auf den ersten Blick schien, müsse den Verschwörern ein solcher Schlag versetzt werden, dass „es kein zweites Mal vorkomme.“²⁴⁸ Somit einigten sich die Delegierten darauf, dass man es mit einer neuen Qualität der Konterrevolution zu tun habe, die eben genau zehn Jahre nach der erfolgreichen Revolution auf ihre Zerstörung abziele und sich dabei der Unachtsamkeit in Industrie und Partei habe sicher sein können.²⁴⁹ Der Prozess gegen die Spezialisten, Ingenieure und Techniker aus der Region Šachty fand zwischen dem 18. Mai und 6. Juli vor dem Obersten Gericht der Sowjetunion in Moskau statt. Vor mehr als insgesamt 100.000 Prozessbesuchern wurden dort die Fälle von 50 russischen und 3 deutschen Angeklagten verhandelt.²⁵⁰ Wie im Prozess gegen die Sozialrevolutionäre gab es wieder zwei Gruppen. Abermals standen also diejenigen, die sich selbst und andere öffentlich belasteten und somit alle Beschuldigten in ein Netz vermeintlicher Evidenz einsponnen
Obʺedinënnyj plenum CK i CKK VKP(b) 6 – 11 aprelja 1928 g. Stenografičeskij otčet, in: Danilov/Chlevnjuk/Vatlin (Hg.), Kak lomali NĖP, S. 156, S. 159. Vgl. Rezoljucija po dokladu tov. Rykova, prinjataja edinoglasno ob’’edinennym plenumom CK i CKK VKP(b), 11. aprelja 1928 g.: Šachtinskoe delo i praktičeskie zadači v dele bor’by s nedostatkami chozjajstvennogo stroitelʼstva, in: Danilov/Chlevnjuk/Vatlin (Hg.), Kak lomali NĖP, S. 325 – 332. Zu den Zahlen vgl. Bailes: Technology and Society, S. 90. Von nur 30.000 Zuschauern spricht Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, S. 702. Vgl. ferner Postanovlenie Politbjuro CK VKP(b). 1 marta, 8 marta 1928 g. und Specsoobščenie G. G. Jagody I. V. Stalinu o ›vreditelʼskoj‹ organizacii v sisteme Donuglja. 12 marta 1928 g., in: Chaustov/Naumov/Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i VČK-GPUOGPU-NKVD, S. 147– 152.
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einer anderen Gruppe gegenüber, die im Gerichtssaal nachdrücklich ihre Unschuld beteuerte.²⁵¹ Mit dem Vorsitz des Verfahrens war der aufstrebende Jurist Andrej Vyšinskij betraut worden, während die staatliche Anklage wie 1922 federführend von Krylenko geführt wurde. Mit einer weitschweifigen Inszenierung der sogenannten sozialistischen Gerechtigkeit erlebte die Öffentlichkeit nunmehr die Klimax eines monatelang hinter den Kulissen orchestrierten Verfahrens: „Die Männer von Šachty standen am Pranger nicht so sehr wegen eigener Untaten, sondern vielmehr für die Verbrechen der ganzen vergifteten und rebellischen Intelligencija.“²⁵² Der politische Kampf als Familiendrama sollte auch diesmal nicht fehlen. Sechs Jahre zuvor war der Riss durch die Familie Ratner gegangen. Nun bezichtigte ein gewisser Emelʼjan Kolodub seinen eigenen Bruder Andrej: „Ohne besondere Ermunterung seitens der Ankläger schaute Emelʼjan unbeirrbar zu seinem Bruder und beharrte darauf, dass sie beide konspiriert, beide Geld von Emigranten erhalten und beide den sowjetischen Staat, für den sie arbeiteten, belogen hätten.“ Als Andrej kurze Zeit später zudem erfuhr, dass sein eigener Sohn Kirill in einer Zeitung die Todesstrafe für ihn gefordert habe und fortan nicht mehr den Familiennamen, sondern den Namen Šachtin zu tragen beabsichtige, lag das Drama offen zutage. Während der Prozessbeobachter Lyons noch darüber nachdachte, dass der Sohn fortan „den Namen Šachtin als Kainsmal“ tragen würde, stemmten sich andere, wie etwa Lazarʼ Rabinovič, der einflussreiche Steinkohleingenieur und Mitarbeiter des Obersten Rates für Volkswirtschaft, scheinbar völlig furchtlos gegen die Anschuldigungen.²⁵³
Vgl. Krasilʼnikov/Savin/Ušakova: Šachtinksij političeskij process 1928 goda. Istočniki v kontekste ėpochi, in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 1, S. 21 f. und Kuromiya: Shakhty Affair, S. 41– 64. Lyons: Assignment in Utopia, S. 115.Vgl. ferner O.V. Chlevnjuk/V. P. Danilov: Aprelʼskij plenum 1928 g. und Obʺedinënnyj plenum CK i CKK VKP(b) 6 – 11 aprelja 1928 g. Stenografičeskij otčet, in: Danilov/Chlevnjuk/Vatlin (Hg.), Kak lomali NĖP, S. 15 – 33, hier: S. 31, S. 240. In diesen Jahren wurden zwischen zwei und siebentausend sogenannte Ingenieure verhaftet; eine enorme Zahl gemessen an dem Umstand, dass die Sowjetunion damals nur über etwa 1100 Fachleute insgesamt verfügte. Vgl. dazu Bailes: Technology and Society, S. 70 – 79. Generell zur Verfolgung von Spezialisten siehe auch Krasilʼnikov/Savin/Ušakova: Šachtinksij političeskij process 1928 goda. Istočniki v kontekste ėpochi, in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 1, S. 70. Vgl. Lyons: Assignment in Utopia, S. 126 f. und E. Kolodub: Zajavlenie E.K. Koloduba s priznaniem pričastnosti k vreditel’stvu i pros’boj o pomilovanii. 16 marta 1928 g., in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 2, S. 349 – 351. Vgl. ferner den diesbezüglich in der Emigrantenzeitung erschienenen Artikel Otec i syn, in:Vozroždenie (31.05.1928), S. 1.Vgl. Ferner Kuromiya: Shakhty Affair, S. 41– 64.
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Am letzten Prozesstag, dem 6. Juli 1928, fanden sich die Richter erst gegen Mitternacht zur Urteilsverkündung im Gerichtssaal ein. Sodann verlas Vyšinskij rund eine Stunde lang das Urteil, währenddessen alle Anwesenden stehen mussten.²⁵⁴ Schließlich bekannten sich 20 der Angeklagten schuldig, 10 teilweise schuldig. Alle anderen beteuerten weiterhin ihre Unschuld und machten keinen Hehl aus ihrer Ablehnung der Ankläger.²⁵⁵ Es ergingen elf Todesurteile, von denen wenige Tage später fünf vollstreckt und sechs in Freiheitsstrafen umgewandelt wurden. Der Großteil der Angeklagten erhielt Gefängnisstrafen zwischen einem und zehn Jahren. Neben drei russischen wurde einer der drei deutschen Angeklagten freigesprochen.²⁵⁶ Trotz dieses vergleichsweise moderaten Ausgangs war der Prozess nicht einfach nur eine »Generalprobe« (Bertram Wolfe) späterer Schauprozesse, sondern vielmehr ein Spektakel, das gerade auch die Handlungszwänge des Machthabers im Umgang mit seinen tatsächlichen und vermuteten Feinden offenbart hatte.²⁵⁷ Bereits auf dem April-Plenum des ZK hatte Stalin die vergangenen Ereignisse einer Revision unterzogen und im Zuge dessen wieder einmal das Gespenst der Verschwörung heraufbeschworen. Natürlich sei die ganze Angelegenheit, so der Generalsekretär, keinesfalls als Zufall, sondern vielmehr als Tat einer geheimen Organisation im Innern zu betrachten, die stets auf ausländische Unterstützung habe zählen können.²⁵⁸ Nach der Verhandlung schließlich folgte eine gleichsam kanonische Interpretation von Stalins erstem Schauprozess, die bald auch allen Parteimitgliedern als ›Lektionen der Šachty-Angelegenheit‹ zugänglich gemacht wurde. Angesichts immer rücksichtsloserer und zunehmend schwer auszumachender Feinde, so erfuhren die Leser der Lektionen, sei nicht nur höchste Wachsamkeit geboten, sondern auch mit einem langen Kampf zu rechnen.²⁵⁹
Vgl. Lyons: Assignment in Utopia, S. 129 – 131. Zur Ablehnung vgl. Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, S. 702. Vgl. N. Krylenko/P. Krasikov: Obvinitel’noe zaključenie po delu ›Ob ėkonomičeskoj kontr-revoljucii v Donbasse‹. [8 maja] 1928 und Krasil’nikov/Savin/Ušakova: Šachtinksij političeskij process 1928 goda. Istočniki v kontekste ėpochi in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 1, S. 318 – 528, S. 21 und Bailes: Technology and Society, S. 91– 94. Von einer Generalprobe (dress rehearsal) spricht Bertram D. Wolfe: Dress Rehearsal for the Great Terror, in: Studies in Comparative Communism 3 (1970), S. 1– 24. Vgl. Obʺedinënnyj plenum CK i CKK VKP(b) 6 – 11 aprelja 1928 g. Stenografičeskij otčet und Rezoljucija po dokladu tov. Rykova, prinjataja edinoglasno ob’’edinënnym plenumom CK i CKK VKP(b), 11. aprelja 1928 g.: Šachtinskoe delo, in: Danilov/Chlevnjuk/Vatlin (Hg.), Kak lomali NĖP, S. 233 – 241, S. 325 – 332. Vgl. N. Krylenko: Statʼja gosudarstvennogo obvinitelʼja po delu ›Ob ėkonomičeskoj kontrrevoljucii v Donbasse‹ N.V. Krylenko ›Uroki Šachtinskogo dela‹, in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 1, S. 529 – 566.
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Im Laufe des Prozesses hatte der Chronist Lyons in allen beteiligten Personen des Verfahrens nur noch Puppen eines von verwertbarer Evidenz weit entfernten Spektakels erkannt. Die Angeklagten seien ihm wie Gefangene der Revolution vorgekommen, die zwar ihren Befehlen gehorcht, zugleich aber davon geträumt hätten, ihr zu entkommen.²⁶⁰ Eine ähnlich verwickelte Geschichte erzählt Lev Kopelev in seinen Erinnerungen von einer gewissen Ženja M., mit der er im Jahr 1928 eine Beziehung eingegangen war. Ihr Vater hatte zu den Hauptangeklagten im Šachty-Prozess gehört. Der Angeklagte, über den nun Tochter und Frau berichteten, sei zwar gegen die Sowjetmacht gewesen, habe aber „immer loyal gearbeitet“ und „jene, die tatsächlich eine Verschwörung angezettelt und versucht hätten, ihn hineinzuziehen, nicht angezeigt“. Nach der Verhaftung allerdings habe er schließlich die „ganze Wahrheit [gesagt], und deshalb begannen die wirklichen Schädlinge dann, ihn zu verleumden.“²⁶¹ Die Angelegenheit Šachty lässt sich folglich mit Fug und Recht als „ein Wirrwarr aus Fakten, Fabrikationen und pervertierten Gesetzen“ bezeichnen, wie Stephen Kotkin angemerkt hat.²⁶² Selbst wenn Kotkin den Implikationen dieser Aussage keinen weiteren Raum gewährt, steht der Fall doch exemplarisch für die eigentümliche Dynamik der Alleinherrschaft. Eben diese Dynamik hatte Machiavelli im Blick, als er von den Zuschreibungen sprach, denen ein Machthaber im Kampf mit seinen Feinden stets ausgesetzt sei.²⁶³ Auch wenn die ersichtliche Inszenierung des Šachty-Prozesses nicht in Abrede gestellt werden kann, macht Machiavelli doch auf eine Binnenlogik, gleichsam auf eine Realität zweiter Ordnung, aufmerksam, die sich gerade in der systemischen Pfadabhängigkeit des entstehenden Stalinismus erkennen lässt. Dazu gehörte vor allem das komplizierte Gemisch einer durchaus real basierten Furcht vor Feinden und einem zunehmenden Informationsüberfluss bei gleichzeitigem Informationsdefizit.²⁶⁴ Die Inszenierung machte folglich aus den Akteuren zugleich Gefangene der eigenen Schöpfung. So kommt etwa der Historiker Hiroaki Kuromiya zu dem Schluss, dass letztlich die Frage offenbleiben müsse, ob es tatsächlich Spionage und Sabotage gegeben habe, auch wenn der Fall Šachty
Vgl. Lyons: Assignment in Utopia, S. 132. Lew Kopelew: Und schuf mir einen Götzen. Lehrjahre eines Kommunisten, Göttingen 1996, S. 272 f. Kuromiya vermutet, dass es sich bei ›M.‹ um den Angeklagten Jurij Matov gehandelt habe, der zunächst zum Tode, dann aber zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Vgl. dazu Kuromiya: Shakhty Affair, S. 41– 64. Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, S. 690. Vgl. Machiavelli: Discorsi, S. 319 f. Vgl. dazu Terry Martin: Politics and Sociology of State Information-Gathering in the USSR, Stanford 2013 und Bone: Soviet Controls.
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sonst meist als reine Fabrikation des Stalinismus behandelt wird.²⁶⁵ Kendall Bailes gibt ferner zu bedenken, dass der Fall deshalb nur vom Geheimdienst „aufgedeckt“ wurde, weil „viele Spezialisten politisch immer noch neutral waren und daher konterrevolutionäre Aktivitäten ihrer Kollegen auch nicht weitergeleitet hätten.“²⁶⁶ Die wirkliche Macht herrsche dort, wo die Geheimhaltung beginne, schrieb einmal Hannah Arendt.²⁶⁷ Zuletzt hat diese Auffassung Schützenhilfe von dem Historiker Niels Erik Rosenfeld erhalten, nachdem er die geheimen Informationskanäle der Kanzlei Stalins erforscht hat und in ihnen das Herzstück seiner Macht glaubte ausmachen zu können.²⁶⁸ Dabei übersahen beide das Dilemma der Alleinherrschaft, auf das schon die Legende von Damokles aufmerksam gemacht und das seither immer wieder zu einer Beschäftigung mit der besonderen Schwäche scheinbarer Allmacht geführt hat.²⁶⁹ Der Schriftsteller und Sozialrevolutionär Michail Osorgin, der auf Geheiß Lenins 1922 die Sowjetunion hatte verlassen müssen, fing in lakonischem Ton die Atmosphäre eben dieser Jahre eindrücklich ein. So lässt der Autor von Eine Straße in Moskau einen Untersuchungsführer sein zum Verhör bestelltes Gegenüber fragen, ob er etwa glaube, dass man grundlos Menschen verhafte. Als dieser sodann erwidert, dass dies doch vermutlich in neun von zehn Fällen der Fall sei, sieht sich der Untersuchungsführer zu einer Antwort genötigt, die den Auswuchs des Dilemmas auf den Punkt bringt: „Da liegen Sie falsch. Selbstverständlich kommen Fehler vor, aber Fehler werden korrigiert. Wir müssen sehr wachsam sein, denn die Sowjetmacht ist von Feinden umgeben. Deshalb ist es besser, wenn ein Dutzend grundlos einsitzt, als dass sich uns auch nur ein einziger Feind entzieht.“²⁷⁰
Vgl. auf der einen Seite Kuromiya: Shakhty Affair und auf der anderen Seite Krasilʼnikov/ Savin/Ušakova: Šachtinksij političeskij process 1928 goda. Istočniki v kontekste ėpochi, in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 1, S. 10 – 70. Bailes: Technology and Society, S. 82. Vgl. Arendt: Totalitarianism, S. 403. Vgl. exemplarisch Niels Erik Rosenfeldt: Knowledge and Power. The Role of Stalinʼs Secret Chancellery in the Soviet System of Government, Copenhagen 1978. Generell zu dem Phänomen Kets de Vries: Leadership by Terror und Svolik: Power Sharing. In Bezug auf den Stalinismus exemplarisch James Harris: Was Stalin a Weak Dictator?, in: The Journal of Modern History 75 (2003), S. 375 – 386; Harrison: Rational-Choice Dictator und Vincent Barnett: Understanding Stalinism: The ›Orwellian Discrepancy‹ and the ›Rational Choice Dictator‹, in: Europe-Asia Studies 58 (2006), S. 457– 466. Diese Formulierung findet sich in dem bereits 1928 veröffentlichten Roman von Ossorgin: Eine Straße in Moskau, S. 329. Sie erinnert an die berühmte Fünf-Prozent-Formel, die Stalin später formulieren sollte. Vgl. dazu Iz reči I. V. Stalina na rasširennom zasedanii voennogo soveta. 2 ijunja
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Stellvertretend für die Sowjethistoriographie sprach der Historiker David Golinkov Ende der 1970er Jahre von 24 zentralen Prozessen, die in der Zeit von 1920 bis 1929 geführt worden seien. Dabei käme den Verfahren gegen die Sozialrevolutionäre und die Ingenieure von Šachty eine besondere Bedeutung zu – nicht nur, weil sie verhältnismäßig lange dauerten, sondern vor allem auch, weil sich die Angeklagten in beiden Fällen nicht einfach geschlagen gegeben hätten, wie etwa im Fall des Prozesses gegen die sogenannte Industriepartei im Jahr 1930 oder gegen die Menschewiki 1931.²⁷¹ Auch Historiker jüngeren Datums glauben, in der 1928 kulminierten Dynamik ein letztes Aufbäumen derjenigen zu erkennen, die sich Hoffnungen auf ein Abtreten oder zumindest Einlenken Stalins gemacht hatten.²⁷² Nicht zuletzt deshalb sollten die folgenden Jahre eine Potenzierung zeitigen, die Bucharin zwar bekanntlich früh als „ignoranten Schwachsinn“ bespöttelte, die aber doch offenbarte, dass sich der machiavellische Demiurg den Anschlusszwängen seiner eigenen Schöpfung immer weniger zu entziehen vermochte.²⁷³
1937 g., in: V. N. Chaustov/V. P. Naumov/N. S. Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i glavnoe upravlenie gosbezopasnosti NKVD, 1937– 1938, Moskau 2004, S. 209. Zur Ausweisung Ossorgins siehe das auf den 5. September 1922 datierte Dokument RGASPI, Fond 76, op. 3, d. 303, ll. 1– 3 und Solschenizyn: Archipel GULAG 1, S. 345. Vgl. Golinkov: Krušenie antisovetskogo podpolʼja v SSSR. Kn. 2, S. 349 – 355. Vgl. ferner Krasil’nikov/Savin/Ušakova: Šachtinksij političeskij process 1928 goda. Istočniki v kontekste ėpochi, in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 1, S. 21. Vgl. Krasilʼnikov/Savin/Ušakova: Šachtinksij političeskij process 1928 goda. Istočniki v kontekste ėpochi, in: Krasilʼnikov (Hg.), Šachtinskij process 1928 g. Kniga 1, hier: S. 17– 22 und Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, S. 701. Zu Bucharin vgl. Bailes: Technology and Society, S. 84 und Bucharina: Erinnerungen, S. 360 passim.
Der Kampf gegen den sterblichen Gott Ein fragwürdiges Argument rief das nächste fragwürdige Argument herbei, und je fragwürdiger die einzelnen Teile dieser Konstruktion waren, desto glaubwürdiger erschien das Ganze. Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther¹
1. Machtausbau als Kontrollverlust Als die Schüler im georgischen Priesterseminar eines Tages über den Sturz Caesars schreiben sollten, stieß dieser Stoff bei einem gewissen Džugašvili auf besonderes Interesse. In seinem Text verwob der Schüler, der bald Stalin genannt wurde, die hinlänglich bekannten Fakten mit einer eigenwilligen Interpretation. Vornehmlich machte er den Umstand, dass Caesar dem Senat, also einer staatlichen Funktionselite, mehr Macht gewährt hatte als sich selbst, verantwortlich für die letztlich erfolgreiche Verschwörung. Caesars Kardinalfehler sei es gewesen, die eigene Macht mit politischen Freunden zu teilen, anstatt sie zu Erfüllungsgehilfen zu machen. Es sei daher kein Wunder, so die Schlussfolgerung, dass Caesar durch die Hände seiner vermeintlich treusten Anhänger zu Fall gebracht wurde; denn die persönliche Macht dürfe nie an einen Staatsapparat geknüpft sein, vielmehr müsse sich dieser dem Willen des Machthabers fügen – so Stalins Ratschlag.² Damit hatte Stalin bereits im frühen 20. Jahrhundert zwei wesentliche, jede Form politischer Alleinherrschaft betreffende Probleme herausgearbeitet: das Problem der Kontrolle und das der Machtteilung.³ Während zu Beginn der bolschewistischen Herrschaft das Problem der Kontrolle im Vordergrund gestanden hatte, als dessen eklatanteste Inszenierung nach innen der Prozess gegen die Sozialrevolutionäre gelten kann, nahm mit dem
Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther. Geschichten, Berlin 2015, S. 161. Diese Episode, die auf die Erinnerung eines Mitschülers von Stalin zurückgeht, wird geschildert bei Avtorkhanov: Stalin and the Soviet Communist Party, S. 49. Vgl. zur Einordnung dieses Buches David-Fox: Memory, Archives, Politics. Vgl. ferner zu Stalins Gewohnheit, sich selbst mittels historischer Überlieferung zu legitimieren, Chlevnjuk: Stalin. Žiznʼ odnogo voždja, S. 139 f. und zu Stalins Menschenbild Tucker: Stalin in Power, S. 271. Dieses systemische Problem wird in der neueren Diktaturforschung diskutiert. Vgl. „All dictators face threats from the masses, and I call the political problem of balancing against the majority excluded from power the problem of authoritarian control. […] A second, separate political conflict arises when dictators counter challenges from those with whom they share power. This is the problem of authoritarian power-sharing.“ Svolik: The Politics of Authoritarian Rule, S. 2. https://doi.org/10.1515/9783110619287-006
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Machtausbau Stalins und der zunehmenden Personalisierung seiner Herrschaft Ende der 1920er Jahre das Problem der Machtteilung immer deutlichere Konturen an. Durchaus freimütig hatte Stalin vor Moskauer Parteimitgliedern im April 1928 gesprochen, als er die ›Selbstkritik‹ zum unverzichtbaren Bestandteil revolutionärer Selbstvergewisserung erklärte und auf die Notwendigkeit geteilter Herrschaft hinwies. Schließlich sei die Leitung eines solch großen Landes ohne eine „kompetente Führungsgruppe“ unmöglich. Da man dieser Tatsache bisher nicht gewahr geworden sei, habe sie alle die Šachty-Angelegenheit „wie ein Blitz aus heiterem Himmel“ getroffen. Mit der nötigen Wachsamkeit und Bereitschaft zur ›Selbstkritik‹ allerdings hätte den Feinden rechtzeitig Einhalt geboten werden können.⁴ Folglich war aus der intellektuellen Ertüchtigung im Priesterseminar rund zwanzig Jahre später politische Pflichterfüllung geworden. Die Schlussfolgerungen des Alleinherrschers glichen dabei durchaus denen des Schülers Džugašvili im Falle Caesars. So verwundert es denn auch nicht, dass Stalin an das Ende seiner Rede zu den Ereignissen in Šachty eine kleine Abhandlung über die Befehlserfüllung setzte. Herrschen, so erfuhren seine Zuhörer, bestehe nämlich keineswegs allein darin, Resolutionen zu verfassen und Direktiven zu verschicken.Vielmehr laufe Herrschaft darauf hinaus, die „Ausführung von Direktiven zu überprüfen und sie nicht einfach auszuführen.“⁵ Diese durchaus an Max Weber erinnernde Herrschaftsdefinition liefert ein erstaunlich deutliches, wenn auch in typisch sowjetische Ornamente gekleidetes Bild von Stalins Herrschaftsanspruch. Es zeigt, dass Stalin offenbar alles daran setzte, nicht dieselben Fehler zu begehen, die er ehedem für den Sturz des letzten Herrschers der Römischen Republik glaubte ausmachen zu können. Das Mantra der Wachsamkeit und die Aufforderungen zur ›Selbstkritik‹ waren daher vor allem wortreiche Umschreibungen eines Staatsverständnisses, demzufolge die „Staatsmacht unmittelbar von der persönlichen Macht abgängig sein muss.“⁶
I. V. Stalin: O rabotach aprelʼskogo obʺedinënnogo plenuma CK i CKK. Doklad na sobranii aktiva Moskovskoj organizacii VKP(b), in: Danilov/Chlevnjuk/Vatlin (Hg.), Kak lomali NĖP, Zitate: S. 402, S. 404. Die Losung lautete: „Rukovoditʼ – ėto značit proverjatʼ ispolnenie direktiv.“ Vgl. RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 86, l. 1 und Stalin: O rabotach aprelʼskogo ob’’edinënnogo plenuma CK i CKK. Doklad na sobranii aktiva Moskovskoj organizacii VKP(b), in: Danilov/Chlevnjuk/Vatlin (Hg.), Kak lomali NĖP, S. 415. Siehe zu Stalins verspätetem Ratschlag an Caesar Avtorkhanov: Stalin and the Soviet Communist Party, S. 49.Während seiner Herrschaft kam Stalin mit ungefähr 30.000 Besuchern und rund 3000 Gästen in seinem Büro im Kreml zusammen.Vgl. dazu A. A. Černobaev (Hg.): Na priëme u Stalina, Moskau 2008, S. 7.
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Mit der Zerschlagung letzter offen oppositioneller Kräfte wuchs sich das ambivalente Verhältnis aus unbedingtem Kontrollanspruch auf der einen und Notwendigkeit zur Machtteilung auf der anderen Seite zu einem gleichsam unvermeidbaren Komplex aus, an dem sich weitere Verschwörungsszenarien entspinnen sollten. Diese Dynamik hatte bereits Aristoteles im Blick, als er auf den Zusammenhang von Machtkonzentration und drohender Verschwörung hinwies und in dem gewaltsamen Sturz nichts anderes als die Kehrseite eines beschnittenen politischen Aushandlungsprozesses ausmachte.⁷ Eine nähere Analyse hat dieses Dilemma erstmals in einem Dialog des griechischen Philosophen Xenophon erfahren. Dort sieht sich der Tyrann Hiero durch die lakonische Feststellung des Poeten Simonides provoziert, dass ein Tyrann doch in einer privilegierten Lage sei, da es ihm niemals an Lob mangele und der „süße Klang“ seiner Getreuen alles begleite, was er, der Führer, sage und tue. Aus diesem Zuspruch sei jedoch keinesfalls Genugtuung zu schöpfen, entgegnet daraufhin Hiero, da ein Alleinherrscher wisse, dass „jeder Gedanke […] an ihn eigentlich böse ist.“ Ein Tyrann könne schließlich niemals darauf vertrauen, dass er tatsächlich geliebt werde, „verschwören sich doch gerade diejenigen gegen ihn, die ihm vorgeblich am treusten ergeben sind.“⁸ Nicht nur Hiero sah sich durch Häresie und Attentäter bedroht; auch seine politischen Erben misstrauten ihren Untertanen zutiefst und fürchteten, dass sich gerade die engsten politischen Mitstreiter gegen sie verschwören würden. Folglich schüren überschwänglicher Zuspruch wie offener Zweifel gleichermaßen den Verdacht des Diktators. Das krankhafte Misstrauen Stalins, über das sich Nikita Chruščëv während seiner ›Geheimrede‹ wortreich ausließ, sollte daher weniger als Ursache denn als systemimmanentes Resultat diktatorischer Machtstruktur interpretiert werden.⁹ Je mehr Macht nämlich ein Diktator akkumuliert und je stärker sie die Kommunikation prägt, desto besser ist er beraten, den Informationen und Loyalitätsbekundungen seiner Untergebenen zu misstrauen.¹⁰ Schließlich wächst mit der Machtfülle auch die Gewissheit der Untergebenen, dass Kritik am Regime gefährlich ist.¹¹ Zwar vermag der kontinuierliche Machtzuwachs zunächst der Angst des Souveräns vor dem politischen Niedergang entgegenzuwirken, die sich damit allerdings steigernde Unmöglichkeit, die eigentlichen Intentionen der Untergebenen noch zu erschließen, beflügelt sodann
Vgl. Aristoteles: Politik, Buch 5 (St. 1311a), Hamburg 1995. Xenophon: Hiero or Tyrannicus, S. 5, S. 7 f. Vgl. zum vermeintlich krankhaften Misstrauen klassisch RGANI, Fond 1, op. 2, d. 17, l. 38. Vgl. als eindrückliches Beispiel, wie die Umgebung – in diesem Fall Nikolaj Krylenko – dem Führer nach dem Munde redete, RGASPI, Fond 558, 11, d. 756, ll. 101– 108. Vgl. Merl: Politische Kommunikation, S. 43 – 81.
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nur erneut das herrschaftliche Misstrauen.¹² Je stärker sich das Sprechen angesichts unterbundener Opposition ritualisiert, desto schwieriger wird es für den Diktator, die Lage noch angemessen zu beurteilen. Eine gleichgeschaltete Kommunikation ist daher nur auf den ersten Blick ein eminenter Ausdruck von Macht.¹³ Machthaber brauchen Mitstreiter und müssen ihnen Nähe gewähren. Gerade deshalb werden sie die Kosten potenzieller Verschwörer so hoch treiben, dass sie den möglichen Nutzen einer erfolgreichen Verschwörung übersteigen.¹⁴ Stalin jedenfalls schien die wörtliche Bedeutung von Verschwörung nur allzu geläufig zu sein. Seit den frühen 1930er Jahren setzte er buchstäblich alles daran, ein gemeinsames Atmen (conspirare) jenseits seiner Zugriffsmacht zu unterbinden. Nun sollten selbst hohe Funktionsträger, die die Zeichen der neuen Politik missverstanden, die Konsequenzen des Machtkalküls spüren. Dabei trug die Verurteilung informeller Zusammenkünfte nicht allein dem Umstand Rechnung, dass Stalin Verschwörungen als Möglichkeit ernst nahm, sondern sie sandte vor allem auch die unmissverständliche Botschaft aus, dass jede Zusammenkunft abseits des politischen Alltags de facto als verschwörerischer Akt gedeutet werden würde. In dem Maße, in dem private Treffen sanktioniert wurden, wuchs daher der Druck, an offiziellen Veranstaltungen teilzunehmen und sich durch die »Kommunikation unter Anwesenden« (Stephan Merl) zu Komplizen des Regimes zu machen.¹⁵ Der stalinistische Kampf gegen Möglichkeiten erschuf eine Welt als Verschwörung. In ihr blieb den Untertanen zur Bekräftigung ihrer Loyalität alsbald nichts anderes übrig, als auch selbst diese Szenarien zu reproduzieren. Dadurch
Vgl. Wintrobe: Political Economy, S. 20 – 39; Harrison: Rational-Choice Dictator und Roger Boesche: Theories of Tyranny. From Plato to Arendt, University Park 1996, S. 92 f. Vgl. zu diesem Komplex exemplarisch Igal Halfin: Looking into the Oppositionistsʼ Souls. Inquisition Communist Style, in: Russian Review 60 (2001), S. 316 – 339; Igal Halfin: Intimate Enemies. Demonizing the Bolshevik Opposition, 1918 – 1928, Pittsburgh 2007; Igal Halfin/Jochen Hellbeck: Rethinking the Stalinist Subject: Stephen Kotkinʼs ›Magnetic Mountain‹ and the State of Soviet Historical Studies, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996), S. 456 – 463 und Lorenz Erren: ›Selbstkritik‹ und Schuldbekenntnis. Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917 – 1953), München 2008. Vgl. zum Kosten-Nutzen-Kalkül Gregory: Terror by Quota, S. 35 f., S. 106 – 139, S. 169, S. 270 f. und zuletzt Svolik: The Politics of Authoritarian Rule. Vgl. Merl: Politische Kommunikation, S. 70. „As Stalin consolidated his power in 1931 and 1932, he spent one-eighth the time with his state security heads as with his deputies. This ration increased to one-third of his time in 1933 and 1934. As he began the attack on high-level rivals after Kirvos’s assassination in December 1934, Stalin spent half as much time with his state security heads as with his deputies.“ Gregory: Terror by Quota, S. 99.
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drifteten Informationsfülle und Informationsgehalt immer weiter auseinander und bewirkten zusätzlichen Handlungsdruck.¹⁶ Ihren Niederschlag fand die Staatsräson des antizipierten Machtverlustes in den Anklagen, Verhören und Geständnissen vermeintlicher Verschwörer.¹⁷ Dabei untergruben die erzwungenen Geständnisse allerdings nicht die Glaubwürdigkeit der Anklage, sondern offenbarten vielmehr den Widerspruch als Ausdruck feindlicher Verschlagenheit.¹⁸ Allein die Tatsache der Verhaftung belege die Schuld, bekannte etwa der künftige stellvertretende MGB-Chef Michail Rjumin ohne Umschweife.¹⁹ Entsprechend sahen sich die Verfechter der stalinistischen Lehre im Kampf mit unsichtbaren Gegnern, die jederzeit unbemerkt zum Angriff übergehen konnten. Diese Logik der Paranoia kannte „keine Unschuldigen, nur solche, die des Verrats noch nicht überführt worden sind, also maskierte Verräter.“²⁰ Im Oktober 1930 erörterten die Mitglieder des Politbüros die Gefahr eines Attentats und suchten mit demonstrativer Sorge das Flanieren Stalins per Beschluss zu unterbinden.²¹ Eine solche Anweisung musste ihm gefallen; ermöglichte sie ihm doch, seine Umgebung mit dieser Form verbriefter Allmacht in Schach zu halten. Und schon bald wusste der Geheimdienst von einem besorgniserregenden Zwischenfall zu berichten. So habe sich am 16. November 1931 ein gewisser Ogarjëv dem Machthaber ungehindert genähert und sogar die Hand einer seiner acht Begleiter im Vorbeigehen streifen können. Genau in diesem Moment, gab Ogarjëv später zu Protokoll, habe er den Vorsatz gefasst, Stalin zu
Vgl. diesbezüglich etwa die Stimmungsberichte und die entsprechenden staatlichen Reaktionen in den Akten GARF, Fond R-1005, op. 1 A, d. 1142, l. 15 und GARF, Fond R-3316, op. 8, d. 122, ll. 28 – 32, ll. 34– 40, l. 92, l. 140 und GARF, Fond R-3316, op. 8, d. 224, l. 122. Die Fallstricke stalinistischer Kommunikationspraxis hat früh erkannt Mikojan: Tak bylo, S. 552– 558. Vgl. ferner Graziosi: The New Soviet Archival Sources und Robert C. Tucker: Stalin, Bukharin, and History as Conspiracy, in: Ders., The Soviet Political Mind, New York 1972, S. 49 – 86. Vgl. Michail Šrejder: NKVD iznutri. Zapiski čekista, Moskau 1995, S. 37 f., S. 55 f.; Viktor Kravchenko: I Chose Freedom, New Brunswick/New Jersey 1989, S. 234– 237; Solomon Tchernomordik: The Bolsheviks on Trial, London 1932, S. 20 – 23 und van Ree: The Political Thought of Joseph Stalin, S. 124 f. Vgl. Jonathan Brent/Vladimir P. Naumov: Stalinʼs Last Crime. The Plot Against the Jewish Doctors, 1948 – 53, New York 2003, S. 332. Hinter dieser zynischen Herangehensweise verbarg sich das Phänomen stalinistischer Beweislastumkehr. Sie wird eindringlich analysiert bei Solschenizyn: Der Archipel GULAG 1, S. 134– 139 passim. Enzensberger: Zur Theorie des Verrats, in: Ders., Politik und Verbrechen, S. 372. Vgl. ferner Margret Boveri: Der Verrat im 20. Jahrhundert, Reinbek 1976 und Kets de Vries: Leadership by Terror. Vgl. Primečanija, in: Chlevnjuk/Kvašonkin/Košeleva/Rogovaja (Hg.), Stalinskoe Politbjuro v 30-e gody. Sbornik Dokumentov, S. 98 f. Vgl. zur Gewohnheit Stalins auch Čuev: Tak govoril Kaganovič, S. 190 f.
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töten. Das Attentat sei jedoch missglückt, weil sich der Revolver „nicht in der Jacke, sondern in der Hosentasche unter dem Mantel befand“ und Ogarjëv mit seiner Verhaftung gerechnet habe, wenn er in der Nähe Stalins in seiner Kleidung herumgekramt hätte.²² Ivan Akulov, damals Stellvertreter des OGPU-Chefs Vjačeslav Menžinskij, unterrichtete Stalin, dass es sich bei dem mutmaßlichen, inzwischen verhafteten Attentäter offenbar um einen englischen Agenten handele. Bald darauf drängten die Mitglieder des Politbüros ihren Führer, die Spaziergänge durch Moskau nun endgültig einzustellen.²³ Die bolschewistische Vorstellungswelt war spätestens seit 1928 von dem Leitmotiv des sich intensivierenden Klassenkampfes geprägt, einer ideologischen Auffassung, wonach der Erfolg des bevorstehenden Sozialismus nicht die Niederlage der Feinde besiegle, sondern ganz im Gegenteil ihre Verschlagenheit anstachele.²⁴ Anstatt also durch proklamierte Erfolge eine Einhegung politischer Konflikte in Aussicht zu stellen, begründete Stalin damit die Eskalation. Nicht allein Klassenzugehörigkeit sollte nunmehr als Gradmesser der Feindschaft gelten, sondern die Gedankenwelt der Untertanen selbst stand unter Verdacht.²⁵ Nicht zufällig grassierte nun auch wieder die Rede vom Volksfeind, die in Gestalt des Artikels 131 der Stalinverfassung ihre juristische Verankerung finden sollte. Während die Verschwörung von Spezialisten in der Šachty-Angelegenheit noch fassbar gewesen sei, so Stalin im März 1937, zeichne sich der eigentliche Feind des sowjetischen Staats durch vordergründige Konformität aus.²⁶ Es sei eine Sache gewesen, ermahnte auch Geheimdienstchef Nikolaj Ežov das Zentralkomitee, „eine Kulakenorganisation aufzudecken, eine ganz andere aber ist es, Saboteure, Vgl. Pokazanija Ja. L. Ogarëva o vstreče s I. V. Stalinym, in: Chaustov/Naumov/Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i VČK-GPU-OGPU-NKVD, S. 286. Vgl. Vasilij Sojma: Zapreščënnyj Stalin, Moskau 2005, S. 329 f. Die Episode scheint in ihren Grundzügen der Wahrheit zu entsprechen und sollte daher nicht vorschnell als von oben organisierte Provokation abgetan werden. Vgl. dazu auch Chlevnjuk: Stalin. Žiznʼ odnogo voždja, S. 63. Vgl. RGANI, Fond 1, op. 2, d. 17, l. 28; I.V. Stalin: Ob industrializacii i chlebnoj probleme. Reč na plenume CK VKP(b) 9 ijulja 1928 g., in: Ders., Sočinenija. Tom 11, Moskau 1949, S. 157– 187, hier: S. 171 f. und I.V. Stalin: O pravom uklone v VKP(b). Reč na plenume CK i CKK VKP(b) v aprele 1929 g., in: Ders., Sočinenija. Tom 12, Moskau 1949, S. 1– 107, hier: S. 34– 42. Vgl. ferner RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 514 (1), l. 9 und d. 612 (3), l. 5ob.Vgl. zur Verbreitung dieses Motivs auch RGASPI, Fond 17, op. 120, d. 177, ll. 32– 33 und RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 190, l. 69. Diese spezifische Auffassung fand auch schon nach dem Ende des Bürgerkriegs ihren publizistischen Niederschlag. Vgl. dazu Lauchlan: Chekist Mentalité, S. 24 f. Robert Tucker hat die eigentümliche Logik dieser Weltdeutung früh erkannt. Vgl. dazu Robert C. Tucker: Stalin, Buckharin, and History, in: Ders., The Soviet Political Mind. Vgl. RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 612 (3), l. 4. Vgl. Obʺedinënnyj plenum CK i CKK VKP(b) 6 – 11 aprelja 1928 g. Stenografičeskij otčet, in: Danilov/Chlevnjuk/Vatlin (Hg.), Kak lomali NĖP, S. 233 – 237.
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Spione und Sprengmeister zu identifizieren, die sich hinter der Maske der Loyalität“ versteckten.²⁷ Von derlei Tiraden flankiert, durchstreifte seit den frühen 1930er Jahren das Gespenst der Verschwörung die sowjetische Ordnung. Dabei verschaffte das, was als politische Willkür erschien, Stalin den Vorteil, für seine Untergebenen unergründlich zu bleiben: „Seinen Feind findet er in den verschiedensten Gestalten wieder. Wo immer er eine Maske wegzieht, steckt sein Feind dahinter. […] Er läßt sich nicht täuschen, er ist der Durchschauer, das viele ist eins.“²⁸ Ganz in diesem Sinne deutete Stalin seine Unberechenbarkeit als Ausmerzung leichtsinniger Kurzsichtigkeit und höchsten Ausdruck herrschaftlicher Weitsicht.²⁹ Verschwörungsangst und präemptive Gewalt wurden somit zum signifikanten Ausdruck eines Machtgefüges, in dem Diskussion und Widerspruch als feindliche Signale galten, in dem jedoch auch die Angst vor dem Umsturz stetig wuchs, da die eingesetzte Gewalt und kommunikative Gleichschaltung ihn nur noch wahrscheinlicher erscheinen ließen. Die eben dadurch angelegte Legitimation des Exzesses folgte dem Kalkül, dass allumfassende Gewalt dem Risiko vorzuziehen sei, aufgrund von Unachtsamkeit selbst zum Opfer zu werden.³⁰ Auch wenn Stalin zunehmend als Durchschauer in Erscheinung trat, blieb er natürlich auf anderweitige Informationen angewiesen und honorierte besonders Hinweise auf drohende Verschwörungen. Dabei erweisen gerade sie sich, wie Gordon Tullock im Anschluss an Machiavelli feststellt, als delikate Herausforderung eines jeden Herrschers, da falsche Warnungen vor einer Verschwörung fast genauso überzeugend seien wie richtige.³¹ Die Verzerrung also zwischen validen Informationen, wenig fundierten Spekulationen und gezielten Falschmeldungen in der Hoffnung auf Anerkennung wird zur politischen Normalität. Das Phänomen der Verschwörung bleibt somit gefangen zwischen realem Gehalt und bloßer Theorie und ihren jeweiligen Verfechtern.³² In einem sozialpolitischen Gefüge nun, in dem der Verschwörungsglaube zur gesellschaftlichen Norm avancierte,
RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 597, l. 15. Canetti: Masse und Macht, S. 539, ferner: S. 343 – 351. Vgl. RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 612 (3), l. 6ob. Vgl. Mark Harrison: Stalin and Our Times, in: Geoffrey Roberts (Hg.), Stalin. His Times and Ours, Dublin 2005, S. 67– 84. Vgl. Tullock: The Social Dilemma, S. 261– 307, bes. S. 276. Vor diesem Hintergrund bleibt auch die These fragwürdig, dass eine „hohe Zirkulationsfrequenz“ von Verschwörungstheorien auf eine hohe Quote tatsächlicher Verschwörungen hindeute. Vgl. dazu Zwierlein/de Graaf: Security and Conspiracy in Modern History, S. 29.
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konnten daher besonders schnell die Grenzen zwischen Normalität und Paranoia verschwimmen.³³ „Das Geheimnis“, schrieb Georg Simmel, „legt eine Schranke zwischen die Menschen, zugleich aber den verführerischen Anreiz, sie durch Ausplaudern oder Beichte zu durchbrechen […]. Darum findet die soziologische Bedeutung des Geheimnisses ihr praktisches Maß, den Modus ihrer Verwirklichung, erst an der Fähigkeit oder Neigung der Subjekte, es auch bei sich zu behalten, bzw. an ihrem Widerstand oder Schwäche gegenüber der Versuchung zum Verrate.“³⁴ Von einem Durchbrechen der Schranke und der Versuchung zum Verrat sahen sich die Verfechter der revolutionären Geheimlehre von Beginn an bedroht. Gerade deshalb erinnerte man sich an den Mord an einem gewissen Ivan Ivanov, Mitglied der Verschwörergruppe um den zwielichtigen Nečaev, der gleichsam zur Geburtsstunde einer Grenzüberschreitung wurde; schließlich war damals erstmals ein Mitglied der eigenen Gruppe wegen vorgeblichen Verrats umgebracht worden.³⁵ Später stellten bolschewistische Hasardeure wie der sagenumwobene Kamo – den Maxim Gorki als Künstler der Revolution feierte – ihre eigenen Leute routinemäßig auf die Probe, indem man sie in fingierte Hinterhalte trieb, wo sie anschließend langen Verhören, psychischem Druck und Folterungen ausgesetzt wurden, um ihre Gruppentauglichkeit zu überprüfen, ›wahre‹ von ›falschen‹ Revolutionären zu scheiden.³⁶ Die Erklärung der Gewalthaftigkeit des Stalinismus über den persönlichen Faktor verkennt die systemimmanenten Mechanismen revolutionärer Kameradschaft und Herrschaft.³⁷ Keinesfalls lässt sich der »Maßnahmenstaat« (Ernst Fraenkel) Stalins allein als zynischer Krisenbewältiger selbstgeschaffener Probleme begreifen, demgemäß das Regime Widerstand provozierte, um ihn sodann gewaltsam zu bekämpfen.³⁸ Vielmehr kam in ihm das Kalkül zum Ausdruck, dass
Vgl. zur intentionalen und zugeschriebenen Unsichtbarkeit Barkun: Chasing Phantoms.Vgl. zu den verschwommenen Grenzen Barkun: A Culture of Conspiracy, S. 8 f. Vgl. ferner Gábor T. Rittersporn: Die sowjetische Welt als Verschwörung, in: Caumanns/Niendorf (Hg.), Verschwörungstheorie: Anthropologische Konstanten – historische Varianten, Osnabrück 2001, S. 103 – 124. Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt am Main 1992, S. 409 f. Vgl. zur Wirkung des Falles Rees: Political Thought, S. 117– 142. Vgl. zu Kamo [Simon Aršakovič Ter-Petrocjan] Mikojan: Tak bylo, S. 131 f., S. 360 f. und Geifman: Thou Shalt Kill, S. 166 – 168, S. 255 f. Vgl. zum persönlichen Faktor Čuev: Tak govoril Kaganovič, S. 27 f., S. 119, S. 125, S. 192. Vgl. Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat, in: Alexander v. Brünneck (Hg.), Ernst Fraenkel. Gesammelte Schriften, Baden-Baden 1999, S. 33 – 266. Zur Rezeption des Topos und Anwendung auf den sowjetischen Fall exemplarisch Stefan Plaggenborg: Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt am Main 2006, S. 201– 220. Die These, dass das Regime Krisen provozierte, um sie
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es für einen auf Macht konzentrierten Herrscher schlicht zielführend ist, eher gefürchtet als geliebt zu werden, da die Verbreitung von Furcht der eigenen Kontrolle unterworfen bleibt.³⁹ Seit ihren Ursprüngen litt die bolschewistische Bewegung – wie jede revolutionäre Gruppe – unter der Obsession, dass Verräter sich bei ihr eingenistet haben könnten. Durch eine besondere Form der Projektion, der gemäß der politische Kampf gar nicht anders als im Modus der Verschwörung stattfinden könne, schwoll diese Angst fortwährend an. Dem Gegner wurde eine Kampfweise unterstellt, die auch das eigene politische Vorgehen stets bestimmt hatte, und entsprechend behandelten die Bolschewiki augenscheinlich arbiträre Ereignisse. Wer sollte denn tatsächlich glauben, offenbarte sich Lazarʼ Kaganovič, dass „alte und erfahrene Konspirateure nicht die Erfahrung bolschewistischer Konspiration, Kooperation und Untergrundtätigkeit nutzen“ und diese Kampfmethoden eben gerade „gegen uns richten“.⁴⁰ Man mag diese spätere Stellungnahme eines engen Vertrauten Stalins als schlichte Exkulpation verstehen. Allerdings kannten die Bolschewiki den Verrat in den eigenen Reihen durchaus, was die zugespitzte Erklärung zumindest mehrdeutig erscheinen lässt. Einer der berühmtesten Fälle war sicherlich Roman Malinovskij, Mitglied des Zentralkomitees, Fraktionsvorsitzender der Bolschewiki in der vierten Staatsduma und zugleich Agent des zarischen Geheimdienstes.⁴¹ Während seiner Doppelkarriere hatte Malinovskij nicht nur das Vertrauen herausragender Bolschewiki gewinnen können, sondern auch zentrale Repräsentanten, darunter Sverdlov, Stalin, Ordžonikidze und Rykov, durch Verrat in die
dann mit Gewalt und Ausnahmereglungen zu bekämpfen, lässt sich etwa finden bei Vadim Rogovin: Vlastʼ i oppozicii, Moskau 1993, bes. S. 9 – 11. „Was also die Frage betrifft, ob ein Fürst sich beliebt oder gefürchtet machen soll, so komme ich zu diesem Schlusse: Da die Liebe der Menschen von ihrem Gutdünken, ihre Furcht aber vom Benehmen des Fürsten abhängt, so muß ein weiser Fürst sich auf das verlassen, was von ihm abhängt, und nicht auf das, was von den anderen abhängt, und nur darauf achten, daß er nicht gehaßt werde.“ Machiavelli: Der Fürst, S. 85 f. Der Umstand, dass Kaganovič diese rhetorische Frage Jahrzehnte später an den Publizisten Feliks Čuev richtete, macht sie als Zeugnis bolschewistischer Wahrnehmungsmuster nicht weniger plausibel; zumal sich gerade dieser Akteur bis zuletzt als Stalinist treu blieb. Vgl. zu dem Zitat Čuev: Tak govoril Kaganovič, S. 139 und in ganz ähnlichem Duktus Feliks Čuev: Sto sorok besed s Molotovym. Iz dnevnika F. Čueva, Moskau 1991, S. 390. Vgl. ferner Peter Holquist: ›Information Is the Alpha and Omega of Our Work‹. Bolshevik Surveillance in Its Pan-European Context, in: Journal of Modern History 69 (1997), S. 415 – 450. Malinovksij war zunächst stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten; nach dem Zerfall der Fraktion im September 1913 führte er die Bolschewiki in der Duma an. Zur Bedeutung Malinovskijs für das stalinistische Regime zuletzt Halfin: Intimate Enemies, bes. S. 1– 12.
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Verbannung gebracht.⁴² Als Malinovskij aufzufliegen drohte, verließ er die Duma und setzte sich noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ins Ausland ab.Vier Jahre später kehrte er nach Russland zurück, obwohl seine Verbindung zum Geheimdienst inzwischen hinlänglich bekannt war und die Bolschewiki in ihm nichts anderes denn einen »Judas« (Lev Kamenev) sahen. In einer geheimen Sitzung des obersten Revolutionstribunals wurde Malinovksij – die Anklage führte Stalins späterer Justizkommissar Nikolaj Krylenko – zum Tode verurteilt und im November 1918 schließlich erschossen.⁴³ Für die Revolutionäre waren Loyalität und Verrat, vorauseilender Gehorsam und Denunziation seit jeher Chiffren politischer Profilierung und Konfrontation. Es verwundert daher nicht, dass mit zunehmender Machtfülle bei Stalin immer häufiger Informationen eintrafen, die eine unheilvolle Allianz aus befürchtetem Umsturz und Honorierung solcher Informationen zeitigten. Ende Oktober 1930 erhielt er von einem gewissen Boris Reznikov, Parteisekretär der Literaturabteilung am Institut der Roten Professur, die Mitteilung, Vissarion Lominadze habe während eines Treffens davon gesprochen, dass höchstens ein Prozent für eine Veränderung des gegenwärtigen politischen Kurses auf „friedlichem Wege“ spreche.⁴⁴ Die verdächtigen Figuren waren einflussreiche Personen des Parteistaats: Lominadze hatte sich beim Exekutivkomitee der kommunistischen Internationale der Jugend und als Vorsitzender der Komintern in China verdient gemacht, bevor er 1930 zum ersten Parteisekretär des Regionalkomitees Transkaukasiens ernannt worden war. Sergej Syrcov führte nach seiner Rückkehr vom Posten des ersten Parteisekretärs des sibirischen Regionalkomitees den Vorsitz des Rats der Volkskommissare der Russländischen Sowjetrepublik und war sogar zum Kandidaten des Politbüros aufgestiegen. Allerdings hatte Syrcov bereits um die Jahreswende 1927– 1928 seine Skepsis gegenüber der damals um
Zur scheinbar vertrauensvollen Korrespondenz zwischen Malinovksij, Stalin und anderen siehe RGASPI, Fond 558, op. 1, d. 47, l. 237 und RGASPI, Fond 558, op. 4, d. 220. Zur Enttarnung von Provokateuren vor der Oktoberrevolution siehe HIA, Vladimir Burtsev, Box 1, Folder 48. Vgl. G. E. Zinovʼev: Vospominanija. Malinovskij, in: Izvestija CK KPSS 6 (1989), S. 184– 209. Zur Bezeichnung Malinovskijs als Judas siehe auch den Artikel von Lev Kamenev, in: Pravda (26.03. 1917), S. 6. Vgl. ferner Bertram D. Wolfe: Lenin and the Agent Provocateur Malinovsky, in: Russian Review 5 (1945), S. 49 – 69 und Roman Brackman: The Secret File of Joseph Stalin. A Hidden Life, London 2001, S. 63 – 133. Warum Malinovskij unter den genannten Umständen überhaupt nach Russland zurückgekehrt war, muss offen bleiben. L. P. Košeleva/L. A. Rogovaja/O. V. Chlevnjuk (Hg.): Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3, Moskau 2007, S. 207, S. 210.
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sich greifenden Kriegsangst geäußert und war somit recht früh von der Rhetorik des entstehenden stalinistischen Regimes öffentlich abgerückt.⁴⁵ Das geheime Treffen hatte inmitten chaotischer Verwerfungen infolge des ersten Fünfjahrplans stattgefunden und schien die Möglichkeit einer Verschwörung mit der realpolitischen Einsicht verschränkt zu haben, dass, „wer sich in die Notwendigkeit versetzt sieht, entweder zu handeln oder zu leiden“, für den „Machthaber außerordentlich gefährlich“ wird.⁴⁶ Zur Angst vor dem Rückstoß passte etwa auch die Drohung des betrunkenen Tomskij, der während einer Grillparty im Jahre 1928 Stalin ins Ohr geflüstert haben soll, dass bald die Arbeiter auf ihn schießen würden – oder Briefe, die Trotzki aus dem Exil an das Politbüro schrieb und in denen er der sowjetischen Führung konspirative Arbeit ankündigte.⁴⁷ Gerade eine solch ambivalente Lage schien dem Kalkül des Diktators entgegenzukommen, demzufolge jeder Mangel an konkreten Beweisen nicht als beruhigendes Zeichen zu werten sei, sondern vielmehr verbesserte Methoden des Feindes nahelegte. Auf dem informellen Treffen nun, so Reznikov, war es inhaltlich um die ökonomischen Folgen der Kollektivierung gegangen. Im Zuge dessen jedoch habe Syrcov frustriert angemerkt, dass mittlerweile selbst das Politbüro eine unverkennbare Fiktion sei, da alle entscheidenden Fragen von einem auserwählten Kreis um Stalin, abgeschottet im Kreml, entschieden würden. Angesichts dieses Befundes könne ein politischer Kurswechsel allein durch einen Führungswechsel erreicht werden. Um dies wiederum in die Wege zu leiten, habe sich die Gruppe einerseits völlige Konspiration verordnet, damit über Syrcov der Zugang zur Macht erhalten bleiben würde. Andererseits habe man sich darauf verständigt, aktiv nach Gleichgesinnten zu suchen.⁴⁸ Obgleich Reznikov in der Angelegenheit höchstwahrscheinlich als agent provocateur Stalins fungiert hatte, schienen die
Vgl. Danilov: Vvedenie. Stenogrammy plenumov CK VKP(b) 1928 – 1929 gg., in: Danilov/ Chlevnjuk/Vatlin (Hg.), Kak lomali NĖP, S. 5 – 14, hier: S. 8. Machiavelli: Discorsi, S. 297 f. Vgl. Charters Wynn: The ›Right Opposition‹ and the ›Smirnov-Eismont-Tolmachev Affair‹, in: Paul R. Gregory/Norman Naimark (Hg.), The Lost Politburo Transcripts, New Haven 2008, S. 97– 117, hier: S. 103. Vgl. ferner J. Arch Getty: Trotsky in Exile: The Founding of the Fourth International, in: Soviet Studies 38 (1986), S. 24– 35. Nicht zuletzt deshalb wurden mit Beginn von Trotzkis Exil immer wieder Auftragsmörder auf ihn angesetzt. Siehe zu einem gescheiterten Attentat in Paris etwa Library of Congress, Volkogonov Papers, Box 5, Folder 3. Vgl. Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk (Hg.): Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3, S. 209 f.
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übereinstimmenden Erklärungen der Gruppe bald dennoch den Kernbestand der Denunziation zu bestätigen.⁴⁹ Als primus inter pares verfügte Stalin im Jahre 1930 noch nicht über ausreichend Macht, Geständnisse einfach zu erpressen, insbesondere nicht von einem Kandidaten des Politbüros. Daher kam den ausführlichen Stellungnahmen der Beschuldigten, die nicht stereotyp ausfielen, aber im Kern übereinstimmten, durchaus Brisanz zu.⁵⁰ Folglich fügte die relative Glaubwürdigkeit der Aussagen der Dynamik des Verschwörungsdenkens einen weiteren Baustein hinzu und sollte bald auch das Schicksal der Beschuldigten besiegeln. Nachdem die beiden Hauptakteure bereits im Dezember 1930 aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen worden waren, beging Lominadze fünf Jahre später Selbstmord, während Syrcov 1937 erschossen wurde. Erst die Ambivalenz der frühen Verschwörungen lässt die Zuspitzung verständlich werden, die bald dem Stalinismus sein Gepräge geben sollte. Folgten doch aus ihr gleichsam unausweichlich weitere Abrechnungen, wodurch die Asservatenkammer sich nur weiter füllte, um sodann all die Verschwörungen im Abgleich miteinander zu plausibilisieren. So hatte Stalin von Reznikov auch erfahren, dass sein Verbündeter Ordžonikidze mit den Verschwörern freundschaftlich verbunden sei und ein gewisser Nusinov von Syrcov einen Passierschein für den Kreml zu „konspirativen Zwecken ausgehändigt“ bekommen hatte.⁵¹ Damit schien nicht nur der Abgesandte einer zu allem entschlossenen Verschwörergruppe dem Machthaber wieder einmal verdächtig nah gekommen zu sein, sondern die Informationen legten zudem die Fährten für die Kreml-Affäre des Jahres 1935 und den späteren Niedergang Ordžonikidzes. Geradezu alternativlos schritt die sowjetische Ordnung auf den verschränkten Pfaden aus Dichtung und Wahrheit.⁵²
Vgl. Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk (Hg.): Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3, S. 119 – 193, S. 271– 288. Vgl. ferner Oleg Khlevniuk: Stalin, Syrtsov, Lominadze: Preparations for the ›Second Great Breakthrough‹, in: Gregory/Naimark (Hg.), The Lost Politburo Transcripts, New Haven 2008, S. 78 – 96. Vgl. zur Machtakkumulation Edward A. Rees: Iron Lazar. A Political Biography of Lazar Kaganovich, London/New York 2012, xiii und Oleg V. Khlevniuk: Master of the House. Stalin and His Inner Circle, New Haven/London 2009, S. 1– 38, S. 253. Vgl. zu Ordžonikidzes Nähe zu dieser Verschwörung RGASPI, Fond 85, op. 1c, d. 185, ll. 1– 2. Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk (Hg.): Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3, S. 119, S. 123, S. 213. Vgl. zu Ordžonikidzes Verhältnis zu Syrcov und Lominadze RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 607, ll. 267– 271 und Khlevniuk: Master of the House, S. 28 f.Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Dokument vom 11.09.1936 zu Stalins zynischem Spiel mit seinem Vertrauten RGASPI, Fond 558, op. 11, d. 779, l. 106.
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Mehr als zehn Jahre zuvor, kurz nach der Enttarnung Malinovskijs, war eine Kommission zur Aufarbeitung des Verrates in den eigenen Reihen ins Leben gerufen worden. Neben Lenin, Zinovʼev, Bucharin und Krylenko hatte ihr auch Maksimilian Savelʼev angehört.⁵³ Eben dieser Savelʼev sollte später zum Kandidaten des ZK und Redakteur des Parteiorgans Pravda aufsteigen und hatte Stalin im November 1932 eine wichtige Mitteilung zu machen. Über einen Bekannten, hieß es, sei ihm zu Ohren gekommen, dass sich um Aleksandr Smirnov und Nikolaj Ėjsmont eine konspirative Gruppe gebildet habe, die den Sturz des Generalsekretärs vorbereite. Dieser Bekannte, ein gewisser Nikolaj Nikolʼskij, war nicht nur mit Ėjsmont beruflich verbunden, sondern auch als Informant tätig. Nun ließ er die Information durchsickern, dass der stellvertretende Handelskommissar Ėjsmont während eines geheimen Treffens davon gesprochen habe, dass die Mehrheit im Zentralkomitee eigentlich gegen Stalin sei, man aber in den Abstimmungen stets einstimmig für ihn stimme. Auch Smirnov, Mitglied des ZK und ehedem Stellvertreter Rykovs im Rat der Volkskommissare, habe auf solchen Treffen regelmäßig mit Nachdruck die Frage erhoben, warum sich denn bisher niemand gefunden habe, „ihn“, also Stalin, „wegzuschaffen“ (mog by ›ego‹ ubratʼ).⁵⁴ Die Frage Smirnovs ließ sich als Anspielung auf eine damals verbreitete Formulierung verstehen, derer sich nicht zuletzt auch Trotzki wenige Monate zuvor bedient hatte, als er davon sprach, endlich „den letzten inständigen Rat Lenins zu befolgen und Stalin abzusetzen (ubratʼ Stalina).“⁵⁵ Jedenfalls erreichte Stalin die Mitteilung Savelʼevs in einer Zeit, in der auf dem Land eine prekäre Versorgungslage und teilweise epidemische Hungernöte herrschten, Aufstände ausgebrochen waren und Todesdrohungen an die Führer der sowjetischen Ordnung geradezu täglich ausgesprochen wurden.⁵⁶ Allerdings hatte Stalin diesmal
Vgl. Zinovʼev: Vospominanija, S. 184– 209. Vgl. Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk (Hg.): Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3, S. 641– 644. Diese Formulierung spielte ohne Zweifel auf das sogenannte Lenin-Testament an. Dabei unterschlug Trotzki natürlich die harsche Kritik, die sich in diesem Dokument gerade auch in Bezug auf seine eigene Person finden lässt. Vgl. L. Trockij: Otkrytoe pisʼmo. Prezidiumu CIKa Sojuza SSR, in: Bjulletenʼ Oppozicii 27 (1932), S. 1– 24. Vgl. zum Lenin-Testament Moshe Lewin: Leninʼs Last Struggle, Ann Arbor 2005, S. 77– 89. Vgl. zu diesen Ereignissen grundlegend Lynne Viola: Peasant Rebels under Stalin. Collectivization and the Culture of Peasant Resistance, New York 1996; Sheila Fitzpatrick: Stalinʼs Peasants. Resistance and Survival in the Russian Village after Collectivization, Oxford 1996 und Lynne Viola et. al. (Hg.): The War against the Peasantry, 1927 – 1930. The Tragedy of the Soviet Countryside, New Haven/London 2005. Vgl. ferner Robert Kindler: Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan, Hamburg 2014.
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nicht irgendeinen Brief aus irgendeiner Provinz erhalten. Nunmehr standen Personen unter Konspirationsverdacht, mit denen die Funktionselite und vor allem Stalin selbst regelmäßig zusammentrafen und die in der Wahrnehmung des Regimes nur die Spitze des Eisberges ausmachen konnten.⁵⁷ Inwiefern sie diesen Verschwörungsszenarien tatsächlich Glauben schenkten, muss dahingestellt bleiben.⁵⁸ Eine der interessantesten Erkenntnisse seit Öffnung der Archive bleibt jedoch, dass die geheime Kommunikation des Führungszirkels nicht von den öffentlichen Verlautbarungen abwich.⁵⁹ Die Gleichschaltung betraf folglich alle Beteiligten gleichermaßen und man verhielt sich zumindest so, als ob die vielfach beschworenen Verschwörungsszenarien real seien.⁶⁰ Als intuitive Zöglinge Machiavellis veranschlagte die sowjetische Führung die Gefahr von Verschwörungen sehr hoch.⁶¹ So bekannte Molotov während einer Politbüro-Sitzung angelegentlich der kürzlich aufgedeckten Verschwörung freimütig, dass „unsere Feinde nicht einmal von einer eigenen Zeitung oder einem Rednerpult parlamentarischen Typs träumen können, ganz zu schweigen von einer legalen Partei. Sie können nicht darauf zählen, dass in den Reihen der bolschewistischen Partei so etwas wie eine Opposition existiert, um offen ihren Kampf gegen die Partei zu führen, wie es noch vor einigen Jahren üblich war.“⁶² Im „Above all, opposition to collectivization had taken place. Stalin seems to have been haunted not by the millions of peasants and nomads who had starved but by the Communist officials who had dared to criticize his rule because of it.“ Kotkin: Stalin. Waiting for Hitler, S. 484. Vgl. dazu insbesondere die Arbeiten von Jochen Hellbeck: Revolution on My Mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge 2006; Igal Halfin: Terror in My Soul. Communist Autobiographies on Trial, Cambridge 2003 und Halfin/Hellbeck: Rethinking the Stalinist Subject: Stephen Kotkinʼs ›Magnetic Mountain‹ and the State of Soviet Historical Studies, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996), S. 456 – 463. Vgl. zum Wert der Archive exemplarisch Harrison: Fact and Fantasy; Kotkin: The State – Is It Us? und Oleg Khlevniuk: Stalinism and the Stalin Period after the ›Archival Revolution‹, in: Kritika 2 (2001), S. 319 – 327. Zur offiziellen und inoffiziellen Kommunikation vgl. J. Arch Getty/Oleg V. Naumov (Hg.): The Road to Terror. Stalin and the Self-Destruction of the Bolsheviks, 1932 – 1939, New Haven/London 1999, S. 22 und Sheila Fitzpatrick: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, New York 1999, S. 21 f. Vgl. zu einer Form zynischer Ehrlichkeit des Regimes Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk (Hg.): Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3, S. 695 – 697. Zum Vertrauen bzw. Misstrauen und einer Politik des Als-Ob Zelter: Die Politik des Als-Ob und Geoffrey Hosking: Trust and Distrust in the USSR: An Overview, in: The Slavonic and East European Review 91 (2013), S. 1– 25. Vgl. Machiavelli: Discorsi, S. 296. Zu Stalins Beziehung zu Machiavelli vgl. Rees: Political Thought; Hiroaki Kuromiya: Stalin. Profiles in Power, Harlow 2005, x, S. 22, S. 128, S. 208 und Tucker: Stalin in Power, S. 282, S. 645. Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk (Hg.): Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3, S. 600. Vgl. zum Kontext Wynn: The ›Right Opposition‹.
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inneren Kreis der Macht scheute man ganz offensichtlich nicht das Geständnis, dass kein Handlungsspielraum mehr außerhalb der diktierten Sphäre bestand und somit entschlossenen Feinden allein die Verschwörung geblieben war. Nicht zuletzt wegen dieser zunehmenden Dynamisierung, dieses Kampfes gegen Möglichkeiten, sind die Affären der frühen 1930er Jahre als »Generalprobe« (Oleg Chlevnjuk) beschrieben worden.⁶³ Die Angelegenheit um Smirnov fiel deshalb auf besonders fruchtbaren Boden, weil eine Gruppe um Martemʼjan Rjutin erst kürzlich den Führungszirkel und insbesondere Stalin in einem über hundert Seiten umfassenden Pamphlet unverhüllt als „schändlichsten Feind der Partei und proletarischen Revolution“ bezeichnet und alle Mitglieder der Partei zur „Vernichtung dieser Clique“ (ustranitʼ ėtu kliku) aufgefordert hatte.⁶⁴ Da dem Regime verborgen geblieben war, wer genau von diesem Dokument Kenntnis oder es sogar gelesen hatte, erhob es unwillkürlich die potenziellen Mitwisser zum Maßstab eigener Reaktion. Rasch gerieten neben weniger bedeutenden Personen auch prominente Figuren wie Kamenev, Zinovʼev, Rykov und Bucharin in Verdacht. Sie alle wurden beschuldigt, von dem Verrat gewusst, in verschwörerischer Absicht aber geschwiegen und den eigentlichen Hintergrund fortwährend verschleiert zu haben.⁶⁵ Angesichts dessen verwundert es nicht, dass Stalin am 20. November 1932, einen Tag nach der ersten Mitteilung über die Angelegenheit Smirnov und Ėjsmont, mit dem Informanten Savelʼev für 15 Minuten in seinem Büro zusammenkam.⁶⁶ Zwar kann über den Inhalt des Gesprächs nur spekuliert werden, allerdings schickte Savelʼev schon einen Tag später einen noch ausführlicheren Bericht an Stalin; diesmal sogar unter Mitarbeit des ursprünglichen Informanten Nikolʼskij. Eben hier lässt sich gut erkennen, wie die informelle Politikführung (konspiracija) des Regimes und deren Vorstellung, dass sich auch ihre Feinde dieser Methoden zum Zwecke einer Verschwörung (zagovor) bedienten, gleichsam
Vgl. Khlevniuk: Stalin, Syrtsov, Lominadze, S. 94. Stalin i krizis proletarskoj diktatury. Platforma ›sojuza marksistov-lenincev‹ (gruppa Rjutina), in: I. V. Kurilov/N. N. Michajlov/V. P. Naumov (Hg.), Reabilitacija. Političeskie processy 30 – 50-ch godov, Moskau 1991, S. 334– 443, hier: S. 432– 434. Vgl. ferner Getty/Naumov (Hg.), The Road to Terror, S. 52– 64. Stalin hatte im September 1932 durch Denunziation von der Gruppe erfahren, Rjutin allerdings schon seit Jahren skeptisch gegenübergestanden. Vgl. dazu Rogovin: Vlastʼ i oppozicii, S. 266 – 274. Zuletzt William A. Clark: The Ryutin Affair and the ›Terrorism‹ Narrative of the Purges, in: Russian History 42 (2015), S. 377– 424. Vgl. Černobaev (Hg.): Na priëme u Stalina, S. 79. Stalin traf während seiner Herrschaft insgesamt nur dreimal mit Savelʼev zusammen und das letzte Mal ausgerechnet in der Zeit der beschriebenen Affäre. Es liegt also nahe, dass die Angelegenheit um Smirnov und Ėjsmont der Anlass ihres Treffens war.
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verschmolzen und eine Realität eigener Ordnung schufen. Im Dezember 1932 schrieb Stalin schließlich einen Brief an Vorošilov, den Volkskommissar für Heer und Marine: „Die Angelegenheit Ėjsmont-Smirnov verhält sich ähnlich wie der Fall Rjutin, obgleich weniger klar. Sie erscheint als vom Vodka Ėjsmonts und Rykovs durchtränkte oppositionelle Gruppe, als Jagdgemeinschaft Tomskijs.“⁶⁷ Es mag Stalin in der Tat ähnlich gegangen sein wie Xenophons Hiero. Hatte dieser doch daran gelitten, im Meer vermeintlichen Zuspruchs zu schwimmen, während er zugleich davon ausgehen musste, dass Akklamation nicht den eigentlichen Gedanken entsprach, sondern einzig seiner Herrschaftsstruktur geschuldet war. Auch Rjutin bekannte im Jahr 1932, dass ein Bericht über seine Versuche, die linke Opposition und die sogenannte rechte Abweichung auszusöhnen, um geschlossen gegen das Regime Stalins vorzugehen, durchaus zutreffend gewesen sei, auch wenn er dies zunächst mit aller Entschiedenheit von sich gewiesen habe.⁶⁸ Zudem erreichten den Machthaber unzählige anonyme Zuschriften, in denen sich nicht nur der Hass auf die Ordnung in Form von Solidaritätsbekundungen mit den Opfern Bahn brach, sondern auch zu lesen war, dass allein die Stalinisten „die Partei in den Untergrund getrieben haben“.⁶⁹ Die Grenzen zwischen Provokation und Aufrichtigkeit, zwischen valider Information und Desinformation lösten sich immer weiter auf.⁷⁰ Auch der seit längerem der rechten Abweichung bezichtigte und in der Angelegenheit Smirnov und Ėjsmont abermals verdächtigte Rykov gestand im Verlauf einer Politbüro-Sitzung, dass man sich während gemeinsamer Treffen natürlich nicht „über den Mond oder irgendeine Sonate von Beethoven“ unterhalten habe; schließlich „leben wir in der Revolution und wenn wir uns treffen, dann sprechen wir über politische Fragen und über nichts anderes.“⁷¹ Neben Rykov geriet nun auch Tomskij in Verdacht, an einer Verschwörung gegen den sowjetischen Staat und vor allem Stalin beteiligt gewesen zu sein. Dabei wurde ihm – aber auch Smirnov – immer wieder vorgehalten, sich erst kürzlich einer Sitzung des Zentralkomitees anlässlich der Rjutin-Plattform entzogen zu haben – ein
I. V. Stalin – K. E. Vorošilovu. 17 dekabrja 1932 g., in: Kvašonkin et al. (Hg.), Sovetskoe rukovodstvo, S. 196. Vgl. B. A. Starkov (Hg.): Martemʼjan Rjutin. Na koleni ne vstanu, Moskau 1992, S. 278. Vgl. Starkov (Hg.): Martemʼjan Rjutin, S. 40. Rjutin wurde Anfang 1937 zum Tode verurteilt und erschossen. Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk (Hg.): Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3, S. 578.
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Vorwurf, der aufgrund terminlicher und gesundheitlicher Unpässlichkeiten teils fragwürdig erschien, allerdings dennoch seine Wirkung nicht verfehlte.⁷² Nachdem bereits Pavel Postyšev während einer Sitzung der Zentralen Kontrollkommission den Beschuldigten entgegengehalten hatte, dass mit „absetzen“ (ubratʼ) doch wohl nichts anderes als „umbringen“ (ubitʼ) gemeint gewesen sein könnte, erfuhr die Angelegenheit im Januar 1933 auf einer gemeinsamen Sitzung von Zentralkomitee und Zentraler Kontrollkommission ihre Kanonisierung.⁷³ Jan Rudzutak, seit 1931 Vorsitzender der Kontrollkommission, leitete die Verhandlung. Er hielt Smirnov, Ėjsmont und Vladimir Tolmačëv vor, sie hätten doch genau verstanden, dass „Stalin den wichtigsten Posten innerhalb der Partei hat“ und deshalb „der Klassenfeind, welcher einen unvergesslichen Schlag gegen die Partei führen möchte, in erster Linie mit Stalin abrechnen (rassčitatʼsja s tov. Stalinym) muss.“⁷⁴ Nur deshalb habe Ėjsmont einen gewissen Poponin, der sowohl Teil der Verschwörung als auch Informant war, gefragt, ob „er ihnen als ehemaliger Soldat nicht mit irgendetwas behilflich sein könne?“ Was diese Frage allein bedeuten konnte, wandte sich Rudzutak an seine Zuhörer, sei doch völlig eindeutig, da sie über die Absetzung der Führung gesprochen hätten.⁷⁵ Der Schluss liege also nahe, dass sie alle einen „aktiven Kampf gegen die Partei geführt und terroristische Gruppen organisiert haben“, um das Zentralkomitee, das Politbüro und insbesondere Stalin anzugreifen.⁷⁶ Eine spätere Stellungnahme Rykovs vor dem Zentralkomitee sollte weitere Anschlüsse der längst außer Kontrolle geratenen Verschwörungstheorie offenlegen. So bekannte Rykov im Februar 1937, dass es 1932 auf der Datsche Tomskijs zu einem Treffen gekommen sei, auf dem sie nicht nur von der Rjutin-Plattform erfahren, sondern auch ihr Programm gelesen hätten.⁷⁷ Nach diesem Treffen, ließ sich in der Rückschau nun annehmen, sei Tomskij einer Sitzung des ZK womöglich nur deshalb ferngeblieben, um sich einer Auseinandersetzung zu entziehen, während Rykov in der besagten Sitzung hinter allgemeinen Formeln in Deckung gegangen sei. Genau derlei erratische Informationen waren es, die das
Vgl. Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk (Hg.): Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3, S. 558, S. 573, S. 614. Vgl. V Komissii politbjuro CK KPSS: O tak nazyvaemoj ›antipartijnoj kontrrevoljucionnoj gruppirovke Ėjsmonta, Tolmačëva i drugich‹, in: Izvestija CK KPSS 11 (1990), S. 63 – 74. RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 511, l. 8. RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 511, l. 14– 15. RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 511, l. 20 – 22. Vgl. RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 584, ll. 171– 178.Vgl. ferner RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 575, ll. 124– 126 und Wynn: The ›Right Opposition‹, S. 107.
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Verschwörungsdenken Stalins immer weiter befeuerten.⁷⁸ Und so verwundert es nicht, dass Stalin die Partei nach dem erfolgreichen Attentat auf den Leningrader Parteiführer Kirov eindringlich an den Verräter Malinovksij, den „Abschaum (vyrodok) unserer Partei“, erinnerte und Kirovs Attentäter als „Judas-Verräter mit Parteiausweis“ ächtete.⁷⁹ Obgleich die Beschuldigten um Smirnov und Ėjsmont ihre Umsturzpläne als Ergebnis eines Bacchanals ausgaben, sollten sie dennoch in den kommenden Jahren allesamt untergehen.⁸⁰ Smirnov wurde 1933 aus dem Zentralkomitee und ein Jahr später aus der Partei ausgeschlossen und 1938 erschossen. Tolmačëv und Ėjsmont wurden 1933 in die Verbannung geschickt; letzterer starb 1935 bei einem Autounfall, ersterer wurde 1937 erschossen. Der mutmaßlich rekrutierte Soldat Poponin verstarb im Exil. Der Informant Savelʼev stieg bald zum stellvertretenden Leiter des Marx-Engels-Institutes (IMĖL) auf und starb 1939 eines natürlichen Todes wie auch dem Informanten Nikolʼskij ein natürliches Ende beschieden sein sollte.⁸¹ Offenbar hatte Stalin ihre Informationen honoriert. Zugleich jedoch hatten diese Ereignisse den systemischen Alarmismus und damit auch das zentrale Paradox diktatorischer Herrschaft gefestigt. Mit dem Machtausbau war insofern ein zunehmender Kontrollverlust verbunden, als sich aus all den tatsächlichen und vermeintlichen Szenarien Anschlusszwänge ergaben und den Alleinherrscher gleichermaßen in die Rolle des Antreibers und Getriebenen drängten.⁸² Nunmehr umgab auch Stalin ein „süßer Klang“ der Loyalität, der bereits den Tyrann Hiero verzweifeln ließ. Allerdings zeigte er ein gutes Gespür dafür, dass die zelebrierte Einheit keinesfalls tatsächlicher Einstimmigkeit entsprach und die eigentlichen Intentionen seiner Untertanen nur unergründlicher geworden waren. Bestätigung schien Stalins Ahnung durch die regelmäßigen Hinweise erfahren zu haben, die seit Beginn der 1930er Jahre fortwährend bei ihm eintrafen. Der Umgang mit der Verschwörung um Syrcov und Lominadze 1930, mit der RjutinPlattform 1932 und der Angelegenheit Smirnov-Ėjsmont-Tolmačëv der Jahre 1932– 1933 lassen sich daher nicht allein als inszenierte Vorwände für eine endgültige
Vgl. RGASPI, Fond 558, op. 11, d. 55, l. 41. Vgl. zu den Zitaten Centralʼnyj Komitet Vsesojuznoj Kommunističeskoj Partii (bolʼševikov): Zakrytoe pisʼmo CK VKP(b). Uroki sobytij, svjazannych s zlodejskim ubijstvom tov. Kirova. Ko vsem organizacijam partii, in: Izvestija CK KPSS 8 (1989), S. 95 – 100. Vgl. Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk (Hg.): Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3, S. 551– 570. Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk (Hg.): Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3, S. 773 – 797. Vgl. zur Dynamik, die sich aus den Verschwörungen ergab, HIA, Nicolaevsky Collection, Box 518, Folder 41– 43, 45, 50.
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Abrechnung mit verdächtigen Oppositionellen verstehen. Vielmehr fielen sie in eine Zeit politischer Wirren und diktatorischer Eigendynamik, in der informelle Treffen stattfanden und durchaus vernehmbar Kritik an der Generallinie geübt worden war.⁸³ Zwar sollten die genaueren Umstände diffus bleiben, allerdings folgte Stalin einer Devise, der zufolge besser mehr, wenn auch eingebildete Verschwörungen zu zerschlagen seien, als durch Nachlässigkeit einer realen Verschwörung zu erliegen.⁸⁴ Im Zuge des ersten Fünfjahrplans hatte das Regime immer wieder Hinweise auf drohende Verschwörungen als Loyalitätsbeweise goutiert, damit jedoch zugleich eine Engführung der Kommunikation befördert. Während sich Stalin auf der einen Seite gegenüber Personen, die ihm willfährig entgegenarbeiteten, zumindest vorerst erkenntlich zeigte, verzieh er seinen mutmaßlichen Feinden nie und verzeichnete jeden feindseligen Akt genau.⁸⁵ Selbst Chruščëv sollte diese Staatsräson der bedrohten Ordnung noch während seiner ›Geheimrede‹ 1956 für gerechtfertigt halten, übersah dabei aber ganz offensichtlich, dass gerade unter dieser Prämisse auch die stalinistische Form »kumulativer Radikalisierung« (Hans Mommsen) lediglich als konsequente Ableitung begriffen werden konnte.⁸⁶ Im Zuge einer Politbürositzung 1932 hatte auch Molotov das eigentümliche Dilemma der Alleinherrschaft zutreffend analysiert und einem Feind wie Rjutin durchaus in dem Geständnis zugestimmt, dass man stets auf den Moment des Angriffs gefasst sein müsse, weil es keine formale Opposition mehr gebe.⁸⁷ Der Diktator war im Netz seines eigenen Machtapparates gefangen, da die Monopolisierung der Weltsicht eine nüchterne Bewertung der Lage zunehmend ausschloss. Ausgerechnet diese Form selbsterfüllender Prophezeiung hatte Anna Larina Bucharina im Blick, als sie gegenüber der lakonischen Aussage Lavrentij Berijas, dass man Feinde einfach als Feinde zu behandeln habe, einwandte: „Ich meine, daß es sinnvoll wäre, auch von seinen Gegnern die Wahrheit zu erfahren,
Vgl. Stalin i krizis proletarskoj diktatury. Platforma ›sojuza marksistov-lenincev‹ (gruppa Rjutina), in: Kurilov/Michajlov/Naumov (Hg.): Reabilitacija. Političeskie processy 30 – 50-ch godov, S. 434– 443, dort auch S. 92– 104. Vgl. ferner Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk (Hg.): Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3, S. 212, S. 552, S. 642. Vgl. dazu Machiavelli: Discorsi, S. 296 – 321; Zapiska G. G. Jagody i Ja. S. Agranova I. V. Stalinu o pokazanijach Ja. G. Bljumkina, in: Chaustov/Naumov/Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i glavnoe upravlenie gosbezopasnosti NKVD, 1937– 1938, S. 192– 212, hier: S. 209 und Ossorgin: Eine Straße in Moskau, S. 329. Vgl. zu dieser spezifischen Eigenschaft eines Herrschers allgemein Canetti: Masse und Macht, S. 353 und zu Stalins Erinnerungsvermögen Gorlizki/Khlevniuk: Cold Peace. S. 143 f. Vgl. zur ›Geheimrede‹ RGANI, Fond 1, op. 2, d. 17, l. 81. Diese Information teilte der Informant A. Nemov dem Zentralkomitee mit. Vgl. dazu Starkov (Hg.): Martemʼjan Rjutin, S. 316 f.
1. Machtausbau als Kontrollverlust
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und wenn ihre Untersuchungsmethoden zu Falschaussagen führen, sind sie auch im Hinblick auf Feinde sinnlos.“⁸⁸ Der Einwand Larinas fand bekanntlich keine Resonanz, dafür sollte sich jedoch die Diagnose insofern als langlebig erweisen, als sie auch heute noch einen jeden betrifft, der sich mit dem Phänomen des Stalinismus beschäftigt und mit dem begrenzten Wert der von diesem System hervorgebrachten Quellen konfrontiert ist. Der Suche nach Feinden im Inneren entsprach stets auch eine außenpolitische Dimension. So verwies das Regime immer wieder nachdrücklich auf die Gefahr einer ›Fünften Kolonne‹. Damit wurde nicht nur ein klassischer Topos politischen Verschwörungsdenkens bedient, sondern auch der damalige Zeitgeist reflektiert.⁸⁹ Nicht verwunderlich ist daher, dass die Vertreter der sowjetischen Ordnung parallel zu allen realen, nicht selten nur selbstgeschaffenen oder empfundenen Krisen ausländische Mächte im Spiel wähnten. Dieser Topos, der mit der Kriegsangst von 1927 einen ersten Höhepunkt erfahren hatte, sollte vor allem nach dem Attentat auf Kirov neue Blüten treiben.⁹⁰ Auch wenn die Szenarien oft grobschlächtig ausfielen, plädiert die neuere Forschung durchaus für eine veränderte Deutung der schrillen Propaganda eingedenk der damaligen weltpolitischen Lage und des heraufziehenden Weltkriegs.⁹¹ Dem stalinistischen Verschwörungsdenken korrespondierte zwar eine sich mit den Jahren immer weiter von der Realität entfernende Vorstellungswelt, in diese konnte allerdings dennoch, nicht zuletzt angesichts der aus ihr resultierenden Abrechnungen, Wirklichkeit einfallen.⁹²
Bucharina: Erinnerungen, S. 231 f. Der Begriff ›Fünfte Kolonne‹ wurde im spanischen Bürgerkrieg popularisiert. Der damalige Kriegsberichterstatter Ernest Hemingway publizierte 1938 sogar ein Drama unter dem Namen The Fifth Column. Vgl. etwa das Prozessprotokoll vom 28. Dezember 1934 RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 128. Vgl. ferner Alla Kirilina: Neizvestnyj Kirov, St. Petersburg/Moskau 2001 und Matthew Edward Lenoe: The Kirov Murder and Soviet History, New Haven/London 2010. Klassisch stalinistisch zum Phänomen der ›Fünften Kolonne‹ siehe Čuev: Sto sorok besed s Molotovym, S. 416 und Čuev: Tak govoril Kaganovič, Moskau 1992, S. 35 – 56. Vgl. zur Forschung David Shearer: Stalin at War, 1918 – 1953. Patterns of Violence and Foreign Threat, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 66 (2018), S. 188 – 217; Stephen Kotkin: Modern Times. The Soviet Union and the Interwar Conjuncture, in: Kritika 2 (2001), S. 111– 164; Khlevniuk: Objectives of the Great Terror; Kuromiya: Stalinʼs Great Terror und Davies/Harris: Stalinʼs World, S. 19 – 130. Vgl. Bruce Bueno de Mesquita/Alastair Smith: The Dictatorʼs Handbook. Why Bad Behavior Is Almost Always Good Politics, New York 2012.
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2. Die Vergangenheit der Zukunft Als Stalin wieder einmal von einem besorgniserregenden Zwischenfall erfuhr, fiel seine Reaktion überraschend aus. Anstatt mit harter Hand durchzugreifen, war er voll des Lobes für die Zielorientierung eines Leningrader Studenten, nachdem dieser das Portrait des Führers als Zielscheibe für seine Schießübungen genutzt hatte.⁹³ Der Machthaber erwies sich damit nicht nur abermals als gewiefter Durchschauer, dessen Verfügungsgewalt aus völliger Unberechenbarkeit erwuchs, sondern offenbarte auch sein Spiel mit dem Phänomen der ›Befehlsangst‹; ein Gespür also für die Gefahr, in die man geriete, wenn all die „mit dem Tode Bedrohten sich gegen einen zusammenschließen“, ein Gefühl, das „unbestimmt bleibt, weil man nie weiß, wann die Bedrohten von Erinnerung zur Aktion übergehen werden.“⁹⁴ Auch Chruščëv erinnerte sich später an einen Stalin, der sich durch die Gewalt, die er anderen antat, stets auch selbst bedroht sah und daher immer wieder fragte, warum denn „die Menschen, die mich ein für alle Mal ausradieren wollen, nicht auf ganz ähnliche Methoden zurückgreifen sollten?“⁹⁵ Eine Form fortwährender Anwesenheit dieser Befehlsangst lässt sich den Quellen entnehmen, die stetig von angeblichen Verschwörungen und in letzter Minute vereitelten Attentaten zu berichten wissen, wobei ihr Wahrheitsgehalt einem Arcanum gleichkam, der Umgang mit ihnen allerdings das autoritärer Herrschaft eigene Kalkül erkennen lässt.⁹⁶ So machte sich Stalin etwa im Januar 1937 ein „bißchen lustig über diejenigen, die viele schriftliche Dokumente verlangten, ehe sie sich dazu bequemten, an eine Verschwörung zu glauben; hätten geübte Verschwörer doch schließlich selten die Gewohnheit, ihre Dokumente offen herumliegen zu lassen.“⁹⁷ Da offener Widerspruch längst undenkbar geworden war, unterschied das Regime auch nicht mehr zwischen möglicher Absicht und einem tatsächlichem Verbrechen. Vielmehr zog es seine vorgeblichen Gegner hinein in einen Kampf der Prophylaxe, der durch die potenziellen Fol-
Vgl. Davies/Harris: Stalinʼs World, S. 140 f. Die Episode ereignete sich im Jahr 1930. Canetti: Masse und Macht, S. 364. Canetti ist keinesfalls der Entdecker dieses Phänomens.Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan, Frankfurt am Main 1966, S. 77. Vgl. in Bezug auf Stalin Mikojan: Tak bylo, S. 347– 356. Sergei Khrushchev (Hg.): Memoirs of Nikita Khrushchev. Vol. 2, University Park 2006, S. 139. „Ob Gerüchte Realität verfälschen, ist für die Forschung sekundär; entscheidend ist, dass sie symbolische Wirklichkeiten konstruieren.“ Neubauer: Fama, S. 255 f. Lion Feuchtwanger: Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde, Berlin 1993, S. 83. Auch Stalin selbst verhielt sich entsprechend und gab Befehle an den engsten Führungskreis häufig nur mündlich. Vgl. dazu Brent/Naumov: Stalinʼs Last Crime, S. 8 und David Brandenberger: Stalin’s Last Crime? Recent Scholarship on Postwar Soviet Antisemitism and the Doctor’s Plot, in: Kritika 6 (2005), S. 187– 204.
2. Die Vergangenheit der Zukunft
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gen feindlicher Aktion legitimiert war.⁹⁸ Auf diese Weise wurde der inquisitorische Geist zur Voraussetzung höherer Weihen, wohingegen regelhafte Verfahren auf der Grundlage stichhaltiger Beweise nur mit Spott bedacht werden konnten. Schließlich hatte man es mit Verschwörern zu tun, deren Erfolge von absoluter Geheimhaltung abhingen, die sich im Verborgenen besprachen und keine Beweise hinterließen: „Wie soll man unter diesen Umständen die Frage nach den Beweisen stellen?“ – sollte etwa Stalins gelehriger Großinquisitor Vyšinskij während des zweiten Moskauer Schauprozesses sekundieren.⁹⁹ Allen Beteiligten war klar, dass sich die Architektur des Regimes schwerlich anders denn gewaltsam verändern ließe. Entsprechend alarmiert war der Diktator, als er im Urlaub erfuhr, dass Artëm Nachaev, Stabschef einer Artilleriedivision und ehemals Unterstützer der Vereinigten Opposition, im Anschluss an eine Kriegsübung am 5. August 1934 mehr als 200 Soldaten in unmittelbarer Nähe des Moskauer Stadtzentrums zum bewaffneten Widerstand gegen die sowjetische Ordnung aufgerufen habe.¹⁰⁰ Den ersten, erstaunlich nüchternen Brief Kaganovičs – man müsse erst noch klären, ob Nachaev allein gehandelt habe, oder ob es Unterstützer gebe – beantwortete Stalin mit unmissverständlicher Klarheit: „Er ist natürlich (natürlich!) nicht allein. Man muss ihn an die Wand drücken und zum Reden zwingen – er muss die ganze Wahrheit sagen und danach mit aller Strenge bestraft werden. Er muss ein polnisch-deutscher (oder japanischer) Agent sein. Die Čekisten verhalten sich lächerlich, wenn sie mit ihm über seine ›politischen Ansichten‹ diskutieren (das nennt sich Verhör!) […] Er hat bewaffnete Menschen zur Tat gegen die Regierung aufgerufen – das heißt: Er muss vernichtet werden.“¹⁰¹
Nach dieser Zurechtweisung bekräftigte Kaganovič im Verbund mit dem NKVD die Vermutungen Stalins. Bald galt es als erwiesen, dass Nachaev in Verbindung zu einem gewissen Leonid Bykov gestanden habe, der wiederum als Agent der estnischen Botschaft in Moskau tätig gewesen sei – vermutlich sogar nicht nur der
Vgl. exemplarisch Halfin: Oppositionistsʼ Souls und Solschenizyn: Archipel GULAG 1, S. 48 f. Narodnij Komissariat Justicii (Hg.): Process antisovetskogo trockistskogo centra (23 – 30 janvarja 1937 goda), Moskau 1937, S. 211. Ob die Soldaten Nachaev überhaupt unterstützen wollten oder nicht, ist unklar. Vgl. einerseits Sergej T. Minakov: 1937. Zagovor byl!, Moskau 2010, S. 13; andererseits Postanovlenie Politbjuro CK VKP(b) ›o Nachaeve‹, in: Chaustov/Naumov/Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i VČKGPU-OGPU-NKVD, S. 549, S. 818 f. und Aleksandr Šubin: 1937. Antiterror Stalina, Moskau 2010, S. 208 f. Stalin – Kaganoviču. 8 avgusta 1934, in: O. V. Chlevnjuk/R. U. Dėvis/L. P. Košeleva/A. Ė. Ris/ L. A. Rogovaja (Hg.), Stalin i Kaganovič. Perepiska 1931– 1936 gg., Moskau 2001, S. 425. Vgl. dort zum nüchternen Brief Kaganovičs an Stalin (5. August 1934) S. 421.
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estnischen.¹⁰² Somit offenbart sich das Antwortschreiben auf die relativ nüchterne Einschätzung des Falles durch seinen Stellvertreter in Moskau nicht allein als typischer Ausdruck von Stalins Verschwörungsdenken, sondern vor allem auch als Loyalitätstest; wobei sich der Handlungsdruck aus der impliziten Frage herleitete, wie sich die Vasallen verhalten würden, wenn ihr Führer sie mit seiner Sicht der Dinge konfrontierte. Zwar sollte Stalin in der Angelegenheit Nachaev schnell Beweise für seine Vermutungen durch entsprechende Wachsamkeit seiner Umgebung nachgeliefert bekommen, allerdings ließ sich der Fall auch dahingehend deuten, dass selbst treueste Verbündete nicht immer die notwendige Weitsicht walten ließen.¹⁰³ Da Verschwörungen scheinbar tatsächlich drohten, wurden auch diesmal die potenziellen Konsequenzen zum Maßstab der Politik. In diesem Kampf gegen Möglichkeiten avancierte die vermeintliche Einsicht in geheime Zusammenhänge zum entscheidenden Machtvorteil.¹⁰⁴ Gerade weil der Staat mit irritierten Bürgern konfrontiert sei, so sollte Stalin einmal seine grundlegende Maxime formulieren, habe jedes Parteimitglied, aber auch jeder Bürger der Sowjetunion nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, Mängel mitzuteilen. Wenn diese Informationen zuträfen, wenn auch nur zu fünf Prozent, dann sei das schließlich auch etwas.¹⁰⁵ Aus der Annahme also, dass jeder Untertan, vor allem aber auch die Umgebung des Diktators, sich als Teil einer Gruppe getarnter Verschwörer entpuppen könnte und sich dem Regime natürlich nicht zu erkennen geben würde, schlussfolgerte
Kaganovič – Stalinu. 12 avgusta 1934, in: Chlevnjuk/Dėvis/Košeleva/Ris/Rogovaja (Hg.), Stalin i Kaganovič. Perepiska 1931– 1936 gg., S. 430 f., dort ferner S. 437, S. 459 f. und Šifrotelegramma Ja. S. Agranova v Soči I. V. Stalinu o dele A. S. Nachaeva. 26 avgusta 1934 g., in: Chaustov/ Naumov/Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i VČK-GPU-OGPU-NKVD, S. 565. Nachaev wurde schließlich auf Beschluss des Politbüros im Dezember 1934 dem Militärkollegium des Obersten Gerichts der Sowjetunion übergeben und zum Tode verurteilt. Zwar lässt sich der erste Brief Kaganovičs als besonderer Akt der Loyalität verstehen, weil Stalins Stellvertreter alle wesentlichen Informationen übermittelte, die richtige Interpretation der Ereignisse jedoch allein seinem Vorgesetzten überließ. Allerdings befriedigte Stalin solch vorauseilender Gehorsam diesmal nicht. Während die Ereignisse um Syrcov und Lominadze also Ordžonikidze belastet hatten, schien nun auch Kaganovič nicht unbelastet aus der Angelegenheit um Nachaev hervorzugehen. Vgl. exemplarisch P. R. Gregori [Paul Gregory]: Nužen li byl Stalin?; Gregory: Terror by Quota und Harrison: Rational-Choice Dictator. Die berühmte Fünf-Prozent-Formel formulierte Stalin zwar erst im Jahr 1937, allerdings lässt sich ihr Kern auch in früheren Einlassungen finden. Vgl. Iz reči I. V. Stalina na rasširennom zasedanii voennogo soveta. 2 ijunja 1937 g., in: Chaustov/Naumov/Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i glavnoe upravlenie gosbezopasnosti NKVD, 1937– 1938, S. 209.
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Stalin, dass zwar womöglich nur fünf Prozent der Beschuldigten tatsächliche Feinde waren, ließ aber keinen Zweifel daran, dass die Bewertung all dieser Informationen seinem Machtkalkül gemäß erfolgen würde.¹⁰⁶ Der Argwohn gegenüber feindlicher Konspiration entsprach der bolschewistischen Tradition ebenso wie der manichäischen Weltsicht ihrer an die Macht gelangten Sachwalter. Nun waren die Wächter der neuen Ordnung einst als verschworene Minderheit in den Kampf gezogen und fürchteten daher nichts mehr als eine ihnen selbst vergleichbare, zu allem entschlossene Gruppe. Der Fall Malinovskij war ihr Menetekel. Mit dem Mord an Kirov jedoch trat nunmehr eine Reminiszenz an die terroristische Tradition des Zarenreichs auf drastische Weise in Erscheinung. Daher sollte auch nicht die vielschichtige Stellungnahme von Kaganovič hinsichtlich der Gefahr, die durch den Rückgriff auf die konspirativterroristische Tradition für das Regime bestanden hätte, allein als späte Rechtfertigung eigener Politik abgetan werden; offenbart sie doch die spezifische Zeitzeugenschaft und Weltdeutung eines Regimes, das den Gegner stets in feindlicher Nähe wähnte, mit einem Impetus, der den eigenen Vorstellungen politischen Kampfes verwandt, ja zum Verwechseln ähnlich war.¹⁰⁷ Am frühen Nachmittag des 1. Dezember 1934 betrat Leonid Nikolaev mit einem Parteiausweis die Leningrader Parteizentrale, um Karten für eine am Nachmittag angesetzte Parteiveranstaltung zu erhalten, auf der auch Kirov sprechen sollte.¹⁰⁸ Nachdem sein Ersuchen erfolglos geblieben war, verließ Nikolaev unverrichteter Dinge wieder das Gebäude, machte einen längeren Spaziergang, kehrte dann jedoch gegen halb fünf noch einmal zurück. Wieder im Smolʼny angelangt, konnte Nikolaev ungehindert die dritte Etage erreichen, auf der sich das Büro des Leningrader Parteichefs befand. Für kurze Zeit hielt er sich in den Toilettenräumen versteckt, betrat dann den Flur und sah plötzlich Kirov direkt auf sich zukommen. Der Attentäter folgte ihm unbemerkt und schoss ihm von hinten in den Kopf. Anschließend wollte er sich selbst richten, überlebte allerdings. Kirov hingegen lag tödlich verletzt auf dem Boden, Nikolaev wurde an Ort und Stelle verhaftet.¹⁰⁹
Vgl. zu dieser Argumentation exemplarisch Wintrobe: Political Economy; Kets de Vries: Leadership by Terror und Gregory:Terror by Quota.Vgl. für die Gegenwart Suskind:The One Percent Doctrine und Greiner: 9/11. Vgl. zu dieser Denkfigur auch Deutscher: Stalin, S. 765 – 772. Vgl. Osmund Ėgge: Zagadka Kirova. Ubijstvo, razvjazavšee stalinskij terror, Moskau 2011, S. 118 – 121 und Kirilina: Neizvestnyj Kirov, S. 204– 228. Vgl. den ersten Bericht vom Leningrader Geheimdienst-Chef Filipp Medvedʼ an den Geheimdienstchef Jagoda RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 113, l. 1. Vgl. ferner Nikolaevs Verhörprotokoll
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Bald darauf rief Michail Čudov, der zweite Leningrader Parteisekretär, bei Aleksandr Poskrëbyšev an und drängte darauf, unverzüglich zu Stalin durchgestellt zu werden. Nachdem sich keine Verbindung hatte herstellen lassen, rief Stalin wenig später in Leningrad an und erfuhr nun von der Ermordung Kirovs.¹¹⁰ Bereits vor dieser für den Stalinismus so entscheidenden Mitteilung hatten Molotov, Kaganovič, Vorošilov und Andrej Ždanov im Dienstzimmer ihres Herren zusammengesessen, in das nun auch Jagoda gerufen wurde.¹¹¹ Offenbar einigte man sich rasch auf ein Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus, das allerdings keineswegs so neu war, wie von der Forschung vielfach behauptet wird.¹¹² So zeigt die Gesetzesnovelle, das sogenannte Kirov-Gesetz, enorme Übereinstimmungen mit einem Entwurf, der unmittelbar nach dem Attentat auf Vojkov 1927 verabschiedet worden war.¹¹³ Insofern war das Gesetz vom 1. Dezember 1934 nicht etwa aus dem Affekt geboren, sondern vielmehr juristischer Ausdruck eines Regimes, das bereits seit vielen Jahren Politik aus dem vermeintlich kurz bevorstehenden Zusammenbruch ableitete. Noch am Tag des Attentats beschloss das Zentrale Exekutivkomitee eine Veränderung des sowjetischen Strafgesetzbuches: Jede Untersuchung terroristischer Akte müsse innerhalb von höchstens zehn Tagen abgeschlossen werden, wobei die Beschuldigten erst 24 Stunden vor dem Prozess in Kenntnis zu setzen seien und unter Ausschluss der Prozessparteien getagt werden sollte. Die Bitte um Gnade oder eine Kassation waren von vornherein ausgeschlossen und Fälle, für die das Urteil auf Höchststrafe lautete, sollten unverzüglich beendet werden.¹¹⁴ Zwei Tage später sanktionierte das Politbüro das neue Gesetz und unterstrich noch einmal, dass die Fälle von Personen, „die der Vorbereitung oder Durchvom 3. Dezember RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 114, l. 7 und vom 9. Dezember RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 114, ll. 79 – 81. Vgl. Diane P. Koenker/Ronald D. Bachman (Hg.): Revelations from the Russian Archives. Documents in English Translation, Washington 1997, S. 73. Eine andere Version der Geschichte, wonach der Leningrader Geheimdienstchef Filipp Medvedʼ bei Stalin anrief, um ihn über die Geschehnisse zu informieren, und Stalin nur „Schlappschwänze!“ (šljapy) in den Hörer gebrüllt haben soll, wird überliefert von Čuev: Sto sorok besed s Molotovym, S. 310. Vgl. Černobaev (Hg.): Na priëme u Stalina, S. 142.Vgl. ferner Kirilina. Neizvestnyj Kirov, S. 195 – 235. Vgl. Wendy Z. Goldman: Terror and Democracy in the Age of Stalin. The Social Dynamics of Repression, Cambridge 2007, S. 56 und Peter H. Solomon, JR.: Soviet Criminal Justice and the Great Terror, in: Russian Review 46 (1987), S. 391– 413. Vgl. Zapiska N. V. Krylenko v Politbjuro CK VKP(b) o sozdanii črezvyčajnych sudov pri OGPU SSSR, in: Chaustov/Naumov/Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i VČK-GPU-OGPU-NKVD, S. 137 f., S. 795, Fn. 55. Vgl. ferner Getty/Naumov (Hg.): The Road to Terror, S. 145. Vgl. GARF, Fond 3316, op. 27, d. 160, l. 10.Vgl. ferner GARF, Fond 3316, op. 27, d. 160, ll. 2– 2ob und RGASPI, Fond 17, op. 3, d. 955, l. 19.
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führung terroristischer Akte beschuldigt werden, in einem beschleunigten Verfahren durchzuführen sind.“¹¹⁵ Damit zeigte sich das im Falle von Attentaten so typische Oszillieren zwischen vermeintlich legitimem Schutzbedürfnis und machtbewusster Instrumentalisierung – eine Dynamik, die aus der Spannung eben dieses Verhältnisses erwächst und damit keineswegs allein Diktaturen heimsucht.¹¹⁶ Nach den raschen gesetzespolitischen Anpassungen sollte die Untersuchung des Kirov-Attentats bald ergeben, dass Nikolaev seine Tat in die Tradition der Attentäter von 1881 eingeordnet wissen wollte. So hatte Nikolaev zwei Monate vor dem Attentat in seinen persönlichen Aufzeichnungen, unter denen sich auch ein Brief an das Politbüro erhalten hat, die Selbstvergewisserung hinterlassen, dass er im Namen der historischen Mission nun bereit sei, das eigene Leben hinzugeben und, Andrej Željabov gleich, alle Vorbereitungen getroffen habe.¹¹⁷ Auch für die Bevölkerung schien die Verbindung zwischen dem Attentat auf Kirov und der terroristischen Tradition auf der Hand zu liegen. In den vom Geheimdienst zusammengestellten Stimmungsberichten war etwa zu lesen, dass in Russland „nicht all die Željabovs verschwunden sind.“ An anderer Stelle hieß es, dass „Nikolaev mutig, entschlossen und tapfer ist. Nikoleav ist ein Held, weil er wie Sofʼja Perovskaja gehandelt hat.“¹¹⁸ Die eigentümliche Wirkung, die Gerüchte als kommunikative Metastasen entfalten können, ist hinlänglich bekannt. Allerdings wird diese Wirkung in einem Kontext, in dem die Grenze zwischen Loyalitätsbeweis und Lüge, Dichtung und Wahrheit für alle Beteiligten längst eingeebnet worden ist, noch einmal um ein Vielfaches gesteigert. So sahen etwa die Sozialpsychologen Gordon Allport und Leo Postman zwischen Bedeutsamkeit und Ambiguität eine direkte Korrelation und meinten, dass sich die Wirkung von Gerüchten genau dann potenziere,
Vgl. RGASPI, Fond 17, op. 162, d. 17, l. 87. Vgl. exemplarisch Alexander Demandt: Das Attentat als Ereignis, in: Ders. (Hg.), Das Attentat in der Geschichte, Frankfurt am Main 1999, S. 535 – 551. Vgl. A. Artizov/A. Kosakovskij/V. Naumov/I. Ševčuk (Hg.): Reabilitacija: Kak ėto bylo. Tom 3, Moskau 2004, S. 462 f., S. 465.Vgl. ferner RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 114, ll. 1– 2, ll. 23 – 27; Matthew Edward Lenoe: The Kirov Murder and Soviet History, New Haven/London 2010, S. 229 – 237 und die außerordentlich problematische, in diesem Punkt jedoch vermutlich zutreffende Deutung bei Grover Ferr [Grover Furr]: Ubijstvo Kirova. Novoe Rassledovanie, Moskau 2013, S. 155. Sarah Davies: Popular Opinion in Stalinʼs Russia. Terror, Propaganda and Dissent, 1934 – 1941, Cambridge/New York 1997, S. 116, ferner S. 51, S. 94, S. 175 – 177. Nikolaev hat den Versuch einer Wiederbelebung der terroristischen Tradition auch in den Verhören, so etwa am 16. und 17. Dezember 1934, bekräftigt. Vgl. dazu Jurij N. Žukov: Sledstvie i sudebnye processy po delu ob ubijstve Kirova, in: Voprosy istorii 2 (2000), S. 33 – 51.
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wenn beide Elemente gleichermaßen in ihnen zum Ausdruck gebracht würden.¹¹⁹ In einem Kontext nun, in dem der Tyrannenmord als valide Möglichkeit politischer Veränderung unausgesprochener Konsens zwischen dem Machthaber und seinen Untertanen war, verwundert es daher nicht, dass das Ereignis vom 1. Dezember 1934 zur mythologischen Chiffre avancieren konnte.¹²⁰ Nach dem Attentat verstrickte sich die stalinistische Führung immer weiter in ihre Welt selbsterfüllender Prophezeiung. Ihr zufolge konnte es nur als realitätsfern gelten, den Mord an Kirov als zufällig gelungenes Attentat und nicht als unzweideutigen Vorboten schlimmster Befürchtungen zu deuten.¹²¹ So war denn auch eine Delegation, bestehend aus Stalin und Molotov, Vorošilov, Chruščëv, Jagoda, Ežov und Ždanov, dem designierten Nachfolger Kirovs, noch in der Nacht auf den 2. Dezember nach Leningrad gereist, um sich selbst an den Ermittlungen zu beteiligen. Nachdem sie vom Chef des Leningrader Geheimdienstes und 200 Sicherheitsleuten aus Stalins Leibgarde eskortiert worden waren, betraten sie die Parteizentrale. In die angespannte Atmosphäre erging sofort der Befehl, dass alle mit den Gesichtern zur Wand Aufstellung zu nehmen hätten.¹²² Sodann nahm die Entourage aus Moskau ihre Arbeit auf. Das Eigenleben um den Mord an Kirov – wie schon die Verschwörung der Dekabristen unter den Händen Nikolais I. – erhielt neue Nahrung.¹²³ Zu keinem Zeitpunkt wollten sich die Untersuchungsführer von der Hypothese des Attentäters als einsamem Wolf leiten lassen.¹²⁴ Geradezu reflexhaft erteilten sie diesem Ansatz eine Absage und verwiesen stattdessen auf das altbekannte Täuschungsmanöver der Verschwörer, die doch stets ihre Unterstützer als Reserve zu bewahren gesucht hätten. Ihre vermeintliche an der Erfahrung gereifte Evidenz schien nicht zuletzt durch die vergangenen Schauprozesse und die Ver-
Vgl. Gordon W. Allport/Leo Postman: An Analysis of Rumor, An Analysis of Rumor, in: The Public Opinion Quarterly 10 (1946 – 1947), S. 501– 517. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Rittersporn: Anguish, Anger, and Folkways, S. 23 – 30. Vgl. etwa die Stellungnahme Ežovs hinsichtlich der Überprüfung der Parteidokumente im Jahr 1935 RGASPI, 17, op. 120, d. 177, ll. 32– 33 und die prominente Stellungnahme von Vyšinskij anlässlich des ersten Moskauer Schauprozesses RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 190, l. 69. Vgl. ferner RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 514 (1), l. 9. Vgl. Kirilina: Neizvestnyj Kirov, S. 232 und Lenoe: The Kirov Murder, S. 262. Obgleich etwa Molotov gegenüber Čuev davon gesprochen hat, dass Stalin den Attentäter persönlich verhört habe, sind bisher keine Protokolle aufgetaucht, die diesen Hinweis belegen. Vgl. dazu Ėgge: Zagadka Kirova, S. 166 f. Vgl. exemplarisch das Untersuchungsprotokoll von Nikolaevs Frau, Milʼda Draule, vom 1. Dezember RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 114, ll. 1– 2. Vgl. ferner die ersten Verhörprotokolle in der Angelegenheit Kirov bei Lenoe: The Kirov Murder, S. 256 – 262 und Artizov/Kosakovskij/Naumov/ Ševčuk (Hg.): Reabilitacija: Kak ėto bylo. Tom 3, S. 459 – 507.
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schwörung um Syrcov und Lominadze aufgefrischt worden sein. Schließlich hatte Reznikov den Machthaber wissen lassen, dass sich die Gruppe für den Fall ihrer Enttarnung darauf verständigt habe, dass derjenige, der den Machthabern in die Hände fiele, „auf keinen Fall gestehen und ›bereuen‹“ dürfe, wer auch immer ihn foltern (pjatatʼ) möge.¹²⁵ All diese Hinweise und Erfahrungen nun, gemischt mit dem aktuellen Erleben eines realen Attentats, ließen die Führung einen immer stärkeren Realitätsverlust erleiden und zeitigten damit eine, wie Heinrich Popitz es nannte, entsprechende ›Erwartungsvereisung‹.¹²⁶ Nachdem Stalin in Leningrad die Richtung weiterer Ermittlungen vorgegeben hatte, zog er sich nach Moskau zurück. Vor Ort überwachte nun der aufstrebende Ežov die Untersuchung, da in den Augen des Machthabers der amtierende Geheimdienstchef Jagoda versagt hatte.¹²⁷ Bereits am 4. und 5. Dezember 1934 trafen in der Hauptstadt erste ausführliche Berichte vom stellvertretenden NKVDChef Jakov Agranov ein, der für den kaltgestellten Leningrader Geheimdienstchef Medvedʼ eingesetzt worden war und somit den Niedergang Jagodas flankierte.¹²⁸ Der Attentäter selbst, so war den Berichten zu entnehmen, wusste Bedrohliches von einem gewissen Ivan Kotolynov zu berichten, der bis 1926 eine wichtige Rolle im Leningrader Komsomol gespielt hatte und ein Jahr später für seine Unterstützung der Vereinigten Opposition aus der Partei ausgeschlossen worden war. So habe Kotolynov dem Plan, Kirov zu ermorden, nicht zugestimmt und stattdessen darauf gedrängt, „eine höhere Person auszuwählen, d. h. ein terroristisches Attentat auf Stalin zu verüben.“¹²⁹ Auch ein gewisser Nikolaj Šatckij, der 1927 als Anhänger Trotzkis aus der Partei ausgeschlossen worden war und seither ein zwielichtiges Leben gefristet hatte, galt inzwischen als wahrscheinlicher Unterstützer.¹³⁰ In dem Gerichtsverfahren gegen das sogenannte Leningrader Zentrum wurden Ende Dezember 1934 der Attentäter Nikolaev und 13 weitere Angeklagte vom Vorsitzenden des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der Sowjetunion,Vasilij Ulʼrich, gemäß Artikel 58 des Strafgesetzbuches für schuldig befunden und zum Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk (Hg.): Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3, S. 213. Hervorhebung im Original. Vgl. dazu Popitz: Realitätsverlust in Gruppen, S. 186. Vgl. dazu auch die entsprechenden Meldungen von Ždanov und Ežov RGASPI, Fond 77, op. 1, d. 445, ll. 1– 7 und RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 43, ll. 56 – 58. Vgl. RGASPI, Fond 17, op. 3, d. 955, l. 24; RGASPI; Fond 671, op. 1, d. 113 und O. Chlevnjuk: Chozjain. Stalin i utverždenie stalinskoj diktatury, Moskau 2010, S. 259 – 269. Vgl. exemplarisch RGANI, Fond 89, 48, d. 2, l. 1. RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 114, l. 11, l. 16. Vgl. RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 114, ll. 8 – 10. Vgl. zu Kotolynov und Šatckij auch Lenoe: The Kirov Murder, S. 283, S. 709, S. 726.
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Tode verurteilt.¹³¹ Da der Nachweis einer direkten Verbindung von Zinovʼev und Kamenev zu den Verschwörern um Nikolaev vermeintlich weiterer Prüfung bedurfte, wurde die Angelegenheit des sogenannten Moskauer Zentrums, „als ideologischem und politischem Führer der Leningrader Gruppe“, zunächst im Januar 1935 bei einer auswärtigen Tagung des Militärkollegiums des Obersten Gerichts in Leningrad verhandelt. Die insgesamt 19 Angeklagten erhielten allesamt Gefängnisstrafen, wobei Zinoveʼev zu zehn und Kamenev zu fünf Jahren verurteilt wurden.¹³² Ende Januar 1935 mussten sich schließlich der Leningrader NKVD-Chef Medvedʼ, sein erster und zweiter Stellvertreter, Fëdor Fomin und Ivan Zaporožec, und 9 weitere Leningrader NKVD-Offiziere vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichts in Moskau verantworten. Neben dem Angeklagten Mečislav Balʼcevič erhielten sie wegen „sträflicher Vernachlässigung ihrer Dienstpflicht“ zwischen zwei und drei Jahren Lagerhaft.¹³³ In den Jahren des Großen Terrors sollten die meisten von ihnen erschossen werden.¹³⁴ Nach der Tat Nikolaevs hatten Ežov und Ždanov, der Nachfolger Kirovs, unverzüglich damit begonnen, Angestellte der städtischen und regionalen Parteikomitees zu überprüfen und Säuberungen durchzuführen. Hunderte Entlassungen waren die Folge.¹³⁵ Im Januar 1935 unterschrieb Stalin eine Resolution des Politbüros, mit der er die Verbannung von 663 sogenannten Leningrader Zinovʼevisten nach Sibirien sanktionierte. Nunmehr wurde die Stadt des Attentats von Verhaftungswellen erfasst, im Zuge derer der Geheimdienst allein 843 ehemalige Anhänger Zinovʼevs verhaftete. Allein in den Monaten Januar und Februar wurden mehr als 2330 Bürger aus Leningrad ausgewiesen. Waren im gesamten Jahr 1934 etwa 79.000 Sowjetbürger wegen konterrevolutionärer Verbrechen verurteilt worden, verzeichnete die offizielle Statistik schon für das darauffolgende Jahr 267.000 Verurteilungen.¹³⁶
Vgl. RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 128. Vgl. ausführlicher zu den Gerichtsverfahren Ėgge: Zagadka Kirova, S. 58 – 67, S. 178 – 197. Vgl. RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 190, l. 29; Library of Congress, Volkogonov Papers, Box 4, Folder 16; Komitet partijnogo kontrolja pri CK KPSS, Institut marksizma-leninizma pri CK KPSS: O dele tak nazyvaemogo ›Moskovskogo centra‹, in: Izvestija CK KPSS 7 (1989), S. 64– 85 und RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 542, ll. 55 – 86. TASS: O prigovore voennoj kollegii verchsuda Sojuza SSR po delu byvšich sotrudnikov upravlenija NKVD SSSR po Leningradskoj oblasti Medvedja F. D., Zaporožca I. V. i drug., in: Pravda (24.01.1935), S. 8. Vgl. Lenoe: The Kirov Murder, S. 693 – 738. Vgl. etwa die Meldungen Ždanovs über geplante Attentate RGASPI, Fond 77, op. 1, d. 619, l. 5. Vgl. RGASPI, Fond 77, op. 1, d. 439, ll. 24– 76; RGASPI, Fond 77, op. 1, d. 419, ll. 1– 3; Komitet partijnogo kontrolja pri CK KPSS, Institut marksizma-leninizma pri CK KPSS: O dele tak nazyvaemogo ›Moskovskogo centra‹, in: Izvestija CK KPSS 7 (1989), S. 64– 85; Centralʼnyj Komitet Vseso-
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Die Intensivierung des Klassenkampfes sei nicht besonders beängstigend, hatte Stalin im Januar 1933 auf einer gemeinsamen Sitzung von ZK und Kontrollkommission zu bedenken gegeben. Allerdings, fuhr er fort, müsse man sich dieser Prognose bewusst sein, wenn wir mit „diesen Elementen schnell und ohne besondere Opfer Schluss machen wollen.“¹³⁷ Damals hatte noch das potenzielle Attentat auf hochrangige Vertreter der Führungsebene den Rahmen für eine opferreiche, vermeintlich weitsichtige Politik bestimmt. Mit der Tat Nikolaevs jedoch war die Möglichkeit in Wirklichkeit umgeschlagen und verhalf damit dem stalinistischen Verschwörungsdenken und Machtkalkül gleichsam endgültig zur Symbiose. So bleibt der Fall Kirov ein entscheidender Knotenpunkt für Stalins Diktatur als bedrohte Ordnung. Um ihn kreiste denn auch die Meistererzählung, die in den großen Moskauer Schauprozessen ihre Katharsis erfahren sollte.¹³⁸ Auf politische Attentate folgt häufig ein cui bono, die Überlegung also, für wen ein solches Ereignis von Nutzen gewesen sein könnte. Da sich nun der Mord an Kirov und dessen Folgen so verlockend geschmeidig in das allgemeinere Bild vom Stalinismus zu fügen schienen, erlagen viele Forscher der vermeintlich bestechenden Logik.¹³⁹ Als später sogar Chruščëv in seiner ›Geheimrede‹ eine Beteiligung der Staatsmacht an dem Mord insinuierte, sahen sich die entsprechenden Interpreten bestätigt. Dabei bleibt bemerkenswert, dass sie angesichts dieses hochbrisanten Falles einen eigennützigen Gebrauch von Informationen seitens des Reformers nicht erwogen.¹⁴⁰ Erst die jüngere Forschung hat diese
juznoj Kommunističeskoj Partii (bol’ševikov): Zakrytoe pisʼmo CK VKP(b). Uroki sobytij, svjazannych s zlodejskim ubijstvom tov. Kirova. Ko vsem organizacijam partii, in: Izvestija CK KPSS 8 (1989), S. 95 – 100; Ėgge: Zagadka Kirova, Moskau 2011, S. 197; Lenoe: The Kirov Murder, S. 454 und exemplarisch eine Akte mit Gesuchen von aus Leningrad verbannten Personen GARF, Fond R-8131, op. 13, d. 11. RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 514 (1), l. 9. Entsprechend der hier verfolgten Interpretation kann der ›Große Terror‹ als konsequentexzessive Ableitung der vorherigen Entwicklung betrachtet werden und wird daher in dieser Arbeit nicht noch einmal eigens behandelt. Auch die Abrechnung mit der sogenannten Verschwörung um den Marschall Michail Tuchačevskij im Juni 1937 lässt sich in diesem Sinne als präemptive Maßnahme zur Sicherstellung der äußeren Souveränität begreifen. Vgl. etwa Gregory: Terror by Quota, S. 134, S. 180 f.; Kuromiya: Accounting for the Great Terror, S. 86 – 101 und Šubin: 1937. Dieser Interpretation lassen sich die Arbeiten von Boris Nicolaevskij zuordnen. Vgl. HIA, Nikolaevsky Collection, Box 511, Folder 47 und Box 518, Folder 41– 43. Vgl. für die Verbreitung dieser Sicht exemplarisch Robert Conquest: Stalin and the Kirov Murder, New York/Oxford 1989. Vgl. RGANI, Fond 1, op. 2, d. 17, ll. 23 – 24.Vgl. ferner Boris I. Nicolaevsky: Power and the Soviet Elite. ›The Letter of an Old Bolshevik‹ and Other Essays, New York 1965 und zuletzt prominent Amy Knight: Who Killed Kirov? The Kremlinʼs Greatest Mystery, New York 1999. Zu den rivalisierenden
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lange Zeit verbreitete Sicht auf den Mord nachdrücklich in Zweifel gezogen. Ungeachtet neuerer Befunde allerdings würde die Annahme, Stalin selbst sei in das Verbrechen verstrickt gewesen, letztlich wenig an der grundsätzlichen Deutung von Stalins Alleinherrschaft ändern. Ließe sich die Tat doch etwa auch als nichts weniger denn eine machtbewusste und ebenso zynische Variante des Erstschlags deuten.¹⁴¹ Den wahrscheinlichen Fall nun vorausgesetzt, dass das Attentat auf Kirov ohne Wissen Stalins verübt worden war, dann verwundert es nicht, dass der Fall als konkreter Beweis jahrelanger Beschwörungsformeln angeführt werden konnte. Insofern deutet die ausgelöste Dynamik nicht etwa indirekt auf eine Beteiligung Stalins am Attentat hin, sondern vielmehr auf sein längst etabliertes Kalkül, mit allen Konsequenzen den Bedrohungen der eigenen Macht entgegenzuwirken, auch wenn damit der Exzess im Gefolge der Befehlsangst gleichsam notwendigerweise in Kauf genommen wird.¹⁴² Anfang 1935 zog Stalin in seiner theoretisch redundanten Art ein erstes Fazit. Er rief seinen Untertanen zu, dass der Terror nichts anders sei als die logische Folge der Gewissheit, dass die Feinde ihre letzten Tage erlebten.¹⁴³ Während die Rede zunächst den Eindruck vermittelt haben mochte, dass Stalin sich allein auf den Terror beziehe, den das Regime in Form des Attentats erfahren hatte, so konnte sie demgegenüber auch als unzweideutige Drohung verstanden werden, dass die erfahrene Gewalt nun auf die Feinde niedergehen würde.¹⁴⁴ Im Zuge seines berühmten Aufrufs zur Denunziation hatte Stalin über menschliche Frustration gesprochen, von Menschen, die sich ihrer Potenziale beraubt sähen und damit zur Gefahr für den Staat würden.¹⁴⁵ Auch Nikolaev hatte
Interpretationen Matthew Lenoe: Did Stalin Kill Kirov and Does it Matter?, in: The Journal of Modern History 74 (2002), S. 352– 380. Vgl. zur jüngsten Forschung exemplarisch Ėgge: Zagadka Kirova; Lenoe: The Kirov Murder und Kotkin: Stalin. Waiting for Hitler, S. 188 – 237. Ein gutes Beispiel für die besondere Kommunikation in der Diktatur sind die Stimmungsberichte, die im Anschluss an die Prozesse angelegentlich des Mordes an Kirov gesammelt wurden. Vgl. etwa RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 125. Vgl. Centralʼnyj Komitet Vsesojuznoj Kommunističeskoj Partii (bol’ševikov): Zakrytoe pis’mo CK VKP(b). Uroki sobytij, svjazannych s zlodejskim ubijstvom tov. Kirova. Ko vsem organizacijam partii, in: Izvestija CK KPSS 8 (1989), S. 95 – 100. Vgl. dazu auch die Rede von Kirovs Amtsnachfolger RGASPI, Fond 77, op. 1, d. 445, ll. 1– 7. Vgl. exemplarisch zur kollektiven Haftung im Zusammenhang mit dem Mord an Kirov RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 144, ll. 24– 26, ll. 27– 30, l. 86. Vgl. Iz reči I. V. Stalina na rasširennom zasedanii voennogo soveta. 2 ijunja 1937 g., in: Chaustov/Naumov/Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i glavnoe upravlenie gosbezopasnosti NKVD, 1937– 1938, S. 207.
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Enttäuschung in das Gebäude der Leningrader Parteizentrale geführt, um an einem System Rache zu nehmen, das er für sein Scheitern verantwortlich machte. Unzählige Eingaben waren vor seiner Tat bei Kirov, dem Politbüro und Stalin selbst eingegangen, in denen er sie um Mitgefühl für seine Lage ersucht hatte. Seit 1924 war Nikolaev Parteimitglied gewesen, hatte immer wieder Sonderwünsche vorgebracht, vielfach den Arbeitsplatz gewechselt und sogar kurzzeitig Gelegenheit bekommen, im Smolʼny eine Anstellung zu finden. Zuletzt hatte er im Leningrader Institut für Parteigeschichte gearbeitet, bevor der spätere Attentäter 1934 wegen mangelnder Disziplin die Partei verlassen musste.¹⁴⁶ All diese Details schienen nicht nur die Interpretation Stalins zu bestätigen, sondern waren auch – so hat es zuletzt Gábor Rittersporn betont – von den Zeitgenossen als durchaus plausible Vorboten möglicher Verschwörungen gedeutet worden. Diesem Geist entsprechend sollten die Besucher eines Leningrader Theaters im Jahre 1935 vom geradezu Unvorstellbaren erfasst werden, als sie der verkündete Tod eines Politbüro-Mitglieds zu der Befürchtung verleitete, es habe jetzt tatsächlich Stalin erwischt.¹⁴⁷ Die Reaktion steht durchaus der verbreiteten Deutung entgegen, dass die Politik des stalinistischen Regimes allein instrumenteller Machtausübung verpflichtet, die Beschwörung der Gefahr folglich nur eine Finte des Diktators gewesen sei. Von einem Nebeneinander dieser scheinbar konträren Positionen allerdings mag sich derjenige nicht irritieren lassen, der den vermeintlich allmächtigen Diktator gleichermaßen als Aufseher und Gefangenen der eigenen Schöpfung aufzufassen bereit ist.
Vgl. Kirilina: Neizvestnyj Kirov, S. 236 – 249. Bei dem toten Politbüro-Mitglied handelte es sich um Valerian Kujbyšev, der Ende Januar 1935 einem Herzleiden erlegen war.Vgl. zu der Episode Rittersporn: Anguish, Anger, and Folkways, S. 35. Zu den juristischen Spitzfindigkeiten bezüglich einer Qualifizierung des Terrorismus in diesen Jahren siehe GARF, Fond R-9492, op. 1 A, d. 4, ll. 37– 38.
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3. Macht und Gedächtnis Das Attentat auf Kirov ließ überall Irritationen zurück. Den teilweise überspannten Reaktionen der sowjetischen Öffentlichkeit begegnete der Staat daher mit demonstrativer Schlichtheit. Er gab bekannt, dass der Leningrader Parteiführer Opfer eines Attentats geworden sei und man nun endgültig mit den Klassenfeinden abrechnen müsse.¹⁴⁸ Obgleich die Führung die affirmativen Reaktionen als Unterstützung ausgab, war sie sich der klammheimlichen Freude vieler Untertanen durchaus bewusst.¹⁴⁹ So lassen sich etwa die geheimdienstlichen Stimmungsberichte insofern als Dokumente diktatorischer Urangst verstehen, als in ihnen die Verschwörung als Reaktion auf die stalinistische Politik beschrieben wurde.¹⁵⁰ Der Mord an Kirov, war zu erfahren, habe eigentlich Stalin gegolten und ein Attentat auf den sowjetischen Führer käme überhaupt der Rettung Russlands gleich. All diese Aussagen legten daher beredt Zeugnis darüber ab, dass nicht nur der Attentäter und viele seiner Zeitgenossen, sondern auch das Regime selbst die Wiederbelebung des revolutionären Erbes als Orientierungspunkt einer möglichen Abrechnung mit dem sowjetischen Staat begriffen.¹⁵¹ Mit dem Attentat hatten sich die vielbeschworenen unsichtbaren Feinde offenbar erstmals wieder aus der Deckung gewagt. Sie hatten das eschatologischbolschewistische Projekt gleichsam aus dem Nichts angegriffen und ihre Taten ideengeschichtlich in der zarischen Vergangenheit verankert. Damit schien sich nun das revolutionäre Erbe gegen die Machthaber der Revolution selbst zu wenden und das Regime seine Wiedergänger aus einer Zeit zu erhalten, in der individueller Terror als Mittler der Politik gegolten hatte und als es einer kleinen Minderheit gelungen war, mit der Ermordung des Souveräns für einen kurzen Moment das Zepter der Geschichte an sich zu reißen. Entsprechend ließ Stalin seine Vertrauten im Frühjahr 1935 wissen, dass wir uns „Terroristen heranziehen“, wenn „wir unsere Leute am Beispiel der Narodovolʼcy erziehen.“ Die Warnung gehorchte der grundsätzlichen Stoßrichtung jener Wochen, in denen Stalin bereits eine auflagenstarke Buchreihe hatte verbieten lassen, in der die revolutio-
Vgl. Kirilina: Neizvestnyj Kirov , S. 195. Vgl. RGASPI 671, op. 1, d. 125, ll. 11– 26 und Ėgge: Zagadka Kirova, S. 188 auf der einen Seite, auf der anderen Seite Davies: Popular Opinion. Vgl. RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 122, ll. 52– 67, ll. 68 – 86, ll. 103 – 121, ll. 127– 137, ll. 155 – 180; RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 125, ll. 11– 12; RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 273, l. 4, l. 41, ll. 61– 62; RGASPI, Fond 77, op. 1. d. 445, ll. 1– 7 und RGASPI, Fond 558, op. 11, d. 64, ll. 99 – 100. Vgl. exemplarisch Davies: Popular Opinion, S. 10, S. 175 – 177. Vgl. ferner Serge: Die große Ernüchterung und Alexander Solschenizyn: Im ersten Kreis. Vollständige Ausgabe der wiederhergestellten Urfassung des Romans ›Der erste Kreis der Hölle‹, Frankfurt am Main 2008.
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nären Attentäter der Vergangenheit einem breiten Publikum vorgestellt worden waren.¹⁵² Daher sollte spätestens jetzt, nach dem Attentat auf Kirov, das Studium dieser Bewegung gekappt werden. Die ambivalente revolutionäre Tradition, deren politische Widersprüche die Bolschewiki mit ihrem Machtantritt endgültig behoben glaubten, war seit der Oktoberrevolution immer wieder Gegenstand ideologischer Auseinandersetzungen geworden. Bereits zur Jahreswende 1929 – 1930 war es zum handfesten Streit gekommen.¹⁵³ Dabei fiel dieser öffentlich forcierte Zwist ausgerechnet in eine entscheidende Periode machtpolitischer Umgestaltung. Während Stalin den letzten offenen Widerstand seitens der sogenannten rechten Abweichung hatte ausschalten können und zum primus inter pares aufgestiegen war, schienen gleichwohl die chaotischen Konsequenzen der Kollektivierungskampagnen den Terrorismus als politische Option wieder in den Alltag zurückgebracht zu haben. So verwundert es nicht, dass die Feierlichkeiten zum 50-jährigen Gründungsjubiläum der Narodnaja Volja nicht allein als Reverenz ideengeschichtlicher Finessen verstrichen, sondern im Lichte der aktuellen Erfahrungen mit aller Härte verhandelt wurden.¹⁵⁴ Angefangen hatte alles mit einem Artikel des Historikers Ivan Teodorovič, der Ende 1929 unter dem Titel ›Über die historische Bedeutung der Narodnaja Volja‹ erschienen war und unumwunden die Bedeutung dieser Organisation für das nun herrschende Regime herausstrich.¹⁵⁵ So war in dem überaus angriffslustig formulierten Text zu lesen, dass es zwischen dem revolutionären Erbe und den Bolschewiki nicht nur eine historisch-ideologische Verbindung gebe, sondern dass beide auch hinsichtlich ihrer Organisationsform und Taktik einem gemeinsamen Erbe verpflichtet seien.¹⁵⁶ Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Im
„[…] esli my na narodovolʼcach budem vospityvatʼ našich ljudej, to vospitaem terroristov […].“ RGASPI, Fond 77, op. 1, d. 434, l. 5. Vgl. zu der Buchreihe Marc Junge: Die Gesellschaft, S. 421. Vgl. David Allen Newell: The Russian Marxist Response to Terrorism, 1878 – 1917, Stanford University 1981. Vgl. ferner Yuri Slezkine: The House of Government, S. 592 Einen Überblick bieten etwa Frankel: Party Genealogy, S. 563 – 603 und George M. Enteen: Marxist Historians During the Cultural Revolution. A Case Study of Professional In-Fighting, in: Sheila Fitzpatrick (Hg.), Cultural Revolution in Russia, 1928 – 1931, Bloomington/London 1978, S. 154– 168. Auf den August datiert das Erscheinen dieses Artikels Junge: Die Gesellschaft, S. 251 f., S. 275, S. 279. Sandra Dahlke geht dagegen davon aus, dass der Artikel frühestens Ende November erschienen ist. Siehe Dahlke: Individuum und Herrschaft im Stalinismus, S. 195, Fn. 117. Vgl. Teodorovič: Istoričeskoe značenie partii ›Narodnoj Voli‹. Teodorovič war Bolschewik der ersten Stunde, stellvertretender Vorsitzender der ›Gesellschaft ehemaliger politischer Zwangsarbeiter und Verbannter‹ und wurde bald Herausgeber der berühmten Zeitschrift Katorga i Ssylka. Vgl. ferner Frankel: Party Genealogy.
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Dezember brachten sich regimetreue Historiker um den damals führenden marxistischen Historiker und stellvertretenden Volkskommissar für Bildung, Michail Pokrovskij, in Stellung. In mehreren Artikeln, die sowohl in der Pravda als auch der Izvestija erschienen, lieferten sich die selbsternannten Sachwalter des revolutionären Erbes einen erbitterten rhetorischen Schlagabtausch. Den vorläufigen Höhepunkt bildete zu Beginn des Jahres 1930 eine mehrtägige Konferenz der ›Gesellschaft marxistischer Historiker‹, bei der eben jener Savelʼev den Vorsitz führte, der abermals von sich reden machte, als er die entscheidenden Informationen zur Aufdeckung der Verschwörung um Smirnov und Ėjsmont liefern sollte.¹⁵⁷ Bislang hatten sich die meisten Einlassungen über die revolutionäre Tradition eher in theoretischen Sphären abgespielt. Und da sich die Säulenheiligen der sowjetischen Machthaber ausreichend vieldeutig ausgedrückt hatten, waren denn auch die Debatten über das revolutionäre Erbe entsprechend lebhaft ausgefallen. Im Laufe der Zeit allerdings kamen die Deutung und Umdeutung der Vergangenheit als Mittel zur Diffamierung des Gegners und Legitimation der eigenen Macht in Gebrauch.¹⁵⁸ Während sich einige auf den Mythos der terroristischen Totengräber des Zarismus beriefen und die Verschwörer der Narodnaja Volja als Gründungsväter der neuen Ordnung stilisierten, standen die Verfechter des Regimes nicht allein aus theoretischen Gründen dem individuellen Terrorismus skeptisch gegenüber, sondern sahen ihn mit zunehmender Machtfülle auch als potenzielle Gefahr der eigenen Herrschaft. Daher suchten sie die wohlfeile Verehrung terroristischer Gewalt aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Entsprechend rückte der Historiker Pokrovskij in regimetreuer Rhetorik das Bild zurecht, als er betonte, es sei kein Zufall, dass eine Wiederbelebung der populistischen Ideologie, in der sich sowohl trotzkistische als auch Elemente der rechten Abweichung fänden, gerade zu einer Zeit der Intensivierung des Klassenkampfes stattfände, einer Zeit also, in der sich der wahre Feind (svoj nastojaščij vrag) zu erkennen gebe.¹⁵⁹ Zum Stenogramm dieser Auseinandersetzung vgl. Diskussija o Narodnoj Vole v obščestve istorikov-marksistov. Otkrytye zasedanija sekcii istorii VKP(b) i Leninizma ot 16-go i 25-go janvarja i 4-go fevralja 1930 goda, in: Istorik-marksist 15 (1930), S. 86 – 143. Vgl. John Barber: Soviet Historians in Crisis, 1928 – 1932, New York 1981; Dahlke: Individuum und Herrschaft, S. 149 – 215 und Dietrich Beyrau: Intelligenz und Dissenz. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917 – 1985, Göttingen 1993, S. 44– 47. Den vorläufigen Schlussstein setzte Stalin mit seinem berühmten Brief an die Zeitschrift ›Proletarskaja Revoljucija‹ Ende Oktober 1931, mit dem er die Historiker und andere Intellektuelle auf Linie brachte. Vgl. exemplarisch Barber: Soviet Historians in Crisis, S. 126 – 136. Vgl. M. N. Pokrovskij: Očerednye zadači istorikov-marksistov, in: Istorik-marksist 16 (1930), S. 3 – 19.
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Die eher akademische Debatte über die Bedeutung der terroristischen Vergangenheit erreichte im Laufe des Jahres 1930 ihr vorläufiges Ende. Dennoch war deutlich geworden, dass es sich nicht allein um eine gelehrte Auseinandersetzung handelte.¹⁶⁰ Vielmehr hatten sich Stimmen erhoben, die das historische Erbe mit einer realpolitischen Hermeneutik versahen und eine Bedeutung für die Gegenwart ostentativ leugneten. Obgleich sogar Lenin Personen wie Željabov als Personifikation des revolutionären Heldentums beschrieben hatte und in Chalturin den Prototyp des Arbeiters erblickt zu haben glaubte, fielen die Interpretationen dieser Vergangenheit nach dem Jubiläumsjahr 1929 immer schematischer aus.¹⁶¹ Nachdem sich im Jahre 1934 schließlich der Attentäter Kirovs als neuer Željabov in Szene gesetzt hatte und dem Regime damit in der Tat vor Augen führte, dass die Beschwörung des revolutionären Erbes sich zu einer realen Gefahrenkoalition auswachsen konnte, war das Ende einer bisher relativ pluralistischen Kontroverse endgültig besiegelt.¹⁶² Die Geschichte bis 1917, so hatte Stalin kurz nach dem Attentat auf Kirov zu bedenken gegeben, sei als nichts anderes denn als „Vorgeschichte“ zu begreifen.¹⁶³ Ihre Erforschung könne nunmehr allerdings einzig als Geburtshilfe einer neuen Welle des Terrorismus verstanden werden, da jede Auseinandersetzung mit der einstmals heroischen Vergangenheit nur vermeintlich dem Geist der Tradition verpflichtet sei, in Wahrheit jedoch in ihrer ganzen Niedertracht auf die sowjetischen Führer niederzugehen drohe. Angesichts dieser geschichtspolitischen Neuausrichtung legte auch das Zentralkomitee im Sommer 1935 die Erkenntnis fest, dass der Marxismus im Kampf mit dem Populismus, insbesondere den Narodovolʼcy als „dem ärgsten Feind (zlejšij vrag), entstanden und stark“ geworden sei und jedes Parteimitglied zu begreifen habe, dass der Marxismus sich nur vor dem Hintergrund des siegreichen Kampfes mit den alten Narodniki, den Menschewiki und Sozialrevolutionären habe durchsetzen können. Die wichtigste Lektion konnte daher nur die Einsicht in die historische Notwendigkeit sein, dass die Partei buchstäblich allen möglichen Feinden ausgesetzt war.¹⁶⁴
Vgl. Barber: Soviet Historians in Crisis, S. 99. Vgl. zu Lenins Interpretation der terroristischen Vergangenheit mit vielen Verweisen auf dessen Werke F. Kuznecov: Lenin o narodničestve, in: Voprosy literatury 4 (1960), S. 119 – 135 und Institut Lenina pri CK VKP (b) (Hg.): Marks, Lenin i Plechanov o Narodničestve i ›Narodnoj Vole‹. Sbornik statej, Moskau 1931. Vgl. ferner Newell: The Russian Marxist Response und Ryan: Leninʼs Terror, S. 27– 31, S. 37– 59. Vgl. Antonov: Narodničestvo v Rossii. Vgl. RGASPI, Fond 77, op. 1, d. 434, l. 5 und Antonov: Narodničestvo v Rossii. Der Beschluss sprach von Trotzkisten, der trotzkistisch-zinovʼevistischen Gruppe, der rechten Abweichung, linken Kommunisten und anderen gegen die Partei gerichteten Gruppen.
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Der Kampf gegen den sterblichen Gott
Nach dem Attentat auf Kirov nahm Stalin endgültig von seiner Gewohnheit Abstand, sich auf offener Straße dem gemeinen Volk zu zeigen. Auch spontane Besuche, wie etwa die beim Dichter Demʼjan Bednyj, gehörten der Vergangenheit an.¹⁶⁵ Die Sicherheitsvorkehrungen für die gesamte sowjetische Führung wurden überarbeitet und verschärft. Dabei war Stalin allerdings an einem zeitgemäßen Schutz seiner Umgebung wohl ebenso interessiert wie an der Möglichkeit, seine Machtteilung besser kontrollieren zu können.¹⁶⁶ Das Zentrum der Macht sollte weiterhin der Schnittpunkt sein, an dem Verschwörungsdenken und Machtkalkül sich immer wieder auf besondere Weise kreuzten; hatte die Verschwörung um Syrcov und Lominadze doch deutlich gemacht, dass die vermeintlichen Feinde gerade diesem Zentrum besondere Bedeutung zumaßen. Und hatte das Regime doch inzwischen zudem schmerzlich erfahren müssen, dass der Leningrader Parteiführer ausgerechnet in seiner Parteizentrale einem Attentat zum Opfer gefallen war.¹⁶⁷ Im Januar 1935 verdichteten sich die Informationen, dass im Kreml mit einer großen Verschwörung zu rechnen sei. Unmittelbarer Auslöser schien das Kaffeekränzchen einiger Putzfrauen gewesen zu sein, bei dem sie über die schlechten Zustände im Land geklagt, sich aber auch despektierlich über Stalin als Ehemann geäußert, ihn gar des Mordes an seiner zweiten Frau geziehen hatten.¹⁶⁸ Nun sollte ausgerechnet der Patenonkel jener Frau in Bedrängnis geraten, über die sich die Putzfrauen ausgetauscht hatten. Avelʼ Enukidze nämlich, ein alter Weggefährte Stalins, war in seiner Funktion als Sekretär des Zentralen Exekutivkomitees für die Verwaltung und Sicherheit des Kremls verantwortlich und hatte offenbar nicht nur schwatzhafte Putzfrauen, sondern auch Angehörige der Familie Kamenev ins Zentrum der Macht eindringen lassen.¹⁶⁹ Allein durch Enukidzes Nachlässigkeit, so förderte die Untersuchung bald zu Tage, sei es mehreren Verschwörerzellen,
Vgl. O propagandistskoj rabote v bližajščee vremja. Postanovlenie ZK VKP (b), in: Pravda (14.06. 1935), S. 1. Vgl. Ėgge: Zagadka Kirova, S. 145. Vgl. A. T. Rybin: Rjadom so Stalinym. Zapiski telochranitelja, Moskau 1992, S. 10 – 15 und Pavel Sudoplatov: Specoperacii. Lubjanka i Kremlʼ 1930 – 1950 gody, Moskau 1997, S. 83 – 90. Vgl. zu vermeintlich verschwörerischen Umtrieben im Kreml bereits im Jahre 1933 RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 103, ll. 1– 8, ll. 14– 23. Vgl. Specsoobščenie L. P. Berija I. V. Stalinu s priložemiem protokola doprosa D. M. Dmitrieva. 23 oktjabrja 1938 g., in: Chaustov/Naumov/Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i VČK-GPU-OGPUNKVD, S. 577– 602, hier: S. 599 f. Einen guten Überblick über die Affäre bieten Jurij N. Žukov: Tajny ›Kremlëvskogo dela‹ 1935 goda i sudʼba Avelja Enukidze, in: Voprosy istorii 9 (2000), S. 83 – 113 und Nikita V. Petrov/Marc Jansen: Stalinʼs Loyal Executioner. Peopleʼs Commissar Nikolai Ezhov, 1895 – 1940, Stanford 2002, S. 21– 51. Vgl. HIA, Nicolaevsky Collection, Box 522, Folder 5 und RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 7, ll. 1– 11.
3. Macht und Gedächtnis
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mit Verbindungen ins Ausland und unter anderen zu Zinovʼev und Trotzki, erstmals gelungen, sich im Herzen des Staats einzunisten. Ein Neffe Kamenevs wusste gar von einem Freund zu berichten, der den „Kampf gegen die Führer der Partei nach dem Vorbild der Narodnaja Volja“ habe aufnehmen wollen.¹⁷⁰ Nachdem der Attentäter Kirovs seine Tat als Reminiszenz an Željabov in Szene gesetzt hatte, mussten diese Informationen Erinnerung an Chalturin und das verheerende Sprengstoffattentat im zarischen Winterpalais wecken.¹⁷¹ Die Ermordung hoher Würdenträger, vor allem Stalins, am Ort ihrer Macht war offenbar nur im letzten Moment vereitelt worden.¹⁷² Auf die Enttarnung der Verschwörung folgten in den nächsten Wochen über 100 Verhaftungen. Im Juli 1935 wurden schließlich die Fälle der 30 Hauptverdächtigen, darunter Kamenev und einige seiner Verwandten, in einer geheimen Sitzung des Militärkollegiums des Obersten Gerichts verhandelt, an deren Ende für die meisten das Urteil auf Gefängnis- und Lagerhaft lautete.¹⁷³ Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte der Kommandant des Kremls, Rudolfʼ Peterson, schon seinen Posten verloren und auch Enukidze, dessen politisches Falschspiel als erwiesen galt, war degradiert und Anfang Juni 1935 aus dem Zentralkomitee und der Partei ausgeschlossen worden.¹⁷⁴ Beide wurden zwei Jahre später erschossen. Im Dezember 1935 teilten der Leiter der Parteikontrollkommission, Ežov, und der NKVD-Chef Jagoda dem ZK-Plenum die Ergebnisse der parallel zur KremlAffäre abgeschlossenen Parteisäuberung mit und gaben an, dass unionsweit bisher nicht nur zehntausende Einzelpersonen überprüft und verhaftet, sondern dass sogar mehr als 100 feindliche Gruppen und Organisationen enttarnt worden seien.¹⁷⁵ Darunter befand sich etwa auch die konspirative Einheit um einen gewissen Vasilij Doronin, die im Geiste terroristischer Gruppen des Zarenreiches im Volgograder Gebiet eine Bewegung hätten auslösen wollen, um im richtigen
Protokol doprosa B. N. Rozenfel’da (Kremlëvskoe delo). 11 marta 1935 g., in: Chaustov/Naumov/Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i VČK-GPU-OGPU-NKVD, S. 628 – 631, Zitat: S. 630. Beim Geheimdienst gingen auch Informationen über vermeintliche Verschwörer ein, die ihr Bedauern über die Verhaftung Enukidzes äußerten, da ihnen nunmehr der Zugang zum Machthaber verwehrt sei. Vgl. etwa RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 43, ll. 56 – 57. Vgl. RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 542, ll. 55 – 95. Die Angeklagten Aleksej Sinelobov und Michail Černjavskij allerdings wurden zum Tod durch Erschießen verurteilt. Vgl. Prokuratura SSSR, Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti: O tak nazyvaemom ›Kremlëvskom dele‹, in: Izvestija CK KPSS 7 (1989), S. 86 – 93. Vgl. ferner RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 106, ll. 1– 7. Vgl. zum kurzen Intermezzo Enukidzes im Kaukasus RGASPI, Fond 558, op. 11, d. 64, l. 104. Vgl. zu Peterson RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 103, ll. 67– 68. Vgl. RGASPI, Fond 17, op. 120, d. 177, l. 22; RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 561, l. 65ob und RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 542, ll. 55 – 95. Vgl. zur Absetzung Enukidzes RGASPI, Fond 17, op. 3, d. 960, l. 15.
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Der Kampf gegen den sterblichen Gott
Moment, mit der Waffe in der Hand, den Staat zu stürzen.¹⁷⁶ Ohne Zweifel also, so hatte Stalin kurz nach Bekanntwerden der Kreml-Affäre seinen Mitstreitern ins Gedächtnis gerufen, sei etwas faul im Staate.¹⁷⁷ Im Ergebnis bildeten die Ereignisse des Jahres 1935 einen wesentlichen Zwischenschritt, durch den gleichsam ein Stützpfeiler zwischen dem Attentat auf Kirov und den phantastischen Verschwörungsszenarien der großen Moskauer Schauprozesse errichtet worden war. Dabei zeigt jedoch gerade dieser Umstand auch das Spektrum ihrer Deutung an. Während etwa der Historiker Jurij Žukov davon ausgeht, dass die Kreml-Affäre nicht einfach der Vorstellung Stalins entsprungen sei und sich in der Tat Belege für eine reale Verschwörung benennen ließen, sehen andere Forscher in ihr den Psychopathen Stalin par excellence am Werk.¹⁷⁸ Zweifellos belegt die Angelegenheit, dass sich Jagoda wieder ins Spiel zu bringen hoffte, indem er seine vermeintlich mangelnde Wachsamkeit im Falle Kirovs seither mit vorauseilendem Gehorsam zu kompensieren beabsichtigt hatte. Allerdings ging die Strategie Jagodas, wie sich bald zeigte, keinesfalls auf, sondern sollte im Gegenteil abermals einen Schatten auf die von ihm geleitete Behörde werfen. Das Kalkül des Machthabers folgte den etablierten Mustern. So offenbarte das Vorgehen auch diesmal, dass Stalin zum Wohle eigener Macht engste Mitarbeiter und selbst persönliche Vertraute fallen ließ und Machiavellis Rat folgend lieber selbstbestimmt Furcht verbreitete, als auf den von anderen abhängigen Zuspruch zu hoffen.¹⁷⁹ Entsprechend war selbst Enukidze, den eine lange persönliche Bekanntschaft mit dem Machthaber verband und der zuletzt noch an der Ausarbeitung des Kirov-Gesetzes im engsten Führungskreis mitgewirkt hatte, zur Personifikation des Doppelzünglers schlechthin erklärt worden, durch den erst der Terrorismus den Korridor der Macht hatte erreichen können.¹⁸⁰ Sein Niedergang markierte nun auch das Ende des amtierenden Geheimdienstchefs. Damit wurden sie beide zum leibhaftigen Signum der stalinistischen Überzeugung, dass ein
Vgl. RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 129, ll. 145 – 153. Stalin hatte gegenüber Kaganovič davon gesprochen, dass an der Angelegenheit etwas „gehörig faul ist“ (zdesʼ gnil’ju pachnet). RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 547, l. 34ob. Vgl. zu den konträren Interpretationen exemplarisch Žukov: Tajny ›Kremlëvskogo dela‹ 1935 goda i sudʼba Avelja Enukidze und Sebag Montefiore: Stalin. Am Hof des roten Zaren, S. 193 – 201. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Alvin D. Coox: The Lesser of Two Hells. NKVD General G. S. Lyushkovʼs Defection to Japan, 1938 – 1945, part I, in: The Journal of Slavic Military Studies 11 (1998), S. 145 – 186 und Alvin D. Coox: The Lesser of Two Hells. NKVD General G. S. Lyushkovʼs Defection to Japan, 1938 – 1945, part II, in: The Journal of Slavic Military Studies 11 (1998), S. 72– 110. Von einem Korridor der Macht spricht auch Schmitt: Gespräch über die Macht.
3. Macht und Gedächtnis
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Machthaber nur dann nicht Opfer eines veralteten Machtgerüsts werde, wenn er die Stützen eigener Macht von Zeit zu Zeit neu zu errichten imstande sei.¹⁸¹ Nachdem die abstrakten Bedrohungsszenarien mit dem Attentat auf Kirov eine Realitätsprüfung erfahren hatten, schienen die Informationen über konspirative Umtriebe im Kreml wenige Wochen später die schlimmsten Befürchtungen wahr werden zu lassen. Was in der Rückschau als Hirngespinst des Machthabers erscheinen mag, war eigentlich das Ergebnis diktatorischer Ambivalenz. So schienen bald auch solch delikate Informationen einen Sinn zu ergeben, wonach bereits Ende 1933 Auffälligkeiten im Kreml festgestellt, diese jedoch nicht mit angemessener Sorgfalt behandelt worden waren.¹⁸² Entsprechend sollte es in dem vom aufstrebenden Ežov in eben jenen Monaten verfassten und von Stalin soufflierten Buchprojekt ›Vom Faktionalismus zur offenen Konterrevolution‹ heißen, dass den Feinden mit dem Attentat auf Kirov bisher nur die Verwirklichung der einen Hälfte ihres Planes gelungen sei, sie aber fortan alles daransetzen würden, ihn in Gänze umzusetzen und dies gerade vor dem Hintergrund ihrer offensichtlichen Rückschläge besonders gefährlich sei.¹⁸³ Nur wenige Monate vor dem Attentat auf Kirov war auf dem sogenannten Parteitag der Sieger eine Lobeshymne auf die Generallinie angestimmt worden. Die Zerschlagung bisheriger Verschwörungen und die erfolgreiche Ernte des Jahres 1933 schienen zwar Stalins Politik der forcierten Kollektivierung und Industrialisierung und seine Weitsicht im Umgang mit den Feinden nobilitiert zu haben.¹⁸⁴ Dennoch hatte er immer wieder sein Misstrauen gegenüber der vermeintlich erreichten Einheit zur Schau gestellt und damit auch seine konzeptuellen Überlegungen zum Dilemma autoritärer Herrschaft geliefert. Jeder Schritt auf dem Weg zur Einheit und zum Sieg, so lautete die Prämisse, provoziere erst recht die Verschlagenheit des Feindes.¹⁸⁵ Auf dem XVII. Parteitag 1934 war Stalin mithin auf die besondere Herrschaftsdialektik, die „Schattenseite“ (tenevaja storona) des Erfolges zu sprechen gekommen, einen Aspekt also, den er bereits in
Vgl. RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 105, ll. 59 – 61, ll. 62– 126 und zur Umstrukturierung Tullock: The Social Dilemma, S. 275 f., S. 296, S. 303. Vgl. RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 103, ll. 1– 8, ll. 14– 23.Vgl. bezüglich der Ursprünge der KremlAffäre auch Žukov: Tajny ›Kremlëvskogo dela‹ 1935 goda i sudʼba Avelja Enukidze. Vgl. RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 273, ll. 61– 62, l. 4.Vgl. zu dem Buchprojekt auch Rittersporn: Anguish, Anger, and Folkways, S. 28 f. In diesem Zusammenhang sind Schätzungen zufolge sechs bis sieben Millionen Menschen umgekommen. Vgl. exemplarisch Stephen G. Wheatcroft/R. W. Davies: The Years of Hunger. Soviet Agriculture, 1931 – 1933, New York 2004, S. 400 – 441. Vgl. in diesem Zusammenhang die strenge Überwachung anderer revolutionärer Gruppen wie etwa der Partei der Sozialrevolutionäre Library of Congress,Volkogonov Papers, Box 3, Folder 6 – 7.
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Der Kampf gegen den sterblichen Gott
seiner berühmten Rede ›Vor Erfolgen von Schwindel befallen‹ im Jahre 1930 beschworen hatte und der inzwischen als Dogma feststand.¹⁸⁶ Nur wenige Monate nach dieser Rede hatte sich Nikolaev von jener Schattenseite aufgemacht. Kurz darauf schienen ihre Abgesandten sogar einen Weg in den Kreml gefunden zu haben. In den Moskauer Schauprozessen schließlich wurde diese Dialektik zur Bühnenreife geführt.¹⁸⁷ Dabei kontrastierte Vyšinskij die Angeklagten dieser Prozesse bemerkenswerterweise mit den Heroen der revolutionären Vergangenheit und verwies – trotz einer inzwischen anders verordneten Exegese revolutionärer Tradition – mehrfach salbungsvoll auf die Terroristen der Narodnaja Volja. ¹⁸⁸ Dennoch waren inzwischen an vielen Orten Museen, die gezielt dem Erbe dieser Tradition gewidmet waren, umbenannt und neu arrangiert worden. Nunmehr sollten sie allein den Insignien der neuen Machthaber dienen.¹⁸⁹ Diesen ambivalenten Umgang mit dem goldenen Zeitalter der Konspiration und Stalins Urangst vor ihren Wiedergängern hat Solschenizyn in einer Episode seines auf Dante Alighieri anspielenden Romans Im ersten Kreis ebenso historisch informiert wie literarisch stilisiert überliefert: „Es war im Jahre siebenunddreißig. Damals hatte er beschlossen, anläßlich des zwanzigsten Jahrestages der Revolution das Museum persönlich zu kontrollieren, da man Verschiedenes inzwischen ganz anders auffaßte. Und in einem Saal […] hatte er von der Schwelle aus mit plötzlich erwachenden Augen die großen Porträts von Scheljabow und Perowskaja gesehen. Hoch auf der gegenüberliegenden Wand. Offene, unerschrockene Gesichter, unbezähmbare Blicke, die jeden Eintretenden aufforderten: »Tod dem Tyrannen!« Von den Blicken der beiden Narodowolzy wie von zwei Pfeilen getroffen, war Stalin zurückgefahren. Er röchelte, hustete und deutete hustend mit dem zitternden Finger auf die Bilder. Sie wurden sofort abgehängt. Und auch in Leningrad wurde die erste Reliquie der Revolution entfernt – die Überreste der Kutsche Alexanders des Zweiten.“¹⁹⁰
Die Kreml-Affäre markierte den endgültigen Übergang zu Stalins Alleinherrschaft. Warnungen vor Palastrevolutionen waren zu einem tragenden Topos
Vgl. RGASPI, Fond 558, op. 11, d. 1049, l. 29. Später sollte er diese Phrase in seiner nicht weniger berühmten Rede während des Februar-März-Plenums 1937 wiederholen. RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 612 (3), ll. 4ob – 5. Vgl. ferner Getty: Origins of the Great Purges, S. 29. Vgl. exemplarisch HIA, Nicolaevsky Collection, Box 375, Folder 40 und Library of Congress, Volkogonov Papers, Box 4, Folder 8. Vgl. exemplarisch Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937, Frankfurt am Main 2010, S. 108 f. Vgl. ferner RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 583, ll. 275 – 275. Vgl. zur Umbenennung der Museen Junge: Die Gesellschaft, S. 415. Solschenizyn: Im ersten Kreis, S. 155.
3. Macht und Gedächtnis
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avanciert und legitimierten Rochaden innerhalb des Machtapparats. Einher ging damit eine endgültige Neuausrichtung der revolutionären Erinnerungskultur, für die Enukidze Pate stand. Galt er doch nicht nur als Türöffner für Verschwörer im Zentrum der Macht, sondern hatte bislang auch seine schützende Hand über die ›Gesellschaft ehemaliger politischer Zwangsarbeiter und Verbannter‹, die Sachwalter des revolutionär-terroristischen Erbes, gehalten. Mit seinem Fall war der Macht der Vorrang gegenüber dem Gedächtnis eingeräumt worden.¹⁹¹ Entsprechend konnte man Ende Juni 1935 in der Izvestija lesen, dass die ›Gesellschaft‹ das Zentrale Exekutivkomitee um ihre Auflösung ersucht habe und dieser Bitte auch stattgegeben worden sei. Natürlich war diese Frage bereits zuvor vom Politbüro zustimmend entschieden worden. Um die endgültige Abwicklung der Organisation kümmerte sich federführend Akulov – der Nachfolger des gefallenen Enukidze.¹⁹² Erst nach Stalins Tod wurde eine differenziertere Erinnerung an das revolutionäre Erbe allmählich wieder zugelassen. Macht und Gedächtnis sollten abermals eine Umdeutung erfahren.¹⁹³
Vgl. zur offiziellen Interpretation der Ereignisse RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 543, ll. 184– 328. Zur endgültigen Etablierung der Alleinherrschaft Stalins siehe auch Khlevniuk: Master of the House, S. 145. Vgl. ferner Junge: Die Gesellschaft, S. 423 f. Vgl. M. Kalinin/I. Akulov: O likvidazii obščestva byv. politkatoržan i ssylʼno-poselencev. Postanovlenie Prezidiuma Centralʼnogo Ispolnitel’nogo Komiteta Sojuza SSR, in: Izvestija (27.06. 1935), S. 3. Vgl. auch G. M. Adibekov/K. M. Anderson/L. A. Rogovaja (Hg.): Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b). Povestki dnja zasedanij Tom 2. 1930 – 1939, Moskau 2001, S. 666. Vgl. Antonov: Narodničestvo v Rossii, S. 5 – 19 und David Brandenberger: Propaganda State in Crisis. Soviet Ideology, Indoctrination, and Terror under Stalin, 1927 – 1941, New Haven/London 2011, S. 48.
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Der Kampf gegen den sterblichen Gott
4. Thronfolge als Gefahr oder die gelungene Verschwörung Dass ein Alleinherrscher seine Macht nur dann wahren kann, wenn er die Untertanen unter Kontrolle zu halten vermag, ist unmittelbar evident. Dass zu dieser Herrschaftsform jedoch auch die Fähigkeit gehört, Macht zu teilen, mit der Delegation eigener Ansprüche wiederum politische Stärke und Anfälligkeit gleichermaßen verbunden sind, wird vielfach übersehen.¹⁹⁴ Gerade deshalb entscheidet die Beherrschung dieser Disziplin darüber, ob ein Machthaber das Zeug zum unangefochtenen Alleinherrscher hat und die Welt auf natürlichem Wege verlassen kann. Zwar nimmt statistisch gesehen mit fortschreitender Amtszeit die Gefahr von Palastrevolutionen, die Bedrohung durch Verschwörungen ab. Gleichwohl nimmt das Risiko wieder zu, wenn sich das Ende einer Ära abzuzeichnen beginnt und für alle die letzte Lebensphase eines Herrschers anbricht.¹⁹⁵ Die Jahre des Weltkrieges hatten nicht nur das sowjetische Imperium, sondern auch Stalin selbst gezeichnet. Im Herbst 1945 erlitt er einen Schlaganfall. Unverzüglich begannen Gerüchte über seine schwindenden Kräfte und möglichen Nachfolger zu zirkulieren, die auch die von Stalin mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte ausländische Presse bereitwillig aufgriff, indem sie den mächtigen Außenminister Molotov als natürlichen Nachfolger benannte.¹⁹⁶ Offenbar animierten die Nachrichten den Machthaber, die Demütigungen seiner Umgebung noch weiter zu treiben.¹⁹⁷ Es entwickelte sich ein zynisches Machtspiel, das auf den engsten Machtzirkel abzielte und in dem der Niedergang des einen nicht selten mit dem Aufstieg eines Kontrahenten eben genau dieser Person verbunden war. Dabei konnte Stalin stets darauf setzen, dass die Beteiligten, um ihr Gesicht zu
Vgl. zur Machtteilung etwa die Bemerkungen bei Čuev: Sto sorok besed s Molotovym, S. 258 f. Vgl. ferner Svolik: Power Sharing, S. 477– 494. Zur Statistik vgl. Svolik: The Politics of Authoritarian Rule, S. 53 – 84 und H. E. Goemans: Which Way Out? The Manner and Consequences of Losing Office, in: Journal of Conflict Resolution 52 (2008), S. 771– 794. Zum Problem der Nachfolge Tullock: The Social Dilemma, S. 82– 106; Georgy Egorov/Konstantin Sonin: Dictators and Their Viziers. Endogenizing the Loyalty-Competence Trade-Off, in: Journal of European Economic Association 9 (2009), S. 903 – 930 und Stephen Haber: Authoritarian Government, in: Barry R. Weingast/Donald A. Wittman (Hg.), The Oxford Handbook of Political Economy, Oxford 2006, S. 693 – 707. Vgl. zu Stalins Leseverhalten Chlevnjuk: Stalin. Žiznʼ odnogo voždja, S. 136 – 147. Vgl. Konstantin Simonow: Aus der Sicht meiner Generation. Gedanken über Stalin, Berlin 1990, S. 225 – 241; Chlevnjuk et al. (Hg.): Politbjuro CK VKP(b) i Sovet Ministrov SSSR 1945 – 1953, Moskau 2002, S. 195 – 200 und Gorlizki/Khlevniuk: Cold Peace, S. 69 – 95, S. 143 – 163.
4. Thronfolge als Gefahr oder die gelungene Verschwörung
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wahren, das Treiben ertragen würden. Gerade deshalb lieferten die Personalrochaden dem Machthaber die gewünschte Stabilität.¹⁹⁸ Diese Gewissheit schien Stalin geradezu anzuspornen, immer wieder freimütig über mögliche Nachfolger und Machtkonstellationen zu räsonieren. Im größeren Kreis etwa brachte er bestimmte Namen vor, um sie im nächsten Moment wieder selbst in Zweifel zu ziehen und die Wirkung zu prüfen. Zu anderen Gelegenheiten verlegte er sich auf Andeutungen und leitete sodann aus den tatsächlichen oder lediglich möglichen Reaktionen seiner Umgebung die nächsten Zutaten für seine Alchemie der Macht ab. So konnten einmal die Namen Berija, Chruščëv, Georgij Malenkov, Kaganovič, Molotov, Vorošilov oder Nikolaj Bulganin fallen, ein anderes Mal galten Ždanov oder dessen Schützlinge Aleksej Kuznecov und Nikolaj Voznesenskij als aussichtsreiche Kandidaten für die Nachfolge.¹⁹⁹ Vor dem Hintergrund dieser Manöver sind die letzten Jahre von Stalins Herrschaft immer wieder als eine brisante Mischung aus physischem Verfall und paranoider Sprunghaftigkeit beschrieben worden.²⁰⁰ Allerdings lässt sich dieser Befund, der sich auf eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen zu stützen vermag, auch als augenfälliges Indiz machtpolitischer Weitsicht begreifen. So habe gerade die letzte Etappe von Stalins Herrschaft, wie Oleg Chlevnjuk und Yoram Gorlizki überzeugend herausgearbeitet haben, eine besondere politische Logik offenbart, die einen Diktator zeige, dessen Fähigkeit, die Umgebung im Sinne des eigenen Machterhalts zu lenken, nichts von ihrer ursprünglichen Kraft eingebüßt zu haben schien.²⁰¹ Somit gelten die letzten Jahre Stalins einerseits als Zeit absoluter Unberechenbarkeit und anderseits als eine Periode, in der die Disziplinierungen wesentlich gezielter erfolgten als in dem Jahrzehnt zuvor.²⁰²
Vgl. Mikojan: Tak bylo, S. 559 – 568. Vgl. ferner Stephen G. Wheatcroft: From Team-Stalin to Degenerate Tyranny, in: Edward A. Rees (Hg.), The Nature of Stalinʼs Dictatorship, Basingstoke 2004, S. 79 – 107. Vgl. Library of Congress, Volkogonov Papers, Box 10, Folder 5; Gorlizki/Khlevniuk: Cold Peace, S. 94, S. 149; Mikojan: Tak bylo, S. 565 und Khrushchev (Hg.): Memoirs of Nikita Khrushchev. Vol. 2, S. 82– 91. Vgl. exemplarische Dmitrii Shepilov: The Kremlinʼs Scholar. A Memoir of Soviet Politics under Stalin and Khrushchev, New Haven/London 2007, S. 1– 34, S. 132– 154. Vgl. zur Forschung zuletzt Fitzpatrick: On Stalinʼs Team. Vgl. Gorlizki/Khlevniuk: Cold Peace, S. 3, S. 8, S. 11 passim. Vgl. einerseits Sebag Montefiore: Stalin. Am Hof des roten Zaren, S. 561– 749 oder klassisch Martin Malia: The Soviet Tragedy: A History of Socialism in Russia, 1917 – 1991, New York 1994. Andererseits Raissa Orlowa-Kopelew: Eine Vergangenheit, die nicht vergeht. Rückblicke aus fünf Jahrzehnten, München 1985, S. 205 – 218; Michael Parrish: The Lesser Terror. Soviet State Security, 1939 – 1953,Westport 1996 und Yoram Gorlizki: Stalinʼs Cabinet: The Politburo and Decision Making in the Post-War Years, in: Europe-Asia Studies 53 (2001), S. 291– 312.
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Der Kampf gegen den sterblichen Gott
Während Stalin den XVIII. Parteitag des Jahres 1939, der erste Parteitag überhaupt nach dem Kirov-Attentat, abermals als Parteitag der Sieger und Abschluss einer zentralen Phase des Stalinismus ausgegeben hatte, wurden nun nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ganz ähnliche apologetische Formeln verbreitet.²⁰³ Schließlich konnte sich vor den Trümmern der Vergangenheit die Zukunft nur strahlend abheben. Entsprechend rief Stalin den Delegierten des ZKPlenums im März 1946 in Erinnerung, dass man bereits in der Vergangenheit äußerst schwierige Perioden wie den „Bürgerkrieg und die revolutionäre Umgestaltung“ überstanden habe und man daher auch den gegenwärtigen Herausforderungen – wovon riesige Flüchtlingsströme und eine Hungersnot, die Ausweitung des Machtbereiches und der beginnende Kalte Krieg als zentrale Herausforderungen angesehen werden können – mit historischer Stärke entgegenblicke.²⁰⁴ Die Beschwörung von Einheit und Stabilität kam zwar inzwischen einer rhetorischen Vergreisung gleich, dennoch deuten die Handlungen des gealterten Diktators durchaus ein waches Bewusstsein für das Problem der Machtteilungen an.²⁰⁵ Es bleibt auffällig, dass Stalin gerade in den letzten Jahren seiner Herrschaft alles daransetzte, einem möglichen Zusammenschluss seiner Umgebung durch die gezielte Zerstörung horizontaler Verbindungen entgegenzuwirken; er ließ Abhöranlagen einrichten und säte fortwährend Zwietracht.²⁰⁶ Das geschickte Manövrieren zwischen Erniedrigung und Geiselhaft, erneutem Vertrauenszuspruch und vermeintlicher Zuverlässigkeit gibt sich daher gleichsam als Drama über die Herausforderungen einer zur Neige gehenden Alleinherrschaft zu erkennen, deren allgemeingültige Bedeutung auch bei Shakespeare in einem Dialog zwischen Richard III. und dem machtbewussten Lord Stanley zum Ausdruck kommt:
Vgl. etwa Rees: Iron Lazar, S. 231. I. V. Stalin: ›Kommissarov čërtova gibelʼ‹. Vystuplenie I. V. Stalina na plenume CK VKP(b), in: Istoričeskij archiv 5 – 6 (1997), S. 217– 218. Vgl. auch T. H. Rigby: Was Stalin a Disloyal Patron?, in: Soviet Studies 38 (1986), S. 311– 324. Vgl. zu den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges Jörg Baberowski: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012, S. 369 – 453 und John Barber/Mark Harrison: The Soviet Home Front, 1941 – 1945. A Social and Economic History of the USSR in World War II, London 1991. Vgl. in diesem Zusammenhang etwa die Berichte von Berija zur Überprüfung von Armeeangehörigen. Library of Congress, Volkogonov Papers, Box 21, Folder 6. Vgl. Sudoplatov: Specoperacii; V. N. Chaustov/V. P. Naumov/N. S. Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i NKVD-NKGB-GUKR ›Smerš‹. 1939 – mart 1946, Moskau 2006, S. 539 f. und Gregory: Terror by Quota. Vgl. ferner Arendt: Totalitarianism, S. 460 – 479; Tullock: The Social Dilemma, S. 300 f. und Baberowski. Verbrannte Erde, S. 468 – 496.
4. Thronfolge als Gefahr oder die gelungene Verschwörung
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STANLEY Most mighty sovereign, You have no cause to hold my friendship doubtful: I never was nor never will be false. KING RICHARD III Well, Go muster men; but, hear you, leave behind Your son, George Stanley: look your faith be firm. Or else his headʼs assurance is but frail.²⁰⁷
Ende August 1948, mit dem Tode Ždanovs, schien das Macht-Äquilibrium aus der Balance geraten zu sein.²⁰⁸ Gerüchte über geheime Treffen und Trinkgelage einer möglichen Opposition machten die Runde. In die etablierten Seilschaften kam Bewegung.²⁰⁹ Bald schon rückten Voznesenskij, Mitglied des Politbüros, Vorsitzender von ›Gosplan‹ und Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats, und Kuznecov, zunächst Nachfolger Ždanovs in Leningrad, dann Sekretär des Zentralkomitees und in dieser Funktion auch Kontrolleur des Geheimdienstes, in den Fokus des ersten großen Verschwörungsszenarios nach den Säuberungswellen der 1930er Jahre.²¹⁰ Offenbar sollte an den Günstlingen des kürzlich verstorbenen Ždanov, die von Stalin als willkommene Konkurrenz gegenüber Malenkov und Berija geduldet und sogar als mögliche Nachfolger ins Spiel gebracht worden waren, ein für alle sichtbares Exempel statuiert werden.²¹¹
William Shakespeare, The Tragedy of King Richard the Third (Act IV, Scene IV), in: The Dramatic Works of W. Shakespeare. From the Text of Johnson, Steevens, and Reed, Paris 1835, S. 484. Und zum sowjetischen Kontext: „To be sure, in order to keep them on their toes, Stalin administered reproofs and leveled far-fetched allegations against his colleagues. In attacks of this kind […] Stalin vilified, shunned, and humbled his victims, even to the point of compelling them to betray their own spouses. In all cases but one, however, he stopped short of irrevocable steps. With the exception of Nikolai Voznesenskii, a victim of the Gosplan Affair of 1949, all Politburo members retained, or eventually returned to, their original posts.“ Gorlizki/ Khlevniuk: Cold Peace, S. 5. Zu den Umständen und Spekulationen rund um den Tod von Ždanov vgl. Brandenberger: Stalin’s Last Crime? und Brent/Naumov: Stalinʼs Last Crime, S. 11– 53. Vgl. Benjamin Tromly: The Leningrad Affair and Soviet Patronage Politics, 1949 – 1950, in: Europe-Asia Studies 56 (2004), S. 707– 729. Vgl. zu der Personalpolitik im Umfeld von Berija und Malenkov auf der einen und Ždanov auf der anderen Seite Parrish: The Lesser Terror, S. 215 – 221. Vgl. zur Leningrader Affäre auch Wener G. Hahn: Postwar Soviet Politics. The Fall of Zhdanov and the Defeat of Moderation, 1946 – 53, Ithaca/London 1982.
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Angefangen hatte alles mit verdächtigen Hinweisen zu Beginn des Jahres 1949. In Leningrad, so ließ sich schließen, habe wieder einmal der Eigensinn Einzug gehalten und womöglich ein Netzwerk über die Stränge geschlagen, das von dem Diktator bislang für seine Eigeninitiative geschätzt worden war. So hatte Stalin etwa Voznesenskij als Parteigänger außerordentlich geschätzt, weil er sich gerade nicht mit Widerspruch zurückgehalten und damit aus dem Meer vermeintlicher Einstimmigkeit herausgeragt hatte: „Ja, ich kann nicht alles wissen. Ich achte genau auf Unstimmigkeiten, Differenzen, will sehen, warum und wieso. Sie [sc. die gewöhnlichen Untergebenen] aber halten das vor mir geheim, sie stimmen sich ab und halten es geheim, bloß daß ich mein Faksimile druntersetze. Sie wollen mich zum Faksimile machen. Wosnessenskis Einsprüche sind mir tausendmal lieber als ihre ganze Einmütigkeit.“²¹² Heimliche Treffen zum Umtrunk, vermutlich durch Nachlässigkeit verlorene Dokumente, eine nicht autorisierte Handels-Messe in Leningrad und schließlich Forderungen nach einer Kommunistischen Partei für die russische Sowjetrepublik mit der Basis in Leningrad schürten nun allerdings Stalins Verdacht. Die disparaten Verdachtsmomente waren Stalin aus dem Umfeld Malenkovs und Berijas zugetragen worden und weckten rasch Erinnerungen an das Netzwerk Zinovʼevs in Leningrad und das spätere Attentat auf Kirov. Während Ždanov nach dem Mord an Kirov all die „Nester“ (gnëzda) in Leningrad hatte ausheben sollen, um die Stadt wieder unter Kontrolle zu bringen, reiste nun im Februar 1949 Malenkov aus Moskau in die zweite Hauptstadt der russischen Sowjetrepublik, um sich vor Ort einen Überblick über das ganze Ausmaß vermeintlich konterrevolutionärer „Patronage“ (šefstvo) zu verschaffen.²¹³ Trotz stetig fließender Informationen griff Stalin jedoch zunächst nicht ein. Vermutlich fand er wieder einmal an der Rolle eines beobachtenden Diktators Gefallen, der durch seine abwartende Haltung die Untergebenen zur Beschäftigung miteinander veranlasste, um daraus weitere Anhaltspunkte zu gewinnen. Gleichwohl fasste das Politbüro einen Beschluss, dem zufolge Kuznecov, dessen Nachfolger als Parteichef in Leningrad, Pëtr Popkov, und der Vorsitzende des Ministerrates der russischen Sowjetrepublik, Michail Rodionov, einer Intrige gegen Moskau für schuldig befunden wurden und von ihren Posten zu entbinden seien. Der Beschluss hielt zudem fest, dass das Politbüromitglied Voznesenskij
Stalins Einschätzung Voznesenksijs wurde dem Schriftsteller Konstantin Simonov von dem damaligen Minister für Transportwesen, Ivan Kovalëv, berichtet. Simonow: Gedanken über Stalin, S. 157. Eine ganz ähnliche Einschätzung findet sich auch bei Mikojan: Tak bylo, S. 559 – 561. Vgl. Komitet partijnogo kontrolja pri CK KPSS, Institut marksizma-leninizma pri CK KPSS: O tak nazyvaemom ›Leningradskom dele‹, in: Izvestija CK KPSS 2 (1989), S. 126 – 137 und Parrish: The Lesser Terror, S. 220.
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das Zentralkomitee nicht rechtzeitig über den Fall informiert habe.²¹⁴ Im April 1949 empfing Stalin die beiden zentralen Figuren der sogenannten Leningrader Verschwörung, Voznesenskij und Kuznecov, zum letzten Mal in seinem Büro. Demgegenüber fanden im selben Zeitraum regelmäßige Treffen mit Malenkov und Berija statt. Auch für den Geheimdienstchef Viktor Abakumov begann sich das Blatt zu wenden.²¹⁵ Hatte bisher Kuznecov in seiner Funktion als Sekretär des Zentralkomitees noch den Geheimdienst überwacht, bot sich nun für den Kontrollierten die Gelegenheit, die verordnete Inferiorität zu überwinden. Abakumov wusste die Zeichen zu deuten und lieferte dem Machthaber unverzüglich vielsagende Dokumente, die mutmaßlich eine Verbindung der Leningrader mit dem englischen Geheimdienst bewiesen.²¹⁶ Mitte August 1949 wurden Kuznecov, Popkov und Rodionov in Malenkovs Büro verhaftet. Eine Entwicklung, die sich gleichermaßen als Geschenk und Drohung Stalins an den noch wenige Monate zuvor Gedemütigten deuten lässt, auch wenn Vasilij Andrianov, der Protegé Malenkovs, bereits einige Monate zuvor die Nachfolge des gefallenen Popkov hatte antreten dürfen. Im September wurde Voznesenskij aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen und bald darauf verhaftet. Ein Jahr später, am 29. und 30. September 1950, wurden Voznesenskij, Kuznecov, Popkov, Rodionov und zwei weitere hohe Funktionäre Leningrads in einer außerordentlichen Sitzung des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der Sowjetunion in Leningrad zum Tod durch Erschießen verurteilt und in der Nacht auf den 1. Oktober hingerichtet. Insgesamt forderte die Leningrader Affäre mehrere tausend Opfer, von denen mehr als 100 erschossen, hunderte ihrer Posten enthoben oder inhaftiert wurden.²¹⁷
Der Beschluss wurde ebenfalls im Februar 1949 gefasst und wird hier zitiert nach Komitet partijnogo kontrolja pri CK KPSS, Institut marksizma-leninizma pri CK KPSS: O tak nazyvaemom ›Leningradskom dele‹, in: Izvestija CK KPSS 2 (1989), S. 126 – 137. Vgl. Černobaev (Hg.): Na priëme u Stalina, S. 520 – 528. Vgl. ferner RGANI, Fond 89, op. 18, d. 12, ll. 1– 10. Vgl. Parrish: The Lesser Terror, S. 216 f. Vgl. Library of Congress,Volkogonov Papers, Box 3, Folder 14; Komitet partijnogo kontrolja pri CK KPSS, Institut marksizma-leninizma pri CK KPSS: O tak nazyvaemom ›Leningradskom dele‹, in: Izvestija CK KPSS 2 (1989), S. 126 – 137 und Parrish: The Lesser Terror, S. 218. Auch wenn in der Forschung – so etwa bei Parrish oder Gorlizki/Khlevniuk – immer wieder von einer geheimen Sitzung des Gerichts gesprochen wird, ist in den von Volkogonov im Geheimdienstarchiv gesammelten Originaldokumenten zu dem Fall (l. 162) eindeutig von einer „öffentlichen Gerichtsverhandlung“ (v otkrytom sudebnom zasedanii) die Rede. Gleichwohl war der Prozess natürlich kein Schauprozess im Sinne der 1930er Jahre.
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Den Rahmen seiner Rache hatte Stalin allerdings diesmal recht eng abgesteckt. Allein daran ließ sich erkennen, dass die Inszenierung der Leningrader Affäre weniger für die Öffentlichkeit als vielmehr für alle möglichen Thronanwärter in seiner Umgebung bestimmt war.²¹⁸ Und sie sollten denn auch verstehen, dass die Verhaftung mutmaßlicher Verschwörer im Arbeitszimmer Malenkovs keineswegs allein als schnöde Allegorie missverstanden werden konnte, sondern vielmehr – wie auch der Niedergang Abakumovs bald zeigte – einer ätzenden Drohung an die vermeintlich Beschenkten gleichkam. Somit offenbarte die Leningrader Affäre allen möglichen Kontrahenten die unverminderte Zugriffsmacht ihres Führers und seine vitale Fähigkeit, durch Protektion und Demontage seiner Untergebenen das Gleichgewicht eigener Macht weiterhin zu wahren. In der Leningrader Affäre erwies sich somit, wie in der Kreml-Verschwörung mehr als zehn Jahre zuvor, abermals die Umgestaltung stalinistischer Basis als Machtstrategie der besonderen Art. Stalins Umgebung konnte erleben, dass ihr Führer nichts von seiner Entschlossenheit eingebüßt hatte und nach wie vor den Tod, selbst den eines Mitglieds des Politbüros, als letzte Option nicht ausschloss. Dabei ließ er jedoch auch erkennen, dass der Radius seiner Rache – wie auch Zeitgenossen seinen Stil beschrieben – begrenzt blieb.Womöglich hatte Stalin die Erfahrungen mit dem vorangegangenen Jahrzehnt des Exzesses durchaus als Gefahr für seine eigene Macht einzuschätzen gelernt.²¹⁹ Eine eindeutige Erklärung für die Ereignisse der Jahre 1949 – 1950 lässt sich auch in diesem Fall nicht allein aus den Quellen gewinnen, legen sie doch, wie für den Stalinismus typisch, Fährten in alle möglichen und nicht selten konträre Richtungen. Hinzu kommt, dass im Falle der Leningrader Affäre ein nicht unwesentlicher Teil der Quellen, ausgerechnet die Rolle Malenkovs betreffend, vernichtet worden ist.²²⁰ Gleichwohl fügt sich die Angelegenheit nahtlos in die Beschreibung eines sowohl getriebenen als auch antreibenden Diktators, der vor allem am Ende seines Lebens jedes Anzeichen einer Abweichung als letale Gefahr seiner selbst betrachtete. Auch wenn sich eine unmittelbare Beteiligung von Berija und Ma-
Nicht unwichtig in diesem Zusammenhang ist auch der Umstand, dass Kuznecovs Tochter, Alla Kuznecova, mit Mikojans Sohn, Sergo Mikojan, verheiratet war. Vgl. dazu Mikojan: Tak bylo, S. 564 f. Hier folge ich der Einschätzung von Gorlizki/Khlevniuk: Cold Peace, S. 79 – 89. Vgl. Komitet partijnogo kontrolja pri CK KPSS, Institut marksizma-leninizma pri CK KPSS: O tak nazyvaemom ›Leningradskom dele‹ in: Izvestija CK KPSS 2 (1989), S. 126 – 137; David Brandenberger: Stalin, the Leningrad Affair, and the Limits of Postwar Russocentrism, in: Russian Review 63 (2004), S. 241– 255 und Richard Bidlack: Ideological or Political Origins of the Leningrad Affair? A Response to David Brandenberger, in: Russian Review 64 (2005), S. 90 – 95.
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lenkov an der Fabrikation der Leningrader Affäre nicht oder vielmehr nicht mehr nachweisen lässt, sprechen die Indizien doch eine klare Sprache.²²¹ So kamen die ersten Hinweise auf Fehlverhalten aus ihrem Kreis, wobei sie darauf zählen konnten, dass Stalin sich von seiner machtpolitisch erfolgreichen Devise leiten lassen würde, bei der Verfolgung von Feinden lieber zu weit als nicht weit genug zu gehen. Erkennbar geschah während der Leningrader Affäre nichts ohne Sanktion des Machthabers. Dennoch war Stalin von seiner Umgebung mit Informationen versorgt worden, zu denen er sich sodann auch verhalten musste.²²² Das System Stalin, so Anastas Mikojans durchaus ausgewogene Charakterstudie seines ehemaligen Dienstherren, habe sich vor allem dadurch ausgezeichnet, dass er gleichermaßen von seinen Untergebenen betrogen wurde, wie er auch Organisator und Anstifter eben dieser Dynamik gewesen sei.²²³ Bei vielen Zeitgenossen weckten die jüngsten Erfahrungen Erinnerungen an das ›Testament‹ Lenins und die trotz schwerer Krankheit ungetrübte Weitsicht ihres Revolutionsführers; hatte das ›Testament‹ doch die Angst des sowjetischen Führers vor den Geistern offenbart, die er gerufen hatte und die ihn zu überdauern trachteten. Nun sandte auch Stalin am Ende seiner Regentschaft – wie Lenin die Partei etwa vor Stalin, Kamenev, Trotzki und Bucharin gewarnt hatte – giftige Pfeile in Richtung all seiner möglichen Nachfolger.²²⁴ Zudem begrenzte er durch die Einrichtung neuer bürokratischer Strukturen die Gefahrenpotenziale für seine eigene Macht. Der Mitgliederstamm des Politbüros wurde mehr als verdreifacht und von einem von Stalin direkt zusammengesetzten Kreis aus zunächst fünf, später von einem aus neun Mitgliedern bestehenden Büro flankiert. Auch das Zentralkomitee wurde um gut 70 Prozent aufgestockt, ein Zuwachs, der einmalig in der sowjetischen Geschichte bleiben sollte.²²⁵ Indem er die Konkurrenz der
Mit einer äußerst unentschiedenen Argumentation wird demgegenüber Stellung bezogen von Gorlizki/Khlevniuk: Cold Peace, S. 86 f. Vgl. ferner Jonathan Harris: The Origins of the Conflict between Malenkov and Zhdanov: 1939 – 1941, in: Slavic Review 35 (1976), S. 287– 303. Vgl. zum Alleinherrscher als Opfer des eigenen Systems Mikojan: Tak bylo, S. 552– 558; Graziosi: The New Soviet Archival Sources, S. 13 – 64 und Ortmann/Heathershaw: Conspiracy Theories. Vgl. Mikojan: Tak bylo, S. 558. Ähnlich argumentieren auch Gorlizki/Khlevniuk: Cold Peace, S. 143 f., S. 148 – 153 und Brent/ Naumov: Stalinʼs Last Crime, S. 335. Vgl. de Mesquita/Smith/Siverson/Morrow (Hg.): The Logic of Political Survival, Cambridge 2003. Die Zahl der Mitglieder des Zentralkomitees stieg in den Jahren 1939 bis 1952 von 71 auf 125, die Zahl der Kandidaten von 68 auf 111. Das Politbüro bzw. Präsidium wuchs von 9 Mitgliedern und 2 Kandidaten im Jahre 1939 auf 25 Mitglieder und 11 Kandidaten im Jahre 1952 an. Vgl. Alla Kirilina et al. (Hg.): Politbjuro, Orgbjuro, Sekretariat CK RKP(b) – VKP(b) – KPSS. Spravočnik, Moskau 1990, S. 32– 36, S. 57; Chlevnjuk/Gorlickij/Košeleva et al. (Hg.): Politbjuro CK VKP(b) i
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Rivalen untereinander damit erhöhte, hintertrieb er die für eine erfolgreiche Verschwörung notwendige Kohäsion. Im Zuge der Leningrader Affäre hatte Stalin die Seilschaften innerhalb seines Apparats irritiert und durch die Stärkung des Geheimdienstes abermals ein neues Machtgefälle eingerichtet. Ferner waren fest etablierte Riten der Machtausübung zugunsten einer größeren Machbasis suspendiert worden. Dennoch blieb das Problem der Konkurrenz um die Macht virulent – zumal Stalins Kräfte weithin sichtbar nachließen.²²⁶ So führten gleichsam die Lektionen Xenophons, dass die Bedrohung für das eigene Leben mit der verbreiteten Angst und Gewalt kontinuierlich anwachse und ausgerechnet mit Verschwörung aus dem engsten Umfeld zu rechnen sei, Stalin weiterhin die Hand. Entsprechend drängte er selbst engste Vertraute wie Molotov, Kaganovič, Vorošilov, Chruščëv und Mikojan immer weiter in die politische Isolation, antizipierte offenbar jedoch zugleich, dass nunmehr potenziell alle Personen seiner Umgebung mit dem eigenen Niedergang rechnen und daher bald den Austausch untereinander suchen würden.²²⁷ Bereits zwei Monate nach dem Prozess gegen die Verschwörer von Leningrad nahmen die Angriffe auf den amtierenden Geheimdienstchef Abakumov zu. Im Dezember 1950 wurden seine bisherigen Stellvertreter entlassen oder versetzt und die Zahl der neuen Stellvertreter auf insgesamt sieben erhöht. Bekanntlich hatte Stalin schon während des Februar-März-Plenums im Jahre 1937 den Delegierten aufgetragen, sich selbst Stellvertreter zur Seite zu stellen, damit ein jeder im Zweifel ersetzt werden könne. Eben dieses Prinzip oktroyierter Ersetzbarkeit bekam nun auch Abakumov zu spüren, als er Ende 1950 den bedrohlichen Schutz seiner Stellvertreter hinnehmen musste. Nur ein halbes Jahr später wandte sich der geheimdienstliche Untersuchungsführer Rjumin persönlich an Stalin und beschuldigte seinen Vorgesetzten der Vertuschung einer Verschwörung. Abermals schien alles darauf hinzudeuten, dass die Konjunkturen der Verschwörungen an die Amtszeiten sowjetischer Geheimdienstchefs gebunden waren.²²⁸ Es brach sich nunmehr nicht allein ein vermeintlich rationaler Umgang mit dem sowjetischen Chaos Bahn, wie es zuletzt Gábor Rittersporn betont hat. Vielmehr suchte Stalin wohl der Befürchtung zu begegnen, dass die Umgebung den
Sovet Ministrov SSSR 1945 – 1953, Moskau 2002, S. 89 f., S. 432– 438 und Evan Mawdsley/Stephen White: The Soviet Elite from Lenin to Gorbachev. The Central Committee and its Members, 1917 – 1991, Oxford/New York 2000, S. 91– 135. Vgl. Simonow: Aus der Sicht meiner Generation, S. 194– 199. Vgl. Fitzpatrick: On Stalinʼs Team, S. 197– 223 und V. Naumov/Ju. Sigačev (Hg.): Lavrentij Berija. 1953. Stenogramma ijulʼskogo plenuma CK KPSS i drugie dokumenty, Moskau 1999, S. 113. Vgl. RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 612 (3), l. 5 – 6ob und V. N. Chaustov/V. P. Naumov/N. S. Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i MGB SSSR. Mart 1946–mart 1953, Moskau 2007, S. 321– 336.
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Moment für gekommen sah, die Gefahr des eigenen Untergangs höher einzuschätzen als die Chance, ihrem Verderben durch Loyalität zu entgehen.²²⁹ Folglich zeichnete sich rasch das erprobte Wechselspiel aus Niedergang und Protektion ab, in dem Interpreten der letzten Lebensjahre Stalins gleichermaßen eine Anfälligkeit für phantastische Szenarien wie auch außerordentlich pragmatische Kalküle bezüglich der Führungsschicht zu erkennen glauben.²³⁰ Jedenfalls sollte in dem heraufziehenden Geflecht aus Verschwörungsdenken und Machtkalkül ausgerechnet der Tod Ždanovs als Beleg dafür gelten, dass der Geheimdienst unter Abakumov den terroristischen Machenschaften einiger Ärzte nicht die nötige Wachsamkeit entgegengebracht habe.²³¹ Angesichts mehrerer Berichte der Kreml-Kardiologin Lidija Timašuk galt es im Laufe des Jahres 1952 als erwiesen, dass Ždanov durch eine gezielt falsche Behandlung verfrüht aus dem Leben gerissen worden sei, wobei Kuznecov ebenfalls eine zwielichtige Rolle gespielt haben könnte.²³² Während noch einige Jahre zuvor der Tod Ždanovs zum Niedergang seines einflussreichen Netzwerks geführt und mit der Leningrader Verschwörung der Geheimdienst wieder mehr Ansehen erlangt hatte, sollte nun die Umdeutung eben dieses Todes eine Abrechnung mit den Führern des Geheimdienstes einleiten. In der schwelenden Kampagne wurde der bereits in den 1940er Jahren von Ždanov angestrengte ›Kampf gegen den Kosmopolitismus‹ mit den jüngsten, verstörenden Verdachtsmomenten verwoben. Der Nachfolger Kirovs erschien nunmehr als Nemesis des stalinistischen Machtkalküls. Nachdem bereits im Sommer 1951 der angeschlagene Geheimdienstchef Abakumov verhaftet und zum Tode verurteilt worden war, nahm unverzüglich dessen ehemaliger Stellvertreter Rjumin die Fäden der von Timašuk nahegelegten Verschwörung auf. Vom 8. Mai bis zum 18. Juli 1952 fand schließlich der Prozess gegen das ›Jüdisch Antifaschistische Komitee‹ vor einem geheimen Gericht in der Lubjanka statt, an dessen Ende von 15 Angeklagten 13 ehemalige Mitglieder der Vereinigung zum Tode verurteilt wurden und über hundert Personen Repressionen zu erleiden hatten.²³³ Die Lage blieb dennoch diffus. So hatte der Richter Vgl. Rittersporn: Anguish, Anger, and Folkways, S. 36 f.; Popitz: Phänomene der Macht, S. 194 f.; Canetti. Masse und Macht, S. 274 und Sallust: Die Verschwörung Catilinas. Catilinae Coniuratio, Düsseldorf/Zürich 2003, S. 57– 81. Vgl. Gorlizki/Khlevniuk: Cold Peace, S. 154. Vgl. Library of Congress, Volkogonov Papers, Box 21, Folder 9 und Box 28, Folder 7. Vgl. Library of Congress, Volkogonov Papers, Box 3, Folder 10; Box 21, Folder 9 und Box 28, Folder 7. In diesem Zusammenhang spielten insbesondere Jakov Ėtinger, Stalins Leibarzt, und dessen Adoptivsohn eine zentrale Rolle.Vgl. ferner Gorlizki/Khlevniuk: Cold Peace, S. 155 f., S. 217, Fn. 81. Vgl. ferner Gennadij Kostyrčenko: Stalin protiv ›kosmopolitov‹. Vlastʼ i evrejskaja intelligencija v SSSR, Moskau 2009.
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offenbar die Evidenz des Verfahrens angezweifelt und den Schulterschluss mit Malenkov, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates, gesucht. Zwar hatte sich Malenkov gefügt, womöglich jedoch nur, weil sein Verbündeter Berija zur selben Zeit durch die Enttarnung der sogenannten Mingrelischen Affäre ins Fadenkreuz des Diktators geraten war. Den nicht unwahrscheinlichen Machtkampf hinter den Kulissen goutierte Stalin mit weiteren Verdächtigungen, in deren Folge auch sein langjähriger Büroleiter Poskrëbyšev und der Leiter seiner Leibgarde, Nikolaj Vlasik, verhaftet wurden.²³⁴ Die sogenannte Ärzte-Verschwörung der Jahre 1951– 1953 wird in der Forschung als unverkennbares Indiz eines sowjetischen Antisemitismus, ja gelegentlich sogar als Stalins Version einer ›Endlösung‹ gehandelt, die nur durch den Tod des Diktators aufgehalten worden sei.²³⁵ Ohne die antisemitischen Ausfälle Stalins oder derlei Tendenzen in der sowjetischen Öffentlichkeit in Abrede stellen zu wollen, lässt sich an der Verschwörung allerdings noch eine weitere Dimension erkennen. So vermochte Stalin mithilfe der von ihm beförderten Szenarien, einem gezielt entfachten Gegeneinander seiner Untergebenen, die eigene Hoheit zu sichern. Exemplarisch stehen hierfür die stetigen Personalwechsel im Militär- und Sicherheitsapparat, in denen am ehesten Verschwörungen gegen den Machthaber hätten angezettelt werden können.²³⁶ Im Lichte dessen erscheint Stalin am Ende seiner Herrschaft als ein Diktator, der dem Wunsch eines natürlichen Todes nachhing und deshalb alles auf ein Gleichgewicht des Schreckens innerhalb des eigenen Apparates setzte.²³⁷ Eine am empirischen Material ausgerichtete Geschichte des Stalinismus, insbesondere eine Auseinandersetzung mit den letzten Jahren und Monaten von
Vgl. Fitzpatrick: On Stalinʼs Team, S 215 f. und Shearer/Khaustov (Hg.): The Lubianka, S. 287– 289. Die prominentesten Vertreter der These, dass mit der Ärzte-Verschwörung Stalins Version der ›Endlösung‹ hätte einhergehen sollen, sind Brent/Naumov: Stalinʼs Last Crime. Vgl. demgegenüber die skeptische Einschätzung und insgesamt zur Klärung der Frage, welche Motive hinter den letzten Kampagnen Stalins gesteckt haben mögen, Brandenberger: Stalin’s Last Crime?.Vgl. ferner Kostyrčenko: Stalin protiv ›kosmopolitov‹ und Timothy Snyder: Bloodlands. Europe Between Hitler and Stalin, New York 2010, S. 339 – 377. Die Autoren von Stalinʼs Last Crime vertreten bezüglich der Frage, ob Stalin am Ende seiner Regentschaft bereit war, alle Schleusen zu öffnen, oder aber nüchtern kalkulierend vorging, eine außerordentlich widersprüchliche Einschätzung. Vgl. dazu Brent/Naumov: Stalinʼs Last Crime, S. 3, S. 333 – 335; im Widerspruch dazu S. 6 – 10. Die mögliche Angst vor den Auswüchsen eines erneuten ›Großen Terrors‹ – von dem Oleg Chlevnjuk und Yoram Gorlitzki verschiedentlich gesprochen haben – und die Stalin womöglich daran gehindert habe, seine letzte Kampagne voll loszutreten, ließe sich dieser Interpretation durchaus zuordnen, wäre allerdings nicht das entscheidende Kalkül.
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Stalins Regentschaft, erweist sich stets auch als eine Geschichte im Konjunktiv. Nicht zuletzt deshalb jedoch spiegelt das Finale den Stalinismus in seiner Essenz, zurrten doch die über Jahre etablierten Verhaltensmuster, die ununterscheidbar ineinander verknoteten Fäden aus Wahrheit, Lüge und Möglichkeiten gewissermaßen zusammen. So gibt es durchaus Anhaltspunkte dafür, dass Stalin am Ende von Personen aus seinem engsten Kreis umgebracht wurde, weil sie eine erneute, sie alle potenziell verschlingende Terrorwelle fürchteten. Gleichermaßen sprechen aber auch viele plausible Gründe dafür, dass Stalin auf profane Weise einem natürlichen Tode erlag, weil er schlichtweg ein alter Mann war, dessen Verfall bereits über Jahre hinweg hatte beobachtet werden können.²³⁸ Auch wenn die letztgenannte Variante vermutlich zutreffend ist, lässt sich dennoch insofern von einer gelungenen Verschwörung sprechen, als beide Seiten der Auseinandersetzung – die Funktionselite und Stalin – als Sieger das Feld verließen. Stalin wurde nicht umgebracht, war also keiner aktiven Verschwörung erlegen; gleichwohl verweigerte seine Umgebung ihm am Ende die Unterstützung und ließ ihn bereitwillig sterben.²³⁹ Der Demiurg erlag seiner eigenen Schöpfung. Er hatte den klassischen Motor der Vergesellschaftung, die Angst voreinander, allzu oft überstrapaziert.²⁴⁰ Um mit Thomas Hobbes zu sprechen, verlangte Stalin gleichsam jeden Tag aufs Neue seine Autorisierung. Somit wurde der stalinistische Souverän weder zur Verkörperung des individuellen Strebens seiner Untertanen, noch gab er ihnen und seiner unmittelbaren Umgebung im Gegenzug für ihren Machtverzicht ein gewisses Maß an Erwartungssicherheit. Die Angst voreinander, die auch den engsten Kreis der Macht über Jahre paralysiert hatte, führte nach dem Ableben des Souveräns zu der Einsicht, die Macht wieder stärker zu vergesellschaften. Die ›kollektive Führung‹ war daher der logische Ausweg aus dem Dilemma der Alleinherrschaft.²⁴¹ Der Finger, den Stalin kurz vor seinem Tode der anwesenden Führungsriege entgegenstreckt
Vgl. zu letzten Tagen Stalins und der Möglichkeit eines weiteren ›Großen Terrors‹ exemplarisch Mikojan: Tak bylo, S. 569 – 580. Gegen eine solche Deutung sprechen sich beispielsweise aus Gorlizki/Khlevniuk: Cold Peace. Zu den grundsätzlichen Deutungsproblemen im Stalinismus zuletzt Chlevnjuk: Stalin. Žiznʼ odnogo voždja, S. 28 f. passim. Vgl. diesbezüglich die differenzierte Diskussion bei Chlevnjuk: Stalin. Žiznʼ odnogo voždja, S. 199 – 208. Vgl. ferner Ju. S. Solovʼev: Rjadom so Stalinym, in: A. Ė. Titkov et al. (Hg.), Istoričeskij vestnik, Moskau 2013, S. 133 – 187. Vgl. dazu Hobbes: Leviathan und Herfried Münkler: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1987. Vgl. exemplarisch zum Problem, valide Informationen zu bekommen, GARF, Fond R-1005, op. 1 A, d. 1089, ll. 1– 5, ll. 9 – 11. Vgl. die Präsidiumssitzung des ZK vom 3. April 1953. Library of Congress,Volkogonov Papers, Box 28, Folder 7. Die Diskussion wird im Schlussteil noch einmal aufgegriffen.
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haben soll, lässt sich somit nicht nur als Drohung interpretieren, sondern kann geradezu als Allegorie auf dieses Dilemma verstanden werden.²⁴² Auch Herman Melville imaginierte ganz ähnliche Spielarten, als er Ahab, den zu allem bereiten Machtmenschen, zur Jagd schickt auf den Leviathan, den weißen Wal. Und bald schon lässt der Autor seinen Ishmael von einer durchaus auch Diktatoren vertrauten Losung berichten. Ihr zufolge habe Ahab es vorziehen müssen, Angst zu verbreiten, als nach dem Gefallen seiner Umgebung zu trachten.²⁴³ Die Unvergänglichkeit politischer Macht im Urbild des Souveräns, dem Leviathan, findet somit in Ahab seine mit üblichen Makeln behaftete irdische Entsprechung. So sinniert Ahab eines Tages über die Furcht, von seiner eigenen Mannschaft lediglich als Usurpator wahrgenommen zu werden, um sodann einen Ansatz gegenüber möglicher Meuterei zu wählen, der seine Souveränität schließlich bis zum eigenen Untergang sicherte: „Es gibt manche Unternehmungen, bei welchen eine umsichtige Unordentlichkeit die wahre Methode ist.“²⁴⁴
Der drohende Finger wird klassisch überliefert von Khrushchev (Hg.): Memoirs of Nikita Khrushchev. Vol. 2, S. 148 f. und Swetlana Allilujewa: Zwanzig Briefe, S. 19, S. 24 f. Vgl. Herman Melville: Moby Dick. Der Wal, Frankfurt am Main 2004, S. 67. Die gedankliche Parallelität mit Machiavelli ist zweifellos verblüffend. Melville: Moby Dick, S. 511.
Schlussbetrachtung Wer die Versuchung nicht kennt, der Erste in der Staatsgemeinschaft zu sein, der versteht nichts vom Spiel der Politik, nichts von dem Willen, die anderen zu unterjochen und Objekte aus ihnen zu machen, und er ahnt auch nichts von den Elementen, auf denen die Kunst des Verachtens beruht. Der Machthunger – wenige haben ihn nicht in irgendeinem Grade empfunden: er ist uns natürlich, und dennoch bekommt er, wenn man ihn genau betrachtet, alle Kennzeichen eines krankhaften Zustandes. Emil Cioran¹
Gewohnt lakonisch blickt der Schriftsteller Emil Cioran auf die ›Schule der Tyrannen‹ – eine Schule, die auch die Machthungrigen Russlands seit den 1860er Jahren durchlaufen hatten. Die Angst vor dem Schisma war Teil ihrer Sozialisation gewesen, die Kunst des Verachtens wurde ihr Antrieb. Als die Oktoberrevolution einen Rollentausch einleitete und die einstigen Verschwörer zu Herren der neuen Ordnung avancierten, stand ihre Machttechnik weiterhin im Zeichen der Absicherung gegenüber sichtbaren und unsichtbaren Feinden. Ein Amalgam aus Realität und Projektion wurde zum Nährboden einer Politik, der die Bekundung von Loyalität als besonders perfide Form feindlicher Maskerade galt. Daher sollte die sowjetische Führung mit zunehmender Machtfülle gerade nicht mit weniger Feinden kalkulieren, sondern vielmehr damit, dass ihnen nun ›Schläfer‹ gegenüberstünden, denen einzig der Weg aus dem Hinterhalt geblieben sei.² Es sei die Aufgabe eines jeden ehrlichen Sowjetbürgers, so der gewöhnliche Zeitungston jener Jahre, die heimtückischen Aktivitäten der maskierten Feinde zu erkennen.³ Stalin selbst ermunterte seine Zuhörer in einer Rede vor dem erweiterten Kriegsrat im Juni 1937 unumwunden zur Denunziation, als er sie aufforderte, jeden Mangel mitzuteilen – und wenn auch nur fünf Prozent der Hinweise stimmen sollten, „dann ist das auch Brot.“⁴ Anlässlich einer Festveranstaltung zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution sah sich Stalin sogar zu den, wie er selbst
E. M. Cioran: Geschichte und Utopie, in: Ders., Werke, Frankfurt am Main 2008, S. 1145 – 1243, hier: S. 1176. Das Zitat entstammt dem Abschnitt ›Die Schule der Tyrannen‹. Vgl. als offenes Bekenntnis zu diesem Umstand den Redebeitrag von Molotov während der Politbüro-Sitzung zum Fall Smirnov Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk (Hg.): Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3, S. 600. Vgl. ferner Kotkin: Stalin. Waiting for Hitler, S. 433 – 496. Vgl. Wendy Z. Goldman: Inventing the Enemy. Denunciation and Terror in Stalin’s Russia, Cambridge 2011, S. 59 f. Vgl. Iz reči I. V. Stalina na rasširennom zasedanii voennogo soveta. 2 ijunja 1937 g., in: Chaustov/ Naumov/Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i glavnoe upravlenie gosbezopasnosti NKVD, 1937– 1938, S. 209. https://doi.org/10.1515/9783110619287-007
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sagte, nicht sehr feierlichen Worten verleitet, dass man „jeden, der mit seinen Taten oder Gedanken (ja, Gedanken) einen Anschlag auf die Einheit des sozialistischen Staates verübt, gnadenlos vernichten wird.“⁵ Diesem Geist gemäß jagte man überall Mörderbanden, demaskierte Feinde und hob vermeintliche Nester von Verschwörern aus. Die antizipierte Gegnerschaft war die raison d’être sowjetischer Ordnung.⁶ Er habe gesehen und erkannt, schrieb der Schriftsteller Varlam Šalamov, dass der russische Mensch einen „unwiderstehlichen Drang zur Denunziation, zur Beschwerde“ habe.⁷ Šalamov notierte diese Lektion nach seiner rund 18jährigen Odyssee durch verschiedene Gefängnisse und Lager. In sie fand er sich verschlagen, nachdem er zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution an einer Demonstration unter der Losung ›Nieder mit Stalin‹ teilgenommen und mit führenden Oppositionellen jener Jahre sympathisiert hatte; ein Engagement, das vielfach tödlich endete und in seinem Fall wohl die letzten Jahre in einer psychiatrischen Anstalt begünstigt hat. Als Chronist der berüchtigten KolymaRegion im fernen Sibirien war Šalamov einer der vielen ›58er‹, die, als Konterrevolutionäre verurteilt, in unwirtlichen Regionen ihre Strafe zu verbüßen hatten. Die Furcht vor der Konterrevolution gehört zur Dialektik jeder revolutionären Bewegung.⁸ So wurden seit dem Ende des Bürgerkrieges 1921 bis zu Stalins Tod 1953 Schätzungen zufolge allein vier Millionen Menschen wegen vorgeblichem Verrat an der Revolution (Artikel 58) verurteilt. Von ihnen fanden gut zwanzig Prozent den Tod. Bereits die offiziellen sowjetischen Angaben geben für die Jahre 1930 – 1952 rund 800.000 Erschießungen an, wobei im selben Zeitraum zwanzig Millionen Menschen in Lagern, Gefängnissen oder der Verbannung verschwanden. In jedem Jahr von Stalins Herrschaft wurden im Schnitt eine Million Menschen Opfer von Erschießung, Gefängnis oder Lagerhaft.⁹ Ihren Angehörigen
V. A. (Hg.), Nevežin Zastolʼnye reči Stalina. Dokumenty i materialy, Moskau/St. Petersburg 2003, S. 148. Zum Verhältnis von Gedanken und Taten, offenen und versteckten Feinden siehe RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 612 (3), ll. 3 – 6ob und Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk (Hg.): Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3, S. 600. Warlam Schalamow: Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma 1, Berlin 2011, S. 292. Vgl. dazu beispielhaft Mayer: The Furies; Zamoyski: Phantom Terror und Koselleck: Kritik und Krise. Vgl. Mozochin: Pravo na repressii, Moskau 2011, S. 741– 743; Chlevnjuk: Stalin. Žiznʼ odnogo voždja, S. 67 f. und Popov: Gosudarstvennyj terror v sovetskoj Rossii. Vgl. zum Problem der Datenerhebung beispielhaft Stephen G. Wheatcroft: The Great Terror in Historical Perspective. The Records of the Statistical Department of the Investigative Organs of OGPU/NKVD, in: James Harris (Hg.), The Anatomy of Terror, Oxford 2013, S. 287– 305; J. Arch Getty/Gábor T. Rittersporn/Viktor N. Zemskov: Victims of the Soviet Penal System in the Pre-War Years. A First Approach on the Basis of
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blieb allein das Klagen an der Kremlmauer, wie die Schriftstellerin Anna Achmatova die zumeist ausweglosen Bittgesuche an die Macht einmal nannte.¹⁰ Der Lagerkomplex, die Gefängnisse und Schießplätze waren die Orte, an denen das sowjetische Regime seinen Kampf gegen Möglichkeiten realisierte, getreu dem Sprichwort: Macht ist die Angst der anderen. Zugleich waren diese Orte aber auch Erinnerungsstützen, die den Repräsentanten der Macht all die vermeintlichen Feinde und die Anfälligkeit ihrer Ordnung vor Augen führten. So bezeugt ein Aphorismus Šalamovs nicht nur die Einsicht, dass die Siege auf dem Rücken Unschuldiger errungen worden seien, sondern auch die Grundangst des Regimes. Schließlich könne eine Organisation, wenn auch der Zahl nach klein, aber eine Organisation, „Stalin in zwei Tagen“ hinwegfegen.¹¹ In dieser Erkenntnis kamen sich Täter und potenzielle Opfer sehr nah. Stalin führte folglich einen Kampf, der zwar die realen und vorgestellten Gegner aus dem Spiel nahm, gerade dadurch aber Anlässe weiterer Feindtätigkeit schuf und den empfundenen Belagerungszustand nur noch verstärkte.¹² Die „Phantasie schafft das, was die Wirklichkeit ihr suggeriert“, hatte Gorki einmal auf die Literatur gemünzt zu bedenken gegeben.¹³ Im Falle der sowjetischen Ordnung waren es die Vorstellungen der Machthaber, die Verknüpfung der Vergangenheit mit potenziell apokalyptischen Szenarien der Zukunft, wodurch Phantasie und Wirklichkeit eine Engführung erfuhren. Einen völligen Realitätsverlust wollte nicht einmal Trotzki, der Erzfeind Stalins und vermeintliche Drahtzieher hinter den Großverschwörungen der dreißiger Jahre, attestieren. Er sprach daher von einem Amalgam aus Fakten und Fiktion.¹⁴ Zwar sollte Stalin die Hoheit über das von ihm geschaffene System behalten, allerdings konnte er
Archival Evidence, in: The Americal Historical Review 98 (1993), S. 1017– 1049; Michael Ellman: Soviet Repression Statistics: Some Comments, in: Europe-Asia Studies 54 (2002), S. 1151– 1172 und Stephen G. Wheatcroft: Victims of Stalinism and the Soviet Secret Police: The Comparability and Reliability of the Archival Data. Not the Last Word, in: Europe-Asia Studies 51 (1999), S. 315 – 345. Zu dem Zitat aus Anna Achmatovas Gedichtzyklus ›Rekviem‹ siehe Mandelstam: Jahrhundert der Wölfe, S. 163 f. Schalamow: Durch den Schnee, S. 289. Vgl. auch Wassili Grossman: Alles fließt, Berlin 2010, S. 100. Vgl. Maxim Gorki: Die sowjetische Literatur. Referat auf dem ersten Allunionskongreß der sowjetischen Schriftsteller am 17. August 1934, in: Swetlana Geier (Hg.), Statt einer russischen Literaturgeschichte. Puschkin zu Ehren, Lemförde 2013, S. 79 – 138, hier: S. 94. Vgl. exemplarisch L. Trockij: Borʼba bolʼševikov-lenincev (oppozicii) v SSSR. Konstantinopelʼ, 4 marta 1929 g., in: Bjulletenʼ Oppozicii 1– 2 (1929) und L. Trockij: Stalinskaja bjurokratija i ubijstvo Kirova, in: Bjulletenʼ Oppozicii 41 (1934). Vgl. ferner Oleg Khlevniuk: Stalin, Syrtsov, Lominadze: Preparations for the ›Second Great Breakthrough‹, in: Gregory/Naimark (Hg.), The Lost Politburo Transcripts, New Haven 2008, S. 78 – 96, hier: S. 79 f.
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der selbstgeschaffenen Wirklichkeit immer weniger entrinnen. Genau in dieser autosuggestiven Wirklichkeit glaubten Zeitgenossen wie Chruščëv die paranoiden Züge Stalins ausmachen zu können, verkannten aber die eigentümliche Dynamik eines Machtkalküls, das auf die Gefahr möglicher Verschwörungen mit Unberechenbarkeit reagiert. Allein aus natürlichem Überlebenswillen sollten die Nachfolger Stalins mit dieser Weltsicht brechen.¹⁵ Dabei mag zunächst die geradezu allegorische Aussage ›ich habe es für euch getan‹ für Verwirrung gesorgt haben; eine Formulierung, die bereits Karakozov den Passanten zugerufen und rund neunzig Jahre später – während der Begräbnisfeierlichkeit für Stalin – auch Berija seinen Mitstreitern zugeflüstert haben soll.¹⁶ Wie auch immer es um den Wahrheitsgehalt dieser Aussage des Innenministers stehen mag, allein ihre Überlieferung verdeutlicht die angespannte Stimmung. War doch in all den Jahren die Verschwörung als Option stets präsent gewesen und nun womöglich sogar eingetreten. So ließen sich denn diese den Trauernden zugeraunten Worte nicht allein als Ausdruck von Berijas Mut, sondern auch seiner Ambitionen verstehen, sich als beschlagener Nachfolger zu inszenieren. Natürlich könnte die Aussage Berija auch nur angedichtet worden sein, um die Stimmung des engsten Machtzirkels gezielt zu beeinflussen. In dieser Lesart erscheint Berija als jemand, der nicht nur die Befürchtungen der Vergangenheit in die Tat umgesetzt hat, sondern auch als jemand, der voraussichtlich das Dilemma der Alleinherrschaft nur fortsetzen würde. Davon wiederum wäre dann der engste Führungskreis wie in den Jahrzehnten zuvor unmittelbar betroffen. Angesichts der außergewöhnlichen Macht, die Berija nur wenige Tage nach Stalins Tod in der Funktion als sowjetischer Innenminister, dem nunmehr wieder der Geheimdienst unterstand, auf sich vereinen konnte, mag somit die Interpretation dieser in Umlauf gebrachten Worte die stalinistische Entourage zu neuen Ordnungsvorstellungen bewegt haben.¹⁷ Zwar barg die Überwindung des stalinistischen Systems Gefahren, allerdings schätzte der Führungskreis diese offenbar geringer ein als die Vorteile, die sie sich von einer Veränderung versprachen. An die Stelle von Stalins Alleinherrschaft trat eine ›kollektive Führung‹. Malenkov übernahm das Amt des Ministerpräsidenten, Molotov fungierte wieder als Außenminister, Chruščëv stieg bald zum Parteichef auf. Als Opfergabe für die neue Ordnung entledigten sie sich noch im Sommer 1953 ihres zwielichtigen In Exemplarisch dazu William Taubman: Khrushchev. The Man and His Era, London 2003. Vgl. zu Berija HIA, Nicolaevsky Collection, Box 517, Folder 11– 13 und Feliks Čuev: Molotov. Poluderžavnyj vlastelin, Moskau 2002, S. 396. Vgl. dazu exemplarisch Fitzpatrick: On Stalinʼs Team, S. 220 – 254; Sebag Montefiore: Stalin. Am Hof des roten Zaren, S. 728 – 749 und Allilujewa: Zwanzig Briefe, S. 19 – 30.
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nenministers. Der Tod Berijas war die Grabplatte des Stalinismus. Auch wenn sich am grundsätzlichen Zuschnitt sowjetischer Ordnung nichts ändern sollte, sorgten das neue Machtäquilibrium und die von Chruščëv angestoßene Entstalinisierung dafür, dass sich die Führung nicht mehr im Dilemma der Alleinherrschaft verstrickte. Die Verschwörungsszenarien verloren ihren epidemischen Charakter und ließen damit die Besonderheit der frühen Sowjetunion, insbesondere des stalinistischen Systems, in besonders grellem Licht erscheinen.¹⁸ Ränkespiele kehrten als klassisches Mittel der Politik zurück. Die Entfernung getreuer Stalinisten aus dem Führungskreis, die Entmachtung der sogenannten parteifeindlichen Gruppe um Malenkov, Kaganovič und Molotov, oder der spätere Sturz von Chruščëv sind unverkennbarer Ausdruck des neuen Klimas.¹⁹ Nunmehr stand am Ende solcher politischer Manöver nicht mehr die physische Vernichtung, sondern die Degradierung oder Pension. So bekannte auch Chruščëv nach seinem Sturz im Jahre 1964, er sei froh, dass „die Parteigremien als Institutionen nunmehr erwachsen geworden seien und ›jede beliebige Person kontrollieren‹ könnten.“²⁰ Das Überleben des abgesetzten Parteiführers war daher leibhaftiges Signum eines veränderten Politikstils. Damit stellt sich abermals die Frage nach dem Verhältnis von politischer Ordnung und Person. Einerseits erscheint die Verstrickung von Person und System stets sehr eng. Andererseits jedoch wird zumeist auch nach analytischer Klassifikation gestrebt, um vergleichbare Strukturmerkmale bestimmter politischer Formationen herauszustreichen. Spezifische Funktionsweisen solcher Ordnungen stehen dann neben den kontingenten Verhaltensweisen der sie repräsentierenden Personen. Die Frage der Gewichtung von Person gegenüber politischer Formation und historischem Kontext bleibt somit heikel und bestimmt denn auch seit jeher die Forschungskontroversen.²¹ Dabei changieren die Aussagen zwischen personenbezogenen Interpretationen, die ins Extrem gedacht auf Einzelfall-Aussagen hinauslaufen, und Aussagen über die Funktionslogik eines bestimmten Systems, die durch ihren Allgemeingültigkeitsanspruch ihre Spezifik zu verlieren drohen. Um dieser Ambivalenz zu entkommen und das Verhältnis von System, Kontext und Akteuren zu evaluieren, fungierten in dieser Arbeit als zentrale erklärende Größen auf der einen Seite das Dilemma der Alleinherrschaft und auf der anderen Seite die Einbeziehung der spezifischen Tradition der Verschwörer. Die Vgl. von Laue: Why Lenin?, S. 154– 163; Merl: Politische Kommunikation, S. 60 f. und Ortmann/ Heathershaw: Conspiracy Theories, S. 557. Taubman: Khrushchev. The Man and His Era, London 2003, S. 578 – 645. Zitiert nach Baberowski: Verbrannte Erde, S. 505. Vgl. zu dieser Diskussion zuletzt Stadelmann: Konstantin Nikolaevič, bes. S. 6 – 12.
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Betonung der Eigenlogik autoritärer Ordnung schärft den Blick für systemische Dynamiken und relativiert drastische Ausschläge nicht durch voreilige personenspezifische Zuschreibungen. Nicht eine bestimmte Person mit besonderen Dispositionen wurde vorausgesetzt, sondern systemischen Bedingungen autoritärer Ordnungen nachgespürt.²² Die eher opaken Bezeichnungen für bestimmte autoritäre Ordnungen, etwa ›Leninismus‹ und ›Stalinismus‹, und alles, was dann diesen Klassifikationen zugeordnet werden mag, etablieren sich erst allmählich und sind damit eine Größe, die es überhaupt erst zu erklären gilt. Die analytische Betrachtung des Dilemmas der Alleinherrschaft gewährt folglich einen anderen Blick auf den Kontext, der natürlich am Ende das Kolorit ausmacht und den abstrakten Einlassungen erst zu Leben verhilft. Umso deutlicher allerdings systematische Annahmen und historischer Kontext voneinander abgegrenzt werden, umso sauberer fallen schließlich auch mögliche Verallgemeinerungen aus. Natürlich kann man Herrschern bestimmte Dispositionen zusprechen. Die Frage bleibt jedoch, ob und bis zu welchem Punkt sich eine politische Ordnung auch ohne solche Zuschreibungen der sie repräsentierenden Personen erklären lässt. Daher wurden in dieser Arbeit modellhafte Überlegungen an einen besonderen Kontext herangetragen. Die historische Prägung der Bolschewiki durch die Erfahrung konspirativer Politikführung auf der einen und ihr auf der anderen Seite immer wieder vorgebrachter Verdacht, dass mit der Niederschlagung letzter offen oppositioneller Kräfte dem Gegner doch eigentlich einzig der Weg der Verschwörung blieb, konnten so als maßgebliche Elemente eines vom Verschwörungsdenken besetzten Systems interpretiert werden. Aufgrund dieser gerade auch nach innen wirkenden Radikalisierung haben sich für die Beschreibung des Stalinismus Begriffe wie Willkür und Despotie festgesetzt. Schließlich lasse die Unbestimmtheit dessen, was als Verrat zu gelten habe, so Montesquieu, die Entwicklung einer Regierung zur Despotie erkennen.²³ Die Bolschewiki haben Fragen der Macht und Sicherheit stets weniger an der konkreten als vielmehr einer möglichen Wirklichkeit ausgerichtet.²⁴ In dieser politischen Stochastik waren bereits die Verschwörer aus dem Untergrund ge-
Vgl. Robert C. Tucker: The Problem of Totalitarianism: Does Big Brother Exist?, in: Psychoanalytic Inquiry: A Topical Journal for Mental Health Professionals, 2:1 (1982), S. 95 – 107. Vgl. ferner Philip Pomper: Nečaev, Lenin, and Stalin. The Psychology of Leadership, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 26 (1978), S. 11– 30. Vgl. Charles de Montesquieu: The Spirit of the Laws, (Book 12, Ch. 7), Cambridge 1989, S. 194. Vgl. ferner Cass R. Sunstein: Gesetze der Angst. Jenseits des Vorsorgeprinzips, Frankfurt am Main 2007 und Enzensberger: Zur Theorie des Verrats, in: Ders., Politik und Verbrechen, S. 361– 384. Vgl. Slezkine: House of Government. Vgl. ferner Carl Schmitt: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914, S. 9, S. 78 f. passim.
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schult. Vor allem aber sollten sich die Repräsentanten des sowjetischen Regimes als besonders eifrige Unterhändler der Antizipation erweisen. Nicht an dem Normalen war ihr Denken orientiert, sondern an der Ausnahme; ihre Politik gehorchte der Überzeugung, dass die Regel „überhaupt nur von der Ausnahme“ lebe.²⁵ In genau diesem Klima konnte die Feindbestimmung, die fortwährende Warnung vor Verrat und Verschwörung, grassieren und die Figur des Terroristen die Vorderbühne erobern.²⁶ Die diktatorische Souveränität glich somit bald einem Schattenboxen, bei dem der Machthaber scheinbar nur dann die Oberhand behielt, wenn jedes Anzeichen von Widerstand, jede dehnbare Äußerung als erwiesene konspirativ-terroristische Tätigkeit eingestuft werden konnte.²⁷ Da all die Konzeptualisierungen des sowjetischen Systems noch keinen eigenen Erklärungsgehalt mitliefern, wurde im Sinne der neueren Forschung die Klassifikation ›autoritäre Ordnung‹ als möglichst weiter Oberbegriff gefasst. Unter ihn lassen sich natürlich alternative Begriffe subsumieren.²⁸ Statt also mit der Begriffswahl eine Interpretation vorwegzunehmen, handelte diese Arbeit von der Eigendynamik autoritärer Ordnungen. Auf sie trifft natürlich allesamt zu, was Cioran über den Machthunger geschrieben hat. Allerdings sollte diese Ambition nicht schon als Hinweis auf eine besondere politische Form – etwa Totalitarismus, Diktatur, Despotie o. ä. – oder gar als pathologischer Ausdruck gewertet werden. Vielmehr, so lautet ein wesentlicher Befund dieser Arbeit, ist das, was uns als pathologisch erscheinen mag, das Ergebnis eines grundsätzlichen herrschaftlichen Dilemmas. Person und System also erscheinen symbiotisch und doch war eine Person wie Stalin nicht nur der Antreiber, sondern im Rahmen eines spezifischen Kontextes eben auch Getriebener seines eigenen Systems.²⁹ Dass dieses System mit dem Tod des Führers endete, ist nicht verwunderlich. Der Tod politischer Führungsfiguren ist zumeist ein geeigneter Anlass für einen neuen Politikstil. Ein kurzer Moment, der nicht selten in autoritären Ordnungen genutzt wird. Diese Veränderung gibt jedoch keinesfalls abschließend Auskunft
Schmitt: Politische Theologie, S. 21. Exemplarisch RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 114, d. 120, d. 128, d. 129; Chaustov/Naumov/Plotnikova (Hg.): Lubjanka. Stalin i VČK-GPU-OGPU-NKVD, S. 599 – 682 und Košeleva/Rogovaja/ Chlevnjuk (Hg.): Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3, S. 610. Für Stalin war der Zufall keine Kategorie der Politik; er gebrauchte daher sehr häufig die Formulierung „es ist kein Zufall“ (ne slučajno). Vgl. exemplarisch Robert Conquest: The Great Terror. A Reassessment, New York/Oxford 1990, S. 56. Vgl. Haber: Authoritarian Government und Ernst Nolte: Diktatur, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 1, Stuttgart 1972, S. 900 – 924. Vgl. auch Allilujewa: Zwanzig Briefe, S. 272– 276 und Canetti, Masse und Macht, S. 516 – 549.
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über das prekäre Verhältnis von Person, System und Kontext. Vielmehr ließ sich im Falle des Stalinismus bis zum Schluss eine Engführung erkennen. Die Figur Berija kann dabei als potenzieller Nachlassverwalter der alten Ordnung gesehen werden, mit der auch das unter Stalin etablierte Dilemma der Alleinherrschaft hätte fortgesetzt werden können. Die Angst vor einer Fortsetzung dieser Dynamik war inzwischen jedoch vermutlich größer als die Angst vor einer Neuausrichtung des Systems. Zudem war die Sozialisation dieser Generation denkbar anders ausgefallen. Während die Bolschewiki nach 1917 im Bewusstsein ihrer eigenen Tradition agiert hatten, waren die Akteure der Neugestaltung nach 1953 von der Tradition des Stalinismus besetzt. Insofern blieb zwar die Gefahr einer Zuspitzung bestehen, da auch nach 1953 das Dilemma der Alleinherrschaft als systemische Komponente die sowjetische Ordnung betraf, allerdings fiel nunmehr die kontextuelle Realisation aufgrund einer neuen Prägung aus. Diejenigen also, die mit Berija auch den Stalinismus endgültig begruben, hatten mehrere Jahrzehnte selbst erlebt, dass der ubiquitäre Verdacht das Signum einer verschworenen Welt gewesen war – einer Welt, die nicht nur das Leben der Opfer bestimmt, sondern sie fortwährend auch selbst mit eingesponnen hatte. So hatte sich proportional zu der zunehmenden Abschottung der Machtelite die Zunahme der Verdächtigungen vor allem auch im innersten Kreis der Macht feststellen lassen. Dabei waren immer wieder auch Realitätsfetzen in diese Welt als Verschwörung eingebrochen, die sodann die Angst des Regimes gewissermaßen aufs Neue ins Recht gesetzt hatte. Somit bleibt diese Erzählung über Verschwörungsdenken und Machtkalkül ohne Helden zurück, eine Geschichte, an dessen Ende selbst der Demiurg seiner verschwörerischen Realität zum Opfer fiel:³⁰ „Ich schließe also, daß ein Fürst sich vor Verschwörungen wenig zu fürchten braucht, solange das Volk ihm gewogen bleibt; ist es ihm aber feindlich gesinnt und haßt es ihn, so muß er alles und jedes fürchten.“³¹
Vgl. Brent/Naumov: Stalinʼs Last Crime; Allilujewa: Zwanzig Briefe und ferner zur Geschichte ohne Helden Goldman: Inventing the Enemy, S. 298 – 314. Machiavelli: Der Fürst, S. 92.
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Personenregister Abakumov, Viktor 205 – 210 Achmatova, Anna 215 Agranov, Jakov 128, 185 Akselʼrod, Pavel 61 Akulov, Ivan 163, 199 Aleksandrovič, Sergej 82 Aleksandrovič, Vjačeslav 101 – 103 Alexander II. 15 f., 20 – 26, 28 – 35, 68 – 72, 198 Alexander III. 35, 64, 75 – 78, 85 Alʼtovskij, Arkadij 134 Andreev, Andrej 147 Andreev, Nikolaj 100 – 104 Andrianov, Vasilij 205 Antonov, Pëtr 58 Aptekman, Osip 61 f. Arendt, Hannah 12, 151, 156 Azef, Evno 80 – 83, 88, 127, 131 Babeuf, François Noël 21, 39 Bakunin, Michail 38, 48, 59 Balʼcevič, Mečislav 186 Balmašëv, Stepan 79 Balʼmont, Konstantin 144 Bednyj, Demʼjan 137 f., 194 Berija, Lavrentij 176, 201 – 210, 216 – 220 Bilʼčanskij, Osil 58 Bismarck, Fürst Otto von 33 f. Bljumkin, Jakov 98 – 100, 104 f. Bodin, Jean 69, 122 Bogolepov, Nikolaj 79 Bogoljubov, Archip 49 – 52 Bogrov, Dmitrij 89 Bonč–Bruevič, Vladimir 109, 113, 118 Booth, John Wilkes 36 Brandtner, Ljudvig 58 Brilliant, Dora 81 – 83, 88 Buch, Nikolaj 71 Bucharin, Nikolaj 110, 117, 129 – 131, 145, 149, 157, 170, 172, 207 Bulganin, Nikolaj 201 Buonarroti, Philippe 39 Burcev, Vladimir 18, 88, 116, 131 https://doi.org/10.1515/9783110619287-009
Burckhardt, Jacob 2 Bykov, Leonid 179 Caesar, Gaius Iulius 158 f. Canetti, Elias 9, 11, 34, 164, 178 Chalturin, Stepan 67 – 69, 193, 195 Chiang Kai–shek 143 Chrustalëv–Nosarʼ, Georgij 86 Chruščëv, Nikita 160, 176, 178, 184, 187, 201, 208, 216 f. Chudjakov, Ivan 32 Cioran, Emil 213, 219 Clausewitz, Carl von 13 Čajkovskij, Nikolaj 119 Černov, Viktor 80 Černyševskij, Nikolaj 55, 59 Čubarov, Sergej 58 Čudov, Michail 182 Dejč, Lev 53 Dejer, Pëtr 46 Deljanov, Ivan 76 Deniker, Joseph 37 Donskoj, Dmitrij 129 Doronin, Vasilij 195 Dostojewski, Fjodor 34, 36, 42, 45, 50 Drentelʼn, Aleksandr 57 f., 64 Droysen, Johann Gustav 7 Durnovo, Pëtr 90 Dzeržinskij, Feliks 100 – 105, 115, 120, 128, 142 f., 150 Ėjsmont, Nikolaj 170 – 175, 192 Emelʼjanov, Ivan 72 Enišerlov, Georgij 43 f. Enukidze, Avelʼ 127, 194 – 199 Evdokimov, Efim 147 Ežov, Nikolaj 163, 184 – 186, 195, 197 Figner, Vera 63, 76 Filippeus, Konstantin 44 Filonenko, Maksimilian 111 Fišman, Jakov 98
Personenregister
Fomin, Fëdor 186 Frolenko, Michail 63 Gagarin, Pavel 34 Gapon, Georgij 83 f. Gartman, Lev 64 Gejking, Baron Gustav von 53, 57 Geršuni, Grigorij 79 f. Gilʼ, Stepan 112, 118 Gobst, Aron 58 Goc, Abram 129 – 133 Goc, Michail 80 Golʼdenberg, Grigorij 57, 63 – 65 Golovnin, Aleksandr 35 Gorčakov, Aleksandr 50 Gorinovič, Nikolaj 53 Gorki, Maxim 165, 215 Gračevskij, Michail 72 Grinevickij, Ignatij 72 Herzen, Alexander 21, 30, 48, 54 f., 59, 68 Hiero 9 f., 14, 160, 173, 175 Hilger, Gustav 99 f., 104, 106 f. Hobbes, Thomas 69, 122, 211 Ignatʼev, Nikolaj 73, 75 Isaev, Grigorij 72 Išutin, Nikolaj 33 – 36, 39, 41 Ivan IV. 3 Ivanov, Ivan 41 – 47, 165 Izmajlovič, Aleksandra 107 Jagoda, Genrich 142 f., 147, 181 f., 184 f., 195 f. Jaroslavskij, Emelʼjan 148 Kaganovič, Lazarʼ 166, 179 – 182, 196, 201, 208, 217 Kaljaev, Ivan 81 f. Kamenev, Lev 92, 128, 149, 167, 172, 186, 194 f., 207 Kannegiser, Leonid 111, 117, 127, 144 Kaplan, Fanni 112 – 117, 137 f., 144 Karakozov, Dmitrij 28 – 34, 36 – 39, 42, 50, 54, 69, 89, 216 Karpovič, Pëtr 79 Katharina II. 22
249
Katkov, Michail 46, 69 – 75, 77 f. Kerenskij, Aleksandr 108 Kibalʼčič, Nikolaj 63, 72, 150 Kirov, Sergej 16 f., 116, 123 f., 175, 177, 181 – 191, 193 – 197, 202, 204, 209 Kletočnikov, Nikolaj 56, 65, 72 Kloč, Konstantin 40 Ključevskij, Vasilij 4 Kolodkevič, Nikolaj 63 Kolodub, Andrej 153 Kolodub, Emelʼjan 153 Kolodub, Kirill 153 Koni, Anatolij 50 f. Konopleva, Lidija 124, 128 f., 131, 134, 136 Kopelev, Lev 155 Kornilov, Lavr 92, 108, 111 Koselleck, Reinhart 2, 116 Kotljarevskij, M. M. 53 Kotolynov, Ivan 185 Kovalʼskij, Ivan 53 Koverda, Boris 144 Kravčinskij, Sergej 52 f., 60 Kropotkin, Demetrius 57 Kropotkin, Pëtr 53 Krylenko, Nikolaj 129 – 132, 153, 160, 167, 170 Kujbyšev, Valerian 140, 189 Kurskij, Dmitrij 120 Kuznecov, Aleksej [Terrorist] 39, 42 Kuznecov, Aleksej 201 – 206, 209 Kvjatkovskij, Aleksandr 63, 65, 67, 71 Lacis, Martin 101 f. Larina [Bucharina], Anna 176 f. Laševič, Michail 150 Lavrov, Pëtr 59 Lebedeva, Tatjana 63 Lenin, Vladimir , 10, 15 – 17, 77, 86, 91 – 94, 96 f., 102 – 104, 107 – 124, 127, 134, 137 – 139, 143, 146, 149, 156, 170, 193, 207 Liebknecht, Karl 129 Liebknecht, Theodor 129 Lincoln, Abraham 34, 36 Lizogub, Dmitrij 58 Lockhart, Bruce 114, 145
250
Personenregister
Lominadze, Vissarion 167 – 169, 175, 180, 185, 194 Lopuchin, Aleksej 51, 80, 83, 88 Loris–Melikov, Michail 70, 73 Lunačarskij, Anatolij 129, 131 f. Lyons, Eugene 151, 153, 155 Ljubimov, Aleksandr 44
Ogarjëv, Ja. L. 162 f. Ordžonikidze, Grigorij 140, 166, 169, 180 Osinskij, Valerian 53 f., 57 f., 61 Osorgin, Michail 156
Machiavelli, Niccolò 8, 75, 95, 106, 122, 141, 155, 164, 166, 168, 171, 196, 220 Majakovskij, Vladimir 143 Malenkov, Georgij 201 – 206, 210, 216 f. Malinovskij, Roman 166 f., 170, 181 Malʼkov, Pavel 115 Marx, Karl 52 Medvedʼ, Filipp 181 f., 185 f. Melville, Herman 112 Menžinskij, Vjačeslav 163 Mezencov, Nikolaj 52 f., 56, 58 Michajlov, Aleksandr 64, 71 Michajlov, Timofej 72 Mikojan, Anastas 206 – 208 Miljutin, Dmitrij 50, 57 Mirbach, Robert 99 Mirbach–Harff, Graf Wilhelm von 17, 97 – 107, 115, 118, 126 Molotov, Vjačeslav 144, 147 f., 171, 176, 182, 184, 200 f., 208, 213, 216 f. Montesquieu, Charles–Louis 218 Morozov, Nikolaj 54 f., 58, 61, 73 Müller, Leonard 100 Muravʼëv, Aleksandr 30 Muravʼëv, Michail 30 f., 33 f. Muravʼëv, Nikolaj 129
Pahlen, Graf Konstantin von 35, 45, 50, 52 Patrušev, Nikolaj 1 Perovskaja, Sofʼja, 64, 72, 183, 198 Pestelʼ, Pavel 30 Peter I. 22, 139 Peters, Jakov 114 Peterson, Rudolfʼ 195 Petraševskij, Michail 32 Piłsudski, Bronisław 77 Piłsudski, Józef 77, 142 Pjatakov, Georgij 129 Plechanov, Georgij 61 Pleve, Vjačeslav 75, 80 – 82 Pobedonoscev, Konstantin 75, 79 Pokotilov, Aleksej 81 Pokrovskij, Michail 129, 192 Popitz, Heinrich 41, 185 Popko, Grigorij 53 Popkov, Pëtr 204 f. Popov, Dmitrij 101, 104 Popov, Michail 57 Popper, Karl 2, 121 Poskrëbyšev, Aleksandr 182, 210 Postyšev, Pavel 174 Presnjakov, Andrej 71 Pryžov, Ivan 42 Pugačëv, Emelʼjan 41 Puschkin, Alexander 35 Putin, Vladimir 1 f.
Nabokov, Vladimir 51 Nachaev, Artëm 179 f. Nečaev, Sergej 30, 37 – 50, 53 f., 56, 59, 63, 66, 109, 165 Nikiforov, Lev 49 Nikolaev, Leonid 181 – 189, 198 Nikolaev, Nikolaj 42 Nikolaevič, Konstantin 33 Nikolai I. 21 f., 184 Nikolai II. 79, 82, 116 Nikolʼskij, Nikolaj 170, 172, 175 Nikonov, Akim 53
Rabinovič, Lazarʼ 153 Ralli–Arbore, Zamfir 44 Rasputin, Grigorij 91 Ratner, Evgenija 129 – 133 Ratner, Grigorij 133 Razin, Stenʼka 41 Reilly, Sidney 114, 145 Rejnštein, Nikolaj 57 Reznikov, Boris 167 – 169, 185 Riezler, Kurt 100, 103 Rjumin, Michail 162, 208 f. Rjutin, Martemʼjan 150, 172 – 176
Personenregister
Rodionov, Michail 204 f. Rudzutak, Jan 174 Rykov, Aleksej 113, 145, 148 f., 152, 166, 170, 172 – 174 Rysakov, Nikolaj 72 Savelʼev, Maksimilian 170, 172, 175, 192 Savinkov, Boris 81 – 83, 88 f., 108 – 111, 127 Sazonov, Egor 81 Schmitt, Carl 70, 151 Semënov, Grigorij 109 – 112, 124, 127 – 129, 131, 133 f., 136 Serge, Victor 150 Sergeev, N. 110 Simmel, Georg 165 Sipjagin, Dmitrij 79 f. Smirnov, Aleksandr 170 – 175, 192 Solovʼëv, Aleksandr 58, 60 Solschenizyn, Alexander 115, 123, 198 Spiridonova, Marija 96 f., 99, 107, 112, 126 Stalin, Iosif 4, 10, 13, 15 – 17, 93, 102, 104, 107, 123, 127 f., 139 – 151, 154, 156 – 176, 178 – 191, 193 – 211, 213 – 216, 219 f. Stempkowski, Adolf 46 Stolypin, Pëtr 87, 89 f. Sudejkin, Georgij 57, 70 f., 75 f. Suvorov, Aleksandr 28 Sverdlov, Jakov 93, 102, 113, 115, 166 Syrcov, Sergej 167 – 169, 175, 185, 194 Šalamov, Varlam 214 f. Šatckij, Nikolaj 185 Širjaevs, Stepan 65 Šmeman, Nikolaj 57 Šuvalov, Pëtr Graf 35, 45 Tager, Aleksandr 129 Tatarov, Nikolaj 83 Teodorovič, Ivan 191 Tichomirov, Lev 77, 79 Timašev, Aleksandr 45 Timašuk, Lidija 209 Tkačëv, Pëtr 38, 44, 59 Tocqueville, Alexis de 20 Tolmačëv, Vladimir 174 f.
251
Tolstoj, Dmitrij 35, 75 – 77 Tomskij, Michail 129, 148 f., 168, 173 f. Totleben, Ėduard 63 Trepov, Fëdor 41, 49 – 52 Troickij, Michail 40 Trotzki, Leo 86, 92 f., 97, 102, 104, 107, 111, 140, 149 f., 168, 170, 185, 195, 207, 215 Turgenev, Ivan 26 Ulʼjanov, Aleksandr 77 f. Ulʼrich, Vasilij 185 Urickij, Moisej 110 f., 114, 116 f., 120, 123, 127 Uspenskij, Pëtr 42 f., 49 Vacetis, Ioakim 102 f. Vandervelde, Émile 129 Vitte, Sergej 76, 85 Vlasik, Nikolaj 210 Vojkov, Pëtr 143 f., 145, 182 Volodarskij, V. [Golʼdštejn, Moisej] 110 f., 114, 120, 127 Vorošilov, Kliment 143, 148, 173, 182, 184, 201, 208 Vorovskij, Vaclav 144 Voznesenskij, Nikolaj 201, 203 – 205 Vyšinskij, Andrej 153 f., 179, 198 Weber, Max 159 Wilhelm I. 34 Xenophon
9 f., 160, 173, 208
Zaporožec, Ivan 186 Zasulič, Vera 38, 41, 44, 49 – 52, 59, 61, 69 Zinov’ev, Grigorij 92, 110 f., 123, 149, 170, 172, 186, 195, 204 Zubatov, Sergej 80 Zundelevič, Aaron 65, 71 Ždanov, Andrej 182, 184, 186, 201, 203 f., 209 Željabov, Andrej 64, 67 f., 72, 183, 193, 195, 198
Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel, Florian Meinel und Lutz Raphael. Die Reihe Ordnungssysteme nimmt Impulse auf, die sich seit zwei Jahrzehnten aus der Revision politik- und sozialgeschichtlicher Forschungsansätze entwickelt haben. Als Forum einer methodisch erneuerten Ideengeschichte trägt sie der Wirksamkeit politisch-kultureller Traditionen Europas seit dem Zeitalter der Aufklärung Rechnung. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dem konkreten Wechselspiel ideeller, politischer und sozialer Prozesse. Die Reihe Ordnungssysteme hat insbesondere das Ziel: ––
vergleichende Studien zu den nationalen Eigenarten und unterschiedlichen Traditionen in der europäischen Ideengeschichte zu fördern,
––
gemeineuropäische Dimensionen seit der Aufklärung zu untersuchen,
––
den Weg von neuen Ideen zu ihrer breitenwirksamen Durchsetzung zu erforschen.
Die Reihe Ordnungssysteme verfolgt einige Themen mit besonderem Interesse: ––
den Ideenverkehr zwischen Europa und Nordamerika,
––
die Beziehungen zwischen politischen und religiösen Weltbildern,
––
die Umformung der politischen Leitideen von Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert,
––
die Herausbildung traditionsstiftender, regionenbezogener Gegensatzpaare in der europäischen Ideenwelt, wie zum Beispiel den Ost-West-Gegensatz.
Die Reihe Ordnungssysteme bemüht sich um eine methodische Erneuerung der Ideengeschichte: ––
Sie verknüpft die Analyse von Werken und Ideen mit ihren sozialen, kulturellen und politi-
––
Sie untersucht die Bedeutung von Wissenssystemen in der Entwicklung der europäischen
schen Kontexten. Gesellschaften. ––
Sie ersetzt die traditionelle Ideengeschichte der großen Werke und großen Autoren durch eine Ideengeschichte, die Soziabilität und Kommunikation als tragende Gestaltungskräfte kultureller Produktion besonders beachtet.
––
Sie bezieht Institutionen und Medien der Kulturproduktion systematisch in die Untersuchung ein.
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Ordnungssysteme
Band 1:
Band 6:
Michael Hochgeschwender
Jin-Sung Chun
Freiheit in der Offensive?
Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit
Der Kongreß für kulturelle Freiheit und
Die westdeutsche „Strukturgeschichte“
die Deutschen
im Spannungsfeld von Modernitätskritik
1998. 677 S. ISBN 978-3-486-56341-2
und wissenschaftlicher Innovation 1948–1962
Band 2:
2000. 277 S. ISBN 978-3-486-56484-6
Thomas Sauer Westorientierung im deutschen
Band 7:
Protestantismus?
Frank Becker
Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger
Bilder von Krieg und Nation
Kreises
Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffent-
1999. VII, 326 S. ISBN 978-3-486-56342-9
lichkeit Deutschlands 1864–1913 2001. 601 S. und 32 S. Bildteil
Band 3:
ISBN 978-3-486-56545-4
Gudrun Kruip Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer Verlags
Band 8:
Journalismus zwischen westlichenWerten
Martin Sabrow
und deutschen Denktraditionen
Das Diktat des Konsenses
1999. 311 S. ISBN 978-3-486-56343-6
Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969
Band 4:
2001. 488 S. ISBN 978-3-486-56559-1
Axel Schildt Zwischen Abendland und Amerika
Band 9:
Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft
Thomas Etzemüller
der 50er Jahre
Sozialgeschichte als politische Geschichte
1999. VIII, 242 S. ISBN 978-3-486-56344-3
Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft
Band 5:
nach 1945
Rainer Lindner
2001. VIII, 445 S. ISBN 978-3-486-56581-2
Historiker und Herrschaft Nationsbildung und Geschichtspolitik in
Band 10:
Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert
Martina Winkler
1999. 536 S. ISBN 978-3-486-56455-6
Karel Kramář (1860–1937) Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers 2002. 414 S. ISBN 978-3-486-56620-8
Ordnungssysteme
255
Band 11:
Band 16:
Susanne Schattenberg
Ewald Grothe
Stalins Ingenieure
Zwischen Geschichte und Recht
Lebenswelten zwischen Technik und Terror in
Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung
den 1930er Jahren
1900–1970
2002. 457 S. ISBN 978-3-486-56678-9
2005. 486 S. ISBN 978-3-486-57784-6
Band 12:
Band 17:
Torsten Rüting
Anuschka Albertz
Pavlov und der Neue Mensch
Exemplarisches Heldentum
Diskurse über Disziplinierung in
Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den
Sowjetrussland
Thermopylen von der Antike bis
2002. 337 S. ISBN 978-3-486-56679-6
zur Gegenwart 2006. 424 S., zahlreiche Abb.
Band 13:
ISBN 978-3-486-57985-7
Julia Angster Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie
Band 18:
Die Westernisierung von SPD und DGB
Volker Depkat
2003. 538 S. ISBN 978-3-486-56676-5
Lebenswenden und Zeitenwenden Deutsche Politiker und die Erfahrungen des
Band 14:
20. Jahrhunderts
Christoph Weischer
2007. 573 S. ISBN 978-3-486-57970-3
Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung‘
Band 19:
Strukturen, Praktiken und Leitbilder der
Lorenz Erren
Sozialforschung in der Bundesrepublik
„Selbstkritik“ und Schuldbekenntnis
Deutschland
Kommunikation und Herrschaft unter Stalin
2004. X, 508 S. ISBN 978-3-486-56814-1
(1917–1953) 2008. 405 S. ISBN 978-3-486-57971-1
Band 15: Frieder Günther
Band 20:
Denken vom Staat her
Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.)
Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre
Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft
zwischen Dezision und Integration
im Europa der Neuzeit
1949–1970
Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte
2004. 364 S. ISBN 978-3-486-56818-9
2006. 536 S. ISBN 978-3-486-57786-0
256 Band 21:
Band 26:
Thomas Großbölting
Ruth Rosenberger
„Im Reich der Arbeit“
Experten für Humankapital
Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung
Die Entdeckung des Personalmanagements in
in den deutschen Industrie- und Gewerbeaus-
der Bundesrepublik Deutschland
stellungen 1790–1914
2008. 482 S. ISBN 978-3-486-58620-6
2007. 518 S., zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-58128-7
Band 27: Désirée Schauz
Band 22:
Strafen als moralische Besserung
Wolfgang Hardtwig (Hrsg.)
Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge
Ordnungen in der Krise
1777–1933
Zur politischen Kulturgeschichte
2008. 432 S. ISBN 978-3-486-58704-3
Deutschlands 1900–1933 2007. 566 S. ISBN 978-3-486-58177-5
Band 28: Morten Reitmayer
Band 23:
Elite
Marcus M. Payk
Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftli-
Der Geist der Demokratie
chen Idee in der frühen Bundesrepublik
Intellektuelle Orientierungsversuche im
2009. 628 S. ISBN 978-3-486-58828-6
Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn
Band 29:
2008. 415 S. ISBN 978-3-486-58580-3
Sandra Dahlke Individiuum und Herrschaft im Stalinismus
Band 24:
Emel’jan Jaroslavskij (1878–1943)
Rüdiger Graf
2010. 484 S., 9 Abb. ISBN 978-3-486-58955-9
Die Zukunft der Weimarer Republik Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutsch-
Band 30:
land 1918–1933
Klaus Gestwa
2008. 460 S. ISBN 978-3-486-58583-4
Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus
Band 25:
Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte,
Jörn Leonhard
1948–1967
Bellizismus und Nation
2010. 660 S., 18 Abb.
Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in
ISBN 978-3-486-58963-4
Europa und den Vereinigten Staaten 1750– 1914 2008. XIX, 1019 S. ISBN 978-3-486-58516-2
Ordnungssysteme
Band 31:
Band 36:
Susanne Stein
Claudia Kemper
Von der Konsumenten- zur Produktionsstadt
Das „Gewissen“ 1919–1925
Aufbauvisionen und Städtebau im Neuen
Kommunikation und Vernetzung
China, 1949–1957
der Jungkonservativen
2010. VIII, 425 Seiten, 107 Abb.
2011. 517 S. ISBN 978-3-486-70496-9
257
ISBN 978-3-486-59809-4 Band 37: Band 32:
Daniela Saxer
Fernando Esposito
Die Schärfung des Quellenblicks
Mythische Moderne
Forschungspraktiken in der
Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach
Geschichtswissenschaft 1840–1914
Ordnung in Deutschland und Italien
2014. 459 S., 1 Abb. ISBN 978-3-486-70485-3
2011. 476 Seiten, 17 Abb. ISBN 978-3-486-59810-0
Band 38: Johannes Grützmacher
Band 33:
Die Baikal-Amur-Magistrale
Silke Mende
Vom stalinistischen Lager zum Mobilisierungs-
„Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“
projekt unter Brežnev
Eine Geschichte der Gründungsgrünen
2012. IX, 503 S., 9 Abb.
2011. XII, 541 Seiten, 6 Abb.
ISBN 978-3-486-70494-5
ISBN 978-3-486-59811-7 Band 39: Band 34:
Stephanie Kleiner
Wiebke Wiede
Staatsaktion im Wunderland
Rasse im Buch
Oper und Festspiel als Medien politischer
Antisemitische und rassistische Publikationen
Repräsentation (1890–1930)
in Verlagsprogrammen der Weimarer Republik
2013. 588 S., 38 Abb.
2011. VIII, 328 S., 7 Abb.
ISBN 978-3-486-70648-2
ISBN 978-3-486-59828-5 Band 40: Band 35:
Patricia Hertel
Rüdiger Bergien
Der erinnerte Halbmond
Die bellizistische Republik
Islam und Nationalismus auf der Iberischen
Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“
Halbinsel im 19. und 20. Jahrhundert
in Deutschland 1918–1933
2012. 256 S., 22 Abb. ISBN 978-3-486-71661-0
2011. 448 S. ISBN 978-3-486-59181-1
258
Ordnungssysteme
Band 41:
Band 47:
Till Kössler
Gregor Feindt
Kinder der Demokratie
Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft
Religiöse Erziehung und urbane Moderne in
Oppositionelles Denken zur Nation im ostmit-
Spanien, 1890–1936
teleuropäischen Samizdat 1976–1992
2013. 544 S., 19 Abb. ISBN 978-3-486-71891-1
2015. XII, 403 S. ISBN 978-3-11-034611-4
Band 42:
Band 48:
Daniel Menning
Juri Auderset
Standesgemäße Ordnung in der Moderne
Transatlantischer Föderalismus
Adlige Familienstrategien und
Zur politischen Sprache des Föderalismus im
Gesellschaftsentwürfe in Deutschland
Zeitalter der Revolution, 1787–1848
1840–1945
2016. XI, 525 S., 3 Abb.
2014. 470 S., 8 Abb. ISBN 978-3-486-78143-4
ISBN 978-3-11-045266-2
Band 43:
Band 49:
Malte Rolf
Silke Martini
Imperiale Herrschaft im Weichselland
Postimperiales Asien
Das Königreich Polen im Russischen
Die Zukunft Indiens und Chinas in der anglo-
Imperium (1864–1915)
phonen Weltöffentlichkeit 1919–1939
2015. 537 S., 31 Abb. ISBN 978-3-486-78142-7
2017. XI, 492 S. ISBN 978-3-11-046217-3
Band 44:
Band 50:
Sabine Witt
Sebastian Weinert
Nationalistische Intellektuelle
Der Körper im Blick
in der Slowakei 1918–1945
Gesundheitsausstellungen vom späten
Kulturelle Praxis zwischen Sakralisierung
Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus
und Säkularisierung
2017. X, 448 S., 14 Abb.
2015. 412 S. ISBN 978-3-11-035930-5
ISBN 978-3-11-046677-5
Band 45:
Band 51:
Stefan Guth
D. Timothy Goering
Geschichte als Politik
Friedrich Gogarten (1887-1967)
Der deutsch-polnische Historikerdialog
Religionsrebell im Jahrhundert der Weltkriege
im 20. Jahrhundert
2017. XI, 513 S., 5 Abb.
2015. VII, 520 S. ISBN 978-3-11-034611-4
ISBN 978-3-11-051730-9
Ordnungssysteme
259
Band 52:
Band 54:
Andrés Antolín Hofrichter
Anselm Doering_Manteuffel
Fremde Moderne
Konturen von Ordnung
Wissenschaftspolitik, Geschichtswissenschaft
Ideengeschichtliche Zugänge zum 20. Jahr-
und nationale Narrative unter dem Franco-
hundert
Regime, 1939-1964
2019. XVI, 452 S. ISBN 978-3-11-063008-4
2018. X, 418 S. ISBN 978-3-11-052996-8 Band 53: Fabian Thunemann Verschwörungsdenken und Machtkalkül Herrschaft in Russland, 1866-1953 2019. X, 260 S. ISBN 978-3-11-061647-7