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German Pages 198 Year 2017
Schriften zur Rechtstheorie Band 286
Vernunftbegründete Staatsrechtslehre
Von Richard Bartlsperger
Duncker & Humblot · Berlin
RICHARD BARTLSPERGER
Vernunftbegründete Staatsrechtslehre
Schriften zur Rechtstheorie Band 286
Vernunftbegründete Staatsrechtslehre Von Richard Bartlsperger
Duncker & Humblot · Berlin
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© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany
ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-15249-0 (Print) ISBN 978-3-428-55249-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-85249-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meiner Frau
Vorwort Nach einer jahrzehntelang vorwiegenden Beschäftigung und Inanspruchnahme im Bereich des Verwaltungsrechts steht die gegenständliche Abhandlung für eine Rückkehr zu den schon einmal mit der Dissertation von 1964 zur Integrationslehre Rudolf Smends aufgegriffenen staats- und verfassungstheoretischen Grundlagen der heutigen Staatsrechtslehre sowie zu deren erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen. Begonnen hat diese thematische Rückfindung schon mit einem nochmaligen speziellen Beitrag zur Integrationslehre (Festschrift Steiner 2009) sowie mit Beiträgen zum „Wertdenken in der Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates“ (Festschrift Wahl 2011), zum „Subjektiven öffentlichen Recht als Apriori des Verfassungsstaates“ (Festschrift Schenke 2011) und zum „Verfassungsstaat als Staatsbegriff“ (Festschrift Würtenberger 2013). Der Absicht, jene staats- und verfassungstheoretischen Abhandlungen zu resümieren sowie vor allem in der einen oder anderen wesentlichen Hinsicht durch eine ergänzende Erörterung der einschlägigen ideengeschichtlichen Entwicklungen und Auseinandersetzungen zu verdeutlichen und zu präzisieren, verdankt sich die vorliegende Arbeit. Gewiss mangelt es der zeitgeschichtlichen Staatsrechtslehre nicht an eigenen und aus ihren Nachbardisziplinen kommenden literarischen Leistungen zu ihrer neueren Ideengeschichte, insbesondere zu jeweils bestimmten ideengeschichtlichen Bewegungen und Werken der Staats- und Verfassungstheorie sowie der Wissenschaftstheorie. Irgendwo und irgendwie ist insofern schon alles einmal aufgegriffen und zum Gegenstand von nicht selten auch kontroversen Darstellungen und Interpretationen gemacht worden. Ganz anders soll gegenständlich eine durchgängige ideengeschichtliche Entwicklungslinie verfolgt werden, ausgehend von der originären praktischen Vernunftphilosophie vom Recht und vom Staat, von deren Ursprungs- und Begründungsidee des Verfassungsstaates als „Republik der Vernunft“, im Verlaufe einer betreffenden nachvollziehbaren „nachkantischen“ Entwicklung sowie unter deren Behauptung gegenüber fundamental anderen Entwicklungen und vor allem gegenüber prinzipiell gegensätzlichen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Standpunkten, eine ideengeschichtliche Entwicklungslinie, die zur Vernunftidee von der geschichtlich realen verfassungsstaatlichen Ordnung und vom Verfassungsstaat führt. Damit wendet sich die Abhandlung gegen zeitgeschichtliche Erscheinungen einer Staatskritik, die sich von politik- und sozialwissenschaftlicher Seite, aber tendenziell auch aus der Staatsrechtslehre selbst gegen diese sowie gegen die ihr folgende Verfassungspraxis richtet. Dem Verlag, namentlich Dr. Florian R. Simon, LL.M., bin ich zu außerordentlichem Dank verpflichtet, dass auch diese Arbeit wieder in das Verlagspro-
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Vorwort
gram aufgenommen werden konnte. Einen besonderen Dank schulde ich Ayke Darius für die auch hier wieder geleistete geduldige und perfekte Erledigung der Schreibarbeiten. Erlangen, im März 2017
Richard Bartlsperger
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Staatsrechtlehre zwischen staatstheoretischem Defizit und Staatskritik . . . . . . . . . . 13 II. Die vergessene „Republik der Vernunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 III. Demokratie versus Staat – Herausforderung an Staatsrecht und Staatsrechtslehre
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IV. Der Staatsbegriff als regulative Vernunftidee des geschichtlichen Staatsrechts und der Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 V. Von der rechts- und staatsphilosophischen Vernunftidee zum geschichtsphilosophischen „objektiven Geist“ – Entdeckung und Entdeckerirrtum . . . . . . . . . . . . . . . 49 VI. Geschichtsphilosophie als wirkungsgeschichtliche Reaktion auf den „juristischen“ und staatskritischen Formalismus – Die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 VII. Die praktische Vernunftphilosophie vom Verfassungsstaat als Beurteilungsgegenstand politischer Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 VIII. Materialistische Staatskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 IX. Grenzüberschreitung politischer Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 X. Die neuere Ideengeschichte der Staatsrechtslehre als eigenständige ideelle Entwicklung wissenschaftstheoretischer und methodologischer Selbstvergewisserung 121 XI. Auf dem Weg zur praktischen Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 XII. Die praktische Vernunftidee vom Staatsrecht und Staat als ideengeschichtlich erkenntnistheoretisches Problemfeld der Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 XIII. Von der apriorischen Vernunftidee zur „nachkantischen“ Seinsidee vom Recht und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 XIV. Die ontologische Perspektive – Ihre staats- und verfassungstheoretischen Modalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 XV. „Metaphysik“ der Verfassungsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
Einleitung Die Staatsrechtslehre in ihrer zeitgeschichtlichen Entwicklung seit der Entstehung verfassungsstaatlicher Verhältnisse im westlichen Nachkriegsdeutschland, unter der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes und den föderal homogenen Verfassungsstrukturen der Landesverfassungen1 kann ungeachtet ihrer reichen und differenzierten Entfaltung nicht beanspruchen, dass sie im grundlegenden und prinzipiellen Verständnis der bestehenden verfassungsstaatlichen Ordnung sowie der Verfassungsstaatlichkeit überhaupt von einer bestimmenden staatstheoretischen Auffassung und Vorstellung zur rechts- und staatsphilosophischen Idee des Verfassungsstaates und zu einer dementsprechenden Idee verfassungsstaatlichen Staatsrechts getragen wäre. Weder für die ganze Epoche noch für jeweilige Zeitabschnitte derselben kann davon gesprochen werden, dass der „Verfassungsstaat als Staatsbegriff“2 vergegenwärtigt wäre, dass er als „Staat in der Idee“3 und in seiner Funktion als regulative Idee des Staatsrechts sowie als „juristisch“ relevante Idee für die Wissenschaftstheorie der Staatrechtslehre Bedeutung erlangt hätte. Nicht nur Einigkeit scheint zu fehlen, wenn es für das Staatsrecht unter dem Grundgesetz und für die zeitgeschichtliche Staatsrechtslehre um eine fundamentale staatstheoretische Annahme und Vorstellung von der Idee des Verfassungsstaates und von dessen staatsrechtlicher Ordnung geht. Allein schon die konstruktive Bedeutung einer solchen staatstheoretischen Frage überhaupt für das Staatsrecht sowie für eine Wissenschaftstheorie der Staatsrechtslehre stoßen auf Ablehnung und finden sich von Seiten einer politischen Philosophie der Staatsverneinung prinzipiellen Anfeindungen ausgesetzt.4 Ein Staatsrecht ohne Staat, eine Staatsrechtslehre ohne Idee vom geschichtlichen Staat, das Verfassungsrecht ohne Verfassungsstaat erleben unbeschadet des insofern ohnedies erinnerten, aus der neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre bekannten und stets noch gegenwärtigen Streitpotentials5 unter den 1 Zur bundesstaatsrechtlichen Gewährleistung föderaler Verfassungshomogenität Bartlsperger, Das Verfassungsrecht der Länder in der gesamtstaatlichen Verfassungsordnung, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. VI, 2008, § 128 Rn. 46 ff. 2 Bartlsperger, Der Verfassungsstaat als Staatsbegriff, Festschrift Würtenberger, 2013, 149 ff. 3 Kant, Die Metaphysik der Sitten. Erster Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797 (Philosophische Bibliothek, Bd. 360, hgg. von Bernd Ludwig, 3. Aufl. 2009), S. 229 (§ 45). Dazu schon Bartlsperger, a.a.O., 149/153 ff. sowie ders., Wertdenken in der Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates, Festschrift Wahl, 2011, 23/35 ff., jeweils m.Nachw. 4 Dazu Bartlsperger (Fn. 2), 149/179 ff. 5 Zum betreffenden, in der sogenannten Weimarer Staatsrechtslehre ausgetragenen und nachwirkenden Methodenstreit Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der
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Einleitung
zeitgeschichtlichen Voraussetzungen, aufgrund aktueller Motivationen und mit zusätzlichen Argumenten eine Erneuerung. Sie gehört zum gegenwärtigen Erscheinungsbild der Staatsrechtlehre6 und zu demjenigen der staatsrechtlich interessierten Nachbardisziplinen ohnedies.7 Eine staatstheoretische, für die Staatsrechtslehre und deren Verfassungstheorie grundlegende Thematik scheint sich zu erübrigen. So erweist sich die zeitgeschichtliche Staatsrechtslehre in staatstheoretischer Hinsicht eher als defizitär, soweit sich nicht überhaupt eine gänzlich andere Tendenz prinzipieller Staatsverneinung, einer Staatsrechtslehre ohne eine Idee des Staates, zeigt.
Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, 1987, Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band, 1999, 153 ff. und gleichfalls Bartlsperger, a.a.O., 149/183 ff. sowie die weiteren Nachw. bei Bartlsperger, Integration oder Dissens und Konflikt als Sinnprinzip von Staat und Verfassung, Festschrift Steiner, 209, 31/31 Fn. 3. 6 Bartlsperger, a.a.O., 149/190 ff. m. Nachw. zu Möllers, Staat als Argument, 2000 und dems., Der vermisste Leviathan, 2008; siehe ferner Lepsius, Die Wiederkehr Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, in: Gusy (Hg.), Weimars langer Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, 2003, 354/363 ff. (speziell zur sogenannten Integrationslehre) und ders., EuGRZ 2004, 370 ff. 7 Beispielhaft die Angriff gegen die Staats- und Verfassungstheorie der sogenannten Integrationslehre; Nachw. bei Bartlsperger (Fn. 5), 31/31 f. Fn. 3 f.
I. Staatsrechtlehre zwischen staatstheoretischem Defizit und Staatskritik 1. – Die Situationsbeschreibung eines staats- und verfassungstheoretischen Defizits in der gegenwärtigen Staatsrechtslehre gehört durchaus zu deren aktueller Selbstwahrnehmung.8 Dies scheint in einem Kontrast zu stehen zu dem konkreten öffentlichen Erscheinungsbild der heutigen verfassungsrechtlichen Ordnung, zu deren hohem Ansehen und zu dem Umstand, dass die betreffende Verfassungspraxis, nicht zuletzt in ihrer verfassungsgerichtlichen Ausprägung und Ausstrahlung, eine die Rechtsordnung beherrschende und den gesellschaftlichen Zustand stabilisierende Leistung erbringt. Die Staatsrechtslehre hat an dieser Entwicklung Anteil durch einen gerade schon während der Neuanfänge westdeutschen Verfassungsrechts in der unmittelbaren Nachkriegszeit nachhaltigen Einfluss9 sowie durch ein seitdem stets angewachsenes, in der Dichte und Ausdifferenziertheit immer intensiveres, auch schon einmal numerisch und umfänglich überbordendes, literarisches Schaffen; nicht zuletzt ist dies in epochal typischer und kennzeichnender Weise auch im Wege einer Bedeutungsverlagerung öffentlichen Rechts zum Verwaltungsrecht hin geschehen.10 Die thematische Ausrichtung indessen, das Erscheinungsbild und die öffentliche Wirkung der Staatsrechtslehre bewegen sich wesentlich auf der spezifischen Ebene einer fachlichen Dogmatik vom positiven Verfassungsrecht und von der Verfassungspraxis. Bezeichnenderweise wird deshalb der zeitgenössischen Staatsrechtslehre ein „theorieferner de facto-Positivismus“,11 ein „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“, eine „Entthronung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit“ attestiert,12 ein publizistisches Leben „im Ghetto der Fachzeitschriften und inhaltlich im Banne des BVerfG“, dem sie „eher nach als voraus“ denke;13 gleichzeitig eine Unterentwicklung im Bereich der Staatslehre. Der Nachkriegszeit wird eine deutliche staatstheoretische Abstinenz bescheinigt14 und zu einer angenommenen, sogenannten Bonner Republik wird resümiert, dass diese zwar lange Zeit
8 Zu einem grundsätzlichen methodischen Dissens im gegenwärtigen öffentlichen Recht Möllers, VerwArch 90 (1999), 187/187 f. 9 Dazu die Darstellung bei Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Vierter Band, 2012, 115 ff. und 211 ff. 10 Dazu Stolleis, a.a.O., 75 f., 247 ff. 11 Möllers, in: Paulson/Schulte (Hg.), Georg Jellinek, 2000, 155/164. 12 Schlink, Der Staat 28 (1989), 161 ff. 13 A.a.O., 162 f. 14 Möllers, Der vermisste Leviathan, 2008, 31.
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I. Staatsrechtlehre zwischen staatstheoretischem Defizit und Staatskritik
eine nüchterne, methodische und vielfältige Rechtsstaatslehre entwickelt habe, aber „staatswissenschaftlich insgesamt wenig ambitioniert“ gewesen sei.15 In den genannten Beobachtungen spiegelt sich auch die herausragende Stellung wider, die das Grundgesetz für die bundesdeutsche Staatspraxis und für die Rechtspraxis insgesamt erlangt hat. Die zeitgeschichtliche Staatsrechtslehre, aber offenbar eben nicht nur die Staatsrechtslehre, erscheinen in hohem Maße durch eine Zentrierung, wenn nicht gar durch eine Fixierung auf das Grundgesetzt gekennzeichnet. Die gesamte Rechtswissenschaft beschäftigt sich inzwischen mit dem Verfassungsrecht. Man kann von einer „Konstitutionalisierung der Rechtsordnung“ sprechen. Dagegen die für das Staatsrecht grundlegenden staatstheoretischen Fragen und Voraussetzungen haben an Bedeutung verloren; „Staatsrecht“ scheint einem „Verfassungsrecht“ weichen zu müssen.16 Im Unterschied zur Weimarer Staatsrechtslehre, deren Grundlagendiskussion staatsrechtlicher Methoden eine exemplarische, präpositive und andauernde Bedeutung für Staats- und Verfassungstheorie zuerkannt wird, konnte die Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz in den Ruf gelangen, dass „grundsätzlich neue staatstheoretische Entwürfe nicht mehr entstanden oder weitgehend wirkungslos geblieben“ seien.17 Demzufolge konnte unter dem Grundgesetz der „Staatsbegriff als Verlustbegriff“ bezeichnet und dieser Umstand als „die negativ konnotierte Kehrseite einer beispiellosen Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes“ gewürdigt werden.18 2. – Die letztgenannte Beurteilung zur staats- und verfassungstheoretischen Situation der Staatsrechtslehre möchte allerdings, und zwar durchaus repräsentativ für vergleichbare aktuelle Äußerungen, in ihrem eigentlichen Begründungszusammenhang und Aussagegehalt die zeitgeschichtlichen „Defizite der Staatstheorie“ bereits in einem weitergehenden, tiefer greifenden Sinne verstanden wissen; sie möchte als Erklärung und als Absicht einer grundlegenden Akzentverschiebung in den methodischen Auseinandersetzungen der Staatsrechtslehre gelten. Danach soll die Beschäftigung mit dem Staat, die Staatstheorie überhaupt, „sowohl gegenständlich als auch methodisch ausgereizt“ sein.19 Es wird in Abrede gestellt, dass die „Wiederbelebung einer ganzheitlichen, den Staatsbegriff in normativen und deskriptiven Belangen beschreibenden wissenschaftlichen Disziplin“ noch aussichtsreich sein könnte und sollte.20 Staatstheoretische „Diskussionsfronten“, wie in den genannten Debatten der Weimarer Staatsrechtslehre, werden nur mehr als Erscheinung einer „Generationenabfolge in der Staatsrechtswissenschaft“ angesehen.21 Die betreffenden aktuellen 15
Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat, 2003, 51. Zur Verdrängung des Staates durch Verfassung Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. II, 2004, § 15 Rn. 6 ff.; siehe auch bei Di Fabio (Fn. 15), 63. ff. 17 Lepsius, EuGRZ 2004, 370/376. 18 Lepsius, a.a.O., 373 f. 19 Lepsius, a.a.O., 375. 20 Möllers, Staat als Argument, 2000, 432. 21 Möllers (Fn. 14), 97 ff. bzw. 101 ff. und ders., Der Staat 43 (2004), 399 ff. 16
I. Staatsrechtlehre zwischen staatstheoretischem Defizit und Staatskritik
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Beurteilungen haben also jedenfalls schon den Schritt über eine Situationsbeschreibung staatstheoretischer Defizite in der Staatsrechtslehre hinaus zu einer politischen Philosophie der Staatsverneinung überhaupt getan. Danach gilt der Staatsbegriff „als ein einigermaßen amorphes, historisch zufällig gewachsenes, und dem Recht zum großen Teil unsichtbares Gebilde“,22 für die Staatsrechtslehre vor allem aber als ein „Erkenntnis- und Modernisierungshindernis“,23 nicht zuletzt als „eine deutsche Besonderheit, der die Anschlussfähigkeit fehlt.24 So wird denn auch in jenen „jüngsten Äußerungen zum möglichen Ende des (alten) Staates“, die „nicht mehr in die (alte) Bundesrepublik“ gehörten, eine Transformation der „Staatslehren“ in „Verfassungslehren“ gesehen.25 Es geht somit um eine neue Positionsbestimmung der Staatsrechtslehre, welche diese auf eine gegen den Staatsbegriff gerichtete, spezifisch demokratische Verfassungstheorie festzulegen beabsichtigt, auf eine Ersetzung des „Staates“ durch „Verfassung“, des „Staatsrechts“ durch „Verfassungsrecht“.26 Für die staatsrechtliche Theoriebildung wird eine „Theorie der Herrschaftsformen und ihrer Legitimationsbedürftigkeit“ vorgeschlagen.27 Die Angriffsrichtung und das Postulat zeitgeschichtlicher Staatskritik, speziell und gerade auch von fachspezifischer Seite der Staatsrechtslehre, gelten dem in der maßgeblichen Verfassungspraxis und in der betreffenden Staatsrechtslehre ausgemachten staatsrechtlichen „Denken vom Staate her“.28 In der Sache, im Grunde und recht eigentlich gemeint ist die unter dem Grundgesetz vollzogene prinzipielle Wende zum materiellen Rechtsstaat, das für die Verfassungsepoche und Verfassungssituation unter dem Grundgesetz kennzeichnende, mit einer normativen Idee des Staates in Verbindung gebrachte materiale Verfassungsverständnis, das in den Grundrechten eine objektive Wertordnung und tragende Sinnprinzipien der gesamten Rechtsordnung sieht, nicht anders aber auch die organisations- und verfahrensrechtlichen Verfassungsstrukturen sowie die sonstigen Verfassungsnormen als eine jeweils sinnbegründete und auf Sinnverwirklichung angelegte staatsrechtliche Ordnung begreift und auf solche Weise den individuellen Freiheiten mit den entsprechenden inhaltlichen Beschränkungen sowie der demokratischen Ordnung mit dementsprechenden rechtsstaatlichen Bindungen gegenübertritt. Es geht um die Auflösung des in dem bekannten liberalen Rechtsparadigma, in dessen Gegenüberstellung von individueller Freiheit und Staat, sowie des in der verfassungsstaatlichen Ordnung einer rechtsstaatlichen Demokratie erkannten und beklagten Dilemmas, die demokratische Substanz noch wahren zu müssen und sie nicht zuletzt im Verhältnis von parlamentarischem Ge22
Möllers (Fn. 20), 7. Möllers (Fn. 14), 9 f. 24 Lepsius, EuGRZ 2004, 370/373, unter Hinweis auf C. Schönberger, in: O. Beaud/ E. V. Heyen (Hg.), Eine deutsch-französische Rechtswissenschaft?, 1999, 111/122 ff. 25 Stolleis, Staatslehre zwischen etatistischer Tradition und pluralistischer Öffnung, Öffentliches Recht im offenen Staat, Festschrift Wahl, 2011, 239/259. 26 Möllers (Fn. 14), 10. 27 Lepsius, EuGRZ 2004, 370/376. 28 Günther, Denken vom Staat her, 2004. 23
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I. Staatsrechtlehre zwischen staatstheoretischem Defizit und Staatskritik
setzesstaates und verfassungsgerichtlichem Jurisdiktionsstaat zu behaupten.29 Einmal ungeachtet der dazu in der neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre und aktuell angestellten Konstruktionen eines Staatsrechts ohne eine „juristisch“ relevante Idee des Staates, eines Verfassungsrechts ohne eine Idee des Verfassungsstaates, hat man es im Übrigen und im Grunde jeweils mit einer politischen Philosophie der Staatsverneinung zu tun, wonach eine auf die individuelle Freiheit der Einzelnen und auf eine dementsprechende demokratische Ordnung begründete Verfassungsordnung ohne die Idee einer unter deren Rechtsgesetzen entstehenden Vereinigung der betreffenden Menge von Menschen zur Idee des Staates denkbar ist und gedacht werden muss, ohne eine Idee des Staates, die den normativen Anspruch erheben würde, im Bewusstsein der betreffenden Individuen als Idee einer kraft Vernunft existenten eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit des Staatsrechts existent zu sein. Es handelt sich um eine politische Philosophie wider eine praktische Vernunftidee vom Staatsrecht und vom Staat. 3. – Unverkennbar drängt sich nicht nur angesichts der erwähnten staatstheoretisch defizitären Situation der zeitgeschichtlichen Staatsrechtslehre, sondern vor allem aus Anlass der bezeichneten, dezidiert staatskritischen Standpunkte der Eindruck einer Selbstvergessenheit der Staatsrechtlehre auf, wenn es um die für ihre Verfassungskonzeption sowie nicht zuletzt für ihre Wissenschaftstheorie und Methode spezifische und fundamentale Frage nach dem „Verfassungsstaat als Staatsbegriff“, nach dem Verfassungsstaat „in der Idee“, geht. Namentlich betrifft diese Selbstvergessenheit der Staatsrechtslehre die rechts- und staatsphilosophische Ursprungs- und Begründungsidee vom Verfassungsstaat und von der verfassungsstaatlichen Ordnung, wie sie unter den betreffenden epochalen kulturgeschichtlichen Voraussetzungen in Deutschland im dafür wirkungsträchtigen Rahmen der Vernunftkritik entstanden, spezifisch aus deren praktischer Vernunftphilosophie und ihrer Rechts- und Staatslehre hervorgegangen ist30 sowie schon im unmittelbaren ideengeschichtlichen Zusammenhang bzw. Fortgang jenes transzendentalphilosophischen Idealismus fachspezifische Gestalt gewinnen konnte.31 Im authentischen 29 Zu dem liberalistischen Argument der betreffenden Staatskritik und zu der Thematik sowie speziell zu der dementsprechenden verfassungstheoretischen Auffassung bzw. staatsrechtlichen Forderung eines ausschließlich organisationsrechtlichen Staatsverständnisses die Erörterung bei Bartlsperger (Fn. 3), 44 ff. und bei dems. (Fn. 2), 186 ff.; zu den hierfür aus der zeitgeschichtlichen Staatsrechtslehre bzw. Verfassungstheorie repräsentativen Begründungen und Standpunkten von Böckenförde siehe die Nachw. bei Bartlsperger (Fn. 3), 44 Fn. 87. Unter dem Gesichtspunkt zeitgeschichtlicher Aktualität siehe die diskurstheoretische Beurteilung der Thematik bei Habermas, Faktizität und Geltung, 4. Aufl. 1994 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1361), 300 ff. 30 Zur praktischen Vernunftidee vom Verfassungsstaat auf der Grundlage von Kants maßgeblich in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre“ ausgeführter praktischer Vernunftidee vom Recht und vom Staat schon die Erörterung bei Bartlsperger (Fn. 2), 152 f. und 153 f. sowie bei dems. (Fnn. 3), 35 ff. und 37 ff., dort (Fn. 64) auch mit einschlägigen Literaturnachweisen. 31 Zu der betreffenden ideengeschichtlich „nachkantischen“ Entwicklung der praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat Bartlsperger, a.a.O, 153 ff.; zu deren ideenge-
I. Staatsrechtlehre zwischen staatstheoretischem Defizit und Staatskritik
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originären Ausgangspunkt handelt es sich um die praktische Vernunftidee vom Staat als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“,32 die nach dem vernunftbegründeten „Allgemeinen Prinzip des Rechts“33 gewährleisten, dass „die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“, sofern also diese „Rechtsgesetze“ in dem gesagten Sinne „a priori notwendig, d.i. aus Begriffen des äußeren Rechts überhaupt von selbst folgend (nicht statutarisch) sind“.34 Gerade jene ideengeschichtlich am epochalen Anfang stehende, in der originären praktischen Vernunftkritik begründete Vernunftidee von Recht und Staat stellt in ihrer ursprünglichen ideengeschichtlichen Authentizität den Dreh- und Angelpunkt auch dar für die wissenschaftstheoretische Grundlegung einer Verfassungstheorie verfassungsstaatlicher Ordnung in Deutschland und für das wissenschaftstheoretische Verständnis einer betreffenden Staatsrechtslehre, für die wissenschaftstheoretische Fundierung ihres Verfassungsbegriffs und ihrer Methode. Angesichts der umwälzenden, tiefgreifenden und wirkungsträchtigen Bedeutung, welche die Vernunftkritik auch gerade mit dem Entwurf einer praktischen Vernunftkritik für die Kulturgeschichte in einem umfassenden Sinne zu beanspruchen hat, erscheinen jene praktischen Vernunftideen von Recht und Staat als unverrückbarer Ausgangspunkt für das staatsrechtliche Verständnis der epochal gleichzeitig in Erscheinung getretenen verfassungsstaatlichen Bewegung sowie der nach jener Epochenwende sich künftig entwickelnden Idee verfassungsstaatlicher Ordnung. Freilich musste der originäre praktische Vernunftbegriff von Recht und Staat eine ideengeschichtliche Entwicklung durchlaufen, um seinen authentischen rechts- und staatsphilosophischen Aussagegehalt auch in seinem immanenten rechtsund staatstheoretischen Bedeutungsgehalt als regulative Idee geschichtlich realer Verfassungsstaatlichkeit und einer entsprechenden Staatsrechtslehre wirklich und folgerichtig entfalten zu können.35 Für die Staatsrechtslehre hätte es darum gehen müssen, jene originäre, spezifisch rechts- und staatsphilosophische Ursprungs- und Begründungsidee vom Verfassungsstaat und von dessen staatsrechtlicher Ordnung auf dem ideengeschichtlich transzendentalphilosophischen Weg einer folgerichtigen, auch konsequent nur jener Metaphysik der Vernunft verpflichteten Entwicklung zu dem schließlichen Aussage- und Bedeutungsgehalt einer Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat zu verfolgen. Mit Blick darauf und gemessen an dieser vernachlässigten Aufgabe der Staatsrechtslehre kann man jedoch nicht umhin feststellen zu müssen, dass die Idee des Verfassungsstaates nach einer ohnedies lange andauernden Reihe politischer Verstrickungen in Deutschland sowie nach einer kaum weniger langen ideengeschichtlichen Abfolge von wissenschaftstheoretischschichtlicher Präzisierung bzw. Fortbildung in einer sogenannten intersubjektiven Anerkennungslehre ders., a.a.O., 155 ff. 32 Kant (Fn. 3), S. 129 (§ 45). 33 Kant, a.a.O., S. 39 (§ C). 34 Fn. 32. 35 Zu der betreffenden „nachkantischen“ Entwicklung der kantischen Rechts- und Staatsidee die Nachw. in Fn. 31.
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I. Staatsrechtlehre zwischen staatstheoretischem Defizit und Staatskritik
methodischen Verwicklungen innerhalb der Staatsrechtslehre letztlich immer noch nicht eine Epoche allgemein anerkannten staats- und verfassungstheoretischen Verständnisses erreicht hat. Dabei hätte sich ausgehend von jener vernunftkritischen Ursprungs- und Begründungsidee des Verfassungsstaates die weitere staatstheoretisch und staatsrechtlich einschlägige allgemeine Entwicklung der Transzendentalphilosophie durchaus recht zuverlässig nachvollziehen lassen; es würde deshalb für die ideengeschichtlich ursprüngliche praktische Vernunftidee von Recht und Staat nicht an hinreichenden Denkfortschritten in einer einschlägigen transzendentalen Phänomenologie36 und in einer demzufolge entstandenen Ontologie geistigen Seins37 gefehlt haben, um jene praktische Vernunftidee von Recht und Staat schließlich als Idee von der Seinsweise einer eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit begreifbar zu machen. Aber jener generellen ideengeschichtlichen Entwicklung auf dem Wege praktischer Transzendentalphilosophie ist im Bereich der Staatsrechtslehre eine nachhaltige Wirkungsgeschichte versagt geblieben; die Staatsrechtslehre hat keinen wirklichen Anteil mehr an dieser Entwicklung genommen. Sie hat offenbar vergessen können oder vergessen wollen, dass unter einer konstitutionellen staatsrechtlichen Ordnung die Grundbedingung staatsrechtlichen Wissens um eben eine solche verfassungsstaatliche Ordnung nur der philosophische Begründungszusammenhang mit einer vernunftbegründeten Rechts- und Staatstheorie sein kann, mit der einschlägigen praktischen Vernunftphilosophie und mit deren Entwicklung auf dem generellen Weg praktischer Transzendentalphilosophie.
36 Zu deren erkenntnistheoretischer Grundlegung E. Husserl, Logische Untersuchungen, 1901, ders., Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Logos I, 1910/1911, ders., Ideen zu einer reinen Phänomenologie I, 1913; dazu aus einer reichen Literatur Gadamer, Die phänomenologische Bewegung, Philosophische Rundschau11 (1963), 1 ff., Janssen, E. Husserl – Einführung in seine Phänomenologie, 1976, Rizzoli, Erkenntnis und Reduktion – Die operative Entfaltung der phänomenologischen Reduktion im Denken Edmund Husserls, 2008, Zahavi, Husserls Phänomenologie 2009. Im Zusammenhang einer geisteswissenschaftlichen Methode der Staatsrechtlehre Rennert (Fn. 5), 145 ff. Im gegenständlichen thematischen Zusammenhang einer betreffenden transzendentalphilosophischen, „nachkantischen“ Entwicklung der ursprünglichen praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat, speziell im Anschluss an deren ideengeschichtlich unmittelbare wissenschaftstheoretische Fortbildung bzw. Präzisierung durch Fichte (Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, 1976, 2. Aufl. 1922 hgg. von Medicus, Neudruck 1960, Philosophische Bibliothek, Bd. 256) siehe zu Grundlegung und Verständnis einer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie transzendentaler Phänomenologie Tietjen, Fichte und Husserl, 1980. 37 „Neue Wege der Ontologie“ (Nicolai Hartmann, 3. Aufl. 1949, Neudruck 1964) und in deren Rahmen speziell Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl. 1962. Im Übrigen und generell zu der betreffenden sogenannten Neuen Ontologie ders., Der Aufbau der realen Welt, 2. Aufl. 1949 und ders., Zur Grundlegung der Ontologie, 4. Aufl. 1965. Zu den dabei erkenntnistheoretisch vorausgesetzten Annahmen und Postulaten sowie zu den insofern einschlägigen ideengeschichtlichen Zusammenhängen und Grundlagen ders., Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 4. Aufl. 1949 und ders., Die Philosophie des deutschen Idealismus, 2. Aufl. 1960.
II. Die vergessene „Republik der Vernunft“ 1. – Zweifellos lässt sich das Vergessen der Staatsrechtslehre gegenüber der genuin mit der Vernunftkritik und mit deren praktischer Philosophie verbundenen, spezifisch vernunftbegründeten Ursprungs- und Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung einfach darauf reduzieren, dass jene authentische Vernunftidee vom Recht und vom Staat unter den objektiv eingetretenen geschichtlichen Voraussetzungen sowie unter den seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts fachspezifisch objektiv sich einstellenden ideengeschichtlichen Entwicklungen in der Staatsrechtslehre38 zu einer Singularität werden musste. Die Idee von einem konstitutionellen Staatsrecht und von einer verfassungsstaatlichen Ordnung ist einfach in der geschichtlichen Wirklichkeit und in der Ideengeschichte der Staatsrechtslehre einen anderen Weg gegangen als den von der Vernunftkritik und ihrer praktischen Vernunftphilosophie vorgezeichneten Weg von einer „Republik der Vernunft“.39 Es ist das Alleinstellungsmerkmal der Vernunftidee vom Recht und vom Staat geblieben, dass diese ihre Idee verfassungsstaatlicher Ordnung und vom Verfassungsstaat ausschließlich auf Vernunftgründe stützt, die im nachfolgenden und heutigen Sinne als fachspezifische, konstruktiv staatsrechtliche Vernunftgründe zu gelten haben. Verfassungsstaatliche Ordnung und Verfassungsstaat erscheinen demzufolge allein schon durch die praktische Vernunftidee vom Staatsrecht gefordert und gewährleistet, nicht erst aufgrund von entsprechenden Postulaten politischer Philosophie. Nach der praktischen Vernunftidee vom Recht und dieser folgend ist es also der betreffende Rechtsbegriff vom Staatsrecht selbst und als solcher, der eine verfassungsstaatliche Ordnung und den Verfassungsstaat als den „Staat in der Idee“ begründet und garantiert.40 Es ist gerade das unverwechselbare Kennzeichen vernunftbegründeter Verfassungsstaatlichkeit, dass sich die Vernunftidee vom „Staatsrecht“ und die Vernunftidee vom „Staat“ im fachspezifisch staatsrechtlichen Sinne kraft eines staatsrechtlichen Vernunftschlusses von selbst erklären und tragen. Nachweislich lässt sich dies anhand der im betreffenden originären, authentischen 38
Dazu Bartlsperger (Fn. 2), 168 m. Nachw. in Fn. 74. Zu der von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an beginnenden neueren ideengeschichtlichen Entwicklung der Staatsrechtslehre ders., a.a.O., 169 ff.; siehe in dieser Hinsicht auch zur betreffenden Entwicklung des staatsrechtlichen Formalismus im neunzehnten Jahrhundert Jouanjan, Savigny, Zschr. f. Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 125 (2008), 367 ff. 39 Dazu Kersting, Kant über Recht, 2004, 51 ff. sowie speziell zur „Republik der Vernunft“ ders., a.a.O., 97, unter ideengeschichtlicher Rückschau auf die betreffenden Staatsvertragslehren (a.a.O., 98 ff.) und in der vernunftrechtlichen Staatstheorie Kants (a.a.O., 125 ff.). Ferner Kley, Kants republikanisches Erbe, 2013. 40 Kant (Fn. 32).
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Darlegungszusammenhang begründeten Vernunftidee vom Recht sowie anhand der im gleichen Darlegungszusammenhang in ihrer regulativen Funktion für das „Staatsrecht“ als nicht wegdenkbar entwickelten praktischen Vernunftidee vom „Staat“ nachvollziehen und verständlich machen. 2. – Die in der bezeichneten Weise einzigartige praktische Vernunftidee von der staatsrechtlichen Ordnung eines republikanischen Verfassungsstaates steht nicht nur in einem prinzipiellen ideengeschichtlichen Gegensatz zu jeder Art einer vorgegebenen oder vorauszusetzenden Begründungsidee staatlicher Herrschaft, sei es dass eine solche an ihrer Statt angenommen oder auch nur in eine konstitutionelle Verbindung mit ihr gebracht werden sollte. Vielmehr markiert sie auch eine prinzipielle Korrektur bzw. Distanzierung, jedenfalls einen ideengeschichtlichen Abschied von den in der Epoche rationalen Denkens vorausgegangenen sogenannten modernen Staats- und Verfassungstheorien, die noch ausgehend von einer empirisch angenommenen Freiheit der Einzelnen die staatliche Herrschaft und deren staatsrechtliche Ordnung in der einen oder anderen Art auf die konstruktive Vorstellung und Voraussetzung eines herrschaftskonstituierenden Kontrakts bzw. einer Verfassungsvereinbarung begründet sowie legitimiert haben sehen wollen.41 Unbeschadet eines von jenen verfassungs- und staatstheoretischen Vertragstheorien auch weiterhin ausgehenden wirkungsgeschichtlichen und inspirativen Einflusses, namentlich was die spezifischen staatsrechtlichen Strukturen einer verfassungsstaatlichen Ordnung angeht, bedeutet die Vernunftidee vom „Staatsrecht“ und vom „Staat“ einen prinzipiellen Wandel und einen grundlegend neuen Ansatz für die Idee des Verfassungsstaates. Denn ihr Ausgangspunkt ist ein prinzipiell anderer, ein kraft Vernunft als „ursprünglich“ vorauszusetzender Rechtsbegriff individueller Freiheit und ihre rechts- sowie staatstheoretische Konsequenz ist die ganz andere Annahme einer aus einer solchen vernunftbegründeten Freiheitsidee a priori kraft Vernunftschluss hervorgehenden Vernunftidee vom Recht und vom Staat.42 Der praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat gilt die individuelle Freiheit im Sinne einer „Unabhängigkeit von eines Anderen nötigender Willkür“, sofern sie kraft Vernunft „mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“, als das „ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht“.43 Die hieraus resultierende rechts- und staatstheoretische Konsequenz ist ein von jener Vernunftidee der Freiheit ausgehender Vernunftschluss auf einen a priori notwendigen Rechtsbegriff. Dieser Rechtsbegriff bezieht sich ganz spezifisch „auf das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, d. h. „lediglich auf die Willkür des Anderen“ und er gilt ausschließlich der „Form im Verhältnis der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als frei betrachtet wird“; er richtet sich auf die Frage, „ob die Handlung Eines von beiden sich mit der Freiheit des Anderen nach einem allgemeinen Gesetze zusammen 41 42 43
Kersting (Fn. 39), 98 ff. Kersting, a.a.O., 125 ff. Kant (Fn. 3), S. 47.
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vereinbaren lasse.“ Danach bezeichnet der vernunftbegründete Rechtsbegriff in seinem ganz spezifischen Sinne den „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“44 Es handelt sich um den im spezifischen Sinne einer praktischen Vernunftidee zu verstehenden und fungierenden, den vernunftbegründeten „Rechtsbegriff“. Er unterscheidet sich in seiner das Recht betreffenden wissenschaftlichen Funktion von der bloßen empirischen „Rechtslehre“ der äußeren Gesetze und des verwirklichten positiven Rechts sowie von einer nur systematischen „Rechtswissenschaft“.45 Anders als diese gemeinhin als „juristisch“ geltenden Fachdisziplinen fungiert der vernunftbegründete Rechtsbegriff selbst als ein rechtsphilosophischer Begriff. Er will erklärtermaßen etwas darüber aussagen, ob Gesetze auch als „Recht“ gelten können und „woran man überhaupt, Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum), erkennen könne.“46 Die Voraussetzung, um zu solchen Urteilen gelangen zu können, also um die Grundlage einer möglichen positiven Gesetzgebung bestimmen zu können, sucht der vernunftbegründete Rechtsbegriff in der bloßen Vernunft, d. h. in deren Annahme eines „Allgemeinen Prinzips des Rechts“ von der Kompatibilität der Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit.47 Indessen neben diesem primären, spezifisch rechtsphilosophischen Bedeutungsgehalt des vernunftbegründeten Rechtsbegriffs, gehört zu diesem nicht weniger ein damit untrennbar verbundener staatstheoretischer Bedeutungsgehalt. Er erklärt und ergibt sich daraus, dass die in der Idee nach jenem vernunftgebotenen Rechtsbegründungsprinzip entstehenden, also die „Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen“ in der Idee vereinigenden Rechtsgesetze kraft dieser ihrer ideellen Vereinigungsfunktion und Vereinigungswirkung auch die betreffende „Menge von Menschen“ zum „Staat“ vereinigen; er ist in dieser seiner Vernunftidee die „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“,48 unter jenen in der Idee vernunftbegründeten Rechtsgesetzen. Also insofern diese „als Gesetze a priori notwendig, d.i. aus Vernunftgründen des äußeren Rechts überhaupt von selbst erfolgend (nicht statutarisch) sind,“ ist auch die Form des Staates „die Form eines Staates überhaupt, d.i. der Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll, welcher jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient.“49 Mit anderen Worten vermitteln die in der Idee jenem genannten allgemeinen Rechtsbegründungsprinzip genügenden Rechtsgesetze der unter ihnen entstehenden Vernunftidee vom Staat jene gleiche apriorische ideelle Allgemeinheit des Rechts als Vernunftidee. Die betreffende Vernunftidee des Staates ist selbstredend zu trennen von der unter ihr und kraft dessen 44 45 46 47 48 49
A.a.O., S. 38. A.a.O., S. 37. A.a.O., S. 37 f. A.a.O., S. 39. A.a.O., S. 129. A.a.O.
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ideeller Allgemeinheit vereinigten realen „Menge von Menschen“; diese bildet als das betreffende soziale und politische Kollektiv die real tragende Seinsschicht für die ihr ideal anhängenden Vernunftideen vom Staat und vom Recht.50 Beide, Recht und Staat als Vernunftideen, stehen in ihrer, wie gesagt, vernunftbegründeten objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit der betreffenden „Menge von Menschen“ und den betreffenden Einzelnen, im staatsrechtlichen Sinne normativ gegenüber. Es handelt sich um die nicht wegzudenkende staatstheoretische Konsequenz und Seite des vernunftbegründeten Rechtsbegriffs. Vor allem gilt es in diesem staatstheoretischen Zusammenhang festzuhalten und klarzustellen, welche Bedeutung die Vernunftidee des Staates für das zutreffende Verständnis jenes als Inbegriff vernunftbegründeten „Rechts“ fungierenden „Allgemeinen Prinzips des Rechts“51 zu beanspruchen hat. Denn die nach jenem vernunftbedingten Rechtsbegründungsprinzip gebotene, a priori gedachte Herstellung und Gewährleistung einer wechselseitigen rechtlichen Vereinbarkeit der Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit innerhalb einer betreffenden Menge von Menschen erschöpft sich nicht und endet nicht in einem bloßen intersubjektiven Rechtsdiskurs. Vielmehr vollzieht sich in den betreffenden jeweiligen Rechtserzeugungsvorgängen aufgrund und im Zuge von deren wechselseitiger Anerkennungswirkung und von deren Vereinigungseffekt stets auch die Bildung einer als objektive und eigenständige ideelle Allgemeinheit gedachten Vernunftidee vom Recht und vom Staat.52 Die Bedeutung und den Rang der fachspezifisch staatsrechtlichen Ursprungs- und Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung und des Verfassungsstaates kann diese Vernunftidee von Recht und Staat deshalb beanspruchen, weil allein sie in einzigartiger und eindeutiger Weise die Idee des Verfassungsstaates ausschließlich dadurch zu begründen vermag, dass dieser sich in der „ursprünglichen“ individuellen Freiheit der Einzelnen sowie in einer demzufolge fungierenden demokratischen Kompatibilitätsordnung von selbst trägt und somit letztlich schon allein aus einer Idee vom Staatsrecht selbst folgt. Eine in vergleichbarer Weise nur aus der rechts- und staatsphilosophischen Idee des Staatsrechts selbst begründete, von selbst folgende Idee vom Verfassungsstaat kennt die aus heutiger Sicht interessierende, neuere fachspezifische Ideengeschichte der Staatsrechtslehre, soweit in dieser Hinsicht und im Grundsatz überblickbar, nicht mehr. 3. – Bekanntlich hat auch schon die Philosophie des Idealismus selbst in ihrer wesentlich bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts dauernden Epoche im Zuge 50
In einer ontologischen Perspektive bilden die praktischen Vernunftideen vom Staat und vom Recht für die unter den betreffenden a priori notwendigen Rechtsgesetzen vereinigte Menge von Menschen die geistige Formgebung (Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, Fn. 37, 205 ff.). In dieser ontologischen Perspektive handelt es sich um die reale kategoriale Schichtungsgesetzlichkeit der Seinsidee vom Staat und vom Recht. 51 Kant (Fn. 3), S. 39. 52 Sogenannte Anerkennungslehre; dazu Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, 1979, insb. 22 f. und 32 ff. sowie die Erörterung bei Bartlsperger (Fn. 2), 155 ff. m. Nachw. zu Luf (a.a.O., Fn. 28 und 36). In der Sache schon bei Fichte (Fn. 36) und die betreffenden Nachw. dazu bei Bartlsperger, a.a.O., 156 f. Fn. 27.
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einer fundamentalen Ersetzung jener Metaphysik der Vernunft und ihrer praktischen Vernunftphilosophie die ganz andere Richtung einer Metaphysik des Geistes, d. h. einer Vernunftmetaphysik sowie einer dementsprechenden metaphysischen Geschichtsphilosophie eingeschlagen53 und dabei eine auch der staatsrechtlichen, verfassungsgeschichtlichen Epoche entsprechende Abkehr von der Idee eines republikanischen Verfassungsstaates erklärtermaßen hin zum monarchischen Prinzip vollzogen.54 Diese philosophiegeschichtliche Entwicklung mag angesichts ihres bekanntermaßen beträchtlichen ideellen Einflusses auch im verfassungsgeschichtlichen Zusammenhang einen Beitrag dazu geleistet haben, dass die Vernunftidee einer „Republik der Vernunft“ ideengeschichtlich in Vergessenheit geraten ist. Aber in fachspezifisch staatsrechtlicher Hinsicht haben ohnedies ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in den ideengeschichtlichen Ansätzen und in den Anlässen ganz andere eigene Entwicklungen begonnen. Der von da an in der Staatsrechtlehre für das Staatsrecht der spätkonstitutionellen Epoche zu maßgeblicher Bedeutung gelangte staatsrechtliche Positivismus55 ist in seiner wissenschaftstheoretischen Herkunft aus der Historischen Rechtsschule und aus deren zivilistischer Begriffsjurisprudenz56 sowie aufgrund seines dementsprechenden bloß „juristischen“ Staatsbegriffs an sich indifferent in Bezug auf die Idee des Verfassungsstaates angelegt, aber in seinem entwickelten staatsrechtlichen Konzept und System einer Idee staatlicher Herrschaft nach dem monarchischen Prinzip bzw. nach dem staatsrechtlichen Modell einer konstitutionellen Monarchie verpflichtet gewesen.57 Das staatstheoretische Begründungsprinzip staatlicher Herrschaft ist auch in dem am Ende der spätkonstitutionellen Epoche um eine bekannte „Allgemeine Staatslehre“ 53 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 1807 (hier suhrkamp taschenbuch wissenschaft 603, 1986). 54 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821 (hier suhrkamp taschenbuch wissenschaft 607, 1986). 55 Bekanntlicher Ausgangspunkt bei v. Gerber, Über öffentliche Rechte, 1852, ders., Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts, 1865, 3. Aufl. 1880; im Übrigen ders., Über deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft (1851, 1855, 1865), in: ders., Gesammelte Juristische Abhandlungen, 2. Aufl. 1865; kongenial v. Ihering, Unsere Aufgabe, Iherings Jahrbücher 1 (1857), 1. ff. sowie insofern der Briefwechsel zwischen v. Gerber und v. Ihering (Losano, Der Briefwechsel zwischen Ihering und Gerber, 1864). Zur Methode des staatsrechtlichen Positivismus und zu der betreffenden „Dogmatik“ des Staatsrechts dann Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, 5. Aufl. 1911, Neudruck 1964 (Vorwort zur 2. Aufl.). Im Übrigen weitere ausführliche Nachw. bei Bartlsperger (Fn. 3), 33 f. und dems. (Fn. 2), 170 ff. 56 Dazu bei Bartlsperger (Fn. 3), 32 f. mit ausführlichen Nachw. in den Fn. 41 bis 46 sowie ders. (Fn. 2), 171 f. 57 Bartlsperger, a.a.O., 170 f. und speziell ders., Das subjektive öffentliche Recht als Apriori des Verfassungsstaates, Festschrift Schenke, 2011, 17/28 f. mit speziellen Nachw.; siehe besonders v. Gerber, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts (Fn. 55), 22 bzw. 73 f. sowie grundlegend schon ders., Über öffentliche Recht (Fn. 55), allenthalben anlässlich der dortigen Rechtskonstruktion „Öffentlicher Rechte“ auf der Grundlage und innerhalb der staatsrechtlichen Ordnung eines monarchischen Staates und von dessen „Untertanen“.
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entstandenen, aber über die Epoche hinaus in vielfacher Hinsicht wirkungsträchtig gebliebenen staatstheoretischen Werk bestimmend geworden.58 Allein schon der dabei ebenfalls aus wissenschaftstheoretischen Gründen vertretene und geforderte „juristische“ Staatsbegriff teilt den prinzipiellen Gegensatz neukantischer Erkenntnistheorie gegenüber einer praktischen Vernunftphilosophie überhaupt und gegenüber deren Vernunftidee vom Recht und vom Staat. Eine gewisse Wendung im prinzipiellen Verständnis staatlicher Herrschaft hin zu einer rechtsstaatlichen Bindung derselben bedeutet in jenem staatstheoretischen Werk eine sogenannte Selbstverpflichtungslehre, die von einer dem Recht inhärenten Zusicherung rechtmäßiger Herrschaftsausübung ausgeht. Aber auch dabei versperrt sich jene Staatslehre den Zugang zu einer vernunftbegründeten verfassungsstaatlichen Idee schon in ihrem spezifischen Ansatz von einem „System der subjektiven öffentlichen Rechte“, das seine Grundlage gerade nur in einer herrschaftlichen Statusverleihung durch den Staat sucht.59 Es fehlt somit an einem Grundverständnis für die Idee des Verfassungsstaates, für dessen Grundbedingung einer angeborenen individuellen Freiheit, für „dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht.“60 Angesichts dieser die spätkonstitutionelle Epoche in fachspezifisch staatsrechtlicher Hinsicht wesentlich kennzeichnenden staats- und verfassungstheoretischen Entwicklung war die vernunftbegründete Ursprungs- und Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung darauf verwiesen, eine allenfallsige Wirkungsgeschichte als politische Idee entfalten zu können. An dieser ideengeschichtlichen Situation haben auch die noch im Ausgang der spätkonstitutionellen Epoche gegen die beiden genannten formalistischen Staatsrechtslehren gerichteten organischen Rechts- und Staatstheorien61 nichts geändert; denn auch an diesen ist nicht erkennbar, dass sie eine fachspezifisch staatsrechtliche, aus einer Idee vom Staatrecht selbst konstruktiv entwickelte Vorstellung konstitutioneller, verfassungsstaatlicher Ordnung gesucht hätten, wie sie die Vernunftidee vom Staatsrecht und vom Staat entwickelt hatte. Inwiefern und inwieweit schließlich die Vernunftidee und die Vernunftbegründung einer verfassungsstaatlichen Ordnung in den 58
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1900), 3. Aufl. 1913 sowie im gegenständlichen Zusammenhang wesentlich ders., System der subjektiven öffentlichen Rechte (1892), 2. Aufl. 1905; eine angenommene Herrschaftstheorie des Staates ist Ausgangspunkt und Grundlage für die sogenannte Statuslehre subjektiver öffentlicher Rechte, welche für diese von einer staatlichen Freiheits- bzw. Rechtsgewährleistung durch den herrschaftlichen Staat ausgeht. Zu den im Übrigen vor allem wegen seiner erkenntnistheoretisch-wissenschaftstheoretischen bzw. methodologischen Zwei-Seiten-Lehre von einem „juristischen“ Staatbegriff und einer Sozialtheorie des Staates bekannten Werk siehe aus einem betreffenden umfangreichen Schrifttum Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, 2000 sowie die Beiträge in Paulson/ Schulte (Hg.), Georg Jellinek, 2000. 59 Siehe Fn. 58. 60 Kant (Fn. 3), S. 47. 61 Vor allem O. v. Gierke, ZgStW 30 (1874), 153 ff., ders., Grünhuts Zschr. 6 (1879), 221 ff., ders., Schmollers Jbch 7 (1883), 1 ff.; ferner Haenel, AöR 5 (1890), 457/471 ff., ders., Deutsches Staatsrecht, Erster Band, 1892 sowie bei Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band, 1992, 354 ff. und dort weitere Nachw. 357 Fn. 261.
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konstitutionellen bzw. singulär auch radikaleren politischen Bewegungen der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, vor allem während des sogenannten Vormärz und im Verlaufe der revolutionären Vorgänge von 1848/49, auch tatsächlich Einfluss ausüben konnten, ist kein Gegenstand der vorliegenden, fachspezifisch staatsrechtlichen Thematik mehr. Im Anschluss an diese Beobachtungen zur konstitutionellen Epoche lässt sich feststellen, dass auch in der weiteren ideengeschichtlichen Entwicklung der Staatsrechtslehre nach dem Ende jener konstitutionellen Epoche und nach dem Übergang zur republikanischen Staatsform die Idee des Verfassungsstaates innerhalb des fachspezifischen Bereichs der Staatsrechtslehre auf die Bedeutung einer politischen Idee beschränkt geblieben ist, dass sie jedenfalls keine genuin staatsrechtliche Begründung mehr aus einer rechts- und staatsphilosophischen Idee vom Staatsrecht bzw. aus seinem Rechtsbegriff selbst erlebt hat, wie dies durch die Vernunftidee von Recht und Staat in der dargelegten Weise geschehen war. Jedenfalls kann auch zu den im Rahmen des sogenannten Weimarer Methodenstreits62 ausgetragenen methodologischen Verwicklungen und für die betreffenden Auffassungen innerhalb der Staatsrechtslehre sowie für die betreffenden präpositiven, bis heute fortwirkenden Standpunkte festgestellt werden, dass unbeschadet von hierbei ganz entschieden verfolgten politischen Ideen und Absichten einer verfassungsstaatlichen, freiheitlichen und vor allem demokratischen Verfassungsordnung63 jedenfalls die jeweiligen Konsequenzen und Annahmen zur staatsrechtlichen Ordnung im Hinblick auf eine Verwirklichung der Idee verfassungsstaatlicher Ordnung bzw. des Verfassungsstaates sich als indifferent darstellen. Signifikant steht hierfür zum einen die neukantische Rechtstheorie,64 im Bereich der Staatsrechtslehre die bekannte normlogische Rechts- und Staatstheorie.65 In deren staatsrechtlicher Gleichsetzung des Staates mit der Rechtsordnung in einem norm62
Nachw. Fn. 5. Kelsen, VVDStRL 3 (1927), 54 und ders., Der Staat als Integration, 1930, 58 ff., 81 ff., 87, 91 sowie dazu Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986, 2. Aufl. 1990, 249 ff., 284 ff., 293 f., 299 und bei Lepsius, Die Wiederkehr Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre (Fn. 6), 354, 371. Zu der betreffenden speziell politischen Kritik an der sogenannten Integrationslehre siehe die Nachw. bei Bartlsperger (Fn. 5), Festschrift Steiner, 31/34 Fn. 11. 64 Philosophische Grundlegung im frühen Neukantianismus: Cohen, Ethik des reinen Willens, 1904, ders., Logik des reinen Erkennens, 2. Aufl. 1914; dazu Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, 1963, 102 ff., 113 ff. und C. Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, 1994 sowie weitere Nachw. bei Bartlsperger (Fn. 2), 176 (Fn. 95). Grundlegende Kritik an der betreffenden normlogischen Rechts- und Staatstheorie ferner im Rahmen des sogenannten Weimarer Methodenstreits bei Heller, Die Krisis der Staatsrechtslehre, 1926, in: ders., Gesammelte Schriften II, 1971, 3/15 ff. 65 Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1911), 2. Aufl. 1923, Neudruck 1960, ders., Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 1922, ders., Allgemeine Staatslehre, 1925, ders., Der Staat als Integration, 1930, ders., Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, 1934, hgg. und eingeleitet von Jestaedt, 2008. Weitere Nachw. bei Jestaedt (Hg.), Hans Kelsen im Selbstzeugnis, 2006, 97 ff. und Bartlsperger (Fn. 5), 30/34; ferner Möllers (Fn. 6), 36 ff., Paulson/Stolleis (Hg.), Hans Kelsen, Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, 2005. 63
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logischen, formalistischen Sinne sowie mit der folgerichtigen rechtstheoretischen Annahme einer stufenmäßig sukzessiven voluntaristischen Rechtserzeugung vertritt sie eine dezisionistische Rechtstheorie. Damit verfolgt sie erklärtermaßen einen politischen Anspruch, der sich gegen eine Vermittlung verfassungsstaatlicher Freiheit durch den Staat, gegen eine material rechtsstaatliche Verfassungsbindung demokratischer Institutionen und Verfahren richtet, der diese als antiliberal, antiparlamentarisch und demokratiefeindlich beurteilt.66 Aber in der genannten, beschriebenen normlogischen Idee vom Staatsrecht mit der in erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretischer Hinsicht dem strikten Neukantianismus folgenden, gegen eine praktische Vernunftidee von Recht und Staat gerichteten Grundlegung erweist sie sich als indifferent gegenüber jeder Art von staatsrechtlich konstruktiver Herrschaftsbegründung. In dieser staats- und verfassungstheoretische Hinsicht kann indessen auch die im Rahmen des sogenannten Weimarer Methodenstreits sich am entschiedensten artikulierende Gegenposition gegen die normlogische Rechts- und Staatstheorie, da sie den Staat bzw. die Staatsgewalt als organisatorische Entscheidungs- und Wirkungseinheit sowie im Verhältnis zum Recht nur als „rechtlich organisierte politische Macht“ definiert,67 keine andere Beurteilung erfahren. Erklärtermaßen handelt es sich bei jener „Staatslehre“ um eine politikwissenschaftliche, soziologische Erfassung des Staates, die sich im Grunde von einer Staatsrechtslehre und Staatsrechtswissenschaft getrennt sieht und insofern auch keinen Beitrag zur seinerzeitigen Methodenfrage der Staatsrechtslehre zu liefern vermochte.68 Sie verfolgt das politische Anliegen, den Staat als demokratische Organisation und Entscheidungsinstanz gegenüber Politik und Wirtschaft sowie als Instanz zur Gestaltung sozialer Gerechtigkeit zu begreifen. Im Ergebnis führt sie zu einem gleichen staatsrechtlichen Dezisionismus wie die von ihr bekämpfte normlogische Rechtsund Staatstheorie. In einer ideengeschichtlichen Verbindung zu jener „Staatslehre“ steht bekanntlich die das Spektrum zeitgeschichtlicher Staatskritik nicht zum geringsten repräsentierende Verfassungstheorie von einer Ersetzung des Staatsbegriffs durch eine organisationsrechtliche Anstaltskonstruktion, deren Verfassungsorgane einem Prinzip politischer Demokratie folgen.69 In der betreffenden politischen Motivation und Absicht geht es um die prinzipielle Abwehr einer Verfassungspraxis rechtsstaatlicher Demokratie, die den demokratischen Prozess und die individuelle Freiheitsverwirklichung auf der Grundlage eines etatistischen, materialen Verfassungsbegriffs, einer materialen Methode der Staatsrechtslehre sowie in Form dem66
Fn. 63 und 64. Heller (Fn. 64) sowie ders., Staatslehre (1934), bearb. von Niemeyer, 6. Aufl. 1983 und ders., AöR 55 (1929), 31 ff.; zeitgeschichtlich vor allem Böckenförde, Organ, Organisation, Juristische Person, in: Menger u. a. (Hg.), Fortschritte des Verwaltungsrechts, Festschrift H. J. Wolff, 1963, 269/292 ff.; ferner bei Bärsch, Der Staatsbegriff in der neueren deutschen Staatslehre und seine theoretischen Implikationen, 1974, 94 ff., Somek, Verfassungssystem und Politik, 1992, 521 ff., Stolleis (Fn. 5), 183 ff., Lepsius, Die Wiederkehr Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre (Fn. 6), 366 ff., Möllers (Fn. 19), 84 ff., 428. 68 Bartlsperger (Fn. 2), 186 ff. 69 Böckenförde (Fn. 67). Dazu Bartlsperger, a.a.O., 188 ff. 67
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entsprechender jurisdiktioneller Institutionen und Verfahren zu beschränken und zu binden erlaubt. Beide genannten organisationsrechtlichen Staats- bzw. Verfassungstheorien sehen sich in ihrem betreffenden und genannten Sinne dezidiert der Idee verfassungsstaatlicher Ordnung politisch verpflichtet; in der fachspezifisch staatsrechtlichen Konstruktion jedoch erweisen sie sich jeder staatsrechtlichen Herrschaftsbegründung offen. Ihr verfassungsstaatliches Postulat ist keine Sache einer Idee vom Staatsrecht, sondern politische Philosophie. Schließlich ist in diesem thematischen Zusammenhang der gleiche kritische Blick auf die Bedeutung der sogenannten geisteswissenschaftlichen Richtung im Sinne des Weimarer Methodenstreits der Staatsrechtslehre für eine staats- und verfassungstheoretische Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung zu richten. Zweifellos können jene sogenannten geisteswissenschaftlichen Richtungen70 des sogenannten Weimarer Methodenstreits beanspruchen, dass sie von Seiten der Staatsrechtslehre kraft ihrer wissenschaftstheoretisch methodologischen geistesgeschichtlichen Annahmen in ideengeschichtlicher Hinsicht eine wesentliche und grundlegende Voraussetzung vorbereitet haben für das unter dem Grundgesetz zur maßgeblichen Verfassungspraxis gewordene materiale Verfassungsverständnis sowie für den entsprechenden Verfassungszustand einer rechtsstaatlich gebundenen und beschränkten Demokratie und von deren jurisdiktioneller Gewährleistung. Was die hierfür konstruktiv konstituierende regulative Idee des Staates angeht, kann vor allem die seinerzeitige Integrationslehre71 mit ihrer staatsrechtlichen Begründungsidee von einer ideellen Seinsweise des Staates und der staatsrechtlichen Ordnung den betreffenden eigentlichen wirkungsgeschichtlichen Beitrag für sich beanspruchen, ungeachtet einer zwischenzeitlich bewusstseinsmäßigen Verselbständigung jener staats- und verfassungstheoretisch grundlegenden Idee. Aber was die staats- und verfassungstheoretische Idee der Integrationslehre und was erst recht die spezifisch methodologischen Auffassungen jener geisteswissenschaftlichen Richtung im Übrigen angeht, handelt es sich um keine spezifisch aus einer Idee des Staatsrechts und aus einem Rechtsbegriff selbst begründeten Ideen verfassungsstaatlicher Ordnung und des Verfassungsstaates. Also auch diese innerhalb der methodologischen Verwicklungen der Staatsrechtslehre ideengeschichtlich geisteswissenschaftliche Richtung erweist sich in staatsrechtlich konstruktiver Hinsicht 70
Rennert (Fn. 5). Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, zwischenzeitlich verwendet in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl. 1968, S. 119 ff.; ferner ders., in: Berliner Juristische Fakultät, Festgabe Kahl, 1923, S. 68 ff., ders., VVDStRL 4 (1928), S. 44 ff., ders., Integrationslehre, Handbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 3 (1956), S. 299 ff. und ders., Integration, Ev. Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 1024 ff. Zur Integrationslehre Bartlsperger, Die Integrationslehre Rudolf Smends als Grundlegung einer Staats- und Rechtstheorie, Diss. Erlangen 1964 und Rennert (Fn. 5), 141 ff. und 214 ff.; Nachweise zu weiteren Publikationen um die Integrationslehre und zu deren Fortentwicklungen bei Mols, AöR 94 (1969), 513 ff. und Korioth, Integration und Bundesstaat, 1990, 16 ff. Speziell von Seiten einer interessierten und vornehmlich kritisch engagierten Politik- und Sozialwissenschaft die Nachw. bei Bartlsperger (Fn. 5), 32 (Fn. 4), 34 (Fn. 11) und 42 (Fn. 35). 71
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II. Die vergessene „Republik der Vernunft“
letztlich offen und indifferent in Bezug auf die staatsrechtliche Herrschaftsbegründung überhaupt. Verfassungsstaatliche Ordnung und Verfassungsstaat sind im Grundgesetz sowie in der zeitgeschichtlichen Rechtslehre und Rechtswissenschaft geschichtlich verankert. Die Staatsrechtslehre und die Staatsrechtswissenschaft haben dazu im Laufe der Verfassungsentwicklung in herausragender Weise ihren Beitrag geleistet. Aber es kann nicht davon gesprochen werden, dass hierbei auch schon eine staats- und verfassungstheoretische Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung und des Verfassungsstaates aus der Idee des Staatsrechts und aus dem Rechtsbegriff selbst erwachsen wäre. Im Gegenteil gehören, wie eingangs anzusprechen war, gerade staatstheoretische Defizite sowie Erscheinungen einer fundamentalen Staatskritik zum Bild gegenwärtiger Staatsrechtslehre. Im Übrigen handelt es sich um eine Thematik, die sich gar nicht allein, zum Teil auch gar nicht wesentlich der Staatsrechtslehre selbst verdankt. Vielmehr wollen sich eine verfassungstheoretisch interessierte Politikwissenschaft sowie eine dem Verfassungsleben zugewandte Sozialwissenschaft in der Verantwortung sehen für ein staatskritisches Verständnis Verfassung staatlicher Ordnung, für einen Verfassungsstaat ohne Staat. Dies bedeutet für die Staatsrechtslehre eine Herausforderung, die keine geringe Aufmerksamkeit zu beanspruchen hat. 4. – Es kann indessen keine Rede davon sein, dass das staats- und verfassungstheoretische Verständnis der Gegenwart von Seiten einer einschlägig engagierten zeitgeschichtlichen Politik- bzw. Sozialwissenschaft72 in einer Weise befördert worden sein könnte, die den eigentümlichen, ideellen Voraussetzungen und Grundlagen der verfassungsstaatlichen Ordnung und der Staatsrechtslehre in Deutschland gerecht zu werden vermöchte. Zu einem fachspezifisch staatsrechtlichen Verständnis des Verfassungsstaates aus der erörterten, ideengeschichtlich als maßgeblich anzusehenden regulativen praktischen Vernunftidee vom geschichtlichen Recht und Staat finden sie jedenfalls keinen Zugang. Man scheint von jener Seite die betreffende staats- und verfassungstheoretische Fragestellung überhaupt nicht in ihrer fachspezifischen staatsrechtlichen Bedeutung und Thematik verstehen zu wollen. Vielmehr muss sich die Staatsrechtslehre von jener politik- bzw. sozialwissenschaftlichen Seite in eine Richtung gedrängt sehen, die an ihren ganz besonderen ideengeschichtlichen Voraussetzungen und Grundlagen praktischer Vernunft vorbeigeht und demzufolge auch deren gegenwärtige Situation und Funktion unter der Verfassungsordnung des Grundgesetzes verfehlen muss. Zutreffend allerdings scheint sich in den betreffenden, naturgemäß stattfindenden fachlichen Grenzüberschreitungen von Seiten der gegenwärtigen Politik- bzw. Sozialwissenschaft in die fachspezifische Staatsrechtslehre, namentlich in die jenen Fachdisziplinen nächstliegende Verfassungslehre hinein, die Problematik und die Herausforderung zu artikulieren, mit denen sich eine Staats- und Verfassungstheorie unter der staatsrechtlichen Ordnung des Grundgesetzes angesichts des in dieser Verfassungsepoche sich entwickelnden und profilierenden demokratischen Bewusstseins 72 Dazu repräsentativ in Bezug auf die sogenannte Integrationslehre die betreffenden, in Fn. 71 aufgeführten Nachw. bei Bartlsperger (Fn. 5).
II. Die vergessene „Republik der Vernunft“
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konfrontiert sieht. Offenkundig handelt es sich dabei um eine weder in der an methodischen Kontroversen reichen Ideengeschichte der Staatsrechtslehre aufgearbeitete noch in der aktuellen Verfassungssituation wirklich bewältigte staats- und verfassungstheoretische Fragestellung und Aufgabe. Es geht darum, den aus der praktischen Vernunftkritik, aus der betreffenden transzendentalphilosophischen Ursprungs- und Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung in Deutschland überkommenen Vernunftbegriff des Staates, den „Staat in der Idee“, sowie eine dementsprechende vernunftbegründete, an einem Staatsbegriff als regulativer Idee orientierte Staatsrechtslehre mit den sich im kollektiven Bewusstsein des politischen Lebens fortschreitend entwickelnden Vorstellungen und Anforderungen einer demokratischen Verfassungsordnung in einen verstehbaren und akzeptablen Einklang zu bringen. Hierzu scheint weder eine darauf gerichtete politik- bzw. sozialwissenschaftliche Staatskritik auf dem geeigneten Weg zu sein noch eine in der Staatsrechtslehre aktuell sich formierende Staatsverneinung.73 Gemeinsam ist diesen beiden Positionen und Bestrebungen eine Entgegensetzung von Demokratie und Staat in Verkennung der verfassungstheoretischen Funktion, die einem Staatsbegriff als praktischem Vernunftbegriff, dem „Staat in der Idee“, als ideeller regulativer Grundlage verfassungsstaatlicher Ordnung unter den kulturgeschichtlichen Bedingungen in Deutschland sowie unter der in dieser ideengeschichtlichen Tradition stehenden staatsrechtlichen Ordnung des Grundgesetztes zukommt. Im Zeichen einer demokratischen Staatsverneinung besteht eine Situation der staats- bzw. verfassungstheoretischen Herausforderung an die Staatsrechtslehre, welche sie in der genannten Beziehung ungerüstet antrifft. So musste es zu fachlichen Grenzüberschreitungen von Seiten der Politik- und Sozialwissenschaft kommen.
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Zur Letzteren oben unter I.2.
III. Demokratie versus Staat – Herausforderung an Staatsrecht und Staatsrechtslehre 1. – Fachliche Grenzüberschreitungen von Politikwissenschaft und einschlägiger Sozialwissenschaft in die Staats- bzw. Verfassungslehre der Staatsrechtslehre hinein gehören naturgemäß zum Gegenwartsbild der Ersteren und zum heutigen Umfeld der Letzteren. Zeitgeschichtlich signifikant ist indessen die aktive Rolle der politik- bzw. sozialwissenschaftlichen Seite in der dezidierten Absicht einer kritischen Beurteilung der Beziehung von Staatsbegriff und Demokratie in ideengeschichtlicher und verfassungsgeschichtlicher Hinsicht sowie letztlich in ihrer aktuellen Bedeutung für die staatsrechtliche Ordnung und die Verfassungspraxis unter dem Grundgesetz.74 Der betreffenden Politikwissenschaft erscheinen der „Verfassungsstaat als Staatsbegriff“ sowie eine dementsprechende Staatsorientierung verfassungsrechtlicher Ordnung und staatsrechtlicher Methode als typischer Problemfall eines zweifellosen eigenständigen Weges von Staatslehre und Staatsrechtslehre in Deutschland sowie einer hierdurch vermeintlich zu beklagenden mangelnden Anschlussfähigkeit.75 Noch der staatsrechtlichen Ordnung und dem Verfassungszustand unter dem Grundgesetz wird ein von daher nachwirkendes Dilemma der Demokratie in
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Repräsentativ, nicht zuletzt in der plakativen Argumentation, die betreffende Staatskritik bei Sontheimer, ARSP 46 (1960), 39 ff., Friedrich, PVS 1972, 582 ff. (beide vor allem anknüpfend an die Weimarer Staatsrechtslehre), Bracher, Demokratie als Herrschafts- und Lebensform, 1959 und ders., PVS 1968, 2 ff. sowie ausführlich Haltern, JöR 45 (1997), 31 ff.; kennzeichnend erscheinen an der betreffenden Staatskritik deren Tenor, dass „in einem strengen Sinne in der Demokratie der Staat nicht existiert“ (Friedrich, Demokratie als Herrschafts- und Lebensform, 22 und erklärtermaßen zustimmend Bracher, PVS 1968, 26), ferner die Forderung, „der pluralistischen Gesellschaft selbst einen angemessenen Platz im politischen Prozess einzuräumen“, sowie „insofern etwa das Zugeständnis einer größeren Rolle für die gereifte deutsche Zivilgesellschaft“, schließlich das Anraten an die Rechtswissenschaft, „hier und dort die Erkenntnisse der Nachbarwissenschaften zu berücksichtigen, um nicht ohne es zu wollen, in den Theoriebereich der kleinstmöglichen Reichweite zu geraten“ (Haltern, a.a.O., 86 f.). Die „entscheidenden Wendepunkte unserer neueren Geschichte“ sollen überhaupt „wesentlich dadurch bedingt sein, dass in der ,herrschenden Lehre‘ und politischen Meinung Staatsbegriff und Demokratieverständnis auseinanderfallen und entweder in Konfrontation oder doch in ein scharfes Unterordnungsverhältnis zueinander treten“ (Bracher, PVS 1968, 2). Zum Thema auch Grawert, Vom Staat zur Demokratie, Festschrift Eckart Klein, 2013, 65 ff. 75 Bracher, PVS 1968, 4 f., auch unter Hinweis auf eine Beurteilung, wonach „die deutsche Idee der Freiheit auch bei der Mehrheit der Liberalen früh und zunehmend belastet war von der Anschauung des Staates als einer übergesellschaftlichen Ordnungsmacht, die Einheit und Funktionsfähigkeit Macht und Schutz zugleich verbürgte und jenseits der Parteiungen stand.“
III. Demokratie versus Staat
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Deutschland angekreidet.76 Im Hinblick auf Entwicklung und Zeitgeschichte von Staatsrechtslehre bzw. Staatstheorie wird eine „idiosynkratische Beziehung“ der Deutschen zur Demokratie und eine „etatistische Tradition“ konstatiert. Einer programmgebenden Äußerung zufolge will demgegenüber die betreffende Politikwissenschaft als „Wissenschaft für die Demokratie“ einen Beitrag dazu leisten, dass „ein gesellschaftlich offenes, entschieden demokratisches, nicht länger unpolitisches Staatsverständnis Gemeingut“ wird.77 Die derart politikwissenschaftlich formulierte Programmatik einer Verfassungslehre erklärt sich ersichtlich als Folge und Ausdruck eines bekanntermaßen „westlichen“ Verfassungsdenkens, eines Verständnisses verfassungsrechtlicher Ordnung ausschließlich aus der in der ideengeschichtlichen Tradition der vernunftnaturrechtlichen Staatsvertragslehren stehenden „Verfassung“ allein und als solcher, nicht aus einer Idee des „Staates“. Diese Auffassung einer Entgegensetzung von Verfassung und Staat unterscheidet sich grundlegend von den ideengeschichtlichen Voraussetzungen und Grundlagen verfassungsstaatlicher Staatsrechtslehre in Deutschland, die in ihrer Ursprungs- und Begründungsidee der praktischen Philosophie transzendentalphilosophischer Vernunftkritik zuzurechnen sind; sie sind von einer kulturgeschichtlich ganz anderen, nämlich originären Vernunftbegründung verfassungsstaatlicher Ordnung sowie von einem praktischen Vernunftbegriff des Staates bestimmt. Die nachfolgende ideengeschichtliche Entwicklung ist allerdings gerade von dem bekanntermaßen methodologisch kontroversen Ringen der Staatsrechtslehre um die staatsrechtliche, d. h. um die „juristische“ Bedeutung eines solchen Staatsbegriffs geprägt. 2. – Was die betreffenden politikwissenschaftlichen Beurteilungen und Standpunkte zu Fragen der spezifisch auch staatsrechtlichen Staats- bzw. Verfassungstheorie in näherer Hinsicht angeht, erscheint im vorliegenden Zusammenhang eine zusammenfassende Vergegenwärtigung genügend. Zu der genannten, von einer „westlichen“ Verfassungsanschauung inspirierten demokratietheoretischen Perspektive haben sich aus erkennbar eigenständiger politischer Motivation kommende fundamentaldemokratische Positionen gesellt.78 Im Übrigen hat ersichtlich eine Argumentationsverlagerung hin zu einem zeitgeschichtlich wahrgenommenen konkreten, realen Zustand in den Aktivitäten und im Bewusstsein des politischen Kollektivs stattgefunden, die dem theoretischen Meinungsbild eine neue Akzentuierung und Gewichtung geben soll. Demzufolge hat eine real erkennbare, in der politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit sowie im kollektiven Zustand des Rechts- und Verfassungslebens als beherrschend wahrgenommene Dissens- und 76 Es wird von einer deutschen Lesart des „Neo-Pluralismus“ gesprochen, der den Staat als gemeinwohlorientiertes Entscheidungszentrum verlange und in dieser seiner Variante des Pluralismus die „anti-etatistische“ Stoßrichtung verloren habe, also einer etatistischen Tradition folge (Haltern, Fn. 74, 37 f. und 88). 77 Bracher, PVS 1968, 2/27. 78 Bärsch, Der Staatsbegriff in der neueren deutschen Staatslehre und seine theoretischen Implikationen, 1974, 7, 17 ff., 102 ff., 122 ff. sowie die Nachw. zu Maus, in: Bartlsperger (Fn. 2), 159 Fn. 42.
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III. Demokratie versus Staat
Konfliktsituation jede staatliche Einheits- und Ganzheitskonzeption im Verfassungsdenken auszuschließen.79 Für das Staatsrecht bzw. für die Staatsrechtslehre, soll sich eine Idee des Staates verbieten, welche diesen im Sinne der erörterten transzendentalphilosophischen Ursprungs- und Begründungsidee des Verfassungsstaates in Deutschland als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ und als Richtschnur „jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen“80 begreifen möchte. Anstelle des Staates als praktischem Vernunftbegriff, anstelle des Staates „in der Idee“, d. h. des Staatsbegriffs als regulativer Idee von Staatsrecht und Staatsrechtslehre, soll ein als sinnliche Erscheinung vorhandenes, verstandesmäßig erfassbares kollektives Faktum politischen Dissenses und Konflikts als Sinnprinzip einer heutigen demokratischen Verfassungsordnung gelten. Eine solche Beurteilung, die sich auf eine Beobachtung und Interpretation der Erfahrungswelt des realen Staats- und Verfassungslebens stützen möchte, erscheint als fachspezifische Perspektive der Sozial- bzw. Politikwissenschaft sowie als Grundlage von deren empirischer Wissenschaftstheorie verstehbar und insofern stimmig. Aber so wie sie offensichtlich und bekundetermaßen gemeint ist, dass sie nämlich in einem weitergehenden und umfassenden Sinne auch die Seinsweise des Staatsrechts und des Staates in dessen fachspezifisch staatsrechtlichem Sinne betreffen sowie als Grundlage der speziellen Wissenschaftstheorie der Staatsrechtslehre gelten soll, erhebt sie den Totalanspruch eines naturalistischen Weltbildes; es handelt sich um einen auch das Staatsrecht und den Staat im staatsrechtlichen Sinne einbeziehenden naturalistischen Dogmatismus. In diesem besonderen Falle, und zwar speziell aus dem Kreise der betreffenden Staatsrechtslehre, rechtfertigt er sich aus der bekannten prinzipiellen Ablehnung praktischer Vernunftphilosophie durch den Neukantianismus und auf Seiten einer entsprechenden Rechtstheorie.81 Im Ergebnis vollziehen jene Auffassungen eine wissenschaftstheoretische Grenzüberschreitung von der Erfahrungswissenschaft auf das Gebiet einer „praktischen“ transzendentalen Idee. Die staatsrechtliche Ordnung des Verfassungsstaates soll sich auf eine naturalistische Perspektive reduzieren; sie verschließt sich entschieden einer „philosophischen“ Frage nach der Idee einer aus dem realen Staats- und Verfassungsleben vernunftnotwendig hervorgehenden, vom betreffenden konkreten sozialen und politischen Kollektiv getragenen und diesem „ideal anhängenden“, eigenständigen ideellen Existenz des Verfassungsstaates und seiner staatsrechtlichen Ordnung sowie einer dementsprechenden objektiven Normativität des Staatsrechts. Das naturwissenschaftliche Weltbild nimmt bei einer solchen Erstreckung auf das Staatsrecht das 79 Dreier, in: Hufen (Hg.), Verfassung – zwischen Recht und Politik, Festschrift H.-P. Schneider, 2008, 70 ff.; zu der betreffenden Thematik Bartlsperger (Fn. 5) ausgehend von der dabei angegriffenen staatstheoretischen Position der sogenannten Integrationslehre. 80 Kant (Fn. 3), 129 (§ 45). 81 Unter diesen Gesichtspunkten zur normlogischen Rechts- und Staatstheorie Dreier (Fn. 79) und ders., Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986, sowie Lepsius, Die Wiederkehr Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre (Fn. 6); ferner Bärsch (Fn. 78), 88 ff. – Kritisch dazu Möllers, Der Staat als Argument (Fn. 6), 55 ff., 427 f.
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Erscheinungsbild und die Bedeutung einer politischen Philosophie demokratietheoretischer Staatskritik an. Wie schon angedeutet, erhält aktuell auch aus der Mitte der Staatsrechtslehre jene einer politikwissenschaftlichen Perspektive sowie deren naturalistischem Weltbild folgende staatskritische Argumentation eine vergleichbare Gefolgschaft, gestützt auf konkret beobachtete und angenommene, angeblich bestimmend gewordene Dissensund Konfliktsvoraussetzungen der gegenwärtigen Verfassungssituation unter dem Grundgesetz.82 Signifikanterweise ist dabei freilich ebenso maßgebend als erkenntnisund wissenschaftstheoretischer Hintergrund ein bei solcher Gelegenheit auch ausdrücklich hergestellter Begründungszusammenhang mit der aus der methodologischen Ideengeschichte der Staatsrechtlehre stets hinlänglich gegenwärtigen normlogischen „Reinen Rechtslehre“ und „Allgemeinen Staatslehre“;83 sie wird im Interesse einer aktuell zu verwirklichenden demokratischen Ordnung sowie unter den genannten gegenwärtig angenommenen Dissens- und Konfliktvoraussetzungen der verfassungsrechtlichen Ordnung einer „Wiederentdeckung“84 für geeignet und wert befunden. Bekanntlich hält sie auf der Grundlage von erkenntnistheoretischen Annahmen und Postulaten des Neukantianismus in dessen ursprünglichem Sinn und praktischer Ausgestaltung85 eine Verstandes- und Erkenntnisfunktion praktischer Vernunftphilosophie prinzipiell für ausgeschlossen86 und sie verwirft infolgedessen eine praktische Vernunftidee des geschichtlichen Staates zugunsten eines reinen“ Formalismus von Staatbegriff und Staatsrecht; den realen Erscheinungen des Staates sowie des Staatsrechts wird eine ideell rechtsbegründende Relevanz prinzipiell abgesprochen. Danach muss die Demokratie ohne einen praktischen Vernunftbegriff des Staates gedacht werden und sie hat sich ohne eine normative Gebundenheit an eine vernunftbegründete materiale Verfassungsordnung zu vollziehen. Staatsrecht in dem gemeinten Sinne sowie Recht überhaupt geschehen ausschließlich dezisionistisch in formalen Willensakten. Das Ergebnis für das Staatsrecht ist in der Sache vergleichbar demjenigen der erörterten demokratietheoretischen Staatskritik aus Kreisen der Politikwissenschaft. Im Grunde und letzten Endes haben denn auch jene im fachspezifischen Rahmen der Politikwissenschaft artikulierte politische Philosophie einer demokratietheoretischen Staatskritik sowie der einer neukantischen Erkenntnistheorie zugehörige 82
Fn. 79. Fn. 81. 84 Lepsius, Die Wiederkehr Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre (Fn. 6), 369 ff. 85 Cohen, Ethik des reinen Willens, 1904 und Nachw. dazu in Fn. 64. 86 Erörterung und Kritik an dieser erkenntnistheoretischen Position und Wissenschaftstheorie bei Bartlsperger (Fn. 2), 176 ff. mit Nachw. zu den betreffenden Gegenargumenten von Luf, Überlegungen zum Verhältnis von Entscheidung und Rechtfertigung im Recht, in: ders., Freiheit als Rechtsprinzip, 2008, 37/38 ff., 42 ff. und 52 ff.; ferner ders., Überlegungen zum transzendentallogischen Stellenwert der Grundkonzeption Kelsens, in: ders., a.a.O., 57/62 ff. m. weiteren Nachw. 83
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normlogische Formalismus von Staatstheorie und Staatsrechtslehre jedenfalls eine gemeinsame „philosophische“ Voraussetzung in dem erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Ausschließlichkeitsanspruch der modernen Naturwissenschaften, in dem Weltbild eines naturalistischen Dogmatismus. 3. – Im selben thematischen Zusammenhang, genauer genommen jedenfalls aus Anlass der erörterten demokratietheoretischen Staatskritik sowie ihrer angesprochenen gemeinsamen Voraussetzung einer erfahrungswissenschaftlichen Grundlegung im Weltbild moderner Naturwissenschaften hat sich die Aufmerksamkeit schließlich auf die sogenannte Diskurstheorie87 zu richten; in ihren staatsrechtlichen Konsequenzen bzw. Folgerungen vertritt und verficht sie bekanntlich das Verfassungsprinzip eines durchgehenden intersubjektiven Rechtsdiskurses und einer allseits deliberativen Politik.88 In den gegenständlichen Erörterungszusammenhang demokratietheoretischer Staatskritik gehört sie nicht zuletzt, zum einen aufgrund ihrer herausragenden aktuellen Gegenwärtigkeit, angesichts ihrer bekanntermaßen zeitgeschichtlichen Präsenz und Publizitätswirkung, einer ihr zugewandten breiten Aufmerksamkeit und vielfältigen Beachtung,89 zum Zweiten und vor allem aufgrund ihrer fundamentalen Herausforderung an die Staats- und Verfassungstheorie sowie an die Staatsrechtslehre im Verlaufe von deren neuerer Ideengeschichte und unter den gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen unter dem Grundgesetz.90 Abgesehen von einer solchen Bedeutungseinschätzung fordert die Diskurs87
Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962 (Neudruck 1990), ders., Theorie des kommunikativen Handelns, 1981, ders., Öffentlichkeit als Verfahren, 1989, ders., Faktizität und Geltung, 1992, erweiterte Auflage 1994 (hier verwendet suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1361, 1998). Siehe dazu Lieber, Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit, 2007, die Beiträge in Schaal (Hg.), Das Staatsverständnis von Jürgen Habermas, 2009, Gerhardt, Öffentlichkeit – die politische Form des Bewusstseins, 2012, 223 ff. und 246 f. sowie aus einer umfangreichen Literatur weitere Nachw. bei Lieber, a.a.O., 40 ff.; siehe auch Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, 5. Aufl. 1013, 64 ff. (im Hinblick auf die naturwissenschaftliche Sichtweise der Diskurstheorie) und Menke, Kritik der Rechte, 2015 zur „Aporie der bürgerlichen Verfassung“, 316 ff. 88 Die letztere Begriffsbildung sowie auch die einer „deliberativen Öffentlichkeit“ bezeichnet eine Veränderung in dem Werk von der normativen Idee „kritischer Öffentlichkeit“ und Herrschaftsfreiheit (Strukturwandel der Öffentlichkeit, Fn. 87) zur soziologisch geprägten Theorie einer „deliberativen Öffentlichkeit“ (Faktizität und Geltung, Fn. 87). Zu dieser Akzentverschiebung Lieber, a.a.O., 6 ff. sowie Gerhardt, a.a.O., 226 f. und 246 f. 89 Lieber, a.a.O., 225 f.; speziell in Bezug auf den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ konnte die Rede davon sein, dass „das Werk von Habermas wohl die meistdiskutierte, aber auch die am besten widerlegte Habilitationsschrift der deutschen Wissenschaftsgeschichte sein“ dürfte (Lieber, a.a.O., 225). Im Übrigen zum Literatur- und Forschungsstand Lieber, a.a.O., 37 ff. 90 Die Diskurstheorie in ihrem ursprünglichen Verständnis (Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Fn. 87) sowie in ihrer Fortbildung (Habermas, Faktizität und Geltung, Fn. 87; dazu Fn. 88) konfrontiert die verfassungsstaatliche Ordnung sowie die Situation des öffentlichen Rechts unter dem Grundgesetz in fundamentaler und prinzipieller Weise mit dem Postulat eines „rationalen Diskurses“. Als solcher „soll jeder Versuch der Verständigung über problematische Geltungsansprüche heißen, sofern er unter Kommunikationsbedingungen stattfindet,
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theorie in der Sache selbst wegen des besonderen, bemerkenswerten Spektrums ihrer Begründungen und Annahmen zu einer vergleichsweise eingehenderen Beschäftigung und Beurteilung in den Grenzen des im gegenständlichen thematischen Zusammenhang Möglichen heraus. Zum einen erscheint auch die Diskurstheorie, wie schon angesprochen, vom Weltbild der modernen Naturwissenschaften beeinflusst,91 sieht sich andererseits aber zugleich „an unsere letztlich immer kommunikativ umgesetzte Praxis der Welterkenntnis“ gebunden.92 Zum Zweiten ist sie in ihrem Anlass und Ansatz sicherlich der Sozialwissenschaft zurechenbar, erweist sich indessen auch als politische Herausforderung, die sich unmittelbar an die Staats- und Verfassungstheorie sowie an die Staatsrechtlehre richtet. In dieser staatstheoretischen und staatsrechtlichen Hinsicht sieht und erklärt sie sich letzten Endes explizit und dezidiert als eine materialistische Staatskritik, als eine Kritik des liberalen Staatsmodells, dessen gesellschaftstheoretischen Annahmen „bereits durch die Marxsche Kritik erschüttert worden seien.“93 Diese letztere Seite im vielfältigen Begründungsspektrum, Aussagegehalt und Erscheinungsbild der Diskurstheorie lässt sich freilich im Rahmen der gegenständlichen, spezifisch staatstheoretischen und staatsrechtlichen Thematik sachnäher in einem der nachfolgenden Abschnitte zur materialistischen Staatskritik und unter der betreffenden Perspektive darstellen und beurteilen.94 Die im gegenständlichen Erörterungszusammenhang einer speziell demokratietheoretischen Staatskritik sowie von deren „philosophischen“ Voraussetzungen vornehmlich interessierende erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretische Seite der Diskurstheorie ist als eigene Thematik schon allein bemerkenswert und herausfordernd sowie unter den betreffenden ideengeschichtlichen Gesichtspunkten aufschlussreich genug. Die betreffende, insofern gesehene erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretische Bedeutungseinschätzung der Diskurstheorie rechtfertigt sich aus dem Umstand, die innerhalb eines durch illokutionäre (den Zweck eines Sprechaktes, den Ausdruck einer Überzeugung, eines Wunsches, deren Absicht betreffende, Anm. d. Verf.) Verpflichtungen konstituierten öffentlichen Raumes das freie Prozessieren von Themen und Beiträgen, Informationen und Gründen ermöglichen“ (ders., Faktizität und Geltung, 138 f). Die Herausforderung richtet sich gegen das auch aus der zeitgeschichtlichen Staatsrechtslehre zur Wahrung demokratischer Substanz bekämpfte sogenannte liberale Rechtsparadigma, was dessen Staatsgerichtetheit individueller Freiheitsgewährleistung sowie die rechtsstaatliche Bindung und Kontrolle demokratischer Institutionen und Verfahren angeht (a.a.O., 299 ff.), vor allem gegen das hierbei ausgemachte Dilemma eines verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates (a.a.O., 304 f.). Die Position der Diskurstheorie zeichnet sich in dem Zusammenhang durch eine aus der materialistischen Geschichtsphilosophie kommende fundamentale Kritik von Staatsbegriff und Staatsgewalt überhaupt aus (a.a.O., 305 f.). Es geht hier um Demokratie anstatt des Staates (Grawert, Fn. 74, 65/75). In verfassungs- und staatstheoretischer Hinsicht zur Diskurstheorie auch schon bei Bartlsperger (Fn. 3), 48 Fn. 100 und dems. (Fn. 2), 158 f. 91 Siehe die betreffende Beurteilung bei Gabriel (Fn. 87), 64 ff. 92 Gabriel, a.a.O., 65. 93 Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 87), 305. 94 Abschnitt VIII.
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dass diese auf die kultur- und ideengeschichtlich originäre Ursprungs- und Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung in Deutschland zurückgreift, also deren Ausgangspunkt in der transzendentalphilosophischen Vernunftkritik und deren praktischer Philosophie anerkennt.95 Die Diskurstheorie führt zurück auf die praktische Vernunftbegründung einer Rechts- und Verfassungslehre, auf deren vernunftbegründete Idee, allerdings mit entschiedenem Standpunkt nicht auch auf den vernunftbegründeten „Staat in der Idee“. In der letzteren staatstheoretischen Hinsicht vielmehr widerfährt der ursprünglichen transzendentalphilosophischen Vernunftbegründung verfassungsstaatlicher Ordnung und ihrer Wirkungsgeschichte durch die Diskurstheorie eine essentielle Uminterpretation. An die Stelle einer Orientierung von Rechtsbegriff und verfassungsrechtlicher Ordnung an einer praktischen Vernunftidee des Staates stellt sie die vernunftbegründete Idee einer demokratischen Ordnung, in der sich die vernunftbegründeten individuellen Freiheitssphären und Freiheitsansprüche in einem unmittelbaren Diskurs gegeneinander abgrenzen und koordinieren, Rechts- und Verfassungsleben sich in demokratisch deliberativer Politik vollziehen. Damit möchte es die Diskurstheorie für die „äußeren Rechtsgesetze“ unmittelbar und allein bei dem vernunftbegründeten „Allgemeinen Prinzip des Rechts“ von der „Kompatibilität der Freiheit eines jeden mit den gleichen subjektiven Freiheiten aller“96 belassen, ohne die vorstehend dargelegte, ideengeschichtlich authentische Konsequenz, dass eine nach jenem Rechtsprinzip unter a priori notwendigen, aus sich selbst folgenden Rechtsgesetzen vereinigte Menge von Menschen einen Staat bildet, einen „Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsgesetzen sein soll“.97 Vielmehr möchte die Diskurstheorie in der Konstituierung einer Staatsgewalt eine verfälschende Verkürzung vernunftbegründeter ursprünglicher subjektiver Freiheiten zu einer bloßen Autonomie gegenüber dem Staat unter den nachfolgenden „Bedingungen einer liberalen Wirtschaftsgesellschaft“ und unter den Annahmen der „klassischen Politischen Ökonomie“ sehen.98 Die diskurstheoretische Interpretation der ursprünglichen transzendentalphilosophischen Rechts- und Staatslehre intendiert letztlich eine Verfassungstheorie vernunftbegründeter Demokratie, wonach diese nicht unter den regulativen Bedingungen eines vernunftbegründeten Staates, nicht unter der Idee des Staates stattfindet, vielmehr unter der Idee von unmittelbarer und ausschließlicher intersubjektiver Freiheitsverwirklichung. Es handelt sich um einen praktischen Vernunftbegriff, eine Idee der Demokratie von prinzipieller Paradigmatik, die der vernunftbegründeten regulativen Idee des Staates das Paradigma bloßer Intersubjektivität in allen Rechtsvorgängen der Begründung und des Vollzugs „äußerer Rechtsgesetze“ entgegenstellt. Es ist ein Modell, das als Paradigma für alle verfassungstheoretischen und staatsrechtlichen Positionen demokratisch motivierter und begründeter Staatsverneinung zu 95 96 97 98
Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 87), 305 f. Kant (Fn. 3), 39 (§ C). Kant, a.a.O., 129 (§ 45). Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 87), 305.
III. Demokratie versus Staat
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fungieren vermag, auch für die angesprochene, aktuell aus der Staatsrechtslehre selbst kommende Staatskritik.99 Nicht anders als jenes Meinungsspektrum der letztgenannten und schon dargelegten, aktuell aus der Staatsrechtslehre kommenden Staatskritik mit ihren genuinen verfassungspolitischen Annahmen und Begründungen und nicht anders als die nur politisch begründeten Forderungen nach staatsfreier Demokratie erweist sich im Ergebnis auch die Diskurstheorie als politisch motivierte und begründete Herausforderung an eine Staatslehre und an die entsprechende Staatsrechtslehre. Nur kann sie als die wohl gewichtigste dieser Herausforderungen gelten, weil sie dafür auch eine profilierte Begründung zu beanspruchen versucht. Wie schon angesprochen, möchte sie sich als wissenschaftstheoretisch begründbare und behauptungsfähige Verfassungslehre und Verfassungskonzeption verstanden wissen auf der Grundlage der auch von ihr offensichtlich als unverrückbarer ideengeschichtlicher Ausgangspunkt verfassungsrechtlicher Ordnung erachteten originären praktischen Vernunftkritik.100 Jedenfalls geht sie von deren vernunftbegründetem Freiheitsbegriff aus sowie von deren kategorischer Annahme einer vernunftbegründeten notwendigen Kompatibilität der Freiheit „eines jeden mit jedermanns Freiheit“. Ihren Charakter als politischer Staatsverneinung behält sie im Ergebnis gleichwohl, weil sie der authentischen vernunftkritischen Rechts- und Staatslehre einen „sozialstaatlichen Paradigmenwechsel“ entgegensetzen zu müssen behauptet, der die angeblich immer schon vorhandenen „objektivrechtlichen Gehalte subjektiver Freiheitsrechte wieder zur Geltung“ bringt, nämlich die vernunftbegründeten Freiheitsrechte ausschließlich intersubjektiv abzugrenzen und zu koordinieren, anstatt ihnen den „derivativen Charakter der staatsbezogenen Abwehrrechte“ zu geben.101 Es handelt sich um eine alternative Interpretation vernunftbegründeter Rechts- und Verfassungslehre in der erklärtermaßen politischen Absicht, das dieser ursprünglich und authentisch innewohnende Paradigma liberaler Entgegensetzung von vernunftbegründeter individueller Freiheit und vernunftbegründeter Idee des Staates als eine der lediglich „kontextgebundenen historischen Lesarten“102 nicht akzeptieren zu wollen. Das auch anderwärts aus verfassungstheoretischer und staatsrechtlicher Sicht dem Verfassungsstaat, d. h. einem Staatbegriff, als unvermeidlich angesonnene liberale und demokratische Dilemma103 soll in der Diskurstheorie unter Berufung auf zeitgeschichtliche soziale Veränderungen seine politisch geforderte Auflösung in der Idee einer intersubjektiven, durchgängig deliberativen demokratischen Gestaltung verfassungsrechtlicher Ordnung finden. Mit anderen Worten steht die liberale und demokratische Legitimation ideengeschichtlich vernunftbegründeter Rechts- und 99 Oben Abschnitt I. unter 2. sowie die spezifisch zur Wahrung demokratischer Ordnung gegen das sogenannte liberale Rechtsparadigma gerichtete, in der vorstehenden Fn. 90 angesprochene und bei Habermas (a.a.O., 299 ff.) aufgegriffene Staats- und Verfassungskritik. 100 Habermas, a.a.O., 305 f. 101 A.a.O., 306. 102 A.a.O., 305. 103 A.a.O., 304 (Hinweis auf die betreffend argumentierende Staats- und Verfassungskritik von Böckenförde).
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III. Demokratie versus Staat
Staatslehre überhaupt als einer auch noch heute leitenden Ursprungs- und Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung auf dem Spiel. Angesichts der politisch argumentierenden Herausforderung durch die Diskurstheorie hat man sich die Kernaussage und Konsequenz vernunftbegründeter Rechtsund Staatslehre in ihrer ideengeschichtlichen Grundlegung und Entwicklung sowie in ihrem gegenwärtig verstehbaren Aussage- und Bedeutungsgehalt noch einmal deutlich vor Augen zu führen, namentlich auch was die angesprochene politische Beurteilung ihrer wissenschaftstheoretischen Begründung angeht. Freilich an dieser Stelle der Erörterungen kann dies erst in einer Weise geschehen, die weiteren notwendigen Begründungen vorgreift sowie den wesentlichen Ausgangspunkt und Standpunkt zusammengefasst feststellt und bekräftigt. Danach hat die originäre Vernunftidee von Staatsrecht und Staat jedweden anderen Staats- und Verfassungstheorien, auf der einen Seite den seinerzeit ideengeschichtlich überkommenen und in der Theoriengeschichte nachhaltig präsenten sogenannten modernen, vertragstheoretischen Staatslehren sowie im Übrigen jedweden anderen, bloßen Herrschaftskonstruktionen, vor allem dem seinerzeit nach wie vor politisch beherrschenden monarchischen Prinzip, mit Entschiedenheit die Auffassung einer allein in praktischer Vernunft begründeten und daher autonom bestehenden Idee von Recht und Staat entgegengestellt. Es hatte zu bedeuten, dass sich die Idee staatsrechtlicher Ordnung und die unter ihr konstituierte Idee des Staates auf eine im spezifischen Vernunftsinne apriorisch zu verstehende ursprüngliche Freiheit der Einzelnen gründen, sich demzufolge auf deren vernunftnotwendige Intersubjektivität stützen sowie dementsprechend als eine kraft dieses Vernunftgebots geforderter Kompatibilität „der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit“104 entstehende, „anerkannte“105 gemeinsame, allgemeine Vernunft begriffen werden müssen; es ist die praktische Vernunftidee von einer objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit des Staatsrechts und des Staates. Die einer solchen normativen Vernunftidee ideeller Allgemeinheit des Rechts folgende Idee der Verfassungsordnung und „der Staat in der Idee“ als eine unter einer solchen Verfassungsordnung vereinigte „Menge von Menschen“106 wollen erkennbar als sich selbst tragende und sich selbst genügende Idee verstanden werden. Die praktische Vernunftidee des Verfassungsstaates benötigt weder die Idee eines fiktiven empirischen Vertragskonstrukts noch die Idee einer sonstigen Herrschaftskonstruktion. Vielmehr bedeutet sie die Idee einer in der vernunftnotwendig ursprünglichen Freiheit der Einzelnen begründeten sowie in einer dementsprechend vernunftgebotenen demokratischen Ordnung entstehenden und legitimierten objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit des Staates und des Staatsrechts. Es handelt sich um den Verfassungsstaat und dessen staatsrechtliche Ordnung als Vernunftideen, um den vernunftbegründeten Verfassungsstaat als „Staat in der Idee“ sowie als regulative Vernunftidee von Staatsrecht und Staatsrechtslehre.
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Allgemeines Prinzip des Rechts (Kant, Fn. 3, S. 39, § C). Zur betreffenden Anerkennungslehre die Nachw. in Fn. 52. Kant (Fn. 3), S. 129 (§ 45).
IV. Der Staatsbegriff als regulative Vernunftidee des geschichtlichen Staatsrechts und der Staatsrechtslehre 1. – Auf der einen Seite stellt die aus der Vernunftkritik hervorgegangene vernunftbegründete Rechts- und Staatslehre im Rückblick auf die vordem überkommenen sogenannten modernen Staatslehren, wie gesagt, eine prinzipielle Absage dar an bloße Verfassungslehren, die ideengeschichtlich den Gedankengängen vernunftnaturrechtlicher Staatsvertragslehren107 folgen. Diese verwenden die angenommene ursprüngliche Freiheit des Einzelnen lediglich als einen empirisch vorauszusetzenden Begriff und meinen aufgrund eines solchen nur verstandesmäßigen Erkenntnis- und Denkansatzes entsprechende zweckrationale Herrschafts- und Verfassungskonstrukte zur Gewährleistung jener lediglich als empirischen Tatbestand vorausgesetzten individuellen Freiheit begründen und gestalten zu können.108 Demgegenüber ist es auf der anderen Seite die umwälzende Neuerung praktischer Vernunftkritik, dass sie individuelle Freiheit in deren Ursprünglichkeit als transzendentalphilosophische Idee praktischer Vernunft zu erkennen und zu verwenden vermag,109 d. h. sie vernünftigerweise notwendig mit einem kategorischen Imperativ wechselseitiger Kompatibilität der Freiheit „eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze“ verbindet.110 In der authentischen originären praktischen Vernunftkritik handelt es sich dabei zwar wohl erst um eine apriorische Denkform und einen ethischen Imperativ, d. h. diese betrafen lediglich den „Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) 107
Dazu Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Erster Band, 1988, 323 ff., Würtenberger, Der Staat, Beiheft 10, 1993, 85/86 ff., ders., Der Staat 37, 1998, 165/ 176, P. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes. Eine verfassungstheoretische Konstruktion, 2002, 86 f. m. Nachw., Kersting (Fn. 39), 99 ff. (Hobbes), 101 ff. (Locke), 104 ff., (Rousseau). Dazu auch Bartlsperger (Fn. 2), 149/151 ff. 108 Zu den erkenntnistheoretischen Annahmen und den betreffenden erkenntnistheoretischen Voraussetzungen in den Staatsvertragslehren auf der Grundlage und im Rahmen des sie seinerzeit bestimmenden empirischen Idealismus Nicolai Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis (Fn. 37), 144 ff.; zur damals vernunftnaturrechtlich entstandenen Konzeption und Rechtsauffassung von individueller Freiheit und von subjektiven Rechten des Einzelnen Fichte (Fn. 36), insb. 110 ff. und Coing, Zur Geschichte des Begriffs „subjektives Recht“, in: Coing u. a. (Hg.), Das subjektive Recht und der Rechtsschutz der Persönlichkeit, 1959, 7/17 ff. sowie bei Bartlsperger, Das subjektive öffentliche Recht als Apriori des Verfassungsstaates, in: Festschrift Schenke, 2011, 46 ff. 109 Bartlsperger, a.a.O. 110 Kant (Fn. 3), S. 39 (§ C).
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IV. Der Staatsbegriff als regulative Vernunftidee
dient.“111 Aber immanent liegt darin jedenfalls bereits der Ausgangspunkt und die Grundlage für die ideengeschichtliche, im unmittelbar anschließenden transzendentalphilosophischen Idealismus dann auch „nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“ konsequent sowie zwingend gezogene und definierte Folgerung, dass der vernunftbegründete praktische Imperativ wechselseitiger Kompatibilität individueller Freiheiten bei seiner realen, als intersubjektiver Vorgang legitimierten geschichtlichen, „statutarischen“ Verwirklichung in „Begriffen des äußeren Rechts“ kraft der in der betreffenden „Vereinigung einer Menge von Menschen“ aktiven und bewusstseinsmäßigen gegenseitigen Anerkennung der jeweiligen wirklichen kompatiblen Interessen und Bedürfnisse in der Idee notwendigerweise eine dem Bewusstsein der Individuen gemeinsame und insofern selbst existente, objektive und eigenständige geistige Allgemeinheit hervorbringt;112 sie steht in der Idee den ursprünglichen individuellen Freiheiten der Einzelnen in gleicher vernunftbegründeter Legitimität gegenüber. In der Idee verfassungsstaatlicher Ordnung bedeutet sie die Idee von einer in den vernunftbegründeten Normen des „äußeren Rechts“ existenten, weil diesen in ihrer realen Positivität vernunftnotwendigerweise ideal anhängenden objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit. Sie begründet damit einen materialen Verfassungsbegriff, entfaltet die Idee einer dementsprechenden material rechtsstaatlichen Bindungswirkung des Staatsrechts und führt zu der Idee von einem eine solche sinnbegründete normative Verfassungsstruktur institutionell repräsentierendem Gegenüber von Individuum und Staat im Sinne des dann bekannten Verständnisses eines sogenannten liberalen Rechtsparadigmas. 2. – Die praktische Vernunftbegründung verfassungsstaatlicher Ordnung in ihrer von originärer praktischer Vernunftkritik und von dem genannten, dieser ideengeschichtlich folgenden transzendentalphilosophischen Idealismus bestimmten ideengeschichtlichen Authentizität bedeutet als staats- und verfassungstheoretische Idee die Vereinbarkeit der Idee des Staates mit den Ideen von individueller Freiheit und Demokratie, als speziell verfassungstheoretische Idee die Einheit von Demokratie und material rechtsstaatlicher Verfassungsgebundenheit sowie für die staatsrechtliche Methode ein objektives Sinnverständnis verfassungsrechtlicher Ordnung, auch in deren institutionellen und verfahrens111
Kant, a.a.O., S 129 (§ 45). Ideengeschichtlich unmittelbar an die originäre praktische Vernunftphilosophie anschließend die Auflösung jenes Problems „nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“ bei Fichte (Fn. 36), 110 ff. sowie schließlich die sogenannte Anerkennungslehre von der vernunftbegründet wechselseitigen Anerkennung von Vernunftwesen, kraft deren diese ein gemeinschaftliches Rechtsbewusstsein ausbilden, zur Verbindlichkeit einer Rechtsordnung gelangen sowie sich als Glieder einer geschichtlich realen Rechtsgemeinschaft sowie einer entsprechenden staatlichen Gemeinschaft verstehen (Siep, Anerkennung als Prinzip praktischen Philosophie, 1979, insb. 22 f. und 32 ff.; Luf, Zum Problem der Anerkennung in der Rechtsphilosophie von Kant und Fichte 1992 und ders., Überlegung zu einer Theorie der Anerkennung in der gegenwärtigen Rechtsphilosophie, 2000, in: ders., Freiheit als Rechtsprinzip, 2008, 165 ff. bzw. 181 ff.); siehe die betreffenden Erörterungen bei Bartlsperger (Fn. 2), 154 f. und 155 ff. 112
IV. Der Staatsbegriff als regulative Vernunftidee
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rechtlichen Regelungen, sowie ein demensprechend vernunftbegründetes staatsrechtliches Wertdenken, d. h. ein apriorisch inhaltliches Denken in Werten des geschichtlichen Staatsrechts.113 Jedenfalls steht die einem praktischen Vernunftbegriff des Staates, einer solchen Idee des Staates in deren ideengeschichtlich authentischem Sinn folgende vernunftbegründete Staatsrechtslehre in einem prinzipiellen Gegensatz zu jeder Art eines innerhalb der Staatsrechtslehre ideengeschichtlich nachfolgenden und eines aktuellen staatsrechtlichen Formalismus114 oder eines bloßen Organisationsverständnisses von Staat und Verfassung,115 ganz zu schweigen von der Verfassungslehre eines voluntaristischen Dezisionismus116 oder einer schlicht dem naturwissenschaftlichen Dogmatismus folgenden Methode rechtlichen Denkens nach dem Prinzip von „trial and error“.117 Vielmehr bezeichnet die vernunftbegründete Idee des Staatsrechts in ihrer gegenständlich verstandenen authentischen Ausgestaltung für die Staatsrechtslehre die Idee einer staatsrechtlichen Ordnung von bewusstseinsmäßig existenter, objektiver und eigenständiger ideeller Allgemeinheit, die in ihrer „statutarischen“ Form und in ihren „Begriffen des äußeren Rechts“ den ursprünglichen individuellen Freiheiten der Einzelnen bei deren „wirklicher Vereinigung zu einem gemeinen Wesen“, zum „Staat in der Idee“,118 gegenübersteht; die Idee einer solchen auch staatstheoretisch vermittelten materialen Verfassung fungiert als regulative Idee für die betreffende Verfassungskonzeption und bildet die regulative wissenschaftstheoretische Grundlage für die staatsrechtliche Methode. Es handelt sich um das Ergebnis des ideengeschichtlich schon originär immanent angelegten und folgerichtig weiter entwickelten transzendentalphilosophischen Weges, den die vernunftbegründete Rechts- und Staatsidee von einer ursprünglich bloß rechts- und staatsphilosophischen Idee praktischer Vernunft zu einer „nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“119 begründeten und zu verstehenden Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat, also zu einer Vernunftidee vom Staatsrecht und vom Staat in einer erkenntnistheoretischen ideellen Gegenständlichkeit und in einer eigenen ideellen Seinsweise derselben gehen musste. Nicht weniger, aber auch nicht mehr leistet im Sinne der Staatsrechtslehre die Vernunftidee vom Staat als regulative Idee praktischer Vernunft für das geschichtliche Staatsrecht und für die Staatsrechtslehre des geschichtlichen Verfassungsstaates. Das hiermit in erkenntnis113
Speziell dazu Bartlsperger (Fn. 3). Staatsrechtlicher Positivismus (dazu Bartlsperger, Fn. 2, 171 ff. sowie ders., Fn. 3, 33 f. und 51 ff.); neukantischer Rechtspositivismus sowie normlogische Rechts- und Staatstheorie (dazu Bartlsperger, Fn. 3, 175 ff. und ders., Fn. 2, 41 ff.). 115 Zu den betreffenden staats- und verfassungstheoretischen Auffassungen von Heller und Böckenförde bei Bartlsperger (Fn. 3), 52 ff. sowie Fn. 2, 186 ff. 116 Zu C. Schmitt und dessen politischer Staatslehre Badura, Methoden der neueren allgemeinen Staatslehre, 1959, 199 ff. sowie bei Möllers, Staat als Argument, 2000, 60 ff. 117 Zu der betreffenden Methodendiskussion Schlink, AöR 19 (1980), 73/87 ff. 118 Kant (Fn. 3), S. 129 (§ 45). 119 Fichte (Fn. 36), 185 ff. 114
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IV. Der Staatsbegriff als regulative Vernunftidee
theoretischer und wissenschaftstheoretischer Hinsicht Gemeinte lässt sich, auch um möglichen Missverständnissen vorzubeugen, nochmals verdeutlichen. Zweifellos handelt es sich bei den authentischen Ursprungs- und Begründungsideen praktischer Vernunft zu Recht und Staat, zum Recht, wie es nach dem „Allgemeinen Prinzip des Rechts“ a priori und von selbst folgend notwendig ist, und zum Staat, wie er nach den betreffenden „reinen Rechtsprinzipien“ sein soll, um noch ausschließlich normativ und formal gedachte Vernunftideen.120 Eine Perspektive geschichtlicher Wirklichkeit brauchte bei der originären Entwicklung jener spezifisch rechts- und staatsphilosophischen Vernunftideen nicht mehr ausdrücklich aufgegriffen zu werden und offensichtlich sollte es dabei im Rahmen einer ohne weitere fachspezifisch positive Bezüge begründeten praktischen Vernunftphilosophie auch bleiben. So kann man zur vernunftbegründeten Ursprungs- und Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung und des Verfassungsstaates annehmen, dass diese in ihren erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Konsequenzen für die Staatsrechtslehre von der geschichtlichen verfassungsstaatlichen Ordnung und für die Staatsidee vom geschichtlichen Staat unfertig war, soweit es ihren expliziten originären und authentischen Aussagegehalt angeht;121 jedoch keineswegs war sie es auch in ihrem durchaus schon nachweislichen Bedeutungsgehalt. Denn wie zu jener authentischen Ursprungs- und Begründungsidee schon festzustellen war, sind die betreffenden Rechtserzeugungsvorgänge nach dem vernunftbegründeten „Allgemeinen Prinzip des Rechts“ wegen der dabei entstehenden wechselseitigen Anerkennungswirkung122 und wegen ihres Vereinigungseffektes für die betreffende „Menge von Menschen“123 gar nicht denkbar, ohne dass sich im Bewusstsein der Einzelnen auch die Idee von einer objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit des Rechts und des Staates bildet und dass darum diese Idee eine Gegenständlichkeit im erkenntnistheoretischen Sinne sowie eine Seinsweise im ontologischen und entsprechend wissenschaftstheoretischen Sinne annimmt. Aber dazu ist prinzipiell und wesentlich festzuhalten, dass auch dieser Verständnisschritt über die praktische Vernunftidee von Recht und Staat als einer formalen und normativen Idee hinaus und hin zu einer Idee vom geschichtlich realen Recht und Staat sich innerhalb der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen und Annahmen des transzendentalen Idealismus bewegt, d. h. die für die Vernunftkritik erkenntnistheoretisch essentielle Intentionalität wahrt, wonach alle Gegenstände nur Gegen120 Zu dieser Beurteilung als einer nur „ethischen“, staatstheoretischen und staatsrechtlichen regulativen Idee Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanken in Deutschland, 1921, Neudruck 1963, 8 f., Dreier, Rechtsbegriff und Rechtsidee. Kants Rechtsbegriff und seine Bedeutung für die gegenwärtige Diskussion, 1986, 9 ff. und 19 ff., Unruh, Die Herrschaft der Vernunft. Zur Staatsphilosophie Immanuel Kants, 1993, 52 und 164 ff., Kersting (Fn. 39), 36, 51, 121. Siehe Kant (Fn. 3), S. 127 (§ 44) und S. 130 (§ 47). 121 Dazu auch schon speziell die Erörterungen bei Bartlsperger (Fn. 3), 35 ff. und dems. (Fn. 2), 154 f. jeweils mit zahlreichen Nachw. 122 Zur sogenannten Anerkennungslehre Fn. 112 m. Nachw. 123 Kant (Fn. 3), S. 129 (§ 45).
IV. Der Staatsbegriff als regulative Vernunftidee
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stände für uns sind. Es handelt sich also keineswegs um einen Schritt darüber hinaus zu einem Realismus, der in diesem Falle bedeuten würde, geschichtliches Recht und geschichtlichen Staat sich als äußere Erscheinungen vorzustellen, die auch nach reinen Verstandesbegriffen außer uns wären.124 Vielmehr haben als Vernunftidee auch das geschichtliche Recht und der geschichtliche Staat ihre erkenntnistheoretische Gegenständlichkeit und ihre Seinsweise im Sinne der Wissenschaftstheorie als objektive und eigenständige ideelle Allgemeinheit nur im Bewusstsein der betreffenden, unter dieser Vernunftidee vereinigten Einzelnen. Die Vernunftidee vom geschichtlichen Recht und vom geschichtlichen Staat existiert erkenntnistheoretisch als transzendentales Phänomen und fungiert wissenschaftstheoretisch als regulative Idee von der Seinsweise geschichtlichen Rechts und geschichtlicher Staatlichkeit als einer objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit. 3. – Als wissenschaftstheoretisch fungierende regulative Vernunftidee für die Staatsrechtslehre beansprucht die Vernunftidee von der geschichtlichen verfassungsstaatlichen Ordnung und vom geschichtlichen Verfassungsstaat eine logische „Geltung“; sie dient als ein logisches Prinzip, um der verstandesmäßig erfassbaren konkreten Erfahrungswirklichkeit verfassungsstaatlicher Ordnung und des Verfassungsstaates zu entsprechenden prinzipiellen Begriffen und Regeln zu verhelfen, den betreffenden Erfahrungstätigkeiten einen regulativen Gebrauch zu ermöglichen und die betreffenden Erfahrungsinhalte als Einheit begreifen zu können.125 Die betreffende regulative Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat, der staatsrechtliche Vernunftbegriff des Staates, hat keine unmittelbare Entsprechung in den konkreten Gegenständen der jeweiligen konkret wirklichen oder möglichen Erfahrungswelt von Staat und Verfassung, ist aber mehr als bloße Fiktion; er vermittelt keine abgeschlossene erfahrungsmäßige Erkenntnis vom konkreten Staatsund Verfassungsleben, dient vielmehr als Regel zu einer konsequenten und einheitlichen Betrachtung der betreffenden Erfahrungsinhalte und vermag diese auf eine ideelle Einheit zu beziehen.126 In fachspezifischer staatsrechtlicher Hinsicht hilft die regulative Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat der Staatsrechtslehre, sich von den fachlich ganz anderen Aufgabendisziplinen einer verstandesmäßigen und vernunftbestimmten Erfassung der konkreten empirischen 124 Einer ganz anderen und speziell erkenntnistheoretischen Problematik und Thematik gilt die Kant-Kritik in einer aktuellen erkenntnistheoretischen Richtung eines „neuen Realismus“; Haag, Kritische Philosophie, 2012, insb. S. 103 ff., Gabriel (Fn. 87), Ferraris, Manifest des Realismus, 2014. 125 Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1787, A 644/B 672, Der Philosophischen Bibliothek, Bd. 37a, 2. Aufl. 1930, abg. von Raymund Schmidt, Neudruck 1956. Siehe zur regulativen Vernunftidee Beiträge bei Dörflinger (Hg.), Worauf Vernunft hinaussieht – Kants regulative Ideen im Kontext von Teleologie und praktischer Philosophie, 2012. 126 Dörflinger, a.a.O., Vorwort, 8; Zöller, Reflextion und Regulation. Kant über Begriff und Prinzipien der Vernunft in der Kritik der Urteilskraft, in: Dörflinger, a.a.O., 31/32; Tuschling, „Bloße“ Idee und die „unbezweifelte praktische Realität“: Recht und Staat, Gerechtigkeit und Ewiger Friede bei Kant, in: Dörflinger, a.a.O., 137 ff.; Kruck, Freiheit – eine regulative Idee, in: Dörflinger, a.a.O., 111 ff.
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Wirklichkeit des kollektiven Staats- und Verfassungslebens abzugrenzen und eine grenzüberschreitende Argumentation von jener Seite her abzuwehren; die verstandesmäßige und vernunftbestimmte Erfassung und Beurteilung jener konkreten politischen Verhältnisse und Vorgänge sowie die betreffende Theoriebildung gehören wissenschaftstheoretisch in den fachspezifischen Bereich von Geschichtswissenschaft sowie von zeitgeschichtlicher Politik- und Sozialwissenschaft. Im wissenschaftstheoretischen Unterschied zu jenen erfahrungswissenschaftlichen Fachdisziplinen gewährleistet die Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht als regulative Idee von dessen objektiver und eigeständiger ideeller Allgemeinheit dem Staatsrecht auch seine Normativität gegenüber dem bloßen politischen und sozialen Kollektiv des wirklichen Staats- und Verfassungslebens,. Dieser wissenschaftstheoretische Umstand bezeichnet auch den Unterschied zu der schon vorstehend im Erörterungszusammenhang demokratietheoretischer Staatskritik erwähnten, aus der aktuellen Staatsrechtslehre kommenden Verfassungstheorie, die jeder staatsrechtlichen Einheits- und Ganzheitsidee vom Staat bloß noch eine erfahrungswissenschaftlich begründete Dissens- und Konflikttheorie entgegenstellen will und auch damit dem methodologischen Standpunkt der normlogischen Rechts- und Staatstheorie sowie deren staatsrechtlichem Dezisionismus Nachdruck verleihen möchte.127 Allerdings stehen der praktische Vernunftbegriff, die praktische Vernunftidee vom geschichtlichen Staat und von seiner geschichtlichen Verfassung in einer bestimmten Aussage- und Bedeutungsbeziehung zur geschichtlichen, politischen Wirklichkeit von Staat und Verfassung, um ihrer regulativen Funktion für die Staatsrechtslehre wissenschaftstheoretisch überhaupt genügen zu können. Ihr betreffender wissenschaftstheoretischer Aussage- und Bedeutungsgehalt für die Staatsrechtslehre gilt jedenfalls, aber auch allein der für sie in der Idee vorstellbaren ideellen Seinsweise von geschichtlichem Staat und Staatsrecht in einem ontologischen Sinne. Es ist gerade die in der Idee vernunftbegründete ideelle Seinsweise von geschichtlichem Staat und Staatsrecht in diesem ontologischen Sinne, die als regulative Idee für den „Verfassungsstaat als Staatsbegriff“128 und für seine Staatsrechtslehre fungiert. Man hat sich insofern die Genese der Ursprungs- und Begründungsidee von Verfassungsstaat und verfassungsstaatlicher Ordnung in der praktischen Vernunftphilosophie von originärer Vernunftkritik und transzendentalphilosophischem Idealismus noch einmal zu vergegenwärtigen und ihre weitere Entwicklung im Fortgang der einschlägigen Ideengeschichte der Transzendentalphilosophie zu verfolgen. 4. – Die originäre praktische Vernunftkritik hatte wegen ihrer erwähnten authentischen Beschränkung auf ein bloß formales apriorisches Denken noch keinen Zugang zu einer staatsrechtlichen Idee des Staates, die über „die Form eines Staates überhaupt“ und über deren Funktion als ethischer „Richtschnur (norma)“ für jeden 127 128
Dreier (Fn. 79). Bartlsperger (Fn. 2).
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wirklichen Staat hätte hinausgehen können. Es bedurfte erst weiterer, vorstehend schon erwähnter immanenter Entwicklungsschritte der transzendentalphilosophischen Rechts- und Staatslehre, um die praktische Vernunftidee des Staatsrechts und des Staats auch unter den Voraussetzungen von deren geschichtlicher Wirklichkeit begreifbar und brauchbar zu machen. Dies ist dann in zwei je eigenen ideengeschichtlichen Schritten geschehen. Zum ersten hat sich, wie angesprochen, folgerichtig „nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“129 die Einsicht eingestellt, dass aus dem in einem apriorisch formalen Vernunftverständnis vorausgesetzten „Urrecht“ individueller Freiheit130 bei seiner von den Einzelnen in ihrem selbstgesetzten „Ich“ ausgehenden, bewusstseinsmäßigen Verwirklichung im Wege aktiver gegenseitiger „Anerkennung“ auch der Freiheit anderer „durch die Sache selbst“ ein eben in dem betreffenden jeweiligen individuellen Bewusstsein existentes „reelles Ganzes“ hervorgeht, und zwar „nicht bloß Aller, sondern einer Allheit“.131 Im Verhältnis der betreffenden, sich damals so verstehenden „gegenwärtigen Theorie des Rechts zu der Kantischen“132 bedeutet dies, dass die praktische Vernunftidee von Recht und Staat diese Letzteren jedenfalls auch in ihrer Geschichtlichkeit zu erfassen und in diesem transzendental phänomenologischen Verständnis als regulative Idee von Staats- und Verfassungstheorie sowie von staatsrechtlicher Methode zu begreifen erlaubt. Es handelt sich um die wissenschaftstheoretisch konstruktive Fortentwicklung der originären praktischen Vernunftidee von Recht und Staat zu einer Vernunftidee des geschichtlichen „äußeren“, „statuarischen“ Rechts und zu einer entsprechenden Idee des geschichtlichen Staates. In einer generellen ideengeschichtlichen Betrachtung kann man vom Entwicklungsschritt und Beginn einer transzendentalen Phänomenologie in der Rechts- und Staatslehre sprechen.133 Er ist in der damaligen ideengeschichtlichen Situation das Ergebnis einer folgerichtigen Klarstellung, welche die ursprüngliche und authentische praktische Vernunftidee von Recht und Staat in deren immanent schon angelegtem Bedeutungsgehalt sichtbar und verstehbar gemacht hat, nämlich als einer regulativen Vernunftidee von der im individuellen Bewusstsein der betreffenden Einzelnen vergegenwärtigten Seinsweise des geschichtlichen Rechts und Staates, also von deren bewusstseinsgetragener Seinsweise als einer objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit. Auf jenem entwicklungsgeschichtlich erreichten Niveau hat also die praktische Vernunftidee von Recht und Staat auf einer spezifisch wissenschaftstheoretisch verstandenen Grundlage ihre klarstellende Ausgestaltung zur vernunftbegründeten Idee von real seiender Rechtsordnung und Staatlichkeit erfahren. Gerade schon jene spezifische wissenschaftstheoretische Begründung erscheint von tief- und weit129
Fichte (Fn. 36). A.a.O, 110 ff. 131 A.a.O., 196 und 196 ff. 132 A.a.O., 11 ff. 133 Zu diesem ideengeschichtlichen Entwicklungsschritt hin zu einer transzendentalen Phänomenologie und zu jenem ideengeschichtlichen Zusammenhang Fn. 36 und namentlich Tietjen (Fn. 36). 130
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greifender Bedeutung unter einem vorwegzunehmenden unterscheidenden Blick auf jene bereits angesprochenen späteren, aktuell zeitgeschichtlichen Standpunkte einer bloß intersubjektiven Um- bzw. Neuinterpretation der authentischen Ursprungs- und Begründungsidee vernunftbegründeter Staats- und Verfassungslehre.134 Denn es geht in dem Zusammenhang um die fundamentale Voraussetzung jener Ursprungs- und Begründungsidee, dass vernunftbegründete individuelle Freiheit bei ihrer geschichtlichen Verwirklichung im Bereiche des Staatsrechts aus wissenschaftstheoretisch zwingenden Gründen gerade nicht in einem von jenen Standpunkten behaupteten, bloßen intersubjektiven Diskurs zu ihrer wechselseitigen Komptabilität endet, sondern notwendigerweise eine dem individuellen Bewusstsein im erkenntnistheoretischen Sinne gegenständlich zugängliche objektive und eigenständige ideelle Allgemeinheit hervorbringt, dass es sich also um die Idee von einer realen normativen Verfassungsstaatlichkeit handelt. 5. – Erkennbar war mit jener „nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“ erfolgten ideengeschichtlichen Entfaltung der praktischen Vernunftidee von Recht und Staat zur Vernunftidee von einer objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit des geschichtlichen Rechts und des geschichtlichen Staates in einem ersten ideengeschichtlichen Schritt bereits eine betreffende, fachspezifische Philosophie des Geistes entstanden. Aber diese war wegen der einseitig verengten Blickrichtung jener wissenschaftstheoretischen Grundlegung auf das aktive intersubjektive Bewusstsein der Einzelnen noch in der Annahme befangen, dass es das betreffende geistige Sein, unter anderem das geistige Sein von Recht und Staat, nur im Subjekt gibt und nicht auch über dem Subjekt in einer, unbeschadet der Seinsabhängigkeit vom individuellen Bewusstsein, zur „Objektivität“ gelangten Seinsweise, in der es sich als intersubjektives Geschehen und Produkt zu einer eigenständigen geistigen Wirklichkeit und Wirksamkeit entwickelt und wiederum auf das geistige Sein in den Subjekten einwirkt. Dazu ist es erst im Zuge des zweiten ideengeschichtlichen Entwicklungsschrittes gekommen, um die praktische Vernunftidee von Recht und Staat auch unter den Voraussetzungen von deren geschichtlicher Wirklichkeit begreifbar und verwendbar zu machen. Bekanntermaßen verdankt sich jener weitere Entwicklungsschritt den philosophisch fundamental veränderten Ausgangsannahmen einer spekulativen Geschichtsphilosophie und von deren Metaphysik des Geistes.135 Danach werden geschichtliches Recht und geschichtlicher Staat als 134
Zur Diskurstheorie oben unter III.3. m. Fn. 87 ff. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 1807 (hier verwendet suhrkamp taschenbuch wissenschaft 603, hgg. von Moldenhauer und Michel, 1986); ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821 (hier verwendet suhrkamp taschenbuch wissenschaft 607, hgg. von Moldenhauer und Michel, 1986). Dazu die Erörterungen bei Bartlsperger (Fn. 3), 50 f. sowie dems. (Fn. 2), 160 f. und 161 ff. jeweils mit ausführlichen Nachw.; ergänzend dazu E. Kaufmann, Hegels Rechtsphilosophie (1932), in: ders., Rechtsidee und Recht, Gesammelte Schriften, Bd. III, 1960, 285 ff., Nicolai Hartmann, Problem des geistigen Seins (Fn. 37), 197 ff., Mäder, Kritik der Verfassung Deutschlands – Hegels Vermächtnis 1801 – 2001, 2002, Eagleton, Der Sinn des Lebens, 5. Aufl. 2013, 70, 103, 106. 135
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Selbstgestaltung geschichtlichen Geistes in der Seinsweise von Gebilden „objektiven Geistes“ selbst als vernünftig betrachtet, d. h. Recht und Staat als geschichtliche Wirklichkeit werden selbst schon als vernünftig verstanden.136 Es handelt sich um einen fundamentalen ideengeschichtlichen Umschlag innerhalb der betreffenden Transzendentalphilosophie von der ursprünglichen vernunftkritischen Metaphysik der Vernunft in eine spekulative Metaphysik des Geistes. Deren bekannte Identifizierung des Vernünftigen mit dem Wirklichen, des Wirklichen mit dem Vernünftigen137 sowie demzufolge des geschichtlichen Staates mit dem „an und für sich Vernünftigen“ bedeutet problematische, und so wie dies verstanden werden kann, irritierende Konsequenzen für die wissenschaftstheoretische Grundlegung und für das methodologische Verständnis der Staatsrechtslehre sowie für die Normativität des Staatsrechts. Nicht zuletzt gehören dazu die in der seinerzeitigen historischen Situation von verfassungsgeschichtlichem Frühkonstitutionalismus und verfassungspolitischer Reaktion naheliegenderweise und unverzüglich kritisch aufgegriffenen politischen Implikationen für die Idee sowie für die Handhabung und Gestaltung staatsrechtlicher Ordnung in die Richtung eines konstitutionell monarchischen Konservatismus.138 Indessen verhält es sich keineswegs so, dass jene spezifische Philosophie des Geistes, abgesehen von ihrem Charakter einer spekulativen Geschichtsphilosophie und Metaphysik des Geistes, nicht auch einen für sich zu betrachtenden Fortschritt in der ideengeschichtlichen Entwicklung und Präzisierung der Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat bedeuten konnte. Insofern rechtfertigt sich sicherlich die Beurteilung, dass jene Philosophie des Geistes zwar in ihrer authentischen ideengeschichtlichen Erscheinung einer metaphysischen Geschichts- und Geistesphilosophie wieder habe fallen müssen, dass aber die hierbei geschaute Sache geblieben sei.139 Man hat es also offenbar mit einem ideengeschichtlichen Kapitel auf dem Wege transzendentalphilosophischer Rechts- und Staatstheorie zu tun, dessen Bedeutungsgehalt sich nicht ohne eine geleistete kritische Aufarbeitung erschließt und dessen Bedeutungseinschätzung nach einem Standpunkt verlangt. Nicht zuletzt hat man sich beim Verständnis jenes Werkes anscheinend auch beträchtlicher Gefährdungen bewusst zu sein angesichts von selbst im Kreise fachspezifischer Philosophiegeschichte bemerkten inhaltlichen und textlichen Schwierigkeiten, die das Verständnis seines „gedanklichen Konti136
Erörterungen und Nachw. bei Bartlsperger, a.a.O. Bekannte Formulierung in: Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Fn. 135), 24. 138 Hegel, a.a.O., § 273, §§ 275 ff.; Hegel als „Philosoph der Restauration“ (Nicolai Hartmann, Die Philsophie des deutschen Idealismus, Fn. 37, 505). Zu der betreffenden, auch schon von Anfang an einsetzenden politischen Kritik die umfangreichen Nachw.bei Bartlsperger (Fn. 3), 51 Fn. 111 und dems. (Fn. 2), 61 Fn. 49; siehe insb. Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, 1921, Neudruck 1963, 8 f., 20 ff., 32 ff., 57 ff., 63 f., 69 ff., 89 ff., 131 ff., 167 ff., 175 f.; zur betreffenden Kritik eines Machtstaatsgedankens Mäder, Kritik der Verfassung Deutschlands – Hegels Vermächtnis 1801 – 2001, 2002, 16 ff., 117 f., Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 16. Aufl. 2010, § 4 I, § 5 III, § 7 I 1, § 27 I und ders., Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, § 13 I. 139 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins (Fn. 37). 137
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IV. Der Staatsbegriff als regulative Vernunftidee
nuums“ in der Nähe zum Text und in Distanz zu ihm „immer nur annähernd gelingen lassen.“140 Für die Rechtslehre, insbesondere für die Staatsrechtlehre und deren Staatstheorie, geht es jedenfalls um die Bedeutung eines Werkes von vielfältig einschlägiger wirkungsgeschichtlicher Ausstrahlung und von steter ideengeschichtlicher Präsenz. Für die Vernunftidee von geschichtlichem Staatsrecht und Staat stellt jenes Werk bzw. dessen kritisch und selektiv aufzunehmender Aussagegehalt jedenfalls eine ideengeschichtlich nicht mehr wegzudenkende Verständnisbrücke dar. Auch gilt es dazu schließlich vorweg klarzustellen und festzuhalten, dass es ungeachtet jener erwähnten, mit jener Metaphysik des Geistes verbundenen Identifizierung des Vernünftigen mit dem Wirklichen und des Wirklichen mit dem Vernünftigen in rechts- und staatstheoretischer Hinsicht auch nur um eine Idee vom geschichtlichen Recht und Staat geht, also um ein Ideal in dessen wissenschaftstheoretischer Funktion, nicht um das wirkliche Recht und den wirklichen Staat in deren Konkretion. Für die Rechtstheorie und für deren Staatslehre ist es auch in diesem ideengeschichtlichen Zusammenhang bei einer regulativen Idee geblieben, allerdings einer regulativen Idee, deren Bedeutung für die Staatsrechtslehre und deren Staatstheorie kritischen Beurteilungen folgend einer selektiven Einschätzung bedarf, was ihre spezifische Metaphysik des Vernünftigen angeht.
140
Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus (Fn. 37), 241 und 243 ff.
V. Von der rechts- und staatsphilosophischen Vernunftidee zum geschichtsphilosophischen „objektiven Geist“ – Entdeckung und Entdeckerirrtum 1. – Die angesprochene ideengeschichtliche Vermittlungsfunktion, welche die aus einer spekulativen Geschichtsphilosophie und Geistesmetaphysik entwickelte Philosophie des Geistes für die Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat beanspruchen kann, verdankt sich zweifellos dem Umstand, dass sie es unternommen hat, die mit der Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat in der erörterten Weise zu verbindende Seinsvorstellung einer objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit der Letzteren in der von ihr bekanntermaßen geprägten Idee eines Seinsgebildes „objektiven Geistes“ zu erfassen, zu präzisieren und begreifbar zu machen.141 Dabei handelt es sich anscheinend gar nicht einmal um eine Begriffsprägung, die sich allein aus dem Systemzusammenhang der für jene metaphysische Philosophie des Geistes grundlegenden „Phänomenologie des Geistes“ erklären ließe; vielmehr scheint es sich ebenso um eine beschreibende Begriffsbildung zu handeln für ein auch unabhängig davon aufzeigbares Grundphänomen, also um etwas auch „ursprünglich Geschautes, eine ganz auf sich selbst beruhende Entdeckung“.142 Nach der authentisch anschließenden betreffenden „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“,143 in deren formulierter Folgerung und Zusammenfassung, gilt „objektiver Geist“ als die Entwicklung des Geistes „in der Form der Realität als einer von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt.“144 Er wird als geistig Allgemeines verstanden, als ein objektives und eigenständiges Gebilde des Geistes, ohne aber selbst ein allgemeines Bewusstsein zu haben und vielmehr stattdessen des subjektiven Geistes und dessen intentionaler Fähigkeit zu bedürfen.145 Es kann auch davon ausgegangen werden, dass in der zwischenzeitlichen und heutigen Wahrnehmung idealistischer Rechts- und Staatslehre die in der originären praktischen Vernunftphilosophie begründete rechts- und staatsphilosophische Vernunftidee vom Staatsrecht und vom Staat sowie deren erwähnte Fort141
Nicolai Hartmann, a.a.O., 495 ff. und dazu Bartlsperger (Fn. 2), 162 f. Nicolai Hartmann, a.a.O., 496. Die Allgemeinheit des objektiven Geistes wird nicht als „ein nachträglich durch Verallgemeinerung gebildeter Begriff“, vielmehr wird seine Realität als das „Primäre“ gesehen (a.a.O., 502). 143 1830; hgg. von Nicolin und Pöggeler, 1991. 144 A.a.O., § 385. 145 Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus (Fn. 37), 499. 142
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V. Von der Vernunftidee zum „objektiven Geist“
bildung „nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“146 zu einer Vernunftidee vom geschichtlichen Recht und Staat vergleichsweise zurückgetreten bzw. verdrängt sind und dass stattdessen als gemeinhin präsente ideengeschichtliche Schlüsselstelle für die Annahme einer Vernunftbegründung von Recht und Staat eher die zuletzt angesprochene, den transzendentalphilosophischen Idealismus in seiner Entwicklung abschließende spekulative Geistmetaphysik und Geschichtsphilosophie fungiert. Im ideengeschichtlichen Rückblick hat man wohl von einer Dominanz derselben auszugehen. Denn, wie gesagt, auf der Grundlage von deren logischem Idealismus147 und im Rahmen ihrer entsprechenden Philosophie des Geistes hat sie es unternommen, die mit der praktischen Vernunftidee von Recht und Staat als geschichtlichen Wirklichkeiten verbundene regulative Idee von deren bewusstseinsmäßig existenter ideeller Allgemeinheit, vom Staat als einem solchen „reellen Ganzen“,148 seinsmäßig verstehbar zu machen in der Wirkungsweise von geschichtlichen Gebilden eines vernünftigen „objektiven Geistes“. Nach der betreffenden, ideengeschichtlich originären Begründung sollte nicht mehr ein konstituierendes, tragendes Bewusstsein der Einzelnen von einer objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit allein das Wesentliche an Seinsgebilden „objektiven Geistes“ sein, sondern das betreffende Allgemeine selbst, die in ihnen wirkende Idee. Damit war gemeint, dass nicht das Bewusstsein mit der ihm eigenen Objektwelt in einem erkenntnistheoretischen Sinne das Eigentliche an den betreffenden Gebilden „objektiven Geistes“ ist, dass vielmehr deren Seins- und Wirkungsweise eine „objektive“, eine aus einer Idee kommende ist, unbeschadet des Umstandes und der unverrückbaren Voraussetzung idealistischer Philosophie, dass es davon ein Bewusstsein als das allein Wirkliche gibt. Dadurch konnte die praktische Vernunftidee von Recht und Staat eine regulative Bedeutung annehmen, wonach die Letzteren als Gebilde „objektiven Geistes“ in untrennbarer Seinseinheit mit dem Bewusstsein der Einzelnen eine eigenständige kategorial ideelle Seinsweise haben und wonach sie hierbei eine dementsprechende allgemeine geistige Wirklichkeit entfalten, um sich auf solche Weise auch selbst zu entwickeln und in wechselseitiger Umkehrung wieder konstituierend auf das Bewusstsein der Einzelnen einzuwirken sowie um damit als Produkt ihrer selbst an einem geschichtlichen Wandel teilzunehmen. Für die praktische Vernunftidee von Recht und Staat bedeutete dies den ideengeschichtlichen Schritt, dass deren geschichtliche Verwirklichung ihre Erklärung nicht mehr nur auf jene erwähnte wissenschaftstheoretische, konstruktive Weise und nicht mehr bloß als Produkt bewusstseinsinterner intersubjektiver Anerkennung fand. Vielmehr konnte für das Verständnis der praktischen Vernunftidee von Recht und Staat sowie einer entsprechenden vernunftbegründeten Rechts- und Staatslehre von da an jene aus dem logischen Idealismus149 und aus dessen Philosophie des Geistes kommende geschichtsphilosophische Idee „objektiven Geistes“ einen weiteren 146 147 148 149
Fichte (Fn. 36). Nicolai Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis (Fn. 37), 160 ff. Fichte (Fn. 36), 196. Fn. 147.
V. Von der Vernunftidee zum „objektiven Geist“
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ideengeschichtlichen Ausgangspunkt bilden. In den grundlegenden Konsequenzen für die praktische Vernunftidee von Recht und Staat handelt es sich um eine Veränderung des ihr bis dahin ideengeschichtlich eigenen rechts- und staatstheoretischen Aussage- und Bedeutungsgehalts. Denn wie dargelegt, war es in der originären vernunftkritischen praktischen Philosophie der apriorische kategorische Imperativ wechselseitiger Kompatibilität individueller Freiheiten, dem sich die Idee von Recht und Staat überhaupt verdankt, und in der erwähnten anschließenden vernunftbegründeten Rechts- und Staatstheorie „nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“ war es die Annahme einer aktiven und bewusstseinsmäßigen intersubjektiven Anerkennung von Interessen und Bedürfnissen individueller Freiheit, aus der sich die Idee einer hierbei konstituierten allgemeinen Rechtsordnung sowie einer dadurch zur Einheit und Ganzheit gelangenden Staatlichkeit verstehen ließ. Die logische Funktion des kategorischen Imperativs bzw. der erwähnte, diesem zugehörige intersubjektive Konstituierungsvorgang kannten jedenfalls nur die eine Begründungsund Wirkungsrichtung, die von der Idee ursprünglicher individueller Freiheit ausgehend zur Idee von Recht und Staat hinführt. Demgegenüber vermochte der logische Idealismus im Rahmen seiner Philosophie des Geistes mit deren geistesgeschichtlichem Begriff von Gebilden „objektiven Geistes“ den praktischen Vernunftbegriff von Recht und Staat „aus dem Banne des eindimensionalen Denkens“ zu befreien, nicht anders als er auch das ethische, psychologische, soziologische und historische Denken, d. h. die betreffenden „Erzeugnisse des Geistes“ als „objektive Realitäten“, mit der entsprechenden eigenständigen ideellen Wirkungsweise zu verstehen ermöglichen sollte.150 Generell für den Bereich praktischer Vernunftphilosophie und für den Vernunftbegriff der Sittlichkeit konnte jene ideengeschichtliche Wendung als eine Umkehrung der Blickrichtung, als eine „Wendung zum Institutionellen“ beurteilt werden.151 Dies ist denn auch, freilich mit einer dem angesprochenen, wissenschaftstheoretisch und verfassungspolitisch problematischen Werkzusammenhang gegenüber auffallend unkritischen Emphase, als „eine der bedeutendsten und entschiedensten Großtaten der Geistesgeschichte“ gewürdigt worden.152 Zweifellos handelt es sich denn auch um einen ideengeschichtlichen Entwicklungsschritt von in der erwähnten Weise grundlegender wirkungsgeschichtlicher Bedeutung und, was den vorliegenden rechts- und staatstheoretischen Zusammenhang angeht, auch für das weitere und heutige Verständnis der Rechts- und Staatslehre sowie für die aktuelle Beurteilung einer von daher bestimmten Verfassungstheorie und Staatsrechtslehre. Aber jener ideengeschichtliche Entwicklungsschritt ist in seinem authentischen Werkzusammenhang bekanntermaßen eben auch mit grundlegenden, tiefgreifenden Problematisierungen belastet, welche sich in erkenntnistheoretischer bzw. wissenschaftstheoretischer Hinsicht aus der spekulativen Geschichtsphiloso150 151 152
E. Kaufmann (Fn. 135), 285/292. E. Kaufmann, a.a.O. E. Kaufmann, a.a.O.
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V. Von der Vernunftidee zum „objektiven Geist“
phie und deren Geistmetaphysik ergeben sowie aus einem in Verbindung damit dem Werk explizit eigenen sowie stets schon zu Recht angesonnenen staats- und verfassungspolitisch reaktionären bzw. konservativen Aussage- und Bedeutungsgehalt.153 Zum Letzteren zählt aus einer verfassungsgeschichtlich rückblickenden Sicht auf die damaligen politischen Verhältnisse und staatsrechtlichen Entwicklungen vor allem die zum sogenannten „Inneren Staatsrecht“154 bzw. zur Verfassung als „Gliederung der Staatsmacht“155 vertretene Annahme, dass es die „fürstliche Regierungsgewalt“, die „monarchische Verfassung“ sei, welche „die Verfassung der entwickelten Vernunft“ bilde und dass alle anderen Verfassungen „niedrigern Stufen der Entwicklung und Realisierung der Vernunft“ angehörten.156 Danach soll „der politische Staat“ unter den substantiell unterschiedenen Gewalten „als die letzte Willensentscheidung“ die fürstliche Gewalt haben, „in der die unterschiedenen Gewalten zur individuellen Einheit zusammengefasst sind, die also die Spitze und der Anfang des Ganzen, der konstitutionellen Monarchie, ist.“157 Oder ebenso deutlich wird die Ausbildung des Staates zur konstitutionellen Monarchie als das „Werk der neueren Welt“ bezeichnet, „in welcher die substantielle Idee die unendliche Form gewonnen hat“, letztlich somit die „reelle Vernünftigkeit“ geworden ist.158 Sicherlich haben dieser spezifisch verfassungstheoretische Aussagegehalt und seine während der damaligen sogenannten Restaurationsepoche politisch exponierte Bedeutung ihre Grundlage in der zeitbedingt verstandenen und angewendeten spekulativen Geschichtsphilosophie des Werkes. Sie kann für eine Philosophie der seinerzeitigen Restauration stehen, für eine prinzipielle Staatshörigkeit sowie unter den damals bestehenden politischen Voraussetzungen für eine antiliberale und antidemokratische konstitutionelle Ordnung. Die verfassungspolitische Kritik an jenem reaktionären Konservatismus159 musste sich also aufdrängen. Ganz grundsätzlich hatte sich dabei die Frage nach dem Verhältnis zur Idee des Verfassungsstaates zu stellen. Indessen sollte die spezielle verfassungspolitische Seite im gegenständlich thematisch interessierenden, spezifisch rechts- und staatsphilosophischen Zusammenhang einmal beiseitegelassen und dahingestellt bleiben können, unbeschadet des Umstandes, dass sie das ideengeschichtliche Erscheinungsbild jenes Werkes und seiner Geschichtsphilosophie von Recht und Staat prägt. Vorrangig relevant indessen ist aus der rechts- und staatsphilosophischen Sicht die für jene spekulative Geschichtsphilosophie und Metaphysik des Geistes essentielle, bekanntermaßen gemeinhin kennzeichnende und grundlegende Identifikation von Wirklichkeit und Vernunft als solche. Es geht dabei um die gerade für die praktische 153
Dazu die Nachw. in Fn. 138. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Fn. 135), 260 ff. bzw. § 259 und ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (Fn. 143), §§ 537 ff. 155 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, a.a.O., § 539. 156 A.a.O., § 542 sowie Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Fn. 135), § 273. 157 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O. 158 A.a.O. 159 Fn. 138. 154
V. Von der Vernunftidee zum „objektiven Geist“
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Vernunftphilosophie prinzipielle Frage nach der Stellung der Philosophie zur Wirklichkeit; sie wird in jenem Werk dahin beantwortet, „dass die Philosophie, weil sie das Ergründen des Vernünftigen ist, eben damit das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen“ ist: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“.160 Das hiermit Gemeinte, die eigentliche Bedeutung der für jene Geschichtsphilosophie und Metaphysik des Geistes zentralen Aussage liegt entgegen einem ersten äußeren Anschein nicht ohne weiteres zutage. Vor allem verlangen die rechts- und staatstheoretischen Folgerungen zuerst eine genauere Beurteilung des geschichtsphilosophisch Gemeinten. Der kritische Blick hat sich dabei auch auf die Wirkungsgeschichte des für jene Geschichtsphilosophie essentiellen Satzes für die nachfolgende wissenschaftstheoretische Entwicklung der Geisteswissenschaften im generellen sowie für die Methodologie der Staatsrechtslehre im Besonderen zu richten, im gegenständlichen thematischen Zusammenhang selbstredend vor allem auf das ideengeschichtliche Verhältnis zur Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat. 2. – Das zitierte geschichtsphilosophische Prinzip von der Identifikation des Vernünftigen mit dem Wirklichen und des Wirklichen mit dem Vernünftigen würde in seinem ganz spezifisch durch die betreffende Metaphysik des Geistes bestimmten Sinne gründlich verfehlt werden, wenn man es einfach dahin verstünde, dass das Vernünftige in allem beliebig bzw. zufällig geschichtlich Gewordenen gefunden werden könne und zu erfassen sei.161 Es handelt sich gerade umgekehrt um das aus jener spekulativen Geistphilosophie folgende geschichtsphilosophische Prinzip, wonach das Wirkliche in der geschichtlichen Entwicklung des Geistes als dasjenige zu verstehen ist, worin das im Grunde „Wirkende“ einer Idee besteht und was die Kraft hat, eine Idee zu bewegen.162 Demzufolge ist es der Philosophie zur Aufgabe gemacht, dasjenige zu erfassen, „was in organischer Entwicklung eines Prinzips ans Licht der Wirklichkeit drängt und in der jeweiligen Geistesrichtung einer Zeit bereits Wirklichkeit hat“.163 Also handelt jene spekulative, ganz spezifisch im Sinne einer Metaphysik des Geistes begründete und zu verstehende Geschichtsphilosophie nicht von der Wirklichkeit als dem Ursprung und der Begründung einer Idee, vielmehr ganz im Gegensteil von der Realisierung einer Idee in der Wirklichkeit. Mit anderen Worten ist eine jeweilige Idee das allein Wirkliche in der geistigen Wirklichkeit.164 Damit ist auch klargestellt und definiert, was den bekanntlich im Rahmen jener 160
Grundlinien der Philosophie des Rechts (Fn. 135), 24. Siehe die betreffenden Erörterungen bei Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus (Fn. 37), 495 ff. zu „Begriff und Theorie des objektiven Geistes“, insb. 507. Es geht um die Thematik von „Entdeckung und Entdeckerirrtum“ in der Geschichts- und in der Rechtsphilosophie Hegels (Nicolai Hartmann, Problem des geistigen Seins, Fn. 37, 198), also darum, hierbei den „Wahrheitskern in der Verirrung zu sehen“ (ders., Die Philosophie des deutschen Idealismus, a.a.O., 275). 162 Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus, a.a.O., 507. 163 A.a.O. Zur dementsprechenden „Aufgabe der Philosophie“ ders., a.a.O., 508. 164 Ders., a.a.O., 507. 161
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V. Von der Vernunftidee zum „objektiven Geist“
Geschichtsphilosophie und Metaphysik des Geistes zur „Entdeckung“ gelangten Begriff des „objektiven Geistes“ ausmacht. Er bedeutet und stellt in jener seiner dortigen, ursprünglichen ideengeschichtlichen Herkunft einen metaphysischen Grundsatz und insofern überhaupt von zentraler Bedeutung dar. Denn im Sinne jener Metaphysik des Geistes bezeichnet er die Entwicklung des Geistes „in der Form der Realität als einer von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt“;165 er gilt als eine absolute Idee „auf dem Boden der Endlichkeit“ und behält in dieser seiner wirklichen Vernünftigkeit „die Seite äußerlicher Erscheinung an ihr.“166 Sieht man einmal von dieser ideengeschichtlichen Herkunft, originären Bedeutung und Funktion jener sogenannten Gebilde „objektiven Geistes“ innerhalb der Metaphysik des Geistes ab und betrachtet jene „Entdeckung“ getrennt davon allein unter einem ontologischen Gesichtspunkt und in einem ontologisch verwendbaren Aussagegehalt, dann verbleibt eine deskriptive Begriffsbildung zur Seinsweise einer objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit. Allerdings nach der erörterten und näher definierten ideengeschichtlichen Veränderung steht sie eben den Einzelnen in deren Bewusstsein nicht mehr nur in eigener Gegenständlichkeit gegenüber, sondern kraft einer diese Gegenständlichkeit konstituierenden Idee nun auch als eine aus sich selbst heraus wirkende ideelle Einheit. In diesem vorstehend schon angesprochenen, ideengeschichtlich neu hinzugekommenen Element einer auch eigenständigen ideellen Wirkungsweise objektiver und eigenständiger ideeller Allgemeinheiten, der nunmehr bezeichneten und verwendeten Gebilde objektiven Geistes, in deren betreffender sogenannter „Wendung zum Institutionellen“, liegt die ideengeschichtliche und von nun an bleibende „Entdeckung“. In ihr ist, einer entsprechenden ideengeschichtlichen Beurteilung folgend, das Eigenleben geschichtlichen Geistes erstmalig philosophisch erfasst worden.167 Für die Geisteswissenschaften, namentlich für die Rechtswissenschaft, vermochte dies die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Konsequenz zu begründen, dass objektive geistige Gebilde und eben auch Rechtsnormen, unbeschadet ihrer Seinsstruktur von bewusstseinsgetragenen, intersubjektiv konstituierten Gebilden ideeller Allgemeinheit, prinzipiell auch selbst immer eine eigene und objektive geschichtliche Wirksamkeit entwickeln, d. h. einer in ihnen selbst wirkenden Idee folgen und darin die Grundlage für eine ihnen entsprechende Wissenschaftstheorie und Methodologie bieten. Zwar verdankt sich jene „Entdeckung“ bzw. explizite Vergegenwärtigung in ideengeschichtlicher Hinsicht zweifellos ganz spezifisch jener Metaphysik des Geistes. Aber eine von diesem spekulativen Ursprung absehende bleibende Bedeutung liegt darin, dass ideengeschichtlich schon sie im Grunde den expliziten Ausgangs- und Ansatzpunkt bildet für eine von aller Metaphysik des Geistes befreite, ausschließlich realistische Annahme und Vorstellung zur Seins- und Wirkungsweise von Gebilden einer objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit. Das betreffende „neue“ onto165 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (Fn. 143), 315 (§ 385). 166 Zitat Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus (Fn. 37), 499. 167 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins (Fn. 37), 198.
V. Von der Vernunftidee zum „objektiven Geist“
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logische Verständnis objektiven Geistes168 besteht eigentlich nur in einer anstatt spekulativen, stattdessen um eine zeitliche und geschichtliche Perspektive veränderten und vervollständigten Sicht der betreffenden bewusstseinsmäßigen Voraussetzungen von Seinsgebilden objektiven Geistes, d. h. der betreffenden Intentionalität geistigen Lebens.169 Danach besitzt das diese Seinsgebilde real tragende und sie erkennende Bewusstsein der Einzelnen in dieser seiner letzteren Erkenntnisbeziehung auch die Fähigkeit zu einer zeitlichen Erstreckung auf die geschichtliche Entwicklung und damit auf eine eigene ideelle Wirksamkeit jener Gebilde geistigen Lebens. Man kann in dieser intentionalen Fähigkeit zur Vergegenwärtigung von Seinsweise und Wirksamkeit objektiven geistigen Seins in der Zeit auch schon die Voraussetzung sehen für die Annahme und Begründung eines kraft eigener ideeller Wirksamkeit in der Geschichte erklärbaren und verstehbaren inhaltlichen Apriori praktischer Vernunft, von materialen Wertordnungen in einem ideengeschichtlich phänomenologische Sinne.170 Nicht zuletzt war in ideengeschichtlicher Hinsicht vorausblickend im Zuge der seinerzeitigen geschichtsphilosophischen Erfassung von Gebilden objektiven Geistes im Grunde ansatzweise auch schon die Voraussetzung geschaffen worden für eine realistische „Neue Ontologie“ vom objektiven Geist als dem Träger eines vom Bewusstsein der Einzelnen und von deren Aktivität getragenen geistigen Lebens.171 Freilich ist jene gegenständlich erörterte „Entdeckung“ im betreffenden authentischen Denken „auf den Boden einer allgemeinen, höchst spekulativen Metaphysik des Geistes“ gefallen; „Echtes Geschautes und sehr reell Erfaßtes“ sind in ihr so verwoben, dass sie prinzipielle Kritik und den Vorwurf eines „Entdeckerirrtums“ auf sich ziehen musste. Im ideengeschichtlichen Abstand lässt sich zwischen „Entdeckung und Entdeckerirrtum“ scheiden.172 Man kann insofern dem Resümee folgen, dass jenes spekulative, geschichtsphilosophische System gefallen, aber die Sache geblieben ist.173
168
A.a.O., Zweiter Teil, 175 – 405. A.a.O., 302 – 337; zum mangelnden eigenen Bewusstsein des objektiven Geistes bzw. zur Inadäquatheit des individuellen Bewusstseins für diesen a.a.O., 310 ff. (modus deficiens) sowie demzufolge zur stattdessen leitenden und stellvertretenden Funktion des individuellen Bewusstseins a.a.O., 320 ff. 170 Nicolai Hartmann, Ethik, 4. Aufl. 1962, 148 ff. (ideales Ansichsein von Werten) sowie ders., Der Aufbau der realen Welt (Fn. 37), 116 und ders., Metaphysik der Erkenntnis (Fn. 37), 168 ff.; siehe dazu bei Bartlsperger (Fn. 3), 54 ff., insb. die dortigen Nachw. in Fn. 129. Im Hinblick auf das „Wertdenken in der Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates“ zur bekannten Thematik und Auseinandersetzung um einen ethischen Formalismus siehe zu dessen bekannter phänomenologischer Kritik Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 6. Aufl. 1980; ferner ders., Die deutsche Philosophie, in: Witkop, Deutsches Leben der Gegenwart, 1922, 128 ff., ders., Kant und die moderne Kultur, in: Scheler, Frühe Schriften, 1971, 354 ff. sowie Good, Max Scheler, 1988. 171 Fn. 168. 172 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins (Fn. 37), 198. 173 A.a.O., 199. 169
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V. Von der Vernunftidee zum „objektiven Geist“
In dem dargelegten Sinne ist sonach auch die in der gegenständlichen Thematik als Ursprungs- und Begründungsidee fungierende Vernunftidee von Recht und Staat nach deren genannter und beschriebener ersten ideengeschichtlichen Fortentwicklung zur Vernunftidee vom geschichtlichen Recht und Staat sowie aufgrund jener eben erörterten letzteren „Entdeckung“ durchaus folgerichtig und in Einklang mit ihrem von jeher immanenten Bedeutungsgehalt dahin verstehbar, dass sie einer objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit von Recht und Staatlichkeit mit auch eigener geschichtlicher Wirkungsweise gilt. In ihrer einmal aus der individuellen Freiheit der Einzelnen erfolgten Vernunftbegründung gehört zu ihr folglich ebenso eine objektive und eigenständige ideelle Wirkungskraft und sie steht deshalb den betreffenden unter ihr vereinigten Einzelnen nach der aktiven Konstituierung von deren Seite nunmehr zugleich in einer objektiven und eigenständigen ideellen Wirkungs- und Seinsweise gegenüber. Man darf hierbei nur nicht den grundlegenden und prinzipiellen Unterschied vergessen, der zwischen jener ursprünglichen, spezifisch rechts- und staatsphilosophischen Vernunftidee von Recht und Staat auf der einen Seite sowie der zuletzt erörterten, ganz spezifisch geschichtsphilosophischen Begründung von Gebilden „objektiven Geistes“ auf der anderen Seite besteht. Die Letzteren begreifen sich ausschließlich als metaphysisches Resultat, als genuin geschichtsphilosophisch zu verstehende Gebilde im Sinne einer Metaphysik des Geistes, während die Vernunftidee vom geschichtlichem Recht und Staat als ein Phänomen praktischer Vernunft ihre Begründung in der intersubjektiven Realisierung individueller Freiheit der Einzelnen nach dem allgemeinen Vernunftprinzip des Rechts hat. Der geschichtsphilosophisch begründete „objektive Geist“ in seiner ideengeschichtlich ursprünglichen Begründung und Funktionsvorstellung hat eine metaphysische Grundlage und Bedeutung. Die Vernunftidee vom geschichtlichen Recht und Staat dagegen gilt einem ganz anderen Gebilde objektiven Geistes, das seinen Entstehungsgrund und seine Idee allein in der individuellen Vernunft hat und seine ideelle Seinsweise dem Bewusstsein in dessen geschichtlichem Leben verdankt; es versteht sich als Seinsgebilde einer aus der intersubjektiven Aktivität individueller Freiheit im Bewusstsein der betreffenden Einzelnen konstituierten objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit. Im rechts- und staatsphilosophischen Zusammenhang und Sinn ist dieses letztere genuin vernunftbegründete Gebilde objektiven Geistes nichts anderes als die ontologische Seite der ideengeschichtlich zu Ende gedachten, der praktischen Vernunftphilosophie zugehörigen Ursprungs- und Begründungsidee freiheitlicher Verfassungsstaatlichkeit und freiheitlicher staatsrechtlicher Ordnung. Diese grundlegende und prinzipielle philosophische Differenz im Bedeutungsgehalt objektiven Geistes hat man bei der betreffenden Begriffsverwendung stets im Auge zu behalten. Im Rahmen einer solchen unterscheidenden Betrachtung und Beurteilung zur funktionalen und begrifflichen Verwendung der Seinsidee „objektiven Geistes“ kann schließlich eine betreffende weitere Entwicklung und Erscheinung ideengeschichtlicher Rezeption und Wirkungsgeschichte jener ursprünglich der spekulativen Geschichtsphilosophie und ihrer Metaphysik des Geistes zugehörigen ideellen
V. Von der Vernunftidee zum „objektiven Geist“
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Vorstellung nicht unerwähnt bleiben. Man rührt damit an die Thematik von vielfältigen, mehr oder weniger offenkundigen wirkungsgeschichtlichen Konsequenzen bzw. Einflüssen jener spekulativen Geschichtsphilosophie und Metaphysik des Geistes, auch jener ihrer Idee vom „objektiven Geistes“, in den Bereichen einer für die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts kennzeichnenden spezifischen Wissenschaftstheorie und Methodologie der „Geisteswissenschaften“174 sowie von fachspezifischen Richtungen einer sogenannten „geisteswissenschaftlich“175 oder „organisch“176 begründeten Wissenschaftstheorie und Methodologie der Staatsrechtslehre. Insofern und in letzterer Hinsicht gerät man schon in die ideengeschichtlichen Verstrickungen der Staatsrechtslehre im Rahmen von deren sogenanntem Weimarer Methodenstreit, namentlich zu den dortigen Auseinandersetzungen um den positivistischen und den neukantischen Formalismus in der Staatsrechtslehre. Indessen bilden die betreffenden ideengeschichtlichen Vorgänge innerhalb der Staatsrechtslehre eine auch derart eigengeprägte Thematik, dass die dabei wirkungsgeschichtlichen Zusammenhänge mit jener spekulativ geschichtsphilosophischen Idee von Recht und Staat eine gesonderte und spezifische Beurteilung in einem vorliegend allerdings nur begrenzt möglichen Rahmen verlangen können. Im Kern aber vermag alleine schon die bloße Existenz solcher wirkungsgeschichtlichen Zusammenhänge mit jenen betreffenden fachspezifischen ideengeschichtlichen Vorgänge um die Wissenschaftstheorie und Methodologie der Staatsrechtslehre jedenfalls auch einen für die gegenständliche Thematik unmittelbar bedeutsamen und an dieser Stelle primär bemerkenswerten Umstand offenzulegen. Die spekulativ geschichtsphilosophische Idee von Recht und Staat hat zusammen mit den genannten wirkungsgeschichtlichen Folgen ersichtlich für die Staatsrechtslehre zu einer nachhaltig fundamentalen ideengeschichtlichen Zäsur geführt, von der an die von der Vernunftkritik ausgehende Rechts- und Staatsphilosophie nicht nur in Sachen der Wissenschaftstheorie der Staatsrechtslehre zurückgetreten ist; vielmehr ist sie ebenso und insbesondere ihrer ideengeschichtlichen Bedeutung als normativer Ursprungs- und Begründungsidee vom Verfassungsstaat und von einer verfassungsstaatlichen Ordnung letztlich verlustig gegangen. Vor allem und speziell dieser verfassungs- bzw. staatstheoretische Umstand und Gesichtspunkt ist es, der für die Staatsrechtslehre den prinzipiellen ideengeschichtlichen Bedeutungsgegensatz zwischen einer aus jener spekulativen Geschichtsphilosophie begründeten Idee von Recht und Staat sowie der dieser substantiell zugehörigen, im Sinne einer Metaphysik des Geistes verstehbaren Idee vom „objektiven Geistes“ einerseits sowie dem im Unterschied dazu recht eigentlichen rechts- und staatsphilosophischen Aussage- und Bedeutungsgehalt der aus der originären praktischen Vernunftphilosophie kommenden Vernunftidee vom geschichtlichen 174
1965.
Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 4. Aufl.
175 Zur geisteswissenschaftlichen Richtung innerhalb des sogenannten Weimarer Methodenstreits der Staatsrechtslehre die Nachw. in Fn. 5. 176 Zu den Organismustheorien in der Staatsrechtslehre Nachw. in Fn. 61.
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V. Von der Vernunftidee zum „objektiven Geist“
Recht und Staat andererseits wesentlich und in genau nachweisbarer Weise ausmacht. Jene aus einer Metaphysik des Geistes entwickelte Philosophie vom Staat und vom Recht begründet in ihrer prinzipiellen Konsequenz und in ihrem dementsprechend objektiv beurteilbaren Ergebnis, namentlich wenn man von ihrer angesprochenen eigenen und authentischen, augenscheinlich der damaligen Zeitgeschichte und speziell der preußischen Restaurationspolitik geschuldeten politischen Positionierung „Innerer Verfassung“ für die konstitutionelle Monarchie absieht, eine ganz spezifisch geschichtsphilosophische Beliebigkeit staatsrechtlicher Verfasstheit; es ist ein „geschichtlicher Positivismus“ in der Konstituierung von staatlicher Herrschaft und ihrer staatsrechtlichen Ordnung.177 Eine in diesem Verständnis jenes Werkes eingehendere Betrachtung und differenzierende Beurteilung kann dessen Philosophie vom Staat und von dessen Rechtsordnung wohl am ehesten gerecht werden. Auch wird auf solche Weise und bei einer derart genaueren Beurteilung des prinzipiellen geschichtsphilosophischen Aussagegehalts jenes Werkes, d. h. gerade unter dem genannten verfassungstheoretischen Kriterium und verfassungspolitischen Aspekt, der fundamentale Gegensatz zur rechts- und staatsphilosophischen praktischen Vernunftidee von Recht und Staat deutlich; es ist der Unterschied zu der herausragenden, zu der gerade normativen Bedeutung der vernunftkritischen Ursprungs- und Begründungsidee des Verfassungsstaates und seiner versfassungsstaatlicher Ordnung. Die praktische Vernunftidee vom Verfassungsstaat begründet und versteht diesen wesentlich gerade normativ als eine „Republik der Vernunft“178, d. h. im Sinne der normativen Idee, wonach Recht und Staat ihre Voraussetzung und ihren Entstehungsgrund in dem Vernunftgebot intersubjektiver Beschränkung und wechselseitigen Zusammenbestehens von genuin vernunftbegründeten ursprünglichen Freiheiten der Einzelnen, d. h. im neueren fachspezifisch staatsrechtlichen Sinne von subjektiven Rechten der Einzelnen, haben. Der Verfassungsstaat als praktische Vernunftidee ist im Unterschied zu einer geschichtsphilosophisch beurteilten, lediglich positivistischen Erscheinung eine staats- und rechtsphilosophisch begründete normative Idee vom freiheitlich demokratischen Staat und von seiner rechtsstaatlich demokratischen Verfassungsordnung sowie von einer dementsprechend konstituierten und legitimierten Rechtsordnung. 3. – Die beiden konträren idealistischen Auffassungen zur Idee von Staat und Recht folgen in ihrem jeweiligen Verständnis praktischer Philosophie sowie in ihrer wirkungsgeschichtlichen Bedeutung und Konsequenz fundamental unterschiedlichen Annahmen zur Verwirklichung und zur Wirklichkeit des Vernünftigen in der Geschichte. Im Gegensatz zur ideengeschichtlich vorausgegangenen vernunftkritischen und, wie gesagt, normativen Ursprungs- und Begründungsidee vom Staat als 177
Entgegen staats- und verfassungstheoretischen Begründungsideen von Staat und Verfassung werden jeweils bestehende Verfassungen angenommen, die organisch aus dem geschichtlichen Sein eines Volkes hervorgegangen sind und das Vernünftige im Sinne der Volkssouveränität verwirklichen (Nicolai Hartmann, Philosophie des deutschen Idealismus, Fn. 37, 536). 178 Oben Abschnitt II.; Nachw. Fn. 39.
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Verfassungsstaat und einer dementsprechend verfassungsstaatlichen Idee vom Recht vermag die in einer Metaphysik des Geistes begründete spekulative Geschichtsphilosophie die Vernünftigkeit von Staat und Recht erst in deren geschichtlicher Wirklichkeit zu begreifen, nachdem sie „erst in der Zeit“, in der Wirklichkeit „ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat“.179 Zugrunde liegt dem überhaupt eine Auffassung von der Philosophie, wonach diese für ein „Belehren, wie die Welt sein soll“, ohnehin immer zu spät komme und daher auch den Staat schon „als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen“ im Stande sei.180 Von bezeichnender Anschaulichkeit für dieses Verständnis von Philosophie ist die bekannte authentische Metapher, wonach „die Eule der Minerva“ erst „mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ beginne.181 Demzufolge und authentisch ausformuliert gilt danach der Staat als „das an und für sich Vernünftige“ und als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“.182 Er hat an der Sitte „seine unmittelbare und in dem Selbstbewusstsein des Einzelnen, dem Wissen und Tätigkeit desselben, seine vermittelte Existenz, so wie dieses durch die Gesinnung in ihm, als seinem Wesen, Zweck und Produkt seiner Tätigkeit, seine substantielle Freiheit hat.“183 Im Sinne des sogenannten „Inneren Staatsrechts“184 versteht sich danach folgerichtig der Staat als „die Wirklichkeit der konkreten Freiheit“185 und solches hat als Prinzip der so verstandenen „modernen Staaten“ zu bedeuten, „das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.“186 Ebenso und entsprechend dem in gleicher Weise verstandenen Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit gilt danach das Recht als das „Dasein des freien Willens“; es ist „somit überhaupt die Freiheit, als Idee“.187 Vergegenwärtigt man sich den in jenen authentischen Darlegungen erkennbar gemeinten Aussage- und Bedeutungsgehalt, so handelt es sich offenkundig um ein erst noch unmittelbar jener philosophischen Ebene einer Metaphysik des Geistes zugehörige und erst noch unmittelbar im Rahmen von deren spekulativer Geschichtsphilosophie begründetes Verständnis praktischer Philosophie, nach welcher die Sittlichkeit eine Sache der Gemeinschaft ist, der Einzelne sie nur als Glied der staatlichen Gemeinschaft hat und die Freiheit lediglich als eine im allgemeinen Rechtssystem konkret verwirklichte Freiheit besteht. Mit anderen Worten ist es der erörterte, der betreffende in jenem spekulativ geschichtsphilosophischen Sinne 179 180 181 182 183 184 185
117 f. 186 187
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Fn. 135), Vorrede, 28. A.a.O., 27 f. bzw. 26. A.a.O., 28. A.a.O., 399 (§ 258) bzw. 398 (§ 257). A.a.O., 398 (§ 257). Fn. 154. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Fn. 135), 406 (§ 260). Mäder (Fn. 135), A.a.O., 407 (§ 260). A.a.O., 80 (§ 29).
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verstandene „objektive Geist“ der staatlichen Gemeinschaft, in welcher der Einzelne seine Sittlichkeit, sowie derjenige der jeweiligen Rechtsgemeinschaft, in welcher er seine Freiheit verwirklicht. Zusammengefasst und abstrahiert hat man es also mit einer spezifisch geschichtsphilosophischen Begründungsidee praktischer Vernunft zu tun, wonach diese in dem einer Metaphysik des Geistes folgenden Seinsgebilde „objektiven Geistes“ der jeweiligen Gemeinschaft besteht, wie der betreffenden, von der bürgerlichen Gesellschaft und von deren im Interesse der Einzelnen als solcher dienenden Zweck unterschiedenen staatlichen Gemeinschaft und der betreffenden Rechtsgemeinschaft. Demzufolge steht das spezielle staats- und rechtsphilosophische Interesse erst einmal vor der Aufgabe, die aus jenem spekulativ geschichtsphilosophischem Werk, aus dessen zunächst bloßer Philosophie vom Staat und vom Recht, sich eröffnenden spezifisch staats- und rechtsphilosophischen Konsequenzen für eine Staat- und Verfassungstheorie zu erkennen sowie die Folgerungen zu ziehen für eine in jenem Werk mehr oder weniger selbst schon explizierte Rechtslehre. Beides macht einen aktuellen Sinn aus Sicht einer Projektion auf die gegenwärtige staatsrechtliche Ordnung unter der geltenden Verfassungsordnung des Grundgesetzes sowie einer Gegenwartsbeurteilung von Wissenschaftstheorie und Methodologie der Staatsrechtslehre. 4. – In staats- und verfassungstheoretischer Hinsicht, d. h. aus Sicht der staats- und verfassungstheoretischen Konsequenzen, ist an die vorstehend schon getroffene Feststellung anzuknüpfen, dass jene auf einer metaphysischen „Phänomenologie des Geistes“ basierenden spekulativ geschichtsphilosophischen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, bei einer werkkritischen Eliminierung ihrer angesprochenen, der damaligen verfassungsgeschichtlichen Situation zurechenbaren Positionierung für die konstitutionelle Monarchie,188 in ihrem objektivierten und wirkungsgeschichtlichen Bedeutungsgehalt einem „geschichtlichen Positivismus“ vom Staat als der jeweiligen „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ und von der staatsrechtlichen Verfasstheit des Staates als der jeweiligen „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ folgen. Es handelt sich um einen spezifisch geschichtsphilosophischen Positivismus, weit entfernt von einem juristischen Positivismus und gerade in einem prinzipiellen Gegensatz zum fachspezifisch staatsrechtlichen Positivismus der spätkonstitutionellen Epoche sowie zu jedem fachspezifischen Rechtspositivismus und zu jedem Formalismus in der Rechts- und Staatslehre. Danach bildet die jeweilige „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ den Staat und in diesem Staat als der jeweiligen „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ konstituiert sich das jeweilige sogenannte „Innere Staatsrecht“ zur staatsrechtlichen Stellung des Einzelnen. Es ist der spezifische Positivismus des in jener Metaphysik des Geistes begründeten Seinsidee vom „objektiven Geist“ in Bezug auf jede in der geschichtlichen Realität jeweils wirkende Idee vom Staat und vom Recht. Eine aktuell interessierende Projektion jener spezifischen Geschichtsphilosophie vom Staat und vom Recht auf den Staats- und Verfassungszustand unter der gegenwärtigen staatsrechtlichen Ordnung des 188
Fn. 138.
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Grundgesetzes vermag die Beurteilung zur ideengeschichtlichen Bedeutung jenes Werkes zu vervollständigen und zu präzisieren. Ein solcher Gegenwarts- und Aktualitätsbezug jener zunächst freilich noch gar nicht als recht eigentliche Staat- und Rechtsphilosophie gedachten, jener bloßen Geschichtsphilosophie vom Staat und vom Staatsrecht, erscheint nicht zuletzt dafür geeignet, um deren wirkungsgeschichtliche Konsequenz klar in Erscheinung treten zu lassen und dabei ihre gegenüber der originären vernunftkritischen Ursprungs- und Begründungsidee vom Verfassungsstaat und seiner staatsrechtlichen Ordnung verschlossene Sonderstellung zu vergegenwärtigen. In der Konsequenz jener einer Metaphysik des Geistes folgenden Geschichtsphilosophie vom Staat und vom Staatsrecht hätte es in der gegenwärtigen Verfassungsepoche unter dem Grundgesetz ausschließlich die aufgrund des in der Verfassunggebung und in den nachfolgenden Verfassungsänderungen objektivierten Verfassungstextes entstandene und entstehende konkrete Wirklichkeit der Verfassungspraxis, der Verfassungsdogmatik und der Staatsrechtswissenschaft, genauer die darin „wirkende“ Idee vom Verfassungsstaat zu sein, welche die gegenwärtige Staats- und Verfassungsphilosophie vom Verfassungsstaat begründet und maßgeblich bestimmt. Dagegen würde es für die zeitgeschichtliche Staatsrechtslehre keine spezifische staats- und rechtsphilosophische Begründungsidee zum Verfassungsstaat des Grundgesetzes geben können, keine demensprechende abstrakte Staats- und Verfassungstheorie sowie insbesondere keine originär normative Idee und Verbürgung des Verfassungsstaates und von dessen staatsrechtlicher Ordnung, wie sie in der sogenannten Identitätsgarantie des Grundgesetzes189 für die betreffenden in ihm niedergelegten Verfassungsgrundsätze expliziten Ausdruck gefunden hat. Wozu also jene spezifisch geschichtsphilosophische Vernunftidee vom Staat und von dessen „Innerem Staatsrecht“ überhaupt keinen Zugang eröffnet, ist die der verfassungsstaatlichen Idee des Grundgesetzes innewohnende, im Grunde und in der Sache vertraute normative Ursprungs- und Begründungsidee des Verfassungsstaates. Es handelt sich um den aus der ideengeschichtlichen Entwicklung idealistischer Philosophie vom Staat und von seiner Verfassung resultierenden Gegensatz zwischen einer geschichtsphilosophischen Vernunftidee vom geschichtlich positivierten Verfassungsstaat des Grundgesetzes auf der einen Seite sowie einer in der originären praktischen Vernunftkritik begründeten normativen Vernunftidee von dem unter dem Grundgesetz verwirklichten geschichtlichen Verfassungsstaat auf der anderen Seite. Sicherlich vermag der schon angesprochene, der seinerzeit ideengeschichtliche Entdeckerfortschritt der geschichtsphilosophischen Vernunftidee von Staat und Verfassung auch zur Staats- und Verfassungssituation unter dem Grundgesetz einen Beitrag zu leisten für deren intentionales Verständnis als eines vom Bewusstsein der Gemeinschaft getragenen Staats- und Verfassungszustandes. Insofern, aber eben nur insofern lässt sich auch ein möglicher Gegenwartsbezug jener geschichtsphilosophischen Vernunftidee vom Staat und vom Staatsrecht zur Verfassungsordnung unter dem Grundgesetz bestä189
Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz.
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tigen. Indessen kann hierbei nicht die fundamental unterschiedliche Auffassung zur verfassungsstaatlichen Begründungsidee der Freiheit und des subjektiven Rechts außer Acht bleiben. Aus Sicht der geschichtsphilosophischen Vernunftidee vom Verfassungsstaat vermag die Freiheit, wie schon festgestellt und zitiert, nur als im Staat verwirklichte „konkrete Freiheit“ begriffen zu werden. Wendet man einen ideengeschichtlich weiter zurückreichenden Blick den vormodernen Staatslehren zu, so kann man auch von einer Wiederkehr des vorkritischen, in der Idee der Sittlichkeit begründeten Staats- und Rechtsverständnisses sprechen, dem die Freiheit in vernunftbegründeter Ursprünglichkeit noch fremd war und das, um es aus der neueren Ideengeschichte der Rechts- und der Staatsrechtslehre zu sehen, ein subjektives Recht der Einzelnen untereinander sowie im und gegenüber dem Staat noch nicht gekannt hatte.190 In einem fundamentalen Unterschied zur spezifischen Geschichtsphilosophie vom Staat und vom Recht ist für die verfassungsstaatliche Ordnung des Grundgesetzes jedenfalls die in der neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre sich entwickelnde Idee des subjektiven Rechts grundlegend,191 eine Idee individueller Freiheit, deren Bestimmung es im Sinne des kraft praktischer Vernunft geltenden „Allgemeinen Prinzips des Rechts“192 gerade ist, in einer Beschränkung durch die vernünftigerweise geforderte wechselseitige Komptabilität mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zu bestehen und damit der in solcher wechselseitiger Anerkennung konstituierten objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit des geschichtlichen Staates und des geschichtlichen Rechts gegenüberzustehen. Beides gehört zur Rechtsidee vom vernunftbegründet ursprünglichen subjektiven Recht, der betreffende individuelle Wille im Bewusstsein seiner Freiheit sowie deren Bestimmung zur intersubjektiven Beschränkung in Form der objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit des geschichtlichen Staates und des geschichtlichen Rechts. Die in der praktischen Vernunftphilosophie aufgenommene moderne Idee vom subjektiven Recht, die praktische Vernunftidee vom subjektiven Recht, und die praktische Vernunftidee vom „Verfassungsstaat als Staat“ gehören zusammen. 5. – Man vermag also nachweislich einen zwiespältigen und in sich gegensätzlichen Aktualitäts- und Gegenwartsbezug der Vernunftmetaphysik sowie von deren spekulativ geschichtlicher Philosophie des Staates und des Rechts zum Verfassungsstaat und zu der verfassungsstaatlichen Ordnung unter dem Grundgesetz auszumachen. Auf der einen Seite ist die Erstere, wie dargelegt, durchaus in der Lage, auf der Grundlage ihrer Geschichtsphilosophie und von deren Methode ihren ganz besonderen philosophischen Beitrag zu leisten zum intentionalen Verständnis der Verfassungssituation unter dem Grundgesetz als eines nach bekannter und zeitgeschichtlich kennzeichnender Auffassung im Bewusstsein der unter dieser Verfassung vereinigten Gemeinschaft verankerten und legitimierten Verfassungs190
Dazu Fn. 107 f. Bartlsperger, Das subjektive öffentliche Recht als Apriori des Verfassungsstaates, Festschrift Schenke, 2011, 17 ff. 192 Kant (Fn. 3), S. 39 (§ C). 191
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zustandes; es geht zumindest bildhaft um das Phänomen eines „objektiven Geistes“ des Grundgesetzes. Darin lässt sich ein allerdings nur auf geschichtsphilosophischer Ebene vorhandener Ansatz, eine von dieser Seite geleistete Unterstützung sowie ein von dort beigesteuertes Argument sehen für die staats- und verfassungstheoretische Begründung einer intentional getragenen, der Verfassungsordnung des Grundgesetzes existenziell und genuin zugehörigen materialen Verfassungstheorie sowie einer dementsprechenden staatsrechtlichen Methode. Auf der anderen Seite versperrt sich jene spezifisch metaphysische Geistphilosophie mit ihrer fundamentalen positivistischen Auffassung von einer in der Staats- und Rechtswirklichkeit wirkenden und nur dort existenten Vernunftidee vom Staat und vom Recht den Zugang zu der ganz anderen originär vernunftkritischen, normativen Begründung verfassungsstaatlicher Ordnung des Grundgesetzes im subjektiven Recht sowie zu einer dementsprechend darin begründeten freiheitlichen, rechtsstaatlich demokratischen Ordnung, die es gerade sind, welche das wohl eigentlich Sinnvolle am angesprochenen intentionalen sogenannten „Verfassungspatriotismus“193 unter dem Grundgesetz bilden. Es besteht ein fundamentaler philosophischer Gegensatz zwischen der staats- und rechtsphilosophisch präzisierten originär vernunftkritischen und normativen Ursprungs- und Begründungsidee vom Verfassungsstaat und von seiner verfassungsstaatlichen Ordnung auf der einen Seite sowie auf der anderen Seite der aus einer Metaphysik des Geistes begründbaren Idee von einem lediglich in der Geschichte entstandenen, lediglich der geschichtlichen Positivität zu verdankenden Verfassungsstaat und seiner Rechtsordnung. Jener betreffende, die ideengeschichtliche Entwicklung idealistischer Philosophie zum Staat und zum Recht fundamental kennzeichnende Gegensatz ist es, welcher einerseits die vernunftkritische Ursprungs- und Begründungsidee des Verfassungsstaates einmal mehr in ihrer ideengeschichtlichen Kontur und Bedeutung in Erscheinung treten sowie ihre aktuelle, gegenwärtige Bedeutung als staats- und rechtsphilosophische Grundlage für die Staats- und Verfassungssituation unter dem Grundgesetz zutage treten lässt; auf der anderen Seite ergibt sich in umgekehrter Blickrichtung ein vergleichbar klares Bild zu der angesichts ihrer Komplexität nicht gerade leicht erfassbarem Staats- und Rechtsidee der Vernunftmetaphysik. Innerhalb des betreffenden Werkzusammenhanges derselben besteht zudem auch eine ganz spezielle authentische Stelle, die zu diesen gegensätzlichen Positionen eine letzten Endes eindeutige und abschließende Beurteilung erlaubt. Es handelt sich um die in jenem Werkzusammenhang eben auch unumgänglich notwendig gewesene und explizit geschehene ideengeschichtliche Auseinandersetzung mit der originären vernunftkritischen Rechtslehre.194 Eine ge193
Zu dem zwiespältigen Verständnis, Gebrauch und Effekt dieser Begriffsbildung Isensee, Staat und Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., 2006, Bd. II, § 15 Rn. 17 und ders., Gemeinwohl im Verfassungsstaat, ebd., Bd. IV, § 71 Rn. 130 sowie Hillgruber, a.a.O., Bd. II, § 37 Rn. 34 f. 194 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Fn. 135), 80 ff. (§ 29). Zutreffend hervorgehoben bei Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus (Fn.37), 511.
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nauere Betrachtung dieses ganz spezifischen authentischen Angriffs von Seiten der Vernunftmetaphysik gegen die originäre vernunftkritische Rechtslehre erscheint geboten, weil die betreffende Argumentation es ist, die den Standort und das Erscheinungsbild jener Vernunftmetaphysik überhaupt innerhalb der Ideengeschichte praktischer Vernunftphilosophie ausgesprochen deutlich markiert und dazu eine abschließende ideengeschichtliche Beurteilung erlaubt. 6. – Der gezielte direkte Angriff von Seiten der spekulativen Geschichtsphilosophie und ihrer Philosophie des Rechts gegen die originäre vernunftkritische Rechtsidee versteht sich einmal mehr zwingend aus der besagten fundamentalen Annahme der Vernunftmetaphysik, wonach das Vernünftige erst in der geschichtlichen Wirklichkeit zur Wirkung komme und sich zeige, überhaupt erst in dieser seinen Ausgang nehme und seinen Grund habe, dass also auch allein das geschichtliche Recht es ist, in dem der in der praktischen Vernunftphilosophie vorausgesetzte Wille des Einzelnen zum Bewusstsein seiner Freiheit gelange, somit das geschichtliche Recht es ist, in dem der freie Wille sein „Dasein“ habe „als an und für sich seiender, vernünftiger“.195 Aufgrunddessen musste sich die Vernunftmetaphysik in ihrer Staats- und Rechtslehre rückblickend auch noch einmal gegen die schon in der sogenannten modernen Staatsvertragslehre vertretene Auffassung wenden, wonach der individuelle Wille des Einzelnen die substantielle, die „natürliche“ Grundlage und das Erste für das Recht sein soll. Zum Zweiten und vor allem musste sich die fundamentale Kritik der geschichtsphilosophischen Rechtsidee gegen die ideengeschichtlich zunächst liegende Rechtsbegründungsidee der originären praktischen Vernunftkritik richten, wonach für das Recht gerade der besondere Wille des Einzelnen die substantielle Grundlage ist sowie gerade „die Beschränkung meiner Freiheit oder Willkür, dass sie mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetz zusammenbestehen könne, das Hauptargument ist.“196 Der hiergegen von Seiten der Vernunftmetaphysik prinzipiell zu erhebende und erhobene Vorwurf richtet sich also dagegen, dass das Vernünftige im Recht im Grunde lediglich als beschränkend für die Freiheit gelten solle sowie dadurch nach ihrer Ansicht „nur als ein äußeres, formelles Allgemeines herauskommen“ könne.197 Ein solches daher angenommenes nur formalistisches Rechtsdenken ist es nach Ansicht der Vernunftmetaphysik gewesen, das „in den Köpfen und in der Wirklichkeit Erscheinungen hervorgebracht hat, deren Fürchterlichkeit nur an der Seichtigkeit der Gedanken, auf der sie sich gründeten, eine Parallele hat.“198 Diese Identifizierung und ideengeschichtlich abschließende Unterstellung eines angeblichen Formalismus der originären vernunftkritischen Rechtsidee sollte zwar zwischenzeitlich auch eine Interpretation erfahren, wonach die Vernunftmetaphysik jene in der originären praktischen Vernunftkritik vertre195 196 197 198
A.a.O., 80 (§ 29). A.a.O. A.a.O., 81 (§ 29). A.a.O.
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tene Auffassung von der wechselseitigen Freiheitsbeschränkung durchaus anerkenne, aber in der Letzteren nur nicht das Substantielle von deren Rechtsidee sehe, sondern lediglich die „niederen und abstrakteren Stufen des Rechts“, die von den höheren im Sinne der Vernunftmetaphysik „überlagert und in ihnen zu einem Moment herabgesetzt seien.“199 Indessen sollte sich sogar eine solche vermittelnde Interpretation verbieten; denn bei genauerer Betrachtung des von der Vernunftmetaphysik Gemeinten geht es dieser um prinzipiell mehr, nämlich um eine fundamentale generelle Kritik der Rechtsidee originärer praktischer Vernunftkritik, um die gänzliche Verwerfung von deren „Allgemeinem Prinzip des Rechts“, der wechselseitigen Beschränkung und Komptabilität der „Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit“ als eines angeblichen bloßen Formalismus des Rechts, der das „Dasein“ und die Vernünftigkeit des Rechts überhaupt verfehle. Nachweislich, weil erklärtermaßen gibt die spekulative Geschichtsphilosophie vom Recht in ihrem dargelegten Angriff gegen die originäre vernunftkritische Rechtsidee zu erkennen, welche ideengeschichtliche Position und Bedeutung sie demgegenüber innerhalb der praktischen Vernunftphilosophie für die Vernunftmetaphysik überhaupt beanspruche. Es geht ihr ersichtlich und, wie angeführt, ausdrücklich benannt darum, das angebliche und als solches durchaus bekannte Formalismusproblem der originären praktischen Vernunftphilosophie ihrerseits aufzugreifen, dessen auszumachenden Problemgehalt grundlegend offenzulegen sowie demgegenüber die eigene Geschichtsphilosophie des Rechts entschieden und konsequent zu begründen und zu rechtfertigen. Dabei steht ihr die originäre praktische Vernunftphilosophie vom Recht und vom Staat als die apriorische Vernunftidee vor Augen, die in ihrem ideengeschichtlich ursprünglichen, authentischen Erscheinungsbild in der Tat noch als eine ausschließlich formal gedachte normative Vernunftidee verstanden werden konnte; gegenständlich ist dies in dem vorhergehenden Abschnitt dargelegt und erörtert worden, der sich mit der ideengeschichtlich zwingend geschehenen immanenten Fortbildung jener originären vernunftkritischen Idee vom Recht und vom Staat nach „Prinzipien der Wissenschaftslehre“ zur Vernunftidee des geschichtlichen, bewusstseinsmäßig in einen Zusammenhang mit der Sinnenwelt gebrachten Rechts und Staates beschäftigt.200 Es ist also jenes in der ursprünglich und authentisch artikulierten praktischen Vernunftkritik vermeinte Erscheinungsbild eines ethischen Formalismus sowie jenes Verständnis der originären praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat, das in der Frage von deren Geschichtlichkeit wohl zutreffend als erst „relativ unentfaltet“ und noch unfertig beurteilt werden kann. Denn ersichtlich ist die originäre praktische Vernunftphilosophie bei ihrem seinerzeit offensichtlich revolutionären, fundamentalen Entwicklungsschritt zu einem vernunftbegründeten, apriorischen „Allgemeinen Prinzip des Rechts“ sowie zu einer dementsprechenden apriorischen „Form eines Staates überhaupt“, zum Staat in der Idee, „wie 199
Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus (Fn. 37), 511. Oben Abschnitt V.; dort (Fn. 112) Nachw. zur betreffenden „Wissenschaftslehre“ sowie zur sogenannten Anerkennungslehre. 200
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er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll“, über eine formale Rechtsphilosophie und eine normative formale Staatsphilosophie nur nicht mehr hinausgelangt; wie bei anderer Gelegenheit schon festgestellt, hatte es offenbar ihr damaliges Blickfeld und ihre seinerzeit vergegenwärtigten Möglichkeiten als eines apriorischen „reinen“ transzendentalphilosophischen Denkens noch überschritten, dass auch die apriorischen Vernunftideen vom Recht und vom Staat nicht ohne die geschichtliche Realisierung derselben und nicht ohne ihre objektive Wirklichkeit verstanden werden können.201 Zwar ist jenes insofern zweifellos problematische Erscheinungsbild originärer praktischer Vernunftphilosophie, speziell ihrer Rechts- und Staatsphilosophie, in der hier schon erörterten, ideengeschichtlich unmittelbar anschließenden und auf wissenschaftstheoretischer Grundlage vorgenommenen Ergänzung bereits korrigiert und in seinem objektiven ideengeschichtlichen Bedeutungsgehalt klargestellt worden. Aber offensichtlich vermochte jene immanente Verdeutlichung keine hinreichende Nachdrücklichkeit und Wirkung zu entfalten und nicht zu verhindern, dass es in der Vernunftmetaphysik sowie in ihrer Geschichtsphilosophie vom Recht und vom Staat bei einer Wahrnehmung vernunftkritischer Rechts- und Staatsidee als einer formalistischen Rechts- und Staatsphilosophie bleiben konnte. Die Vernunftmetaphysik ist in der Folgezeit auch nur eine von mehreren Reaktionen geblieben, die das ursprünglich, wie dargelegt, zweifellos vorhandene Formalismusproblem der praktischen Vernunftkritik sowie ihrer Rechts- und Staatsidee aufgegriffen und dazu ihre eigenen Schlüsse gezogen haben. Bekanntlich ist ihr in der Auseinandersetzung mit jenem Problem eine wirkungsgeschichtlich nachhaltige Gegenposition vor allem im Neukantianismus erwachsen, welcher der Vernunft nur eine theoretische Erkenntnisfunktion zubilligt und daher eine Erkenntnisfunktion praktischer Vernunftphilosophie prinzipiell verneint, also eine praktische Vernunftphilosophie überhaupt verwirft.202 Ferner gehört ein wie auch immer artikulierter naturwissenschaftlicher Dogmatismus hierher. Demgegenüber zeichnet sich die Vernunftmetaphysik dadurch aus, dass sie in ihrer Geschichtsphilosophie vom Recht und vom Staat durchaus auf dem Boden praktischer Vernunftphilosophie geblieben ist sowie namentlich an einer vernunftbegründeten Staatsidee als regulativer Idee der Staatsrechtslehre festgehalten hat. Sie kann damit beanspruchen, ideengeschichtlich den prinzipiellen Gegensatz zum Formalismus in der Rechtslehre überhaupt sowie speziell gegenüber dem Formalismus in der Staatsrechtslehre signifikant markiert zu haben. Dadurch hat sie einen entsprechenden, mehr oder weniger deutlichen und nachvollziehbaren wirkungsgeschichtlichen Einfluss auf die nachfolgenden wissenschaftstheoretischen und methodologischen Auseinandersetzungen um den juristischen Formalismus sowie auf die betreffenden Entwicklungen in der neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre zu entfalten vermocht. Aber zugleich hat sie hierbei aufgrund ihres genannten geschichtlichen Positivismus staatsrechtlicher Ordnung auch dazu beigetragen, dass die ver201 202
Siehe die Nachw. in Fn. 121. Fn. 85 f.
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nunftbegründete ursprüngliche Rechts- und Staatsphilosophie sowie deren praktische Vernunftidee vom geschichtlichen Recht und vom geschichtlichen Staat in jenem ihrem spezifischen normativen Aussage- und Bedeutungsgehalt als normativer Vernunftidee verfassungsstaatlicher Ordnung zurückgetreten oder überhaupt verlorengegangen ist. Vor dem betreffenden weitgespannten ideengeschichtlichen Hintergrund macht es somit die besondere und einmalige Stellung der Vernunftmetaphysik und ihrer Philosophie vom Recht und vom Staat aus, dass sie dem Formalismusproblem der originären praktischen Vernunftkritik mit der spekulativen geschichtsphilosophischen Idee von einer in der Realität des Rechts und des Staates wirkenden objektiven Vernünftigkeit begegnet, dass sie auf diese Weise aber auch die vernunftbegründete normative Ursprungs- und Begründungsidee des republikanischen Verfassungsstaates und namentlich das vernunftbegründet ursprüngliche subjektive Recht des Einzelnen als letztlich alleinige Grundlage einer freiheitlichen, rechtsstaatlich demokratischen Verfassungsordnung verleugnet. Nicht wahrnehmen, nicht anerkennen will sie, dass eine vernunftbegründete Idee vom Recht und vom Staat auch als eine Vernunftidee vom geschichtlichen Recht und vom geschichtlichen Staat ihre rechts- und staatphilosophische Grundlage zuerst und unmittelbar im vernunftgemäß ursprünglichen subjektiven Rechts der Einzelnen sehen muss, dass sie also in diesem Sinne substantiell die betreffende, kraft Vernunft wechselseitig gebundene und beschränkte individuelle Freiheit voraussetzt sowie aufgrund ihres solchen, vernunftkritisch gebotenen Verständnisses eine normative Funktion als Idee vom Verfassungsstaat als einer im individuellen Willen und in dessen Bewusstsein seiner Freiheit begründeten rechtstaatlich demokratischen Republik beansprucht. Demgegenüber folgt die Vernunftmetaphysik mit ihrer Geschichtsphilosophie von einer objektiven Vernünftigkeit der geschichtlichen Wirklichkeit, insbesondere des geschichtlichen Rechts und des geschichtlichen Staates, d. h. mit ihrem prinzipiellen und generellen geschichtlichen Positivismus praktischer Vernunftphilosophie, im Ergebnis dezidiert der Philosophie eines positivistischen Etatismus. In seiner rechts- und staatsphilosophischen Konsequenz bedeutet er eine geschichtsphilosophische, d. h. gerade „die“ geschichtsphilosophische Vernunftidee vom Recht und vom Staat. 7. – Die genannten essentiellen Aussage- und Bedeutungsgehalte der Vernunftmetaphysik sind in ihrem authentischen Werkzusammenhang der betreffenden „Phänomenologie des Geistes“ sowie der speziellen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ nicht zuletzt unmittelbar verbunden mit der erwähnten, bekannten Annahme und Vorstellung geistiger Wirklichkeit als einem jeweiligen Seinsgebilde „objektiven Geistes“. Es ist denn auch gerade jene geschichtsphilosophisch „entdeckte“ Seinsidee objektiven und eigenständigen geistigen Lebens, die schon in der nachfolgenden kulturgeschichtlichen Epoche während der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine wirkungsgeschichtliche Verselbständigung erlebt hat. Jene Seinsidee in ihrem damaligen Verständnis ist zum Anknüpfungspunkt in dem seinerzeit beginnenden Ringen der Geisteswissenschaften um deren eigen-
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ständige Wissenschaftstheorie geworden und sie hat dabei die ontologische Grundlegung geliefert für eine entsprechende Methodologie derselben.203 Sei es dadurch vermittelt oder in einem unmittelbaren rezeptiven Anschluss an den originären geschichtlichen Positivismus der Vernunftmetaphysik hat jene Seinsidee vom objektiven Geist dann einen mehr oder weniger ausgeübten und nachweislichen wirkungsgeschichtlichen Einfluss entfaltet auf Seiten der in der neueren fachspezifischen Ideengeschichte der Staatsrechtslehre geführten Auseinandersetzungen mit dem „juristischen“ Formalismus, zum einen in der betreffenden Kritik einer sogenannten organischen Staatstheorie204 gegenüber dem die spätkonstitutionelle Epoche beherrschenden staatsrechtlichen Positivismus und zum anderen in der betreffenden, nachhaltig gebliebenen Kontroverse der sogenannten „geisteswissenschaftlichen Richtung“ im Rahmen des bekannten Weimarer Methodenstreits205 nicht nur mit jenem staatsrechtlichen Positivismus, sondern vor allem mit der neukantischen Rechtsphilosophie, speziell mit deren normlogischer Rechts- und Staatstheorie. Gerade im Rahmen der gegenständlichen Thematik, die speziell der Bedeutung und dem Weg praktischer Vernunftphilosophie in der Ideengeschichte der Staatsrechtslehre gilt, kann man nicht umhin, jene wirkungsgeschichtlichen Zusammenhänge wenigstens im Grunde aufzugreifen; denn die angesprochenen, aus der Vernunftmetaphysik gekommenen wirkungsgeschichtlichen Einflüsse eines geschichtlichen Positivismus, speziell von dessen positivistischem Etatismus, auf die genannten organologischen und „geisteswissenschaftlichen“ Entwicklungen in der Staatsrechtslehre belegen, abgesehen von den ohnedies vorhandenen gegenteiligen Richtungen eines „juristischen Formalismus“, recht eigentlich den Bedeutungsverlust der ursprünglichen normativen Vernunftidee vom Verfassungsstaat. Anstelle der Letzteren ist es wesentlich der wirkungsgeschichtliche Einfluss des geschichtsphilosophischen Positivismus und Etatismus, unter dem in der neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre die Auseinandersetzungen mit den Richtungen des „juristischen Formalismus“ geführt worden sind. Nicht nur dass sich die Geschichtsphilosophie in der dargelegten Weise als Reaktion auf das Formalismusproblem praktischer Vernunftphilosophie verstanden hat, ist ihr dann auch die ideengeschichtliche Rolle einer wirkungsgeschichtlich entfalteten Gegenreaktion gegen das rechtsphilosophische Formalismusproblem überhaupt zugefallen.
203 Zur betreffenden seinerzeitigen Entwicklung einer Wissenschaftstheorie und Methodologie der Geisteswissenschaften Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 1910, in: Gesammelte Schriften, Siebenter Band, 2. Aufl. 1958, 148 ff.; speziell zur dabei wirkungsgeschichtlichen Rezeption der in der spekulativen Geschichtsphilosophie „entdeckten“ Seinsidee vom objektiven Geist Bartlsperger (Fn. 71), 29 ff. und Rennert (Fn. 5), 71 ff. 204 Nachw. dazu und in dieser Hinsicht Fn. 61. Ferner E. Kaufmann, Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, 1908, in: ders., Rechtsidee und Recht, Gesammelte Schriften, Bd. III, 1960, 46 ff., Badura (Fn. 116), 115 ff. und Rennert (Fn. 5), 29 ff. 205 Generalisierend zu dieser methodologischen Richtung Rennert, a.a.O., 62 ff.
VI. Geschichtsphilosophie als wirkungsgeschichtliche Reaktion auf den „juristischen“ und staatskritischen Formalismus – Die Folgen Die wirkungsgeschichtlichen Einflüsse, die in den neueren wissenschaftstheoretisch und methodologisch geführten rechts- und staatstheoretischen Auseinandersetzungen der Staatsrechtslehre um den rechtswissenschaftlichen Formalismus unmittelbar oder mittelbar vom geschichtsphilosophischen Positivismus und Etatismus ausgegangen sind, mögen nur mehr oder weniger nachvollziehbar und nachweislich sein. Es handelt sich um ein in sich disparates und vielfältig verflochtenes Themenfeld, das im gegenständlichen thematischen Zusammenhang auch gar nicht als solches und unmittelbar zur Erörterung steht. Aber so viel lässt sich jedenfalls beurteilen und feststellen, dass es bei jener erkenntnistheoretisch und wissenschaftstheoretisch geführten, nicht zuletzt auch politisch motivierten Selbstfindung der Staatsrechtslehre im Grund und in der Sache letzten Endes immer um das von jener Geschichtsphilosophie in ideengeschichtlich prinzipieller Weise aufgegriffene und von ihr in ihrem spezifisch geschichtsphilosophischen Sinne beantwortete Formalismusproblem der Rechts- und Staatsphilosophie gegangen ist. Drei Blickrichtungen treten hierbei in den Vordergrund und haben Aufmerksamkeit zu beanspruchen; auf sie lassen sich denn auch die betreffenden ideengeschichtlichen Betrachtungen konzentrieren. 1. – Zweifellos hatte sich die praktische Vernunftmetaphysik sowie ihre Geschichtsphilosophie vom Recht und vom Staat zum einen auch schon in einem fundamentalen objektiven Gegensatz zum damals zeitgeschichtlich konkurrierenden kulturgeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Historismus sehen müssen, namentlich im Zusammenhang der betreffenden Ideengeschichte von Rechtswissenschaft und Staatsrechtslehre.206 Jener Historismus und seine Rechtsschule waren zwar gleichfalls einem, ihrem ganz spezifischen geschichtsphilosophischen Positivismus gefolgt. Aber dieser verdankt sich ganz anders nicht einer entsprechenden spekulativen Geschichtsphilosophie des Geistes; vielmehr ist er unmittelbar und ausschließlich den historischen Realitäten als Erkenntnisgrund geistigen Seins verpflichtet. Zudem hat er in seiner schließlichen rechtswissenschaftlichen Entwicklung und Ausprägung seinerseits eine folgenreiche Wendung zu einem, zu 206 Zur historischen Rechtsschule und zu ihrer wissenschaftstheoretischen Entwicklung Bartlsperger (Fn. 3), 32 ff. mit zahlreichen Nachw.; ferner zum Ursprung der historischen Rechtsschule Badura (Fn. 116), 124 ff.
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VI. Geschichtsphilosophie als Reaktion auf den Formalismus
seinem eigenen Formalismus des Rechts in Gestalt der zur Ideengeschichte der Rechtswissenschaft gehörenden Begriffsjurisprudenz vollzogen.207 Die praktische Vernunftmetaphysik und ihre Geschichtsphilosophie vom Recht konnten daher nicht zuletzt schon im Gegensatz zu dem insofern spezifischen praktischen, normativen Formalismus des Rechts ihr seinerzeit zeitgeschichtliches Profil entwickeln und zur Geltung bringen. Aber eine direkte Auseinandersetzung damit oder eine ideengeschichtlich bemerkenswerte Distanzierung von Seiten der Vernunftmetaphysik ist anlässlich jener gegensätzlichen rechtstheoretischen Positionen nicht zu vermerken. Dafür hat es der genannten historischen Rechtsschule, jedenfalls ihrer Begriffsjurisprudenz und deren Wissenschaftstheorie, an vergleichbar greifbaren philosophischen Grundlagen gefehlt. Ihre Grundannahme und ihr prinzipieller Unterschied gegenüber der praktischen Vernunftphilosophie besteht einfach darin, dass sie anders als die Letztere die Vernunft und den rechtsbegründenden Willen trennt sowie stattdessen eine bloße begriffliche Vernunft annehmen möchte. Ihre instabile Begründungsidee verrät sich schon darin, dass einer ihrer inspirierenden, in wissenschaftstheoretischer Hinsicht anfänglich tragenden Repräsentanten bekanntermaßen am Ende sich gar einer ganz anderen, einer bloßen soziologischen Rechtstheorie zugewandt hat.208 Auch im Zusammenhang der bekanntermaßen in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts begonnenen Formierung der begriffsjuristischen historischen Rechtsschule zu dem dann in der spätkonstitutionellen Epoche von Staatsrecht und Staatsrechtslehre beherrschend gewordenen staatsrechtlichen Positivismus hat sich an jener philosophisch defizitären Situation nichts geändert. Im Unterschied zum Historismus und seiner Rechtsschule bewegt sich die praktische Vernunftmetaphysik mit ihrer Gesichtsphilosophie vom Recht und vom Staat in den betreffenden ganz anderen Bahnen praktischer Vernunftphilosophie und sie versteht sich in der dargelegten Weise gerade als Reaktion und Antwort auf deren in ihrem originären vernunftkritischen Ausgangspunkt vorhandenes Formalismusproblem. Also zweifellos stellt jener prinzipielle ideengeschichtliche Gegensatz zwischen dem Historismus und seiner historischen Rechtsschule, genauer zwischen deren genereller Begriffsjurisprudenz und deren die spätkonstitutionelle Epoche von Staatsrecht und Staatsrechtslehre prägenden staatsrechtlichen Positivismus einerseits sowie der praktischen Vernunftmetaphysik, ihrer Geschichtsphilosophie vom Recht und vom Staat und deren mehr oder weniger nachvollziehbarer – hier erst noch zu erörternder – Wirkungsgeschichte in der Staatsrechtslehre auf der anderen Seite zwar ein fundamental bedeutsames und folgenreiches Kapitel in der neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre, von deren Wissenschaftstheorie und Methodologie, dar. Aber ungeachtet dessen erscheint jener einmal ideengeschichtlich prinzipiell prägend gewesene Gegensatz zwischen dem wissenschaftstheoretisch entfalteten Formalis207
Insofern Bartlsperger, a.a.O., 33 ff. Zu v. Iherings bekannter sogenannter rechtssoziologischer Wende Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, 450 ff. und Tripp, Der Einfluss des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus auf die deutsche Rechtslehre im neunzehnten Jahrhundert, 1983, 257 ff. und 264 ff. 208
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mus der historischen Rechtsschule und des staatsrechtlichen Positivismus einerseits sowie der aus einer Metaphysik des Geistes gekommenen geschichtsphilosophischen Grundlegung einer Philosophie vom Recht und vom Staat andererseits wohl inzwischen kaum mehr geeignet, der Letzteren allein aus diesem Grund und aus Anlass einer solchen ideengeschichtlichen Rückschau noch ein aktuelles Interesse der Staatsrechtslehre abzugewinnen. Vielmehr kann die spekulative Geschichtsphilosophie vom Recht und vom Staat speziell mit Rücksicht und im Hinblick darauf weitere Aufmerksamkeit von Seiten der Staatsrechtslehre auf sich ziehen, dass sie in ihrer erörterten Auseinandersetzung mit dem Formalismusproblem der praktischen Vernunftkritik entgegen genannten, ganz anderen nachfolgenden Reaktionen auf dieses Problem209 prinzipiell an einer praktischen Vernunftphilosophie und an einer demzufolge vernunftbegründeten Rechts- und Staatsidee festgehalten und damit überhaupt die Voraussetzungen für eine dementsprechende erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Grundlegung der Staatsrechtslehre behauptet hat. 2. – Zum Zweiten und zweifellos am signifikantesten sowie nachhaltigsten konnten und können die erörterte, von der Vernunftmetaphysik vollzogene Reaktion auf das Formalismusproblem der praktischen Vernunftkritik und das daraus entstandene geschichtsphilosophische Verständnis praktischer Vernunftphilosophie unter den seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gänzlich neuen, veränderten kulturgeschichtlichen Voraussetzungen deutlich hervortreten und Wirkung zeigen, seitdem anlässlich der Hinwendung von Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie zu einem naturwissenschaftlichen Dogmatismus oder auch unter dem Einfluss des Materialismus sich die Philosophie erneut mit der Vernunftkritik, speziell mit deren erkenntnistheoretischen Annahmen und Konsequenzen beschäftigt hat.210 In einem solchen um neue erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Bewegungen erweiterten philosophiegeschichtlichen Szenarium ist der Vernunftmetaphysik, namentlich deren geschichtsphilosophischer Neubegründung praktischer Vernunftphilosophie, eine wirkungsgeschichtlich ihrerseits einflussreiche und nachhaltige Gegenposition in der bereits angesprochenen Weise zunächst vor allem im Neukantianismus erwachsen; bekanntlich hat dieser auf das Formalismusproblem praktischer Vernunftkritik unter den gänzlich anderen Voraussetzungen einer speziell von ihm vertretenen erkenntnistheoretischen Beurteilung der Vernunftkritik reagiert.211 Es handelt sich um eine ideengeschichtliche Entwicklung bzw. Position, die hinlängliche Bekanntheit in der neueren Ideengeschichte der Philosophie sowie in deren Auswirkungen auf die wissenschaftstheoretischen und methodologischen Verstrickungen in der neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre besitzt; 209 Zum betreffenden, vor allem zu dem ursprünglichen Neukantianismus Fn. 64 und 85. Zur darauf bei Kelsen gegründeten normlogischen Rechts- und Staatstheorie Fn. 65 210 A.a.O. 211 Zur betreffenden prinzipiellen erkenntnistheoretischen Verneinung praktischer Vernunftphilosophie überhaupt durch den Neukantianismus sowie zur Beurteilung jener erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Position siehe Bartlsperger (Fn. 2), 176 ff. m. Nachw.
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gleichwohl bedarf sie aus Anlass und im Rahmen der vorliegenden ideengeschichtlichen Erörterung zur speziellen Thematik um das Formalismusproblem praktischer Vernunftphilosophie und um dessen Auswirkungen auf die Staatsrechtslehre einer nochmaligen Vergegenwärtigung. Jener Neukantianismus geht in erkenntnistheoretischer Hinsicht gerade von der Annahme aus, dass es im Bereich des Normativen nur reine Willensakte gebe, d. h. ausschließlich vernunftfreie Entscheidungen getroffen würden und dass deshalb mangels einer Vernunftbedingtheit der Willensbetätigung und Freiheitsausübung von einer praktischen Vernunft sowie von einer Erkenntnisfunktion derselben überhaupt nicht die Rede sein könne.212 Aufgrund jener derart prinzipiellen Begrenzung vernunftbegründeter Erkenntnis auf eine bloße theoretische Vernunft musste der Neukantianismus die Annahme praktischer Vernunft als einen logisch unzulässigen Erkenntnisschluss von einem bloßen Sein auf ein Sollen verwerfen.213 Die normlogische Rechts- und Staatstheorie214 ist bekanntlich hiervon ausgehend konsequenterweise zu einem ausschließlich formalistisch denkbaren, in ihrem Sinne „juristisch“ begründeten Staatsbegriff gelangt sowie generell zu einem dementsprechenden „reinen“ Formalismus des Rechts, welcher der Vorstellung eines sukzessiv dezisionistischen Stufenbaus der Rechtsordnung folgt sowie in staatsrechtlicher und verfassungstheoretischer Hinsicht zur politischen Philosophie eines demokratischen Dezisionismus führt. Ein solches Staatsrecht ohne Staat musste nicht nur, wie geschehen, von Seiten einer realen organisationsrechtlichen Staatsauffassung als „Krisis der Staatsrechtslehre“ beurteilt und entschieden bekämpft werden.215 Eine ideengeschichtlich breitere und in der Sache nachhaltigere Aufmerksamkeit konnte und kann sicherlich derjenige Widerstand beanspruchen, den jener auf die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Neukantianismus gegründete „juristische“ Formalismus der normlogischen Rechts- und Staatstheorie in organologischen,216 speziell in den sogenannten „geisteswissenschaftlichen Richtungen“217 der neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre und unter dem wirkungsgeschichtlichen Einfluss der geschichtsphilosophischen Idee vom Recht und vom Staat erfahren hat. Anders als in der schon erörterten, ideengeschichtlich objektiven Gegenposition gegen den „juristischen“ Formalismus des staatsrechtlichen Positivismus gilt der aus der Geschichtsphilosophie vom Recht und vom Staat erst wirkungsgeschichtlich gegen die normlogische Rechts- und Staatstheorie erwachsene Widerstand jener ideengeschichtlich grundlegenden, erkenntnistheoretisch auszu212 Dazu und zur betreffenden Kritik Nachw. bei Bartlsperger, a.a.O., Fn. 95 und 98; von Seiten der normlogischen Rechts- und Staatstheorie Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, hgg. von Ringhofer und Walter, 1979, 258. 213 Zu dem unbestreitbar logischen Theorem einer Trennung von Sein und Sollen Winkler, Rechtstheorie, 1979, 257, Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, § 13. 214 Fn. 65. 215 Heller (Fn. 64). 216 Fn. 61. 217 Rennert (Fn. 5), 62 ff. sowie die jeweilige Darstellung und Erörterung passim.
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tragenden Kontroverse um eine erkenntnistheoretische Denkbarkeit praktischer Vernunftphilosophie überhaupt sowie um deren Voraussetzbarkeit für eine dementsprechende Wissenschaftstheorie und Methodologie der Rechtswissenschaft, von Staatsrechtslehre und Verfassungstheorie. Entgegen der auf eine bloße theoretische Vernunfterkenntnis begrenzten neukantischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie war die geschichtsphilosophische Idee vom Recht und vom Staat gerade der dezidiert entgegengesetzten Annahme und Vorstellung gefolgt, dass der individuelle Wille durchaus ein Vernunftbewusstsein seiner Freiheit erlangt in deren Realisierung durch die Rechtsordnung und den Staat als Seinsgebilden einer objektiv vernünftigen und eigenständigen ideellen Allgemeinheit, dass also gerade in einer solchen realen objektiven Vernünftigkeit von Recht und Staat für die Normativität des Rechts, auch speziell des Staatsrechts, sich eine praktische Erkenntnisfunktion eröffnet. In deren Bejahung hat denn auch keineswegs ein logisch unzulässiger Erkenntnisschluss von der geschichtsphilosophisch angenommenen objektiven Wirklichkeit des Rechts und des Staates als solcher auf deren Normativität gelegen. Zwar hatte die Unzulässigkeit eines Erkenntnisschlusses von einem Sein auf ein Sollen unbestreitbar und unbestritten zu bleiben; ein solcher verstieße zweifellos gegen das Theorem einer logischen Trennung von Sein und Sollen.218 Aber dieses Verdikt trifft eine praktische Vernunftphilosophie, speziell eine praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat nur unter der ideengeschichtlich exzeptionellen, wissenschaftstheoretisch auf einen naturwissenschaftlichen Dogmatismus der Erkenntnistheorie verengten Ausgangsannahme und Voraussetzung neukantischer Vernunftauffassung, wonach vernunftbegründete Erkenntnis allein eine theoretische Erkenntnis ermögliche, daher die Normsetzung in erkenntnistheoretischer Hinsicht ausschließlich auf einen Gegenstand theoretischer Erkenntnis reduziert sei, also nur als ein „realer“, formeller und „reiner“ Willensakt gesehen werden könne.219 Indessen bleibt hierbei außer Acht gelassen und verkannt, dass die ideengeschichtlich revolutionäre Wende der Transzendentalphilosophie in ihrer umfassenden vernunftkritischen Neubegründung der Erkenntnistheorie auch zu einer Metaphysik praktischer Vernunft führen musste, nach welcher der vernunftbegründete individuelle Wille im Bewusstsein seiner Freiheit und unter den vernunftgebotenen Bedingungen von deren Komptabilität mit jedermanns Freiheit bei seiner geschichtlichen Verwirklichung realen Motiven, Zielen sowie Bestimmungsgründen folgt und weshalb demgemäß Willensbetätigung nicht bloß als ein formaler Akt verstanden werden kann, sich vielmehr als Handeln aus einer realen Kausalität vernunftbegründeter Freiheit begreift.220 Deshalb kann denn auch praktische Vernunft, sei es in ihrem ideengeschichtlich originären Verständnis der Vernunftkritik, sei es in ihrer geschichtsphilosophischen Neubegründung, nicht weniger eine Erkenntnisfunktion beanspruchen. Vernunftbegründete 218
Bartlsperger (Fn. 2, 176). Fn. 211. 220 Bartlsperger (Fn. 2), 177 sowie die Nachw. zu Luf, Überlegungen zum Verhältnis von Entscheidung und Rechtfertigung im Recht, in: ders., Freiheit als Rechtsprinzip, 2008, 37 ff., 41 ff., 48, 52 ff.; ferner Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat, 2003, 13. 219
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Normsetzung und vernunftbegründete Normativität, vernunftbegründete Rechtssetzung und vernunftbegründetes Recht, gehen wissenschaftstheoretisch nicht in einem bloßen Formalismus reinen Willens und reiner Willensbetätigung auf. Vielmehr beanspruchen Wille und Willensbetätigung im Bewusstsein ihrer vernunftbegründeten Freiheit als einer Freiheit aus der Kausalität realer Motive, Ziele und Bestimmungsgründe genauso eine erkenntnistheoretische Gegenständlichkeit und sie haben ebenso an einer dementsprechenden Erkenntnisfunktion teil, wie sie der Erkenntnis aus theoretischer Vernunft eigen ist. Die betreffenden erkenntnistheoretischen Begründungsvoraussetzungen praktischer Vernunftphilosophie haben dieser in der neueren wissenschaftstheoretischen Ideengeschichte der Rechtswissenschaft, insbesondere innerhalb der im gegenständlichen Erörterungszusammenhang interessierenden Staatsrechtslehre, zu einem fundamentalen wirkungsgeschichtlichen Einfluss in deren Auseinandersetzung mit dem „juristischen“ Formalismus des staatsrechtlichen Positivismus sowie der neukantischen normlogischen Rechts- und Staatslehre zu verhelfen vermocht. Überhaupt erscheint es für die kulturgeschichtliche Situation und Entwicklung innerhalb des deutschen Kulturraumes in wissenschaftstheoretischer Hinsicht kennzeichnend, dass einer ausschließlich auf rein theoretische Erkenntnis beschränkten Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie dem Auftreten eines naturwissenschaftlichen Dogmatismus und materialistischen Denkens ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts schon seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert auf der Grundlage und im Rahmen der transzendentalphilosophischen Wende in der Erkenntnistheorie eine praktische Vernunftphilosophie als Ursprungs- und Begründungsidee einer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie im Bereich des Normativen entgegengestanden hatte und danach die Voraussetzungen zu liefern vermocht hat für die Behauptung sowie für die in jener genannten Situation geforderte neue Grundlegung und Ausbildung einer generellen Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften. Jedenfalls ist es die praktische Vernunftphilosophie gewesen, die unter ihren dargelegten erkenntnistheoretischen Voraussetzungen und mit ihren entsprechenden wissenschaftstheoretischen Annahmen die Staatsrechtslehre und deren fachspezifische Staatstheorie in deren neuerer Ideengeschichte in Stand gesetzt hat, auf die Herausforderungen von Seiten eines „juristischen“ und staatskritischen Formalismus zu reagieren. Unschwer lässt sich allerdings an den betreffenden ideengeschichtlichen Entwicklungen und Standpunkten sowie an deren nachvollziehbaren Begründungen auch bemerken, dass jener erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Einfluss praktischer Vernunftphilosophie auf die neuere Rechts- und Staatsphilosophie, gerade auf die neuere Ideengeschichte der Staatsrechtslehre bei deren Abwehr und Widerlegung eines „juristischen“ und staatskritischen Formalismus, erst durch die geschichtsphilosophische Neubegründung praktischer Vernunftphilosophie vermittelt worden, d. h. erst nach deren spekulativer Grundlegung in einer Metaphysik des Geistes und in deren Vernunftmetaphysik sowie speziell aufgrund von deren dementsprechendem geschichtsphilosophischem Positivismus von Recht und Staat erfolgt ist. Andererseits und zugleich lässt sich nicht verkennen, dass es sich um nur mehr oder weniger nachvollziehbare Rezeptionsvorgänge und explizite Anknüpfungen handelt,
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eher um ideengeschichtliche Verwicklungen und argumentative Verstrickungen, für die es um eine Wissenschaftstheorie und Methodologie der Staatsrechtslehre gegangen war und die sich auch wohl kaum einmal ohne jeweils mögliche konträre ideengeschichtliche Anhaltspunkte und bestreitbare Interpretationen derselben erschließen lassen. Eine generelle Beurteilung erscheint indessen möglich und geeignet, um jene genannten, aus der spekulativen Geschichtsphilosophie vom Recht und vom Staat gekommenen wirkungsgeschichtlichen Vorgänge verständlich zu machen sowie die fundamentalen Voraussetzungen, Bedingungen und Konsequenzen zu identifizieren, welche die betreffende praktische Vernunftphilosophie seinerzeit überhaupt nur prädestiniert und in Stand gesetzt haben, der Staatsrechtslehre in deren neuerer Ideengeschichte bei der jeweiligen Abwehr und Widerlegung des „juristischen“ und staatskritischen Formalismus die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlage und Rechtfertigung zu liefern. Denn durchgängig lässt sich insofern erkennen und festhalten, dass bei den betreffenden ideengeschichtlichen bzw. argumentativen Anknüpfungen auf Seiten der Staatsrechtslehre an jene geschichtsphilosophisch erneuerte und verstandene praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat ausschließlich deren betreffender geschichtlicher Positivismus und Etatismus aufgegriffen und anerkannt worden ist, dass dagegen nicht die Rede davon sein kann, es wäre dabei auch dessen ideengeschichtliche Begründungsvoraussetzung einer Metaphysik des Geistes, also einer praktischen Vernunftmetaphysik akzeptiert oder auch nur vergegenwärtigt worden. Indessen war mit der objektiven Eliminierung jener Elemente einer praktischen Vernunftmetaphysik aus der gerade unter deren Voraussetzung geschichtsphilosophisch erneuerter praktischer Vernunftphilosophie vom geschichtlichen Recht und vom geschichtlichen Staat deren Grundlegung sowie deren Aussagegehalt überhaupt aufgegeben worden; der spezifische ideengeschichtliche Bedeutungsgehalt einer praktischen Vernunftphilosophie vom Recht und vom Staat war damit in der Sache verlorengegangen und dieser Umstand markiert in der neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre deren Verabschiedung von einem transzendentalphilosophischen Weg der Rechts- und Staatsphilosophie. Es musste damit klar sein, dass für die Staatsrechtslehre deren gesuchte Alternative zum „juristischen“ und staatskritischen Formalismus nur noch in einer ausschließlich realistischen Idee vom geschichtlichen Recht und vom geschichtlichen Staat sowie in einer dementsprechenden Wissenschaftstheorie und Methodologie bestehen konnte. Nicht nur dass ohnedies die originäre vernunftkritische Ursprungs- und Begründungsidee vom Recht und vom Staat, d. h. das normative Verständnis der Letzteren als unmittelbarer Verwirklichung individueller Freiheit, des vernunftbegründeten subjektiven Rechts der Einzelnen unter dem allgemeinen Vernunftprinzip wechselseitiger Komptabilität, schon unter dem wirkungsgeschichtlichen Einfluss der spekulativen Geschichtsphilosophie verdrängt worden ist; mit der schließlichen Entfernung auch noch von dieser geschichtsphilosophisch erneuerten Vernunftbegründung des geschichtlichen Rechts und des geschichtlichen Staates war zuletzt sogar die praktische Vernunftidee einer objektiven Normativität von Recht und Staat
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als „Dasein des freien Willens“, als objektiver „Verwirklichung des substantiellen Willens“, d. h. in diesem Sinne als „das an und für sich Vernünftige“,221 aufgegeben worden. Übrig bleiben konnte davon nur eine rechts- und staatsphilosophische Begründungsidee, die ausschließlich noch an eine geschichtliche Wirklichkeit ohne Vernünftigkeit anknüpft. Schon gar nicht konnte noch von einer praktischen Vernunftidee des geschichtlichen Rechts und des geschichtlichen Staates die Rede sein, wonach diese den „Inbegriff der Bedingungen“ bilden, „unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“222 und wonach sie deshalb in ihrem Staatsrecht von der normativen Idee einer freiheitlichen demokratischen, republikanischen Ordnung des Verfassungsstaates bestimmt sind. So ist es am ideengeschichtlichen Ende der rechts- und staatsphilosophischen Grundlegung und Entwicklung einer transzendentalphilosophischen Idee vom Recht und vom Staat sowie bei der Behauptung von deren erkenntnistheoretischem Kern gegenüber einem bloßen „juristischen“ und staatskritischen Formalismus in der Staatsrechtslehre zu einer Wissenschaftstheorie des ausschließlichen Realismus geschichtlichen Rechts und des geschichtlichen Staates gekommen und eine hieran anknüpfende Methodologie der Staatsrechtslehre musste auf den Weg zu einer bloßen Wirklichkeitserkenntnis der wie auch immer veranschaulichten, strukturell erklärten sowie definierten Entstehung und ideellen Seinsweise des geschichtlichen Rechts und des geschichtlichen Staates gelangen. Sicherlich zeichnet hierfür ursprünglich der wirkungsgeschichtliche Einfluss der geschichtsphilosophischen praktischen Vernunftphilosophie verantwortlich; aber die hieraus dann ideengeschichtlich entstandenen Folgen einer ausschließlich noch realistischen Rechts- und Staatsphilosophie haben mit jener idealistischen Philosophie als ihrer Vorgeschichte nicht wirklich noch etwas gemein. Es hat sich um einen wirkungsgeschichtlichen Vorgang gehandelt, dessen Konsequenzen sich gänzlich verselbständigt haben. 3. – Repräsentativ für jenes Ergebnis der aus der geschichtsphilosophisch erneuerten praktischen Vernunftphilosophie wirkungsgeschichtlich gekommenen ideengeschichtlichen Entwicklung steht, wenn auch nicht unmittelbar den fachspezifischen Bereich der Rechts- und Staatsphilosophie sowie die betreffende Wissenschaftstheorie der Staatsrechtslehre betreffend, die bekannte methodische Grundlegung der Geisteswissenschaften in dem aus eben jener Metaphysik des Geistes begrifflich rezipierten Seinsgebilde objektiven Geistes.223 Keineswegs noch in Verbindung stehend mit dessen vorstehend erörterten, ideengeschichtlich ursprünglichen Begründungs- und Funktionselementen idealistischer Metaphysik des Geistes bezeichnet er in jenem neuen wissenschaftstheoretischen Zusammenhang als nunmehr bloßer realistischer Seinsbegriff nur mehr die zwischen den Individuen objektiv bestehende Gemeinsamkeit in der Sinnenwelt. Es kann hier dahingestellt 221
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Fn. 135), 80 (§ 29), 398 f. (§§ 257 f.). Kant (Fn. 3), 38 (§ B) bzw. 39 (§ C). 223 Dilthey (Fn. 174). Zur Theorie vom objektiven Geist bei diesem siehe Bartlsperger (Fn. 71), 29 ff. 222
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bleiben, welche Mittlerrolle jene wissenschaftstheoretisch zur Grundlegung hermeneutischen Verstehens224 veranlasste ontologische Begriffsbildung objektiven Geistes auch für die gegen den „juristischen“ und staatskritischen Formalismus gewendeten Richtungen in der Ideengeschichte der neueren Staatsrechtslehre gespielt hat. Jedenfalls findet sie sich angesichts ihrer ganz spezifisch realistischen Konstruktion und Funktionsbetrachtung von Seinsgebilden einer objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit in der Sache wieder in den betreffenden rechts- und staatsphilosophischen Annahmen sowie Postulaten jener neueren Staatsrechtslehre, so sehr sich diese auch jeweils eigengeprägt darstellen und gegen eine Generalisierung sperren mögen. Zuerst scheint dieser rechts- und staatsphilosophische Realismus die schon am Ende der spätkonstitutionellen Epoche gegen den methodischen Formalismus des staatsrechtlichen Positivismus mit unterschiedlichen Begründungen gerichteten sogenannten Organismustheorien225 geprägt zu haben. Für die sogenannte „geisteswissenschaftliche Richtung“ im bekannten Weimarer Methodenstreit der Staatsrechtslehre ist der wissenschaftstheoretische Realismus jedenfalls durchgängig kennzeichnend.226 In dem betreffenden Begründungs- und Richtungsspektrum gilt dies wohl auch für die in solcher Hinsicht nicht leicht beurteilbare Position einer mehr oder weniger nachvollziehbar sowohl an das Organismusdenken als auch an die eben genannte Grundlegung der Geisteswissenschaften anknüpfende Argumentation einer sogenannten ideengeschichtlichen Methode.227 Jedenfalls und augenfällig trifft es zu für ein durch eine bekannte „Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie“ ausgezeichnetes, im Übrigen sowohl durch eine Anknüpfung an den sogenannten „Volksgeist“ der historischen Rechtsschule gekennzeichnetes als auch an die Tradition der Organismustheorie anschließendes, auf diese Weise besonders komplexes rechts- und staatsphilosophisches Denken.228 Schließlich ist es der betreffende „geisteswissenschaftliche“ Realismus in der Staatsrechtslehre, aus dem sich auch die in ihrer ideengeschichtlichen Ausstrahlung und Wirkung herausragende Integrationslehre229 verstehen lässt. Ersichtlich ist dies schon an deren kulturgeschichtlich exzeptioneller Begründung in einer spezifischen
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Dilthey, a.a.O. Fn. 61 und 204. 226 Spezielle Darlegung und Beurteilung der jener Richtung zugehörigen methodologischen Auffassungen bei Rennert (Fn. 5), passim. 227 Rennert, a.a.O., 124 ff. und 130 ff.; des weiteren zu Holstein ders., a.a.O., 122 ff., 197 ff. und 286 ff. 228 E. Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, 1921, in: ders., Rechtsidee und Recht, Gesammelte Schriften, Bd. III, 1960, 176 ff. sowie ders., Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, 1908, in: ders., a.a.O., 46 ff. 229 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928 (Fn. 171 sowie dort weitere Nachw.). Zur Integrationslehre und zu ihrer Bedeutung innerhalb der sogenannten „geisteswissenschaftlichen Richtung“ des sogenannten Weimarer Methodenstreits Rennert (Fn. 5), 141 ff. und 214 ff. sowie zu ihrer ideengeschichtlich fortwirkenden sowie zeitgeschichtlichen Bedeutung Bartlsperger (Fn. 2), 183 ff. bzw. ders. (Fn. 5). 225
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Kultursoziologie zum Verhältnis von „Individuum und Gemeinschaft“.230 Nach der daraus explizit entwickelten, fachspezifisch staatsrechtlichen Begründungsidee vom Staat sowie von dessen „Verfassung und Verfassungsrecht“ bilden diese ein im Bewusstsein der Einzelnen kraft persönlicher, funktionaler und sachlicher Integrationsfaktoren aus dem Bereich staatsrechtlicher Ordnung und staatsrechtlichen Lebens konstruiertes sowie aufgrund von entsprechenden Sinnerlebnissen entstandenes Sinngebilde und einen ideellen Gesamtzusammenhang. Man vermag darin die Voraussetzung und die Begründungsidee zu erkennen für eine Wissenschaftstheorie der Staatsrechtslehre, die ihren erkenntnistheoretischen Anknüpfungspunkt und ihre ontologische Grundlegung in der Seinsweise einer objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit des Staatsrechts sowie in der regulativen Idee vom Staat als einem ebensolchen Seinsgebilde sucht.231 Allemal handelt es sich um eine ausschließlich realistische Begründungsidee vom Staatsrecht und von dessen fachspezifischem Staatsbegriff. Aber an keiner der während des vormaligen sogenannten Weimarer Methodenstreits der Staatsrechtslehre hervorgetretenen und wohl bis heute präpositiv bedeutsam gebliebenen wissenschaftstheoretischen Grundlegungen von Staatsrechtslehre und Staatstheorie lässt sich auch eine normative, d. h. eine im eigentlichen Sinne rechts- und staatsphilosophische Begründungsidee vom Staatsrecht und von dessen fachspezifischem Staatsbegriff finden. Zugegebenermaßen liefern die genannten „geisteswissenschaftlichen“ Richtungen der neueren Staatsrechtlehre in ihren mehr oder weniger detaillierten und präzisen Annahmen zur Seinsweise vom geschichtlichen Staatsrecht und vom geschichtlichen Staat als einer jeweils realen, objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit durchaus die ontologische Voraussetzung für eine gegen den „juristischen“ und staatskritischen Formalismus gerichtete Wissenschaftstheorie der Staatsrechtslehre. Aber dadurch allein ist noch keine im eigentlichen Sinne auch rechts- und staatsphilosophische Begründungsidee für das Staatsrecht und für dessen fachspezifische Staatstheorie entstanden; hierfür mangelt es den bloß in einem realistischen Sinne „geisteswissenschaftlichen“ Grundlegungen an einem auch normativen, rechts- und staatsphilosophischen Aussage- und Bedeutungsgehalt, wie das Staatsrecht und wie „der Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien 230 Litt, Individuum und Gemeinschaft, 3. Aufl. 1926. Zu dieser Rezeptionsgeschichte der Integrationslehre Bartlsperger (Fn. 71), 4 ff. und 12 f. sowie kritisch dazu Nothoff, Der Staat als „geistige Wirklichkeit“, 2008, 37 ff. und 42 ff.; zum hieraus resultierenden Psychologismusvorwurf an die Integrationslehre Jerusalem, AöR 54 (1928), 161, 188 ff. und 190 ff. sowie E. Kaufmann, Rechtsidee und Recht, Gesammelte Schriften, Bd. III, 1960, Vorwort, XXX, XXXII, XXXV sowie ders., Zur Problematik des Volkswillens (1931), a.a.O., 272 ff. 231 Siehe Bartlsperger, a.a.O., 81 ff., zur Nachinterpretation der Integrationslehre in diesem ontologischen Sinne, speziell im Sinne der „neuen“ ontologischen Seinsidee vom objektiven Geist (Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, Fn. 37, Zweiter Teil). Klarzustellen ist, dass die Integrationslehre jedenfalls nicht eine theoretische Beschreibung und Erfassung der Staats- und Verfassungswirklichkeit ist, vielmehr eine regulative Idee des geschichtlichen Staatsrechts und Staates begründet (Bartlsperger, Fn. 2, 184 f. und ders., Fn. 5, 49).
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sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient.“232 Ohne eine auch normative rechts- und staatsphilosophische Begründungsidee bleiben das Staatsrecht und dessen fachspezifische Staatsidee einem bloßen geschichtlichen Positivismus des Staatsrechts und einem bloßen staatsrechtlichen Etatismus überantwortet. Nicht zu Unrecht kann dann auch nach einem schon eingangs angeführten staatskritischen Zitat der Staatsbegriff in seiner staatsrechtlichen Funktion überhaupt „als ein einigermaßen amorphes, historisch zufällig gewachsenes“ Gebilde kritisiert werden.233 Den betreffenden „geisteswissenschaftlichen“ Richtungen von Staatsrechtslehre und Staatstheorie jedenfalls ist im Zuge ihrer erörterten, unmittelbar an die geschichtsphilosophische Vernunftmetaphysik vom geschichtlichen Recht und vom geschichtlichen Staat ideengeschichtlich anschließenden sowie selbst dieser gegenüber sich verselbständigenden Entwicklung zu einer ausschließlich realistischen Rechtsund Staatsauffassung die vernunftbegründete Ursprungs- und Begründungsidee vom Verfassungsstaat und von dessen verfassungsstaatlichen Ordnung abhandengekommen, also gerade die normative Idee von einer im vernunftgemäß ursprünglichen subjektiven Recht der Einzelnen begründeten freiheitlich demokratischen, republikanischen Staats- und Verfassungsordnung verlorengegangen. Einer in der aktuellen Verfassungssituation unter dem Grundgesetz auch geforderten rechts- und staatsphilosophischen, normativen Begründungsidee für den Verfassungsstaat und für dessen staatsrechtlichen Ordnung können sie jedenfalls nicht gerecht werden; hiervon abgesehen bleibt es dabei, dass sie in ihrer realistischen Vorstellung vom geschichtlichen Staatsrecht und vom geschichtlichen Staat insofern immerhin die ontologische Begründungsvoraussetzung für die spezifische Wissenschaftstheorie der Staatsrechtslehre klar erkennen. Die staatsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes hingegen hat in ihrer geschichtlich spezifischen Verfassungsstaatlichkeit auch eine rechts- und staatsphilosophische, normative Begründungsidee vom Verfassungsstaat und von dessen Verfassungsordnung zu beanspruchen. Sie kann unter den betreffenden kulturgeschichtlichen Traditionsvoraussetzungen und im Rahmen der speziell einschlägigen Ideengeschichte des transzendentalen Idealismus nur auf der bestimmungsmäßigen Grundlage der ursprünglichen praktischen Vernunftphilosophie gesucht sowie in der aus jener originären Vernunftidee vom Staatsrecht und vom Staat, wie hier erörtert, sinnentsprechend entwickelten Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und vom geschichtlichen Staat gefunden und gesehen werden. Danach hat die zeitgeschichtliche Staatsrechtslehre die geschichtlich spezifische Verwirklichung des Verfassungsstaates im Grundgesetzes als eine im individuellen Bewusstsein existente objektive und eigenständige ideelle, normative Allgemeinheit zu verstehen, in der sich die vernunftbegründet ursprüngliche Freiheit des Einzelnen gemäß und zufolge dem vernunftgebotenen allgemeinen Prinzip des Rechts von der kompatiblen 232 233
Kant (Fn. 3), 129 (§ 45). Fn. 22.
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Beschränkung individueller Freiheit mit jedermanns gleicher Freiheit verwirklicht, und der unter der Verfassungsordnung des Grundgesetzes bestehende geschichtliche Staat findet seine Erklärung und Rechtfertigung als in gleicher Seinsweise existente ideelle Allgemeinheit, deren Idee die Vereinigung der betreffenden Menge von Menschen unter jener freiheitlich vernunftbegründeten, a priori notwendigen und überhaupt von selbst folgenden staatsrechtlichen Ordnung ist. In einer dementsprechend geforderten Rückbesinnung auf die in der originären praktischen Vernunftphilosophie grundgelegte und zu einer spezifischen Rechts- und Staatsphilosophie entwickelten Ursprungs- und Begründungsidee vom Verfassungsstaat und von dessen freiheitlicher staatsrechtlicher Ordnung kann Annahmen und sonst auch gar nicht wirklich widerlegbaren Unterstellungen entgegengewirkt werden, dass sich im Laufe der erörterten neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre ein verfassungstheoretischer Positivismus habe entwickeln müssen und dass in dessen Gefolge die zeitgeschichtliche Staatsrechtslehre mit einem dementsprechenden verfassungstheoretischen „Denken vom Staate her“234 in der Gefahr stehe, in einen verfassungstheoretischen Etatismus zu münden. Es kann jedenfalls keine Rede davon sein, das eine jener ursprünglichen praktischen Vernunftphilosophie sowie deren Rechts- und Staatsphilosophie verpflichtete, d. h. eine dementsprechende vernunftbegründete Staatsrechtslehre in einen staatsrechtlichen Etatismus führe. Daher muss es irritieren, dass in der zeitgeschichtlichen Diskussion um eine dem Verfassungsstaat des Grundgesetzes spezifisch eigene Verfassungsidee ein Problem gerade in der ideengeschichtlichen Orientierung an der originären praktischen Vernunftphilosophie sowie an deren genannter spezifischer Verfassungs- und Staatsidee gesehen wird und dass sich gerade in einer Auseinandersetzung hiermit sowie in einer Entgegensetzung dazu eine politische Philosophie der Staatskritik gebildet hat.235 Die mit der originären praktischen Vernunftphilosophie verbundene Ursprungs- und Begründungsidee vom Verfassungsstaat und von seiner staatsrechtlichen Ordnung teilen insofern freilich nur das Schicksal jeder Rechts- und Staatsphilosophie, dass sie auch zum umstrittenen Politikum gemacht wird. Es handelt sich um einen Fall in der Reihe von Politizismen, welche die Rechts- und Staatslehre, namentlich die Staatsrechtslehre, unvermeidlich begleiten und auch deren fachspezifisches wissenschaftliches Erscheinungsbild beeinflussen. Aus Sicht gerade der Rechts- und Staatsphilosophie versteht es sich denn auch in der Sache als völlig legitim, dass sie ein Beurteilungsgegenstand politischer Philosophie ist, sofern sich die Letztere eben als solche ausweist und ihre Grenzen nicht überschreitet. Es bedeutet allerdings eine Grenzüberschreitung, wenn die nachweisliche fachspezifische Ideengeschichte der Staatsrechtslehre und deren evidente Wirkung in verfälschender Weise ausgeblendet werden.
234
Fn. 28. Zur betreffenden staatskritischen Herausforderung durch die Diskurstheorie in deren spezifischer Auseinandersetzung mit der originären praktischen Vernunftidee vom Recht und Staat oben im Abschnitt III.3. 235
VII. Die praktische Vernunftphilosophie vom Verfassungsstaat als Beurteilungsgegenstand politischer Philosophie 1. – Eine fachspezifisch staatsrechtliche Verfassungs- und Staatstheorie vom Staat als regulativer Idee des Verfassungsstaates und von dessen staatsrechtlicher Ordnung wird stets, in welcher rechts- und staatsphilosophischen Begründung auch immer, Angriffspunkt einer politischen Philosophie der Staatskritik sein und einen entsprechenden Etatismusvorwurf auf sich ziehen. Aus Sicht einer betreffenden staatskritischen politischen Philosophie muss daher auch eine von spekulativem Idealismus und von spezifisch politischen Zwecken freie, vernunftbegründete Idee vom „Verfassungsstaat als Staatsbegriff“236 unter Etatismusverdacht stehen und überhaupt schon wegen ihres staatstheoretischen Bedeutungsgehalts muss ihr ein Verdikt der Staatskritik gelten. Solches musste auch immer schon die praktische Vernunftidee vom Staatsrecht und vom Staat in ihrer originären vernunftkritischen, transzendentalphilosophischen Ursprünglichkeit und Präzisierung treffen. Denn sie war es, die nicht nur die Freiheit der Einzelnen, wie dargelegt, als eine ursprüngliche praktische Vernunftidee zu verstehen verlangte.237 Vielmehr stellt sie einer solchen vernunftbegründeten individuellen Freiheit aus gleichen praktischen Vernunftgründen mit der kategorialen Notwendigkeit einer Kompatibilität jener Freiheiten auch die praktische Vernunftidee einer aus jenen vernunftbegründeten Einzelwillen hervorgehenden Rechtsordnung von eigenständiger und objektiver ideeller Allgemeinheit sowie eines aus jenen vernunftbegründeten Einzelwillen sich konstituierenden Staates als einer realen Ganzheit und Einheit gegenüber.238 Mit dieser vernunftbegründeten Rechts- und Staatslehre markiert sie gerade im Verständnis verfassungsstaatlicher Ordnung eine Position, die sie auch unter einer politischen Perspektive von den ideengeschichtlich vorausgegangenen Verfassungslehren der vernunftnaturrechtlichen Epoche sogenannter moderner Staatslehren und von den ihnen folgenden sogenannten „westlichen“ Verfassungslehren unterscheidet.239 Anders als nach bestimmten Vorstellungen der Letzteren von einer Verfassungsordnung auch und gerade ohne Staat ist sie den Weg eines expliziten Etatismus gegangen im Unterschied zu einem bloßen Konstitutionalismus jener Verfassungs236
Bartlsperger (Fn. 2). Kant (Fn. 3), 47. 238 Dazu oben Abschnitt IV., vor allem zum betreffenden wissenschaftstheoretischen Verständnis der praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat bei Fichte (Fn. 36 und 112). 239 E. Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie (Fn. 228), 176/239; zu den betreffenden Staatsvertragslehren oben Fn. 107 f. 237
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lehren; die beiden Begriffe sind in dem Zusammenhang freilich nur in einem ausschließlich verfassungstheoretisch gegensätzlichen Sinne zu verstehen, also der Erstere nicht als politische Idealisierung eines Machtstaates und nicht in der aktuellen Thematisierung eines „vermissten Leviathan“,240 der Letztere nicht im verfassungsgeschichtlichen Sinne als Kennzeichnung konstitutioneller Monarchie. Die vernunftbegründete Staatslehre in ihrer von originärer Vernunftkritik und von der ursprünglichen Transzendentalphilosophie authentisch geprägten Ursprungs- und Begründungsidee bedeutet eine etatistische Verfassungstheorie in dem genannten Sinne insofern, als sie, wie schon gesagt, die Ideen von individueller Freiheit und Demokratie mit der Idee des Staates in einer vernunftbegründeten Einheit verbindet sowie Demokratie und rechtsstaatliche Verfassungsgebundenheit in einer vernunftbegründeten Verbindung sieht; zudem führt eine derart von der Idee des Staates bestimmte Staatsrechtslehre folgerichtig zu einem materialen Verfassungsbegriff sowie zu einer dementsprechend an einem Sinnverständnis staatsrechtlicher Ordnung orientierten staatsrechtlichen Methode. Ungeachtet dieser auch verfassungspolitisch beurteilbaren Konsequenzen ist der Staat in der Idee eines vom individuellen Bewusstsein getragenen kategorialen Seinsgebildes objektiver und eigenständiger ideeller Allgemeinheit und als dementsprechend ontologisch fungierende regulative Idee von Verfassungstheorie und Staatsrechtslehre ein genuin der vernunftkritischen, transzendentalphilosophischen praktischen Vernunft ideengeschichtlich zugehöriges wissenschaftstheoretisches Produkt. Indessen konnte der wissenschaftstheoretische, ideengeschichtlich durch die praktische Vernunftkritik bestimmte Begründungscharakter jene Idee des Staates in ihrer wirkungsgeschichtlich richtunggebenden Bedeutung für Verfassungstheorie und Staatsrechtslehre nicht vor ganz anders argumentierenden Beurteilungen, d. h. vor den Angriffen einer prinzipiellen politischen Staatskritik bewahren. Das betreffende, speziell die Staatsrechtslehre angehende und eingangs schon skizzierte staatskritische Meinungs- und Argumentationsspektrum vermittelt in seiner politischen Charakterisierung, selbst wenn man die Betrachtung auf wesentliche oder zeitgeschichtlich besonders signifikante Erscheinungen beschränkt, in den Begründungen und fassbaren Motiven ein vielfältiges Bild. Vor allem eine auffallende Vermischung von wissenschaftstheoretisch verstandenen Gesichtspunkten, internationalen bzw. kulturgeschichtlichen Vergleichen, politischen Überzeugungen sowie von ganz einfachen Annahmen und Behauptungen macht die Erörterung zu einem nicht einfachen Unternehmen und zu einer eher verdrießlichen Erfahrung. Einige bezeichnende Hervorhebungen und zusammenfassende Beurteilungen sollten ohne einen thematischen Verlust genügen. 2. – Ein bekannter staatskritischer Akzent wird von Seiten einer politischen Folgenbeurteilung originärer praktischer Vernunftphilosophie für die Staatsrechtslehre, für deren Rechts- und Staatsphilosophie verfassungsrechtlicher Ordnung, in dem Kriterium eines kulturgeschichtlichen Vergleichs mit dem sogenannten 240
Möllers (Fn. 14).
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„westlichen“ Verfassungsdenken aufgegriffen und gesetzt. Ein solcher Vergleich findet sich schon im thematischen Traditionsbestand der Staatsrechtslehre während deren neuerer Ideengeschichte; aber er hat Eingang auch in die zeitgeschichtliche Diskussion um die Verfassungsidee des Grundgesetzes gefunden, speziell was in einer solchen die Frage nach der staatsrechtlichen Begründung und Funktion der Idee des Staates angeht. Bereits seinerzeit sind die praktische Vernunftphilosophie sowie speziell deren vernunftbegründete Rechts- und Staatsphilosophie vom Staatsrecht und vom Staat als „der erste große Bruch zwischen dem deutschen Denken über die Probleme des sozialen Lebens und dem Westeuropas und Amerikas“ bezeichnet worden.241 Der „deutsche Geist“ habe damit „einen revolutionären Traditionsbruch mit dem einheitlichen Geiste der übrigen Kulturnationen vollzogen“, jedoch diesen „zu den Großtaten der menschlichen Geistesgeschichte“ gehörenden Schritt mit einer „geistesgeschichtlichen Isolierung“ erkauft.242 Die hiermit angesprochene, schon im Rahmen des sogenannten Methodenstreits der Weimarer Staatsrechtslehre formulierte Beurteilung hatte freilich gar nicht die praktische Vernunftkritik als solche aufgreifen wollen, sondern sich im Gegenteil ausdrücklich und entschieden nur gegen den erst aus der neukantischen Rechtsphilosophie gekommenen methodischen Formalismus einer normlogischen Rechts- und Staatslehre gerichtet, dessen „Loslösung der abstrakten juristischen Normwelt von dem soziologischen Substrat“ dem „außerdeutschen Denken fremd“ sei.243 Also jene prinzipielle geistesgeschichtliche Beurteilung wendet sich explizit allein gegen die ideengeschichtlich erst nachfolgende und besondere, mit der originären Vernunftkritik in deren praktischer Seite keineswegs übereinstimmende „nach- und neukantische Zerreißung des Bandes zwischen juristischer und soziologischer Betrachtung“.244 Ihre Kritik richtet sich ausschließlich gegen die neukantische Rechtsphilosophie und die ihr zugrundeliegende Erkenntnistheorie, welche die Vernunftkritik auf die theoretische Vernunft beschränkt und gar keine praktische Vernunft, sondern nur einen ethischen Formalismus kennen. Hingegen ist der aus der originären Vernunftkritik gekommene und im anschließenden transzendentalphilosophischen Idealismus, wie dargelegt, noch präzisierte praktische Vernunftbegriff des geschichtlichen Staates, d. h. die Idee des geschichtlichen Staates als einer eigenständigen und objektiven geistigen Ganzheit und Einheit sowie als regulative Idee für Verfassungstheorie und Staatslehre, in jenen zitierten kulturgeschichtlichen und wohl auch politisch gemeinten Vergleich überhaupt nicht explizit einbezogen gewesen. Die praktische Vernunftidee des Staates stellt freilich in anderer Hinsicht durchaus einen „großen Bruch“ mit dem sogenannten „westlichen“ Verfassungsdenken dar. Der betreffende kulturgeschichtliche und verfassungspolitische Unterschied zu diesem liegt gerade darin, dass die praktische Vernunftidee vom geschichtlichen Staat als geistiger Ganzheit und Einheit, d. h. vom Staat in der kategorialen Seinsweise einer objektiven und 241 242 243 244
E. Kaufmann (Fn. 239). A.a.O. A.a.O. A.a.O.
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eigenständigen ideellen Allgemeinheit, die vernunftnaturrechtlichen Vertragskonstruktionen „verfasster“ Herrschaftsordnung abzulösen vermochte sowie das dort grundsätzliche methodische Problem der Einheit von juristischem und soziologisch politischem Denken wissenschaftstheoretisch im Wege und nach Maßgabe einer etatistischen Grundlegung von Verfassungstheorie und Staatsrechtslehre zu gewährleisten unternimmt. Dieser Umstand ist es denn auch, der innerhalb der aus der Staatsrechtslehre aktuell kommenden Staatskritik zu dem Argument veranlasst hat, die Staatslehre sei „eine deutsche Besonderheit gewesen und geblieben“ und „schon begrifflich“ sei sie „international nicht anschlussfähig“.245 Es handelt sich um eine in zweifacher Hinsicht bemerkenswerte Äußerung. Neben der kulturgeschichtlichen Fragwürdigkeit eines solchen deutlich abwertend artikulierten internationalen Vergleichs muss bei genauerer Betrachtung vor allem schon der dabei im Hintergrund stehende rechtsmethodische Standpunkt verwundern. Besonders prekär ist nämlich der zitierte Vorwurf mangelnder internationaler Anschlussfähigkeit einer Staatslehre und eines dieser folgenden materialen Verfassungsbegriffs erst noch dadurch, dass er gerade von einer Seite erhoben wird, die im Übrigen für die heute immer noch gegenwärtige, exponierteste methodische Position eines staatsrechtlichen Formalismus, nämlich für denjenigen der neukantischen normlogischen Rechts- und Staatslehre,246 plädieren möchte. Jener Auffassung zufolge, soll die normlogische Rechts- und Staatslehre nicht nur ein Stück Erinnerungskultur der Staatsrechtslehre bedeuten, sondern einer „Wiederentdeckung“ wert sein, ein erwachendes Interesse und eine voraussichtliche Rezeption erwarten dürfen.247 Ihre wissenschaftstheoretische Begründung, die bekanntlich der prinzipiellen Annahme des frühen Neukantianismus von der Unmöglichkeit praktischer Vernunft überhaupt folgt,248 also auf der Verneinung einer Erkenntnisfunktion praktischer Vernunft beruht, soll angeblich nicht widerlegt sein. Damit wird in der schon erörterten Weise angenommen, dass Normsetzung und Normerkenntnis sich allein aus formalen Willensentscheidungen erklären lassen und dass Rechtswissenschaft deshalb nur einem reinen begrifflichen Formalismus verpflichtet sein kann. Eine solche formalistische Rechts- und Verfassungslehre bedeutet mit ihrer strikten Abtrennung der juristischen Begriffe vom soziologischen und politischen Substrat des Rechts die wohl radikalste Entgegensetzung gegen die dem sogenannten „westlichen“ Verfassungsdenken ideengeschichtlich und genuin vertraute Einheit 245
Lepsius, EuGRz 2004, 370/373. Zu Kelsen sowie dessen Rechts- und Staatstheorie Nachw. in Fn. 65 und 63 f. 247 Lepsius (Fn. 63), 354/369 ff.; siehe Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 2. Aufl. 1990 sowie die Nachw. zu diesem bei Lepsius, a.a.O., 371 Fn. 31. Siehe ferner Dreier, in: Hufen (Hg.), Verfassungen – Zwischen Recht und Politik, Festschrift H.-P. Schneider, 2008, 70 ff. im Hinblick auf beobachtete Dissens- und Konfliktvoraussetzungen der Verfassungssituation unter dem Grundgesetz; Entgegnung dazu in fachspezifisch staatsrechtlicher Hinsicht sowie aus Sicht der sogenannten Integrationslehre Bartlsperger (Fn. 5), 36 ff. und 45 ff. 248 Fn. 64 und 85. 246
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der Rechtsbegriffe mit ihrem soziologischen Substrat. Diesem Verfassungsdenken ist der von der normlogischen Rechts- und Staatslehre nachdrücklich verfochtene Formalismus des Rechtsdenkens und der „juristisch“ begründete Dezisionismus der Rechtsverwirklichung eine methodisch fremde Vorstellung. Gerade die Letztere ist es, die im internationalen Vergleich der Rechts- und Verfassungstheorien wohl die auffälligste Besonderheit darstellt. Selbstredend gilt dies, wie gesagt, zu allererst für die exzeptionelle wissenschaftstheoretische Grundlegung in der neukantischen Erkenntnistheorie, die durch die genannte Leugnung einer Erkenntnisfunktion praktischer Vernunft die freiheitliche Willensbetätigung sowie deren Verwirklichung in Rechtserzeugung und Rechtserkenntnis ohne einen Kausalzusammenhang mit den betreffenden realen Motiven, Zielen und Bestimmungsgründen begreifen und daher einem „reinen“ Willens- und Rechtsformalismus überantworten möchte.249 Aber im gegenständlich betrachteten internationalen Vergleichszusammenhang unterschiedlicher Verfassungskonzeptionen und verschiedenen verfassungsrechtlichen Denkens interessiert in erster Linie und im Ergebnis die aus jener erkenntnistheoretischen, wissenschaftstheoretischen Grundlegung resultierende und mit ihr beabsichtigte verfassungspolitische Besonderheit. Sie erscheint dezidiert von der politischen Vorstellung und Forderung bestimmt, dass eine wirklich freiheitliche und demokratische Verfassungsordnung allein unter den verfassungstheoretischen und rechtsmethodischen Voraussetzungen eines normlogischen Rechtsbegriffs, also für das Verfassungsrecht nur unter den Bedingungen eines striktesten „juristischen“ Formalismus von Rechtserzeugung und Rechtserkenntnis gewährleistet sein könne. Im politischen Modellvergleich richtet sich ein solcher Rechtsformalismus auf der einen Seite gegen jede Rechts- und Verfassungslehre, die nach dem sogenannten „westlichen“ Verfassungsdenken politisch soziologische, d. h. generell verstandesmäßig erfassbare Vorgänge in das Rechts- und Verfassungsdenken einbeziehen will. Auf der anderen Seite muss ihm die Annahme einer regulativen Vernunftidee von Recht und Staat mit der für die Staatsrechtslehre methodischen Konsequenz eines materialen Verfassungsbegriffs sowie eines dementsprechenden staatsrechtlichen Wertdenkens als ein in freiheitlicher und demokratischer Hinsicht auch politisches Skandalon gelten. Der von den besagten politischen Beweggründen wesentlich getragene Angriff der normlogischen Rechts- und Staatslehre gegen eine praktische Vernunftidee des Staates ragt zwar durch den genannten exponierten erkenntnisbzw. wissenschaftstheoretischen Anspruch hervor. Aber nicht von ungefähr wegen dieses erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Begründungscharakters stützt sich die im Zusammenhang eines internationalen Vergleichs erörterte aktuelle verfassungspolitische Staatskritik letztlich auf die normlogische Rechts- und Staatslehre. Deren politisches Postulat eines „juristischen“ Formalismus und dessen erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt in der Konsequenz des strikten, ursprünglichen Neukantianismus sind ideengleich. Offenbar handelt es sich um eine innerhalb der Staatsrechtslehre nachwievor naheliegende erkenntnistheoretische bzw. wissenschaftstheoretische, vor allem fachspezifisch methodische Argumentations249
Erörterung und Kritik bei Bartlsperger (Fn. 2), 149/176 ff.
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grundlage für politisch motivierte Kritik an einem staatsrechtlichen Etatismus. Jedoch als maßstäblicher Richtpunkt oder Standard für die internationale Anschlussfähigkeit einer Rechts- und Verfassungstheorie sowie einer Staatsrechtslehre eignet sich jene ohnedies überstrapazierte normlogische Rechts- und Staatstheorie nicht. 3. – Prinzipiell bemerkenswerter erscheint ein anderer Aspekt an dem wohl auch für eine breitere staatskritische Tendenz in der Staatsrechtslehre, Politik- und Sozialwissenschaft durchaus repräsentativ einzuschätzenden Vorwurf internationaler Sonderstellung einer fachspezifisch staatsrechtlichen Staatsidee und einer staatstheoretisch denkenden Staatsrechtslehre. Es handelt sich um das in einer solchen Beurteilung erkennbare ideen- und kulturgeschichtliche Verdikt in seiner prinzipiellen Verwendung und Aussagebedeutung als eines philosophiegeschichtlichen, spezifisch erkenntnistheoretischen Arguments. Denn jenes Kriterium mangelnder internationaler Anschlussfähigkeit trifft die für Verfassungstheorie und Staatsrechtslehre fundamentale Idee des Staates im Kern ihrer kulturgeschichtlichen und spezifisch ideengeschichtlichen Verankerung in der Rechts- und Staatslehre vernunftkritischer und transzendentalphilosophischer praktischer Philosophie. Im Ergebnis und im Grunde richtet sich das betreffende Verdikt einer internationalen Sonderentwicklung, namentlich einer mangelnden internationalen Anschlussfähigkeit, gegen den ideengeschichtlichen, speziell philosophiegeschichtlichen Rang der vernunftbegründeten Ursprungs- und Begründungsidee des Verfassungsstaates. Es geht um die philosophiegeschichtliche Reputation und Behauptungsfähigkeit dieser Idee sowie vor allem um die wissenschaftstheoretische Fundierung der entsprechenden Rechts- und Staatslehre in einem generellen Vergleich erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretischer Entwicklungen der Moderne, soweit diese Entwicklungen auch eine Erkenntnisfunktion praktischen Handelns betreffen. Indessen ein Vergleichskriterium internationaler Anschlussfähigkeit oder gar ein darauf gestütztes Verdikt ist der praktischen Vernunftidee von Recht und Staat nicht angemessen angesichts der philosophiegeschichtlichen Bedeutung, die der kritischen Vernunftphilosophie mit ihrem transzendentalphilosophischen Anspruch theoretischer und praktischer Vernunfterkenntnis sowie aufgrund ihrer speziellen Wirkungsgeschichte im anschließenden transzendentalphilosophischen Idealismus, auch von dessen Rechts- und Staatslehre, zukommt. Es handelt sich nämlich um diejenige philosophiegeschichtliche Position der Moderne, die nach der ideengeschichtlichen Epoche von intuitivem Rationalismus und Vernunftnaturrecht auf der einen Seite sowie gegenüber der Aufklärungsphilosophie eines bloßen Empirismus auf der anderen Seite250 einen nachvollziehbaren Weg aufzuzeigen vermochte, um das erkenntnistheoretische Problem wissenschaftlicher Metaphysik, speziell die philosophische Skepsis gegenüber einer solchen, unter Zugrundelegung eines transzendentalen subjektiven Vernunftvermögens wissenschaftstheoretisch erfass250 Zu der betreffenden Ideengeschichte der Erkenntnistheorie Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (Fn. 37), 125 ff., 133 ff. und speziell 144 ff.
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bar zu machen und damit als lösbar aufzugreifen.251 Ein Verdikt mangelnder internationaler Anschlussfähigkeit muss demgegenüber als belanglos gelten angesichts des erkenntnistheoretischen, wissenschaftstheoretischen Bedeutungsranges transzendentaler Vernunftphilosophie, speziell des transzendentalen Idealismus, einen Weg eröffnet zu haben, um die Welt über eine bloße verstandesmäßige Erfassung ihres physischen Zustandes hinaus auch über das Bewusstsein von Ideellem, von einer Welt, die es nur mit uns gibt, begreifen, also kraft subjektiven Vernunftvermögens eine umfassende wissenschaftliche Meta-Physik begründen zu können. Es ist die prinzipielle kulturgeschichtliche Leistung jener Transzendentalphilosophie, die Möglichkeit einer auf Vernunft gegründeten Meta-Physik aufgezeigt zu haben. Metaphysisch ist ihre kritische Erkenntnistheorie, weil deren Problem metaphysisch ist. Jene damals in das Zentrum der Philosophiegeschichte getretene Neuerung hat es auch möglich gemacht, bei der seinerzeitigen epochalen Aufgabe einer wissenschaftstheoretisch begründeten Erfassung ursprünglicher individueller Freiheitsrechte252 sowie von deren Verwirklichung in einer demgemäß verfassungsrechtlich gewährleisteten liberalen und demokratischen Herrschaftsordnung über die im Vernunftnaturrecht verhafteten bloßen verfassungstheoretischen Vertragskonstruktionen253 hinauszugehen. An deren Stelle konnte die Substanz ihres verfassungsrechtlichen Postulats, vor allem auch ihr fortdauernd bedeutsam gebliebenes verfassungsstrukturelles Erbe, in einer transzendentalphilosophischen praktischen Vernunftidee von Recht und Staat erhalten und fortgeführt werden.254 Die Idee vom „Verfassungsstaat als Staatsbegriff“, ein Staatsbegriff in der Funktion einer regulativen Idee von Verfassungstheorie und Staatsrechtslehre, haben Teil an dem eigenständigen Rang und an dem Gewicht, welche die Vernunftkritik und deren praktische Philosophie sowie die sie fortführende Transzendentalphilosophie in Philosophiegeschichte und Entwicklung der Wissenschaftstheorie zu beanspruchen haben. Ein gegen die originäre vernunftbegründete Rechts- und Staatslehre gewendetes Argument geistesgeschichtlicher Isolierung sowie das gegen einen in der Begründungstradition praktischer Vernunft stehenden Staatsbegriff speziell und ausdrücklich gerichtete Verdikt mangelnder internationaler Anschlussfähigkeit wollen anscheinend einen maßgeblichen Vergleichsstandard suggerieren, der dem Niveau einer philosophiegeschichtlichen Betrachtung schon an sich fremd ist. 4. – Offensichtlich geht es bei jenem Vorwurf mangelnder internationaler Anschlussfähigkeit auch nur um die ganz andere Absicht, von Seiten der Staatsrechtslehre in die kritische Thematisierung eines sie leitenden Staatsbegriffs ein weiteres politisch motiviertes staatskritisches Argument hineinzutragen. Nicht anders kann es verstanden werden, wenn im gleichen Argumentationszusammenhang 251
Zum transzendentalen Idealismus Nicolai Hartmann, a.a.O., 149 ff. Zum Primat subjektiver Rechte in der praktischen Vernunftphilosophie Bartlsperger (Fn. 191), 46 ff.; zur Ursprünglichkeit des subjektiven Rechts bei Kant siehe Kersting (Fn. 39), 123 ff. 253 Fn. 107. 254 Kant (Fn. 3), 129 ff. (§§ 46 ff.). 252
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und in schon zitierten Äußerungen der Staatsbegriff „als ein einigermaßen amorphes, historisch zufällig gewachsenes, und dem Recht zum großen Teil unsichtbares Gebilde“, vor allem aber als ein „Erkenntnis- und Modernisierungshindernis“ bezeichnet wird.255 Insbesondere wird die Idee des Staates auch gleichgesetzt mit einem ihr angesonnenen „Ideal eines souveränen, also allmächtigen Staates, einer Gewalt, die sich auf Erden mit keiner vergleichen kann.“256 Die Äußerungen stehen für eine wesentliche, man kann sagen, für eine tragende Argumentation der zeitgeschichtlichen Staatskritik. Augenscheinlich ist bei den betreffenden in der Staatsrechtslehre aktuell als eine Tendenz in Erscheinung tretenden staatskritischen Standpunkten eine dekonstruktive Sichtverengung auf die Rolle im Spiel, die der Idee des Staates als eines „Machtstaates“ oder, in einem provokanten literarischen Bild gesprochen, eines „Leviathan“257 in der spätkonstitutionellen Epoche widerfahren war. Es handelt sich um das historische Erscheinungsbild des Staatsbegriffs unter den politischen Verhältnissen jener spätkonstitutionellen Epoche sowie unter den damals in der Staatsrechtslehre beherrschenden methodischen Annahmen des staatsrechtlichen Positivismus, der seine staatsrechtlich konstruktive, „juristische“ Verankerung im monarchischen Prinzip gesehen hatte.258 Bemerkenswert ist an dieser von der betreffenden Staatskritik offenbar politisch gesuchten Blickverengung die an der gegenwärtigen Staatsrechtlehre grundsätzlich festzustellende, schon eingangs angesprochene Selbstvergessenheit gegenüber der wirklichen, der vernunftkritischen, transzendentalphilosophischen Ursprungs- und Begründungsidee des Verfassungsstaates in Deutschland. Diese ist es jedenfalls, die über die Zeiten hin für die wirkungsgeschichtliche Entfaltung der Idee verfassungsrechtlicher Ordnung die maßstäbliche Bedeutung zu beanspruchen hat, also ganz anders als jene auf das Staatsdenken der spätkonstitutionellen Epoche verengte politische Staatskritik es wahrhaben bzw. anerkennen möchte. Die aus der praktischen Vernunftidee des Staates kommende Staatslehre und deren Staatsbegriff in der Funktion einer regulativen Idee von Verfassungstheorie und Staatsrechtslehre besagen kraft jenes ihres ideengeschichtlichen Ursprungs und ihres dazugehörigen wissenschaftstheoretischen Begründungscharakters, dass „die Form eines Staats überhaupt, d.i. der Staat in der Idee“ sowie die Idee „äußeren Rechts“ eine apriorische Einheit bilden mit den praktischen Vernunftideen individueller Freiheit und von deren kategorialer Kompabilität im wechselseitigen Verhältnis mit „jedermanns Freiheit“.259 Danach kann der Staatsbegriff nicht mit einer historisch spezifischen politischen Denaturierung zum „Machtstaat“ in der spätkonstitutionellen Epoche identifiziert und nicht aufgrund einer darauf verengten Beurteilungsperspektive in einen verfassungstheoretischen 255
Möllers (Fn. 20), 7 bzw. ders. (Fn. 14), 9 f. Möllers (Fn. 14), 10. 257 Möllers (Fn. 14). 258 v. Gerber, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts (1865), 2. Aufl. 1869, 3. Aufl. 1880, 220 bzw. 73 f.; siehe bei Bartlsperger (Fn. 191), 17/28 f. 259 Kant (Fn. 3), 129 (§ 45) und 39 (§ C). 256
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Gegensatz gestellt werden zum politischen Prinzip freiheitlicher Demokratie. Es ist gerade die ideengeschichtlich nachweisliche und wegen des daher wissenschaftlichen Ranges zuallererst maßstäbliche praktische Vernunftidee des Staates, „welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient“.260 Mit einer antiliberalen und antidemokratischen Machtstaatsidee kann sie nicht in Verbindung gebracht werden. Vielmehr gewährleistet sie aufgrund des ihr vernunftnotwendig zugrundeliegenden „Allgemeinem Prinzip des Rechts“ von der Kompatibilität individueller Freiheiten, dass das politische Ziel individueller Freiheitsgarantie innerhalb einer staatsrechtlichen Ordnung vom Volk legitimierter, demokratisch konstituierter und kontrollierter Institutionen mit der Wirklichkeit vermittelt, d. h. „nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“261 zu einer wirklichen verfassungsrechtlichen Ordnung wird. Es handelt sich um einen prinzipiell anderen Staatsbegriff, um eine für die Staatsrechtslehre gänzlich andere regulative Idee des Staates, als sie die zeitgeschichtliche und aktuelle Staatskritik bei ihren Angriffen gegen das spätkonstitutionelle Staatsdenken vor Augen hat. Als Ursache von deren Blickverengung und ganz anderer Zielrichtung lässt sich recht eindeutig eine bestimmte, spezielle politische Philosophie ausmachen, die sich die gesellschaftlich wirtschaftlichen Verhältnisse jener spätkonstitutionellen Epoche und die insoweit angenommenen politischen Verhältnisse derselben zum Anschauungsgegenstand und Demonstrationsobjekt ihrer spezifischen Staatskritik gewählt hat. Um die Thematik noch genauer zu charakterisieren und letzten Endes klarzustellen, geht es bei der betreffenden zeitgeschichtlichen Staatskritik darum, dass diese erst im bestimmenden Staatsdenken und in der staatsrechtlich herrschenden Staatskonstruktion der spätkonstitutionellen Epoche den wahren originären Ursprung eines fachspezifisch staatsrechtlichen Staatsbegriffs sehen möchte. Dieser Standpunkt fügt sich zum ersten ideengeschichtlich ein in die schon erörterte politische und wissenschaftstheoretische Kritik an der dem staatsrechtlichen Spätkonstitutionalismus vorausgegangenen, geschichtsphilosophisch spekulativen Staatsphilosophie, insbesondere und genauer in die betreffende, gegen ein reaktionäres Staatsdenken gerichtete Werkkritik derselben. Was dagegen viel wesentlicher die originäre praktische Vernunftidee des Staates angeht, verblieb jener ausschließlich am spätkonstitutionellen Staatsdenken ausgerichteten Staatskritik kein anderer argumentativer Weg als die in der Diskurstheorie zugrundegelegte Behauptung, dass sich jene der praktischen Vernunftkritik zugeschriebene Staatslehre bei richtiger Betrachtung erst einer nachträglichen, verfälschenden Interpretation und Inanspruchnahme anlässlich der spätkonstitutionellen Konstituierung einer Staatsgewalt verdanke.262 In der ideengeschichtlichen Weginterpretation vernunftbegründeter Staatslehre zugunsten der Annahme eines erst spätkonstitutionellen machtstaatli260 261 262
A.a.O., 129 (§ 45). Fichte (Fn. 36). Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 87), 305 f.
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chen Ursprungs von Staatbegriff und einer entsprechenden Staatsgewalt ist das in den Erscheinungsformen zeitgeschichtlicher Staatskritik argumentativ bestimmende Grundmuster zu sehen. In dessen Banne steht offenkundig auch die in der Staatsrechtslehre sich aktuell artikulierende Staatskritik. Es handelt sich um das offensichtliche, in seiner Absicht und Argumentation gut nachvollziehbare Unterfangen, den fachspezifisch staatsrechtlichen Staatsbegriff, recht eigentlich den in ideengeschichtlicher Hinsicht ursprünglichen und maßgeblichen Vernunftbegriff des Staates in seiner Funktion als regulativer Idee der Staatsrechtslehre, in eine politische Thematisierung zu verstricken, also zu einem Politikum zu machen. Die betreffenden Vorgänge gehören zur zeitgeschichtlichen Epoche der Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz und betreffen deren Erscheinungsbild, was speziell gewisse Wandlungen in ihrem Selbstverständnis angeht seit den ab den 60-ger Jahren sich verändernden gesellschaftlichen und politischen Einstellungen gegenüber staatsrechtlichen Verfahren und Institutionen.263
263
Möllers (Fn. 14), 44 ff.
VIII. Materialistische Staatskritik 1. – Der wirkliche Grund für die angesprochene Sichtverengung staatstheoretischer Thematik auf das Staatsdenken der spätkonstitutionellen Epoche lässt sich recht deutlich ausmachen. Eine aus der praktischen Vernunftkritik, also aus der praktischen Philosophie des transzendentalen Idealismus kommende und in deren Sinne wissenschaftstheoretisch begründete Idee des Staates sowie die dieser innewohnende verfassungstheoretische Idee einer realisierten freiheitlichen und demokratischen Verfassungsordnung konnten seit jener genannten zeitgeschichtlichen Veränderung gesellschaftlichen und politischen Denkens nicht mehr als vereinbar gelten mit einer nunmehr zu verbreiteter wirkungsgeschichtlicher Bedeutung gelangenden Geschichtsphilosophie des ökonomischen Materialismus.264 Danach konnte der Staatsbegriff nur noch als ein gesellschaftlich ökonomisches Phänomen überhaupt eine Erklärung erfahren, die sich nach jener materialistischen Theoriebildung in den bereits durch die Marxsche Kritik erschütterten, also in den spezifischen wirtschaftlichen und dementsprechend angenommenen politischen Verhältnissen der spätkonstitutionellen Epoche finden ließ.265 Die betreffenden Annahmen gehen davon aus, dass die seinerzeitige kapitalistische Wirtschaftsordnung, insbesondere deren wesentliches Prinzip frei verfügbaren Eigentums, nach einer Garantie verlangten durch die Institutionen eines Staates und einer entsprechenden Staatsgewalt.266 Die betreffende politische Philosophie und jene ihr eigene Auffassung von der Staatsgenese fanden in staatsrechtlichem Zusammenhang Aufnahme und Ausdruck in einer grundsätzlich auf einer jeweils gleichen Argumentationslinie liegenden staatskritischen literarischen Beschäftigung mit den angenommenen gesellschaftlich wirtschaftlichen Voraussetzungen der spätkonstitutionellen Epoche.267 In erkennbarer Absicht richtet sich diese Kritik gegen eine ideell begründete Staatslehre, namentlich gegen den Einfluss einer schon aus dem sogenannten Weimarer Methodenstreit der Staatsrechtslehre bekannten, im staatstheoretischen Ergebnis einer einheitlich und ganzheitlich verstandenen Idee des Staates. Nach der genannten ökonomisch materialistischen Auffassung sollen sich, ganz anders als nach idealistischer Staatslehre, der Staatsbegriff und die Staatsgewalt einer verfassungsgeschichtlichen und verfassungspolitischen Funktion als notwendige Grund-
264 Zur betreffenden marxistischen Doktrin in deren prinzipieller Grundlegung Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 16. Aufl. 2010, § 25 II. 265 Dezidiert Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 87), 305. 266 A.a.O., 306. 267 Dazu Nachw. bei Bartlsperger (Fn. 5), 31/43.
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VIII. Materialistische Staatskritik
lage und Garant der kapitalistischen Wirtschafts- und Eigentumsordnung unter der Epoche des Spätkonstitutionalismus verdanken. 2. – Jene explizit materialistische Auffassung von einer spätkonstitutionellen Staatsgenese aufgrund angenommener seinerzeitiger gesellschaftlich ökonomischer Anforderungen und politischer Erwartungen an die staatsrechtliche Ordnung, d. h. an eine einen solchen politökonomischen Zustand stabilisierende Staatsgewalt, vermochte offenbar nachhaltig zu wirken. In der Staatsrechtslehre scheint es ihr jedenfalls gelungen zu sein, den Takt anzuschlagen für eine ebenso spezifische wie prinzipielle Staatskritik, welche dabei die Vorstellung von einem spätkonstitutionellen Machtstaatsdenken und von einer daraus resultierenden Staatsgenese vor Augen hat. In dem Zusammenhang wird deshalb auch zugegeben, seit dem „Kaiserreich“ seien „wissenschaftliche Fronten in der Staatsrechtswissenschaft oftmals auch politische Fronten.“268 Obgleich in diesem Zusammenhang dem Grundgesetz eine eindeutige Antwort auf „die fundamentale Frage nach der ,richtigen‘ politischen Ordnung“ bestätigt wird, gilt es nach jener Ansicht als „klar, dass dies nicht alle politischen Präferenzen bedeutungslos machte.“269 Vielmehr soll man in der aus dem sogenannten Weimarer Methodenstreit der Staatsrechtslehre stammenden Auseinandersetzung zwischen Schulen einer idealistischen Staatslehre und einer voluntaristischen Verfassungslehre „auch eine solche zwischen rechts und links erkennen können.“270 Gleichfalls soll es nicht schwer sein, einen derartigen politischen RechtsLinks-Gegensatz in bestimmten repräsentativen literarischen Unternehmungen der Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz wiederzuerkennen.271 Schließlich wird die politische Situation dahin charakterisiert, dass es der Staatsrechtswissenschaft „längste Zeit an einem linksdemokratischen republikanischen Etatismus“ fehle, der „viele Positionen, die als politisch und methodisch konservativ verstanden wurden, demokratietheoretisch hätte ergänzen können.“272 Erstaunlicherweise wird dazu angefügt, dass solches in der Nachfolge von methodisch so gegensätzlichen und sich entschieden bekämpfenden staatsrechtlichen Standpunkten wie einer spezifisch nur organisatorischen „Staatslehre“ auf der einen sowie der normlogischen Rechts- und Staatslehre auf der anderen Seite „durchaus denkbar gewesen wäre.“273 Offenbar sollte eine „linksdemokratische republikanische“ Staatsrechtslehre ihre Argumente nehmen, wo sie sich gerade finden lassen. Von Seiten einer solchen, aktuell in der Staatsrechtslehre sich artikulierenden Staatskritik ist man anscheinend entschlossen, in staats- bzw. verfassungstheoretischen Fragen einem Abgleiten der Staatsrechtswissenschaft in politische Standpunkte und in eine dementsprechend prinzipiell 268
Möllers (Fn. 14), 99. A.a.O. 270 A.a.O. 271 A.a.O. im Hinblick auf die Auseinandersetzungen zwischen der aus der sogenannten Integrationslehre folgenden Smend-Schule einerseits und derjenigen um die Staats- und Verfassungstheorie von Carl Schmitt andererseits. 272 A.a.O. 273 A.a.O. 269
VIII. Materialistische Staatskritik
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politische Beurteilung von betreffenden wissenschaftstheoretisch begründeten Auffassungen zu folgen, mit allen Konsequenzen für die Verfassungstheorie und einschließlich aller Folgerungen für eine generelle Politisierung der staatsrechtlichen Methode. 3. – In dem politischen Argumentationscharakter und Aussagegehalt jener aktuellen staatkritischen Staatsrechtslehre gelangt sicherlich auch noch einmal die eingangs angesprochene spezifisch politikwissenschaftliche Thematisierung eines angeblichen demokratietheoretischen Defizits zeitgeschichtlicher Verfassungstheorie und Verfassungsinterpretation unter dem Grundgesetz zur Wirkung.274 Näherliegender indessen dürfte der inspirierende Einfluss von Seiten der in jenem gleichen Erörterungszusammenhang demokratietheoretischer Herausforderungen an die Staatsrechtslehre schon angesprochenen Diskurstheorie sein.275 Zwar erscheint dem staatskritischen Meinungsspektrum gemeinsam die jeweilige Annahme eines prinzipiellen verfassungstheoretischen Gegensatzes von Demokratie und Staat. Aber ein nochmaliger Blick vor allem auf die Diskurstheorie kann offenlegen, dass hierbei zwei ideengeschichtlich grundlegend verschiedene Grundmuster einer Staatskritik am Werke sind. Die spezifisch und man kann sagen die traditionell politikwissenschaftliche Staatskritik erscheint ersichtlich geprägt von demokratietheoretischen Argumenten des sogenannten „westlichen“ Verfassungsdenkens.276 Ganz anders argumentiert die eben vorstehend erörterte, an einer angenommenen spätkonstitutionellen Staatsgenese entwickelte Staatskritik aus einer betreffenden ökonomisch materialistischen Geschichtsauffassung. Inwieweit auch dabei schließlich die Diskurstheorie die eigentliche Patenschaft beanspruchen kann, mag ein eigenes, hier dahinzustellendes Thema sein. Jedenfalls hebt sich die Diskurstheorie selbst von den genannten staatskritischen Standpunkten dadurch signifikant ab, dass sie in einer schon angesprochenen bemerkenswerten Weise die für die kulturgeschichtliche Entwicklung in Deutschland bezeichnende originäre vernunftkritische Ursprungs- und Begründungsidee verfassungsstaatlichen Denkens, soweit sie die Vernunftidee individueller Freiheit betrifft, durchaus als ideengeschichtlichen Ausgangspunkt in ihre politischen Beurteilungen der Rechts- und Staatslehre einbezieht, dass sie aber die betreffende Vernunftidee des Staates letztlich zum zentralen Gegenpart ihrer ökonomisch materialistisch begründeten Staatskritik und überhaupt ihrer dementsprechenden politischen Philosophie erklärt.277 Die rechts- und verfassungstheoretische Konzeption der diskurstheoretischen Staatskritik ist dadurch nicht gerade einfach nachzuvollziehen und zu entschlüsseln. Auf der einen Seite möchte ersichtlich die diskurstheoretische Kritik einer Staatsgenese keineswegs die originäre und spezifische praktische Vernunftidee vom 274
Oben Abschnitt III. Habermas (Fn. 87 und ff.). 276 Zu dem betreffenden sogenannten „westlichen“ Verfassungsdenken sowie zu dessen ideengeschichtlichen Voraussetzungen im empirischen Idealismus siehe Fn. 107 f. 277 Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 87), 305. 275
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individuellen Willen und von den betreffenden ursprünglichen individuellen Freiheiten der Einzelnen sowie die vernunftnotwendige intersubjektive Komptabilität derselben leugnen. Andererseits möchte sie dieses „Allgemeine Prinzip des Rechts“ von „zugleich freien und gleichen Rechtssubjekten“ sowie von der gegenseitigen Abgrenzung und Koordinierung ihrer kollidierenden Freiheitssphären auf einen bloßen, angeblich nur „ursprünglich intersubjektiven Sinne“ beschränkt wissen.278 Nicht dagegen möchte sie diesen vernunftbegründet intersubjektiven Sinn individueller Freiheiten auch mit der authentischen Konsequenz originärer praktischer Vernunftphilosophie in Verbindung gebracht sehen, dass bei „jeder wirklichen Vereinigung“ einer „Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ ein „Staatsrecht“ unter der regulativen Vorstellung vom „Staat in der Idee“ entsteht.279 Vielmehr kommt es an diesem wissenschaftstheoretisch konstruktiven Punkt zum Bruch in der diskurstheoretischen Argumentation. Der Staatsbegriff wird erst einer Konstituierung von Staatsgewalt unter den historisch kontextgebundenen, „hypothetisch angenommenen Bedingungen einer wirtschaftsliberalen Gesellschaft“ und kapitalistischen Wirtschaftsordnung, unter den betreffenden gesellschaftstheoretischen Annahmen und Erwartungen der „klassischen Politischen Ökonomie“ zugeschrieben.280 Jene gemeinte, auf Prinzipien des Rechtsstaates gestützte Idee des Staates, d. h. das betreffende liberale Rechtsparadigma der Trennung und Gegenüberstellung von Staat und individueller Freiheit bzw. Gesellschaft, gelten der diskurstheoretischen Staatskritik „bereits durch die Marxsche Kritik erschüttert“.281 Gemeint ist offenbar die marxischtische Doktrin, wonach die Rechts- und Verfassungsordnung eine ökonomische Grundlage in einer Klassenstruktur der Gesellschaft und in den daraus hervorgegangenen Klassengegensätzen hat.282 Das diskurstheoretische Verdikt gegenüber einer Vernunftidee des Staates sowie überhaupt gegenüber jeder etatistischen Verfassungstheorie findet also seine Erklärung in dem Verdikt der ökonomisch materialistischen Gesellschaftslehre gegenüber einer aus rechtsstaatlichen Prinzipien und unter den gesellschaftstheoretischen Bedingungen einer liberalen Wirtschaftsordnung begründeten Staatslehre. Es handelt sich um die erwähnte, auch im Übrigen in der erwähnten Staatskritik zeitgeschichtlicher Staatsrechtslehre bekannte Argumentation von einer angenommenen, unter den ökonomisch gesellschaftlichen Bedingungen der spätkonstitutionellen Epoche erfolgten Staatsgenese. Aus der diskurstheoretischen Sicht jedenfalls lässt sich somit die in Politik- bzw. Sozialwissenschaft geführte Erörterung und die für die Staatsrechtlehre grundlegende verfassungstheoretische Thematik um den Staatsbegriff auf einen prinzipiellen kulturgeschichtlichen Gegensatz reduzieren zwischen einer aus der ideenge278
A.a.O., 306. Kant (Fn. 3), 129 (§ 45). Auf diesen fundamentalen Unterschied zwischen der ideengeschichtlichen praktischen Vernunft vom Recht und vom Staat einerseits und der Diskurstheorie andererseits weist Kersting (Fn. 39, 125 f.) hin. 280 Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 87), 305. 281 A.a.O. 282 Zippelius (Fn. 264). 279
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schichtlich vorrangigen, ursprünglichen praktischen Vernunftidee von Recht und Staat hervorgegangenen transzendentalphilosophischen, idealistischen Staatslehre auf der einen Seite sowie einer staatskritischen politischen Philosophie des ökonomischen Materialismus und des entsprechenden politischen staatsrechtlichen Positivismus auf der anderen Seite. Die Letztere muss also aus ihrer Perspektive, einer ideengeschichtlichen Rückschau folgend, die praktische Vernunftidee des Staates sowie deren wissenschaftstheoretischen Anspruch einer regulativen Vernunftidee für Verfassungstheorie und Staatsrechtslehre als prinzipielle, sie in ihrem politischen Kern treffende Herausforderung wahrnehmen. Andererseits möchte die Diskurstheorie aber, wie gesagt, auch an der vernunftbegründeten Idee von individueller Freiheit und deren intersubjektiver kompatibler Betätigung als Grundlage und Sinngebung ihrer politischen Philosophie eines Diskurses gegenseitiger Abgrenzung und Koordinierung der Freiheitssphären festhalten. Dementsprechend folgt die diskurstheoretische Staatskritik in ihrer Auseinandersetzung mit der originären vernunftbegründeten Rechts- und Staatslehre einer zweifachen Argumentation, deren Annahmen in ihren wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen und Ansätzen in einem prinzipiellen Gegensatz zueinander stehen. Auf der einen Seite ist dies die der Diskurstheorie voraussetzungsgemäße und wesentliche politische Philosophie einer ökonomisch materialistischen Gesellschafts- und Verfassungstheorie mit ihrer dementsprechenden und ihr ganz spezifisch eigenen politökonomischen Staatskritik. In diesem Argumentationszusammenhang ist auch nochmals hervorzuheben, dass der betreffenden materialistischen Staatskritik die von ihr speziell angenommenen ökonomisch gesellschaftlichen Verhältnisse jener spätkonstitutionellen Epoche zugrundegelegt werden und dass eine erst jener gesellschaftlichen Situation und staatsrechtlichen Ordnung angesonnene historisch kontextgebundene Staatsgenese und namentlich eine in dieser gesehene Machtstaatsidee als Argumente genereller Staatskritik genutzt werden. Ein solcher Standpunkt hätte als prinzipieller und ausschließender Gegenpart zu allen Elementen einer idealistischen Rechts- und Verfassungslehre gelten müssen. Stattdessen macht die Diskurstheorie die im ideengeschichtlichen Ursprung idealistische, vernunftbegründete Intersubjektivität individueller Freiheitsverwirklichung zum strukturellen Element ihrer gesellschaftlichen und politischen Philosophie, speziell ihres verfassungspolitischen Postulats deliberativer Öffentlichkeit und Politik.283 Beide genannten Annahmen der 283 Indessen selbst diese ideengeschichtliche Anknüpfung der diskurstheoretischen sogenannten „deliberativen“ Politik bzw. Öffentlichkeit an die originäre praktische Vernunftkritik kann angesichts des Umstandes fragwürdig erscheinen, dass die Diskurstheorie in ihrer spezifischen politischen Betrachtung des Diskurses die Kritik offensichtlich überhaupt nur als erfolgsorientierte Kritik an bestehenden Verhältnissen gelten lässt (Gerhardt, Fn. 87, 223 ff. und 506 f.; auch bei Lieber, Fn. 87, 9 ff.). „Gemessen an Kants Rechtsprinzip“ soll „erst der sozialstaatliche Paradigmenwechsel die objektivrechtlichen Gehalte subjektiver Freiheitsrechte wieder zur Geltung bringen, die im System der Rechte immer schon enthalten waren“ (Habermas, Faktizität und Geltung, Fn. 87, 306). In den Problemzusammenhang gehört wohl auch die zwischenzeitlich in den Argumentationsalltag eingegangene Begriffsbildung und Begriffsverwendung einer sogenannten „Zivilgesellschaft“ als dem organisatorischen „Substrat jenes allgemeinen, aus der Privatsphäre
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diskurstheoretischen Staatskritik bilden, erkennbar schon an ihrer das Verständnis fordernden, ausgesprochen verdichteten argumentativen Darstellung, eine inhaltliche Einheit. Aber angesichts ihres gegensätzlichen Begründungsansatzes und Aussagegehalts lassen sie sich nur je für sich beurteilen. Einer Überprüfung an den wirklichen verfassungsgeschichtlichen Bedingungen und Vorgängen sowie an den ideengeschichtlichen Entwicklungen der Staatsrechtslehre halten sie beide nicht stand. Die Verfassungsgeschichte und die staatsrechtliche Begriffsbildung zum Staatsbegriff haben sich unter ganz anderen Bedingungen bzw. Abläufen und in ganz anderer Weise entwickelt als von der diskurstheoretischen Staatskritik behauptet und voraussetzt. Deren Argumentation auf der Grundlage einer materialistischen Geschichtsbetrachtung und Gesellschaftslehre sowie einer entsprechenden politischen Philosophie erweist sich aus Sicht der Staatsrechtslehre angesichts von deren wirklicher ideengeschichtlicher Entwicklung als ein Irrweg fachspezifischer Grenzüberschreitung.
gleichsam hervortretenden Publikums von Bürgern, die für ihre gesellschaftlichen Interessen und Erfahrungen öffentliche Interpretationen suchen und auf die institutionalisierte Meinungsund Willensbildung Einfluss nehmen“ (Habermas, a.a.O., 443 f.).
IX. Grenzüberschreitung politischer Philosophie 1. – Die von der diskurstheoretischen Staatskritik unternommene Deutung und Verwerfung einer für Verfassungstheorie und Staatsrechtslehre regulativen Staatsidee und funktional bestimmenden Staatslehre verfehlen mit ihrer ökonomisch materialistischen Beurteilung der betreffenden Staatsgenese unter angenommenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der spätkonstitutionellen Verfassungsordnung in der betreffenden fachspezifischen Hinsicht ihr Ziel, die Idee des Staates auch in ihrer staatsrechtlichen Funktion als Produkt eines wirtschaftsliberalen, kapitalistischen Gesellschaftszustandes nachweisen zu können. Sie bewegen sich in einem fachspezifisch die Sozial- und Politikwissenschaft interessierenden und beschäftigenden Bereich. Namentlich das sogenannte liberale Rechtsparadigma beurteilen sie in dessen normativer Trennung von Staat und Gesellschaft, in dessen staatsrechtlicher Gegenüberstellung von Staat und individueller Freiheit des Einzelnen, als eine seinerzeit für das liberale Bürgertum „wirkungsgeschichtlich überaus erfolgreiche Lösung“ bei der Verwirklichung rechtsstaatlicher Prinzipien.284 Es kann denn auch durchaus die Sache jener betreffenden, auf die Wirklichkeit gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Verhältnisse sowie Vorgänge gerichteten Fachgebiete sein, zu beobachten, inwiefern eine angenommene liberale Wirtschaftsgesellschaft und kapitalistische Wirtschaftsordnung in der Konstituierung und im Funktionieren einer sie optimal gewährleistenden und sichernden Staatsgewalt einen stabilisierenden Faktor gesucht und dementsprechende Erwartungen an die staatsrechtliche Ordnung, die betreffende Verfassungstheorie und Staatsrechtslehre erfolgreich gehegt haben. In jener fachspezifischen Hinsicht stellt es also durchaus eine voraussetzungsgemäße, zutreffende Perspektive und Thematik dar, dass kollektive Bewusstseinsinhalte sowie betätigte Bedürfnisse und Interessen der geschichtlich realen Seinsebene einer Gesellschaft deren ideellen Seinsbereich gestalten, beeinflussen und bewegen können, nicht zuletzt die staatsrechtliche Ordnung sowie die betreffende Verfassungstheorie und Staatsrechtslehre. Aus jener Perspektive der Letzteren handelt es sich jedoch nur um Vorgänge auf der für sie ontologisch vorausgesetzten, insofern kategorial gar nicht wegzudenkenden, sie real tragenden Seinsebene. Aber im Falle der von der diskurstheoretischen Staatskritik und der von ihr inspirierten staatskritischen Auffassungen vermeinten, ideengeschichtlich in den Ausgangs- und Mittelpunkt gerückten und zur Beurteilung gestellten spätkonstitutionellen staatsrechtlichen Staatsgenese haben jene Umstände ganz entgegen der diskurstheoretischen Argumentation keine unmittelbar entscheidende reale Bedeutung erlangt. Die betreffende verfassungspolitische und 284
Habermas, a.a.O., 306.
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staatsrechtliche Entwicklung während der Epoche nach dem Scheitern der Frankfurter Nationalversammlung hat einen den angenommenen, damals gehegten gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungen gegenüber ganz anderen politischen und verfassungsgeschichtlichen Weg eingeschlagen und die seinerzeit beherrschend gewordene Staatsrechtslehre hat sich nachweislich aus spezifisch eigenen ideellen Gründen, nämlich im Gefolge einer damals auch in der Staatsrechtswissenschaft methodisch bestimmend gewordenen begriffsjuristischen Richtung, also in wissenschaftstheoretisch prinzipieller Weise, gegenüber gesellschaftlichen und ökonomischen, überhaupt gegenüber realen Bedingungen, Bedürfnissen und Interessen verschlossen.285 Es handelt sich um bekannte politische, verfassungsgeschichtliche Vorgänge und vor allem die betreffende, ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts für die Staatsrechtlehre, speziell für deren Verfassungstheorie und Methode bestimmende Auffassung des sogenannten staatsrechtlichen Positivismus hat bekanntermaßen ihre grundlegende und wirkungsgeschichtlich maßgebliche Entwicklung und Darstellung im Rahmen einer bestimmten, insofern wesentlich verantwortlichen Position juristischer Literatur zur seinerzeitigen „Aufgabe“ der Rechtswissenschaft286 und zum „System des deutschen Staatsrechts“287 erfahren. Dies erlaubt im gegenständlichen Erörterungszusammenhang eine zusammenfassende, komprimierte Bezugnahme darauf. Gesellschaftliche Faktoren im Sinne der von der Diskurstheorie vertretenen materialistischen Geschichtsphilosophie und politischen Philosophie haben jedenfalls keine Bedeutung gehabt. Motivation und Anliegen waren ideengeschichtlich nachweislich originär und dezidiert von ausschließlich wissenschaftstheoretischer Art. 2. – Einen ersten Ansatz jener staatsrechtlich fachspezifischen, wissenschaftstheoretisch methodischen Entwicklung spätkonstitutioneller Staatsrechtlehre kann man bereits in der nur wenige Zeit vorher rechtswissenschaftlich in Erscheinung getretenen Annahme einer Rechtspersönlichkeit des Staates sehen, welche dabei in einem bloß formalen, „juristischen“ Sinne verstanden werden und mit der staatsrechtlichen Stellung des Monarchen verbunden sein sollte.288 Hieran hat die genannte, und zwar bemerkenswerterweise aus der Zivilrechtslehre, spezifisch aus der Historischen Rechtsschule kommende „juristische“ Methode einer formalistischen, logisch-systematischen Begriffsbildung für die Staatsrechtslehre angeknüpft. Sie hat im Sinne der in der Zivilrechtslehre auch mit dem Begriff einer Rechtsperson ver-
285
Zum seinerzeit in der maßgeblichen Staatsrechtslehre und in der staatsrechtlichen Praxis bestimmend gewordenen sogenannten staatsrechtlichen Positivismus und zu dessen „juristischem“ Formalismus Fn. 55 f.; auch schon bei Bartlsperger (Fn. 3), 33 ff. und dems. (Fn. 2), 169 ff. 286 v. Ihering (Fn. 55). 287 v. Gerber (Fn. 55). 288 Albrecht, Rezension über Maurenbrechers Grundzüge des heutigen deutschen Staatsrechts, Göttinger Gelehrte Anzeigen 1837, 1489 ff. und 1508 ff. (Neudruck 1962). Dazu sowie zu betreffenden ideengeschichtlichen Zusammenhängen Bartlsperger (Fn. 2), 168 Fn. 75.
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bundenen sogenannten Willenstheorie289 ebenso für den Staat als Rechtspersönlichkeit eine entsprechende, insofern allerdings eine dem Einzelnen gegenüberstehende eigentümliche Willensmacht angenommen sowie vor allem diese dem Monarchen als oberstem Willensorgan des Staates zugeordnet.290 Dies bedeutete für die konstitutionelle Staatsrechtslehre deren ausgeprägte Hinwendung zur spätkonstitutionellen Staatstheorie, nach welcher der Wille des Monarchen als „allgemeiner Wille, als Wille des Staates gelten“ sollte.291 Bemerkenswerterweise hat hierbei die Vorstellung von einer realen Einheit und Ganzheit sowie einer realen Rechtspersönlichkeit des Staates als Idee eines staatstheoretisch angenommenen staatlichen „Organismus“ zwar durchaus eine Bedeutung behalten, um die Besonderheit und Unterscheidung staatsrechtlicher Ordnung, also des Öffentlichen Rechts, gegenüber dem Privatrecht begründen zu können; aber dem sollte im Sinne der betreffenden begriffsjuristischen Methode im Übrigen keine „juristische“ Relevanz zukommen können.292 Es waren also die fachspezifische spätkonstitutionelle Verfassungstheorie und die damals methodisch exponierte Staatsrechtslehre selbst in ihrer spezifisch ideellen politischen Entscheidung für eine ausschließlich monarchische Staatskonstruktion sowie deren Hinwendung zu einem entsprechenden staatsrechtlichen Formalismus, welche die jener spätkonstitutionellen Epoche von Seiten der diskurstheoretischen bzw. ebenfalls schon erwähnten zeitgeschichtlichen Staatskritik angesonnene Staatsgenese zu verantworten haben. Ob und inwiefern also bei jener spezifisch staatsrechtlichen ideengeschichtlichen Entwicklung eines spätkonstitutionellen Staatsbegriffs die Bedingungen einer liberalen Wirtschaftsgesellschaft und einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung wirksam waren, kann in fachspezifisch verfassungstheoretischer und staatsrechtlicher Hinsicht keine wissenschaftstheoretisch begründete Bedeutung beanspruchen. Jene betreffende Fragestellung gehört, wie gesagt, in die fachspezifische Betrachtungsweise einer materialistischen Geschichtsauffassung und zum Beurteilungsanspruch von deren politischer Philosophie. Vielmehr und nicht zuletzt ist jene, vor allem und zuallererst von Seiten der Diskurstheorie präzisierte, am vermeinten spätkonstitutionellen Staatsbegriff entwickelte, also historisch kontextgebundene staatskritische Argumentation daraufhin zu befragen, worin sie eigentlich ihren aktuellen Bedeutungs- und Aussagegehalt für die gegenwärtige Verfassungstheorie und Staatsrechtslehre unter der Verfassungsepoche des Grundgesetzes sehen will. Man kann die Antwort wohl nur in der anderwärts auch ausdrücklich erklärten Absicht suchen, die „Staatstheorie in der Bundesrepublik“, nämlich eine gemeinte verfassungspolitisch etatistische Staatsrechtslehre, mit der Behauptung zu kon289 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, 1840 (Neudruck 1973), 7 f. und Puchta, Pandekten, 8. Aufl. 1856, 37, 46 ff. sowie Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Erster Band, 4. Aufl. 1875, 91 ff. 290 v. Gerber, Über öffentliche Rechte (Fn. 55), 17, ders., Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts (Fn. 55), 19 ff. 291 v. Gerber, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts (Fn. 55), 220 bzw. 73 f. 292 Bartlsperger (Fn. 2), 172 und ders. (Fn. 108), 26 f.
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frontieren und zu thematisieren, dass bei ihr ein spätkonstitutioneller Machtstaat „vermisst“ werde.293 Es handelt sich also offenbar um die Unterstellung, dass die eingangs schon angesprochenen Problempunkte der gegenwärtigen Staatsrechtslehre, nämlich ein, gemessen am Verfassungszustand unter dem Grundgesetz, zugegebenermaßen bestehendes staatstheoretisches Defizit sowie das angeblich noch einer verfassungstheoretischen Lösung harrende Verhältnis von Staat und Demokratie, Nachwirkungen eines historisch kontextgebundenen Machtstaatsdenkens seien. Möglicherweise sollte in diese Unterstellung auch jene erörterte, historisch kontextgebundene Annahme einer ökonomisch materialistisch bedingten Staatsgenese eingeschlossen sein, d. h. als prinzipielles staatskritisches Argument auch in Bezug auf die aktuelle Verfassungssituation unter dem Grundgesetz verwendet werden. Eine solche erstaunliche Erwägung scheint in der betreffenden staatskritischen Argumentation der Diskurstheorie denn auch tatsächlich angestellt zu werden; denn dort wird mit ausdrücklichem Gegenwartsbezug, nämlich in dem aktuell angenommenen Problemzusammenhang einer material rechtsstaatlichen Verfassungsbindung sowie einer dementsprechenden verfassungsgerichtlichen Kontrollierbarkeit auch demokratischer Verfahren und Institutionen,294 das hierbei zugrundegelegte staatstheoretische liberale Rechtsparadigma und Modell der Trennung von Staat und Gesellschaft, von Staat und individueller Freiheit den Einzelnen, also die darin eingeschlossene Idee des Staates, mit einem prinzipiellen verfassungstheoretischen Bedeutungsanspruch als Produkt einer liberalen Wirtschaftsgesellschaft erklärt.295 In Bezug auf die zeitgeschichtliche Verfassungssituation unter dem Grundgesetz liegt eine solche Beurteilung, selbst wenn man einen Blick auch auf die politischen, gesellschaftlichen sowie ökonomischen Bedingungen und Verhältnisse der Gegenwart richten möchte, völlig neben der Sache. 3. – Bekanntermaßen sind die in der Nachkriegszeit zuerst geschaffenen vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen sowie dann die Verfassunggebung zum Grundgesetz unter außerordentlichen Umständen der damaligen Rechtslage Deutschlands entstanden und auch die nachgrundgesetzlichen Landesverfassungen haben davon eine Prägung erfahren; die jeweiligen staatsrechtlichen Konstruktionen und Verfassungskonzeptionen haben ihre ideellen Vorstellungen aus Erfahrungen in der Weimarer Verfassungsepoche, vor allem aber unter dem erschütternden Eindruck einer unmittelbar vorher erlebten außerordentlichen politischen Geschichte sowie aus den Erfahrungen mit historisch lange dauernden politischen Behinderungen der verfassungsstaatlichen Idee gewonnen und nicht zuletzt konnten sie in fachspezifischer Hinsicht aus einem kritischen Bewusstsein gegenüber einer kaum weniger langen differenzierten Ideengeschichte von ausgeprägten wissenschaftstheoretisch methodischen Verwicklungen der Staatsrechtslehre hervorgehen. Diese Umstände haben ein dementsprechend reflektiertes und von einer klaren verfassungspolitischen 293 294 295
Möllers (Fn. 14). Thematische Erörterung bei Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 87), 299 ff., 304 f. A.a.O., 305.
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Vorstellung getragenes Verfassungsbild entstehen lassen. Es begreift die Verfassung als ein sinnbegründetes und sinngestaltendes staatsrechtliches System mit einer verfassungskräftig unmittelbaren rechtlichen Bindung, Begrenzung und Kontrollierbarkeit aller Institutionen und Verfahren des Verfassungslebens, auch was die demokratische Grundlegung, Ausgestaltung und Legitimation derselben angeht. Jedoch nach den genannten staatskritischen Positionen soll ausgerechnet das fundamental auf eine Verbürgung und Gewährleistung vernunftmäßiger auch ursprünglicher individueller Freiheit und auf eine dementsprechend gewaltenteilende rechtsstaatliche Demokratie gegründete verfassungsstaatliche Konzept der grundgesetzlichen Ordnung, einschließlich der homogenen Verfassungsstrukturen der Landesverfassungen, und ausgerechnet eine dementsprechend entwickelte Verfassungspraxis sowie die dazu in der Staatsrechtslehre etablierte verfassungsrechtliche Dogmatik und Theorie das Odium einer Gefährdung individueller Freiheit und des demokratischen Prinzips durch eine in ökonomischen Grundbedingungen begründete Machtstaatsvorstellung tragen. Es kann aufgrund der entstehungsgeschichtlichen Zusammenhänge und Vorgänge sowie nach der staatsrechtlichen Konstruktion und Konzeption der Verfassungsordnung unter dem Grundgesetz überhaupt nicht die Rede davon sein, dass deren Voraussetzungen und Bedeutungsgehalte in ökonomischen Verhältnissen und dementsprechenden gesellschaftlichen Manifestationen gesucht werden müssen. Die Verfassungssituation unter dem Grundgesetz hat nichts zu tun mit der angeführten Unterstellung diskurstheoretischer Staatskritik, nach der die „hypothetisch angenommenen Bedingungen in der liberalen Wirtschaftsgesellschaft“ die Erklärung liefern für die betreffenden „Prinzipien des Rechtsstaates“.296 Das Grundgesetz kennt nach jedenfalls zwischenzeitlich maßgeblicher und anerkannter Auffassung keine verfassungsrechtliche Identifikation mit einem ökonomischen Zustand oder einem Wirtschaftssystem, insbesondere nicht mit einem spezifischen ökonomischen Programm oder Modell, weder was eine Wirkung derselben als eines verfassungskonstituierenden Faktors angeht noch was eine normative Funktion als eines verfassungskräftig bestimmenden Faktors für die gesellschaftlichen Verhältnisse betrifft.297 Es bedeutet daher eine bemerkenswerte ideologische Anmaßung gegenüber den verfassungsgeschichtlichen und spezifisch staatsrechtlichen Realitäten sowie ein dementsprechend bemerkenswertes Maß an staatskritischer Zuspitzung und staatskritischem Anspruch, wenn mit jenen beschriebenen Argumenten und Annahmen einer materialistischen Geschichtsphilosophie noch die grundgesetzliche Ordnung und Situation des Verfassungsstaates in einen staatstheoretischen Wirkungs- und Traditionszusammenhang gestellt werden mit einem angeblich aus ökonomischen und dementsprechenden gesellschaftlichen Grundbedingungen hervorgegangenen spätkonstitutionellen Staatsdenken. Dabei vermag die diskurstheoretische Staatskritik vor allem schon für das Letztere, für die spätkonstitutionelle Verfassungsauffassung, keine in fachspezifisch staatsrechtlicher 296
A.a.O. R. Schmidt, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. IV, 2006, § 92 Rn. 12 ff. und 24 ff. 297
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Hinsicht ideengeschichtlich zutreffende Beurteilung zu finden. Sie unterschlägt oder verkennt die seinerzeit am ideengeschichtlichen Ausgangspunkt stehenden und unmittelbar wirksamen „Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts“.298 Denn wie schon dargelegt, waren in fachspezifisch staatsrechtlicher Hinsicht der für die spätkonstitutionelle Epoche bestimmende Begriff des Staatsrechts und die entsprechende wissenschaftstheoretische Vorstellung von der Staatsrechtslehre das Produkt der seinerzeitigen politischen, verfassungsgeschichtlichen Verstrickung des Staatsrechts in das monarchische Prinzip als Grundlage der staatsrechtlichen Konstruktion und zugleich das Produkt der damals ideengeschichtlich besonders ausgeprägten methodischen Verwicklung der Staatsrechtslehre in einen aus der fortgeschrittenen Historischen Rechtsschule hervorgegangenen begriffsjuristischen Formalismus. In der letzteren, wissenschaftstheoretisch methodischen Hinsicht ist jener mit dem „juristischen“ Formalismus des spätkonstitutionellen staatsrechtlichen Positivismus erfolgte ideengeschichtliche Einschnitt für die Staatsrechtslehre, nämlich was die Bedeutung eines Staatsbegriffs als regulativer Idee für sie angeht, bis heute in seinen Folgen nicht bewältigt. Diese Problematik ist jedoch in ihren ideengeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Grundbedingungen von ganz anderer Art, als dass die materialistischen Perspektiven und Argumente der diskurstheoretischen Staatskritik dazu eine Erkenntnis beitragen könnten. Die betreffenden, spezifisch ideellen Vorgänge sowie ihre Nachwirkungen und die davon ausgegangen Auseinandersetzungen in der ideengeschichtlichen und aktuellen Methodendiskussion der Staatsrechtslehre sind innerhalb von deren Thematisierung stets gegenwärtig. Aber bezüglich ihrer spezifisch staatstheoretischen Problematik, was dabei nämlich die Bedeutung bzw. den Bedeutungsverlust der Staatslehre in deren Funktion als regulativer Idee der Staatsrechtslehre betrifft, hat man sie sich erst noch gesondert und genauer vor Augen zu führen. Vor allem lässt sich erst dann abermals und nachdrücklich verdeutlichen, auf welchen Irrweg fachspezifischer Grenzüberschreitung sich die diskurstheoretische Staatskritik, auch ganz abgesehen von ihrem ideologischen politischen Charakter, in der Beurteilung jener Entwicklung begeben hat. Denn die Staatsrechtslehre ist einen ganz anderen, ihren eigenen ideellen Weg, einen von da an durch fachspezifisch methodologische Verwicklungen geprägten Weg gegangen. Es ist eine ideengeschichtliche Entwicklung, die mit einer Kritik an einem angeblichen Etatismus der Staatsrechtslehre gar nicht in ihrer ganz besonderen Problematik erfasst wird. Vielmehr ist sie eine ideelle Entwicklung von eigener Art gewesen, welche die Staatsrechtslehre ganz entgegen den ideologischen Beurteilungen der diskurstheoretischen, namentlich entgegen deren materialistischer Staatskritik, in eine methodologische „Krisis der Staatslehre“299 sowie in eine nur und gerade dementsprechend geprägte staatstheoretische Krise geführt hat. Jene methodologische, die neuere Ideengeschichte der Staatsrechtslehre bewegende Krise ist bekanntlich Gegenstand des Methodenstreits der Weimarer Staatsrechtslehre, der das Erscheinungsbild der Staatsrechtslehre in wissenschaftstheoretischer Hinsicht 298 299
v. Gerber (Fn. 55) sowie dazu oben unter II.3. Heller (Fn. 64).
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präpositiv zu prägen vermocht hat. Gewiss gehört dazu auch die spezifisch staatstheoretische Thematik der Staatsrechtslehre, aber unter den ganz anderen, methodologischen Perspektiven. Diese hatten mit einer politischen Sichtweise wie in der Diskurstheorie, mit deren ganz anderer, spezifisch staatskritischer Absicht und mit deren dekonstruktiver Argumentation zur spätkonstitutionellen Situation des Staatsrechts nichts zu tun. 4. – Im Übrigen braucht und hat man aus fachspezifisch staatsrechtlicher Sicht letztlich gar nicht darauf abzuheben und sich darauf einzulassen, die diskurstheoretische Staatskritik anhand der erörterten, ihrer ganz spezifisch politökonomischen Kritik der Staatsgenese, d. h. unter den angeblichen Bedingungen einer angenommenen und aufgegriffenen wirtschaftsliberalen Prägung und Ausrichtung spätkonstitutioneller Staatsrechtslehre und staatsrechtlicher Ordnung zu beurteilen. Jene dekonstruktive Zentrierung diskurstheoretischer Staatskritik auf von ihr ausgemachte politökonomische Bedingungen der spätkonstitutionellen Epoche gehört sicherlich zum Kern der betreffenden politischen Philosophie materialistischer Staatsverneinung. Aber es geht auch um mehr und um anderes, nämlich um eine fundamentale und generelle politische Philosophie, wie die Prinzipien des Rechtsstaates ohne eine regulative Idee des Staates zu verwirklichen sind. Sie wendet sich gegen das in verfassungs- und staatstheoretischer Hinsicht normativ ausgezeichnete liberale Rechtsparadigma, d. h. gegen das liberale Modell einer Trennung von Staat und Gesellschaft, in staatsrechtlicher Hinsicht genauer gegen das liberale Modell eines staatsrechtlichen Gegenüber von individueller Freiheit auf der einen Seite und des Staates auf der anderen Seite als voraussetzungsgemäßer regulativer Idee einer materiellen Verfassungsordnung in der Seinsweise und in der methodologischen Grundlagenfunktion einer objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit, die ihren normativen Anspruch auch in einer verfassungsrechtlichen Beschränkung und Bindung der demokratischen Institutionen und Verfahren zur Geltung bringt sowie, wie unter dem Grundgesetz, in einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle derselben. Die Diskurstheorie verleiht mit ihrer Kritik an jenem liberalen Verfassungsmodell einer auch anderwärts aus dem eigenen Bereich der Staatsrechtslehre in gleicher Weise vertretenen verfassungstheoretischen Behauptung Unterstützung, die mit der staatsrechtlichen Idee des Staates als „Rechtsstaat“, mit deren genannten verfassungstheoretischen Konsequenzen einer verfassungsrechtlichen Bindung und Beschränkung sowie einer verfassungsgeschichtlichen Kontrolle parlamentarischer Demokratie ein „unvermeidliches Dilemma“ rechtsstaatlicher Verfassungsordnung verbindet, wenn diese die „demokratische Substanz des Rechtsstaates“ nicht zu bewahren verstehe.300 Wie schon an anderer Stelle erörtert und hervorgehoben, sucht die diskurstheoretische Staatskritik jenem behaupteten Dilemma dadurch entgegenzuwirken, dass sie der vernunftbegründeten Ursprungs- und Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung und deren vernunftbegründeter Idee subjektiver Freiheit des Einzelnen zu unterstellen sucht, das betreffende, apriori vernunftge300
Fn. 294.
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botene allgemeine Rechtsbegründungsprinzip einer kompatiblen Beschränkung individueller Freiheit mit jedermanns Freiheit habe lediglich den normativen Sinn eines sich in den betreffenden jeweiligen Komptabilitätsvorgängen genügenden und dabei auch zu belassenden Prinzips von nur stets aktuellen intersubjektiven Rechtsverwirklichungsverfahren. Dem liberalen Rechtsparadigma und deren Staatsidee wird danach unterstellt, dass sie in einer etatistisch verfälschenden Weise ein ursprüngliches Vernunftgebot von lediglich intersubjektiv verlaufenden Komptabilitätsabstimmungen zwischen einer jeweiligen Freiheit des Einzelnen mit derjenigen anderer rechtskonstruktiv „verkürzt“ hätten zu einer Vernunftidee subjektiver Rechte der Einzelnen gegenüber dem Staat.301 Erst im „Lichte eines diskurstheoretischen Verständnisses der Rechte“ soll danach wieder einsichtig werden können, dass staatsbezogene Abwehrrechte im Sinne des liberalen Rechtsparadigmas sowie die damit verbundene Staatsidee nur derivativen Charakter hätten und dass erst mit der betreffenden Konstituierung einer Staatsgewalt „das Recht auf gleiche subjektive Freiheiten auch auf das Verhältnis der zunächst horizontal vergesellschafteten Rechtsgenossen zur staatlichen Exekutive übertragen“ worden sei.302 Die deshalb für geboten erachtete Richtigstellung und interpretative Reduzierung der im ursprünglichen ideengeschichtlichen Sinne vernunftbegründeten und vernunftgebotenen Rechtsverwirklichungsidee auf eine rechtsphilosophische Idee von intersubjektiven Abgrenzungs- und Koordinierungsvorgängen kollidierender Rechtsräume und Rechtsansprüche der Einzelnen hat offenbar nur die gar nicht in Frage zu stellende Funktion jener Rechtsverwirklichungsidee als einer erst einmal normativen Rechtsbegründungsidee im Blick; sie will offensichtlich den betreffenden apriorischen Aussage- und Bedeutungsgehalt jener Vernunftidee vom Recht auf diese normative Funktion beschränkt wissen. Ersichtlich geht es nur um eine rechtsphilosophisch normative Idee vom Recht, wie dieses nach dem allgemeinen Vernunftprinzip des Rechts „a priori notwendig“ und „überhaupt von selbst folgend ist“, und um einen betreffenden, lediglich insofern denkbaren „Staat in der Idee wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll“, wie er also jeder wirklichen Vereinigung einer Menge von Menschen unter den betreffenden Rechtsgesetzen zu einem gemeinen Wesen zur Richtschnur dienen soll.303 Aber hiermit findet weder die ebenso nachweislich als authentisch anzusehende, in der Sache ebenso explizit und dezidiert feststellbare Vernunftidee von nach jener normativen Idee „statutarisch“ zustande kommenden geschichtlichen „Rechtsgesetzen“ eine rechtsphilosophische Erklärung noch die in gleicher Weise nachgewiesene Vernunftidee vom “Staat“ in dessen genannter staatsrechtlicher Funktion und in dessen ideeller Seinsweise als geschichtlicher „Vereinigung einer Menge von Menschen“ unter jenen „Rechtsgesetzen“.304 Vor allem versperrt sich eine auf bloß intersubjektive Rechtsbeziehungen der Ein301 So bei Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 87), 305 nach einer betreffenden Argumentation von Böckenförde. 302 A.a.O., 306. 303 Kant (Fn. 3), 129 (§ 45). 304 A.a.O.
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zelnen zur vernunftgebotenen kompatiblen Beschränkung und Koordination ihrer subjektiven Rechtsräume und Rechtsansprüche beschränkte Vernunftidee des Rechts den rechtskonstruktiven Zugang zu der in der neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre letztlich nachvollziehbar erfolgten und schließlich zur aktuellen Geschichte des Staatsrechts unter dem Grundgesetz gehörenden Entwicklung subjektiver öffentlicher Rechte des einzelnen Rechtsträgers gegenüber der „öffentlichen Gewalt“;305 die subjektiven öffentlichen Rechte in diesem ihrem spezifisch staatsgerichteten Sinne besitzen für die gegenwärtig unter dem Grundgesetz verwirklichte Idee einer verfassungsstaatlichen und grundrechtlich geprägten staatsrechtlichen Ordnung die fundamentale und zentrale, auch durch eine Unabänderlichkeitsgarantie ausgezeichnete Bedeutung, dass sie in dem Falle, wenn „jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt“ wird, den Rechtsweg gegen die „öffentliche Gewalt“ eröffnen.306 Es kann als eine Leistung von objektiv rechts- und staatsphilosophischem Rang gelten und macht die herausragende verfassungsgeschichtliche sowie verfassungstheoretische Stellung dieser grundrechtlichen Rechtsschutzgewährleistung subjektiver öffentlicher Rechte gegenüber der „öffentlichen Gewalt“ aus, dass sie die schon in der vernunftnaturrechtlichen Staatslehre kraft empirischer Annahme vergegenwärtigte Idee einer Rechtssubjektivität der Einzelnen307 sowie die dann in der originären praktischen Vernunftphilosophie neu begründete Idee von ursprünglichen subjektiven Rechten der Einzelnen mit der Idee eines in diesen subjektiven Rechten begründeten Rechtsstaates als dem Garanten subjektiver Rechte im öffentlichen Recht und als dem Adressaten der bei ihrer Verletzung entstehenden Reaktionsansprüche zusammenführt zu einem subjektiven öffentlichen Recht gegenüber dem Staat. Diese aktuell konstituierte verfassungsstaatliche Idee und Rechtskonstruktion subjektiver öffentlicher Rechte bietet einem Etatismusvorwurf keinen Angriffspunkt mehr. In dem dargelegten Sinne meint die Staatsbezogenheit des subjektiven öffentlichen Rechts lediglich noch den Staat als regulative Idee für diejenigen Rechtsnormen, deren Reglungsbereich die Rechtssubjektivität bzw. das subjektive Recht der Einzelnen in einem konkreten Inhalt derselben objektiv betrifft und die deshalb insofern den ursprünglichen subjektiven Rechten der Einzelnen im Sinne des liberalen Rechtsparadigmas gegenüberstehen;308 bei der Verletzung einer solchen das subjektive Recht des Einzelnen konkret betreffenden Rechtsnorm ist es diese, wegen derer der Einzelne einen dementsprechenden Reaktionsanspruch aus seinem betreffenden subjektiven Rechte hat und wegen derer der Einzelne die grundrechtliche Rechtsweggewährleistung für sein betreffendes subjektives Recht in Anspruch nehmen kann. Es handelt sich also nicht um subjektive öffentliche Rechte 305
Zu dieser Entwicklung Bartlsperger (Fn. 191). Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz; zur betreffenden Identitätsgarantie im Sinne von Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. II, 2004, § 26 Rn. 72. 307 Fn. 108. 308 So klarstellend zu Voraussetzung und Begriff des subjektiven öffentlichen Rechts Bartlsperger (Fn. 191), 42. 306
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kraft staatlicher Verleihung eines gegen den Staat gerichteten Rechtsstatus und nicht um daraus resultierende Reaktionsansprüche gegen den Staat,309 auch nicht um subjektive öffentliche Rechte kraft einer sogenannten entsprechenden speziellen staatlichen Schutznorm, wie diese in der zeitgeschichtlichen Verwaltungsrechtslehre noch lange Zeit als Rechtsbegründung subjektiver öffentlicher Rechte angenommen worden ist.310 Vielmehr verstehen sich die subjektiven öffentlichen Rechte als die kraft praktischer Vernunft anzunehmenden ursprünglichen subjektiven Rechte der Einzelnen in ihrem Verhältnis zu den sie in konkreten Inhalten betreffenden Rechtsnormen sowie als Rechtsgrund von in dieser Beziehung bei Verletzung der betreffenden Rechtsnormen eröffneten Reaktionsansprüchen und einer dementsprechenden Rechtsweggewährleistung. Ein solcher die Voraussetzungen des subjektiven öffentlichen Rechts heute ausschließlich kennzeichnender subjektiver Rechtsmäßigkeits- bzw. Rechtswidrigkeitszusammenhang hat mit einer angeblichen, in der spätkonstitutionellen Epoche unter deren angenommenen politökonomischen Verhältnissen beobachteten etatistischen Verfälschung des betreffenden subjektiven Rechts der Einzelnen311 nichts mehr zu tun. In Verkennung der ideengeschichtlichen Entwicklung und der betreffenden, unter der staatsrechtlichen Ordnung des Grundgesetzes bestehenden Verfassungsrechtslage zu Rechtsgrund und Rechtskonstruktion subjektiver öffentlicher Rechte macht die Diskurstheorie, auch zur Unterstützung der in einem gleichen Sinne gegen die Rechtsstaatsidee des sogenannten liberalen Rechtsparadigmas gerichteten Angriffe, das subjektive öffentliche Recht zum Schauplatz von deren prinzipieller Staatskritik 5. – Zugegebenermaßen hat die in der spätkonstitutionellen Epoche begonnene Entwicklung um eine rechtskonstruktive Annahme und Begründung subjektiver öffentlicher Rechte gegen den „Staat“, um deren Voraussetzungen und Funktion in der seinerzeitigen Staats- und Verwaltungsrechtslehre sowie in einer partikularstaatlich sukzessive schon etablierten, soweit überhaupt bereits an subjektive öffentliche Rechte anknüpfenden Verwaltungsgerichtsbarkeit noch unter ganz anderen Zeichen gestanden, deren Nachwirkungen lange Zeit bestimmend geblieben sind. Nur hat man dazu angesichts der erörterten, heute auch von Seiten einer politischen Philosophie darauf gerichteten Beurteilungen, wie dem politökonomisch begründeten Etatismusvorwurf der Diskurstheorie an subjektiven öffentlichen Rechten gegen den „Staat“, vorweg ganz eindeutig eines festzuhalten, dass es sich nämlich nachvollziehbar und nachweislich um eine fachspezifisch staats- und verwaltungsrechtliche Entwicklung, um genuin ideelle rechtswissenschaftliche Vorgänge innerhalb der Staatsrechtslehre gehandelt hat. Schon deren ideengeschichtlich eindeutig auszumachender Ausgangspunkt ist nachweislich von einer allein wissenschaftstheoretischen Art und Motivation, wie sie für die seinerzeit maßgeblich noch 309
So die sogenannte Statuslehre zu den subjektiven öffentlichen Rechten (G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, 2. Aufl. 1905); dazu Bartlsperger, a.a.O., 33 ff. 310 Zu dieser Entwicklung Bartlsperger, a.a.O., 35 ff. 311 Fn. 301.
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von der Historischen Rechtsschule, genauer von deren schließlicher begriffsjuristischer Ausprägung bestimmte Situation der Rechtswissenschaft generell kennzeichnend gewesen sind. In den betreffenden, für den staatsrechtlichen Positivismus der spätkonstitutionellen Staatsrechtslehre sowie für deren „juristischen“ Formalismus ursprünglichen Grundlegungen „Über öffentliche Rechte“ sowie über „Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts“312 werden die „öffentlichen Rechte“ in gleicher rechtskonstruktiver Weise wie die privaten Rechte im Sinne der für das Privatrecht maßgeblich erachteten sogenannten Willenstheorie verstanden und lediglich bereichsspezifisch insofern davon unterschieden, als ihre Rechtsträger in ihren Willensäußerungen, anders als im Privatrecht, angesichts ihrer Rechtsstellung innerhalb eines herrschaftlichen monarchischen Staates entsprechenden objektivrechtlichen Bindungen und Beschränkungen unterliegen, also, soweit sie Organe dieses Staates sind, ein Recht auf die „Funktion“ und die „Wirkung“ ihrer Willensäußerungen unter den Bedingungen und Beschränkungen des öffentlichen Rechts haben.313 Erst gar für eine Rechtsstellung der Einzelnen im Hinblick auf deren persönliche Freiheit konnte dies, wenn überhaupt, dann wohl nur bedeuten, dass bei einer sie in der Sache konkret betreffenden objektiven Verletzung des Rechts ihre Rechtsstellung lediglich in einem aus einer solchen objektiven Rechtsverletzung resultierenden „Reflexrecht“ bestehen konnte und dass im Rahmen einer gegebenenfalls eröffneten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle allein eine sie reflexweise betreffende objektive Rechtskontrolle stattzufinden vermochte.314 Diese ideengeschichtliche Ausgangssituation und die davon bestimmte nachfolgende Entwicklung subjektiver öffentlicher Rechte hat man sich in aller Deutlichkeit zu vergegenwärtigen. Nachweislich haben diese spezifischen Anfänge einer Staatsrechtslehre zu subjektiven öffentlichen Rechten allein im Bereich der damals für die Rechtswissenschaft generell bestimmend gewordenen Wissenschaftstheorie einer aus der Historischen Rechtsschule schließlich erwachsenen Begriffsjurisprudenz sowie von deren im Privatrecht liegenden rechtskonstruktiven Voraussetzungen und Annahmen gelegen. Die subjektiven öffentlichen Rechte in ihrem seinerzeitigen Begründungsund Funktionsverständnis waren das Produkt jener Wissenschaftstheorie des Privatrechts. Zudem war jene ideengeschichtliche Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechten in der dargelegten Weise verfassungsgeschichtlich verbunden mit der Idee der spätkonstitutionellen monarchischen Herrschaftsstruktur. Mit der Vernunftidee subjektiver Rechte im spezifischen ideengeschichtlichen Sinne der originären praktischen Vernunftphilosophie hatten beide rechtskonstruktiven Ansätze in keiner Hinsicht etwas zu tun; deshalb kann auch gar nicht die Rede davon sein, es seien in der spätkonstitutionellen Epoche unter angenommenen politökonomischen Bedingungen derselben die vernunftbegründeten Freiheiten der Einzelnen anstatt ihrer bloß vernunftgebotenen „Kompatibilität der Freiheit eines jeden mit den gleichen subjektiven Freiheiten aller“ zugunsten des liberalen Rechtsparadigmas 312 313 314
v. Gerber (Fn. 55). Bartlsperger (Fn. 191), 27. Bartlsperger, a.a.O., 31.
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etatistisch verfälscht worden „zur Gewährleistungen privater Autonomie gegenüber dem Staat“.315 Die Anfänge einer Staatsrechtslehre subjektiver öffentlicher Rechte gehören in ihrer Motivation und rechtskonstruktiven Grundlegung einer ideengeschichtlichen Entwicklung der Rechtswissenschaft von eigener Art an und tragen ausschließlich deren ideellen Charakter. Dagegen jene spezielle, erörterte staatskritische Auffassung und Beurteilung subjektiver öffentlicher Rechte offenbart sich als Unterstellung einer politischen Philosophie, die unter nachweislicher Verkennung der dargelegten, genuin und ausschließlich ideellen, fachspezifisch rechtswissenschaftlichen Ausgangs- und Ideengeschichte der spätkonstitutionellen Staatsrechtslehre subjektiver öffentlicher Rechte einer ihr eigenen, auch politökonomisch unterstützten Beurteilung der damaligen Situation folgt und darauf in einer dekonstruktiven Argumentationsabsicht ihre Kritik eines angeblich ideengeschichtlich zurückreichenden Etatismus der Staatsrechtslehre stützen möchte. Bei einer solchen Beurteilung hat es auch zu bleiben, wenn man des Weiteren die noch in der spätkonstitutionellen Epoche nachfolgende sowie letzten Endes in der Ideengeschichte wesentlich kennzeichnend gebliebene Entwicklung einer Staats- und Verwaltungsrechtslehre zu den subjektiven öffentlichen Rechten in den Blick nimmt.316 Erst in deren Verlauf ist das subjektive öffentliche Recht entgegen seiner erwähnten ideengeschichtlich anfänglichen bzw. primären Rechtsfunktion eines lediglich innerhalb der öffentlichrechtlichen Organbeziehungen bestehenden subjektiven Rechts nunmehr unmissverständlich und entschieden in der dann maßgeblich gebliebenen individualrechtlichen Berechtigungsfunktion für die Einzelnen und für deren staatsrechtliches Verhältnis zum „Staat“ verstanden worden und es hat vor allem eine dementsprechende Rechtsfunktion und Rechtskonstruktion erhalten. Einmal abgesehen von dem schon erwähnten Beitrag, den zum Teil auch die partikularstaatlich sukzessive eingerichtete Verwaltungsgerichtbarkeit dazu geleistet hat, ist der betreffende ideengeschichtliche Entwicklungsschritt bekanntlich von einer sogenannten Statuslehre getan worden, welche die rechtskonstruktive Grundlage subjektiver öffentlicher Rechte in gesetzesstaatlichen Verleihungen eines jeweiligen subjektiven Rechtsstatus der Einzelnen gegenüber dem „Staat“ und bei einer Verletzung des betreffenden Status in einem entsprechenden statusbegründeten Reaktionsanspruch sehen wollte,317 und zwar ist dies mit einer so nachhaltigen Wirkung geschehen, dass jene unter den spätkonstitutionellen Bedingungen entstandene Auffassung von den Voraussetzungen sowie von der Rechtskonstruktion subjektiver öffentlicher Rechte die Staats- und Verwaltungsrechtslehre sowie die Rechtspraxis lange Zeit noch als ideengeschichtliche Erbschaft zu beeinflussen vermochte. Jedenfalls der hier interessierende und zu beurteilende, an die spätkonstitutionelle Staatsrechtslehre subjektiver öffentlicher Rechte von Seiten der genannten und erörterten politischen 315 316 317
Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 87), 305 (unter Bezugnahme auf Böckenförde). Bartlsperger (Fn. 191), 32 ff. Fn. 309.
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Philosophie gerichtete Vorwurf einer politökonomisch erklärbaren etatistischen Verfälschung der ursprünglich vernunftbegründeten subjektiven Rechte des Einzelnen geht auch an jener sogenannten Statuslehre und an deren nachweislich allein ideeller, fachspezifisch staatsrechtlicher Intention vorbei. Man hat sich die Letztere nur einmal in dem hier nötigen und möglichen Umfang genauer zu vergegenwärtigen. Sie lässt sich aus der seinerzeit nicht mehr abweisbaren Notwendigkeit erklären, der in der Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtspraxis zwischenzeitlich entstandenen Gewährleistung rechtmäßigen hoheitlichen Verhaltens gegenüber den Einzelnen, namentlich einer entsprechenden Abwehrmöglichkeit für dieselben gegenüber einer sie in der Sache konkret betreffenden, objektiv rechtswidrigen „öffentlichen Gewalt“ eine rechtskonstruktive Begründung und Ausgestaltung zu geben.318 Es war um die Lösung dieses Problems gegangen unter den seinerzeit bestehenden und nicht übergehbaren Verfassungsbedingungen einer konstitutionell monarchischen Herrschaftsbegründung des Staates und einer entsprechenden staatsrechtlichen Ordnung; sie hatte keinen Zugang zu der zuletzt vernunftbegründeten Annahme ursprünglicher subjektiver Rechte der Einzelnen sowie zu einer darauf gegründeten bzw. davon bestimmten Verfassungsordnung des Staates, kannte vielmehr nur eine Garantie objektiver Gesetzmäßigkeit gegenüber dem Einzelnen, war also festgelegt auf ein Rechtsgewährleistungsprinzip objektiver Gesetzesstaatlichkeit. Allein schon jene damalige Problemstellung hatte ausschließlich einen genuin rechtswissenschaftlichen Charakter und sie hatte als solche nur ideell verstanden und gelöst werden können. Zwar war es dabei für die Verwaltungsrechtspraxis und die Staatsrechtslehre um eine Entwicklung gegangen, die auch einer genuin politischen Philosophie individueller Rechtsschutzbegründung unter konstitutionell monarchischen Verfassungsverhältnissen Ausdruck geben sollte, und hierzu konnte aus damaliger und kann aus heutiger Sicht durchaus auch eine politökonomische Beurteilung zu seinerzeit erkannten gesellschaftlichen Verhältnissen gesucht werden. Aber die tatsächliche, die ideengeschichtlich nachweisbare Lösung des Problems ist allein auf rechtswissenschaftlicher Grundlage und in spezifisch rechtskonstruktiver Weise in der betreffenden „juristischen“ Statuslehre gesucht und gefunden worden, für welche damals vorhandene und nachfolgend angestellte politökonomische Beobachtungen zu den seinerzeitigen gesellschaftlich ökonomischen Verhältnissen sowie die Perspektiven und Behauptungen einer entsprechenden politischen Philosophie keine Bedeutung gehabt haben. Vielmehr ist die gemeinte und betreffende, seinerzeit mit bestimmender und nachhaltiger Wirkung hervorgetretene Statuslehre zu den subjektiven öffentlichen Rechten das Produkt einer bestimmten, seinerzeit auch in die Rechtswissenschaft eingegangenen Richtung neukantischer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie unter den Bedingungen der spätkonstitutio318 Zur Bedeutung von Verwaltungsrechtslehre und vor allem der seinerzeitig entwickelten Verwaltungsgerichtsbarkeit Bartlsperger (Fn. 191), 35 und 21 unter Hinweis vor allem auf Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der Verwaltungsrechtsprechung, 1914.
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nellen Epoche der Staatsrechtlehre. Jedenfalls hat es der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie des sogenannten Südwestdeutschen Neukantianismus entsprochen, dass die betreffende bekannte „Allgemeine Staatslehre“319 wissenschaftstheoretisch zwischen einem „soziologischen“ und für die Staatsrechtslehre einem „juristischen“ Staatbegriff unterscheidet, zwischen einer sogenannten allgemeinen Soziallehre des Staates sowie einer sogenannten allgemeinen Staatsrechtslehre, die ihre Rechtsbegriffe und Rechtskonstruktionen aus rein logischen Abstraktionen gewinnt.320 Politische Perspektiven, Annahmen und Argumente hatten im Rahmen der Letzteren, der wissenschaftstheoretisch „juristischen“ Methode jener Staatsrechtslehre, keine Berechtigung und konnten daher auch für die betreffende Rechtsbegründung und Rechtskonstruktion subjektiver öffentlicher Rechte keine Bedeutung beanspruchen. Also nicht nur die damals in der spätkonstitutionellen Epoche des Staatsrechts und im Zeichen der seinerzeitigen Methode eines „juristischen“ Formalismus zuerst begriffene Problemstellung einer Rechtsbegründung und Rechtskonstruktion subjektiver öffentlicher Rechte hatte einen fachspezifisch ausschließlich rechtswissenschaftlichen, ideellen Charakter; auch die seinerzeit letztliche und maßgebliche Auflösung des Problems durch die genannte Statuslehre ist allein eine Angelegenheit fachspezifischer Staatsrechtslehre gewesen und zwar ebenfalls in der wissenschaftstheoretisch dezidierten sowie ausgeprägten Weise eines „juristischen“ Formalismus derselben. Unter der seinerzeit staatsrechtlich vorgegebenen sowie in der Staatsrechtslehre akzeptierten, ausschließlich monarchischen Herrschaftsbegründung des Staates und seiner staatsrechtlichen Ordnung sowie zufolge der genannten methodologischen Voraussetzung einer diesen Verfassungszustand nur in einer logisch abstrahierenden Weise erfassenden Staatsrechtslehre konnte für die Rechtsbegründung und die Rechtskonstruktion subjektiver öffentlicher Rechte allein eine entsprechende staatliche, eine gesetzesstaatlich erfolgende Verleihung des betreffenden subjektiven Rechtsstatus an die Einzelnen in Betracht kommen, wie dies dann auch in der genannten Statuslehre so entwickelt worden ist. Es sind also nach deren und nach seinerzeitiger Auffassung der Rechtsgrund und die Rechtsform einer jeweiligen staatlichen Statusverleihung gewesen, die eine Rechtsbegründung und eine Rechtskonstruktion subjektiver öffentlicher Rechte überhaupt nur verstehbar gemacht haben. Im fachspezifisch ideengeschichtlichen Verständnis der damaligen Staatsrechtslehre und nicht anders in der seinerzeitigen Rechtspraxis haben subjektive öffentliche Rechte allein von Staats wegen aufgrund einer betreffenden 319
G. Jellinek, Allgemeine Staatsrechtslehre 1913, 3. Aufl. 1960, 7. Neudruck. A.a.O., 129 ff. und 383 ff.; zur betreffenden methodologischen, erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Grundlage jener sogenannten Zwei-Seiten-Theorie des Staates Lepsius, Georg Jellineks Methodenlehre im Spiegel der zeitgenössischen Erkenntnistheorie, in: Paulson/Schulte (Hg.), Georg Jellinek, 2000, 309 ff.; zu der dabei wirksamen, jedenfalls in der Sache nachweisbar zugrundeliegenden sogenannten südwestdeutschen Schule des Neukantianismus E. Kaufmann (Fn. 228), 176/202 ff.; zur Letzteren zuletzt maßgeblich Lask, Rechtsphilosophie (1905), in: ders., Gesammelte Schriften (hgg. von Herrigel), I. Band, 1923, 278 ff. 320
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staatlichen Verleihung bestanden. Irgendeine ideengeschichtliche und rechtskonstruktive Anknüpfung der seinerzeitigen Staatsrechtslehre und Rechtspraxis an eine Rechtsbegründung und Rechtskonstruktion subjektiver öffentlicher Rechte aus individueller Freiheit, wie diese in der praktischen Vernunftidee von ursprünglichen subjektiven Rechten der Einzelnen verstanden wird, war aufgrund jener spätkonstitutionellen staatsrechtlichen Bedingungen einer monarchischen Staatsidee versperrt; angesichts jenes positiven Verfassungszustandes war es auch wegen der genannten methodologischen Voraussetzungen eines „juristischen“ Formalismus, sei es im Sinne des staatsrechtlichen Positivismus oder der erwähnten neukantischen Wissenschaftstheorie, auch gar nicht in Erwägung gestanden. Umgekehrt hatte von Seiten der Vernunftidee ursprünglicher subjektiver Rechte der Einzelnen ebenso gar kein ideengeschichtlicher Zugang bestanden zur konstitutionell monarchischen Staatsbegründung sowie zu einer Rechtsbegründung und Rechtskonstruktion subjektiver öffentlicher Rechte im Wege staatlicher Statusverleihung oder einer sonstigen staatlichen Rechtsverleihung. Beide Auffassungen bzw. deren ideengeschichtliche Voraussetzungen hatten prinzipiell verschiedene und völlig getrennte eigene rechts- und verfassungstheoretische Grundlagen; weder die eine noch die andere waren voneinander beeinflussbar oder in irgendeiner Weise in einen Zusammenhang zu bringen. Es ist dem hier zur Erörterung stehenden bemerkenswerten Fall einer verwirrenden politischen Philosophie vorbehalten geblieben, die herrschaftlich monarchische Staatsidee der spätkonstitutionellen Epoche und deren angenommene politökonomische Situation mit einer angeblichen etatistischen Verfälschung der vernunftbegründet ursprünglichen, freiheitlichen Idee subjektiver Rechte der Einzelnen in Verbindung zu bringen bzw. umgekehrt eine solche angebliche etatistische Verfälschung jener Vernunftidee subjektiver Rechte in eine Beziehung zu setzen zur spätkonstitutionellen monarchischen Staatsidee und zu deren angenommener politökonomischer Situation. Die unter den staatsrechtlichen Voraussetzungen der spätkonstitutionellen Verfassungsepoche entstandene gesetzesstaatliche Rechtsbegründung und Rechtskonstruktion subjektiver öffentlicher Rechte, ob in Form der erörterten, auch auf der methodologischen Grundlage des „juristischen“ Formalismus konstruierten sogenannten staatlichen Statusverleihungen oder nach der aus dem gleichen verfassungstheoretischen Geist der nachfolgend gekommenen Lehre von in einer sogenannten jeweiligen Schutznorm begründeten subjektiven öffentlichen Rechten, sowie auf der anderen Seite eine Rechtsbegründung und Rechtskonstruktion derselben auf der Grundlage der Vernunftidee von ursprünglichen subjektiven Rechten der Einzelnen, gehören zwei prinzipiell verschiedenen, vor allem auch ideengeschichtlich grundlegend getrennten verfassungstheoretischen Welten an. Aufgrunddessen und in dieser Hinsicht ist es nicht mehr bedeutsam gewesen, dass die genannte Schutznormtheorie jedenfalls die Rechtskonstruktion subjektiver öffentlicher Rechte im Vergleich zu der genannten Statuslehre noch einmal verändert hat, indem sie die auch von ihr vorausausgesetzten, staatlicherseits verliehenen sub-
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jektiven Rechtsstellungen schon unmittelbar mit einem Reaktionsanspruch bei einer den Bereich einer jeweiligen Schutznorm konkret betreffenden Rechtsverletzung zu einem subjektiven öffentlichen Recht neuer Art verschmolzen hat.321 An der prinzipiell gesetzesstaatlichen Rechtsbegründung subjektiver öffentlicher Rechte hat dies nichts geändert; weiterhin sollten diese nur begründungsabhängig von einer besonderen „staatlichen“ Verleihung bestehen. Schließlich hatte auch der verfassungsgeschichtliche Übergang vom konstitutionell monarchischen Staat zur republikanischen Staatsidee und Verfassungsordnung an der gesetzesstaatlichen Rechtsbegründung subjektiver öffentlicher Rechte nichts zu ändern vermocht, vielmehr während der Zeit eines langen Stillstandes in diesem Punkte lediglich zu einem „Etikettentausch“ geführt.322 Wie erwähnt und bekannt, hat der Rechtszustand einer gesetzesstaatlichen Rechtsbegründung subjektiver öffentlicher Rechte weit in die zeitgeschichtliche Verfassungsepoche unter dem Grundgesetz hinein fortzuwirken vermocht, offenbar als Generationenerbe.323 Indessen hat sich zwischenzeitlich infolge der Annahme unmittelbarer Grundrechtsgeltung sowie speziell und vor allem mit der genannten expliziten grundrechtlichen Rechtsschutzgewährleistung subjektiver öffentlicher Rechte im Grundgesetz die fundamental andere Annahme von unmittelbar kraft Verfassungsrechts bestehenden Voraussetzungen für die Rechtsbegründung und Rechtskonstruktion subjektiver öffentlicher Rechte maßgeblich durchsetzen können, wenn auch, wie nicht anders zu erwarten, mit unterschiedlichen Begründungen; wie auch immer gehören nach dem heute maßgeblichen Stand der Staatsrechtslehre und inzwischen wohl auch in der Rechtspraxis der Rechtsgrund und die Rechtskonstruktion subjektiver öffentlicher Rechte der ideengeschichtlich verfassungstheoretischen Welt von staatsrechtlich originär bestehender individueller Freiheit an, die kulturgeschichtlich bedingt ihre fachspezifisch rechts- und staatsphilosophische Ursprungs- und Begründungsidee nicht anders als in der praktischen Vernunftidee ursprünglicher subjektiver Rechte der Einzelnen zu suchen hat und findet.324 Die im Grundgesetz verankerte grundrechtliche Rechtsschutzgewährleistung subjektiver Rechte der Einzelnen in Bezug auf sie konkret betreffende Rechtsnormen und gegenüber einer Verletzung dieser Rechtsnormen durch die „öffentliche Gewalt“ ist, was die Rechtsbegründung und Rechtskonstruktion der betreffenden subjektiven öffentlichen Rechte angeht, in ideengeschichtlicher Hinsicht ein Abbild der praktischen Vernunftidee subjektiver Rechte sowie nicht weniger die verfassungskräftige Klarstellung und Konstituierung ihres in dem aktuellen Zusammenhang einschlägigen, ideengeschichtlich maßgeblichen gewesenen Aussage- und Bedeutungsgehalt. Zweifellos besteht die rechts- und rechtsphilosophisch grundlegende Bedeutung vernunftbegründet ursprünglicher subjektiver Recht primär in ihrer normativen 321 Bartlsperger (Fn. 191), 36; Hinweis auf Reiling, Zu individuellen Rechten im deutschen und im Gemeinschaftsrecht, 2004, 71 f. 322 Bartlsperger, a.a.O., 37. 323 Bartlsperger, a.a.O., 38 ff. 324 Zu diesen Entwicklungen Bartlsperger, a.a.O., 43 ff. und 46 ff.
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Rechtsbegründungsfunktion, wonach die Rechtsgesetze in der Idee gemäß dem allgemeinen Vernunftprinzip des Rechts a priori notwendig und von selbst folgend sich aus der Gewährleistung intersubjektiver Komptabilität der subjektiven Rechte eines jeden mit den gleichen subjektiven Rechten der anderen erklären. Aber nicht minder bedeutsam setzt sich die Rechtsfunktion vernunftbegründet ursprünglicher subjektiver Rechte folgerichtig fort in deren Behauptung als subjektiver öffentlicher Rechte, d. h. in ihrer Rechtsschutzgewährleistung im Verhältnis zu dem aus jenen vernunftbegründet normativen Rechtsbegründungsvorgängen hervorgegangen „statutarischen“, geschichtlichen Rechtsgesetzen sowie gegenüber dem Staat als der regulativen Idee für die Vereinigung der betreffenden Menge von Menschen unter jenen Rechtsgesetzen. Der rechtsfunktionale Aussage- und Bedeutungsgehalt der vernunftbegründet ursprünglichen subjektiven Rechte erschöpft sich nicht im vernunftgemäßen Rechtsbegründungsvorgang überhaupt; sie bilden nicht nur den „Inbegriff der Bedingungen“, die im rechts- staatsphilosophischen Sinne die Vernunftidee des Rechts ausmachen.325 Die betreffende Thematik hat es lediglich mit der schon in anderem Zusammenhang erörterten Frage und mit dem erkannten Umstand zu tun, dass die originäre praktische Vernunftphilosophie in der authentischen Entwicklung ihrer Rechts- und Staatsphilosophie zu den normativen Entstehungsbedingungen des Rechts offensichtlich keinen Anlass mehr gesehen hatte, die Vernunftidee vom Recht auch zu einer Vernunftidee des geschichtlichen Rechts und des geschichtlichen Staates auszuführen.326 Es ist deshalb keine etatistische Verfälschung der vernunftbegründet ursprünglichen subjektiven Rechte des Einzelnen, wenn sie in ihrer erkennbaren immanenten Konsequenz auch als subjektive öffentliche Rechte der Einzelnen gegenüber dem „Staat“ verstanden werden. Wie dargelegt, besagt eine solche Folgerung und Annahme nichts anderes als die Rechtsgeltung und Rechtsgarantie staatsrechtlich bestehender individueller Freiheit im Verhältnis zu den sie konkret betreffenden Rechtsnormen sowie in ihrer Gewährleistung gegenüber einer solche Rechtsnormen verletzenden Ausübung „öffentlicher Gewalt“. 6. – Der erörterte Etatismusvorwurf gegenüber der ideengeschichtlich staatsrechtlichen Entwicklung des vernunftbegründet ursprünglichen subjektiven Rechts der Einzelnen zu einem subjektiven öffentlichen Recht gegenüber der sie konkret betreffenden Rechtsordnung und gegenüber einer Verletzung derselben ist Ausdruck einer politischen Philosophie der Staatskritik, deren verfassungstheoretische Motive und Postulate man sich in ihrer Wirkung und in ihren Implikationen für die verfassungsstaatliche Ordnung des Grundgesetzes sowie für die Rechtsstellung des Einzelnen unter dieser staatsrechtlichen Ordnung in prinzipieller Weise und in aller Konsequenz zu vergegenwärtigen hat. Nach jener politischen Philosophie sowie im Spektrum der ihrem fundamentalen Ansatz folgenden jeweiligen Auffassungen erscheint die in verfassungstheoretischer Hinsicht generelle Beurteilung und Forde325 326
Kant (Fn. 3), 38. Oben Abschnitt IV.2.
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rung bestimmend, dass das allgemeine rechtsphilosophische Vernunftgebot wechselseitiger kompatibler Beschränkung subjektiver Rechte der Einzelnen nicht nur normativ als Rechtsbegründungsidee Geltung zu beanspruchen hat, vielmehr einen wirklichen intersubjektiven Austrag in dem Verfahren sowohl der Rechtssetzung als auch des Rechtsvollzugs verlangt. Wie angesprochen möchte eine solche politische Philosophie des Verfassungsstaates auch den staatskritischen Auffassungen aus der Staatsrechtslehre Unterstützung leisten, die in der unter dem Grundgesetz entwickelten verfassungsrechtlichen Begrenzung und Bindung, vor allem in der verfassungsgerichtlichen Kontrolle demokratischer Institutionen und Verfahren, namentlich von parlamentarischer Gesetzgebung und Entscheidung, ein „Dilemma“ rechtsstaatlicher Demokratie erkennen und insofern Kritik am sogenannten liberalen Rechtsparadigma üben wollen, insbesondere was die praktizierte und maßgeblich anerkannte Interpretation und Anwendung subjektiver Freiheitsrechte auch als „objektive Grundsatznormen für alle Bereiche des Rechts“ angeht.327 Aber die letztere, die betreffende staats- und verfassungstheoretische Beurteilung versteht sich als staatskritische Verfassungstheorie nur aus dem Grunde und in der Weise, dass sie einer bloß organisationsrechtlichen Idee des Staates folgen und damit verfassungstheoretisch dessen angeblich gefährdete demokratische Substanz gewährleisten möchte.328 Im Unterschied dazu stellt es eine ganz andere und weitergehende, radikale Lösung jener angeblichen demokratietheoretischen Problematik einer rechtsstaatlichen demokratischen Verfassungsordnung dar, wenn eine politische Philosophie nicht nur die Rechtsbegründung als einen ausschließlich deliberativer Politik vorbehaltenen Vorgang beurteilt und realisiert wissen will, vielmehr auch die Rechtsverwirklichung im Bereich gesellschaftlicher Verhältnisse und Beziehungen auf einen intersubjektiven Austrag wechselseitig kompatibler subjektiver Rechte ohne eine interventionistische Gewährleistung von betreffenden subjektiven Rechten durch den Staat festlegen und beschränken möchte.329 Zweifellos gelingt es im Zuge einer solchen politischen Philosophie, von deren verfassungstheoretischem und staatsrechtlich grundlegendem Aussage- und Bedeutungsgehalt, die ideengeschichtliche Vernunftidee von der Rechtssubjektivität der Einzelnen und von den ursprünglichen subjektiven Rechten derselben als den rechtsphilosophischen Ausgangspunkt und als die normative Grundlage verfassungsstaatlicher Ordnung in Erinnerung zu bringen, als die vernunftgemäß vorauszusetzende und a priori wir327
Siehe m. Nachw. bei Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 87), 304 ff. Ausgehend schon von der Staatslehre Hellers (Fn. 67) vor allem Böckenförde (Fn. 67); dazu Bartlsperger (Fn. 2), 186 ff. 329 Zu dieser Thematik bzw. Problematik des sogenannten „Anwendungsdiskurses“ Lieber (Fn. 87), 235 ff., 260 ff.; kritisch insb. 288 ff. und 302 ff. Es geht um die Auffassung, wonach das Problem der Rechtsanwendung auch schon im Rechtsbegründungs- und Geltungsdiskurs von Rechtsnormen begründet liege und daher auch in einen Anwendungsdiskurs führen müsse (K. Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, 1988, 72 ff.). Nach anderer Auffassung soll der betreffende Rückgriff auf die Diskurstheorie lediglich bei der Interpretation und Anwendung des Rechts erforderlich sein und erfolgen (Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991). 328
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kende Begründungsidee von Recht und Staatlichkeit im Verfassungsstaat. Aber dabei ist auch gerade ein ideengeschichtlich nachweislicher, spezifisch rechts- und staatsphilosophischer Aussage- und Bedeutungsgehalt jener praktischen Vernunftphilosophie von Recht und Staat, jener spezifisch rechts- und staatsphilosophischen Ursprungs- und Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung verlassen worden. Um es gezwungenermaßen klarstellend nochmals zu wiederholen: Deren Rechtsund Staatsbegründungsidee besagt gerade, dass aufgrund des allgemeinen Vernunftprinzips des Rechts, infolge des betreffenden Vernunftgebots wechselseitiger kompatibler Beschränkung der subjektiven Rechte eines jeden mit denjenigen der anderen a priori notwendig und überhaupt von selbst folgend „Rechtsgesetze“ anzunehmen sind und bestehen, die in der Idee den subjektiven Rechten der Einzelnen gegenüberstehen und unter denen eine betreffende Menge von Menschen zum Staat in der Idee vereinigt wird. Es handelt sich um die rechts- und staatsphilosophische Grundlegung von Staat und Recht, die, wie ebenfalls erörtert, „nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“ in der geschichtlichen Wirklichkeit als Seinsgebilde einer objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit den Einzelnen gegenüberstehen und in ihrer rechtlichen Funktion wiederum die Voraussetzung bilden, um von Seiten des Staates die subjektiven Rechte der Einzelnen zu gewährleisten. Die rechtsstaatlich demokratische Ordnung und die Garantie individueller Freiheit unter dem Grundgesetz vermögen darin ihre ideengeschichtliche Erklärung sowie ihre rechtsund staatsphilosophische Grundlage zu finden. Daher ist die Grenze überschritten zu einer politischen Motivation und zu einem politischen Postulat hin, wenn die staatsrechtliche Bedeutung und Funktion vernunftgemäß ursprünglicher subjektiver Rechte sowie von im Vernunftsinne bestehenden objektiven gesellschaftlichen Belangen als dem normativen Rechtsgrund und Begründungsfaktor von Recht und Staat um der angeblich gefährdeten demokratischen Substanz verfassungsstaatlicher Ordnung Willen zu der normativen Idee eines auch bei der Auslegung und Anwendung von Verfassung und Recht nochmals bzw. überhaupt erstmals geforderten unmittelbaren intersubjektiven Austrags wechselseitiger kompatibler Beschränkung subjektiver Rechte bzw. von entsprechenden objektiven gesellschaftlichen Belangen verändert wird. Eine solche politische Philosophie versteht sich als Angriff gegen die einer verfassungsrechtlichen Bindung, Begrenzung und Kontrolle auch der demokratischen Institutionen und Verfahren sowie einer staatlichen Gewährleistung subjektiver Rechte und damit überhaupt einer Positivität des Staatsrechts verpflichteten sogenannten „bürgerlichen“ Verfassungsordnung. Als politischer Idee, einmal existent, ist unter offenbar entsprechenden politischen Auffassungen der Zeitgeschichte ein Spektrum von wesentlich gleichen Richtungen aktueller Staatsund Verfassungskritik gefolgt. Sie haben unter einer sogenannten „Kritik der Rechte“330 eine umfassende Darstellung erfahren können und erlauben insofern auch eine zusammenfassende Beurteilung.
330
C. Menke, Kritik der Rechte, 2015.
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IX. Grenzüberschreitung politischer Philosophie
Die betreffende politische Philosophie einer „Kritik der Rechte“ steht erklärtermaßen nicht mehr in einer ideengeschichtlichen Verbindung mit der Vernunftidee subjektiver Rechte des Einzelnen und mit der dementsprechend vernunftbegründeten Idee einer auf ursprüngliche subjektive Rechte gegründeten verfassungsstaatlichen Ordnung rechtsstaatlicher Demokratie. Im Gegenteil und in einem fundamentalen Gegensatz dazu will sie sich als revolutionäre Neubegründung einer „modernen Form der Rechte“331 verstehen; sie kennt keine rechtsphilosophische Begründung der Rechte mehr in einer Vernunftidee und in der betreffenden Tatsache eines von allen in gleicher Weise zu beanspruchenden Eigenwillens. Vielmehr geht es entgegen einer solchen „liberalen Identifizierung von Gleichheit und Rechten“ um eine Verwirklichung der politischen Idee einer „Gleichheit ohne Rechte“ und damit um die „wahre Demokratie“.332 Danach sollen die „Rechte“ lediglich noch als sogenannte „Gegenrechte“ zu begreifen sein; gemeint sind „Rechte, die jemand hat, auch ohne dass er recht hat“,333 also „Rechte auf Berücksichtigung, die anders als die vernunftbegründeten subjektiven Rechte und die „bürgerlichen“ Grundrechte nicht auf eine Berücksichtigung des „Eigenen“ gerichtet sind, sondern den Anspruch an den anderen haben, sein Wollen an „meinem“ Wollen allein aufgrund eines gemeinsamen Urteils zu begrenzen.334 Eine solche Neubegründung der „Rechte“ beruht in ihrem rechtskonstruktiven Verständnis auf einer „Revolution des Urteilens“; sie ist in einem rechtsphilosophischen Sinne entschieden antipositivistisch335 und bedeutet in verfassungstheoretischer Hinsicht eine dezidierte Absage an eine Idee verfassungsstaatlicher Ordnung sowie des Staates, nach welcher diese die Funktion einer „interventionistischen“ Gewährleistung subjektiver Rechte der Einzelnen und einer darauf gegründeten Ordnung „bürgerlicher“ Gesellschaft wahrnehmen.336 Ausschlaggebend folgt jene politische Philosophie zwei einschlägigen Beurteilungen zur Verfassungslage, auf welche sie ihre Kritik an vernunftbegründeten subjektiven Rechten, an einer hieraus resultierenden „bürgerlichen“ Verfassung und Idee des Staates stützen möchte und aus welchen sie ihre Neubegründung der „Rechte“ erklären will. Es sind Gründe, deren genauere Vergegenwärtigung nicht verzichtbar ist; angesichts der Verfassungserfahrung unter dem Grundgesetz sowie eines entsprechenden gegenwärtigen Verfassungsbewusstsein hat man es mit einem verfassungstheoretisch nicht leicht begreifbar zu machenden Phänomen politischer Philosophie zu tun, das aber nichtsdestoweniger im zeitgeschichtlichen politischen Denken durchaus auch auf Aufnahme stößt, selbst wenn dabei die verfassungsrechtlich fundamentalen Begründungen und Konsequenzen nicht immer zu Bewusstsein kommen werden. 331 332 333 334 335 336
A.a.O., 381. A.a.O., 339. A.a.O., 381. A.a.O. A.a.O. A.a.O., 324.
IX. Grenzüberschreitung politischer Philosophie
117
Die eine, die kritische Beurteilung des „bürgerlichen“ Verfassungsstaates will in dessen auf subjektive Rechte der Einzelnen und auf deren grundrechtliche Sicherung begründeter verfassungsstaatlicher Ordnung den Zustand einer unvermeidlichen „Verfassungskrise“, eine prinzipielle „Aporie der bürgerlichen Verfassung“ erkennen.337 Sie will beobachten und resümieren, dass eine gesellschaftliche Ordnung auf der Grundlage von subjektiven Rechten und von deren grundrechtlicher Sicherung nicht in der Lage sei, selbst auf angeblich zu erkennende eigene „gesellschaftsbedrohende Machtmonopole“338 und entsprechende krisenhafte Effekte zu antworten, und deshalb nach beständigen politischen Interventionen in Form einer Sicherung und Gewährleistung subjektiver Rechte verlange,339 was jedoch angeblich wiederum den eben gleichen immanent krisenhaften Zusammenhang herbringe, der eine politische Intervention von Seiten des Staates notwendig mache.340 Nach dieser Beurteilung ist für die staatsrechtlich verfasste „bürgerliche“ Gesellschaft deren Verfassungsordnung von subjektiven Rechten und von Grundrechten ebenso notwendig wie sie eine solche Gesellschaft zugleich ohnmächtig macht und angeblich „bringt sie das Problem hervor, dessen Lösung sie sein will.“341 Zusammengefasst wollen solche politischen Beobachtungen und Beurteilungen besagen, dass die auf vernunftmäßig ursprüngliche subjektive Rechte und auf betreffende Grundrechte gegründete verfassungsstaatliche Ordnung rechtsstaatlicher Demokratie eine „bürgerliche Gesellschaft“ hervorbringe, welche durch eine politische Intervention des Staates zur Gewährleistung jener subjektiven Rechte der Einzelnen entpolitisiert sei. Also wendet sich jene politische Philosophie in ihrer Kritik an der vernunftbegründeten verfassungsstaatlichen Ordnung gegen das in derselben wahrgenommene liberale Rechtsparadigma einer Trennung von politischem Staat und einer auf gleiche subjektive Rechte gegründeten entpolitisierten „bürgerlichen Gesellschaft“. In der Beurteilung einer solchen politischen Philosophie, in deren kritischer politischer Sicht erscheinen die praktische Vernunftidee subjektiver Rechte des Einzelnen sowie eine darauf gegründete Vernunftidee verfassungsstaatlicher Ordnung als nichts anderes mehr denn allenfalls als eine ideengeschichtlich vorausgegangene idealistische Begründung der nach ihrer Ansicht nur materialistisch erklärbaren „bürgerlichen Revolution“, in der sich eine „bürgerliche Selbstentmachtung der Politik gegenüber der dadurch freigesetzten bürgerlichen Gesellschaft“ vollzogen habe.342 Zum Zweiten schließt sich an jene verfassungstheoretische Kritik der „bürgerlichen Revolution“ sowie der mit ihr verbundenen Staatsgenese folgerichtig ein entsprechendes politisches Postulat an. Es greift die gegenständlich schon in einem Eingangskapitel angesprochene, von Seiten der zeitgeschichtlichen Politikwissen337 338 339 340 341 342
A.a.O., 324 f. A.a.O., 324. A.a.O., 325. A.a.O. A.a.O. A.a.O., 345.
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IX. Grenzüberschreitung politischer Philosophie
schaft ohnedies an die gegenwärtige Verfassungspraxis und Staatsrechtslehre kritisch gerichtete Thematik des Verhältnisses von Demokratie und Staat auf und beantwortet die betreffende Problematik in der ihr eigenen radikalen Weise. Demzufolge lässt sich die beobachtete politische Selbstentmachtung der „bürgerlichen Gesellschaft“, ihre Entpolitisierung zugunsten des Staates und seiner interventionistischen Gewährleistung subjektiver Rechte der Einzelnen nur dadurch wieder auflösen, dass anstelle eines vernunftbegründeten bzw. angeblich im Zuge der „bürgerlichen Revolution“ entstandenen liberalen Anspruchs der Einzelnen auf für alle gleiche und vom Staat gewährleistete subjektive Rechte eine „Gleichheit ohne Rechte“ und eine dementsprechende, von staatlicher Intervention freie demokratische Selbstregierung der Gesellschaft angenommen wird.343 Aufgrund einer solchen „Kritik der Rechte“ soll es gelingen, die in der Annahme subjektiver Rechte der Einzelnen gegen den Staat begründete liberale Trennung von entpolitisierter Gesellschaft und politischem Staat zu überwinden sowie stattdessen eine von allen zu beanspruchende „Gleichheit der sozialen Teilnahme“ im Sinne kommunistischer Gleichheit, d. h. durch das „kommunistische Gegenkonzept“ einer „wahren Demokratie“344 zu gewährleisten; auf diese Weise soll eine „politische Selbstregierung“ der Gesellschaft garantiert und in Form derselben eine „wahre Demokratie des Kommunismus“ verwirklicht werden als „innere Politisierung des Sozialen“, als „Selbstregierung der sozialen Praktiken“.345 Mit anderen Worten und in einer ideengeschichtlichen Sicht geht es dabei um ein Gegenkonzept materialistischer politischer Philosophie gegen eine idealistische, rechts- und staatsphilosophische Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung, die ihre Voraussetzung in der Rechtssubjektivität und individuellen Freiheit der Einzelnen sowie in rechtskonstruktiv entsprechenden subjektiven Rechten derselben innerhalb der staatsrechtlichen Ordnung sucht, demzufolge sich zur rechtsstaatlichen Begrenzung, Bindung und Kontrollierbarkeit demokratischer Institutionen und Verfahren bekennt sowie generell von der Positivität des Staatsrechts ausgeht. Demgegenüber postuliert jenes „kommunistische Gegenkonzept“ eine fundamentale Strukturveränderung verfassungsstaatlicher Ordnung hin zu einer „wahren Demokratie“, in der sich eine „demokratische Selbstregierung der sozialen Praxis“ emanzipiert gegenüber einem staatlich geordneten Entscheidungssystem und in der , was das verfassungsrechtliche System generell, namentlich die aus demokratietheoretischen Gründen problematisierte Verfassungsordnung rechtsstaatlicher Demokratie angeht, an die Stelle einer Positivität des Staatsrechts ein Auslegungs- und Anwendungsmodus deliberativer Demokratie tritt. Es ist eine politische Philosophie, die angesichts des geltenden und maßgeblich anerkannten Verfassungszustandes unter dem Grundgesetz sowie der betreffenden Verfassungserfahrung sich auf einer Reise ins verfassungstheoretisch Ungewisse befindet; allerdings kann sie in der aktuellen Öffentlichkeit eine wohl nicht wirklich reflektierte und erklärbare Beachtung und argumentative Verwendung 343 344 345
A.a.O., 339. A.a.O., 345. A.a.O., 343.
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für sich beanspruchen, die Verwirrung innerhalb der nach dem Grundgesetz geltenden Institutionen- und Verfahrensordnung rechtsstaatlicher Demokratie zu stiften und auf der verwaltungsrechtlichen Ebene kaum übersehbar Blockaden herbeizuführen vermag. Nicht zuletzt mit Blick auf das Letztere erscheint eine abschließende, zusammenfassende Klarstellung und Beurteilung geboten. Die in eine prinzipielle, in jene erörterte „Kritik der Rechte“ gemündete politische Philosophie ist schon in ihrem Ansatz einer materialistischen Geschichtsphilosophie, in ihrer dementsprechenden Frontstellung gegen eine idealistische, aus fachspezifisch staatsrechtlicher Sicht geforderte rechts- und staatsphilosophische Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung, in der besonderen dekonstruktiven Zentrierung ihrer Argumentation auf angenommene politökonomische Bedingungen und Verhältnisse einer in und ab der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beobachteten liberalen Wirtschaftsgesellschaft sowie schließlich in ihrem auf alle diese Voraussetzungen bzw. Annahmen gestützten politischen Postulat eines kommunistischen Konzepts der „wahren Demokratie“ von einer ganz anderen Art, als dass sie auf die mit der gegenwärtigen Verfassungsepoche verbundenen sozialen und politischen Voraussetzungen sowie auf die verfassungsgeschichtliche Prägung und Situation der staatsrechtlichen Ordnung unter dem Grundgesetz, auf die verfassungstheoretische Idee und Konzeption dieser verfassungsstaatlichen Ordnung zutreffen und für eine hierauf verpflichtete zeitgeschichtliche Staatsrechtslehre Bedeutung beanspruchen könnte und dürfte. In der durch das Grundgesetz verwirklichten Idee verfassungsstaatlicher Ordnung sind die „Rechte“ weder aus den staatsrechtlichen Postulaten und Konsequenzen politökonomischer Verhältnisse und Anforderungen einer wirtschaftsliberalen „bürgerlichen Gesellschaft“ erklärbar noch sind sie aus Gründen einer materialistischen Geschichtsphilosophie einer danach notwendigen Richtigstellung zugänglich zu gleichen Rechten nach einem „kommunistischen Gegenkonzept wahrer Demokratie“; vielmehr lassen sie sich nur in dem für die Verfassungsepoche in der unmittelbaren Nachkriegszeit und unter dem Grundgesetz verfassungsgeschichtlich und politisch bestimmenden idealistischen, fachspezifisch rechts- und staatsphilosophischen Sinne verstehen sowie deshalb allein aus der hierfür ideengeschichtlich einzig grundlegenden Ursprungs- und Begründungsidee von vernunftgemäß ursprünglichen, staatsrechtlich verwirklichten und gewährleisteten subjektiven Rechten der Einzelnen. Immerhin hat auch die politische Philosophie von einer kommunistischen „Gleichheit der Rechte“ ideengeschichtlich angeknüpft an eine Idee ursprünglicher subjektiver Rechte und sie hat in der erwähnten, unter den Voraussetzungen der spätkonstitutionellen Staatsrechtslehre entstandenen Annahme einer staatlichen Verleihung von sogenannten subjektiven Rechtsstatus346 zutreffend den verfassungstheoretisch fundmentalen und prinzipiellen Gegensatz dazu identifiziert. Aber sie hat auch die spezifische rechtsund staatsphilosophische Vernunftfunktion jener ursprünglichen subjektiven Rechte als normativer Voraussetzung und Entstehungsbedingung der Vernunftidee einer 346
Fn. 309.
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IX. Grenzüberschreitung politischer Philosophie
dezidiert individuellen Freiheit sowie der kompatiblen Verwirklichung derselben bzw. von betreffenden objektiven Belangen verpflichteten und dadurch legitimierten verfassungsstaatlichen Ordnung rechtsstaatlicher Demokratie verfehlt bzw. in ihrem Sinne verfälscht. Die erörterte diskurstheoretische Funktionseinschätzung ursprünglicher subjektiver Rechte und die daran anschließende generelle politische Philosophie einer kommunistischen Gleichheit der „Rechte“ sowie die damit verbundene prinzipielle verfassungstheoretische Thematisierung und Problematisierung einer vernunftbegründeten verfassungsstaatlichen Ordnung geben schließlich Anlass, auf einen bemerkenswerten Umstand hinzuweisen, der für die Staatsrechtslehre seit ihrer neueren Ideengeschichte kennzeichnend ist. Die Staatsrechtslehre selbst hat die fundamentalen Fragen nach der rechts- und staatsphilosophischen Grundlegung des Staatsrechts und eines fachspezifisch staatsrechtlichen Staatsbegriffs nur noch im Rahmen ihrer Methodologie und wissenschaftstheoretischen Selbstvergewisserung seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ausgetragen. Bemerkenswert ist ferner, dass auch dabei, nicht anders als von Seiten jener aus den gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen argumentierenden politischen Philosophie, die spätkonstitutionelle Epoche von Staatsrecht und Staatsrechtslehre, einmal abgesehen von der damaligen politischen und verfassungsgeschichtlichen Verstrickung in das monarchische Prinzip und in eine staatsrechtliche Ordnung konstitutioneller Monarchie, den ideengeschichtlichen Ausgangspunkt bildet. Jene Epoche bezeichnet mit der bekannten und erwähnten Hinwendung der seinerzeitigen Staatsrechtslehre zu einem „juristischen“ Formalismus, für den die Idee vom geschichtlichen Staatsrecht und vom geschichtlichen Staat ohne Relevanz ist, auch den Beginn einer für die Staatsrechtslehre in ihrer neueren Ideengeschichte ganz spezifischen und nachwirkenden, wissenschaftstheoretisch und methodologisch desaströsen Entwicklung. Verantwortlich erscheint auch hierfür der überhaupt zum Anlass der gegenständlichen Thematik genommene ideengeschichtliche Bedeutungsverlust der vernunftbegründeten Ursprungs- und Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung, der Verlust einer praktischen Vernunftidee vom Staat und von deren Funktion als regulativer Idee der Staatsrechtslehre. Die Staatsrechtslehre hat in ihrer neueren Ideengeschichte eine ganz andere, eine eigenständige ideelle Entwicklung methodologischer und wissenschaftstheoretischer Selbstvergewisserung eingeschlagen. Der einzig wirkliche Lösungsweg wäre auch für jene bekannte Methodendiskussion eine rechts- und staatsphilosophisch unverfälschte Rückbesinnung auf die originäre praktische Vernunftphilosophie von Recht und Staat sowie auf den dort angelegten transzendentalphilosophischen Weg zu einer Vernunftidee vom geschichtlichen Recht und vom geschichtlichen Staat als Anknüpfung, genauer als ontologischer Grundlegung von Wissenschaftstheorie und Methodologie der Staatsrechtslehre gewesen.
X. Die neuere Ideengeschichte der Staatsrechtslehre als eigenständige ideelle Entwicklung wissenschaftstheoretischer und methodologischer Selbstvergewisserung 1. – Die betreffende, die sogenannte Methodendiskussion der Staatsrechtslehre, vermochte den ideengeschichtlichen Verlust der vernunftbegründeten Rechts- und Staatsidee und damit überhaupt den Verlust von ursprünglicher staatstheoretischer Grundlegung oder generell gesagt den Verlust einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung in einer „juristisch“ relevanten Staatsidee bis heute nicht zu bewältigen. Dieses ihr eigentliches Problem ist zwar in der Sache schon von der wissenschaftstheoretisch schwer zu beurteilenden, noch während der spätkonstitutionellen Epoche sich artikulierenden Richtung einer staatstheoretischen Organismustheorie347 aufgegriffen worden und ist dann bekanntlich zum Anlass des sogenannten Methodenstreits der Weimarer Staatsrechtlehre geworden;348 vor allem der Letztere vermochte sich mit präpositivem Bedeutungsanspruch durch die Auseinandersetzung mit dem „juristischen“ Formalismus zu profilieren, sowohl mit dem Formalismus des aus der begriffsjuristisch entwickelten Historischen Rechtsschule hervorgegangen staatsrechtlichen Positivismus der spätkonstitutionellen Epoche als auch und zum Teil in erster Linie mit demjenigen der ideengeschichtlich noch hinzugekommenen, spezifisch erkenntnistheoretisch begründeten „juristischen“ Zwei-Seiten-Theorien des Staates sowie der normlogischen Rechts und Staatslehre, d. h. mit einer die praktische Vernunftphilosophie überhaupt verneinenden erkenntnistheoretischen Richtung der Staatsrechtslehre. Eine nachhaltige, auch noch die zeitgeschichtliche Staatsrechtlehre wirkungsgeschichtlich bestimmende staatstheoretische Vorstellung vermochte dabei selbst die betreffende sogenannte „geisteswissenschaftliche“ Richtung jenes Weimarer Methodenstreits nicht mehr hervorzubringen. Bekanntermaßen hatte einzig die Integrationslehre jener „geisteswissenschaftlichen“ Richtung der Staatsrechtslehre wieder eine explizite staatstheoretische Grundlegung in einer Idee ganzheitlicher und einheitlicher Staatlichkeit zu vermitteln versucht.349 Auch hat sie auf diese Weise der zeitgeschichtlichen Staatsrechtslehre und Verfassungspraxis unter dem Grundgesetz in deren erster Nachkriegsepoche auf gewisse Weise eine rationale Richtung zu geben vermocht gegenüber Ansätzen einer naturrechtlichen Interpretation der materialen, insbe347 348 349
Fn. 61 und 204. Fn. 5. Fn. 229 – 231.
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X. Die neuere Ideengeschichte der Staatsrechtslehre
sondere grundrechtlichen Verfassungsbestimmungen.350 Aber für eine dauerhaft bestimmende wirkungsgeschichtliche Durchsetzung als spezifisch staatsrechtliche Staatslehre sowie als Grundlegung einer materialen Verfassungslehre und einer entsprechenden staatsrechtlichen Methode fehlte es ihrer Staatsvorstellung wegen der strukturell eigenartigen sozialpsychologischen Begründung des betreffenden Integrationsbegriffs, d. h. wegen eines im Grunde verfehlten psychologistischen Umgangs mit Staatsbegriff und Staatsrecht, mit deren in der Seinsstruktur ganz anderen ideellen Seinsweise351 sowie wegen insofern und im Übrigen weitgehend nur rudimentären ideengeschichtlichen Anknüpfungen und Nachweisungen352 offenbar an Durchsetzungskraft und nachhaltiger Akzeptanz. Durchwegs repräsentativ steht die Integrationslehre dabei für einen Mangel an fachspezifischer wissenschaftstheoretischer Konsequenz und Klarheit. Im Grunde kennzeichnet dieser Mangel die Staatsrechtslehre sowohl in ihren neueren Organismustheorien der spätkonstitutionellen Epoche als auch in ihrer „geisteswissenschaftlichen“ Richtung des Weimarer Methodenstreits. Es ist die mehr oder weniger nachweislich zu beobachtende Vermischung einer erkenntnistheoretischen, wissenschaftstheoretischen Zuordnung der Staatsrechtslehre an die Idee einer eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit des geschichtlichen Staatsrechts und Staates mit der realen Seinssphäre geschichtlicher Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens selbst, also mit dem jene ideelle Seinsweise von Staatsrecht und Staat ontologisch kategorial tragenden politischen Kollektiv. Jedenfalls in der Integrationslehre stellt sich insofern auch ein normatives Problem. Dementsprechend vielfältig hat sich denn auch eine aus der Integrationslehre hervorgegangene „Schule“353 fachspezifisch aufgefächert. In deren methodisch diffusem, mehr oder weniger auch politisch manifestiertem Erscheinungsbild wird die wesentliche Schwäche der Integrationslehre offenkundig, dass sie die von ihr zugrundegelegte ontologische Zweischichtigkeit in der Seinsweise von Staatsrecht und Staat, nämlich die notwendige Unterscheidung einer betreffenden politischen bzw. sozialen Wirklichkeit einerseits sowie der davon kategorial getragenen ideellen und spezifisch normativen Allgemeinheit des Staatsrechts andererseits nicht als das eigentliche wissenschaftstheoretische Problem erkannt, geschweige denn dass sie diese Fragestellung gelöst hätte. Die der Integrationslehre verpflichtete „Schule“ konnte sich daher in Richtung von ersichtlich oder erklärtermaßen politisch bzw. soziologisch orientierten Ideologien entwickeln. Dabei ist das in der Integrationslehre eigentliche, wenn auch zugegebenermaßen nicht hinreichend bewältigte bzw. artikulierte, aber 350
Bartlsperger (Fn. 5), 31/38, ders. (Fn. 3), 28 und ders. (Fn. 2), 184. Dazu Nachw. in Fn. 230. 352 Zur Kritik an der Konzeption der Integrationslehre sowie zu ausgemachten Schwächen derselben in Darstellung und Ausführung Nachw. bei Bartlsperger (Fn. 5), 31/35 Fn. 13 und 44 Fn. 39 sowie dems. (Fn. 2), 185. 353 Zur sogenannten Smend-Schule Günther (Fn. 28), 159 ff. und 243 ff., Lepsius (Fn. 63), 354 sowie im Hinblick auf die unterschiedlichen politischen Voraussetzungen und Ausrichtungen jener Schule Bartlsperger (Fn. 5), 36 f. 351
X. Die neuere Ideengeschichte der Staatsrechtslehre
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bedeutsam nachwirkende staatsrechtlich methodische und staatstheoretische Grundanliegen nicht zur Geltung gekommen, in der eigenständigen und objektiven ideellen Seinsweise des Staatsrechts sowie des Staates in dessen fachspezifisch staatsrechtlichem Sinne die regulative Idee und methodische Voraussetzung der Staatsrechtslehre aufzuweisen.354 2. – Jene ideengeschichtliche Entwicklung der Staatsrechtslehre in eine staatstheoretisch defizitäre Richtung bestätigt die eingangs getroffenen Feststellungen, wonach die gegenwärtige Verfassungssituation und die betreffende zeitgeschichtliche Staatsrechtswissenschaft in verfassungstheoretischer und methodischer Hinsicht gekennzeichnet sind einerseits durch einen materialen Verfassungsbegriff und durch eine von einem entsprechenden normativen Verfassungsgehalt geprägte Verfassungspraxis, andererseits aber gleichzeitig in einem wissenschaftstheoretisch grundlegenden Gegensatz dazu durch ein staatstheoretisches Defizit bzw. einen Mangel an staatstheoretischem Interesse. Man kann die zeitgeschichtliche Situation von Staatsrecht bzw. Staatsrechtslehre hinsichtlich der wissenschaftstheoretischen Entwicklung und Befindlichkeit der Letzteren zusammengefasst und im Wesentlichen wohl dahin kennzeichnen, dass diese und demzufolge die Verfassungspraxis zwar auf einen außerordentlichen Reichtum rechtswissenschaftlicher Methodenlehren, von Normstrukturtheorien und von Normbegründungstheorien vor einem insofern einschlägigen ideengeschichtlichen Hintergrund und angesichts aktueller Anforderungen sowie auch unter gelegentlicher Rezeption von Rechtsdenken aus einem anderen Rechtskreis355 zurückgreifen können; es geht dabei um den spezifisch methodologischen Anspruch, das Rechtsdenken jedenfalls als Verfahren wissenschaftlicher Erkenntnis rechtfertigen zu können. Bezeichnend sind unter anderem, um nur Weniges aufzugreifen, methodische Konzepte wie dasjenige eines antipositivistischen Rechtsanwendungsverfahrens der Abwägung von der Rechtsordnung angesonnenen Prinzipien,356 eine spezifisch entwickelte Normstrukturlehre357 oder gar ein sich auf einen naturwissenschaftlichen Dogmatismus zurückziehendes Rechtsdenken von „trial and error“.358 Aber es mangelt an einer hinreichenden, präzise nachvollziehbaren wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Staatsrechtslehre in einer ihr entsprechenden erkenntnistheoretischen Gegenstandszuordnung; es ist grundsätzlich kein eindeutiger funktionaler Zusammenhang mehr mit einer „nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“359 begründeten Rechtslehre und mit einer fachspezifischen Staatstheorie als regulativer Idee von Verfassungstheorie und 354 Zu dieser ideengeschichtlich wesentlichen Funktion der Integrationslehre Bartlsperger, a.a.O., 49. 355 Z. B. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, 177/182 ff. 356 Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 71 ff., 75 ff., 136 ff., ders., Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, 319 und ders. (Fn. 355), 177/182 und 213 f. 357 F. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966 und ders., Juristische Methodenlehre, 5. Aufl. 1993. 358 Schlink, Der Staat 19 (1980), 73/88 ff. 359 Fichte (Fn. 36).
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X. Die neuere Ideengeschichte der Staatsrechtslehre
Staatsrechtslehre zu erkennen. Ersichtlich scheint an die Stelle einer spezifisch staatsrechtlichen Staatslehre ein vornehmlich methodisches Problem- und Selbstverständnis der Staatsrechtslehre als „Geisteswissenschaft“ getreten zu sein. Danach erweisen sich die unter dem Zeichen einer Staatskritik geführten Angriffe von Seiten der Diskurstheorie und einer offenkundig von ihr inspirierten Richtung der Staatsrechtslehre gegen das angeblich aus einem überkommenen Staatsdenken zu erklärende materiale Rechtsstaats- und Grundrechtsverständnis der gegenwärtigen Staatsrechtslehre und Verfassungspraxis in fachspezifischer und ideengeschichtlicher Hinsicht als offensichtliche Fehlbeurteilung. Der von jenem staatskritischen Argumentationsspektrum beklagte und kritisierte Wandel des Verfassungsverständnisses zu einer materialen normativen Verfassungskonzeption, vor allem im Bereich der Grundrechte, sowie der von jener Seite dabei ausgemachte Bedeutungsverlust demokratischer Substanz des Rechtsstaates, namentlich durch einen „fortschreitenden Umbau des Verfassungsgefüges zugunsten eines verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates“,360 sollen, wie gesagt, ihre ideengeschichtlich konstruktive Ursache angeblich in einem historisch kontextgebundenen, in den ökonomisch gesellschaftlichen Grundbedingungen der spätkonstitutionellen Epoche begründeten liberalen Rechtsparadigma von einer normativ ausgezeichneten Trennung von Staat und Gesellschaft, also in einem dezidiert etatistischen politischen Staatsdenken von Verfassungstheorie und Staatsrechtslehre haben. Beide dabei verwendeten Argumente, der angebliche Ausgangspunkt einer spätkonstitutionellen, „unter hypothetisch angenommenen Bedingungen einer liberalen Wirtschaftsgesellschaft“361 erfolgten Genese des im liberalen Rechtsparadigma zugrundegelegten Staatsbegriffs sowie die Annahme einer wirkungsgeschichtlichen funktionalen Bedeutung desselben für das materiale Verfassungsverständnis der Gegenwart, gehen an der dargelegten fachspezifisch staatsrechtlichen Entwicklung und Situation vorbei. Diese stellen sich in einem ganz anderen Sinne und mit ganz anderen Konsequenzen dar als von der diskurstheoretischen und zeitgeschichtlichen Staatskritik angenommen bzw. unterstellt. Es sind die einschlägigen und angesprochenen, um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eingetretenen, fachspezifisch ideellen Wandlungen von Staatsrecht und Staatsrechtslehre gewesen, die verfassungsgeschichtliche Entwicklung zum Spätkonstitutionalismus sowie der durch den staatsrechtlichen Positivismus und durch dessen methodischen Formalismus herbeigeführte ideengeschichtliche Bruch mit der vernunftbegründeten Ursprungsund Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung, welche letztlich die ideenund wirkungsgeschichtliche Erklärung liefern für den erwähnten verfassungstheoretischen und methodischen Zustand gegenwärtiger Staatsrechtslehre und Verfassungspraxis. Die damaligen Vorgänge in der Staatsrechtslehre sind Teil jenes bekannten allgemeinen kulturgeschichtlichen Bruches ab der Mitte des neunzehnten 360
Böckenförde (Zitat und Nachw. im Rahmen der betreffenden Erörterung und Thematik bei Habermas, Fn. 87, 305) sowie in gleichem Sinne Grimm, Reformalisierung des Rechtsstaates, JuS 1980, 704 ff. 361 Habermas, a.a.O.
X. Die neuere Ideengeschichte der Staatsrechtslehre
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Jahrhunderts, der mit dem Bedeutungsverlust idealistischer Philosophie und mit der wissenschaftstheoretischen Problematisierung eines nunmehr vergegenwärtigten eigenen Bereichs von „Geisteswissenschaften“362 auch die Staatsrechtslehre erfasst und in ihren Grundlagen verändert hat. Die Staatsrechtslehre ist wissenschaftstheoretisch von einer aus der idealistischen Rechts- und Staatslehre gekommenen Staatsrechtswissenschaft zu einer um ihre methodische Selbstvergewisserung ringenden „Geisteswissenschaft“363 geworden. 3. – Es ist die wirkungsgeschichtliche Konsequenz jenes damaligen allgemeinen kulturgeschichtlichen Umbruchs und jenes damit zusammenfallenden wissenschaftstheoretischen Wandels für die „Geisteswissenschaften“, dass die Staatsrechtslehre mehr oder weniger nachweislich ihre konstruktive Grundlegung nicht mehr mit hinreichend leitender Konsequenz und auszumachender Deutlichkeit in einer Staatslehre als ihrer wissenschaftstheoretisch maßgeblichen regulativen Idee und speziell im Sinne der transzendentalphilosophischen praktischen Vernunft zu suchen vermochte, sondern sich richtungsbestimmt in Verwicklungen erkenntnistheoretischer Möglichkeiten von „Geisteswissenschaft“ wiederfand und bis heute darin findet. Die mehrfach angesprochenen Beobachtungen eines „staatstheoretischen Defizits“ sowie mangelnder staatstheoretischer Bemühungen der gegenwärtigen Staatsrechtslehre364 lassen sich hieraus erklären. Im gegenständlichen Problemund Erörterungszusammenhang widerlegt jene Entwicklung jedenfalls die Argumentationen der diskurstheoretischen und zeitgeschichtlichen Staatskritik, wonach das angeblich die freiheitliche demokratische Verfassungsordnung gefährdende materiale Verfassungsverständnis und das hiermit verbundene Phänomen eines verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates notwendigerweise nur die Folgen eines solche Erscheinungen normativ bewirkenden Staatsdenkens nach dem politischen Modell des liberalen Rechtsparadigmas seien. Vielmehr hat der von jener Seite und in jener Weise beklagte und kritisierte gegenwärtige Zustand einer material normativen und judiziell kontrollierbaren verfassungsrechtlich rechtsstaatlichen Ordnung seine konkret nachweisliche Grundlegung eher in einer entsprechenden materialen, „geisteswissenschaftlichen“ Methode von Staatsrechtslehre und Verfassungspraxis, d. h. in deren methodologisch spezifischem, „geisteswissenschaftlichem“ Selbstverständnis. Diese wirklich vorhandene wissenschaftstheoretische Situation gegenwärtiger Staatsrechtslehre und Verfassungspraxis ermöglicht eine abschließende Beurteilung der ihr aktuell geltenden Angriffe, die mit dem ganz anderen Vorwurf eines ideengeschichtlich und wissenschaftstheoretisch angeblich nicht haltbaren „Denkens vom Staate her“365 argumentieren. Dabei lässt sich für die aktuell aus der Staatsrechtslehre kommende Staatskritik eine in dem Zusammenhang zusammenfassende Kennzeichnung treffen. 362
Dilthey (Fn. 174). Bekanntermaßen ideengeschichtlich einmündend in den präpositiv bedeutsam gewordenen und gebliebenen sogenannten Weimarer Methodenstreit (Fn. 5). 364 Einleitend Abschnitt I. 365 Günther (Fn. 28). 363
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X. Die neuere Ideengeschichte der Staatsrechtslehre
4. – In politischer Hinsicht folgen die gegen das zeitgeschichtlich bestimmende materiale Verfassungsverständnis und gegen die entsprechende Verfassungspraxis gerichteten Angriffe offenkundig den Inspirationen, die von der politischen Philosophie einer materialistischen Staatskritik ausgehen; sie sind in der dementsprechend staatsverneinenden Auffassung der Diskurstheorie von einer lediglich intersubjektiven Rechts- und Verfassungsstruktur präzisiert worden. In dieser politischen Perspektive wird eine freiheitliche und demokratische Verfassungsordnung ausschließlich unter den institutionellen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen einer dezidiert staatsfreien Ordnung deliberativer Politik für realisierbar gehalten. Hingegen die betreffende fachspezifisch staatsrechtliche und aus den Reihen der Staatsrechtslehre aktuell kommende staatskritische Argumentation kennt hierfür auch die Inanspruchnahme einer rechtsmethodischen Begründung. Signifikant geschieht dies, wie in dem betreffenden Zusammenhang schon dargelegt, im Wege einer erkennbar politisch motivierten Inanspruchnahme des Standpunkts eines rechtsmethodischen Formalismus, und zwar in dem angesprochenen Falle desjenigen der erkenntnistheoretisch ausgeprägten und profilierten normlogischen Rechtsund Staatslehre.366 Diese rechtsmethodische Seite bzw. Variante der betreffenden Staatskritik erscheint angesichts des dargelegten Umstandes verständlich und folgerichtig, dass die spezifisch staatsrechtliche Begründung des gegenwärtigen materialen Verfassungsverständnisses und der betreffenden Verfassungspraxis im wesentlichen auf einer methodischen Ebene liegt. Zwar kommt im Falle der betreffenden normlogischen Rechts- und Staatslehre als Besonderheit hinzu, dass deren rechtsmethodischer Formalismus sich der erkenntnistheoretischen Gegenposition des Neukantianismus gegen eine Erkenntnisfunktion praktischer Vernunft verdankt, also sich bereits gegen eine vernunftbegründete Staatslehre und Staatsrechtslehre überhaupt richtet. Aber auch dies geschieht ersichtlich in der fachspezifischen Intention als ein ideengeschichtlich rechtsmethodischer Vorgang. Der Befund erscheint in der dargelegten Verbindung von politischer und rechtsmethodischer Staatskritik einigermaßen verwirrend, belegt aber den wissenschaftstheoretisch prekären Zustand der Staatsrechtslehre, in den sie die spezifisch erkenntnistheoretischen, methodischen Verwicklungen seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sowie die darum entstandenen Auseinandersetzungen geführt haben. Von den genannten Erscheinungen eines rechtswissenschaftlichen Formalismus abgesehen, verharrt sie grundsätzlich auf dem seitdem beschrittenen Weg, eine methodische Grundlegung in der Selbstfindung als „Geisteswissenschaft“ zu suchen oder in Positionen einer wie auch immer begründeten antipositivistischen Rechtswissenschaft zu finden, oder sie reduziert sich in Auseinandersetzung damit auf eine nur organisationsrechtliche „Staatslehre“367 oder es ist schließlich zu einem gänzlich anderen Ansatz gekommen, der sich zurückzieht auf eine politische Philosophie bzw. auf eine Ver366
Oben Abschnitt III. unter 2. Heller (Fn. 64 und 67) sowie Böckenförde (Fn. 67); dazu bei Bartlsperger (Fn. 2), 186 ff. und ders. (Fn. 3), 44 ff. 367
X. Die neuere Ideengeschichte der Staatsrechtslehre
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fassungslehre des politischen Voluntarismus.368 Nur zur eigentlichen Ursprungs- und Begründungsidee des Verfassungsstaates und zu deren Idee von einem vernunftbegründeten „Staatsrecht“, zu einer vernunftbegründeten Staatslehre als regulativer Idee von Verfassungstheorie und Staatsrechtslehre vermag sie offenbar nicht zurückzufinden. Auf den deshalb bloß spezifisch methodischen oder auch nur politisch motivierten Wegen kann es ihr jedoch nicht gelingen, für den unter der Verfassungsordnung des Grundgesetzes begründeten und entfalteten Verfassungszustand einer freiheitlich demokratisch legitimierten, material normativen, sinnbegründeten und sinnbegründenden Rechtsstaatlichkeit eine wissenschaftstheoretisch tragfähige Grundlage zu finden bzw. die gegen diesen Zustand gerichteten Angriffe wissenschaftstheoretisch überzeugend zu beurteilen. Es fehlt insofern die Wahrnehmung, dass die einem material normativen Verfassungsverständnis gemäße Methode von Staatsrechtslehre und Verfassungspraxis erst einmal einer wissenschaftstheoretisch tragfähigen Grundlegung bedarf in einer regulativen Vernunftidee, welche die Idee des geschichtlichen Staatsrechts sowie die Idee des geschichtlichen Staates als der unter dem Staatsrecht vereinigten „Menge von Menschen“369 in Bezug auf deren geschichtliche Verwirklichung, aber unterschieden von ihrer jeweiligen konkreten politischen und insofern verstandesmäßig erfassbaren Wirklichkeit, d. h. spezifisch in ihrer ideellen Seinsweise vorstellbar, also auch kategorial ontologisch begreifbar macht. Die Bemühungen und Auseinandersetzungen bloß um spezifisch methodische Bedingungen des Staatsrechts und spezifisch methodische Voraussetzungen der Staatsrechtslehre in deren dargelegtem spezifischen, methodologischen Sinn müssen jedenfalls insofern wissenschaftstheoretisch wenig überzeugend und erfolgreich bleiben, als sie nicht letztlich auch dahin gelangen bzw. verstanden werden können, überhaupt erst einmal einen nachvollziehbaren erkenntnistheoretischen und nicht zuletzt auch ontologischen Zugang zu der objektiven geistigen Seinsweise des Staatsrechts aufzuzeigen, also eine dieser gnoseologischen Bedingtheit und dieser Seinsweise des Staatsrechts entsprechende Wissenschaftstheorie der Staatsrechtslehre zu begründen. Gegenüber möglichen Missverständnissen sowie unter Hinweis auf vorausgegangene einschlägige Ausführungen ist nachdrücklich klarzustellen, dass es um die regulative Vernunftidee von einer objektiven geistigen Seinsweise des Staatsrechts und des Staates geht, die frei ist von jedem Element einer Vernunft- und Geschichtsmetaphysik. 5. – Wie schon in dem einschlägigen philosophiegeschichtlichen Zusammenhang angesprochen, vermochte auf den betreffenden Weg wissenschaftlicher Metaphysik geistigen Seins im Grunde nur die praktische Vernunftkritik zu weisen aufgrund ihrer transzendentalphilosophischen Voraussetzung, d. h. unter Zugrundlegung eines subjektiven Vernunftvermögens, das es mittels apriorischer Erkenntnis ermöglicht, eine konkrete ideelle Wirklichkeit wie diejenige des geschichtlichen Staatsrechts und Staates, abgesehen von ihrer verstandesmäßigen Erfassbarkeit in ihrer konkreten Realität und in Unterscheidung von dieser, auch gerade in ihrer allgemeinen 368 Zur betreffenden Verfassungstheorie von C. Schmitt bei Badura (Fn. 116) und Möllers (Fn. 116). 369 Kant (Fn. 3), 129 (§ 45).
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X. Die neuere Ideengeschichte der Staatsrechtslehre
Seinsweise und unter deren prinzipiellen Begriffen und Regeln zu begreifen und mit ihr umzugehen, sie also auf eine ideelle Einheit und allgemeine Seinsweise zu beziehen sowie auch als solche zu erkennen und zu sehen. Freilich bedarf es, wie schon angesprochen, zu einer solchen vernunftbegründeten Rechts- und Staatslehre in ideengeschichtlicher Hinsicht noch der Vergegenwärtigung einschlägiger ideen- und wirkungsgeschichtlicher Entwicklungsschritte über jenen betreffenden authentischen, originären Vernunftbegriff vom „Staatsrecht“ und vom „Staat in der Idee“ als bloßer apriorischer Denkform und in seiner spezifisch praktischen Funktion, d. h. als einer normativen Idee, hinaus.370 Bei genauerer Betrachtung geht es dabei um ein folgerichtiges Verständnis und nur um ein schließliches Zuendedenken jener transzendentalen Ursprungs- und Begründungsidee des Verfassungsstaates und seiner staatsrechtlichen Ordnung; die betreffenden Vorgänge gehören zur generellen, dauerhaft wirksamen ideengeschichtlichen Entwicklung einer transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie, auch einer entsprechenden Seinslehre speziell geistigen Seins, nicht zuletzt in deren gegenständlich einschlägigen, der verfassungsstaatlichen Ordnung geltenden Zusammenhängen, Aussage- und Bedeutungsgehalten. Es handelt sich um den ideengeschichtlichen Vorgang einer generellen nochmaligen „Wende“ transzendentalphilosophischer Erkenntnistheorie von dem in der ursprünglichen Vernunftkritik, in deren sogenannter „kopernikanischer Wende“371 begründeten Apriorismus zu einem auch „zur Sache“ gehenden transzendenten Apriorismus oder transzendentalen Realismus. Aus fachspezifisch staatsrechtlicher und staatstheoretischer Sicht hat sich in den betreffenden generellen, von der Vernunftkritik ausgehenden ideengeschichtlichen Entwicklungen die ursprüngliche praktische Vernunftphilosophie auf den grundlegenden erkenntnistheoretischen und ontologischen Weg begeben zu einer Vernunftidee auch vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat, also zu einer regulativen Vernunftidee des „statutarischen“ Staatsrechts und zu einer dieser folgenden vernunftbegründeten Wissenschaftstheorie der Staatsrechtslehre. Man kann von einem transzendentalphilosophischen Weg sprechen, den die ursprüngliche Vernunftidee des Staatsrechts und des Staates zu einer Vernunftidee des geschichtlichen Staatsrechts und Staates nehmen musste.
370 371
Oben Abschnitt IV. Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (Fn. 37), 151 ff.
XI. Auf dem Weg zur praktischen Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat 1. – Im Grunde waren die Voraussetzungen für eine wissenschaftstheoretische Perspektive der dem Staatsrecht in seiner geschichtlichen Wirklichkeit geltenden Staatsrechtslehre ideengeschichtlich auch schon mit der originären vernunftkritischen, mit der erst apriorisch gedachten und spezifisch „praktischen“ Ursprungs- und Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung und mit deren betreffender vernunftbegründeter Rechts- und Staatslehre geschaffen worden. Notwendigerweise und zum wiederholten Male gilt es insofern auf deren bereits immanent angelegten und wirkungsgeschichtlich wesentlichen Aussage- und Bedeutungsgehalt hinzuweisen. Danach besteht im Sinne jener praktischen Vernunftkritik und von deren praktischen Vernunftbegriffen das „Staatsrecht“ als Idee von den nach dem allgemeinen Vernunftprinzip des Rechts apriori notwendigen und von selbst folgenden „äußeren“ Rechtsgesetzen, unter denen die betreffende „Vereinigung einer Menge von Menschen“ einen Staat, den „Staat in der Idee“ bildet, und umgekehrt fungiert dieser praktische Vernunftbegriff des Staates als regulative Idee des „Staatsrechts“.372 Diese aus der vernunftmäßigen, der vernunftbegründeten und vernunftgebundenen ursprünglichen Freiheitsidee373 entwickelte praktische Vernunftidee von Staatsrecht und Staat besagt in ihrer ideengeschichtlich und wirkungsgeschichtlich für Staatsrechtslehre und Staatslehre fundamentalen Tragweite, dass im Verhältnis zu den im Vernunftsinne ursprünglichen staatsrechtlichen Freiheiten der Einzelnen, d. h. im Verhältnis zu deren freiheitlich vernunftbegründeten subjektiven „Urrechten“,374 infolge des diesen vernunftnotwendig zugehörigen „Allgemeinen Prinzips des Rechts“375 wechselseitiger Kompatibilität und als in der Idee geschichtlich realisiertes Ergebnis jenes Prinzips die Vernunftideen des Staatsrechts und des Staates die Seinsfunktion von Vernunftideen einer geschichtlich entstehenden eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit beanspruchen. Eine solche Vernunftidee des geschichtlichen Staatsrechts und Staates gilt selbstredend zwar dem Staatsrecht und dem Staat in deren geschichtlicher Verwirklichung, aber nicht in deren a posteriori erfassbarer jeweils konkreter Realität, in deren jeweiliger konkreter historischer Vereinzelung, sondern in deren ideeller Allgemeinheit; es handelt sich um die Seinsmodalität apriorischer Realität oder um die Erkenntnismodalität apriorischer Realerkenntnis. Bei dieser erkennbaren immanenten Konsequenz der originären 372 373 374 375
Kant (Fn. 3), 129 (§ 45). Kant, a.a.O., 19. „Deduktion des Urrechts“: Fichte, Fn. 36, 110 ff. Kant (Fn. 3), 39 (§ C).
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XI. Weg zur Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat
Vernunftideen von Staatsrecht und Staat handelt es sich um die ideengeschichtlich und wirkungsgeschichtlich wesentliche und grundlegende staats- und verfassungstheoretische Kernaussage vernunftbegründeter Rechts- und Staatslehre.376 Die betreffende Identifizierung jener praktischen Vernunftideen des Staatsrechts und des Staates als Ideen von einer geschichtlichen, jeweils eigenständigen und objektiven geistigen Allgemeinheit rechtfertigt die im Rahmen der gegenständlichen Thematik vernunftbegründeter Staatsrechtslehre schon an den Anfang gestellte Annahme, dass die so verstandenen rechts- und staatstheoretischen Vernunftideen die Ursprungsund Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung unter den von eben jener praktischen Vernunftphilosophie geprägten kulturgeschichtlichen Voraussetzungen in Deutschland darstellen. Jene Ursprungs- und Begründungsidee bildet überhaupt erst in dem dargelegten immanenten Aussage- und Bedeutungsgehalt einer Vernunftidee eigenständiger und objektiver ideeller Allgemeinheit des geschichtlichen Staatsrechts und Staates die Voraussetzung dafür, dass der „Verfassungsstaat als Staatsbegriff“377 im fachspezifisch staatsrechtlichen Sinne verstanden werden kann; überhaupt erst in dieser staatstheoretischen Bedeutung als Vernunftidee des geschichtlichen Staates ist sie auch die rechtskonstruktive Grundlage für das diese verfassungsstaatliche Ordnung in staats- und verfassungstheoretischer Hinsicht kennzeichnende sogenannte liberale Rechtsparadigma einer Trennung von Staat und Gesellschaft bzw. der betreffenden staatsrechtlichen Gegenüberstellung von individueller Freiheit und einer aus dieser Freiheit vernunftnotwendig erwachsenden sowie legitimierten Staatlichkeit in einer dementsprechend materiellrechtlichen und jurisdiktionellen staatsrechtlichen Ordnung subjektiver Rechte gegenüber der Staatsgewalt. Der geschichtliche Staat als Vernunftidee hat im Sinne des sogenannten liberalen Rechtsparadigmas von Staats- und Verfassungstheorie keinen Selbstzweck, stellt keine feststehende Größe dar, bedeutet vielmehr nichts anderes als die Idee geschichtlicher Verwirklichung des allgemeinen Vernunftprinzips des Rechts von der Möglichkeit und Notwendigkeit eines Zusammenbestehens der ursprünglichen individuellen Freiheit von Vernunftwesen. Beide, die Vernunftideen des geschichtlichen Rechts und des geschichtlichen Staates gehören zur praktischen Vernunftphilosophie der Freiheit. 2. – Sicherlich kann, wie eben nochmals nachdrücklich betont, im philosophiegeschichtlichen Rahmen der authentischen originären Transzendentalphilosophie spezifisch „praktischer“ Vernunft jener anzunehmende Vernunftbegriff einer objektiven und eigenständigen ideellen „Allgemeinheit“ von geschichtlichem Staatsrecht und Staat noch nicht in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht werden mit einem Seinsbegriff, d. h. mit einer objektiven geistigen Seinsweise jener „Allgemeinheit“ in einem kategorial ontologischen Sinne; vielmehr konnte es sich bei dem in der dargelegten Weise anzunehmenden Vernunftbegriff der „Allgemeinheit“ in jener ursprünglichen, spezifisch „praktischen“ Bedeutung, wie zuletzt abermals 376 377
Erörterung der betreffenden Thematik oben im Abschnitt IV.1. Bartlsperger (Fn. 2).
XI. Weg zur Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat
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angesprochen, erst um eine Form apriorischen Denkens und erst um eine normative Idee von Staatsrecht und Staatlichkeit gehandelt haben. Diese können und müssen jedoch, was die geschichtliche Verwirklichung, ihre Beziehung zur sinnlichen Welt angeht, lediglich als „relativ unentfaltet“, d. h. insofern noch als unfertig gelten.378 Der Gesichtspunkt ihrer geschichtlichen Verwirklichung, ihrer Realisierung in der Sinnenwelt, hatte nur nicht mehr innerhalb des nachweislichen, des insofern engeren thematischen Blickfeldes jener originären praktischen Vernunftphilosophie gelegen. Aber dieser Umstand kann angesichts von deren fundamentaler ideen- und kulturgeschichtlicher Ausstrahlung sowie wirkungsgeschichtlicher Bedeutung letztlich nicht in Frage stellen, dass in jenem genannten, auch schon ursprünglich anzunehmenden transzendentalphilosophischen Vernunftbegriff ideeller „Allgemeinheit“, in dessen immanenter Bedeutung und wirkungsgeschichtlicher Tragweite, auch schon der Grundgedanke einer ideellen Seinsweise derselben, d. h. eine ontologische Perspektive angelegt war, dass also bereits in jenem transzendentalphilosophischen Ausgangs- und Ansatzpunkt die Voraussetzung grundgelegt war für eine das geistige Leben in seiner Seinsweise ideeller Allgemeinheit betreffende Wissenschaftstheorie. Solche Annahmen mögen auf Bedenken oder kritische Ablehnung stoßen von Seiten eines Selbstverständnisses philosophischer Fachdisziplin, das deren wissenschaftliche Grundlage und Aufgabe nur in einer „Autoren-, System- oder Begriffsgeschichte sowie in der philosophischen Erschließung und Auslegung der eigenen Textüberlieferung“ sucht, dagegen hiermit verknüpfte wirkungsgeschichtliche Gedanken und Theorien für ihre Fachdisziplin als unwissenschaftlich beurteilt wissen möchte.379 Eine solche bloße „Textphilologie“380 bzw. nur eine Philosophiegeschichte sollte aber jedenfalls für die generelle kultur-geschichtliche Ausstrahlung sowie für die spezifisch wissenschaftstheoretische Konsequenz der originären praktischen Vernunftkritik, namentlich angesichts von deren ideengeschichtlicher Ausgangsbedeutung für eine Grundlegung der Rechts- und Staatslehre, keine Maßgeblichkeit beanspruchen können; dies kann allein schon der wiederholt anzusprechende Umstand bezeugen, dass die betreffenden transzendentalphilosophischen Ursprünge in ihrer unmittelbaren philosophiegeschichtlichen Aufnahme selbst bereits eine nachweisliche explizite Entwicklung hin zu einem transzendentalen Realismus zu vollziehen hatten, und zwar sogar auch im gegenständlichen rechts- und staatstheoretischen Zusammenhang, nämlich einer bereits angesprochenen epochal gleichzeitigen, „nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“ entwi-
378 Oben Abschnitt IV.1. und 2. Zur „nachkantischen“ Auflösung dieses ideengeschichtlichen Problems unter den Voraussetzungen einer entsprechenden Wissenschaftslehre (Fichte, Fn. 36, 110 ff.) sowie in der daran anschließenden sogenannten Anerkennungslehre siehe die Nachw. in Fn. 112; dazu auch schon die Erörterung bei Bartlsperger (Fn. 2), 154 f. und 155 ff. sowie dems. (Fn. 3), 35 ff. jeweils mit zahlreichen Nachw. 379 Schnädelbach, Was Philosophen wissen, 2012, hier in der Beck’schen Reihe 2013, 25 m. eigenem Nachw. 380 A.a.O., 11.
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XI. Weg zur Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat
ckelten transzendentalen Seinslehre von geschichtlichem Recht und geschichtlichem Staat.381 3. – Bereits jene frühe transzendentalphilosophische Grundlegung einer Seinslehre und Wissenschaftstheorie des Rechts erkennt in der Vernunftidee vom Staatsrecht und Staat die Vernunftidee von deren jeweils ideeller geschichtlicher Allgemeinheit in einem erkenntnis-theoretisch gegenständlichen Sinne, und zwar nach der betreffenden authentischen Formulierung als „eines nicht bloß eingebildeten Ganzen, das lediglich durch unser Denken erzeugt werde“, vielmehr als „eines reellen Ganzen, das durch die Sache selbst vereinigt wird; nicht bloß Aller, sondern einer Allheit“.382 Es ist hierbei darum gegangen, den lediglich als Denkformen verstandenen apriorischen Vernunftideen vom Staatsrecht und vom Staat einen erkenntnistheoretischen Weg in einen transzendentalen Realismus zu weisen und damit die erkenntnistheoretische Grundlage für eine Wissenschaftstheorie vernunftbegründeter Staatslehre und Staatsrechtslehre aufzuzeigen. Eine solche Wendung zu einem transzendentalen Realismus konnte im Falle der Vernunftideen von geschichtlichem Staatsrecht und Staat mittels der transzendentalphilosophischen Annahme geschehen, dass die unter dem Staatsrecht im Staat vereinigten Einzelnen als freie Vernunftwesen kraft ihres subjektiven Vernunftvermögens, allerdings insofern speziell als in der Realität „sich selbst setzende“ denkende, geistig tätige Subjekte, ein intersubjektiv aktives Bewusstsein von eben diesem geschichtlichen Staatsrecht und Staat als einer jeweils eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit entwickeln und diese kraft eines solchen aus der Aktivität und Seinsweise des realen „Ich“ entstehenden praktischen Bewusstseins zu Gegenständen im erkenntnistheoretischen Sinne machen.383 In der Konsequenz bedeutet dies schon ein ontologisches Bewusstsein der betreffenden Einzelnen von einer eigenständigen und objektiven ideellen Seinsweise des geschichtlichen Staatsrechts und Staates als Produkt geistiger Tätigkeit. In einer dabei gesuchten modifizierenden bildhaften Anknüpfung an vormalige vertragstheoretische Staatskonstruktionen „vom Staatsbürgervertrage“384 wird das dort einer vertraglich gedachten Staatsgenese zugrundegelegte „Vereinigungsband“ nunmehr als ein im aktiven Bewusstsein der Einzelnen 381
Fichte (Fn. 36), insb. 195 ff. Die betreffende prinzipielle wissenschaftstheoretisch kritische Befassung Fichtes mit den rechts- und staatsphilosophischen Grundsätzen der praktischen Vernunftphilosophie Kants war sogar schon 1796, d. h. bereits im Jahre vor der maßgeblichen Schrift Kants über die „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre“ (1797) erfolgt; Fichte hatte erst Kants Abhandlung „Zum ewigen Frieden“ (1795) vorgelegen; siehe Bartuschat, Zur Deduktion des Rechts aus der Vernunft bei Kant und Fichte, in: Kahlo/Wolff/Zaczyk (Hg.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis, 1992, 173 ff./173. Argumentativ sehr direkt und konzentriert ist die Kritik Fichtes am mangelnden Realitätsbezug von Kants Rechtsbegriff aus einem Brief von 1795 an Reinhold ersichtlich (Fichte, Briefwechsel 1793 – 1795, hgg. von Lauth und Jacob, 1970, Fichte-Gesamtausgabe III 2, 384 ff.); dazu Bartuschat, a.a.O., 173/183 ff. 382 Fichte (Fn. 36), 196. 383 A.a.O., 39 ff. 384 A.a.O., 185 ff.
XI. Weg zur Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat
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vorhandenes, d. h. „in der Tat“ vereinigtes „totum“ verstanden;385 der Begriff findet eine Erläuterung in der Vorstellung vom Staat als einem „organisierten Naturprodukt“.386 Danach „fügt die Natur im Staat wieder zusammen, was sie bei Hervorbringung mehrerer Individuen trennte“.387 Ungeachtet des dabei zur Veranschaulichung rezipierten Bildes vom „Staatsbürgervertrag“ bedeutet dies, wie schon an anderer Stelle zusammenfassend festzustellen war, die ideengeschichtliche Entwicklung und immanente Präzisierung der originären vernunftkritischen Ursprungsund Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung zu einer auf die geschichtliche Wirklichkeit gerichteten Idee vernunftbegründeter Rechts- und Staatslehre. In der Idee beruht diese Letztere auf dem praktischen Vernunftprinzip intersubjektiv wechselseitiger, inhaltlich kompatibler „Anerkennung“ der Motive, Interessen und Bedürfnisse der unter den betreffenden „äußeren Rechtsgesetzen“ vereinigten freien Vernunftwesen und denkenden Subjekte. Nach einer solchen praktischen Idee vernunftbegründeter intersubjektiver „Anerkennung“ der Einzelnen begegnen die Vernunftideen des geschichtlichen Staatsrechts und Staates dem betreffenden individuellen Bewusstsein als eine aus der betreffenden kompatiblen „Anerkennung“ hervorgegangene, jeweils eigenständige und objektive ideelle Allgemeinheit. Sie vermag in dieser ihrer spezifischen, ontologisch kategorialen Seinsweise einen Gegenstand in einem erkenntnistheoretischen Sinne zu bilden und demzufolge als Grundlage einer Wissenschaftstheorie der Staatsrechtslehre zu fungieren. Das Ergebnis jenes ideengeschichtlich konsequenten Entwicklungsschrittes lässt sich, wie schon angesprochen, in der gebräuchlichen Sprachverwendung als eine intersubjektive „Anerkennungslehre“ bezeichnen, und zwar speziell auch in Bezug auf die Vernunftbegründung verfassungsstaatlicher Ordnung.388 Als solche will sie im Ergebnis besagen, dass die originären Vernunftideen vom Staatsrecht und vom Staat über ihren ursprünglichen authentischen Aussagegehalt als bloße apriorische Denkformen und normative Ideen hinaus in ihrer Beziehung zur geschichtlichen Wirklichkeit einen Aussage- und Bedeutungsgehalt intendieren, wonach im aktiven, denkenden Bewusstsein der unter den betreffenden „äußeren Rechtsgesetzen“ des geschichtlichen Staatsrechts vereinigten Einzelnen als Ergebnis der den betreffenden Rechtsgesetzen vernunftnotwendig zugrundeliegenden wechselseitigen Anerkennung der kompatiblen individuellen Motive, Interessen und Bedürfnisse eine bewusstseinsinterne, im jeweiligen individuellen Bewusstsein und nur in diesem gegenwärtige eigenständige und objektive ideelle Allgemeinheit entsteht und wonach diese als Bewusstseinsphänomen folglich eine Seinsfunktion bewusstseinsinterner Gegenständlichkeit im erkenntnistheoretischen Sinne zu beanspruchen vermag; letztlich besitzt sie also eine im subjektiven Bewusstsein vernunftnotwendig konstituierte und nur in diesem jeweiligen Bewusstsein existente Seinsweise ideellen Seins und eine dementsprechende ontologisch kategoriale Bedeutung. 385 386 387 388
A.a.O., 196. A.a.O., 197. A.a.O., 196 f. Zur sogenannten „Anerkennungslehre“ Nachw. in Fn. 112.
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XI. Weg zur Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat
Im Grunde war also schon mit jener ideengeschichtlich frühen Fortbildung der originären praktischen Vernunftidee von Staatsrecht und Staat zu der dargelegten, an „Prinzipien der Wissenschaftslehre“ entwickelten Vernunftidee des geschichtlichen Staatsrechts und Staates der Weg zu einer transzendentalphilosophischen Wissenschaftstheorie der Staatsrechtslehre hinreichend bezeichnet. Der insofern wesentliche Aussage- und Bedeutungsgehalt sowie die wirkungsgeschichtlich nachhaltige Leistung besteht in dem Gelingen des wissenschaftstheoretischen Nachweises, dass die transzendental begründete, die spezifisch ideelle Seinsfunktion einer regulativen Vernunftidee von Staatsrecht und Staat auch unter der Voraussetzung von deren konkreter Verwirklichung im geschichtlichen Staatsrecht und Staat Bestand hat, also ihre wissenschaftstheoretische Unterscheidung und Selbständigkeit gegenüber der sie in einem ontologisch kategorialen Sinn tragenden Seinsschicht konkreter geschichtlicher Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens beibehält. Es handelt sich um die fachspezifisch wissenschaftstheoretische Grundlegung der Staatsrechtslehre in der praktischen Vernunftidee von geschichtlichem Staatsrecht und Staat als Idee einer jeweils im subjektiven Bewusstsein, als Bewusstseinsphänomen existenten eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit. Diese und als solche bildet den betreffenden Gegenstand im erkenntnistheoretischen Sinne. Der vernunftbegründeten Staatsrechtslehre war damit der Weg in ihre fachspezifische Wissenschaftstheorie eines transzendentalen Realismus in Bezug auf ein eigenständiges und objektives geistiges Sein des Staatsrechts gewiesen worden. Jene Wissenschaftstheorie eines transzendentalen Realismus geistigen Seins erlaubt es, die praktische Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat als Idee einer jeweils eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit von der sie ontologisch kategorial tragenden Seinsschicht des wirklichen konkreten Rechts- und Staatslebens, also des realen Kollektivs, zu unterscheiden sowie dadurch die Staatsrechtslehre wissenschaftstheoretisch und methodisch von den ganz anderen, auf dieses reale Seinsgeschehen gerichteten Fachdisziplinen zu trennen und nicht zuletzt dem Staatsrecht dadurch seine normative Funktion gegenüber der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit zu gewährleisten. Erkennbar waren mit jener seinerzeit formulierten transzendentalen Idee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat schon die Voraussetzungen geschaffen worden bzw. die Klarstellungen erfolgt, nach denen die Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates ihre wissenschaftstheoretische Grundlegung und ihre dementsprechende wissenschaftliche Methode zu finden hat. Im positiven Aussagegehalt vermochte bereits der betreffende damalige ideengeschichtliche Entwicklungsstand transzendentaler Grundlegung einer Rechts- und Staatslehre zu verdeutlichen, dass Staatslehre und Staatsrechtslehre ihre erkenntnistheoretische Zuordnung, ihren wissenschaftstheoretischen Gegenstand, ausschließlich in einer im individuellen Bewusstsein der unter dem betreffenden „äußeren“ Recht bzw. Staatsrecht vereinigten Einzelnen existenten eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit des geschichtlichen Staatsrechts und Staates zu sehen haben. In negativ abgrenzender Hinsicht folgt hieraus, um dies nochmals in seiner wissenschaftstheoretisch grundlegenden Bedeutung hervor-
XI. Weg zur Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat
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zuheben, eine fachspezifisch gegenständliche Unterscheidung der transzendentalen Vernunftideen des Staatsrechts und des Staates von der konkreten Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens sowie die wissenschaftstheoretisch methodische Unterscheidung der Staatsrechtslehre und ihrer fachspezifischen Staatstheorie von denjenigen ganz anderen Fachdisziplinen, die ihren Gegenstand in der konkreten Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens, in den betreffenden historischen, politischen und soziologischen Vorgängen und Verhältnissen haben. 4. – An dieser Stelle ideengeschichtlich rückblickender Vergegenwärtigung jener „nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“ unternommenen Grundlegung einer Vernunftidee des geschichtlichen Staatsrechts und Staates ist die Aufmerksamkeit auch schon auf einen für die Staatsrechtslehre aus heutiger Sicht im Vordergrund stehenden Aussage- und Bedeutungsgehalt jenes damals eingeschlagenen transzendentalphilosophischen Weges der Rechts- und Staatslehre zu lenken. In jenem damaligen ideengeschichtlichen Zusammenhang konnte es zwar überhaupt erst und nur um die prinzipiellen Konsequenzen des transzendentalen Idealismus für die Rechts- und Staatslehre gehen, die apriorischen praktischen Vernunftideen von Staatsrecht und Staat auch als Vernunftideen des geschichtlichen Staatsrechts und Staates in der Seinsweise einer eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit begreifbar machen und auf dieser ontologisch basierten erkenntnistheoretischen Grundlage eine Wissenschaftstheorie für Staatsrechtslehre und Staatslehre entwickeln zu können. Aber darüber darf nicht daran vorbeigegangen werden, dass bereits mit jener seinerzeitigen wissenschaftstheoretischen und darin eingeschlossen ontologischen Perspektive zur Vernunftidee des geschichtlichen Staatsrechts und Staates die Voraussetzung geschaffen war für eine Beurteilung der unter der gegenwärtigen Verfassungsordnung des Grundgesetzes und für deren aktuelles Verständnis zentralen Frage nach dem spezifisch verfassungstheoretischen und politischen Für und Wider um eine materiale Verfassungskonzeption sowie um eine dafür regulativ bestimmende fachspezifisch staatsrechtliche Idee des Staates. Der dargelegte, seinerzeit begründete transzendentalphilosophische Weg zu einer Vernunftidee des geschichtlichen Staatsrechts und Staates, zu der Vernunftidee von deren Seinsweise als bewusstseinsintern existenter eigenständiger und objektiver ideeller Allgemeinheit attestiert der verfassungsstaatlichen Ordnung eine dementsprechende materiale Verfassungskonzeption sowie staatsrechtliche Methode. Also schon die damalige transzendentalphilosophische Richtunggebung einer ideellen, inhaltlich materialen Seinsweise von Staatsrecht und Staat im wissenschaftstheoretisch staatsrechtlichen Sinne stellt eine ideengeschichtlich vorweggenommene Gegenposition dar zu den erwähnten, erst nachfolgenden ideellen Verwicklungen der Staatsrechtslehre in eine methodische Krise sowie zu den darauf in ihrer je eigenen und anderen Weise reagierenden Auffassungen im Rahmen des sogenannten Weimarer Methodenstreits der Staatsrechtslehre; nicht zuletzt handelt es sich um den vorweggenommenen fachspezifischen und wissenschaftstheoretischen Gegenpart gegenüber jeder vorstehend schon erörterten, wie auch immer politisch motivierten und begründeten, namentlich einer politischen Philosophie verpflichteten Kritik an
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XI. Weg zur Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat
einem staatsrechtlichen Etatismus, an einer dem staatsrechtlichen „Denken vom Staate her“ folgenden materialen Verfassungstheorie und staatsrechtlichen Methode. 5. – Es ist auch gerade der im Zuge der betreffenden generellen ideengeschichtlichen Entwicklung der Transzendentalphilosophie sich eröffnende Weg zu einer Vernunftidee des geschichtlichen Staatsrechts und Staates, der in jenen seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sich vollziehenden fachspezifisch eigenen ideellen Entwicklungen der Staatsrechtslehre, sowohl was die Wege in ihre formalistischen Krisen als auch die vermeintlichen Auswege daraus angeht, im Grunde nunmehr als deren Angriffspunkt bzw. Gegensatz zu gelten hat; er stellt den Bezugspunkt dar und das eigentliche Problemfeld bei einer neuen erkenntnistheoretischen Selbstfindung der Staatsrechtslehre sowie einer dementsprechend veränderten Grundlegung ihrer Wissenschaftstheorie und methodischen Ausrichtung. Unbeschadet der betreffenden, dabei unterschiedlich eingenommenen Ausgangspunkte und Positionen ist es letztlich in der Hauptsache und recht eigentlich der für die Staatsrechtslehre und für deren Staatslehre relevante generelle Weg der Transzendentalphilosophie zu einer Vernunftidee des geschichtlichen Staatsrechts und Staates, der den letztlichen Ausgangspunkt für die betreffenden Verwicklungen der Staatsrechtslehre bildet und sich daher ideengeschichtlich als deren jeweiliges Problemfeld erweist. Es handelt sich um eine ganze Reihe von ideengeschichtlichen Entwicklungen um eine Grundlegung der Staatsrechtslehre und ihrer Staatslehre. In ihren jeweiligen Gegensätzen bzw. Unterschieden gegenüber der praktischen Vernunftidee des geschichtlichen Staatsrechts und States lassen sie diese umso deutlicher in Erscheinung treten. Sie kontrastiert jene ideengeschichtlichen Verwicklungen der Staatsrechtslehre und deren Problemlösungen dadurch, dass ihr der Nachweis eines transzendentalen Vernunftschlusses gelingt von der geschichtlichen Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens auf eine jener Realität ideal anhängende ideelle Allgemeinheit des Rechts und des Staates von ebensolcher eigenständiger erkenntnistheoretischer Gegenständlichkeit und ontologischer Existenz. Dieser transzendentalphilosophische Weg zu einer Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat ist das ideengeschichtliche Problemfeld der Staatsrechtslehre.
XII. Die praktische Vernunftidee vom Staatsrecht und Staat als ideengeschichtlich erkenntnistheoretisches Problemfeld der Staatsrechtslehre 1. – Zuallererst erscheint an dem transzendentalphilosophischen Weg zu einer Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat bzw. an einem ideengeschichtlichen Nachvollzug dieses Weges aus einer Perspektive der Staatsrechtslehre bemerkenswert, dass ungeachtet einer unmittelbaren genuinen und substantiellen Bedeutung jenes der generellen ideengeschichtlichen Entwicklung der Transzendentalphilosophie zugehörigen Weges für die erkenntnistheoretische und ontologische Grundlegung der Staatsrechtslehre und ihrer Staatslehre sowie für deren wissenschaftstheoretisches Verständnis eine fachspezifisch thematische Trennung eingetreten ist. Dies gehört zum Erscheinungsbild der Staatsrechtslehre und kennzeichnet die wissenschaftstheoretische Entwicklung und Situation der Staatsrechtslehre seit dem für sie epochalen, einschneidenden Zeitpunkt Mitte des neunzehnten Jahrhunderts.389 Im Zusammenhang mit einem seinerzeitigen allgemeinen kulturgeschichtlichen Bruch hat sich die Staatsrechtslehre in eine Selbstvergessenheit gegenüber der für eine verfassungsstaatliche Ordnung allein tragfähigen vernunftkritischen Ursprungs- und Begründungsidee begeben, jedenfalls anstelle von expliziten und entschiedenen ideengeschichtlichen Anknüpfungen daran; namentlich ist dies anstelle einer Anknüpfung an die hier nachvollzogene, seinerzeit durchaus schon geschehene Öffnung der Vernunftkritik zu einem transzendentalen Realismus bzw. transzendenten Apriorismus sowie einer dementsprechenden Entfaltung von Staatsrechtslehre und Staatslehre erfolgt. Sie hat sich den erörterten ganz anderen, spezifisch methodologischen Ausrichtungen auf die „Geisteswissenschaft“ bzw. auf eine organische Staatslehre zugewandt390 und in dementsprechende methodologische Verstrickungen begeben.391 Sicherlich kann es durchaus eine die fachspezifische Ideengeschichte von Staatsrechtslehre und Staatslehre betreffende, aufschlussreiche Thematik darstellen, in jenen dann zum sogenannten Weimarer Methodenstreit führenden und weiter verlaufenden methodologischen Verwicklungen auch partielle Rezeptionen und Anknüpfungen auszumachen, die sich als Elemente jener transzendentalen Vernunftidee des geschichtlichen Staatsrechts und Staates, insbesondere des eigenständigen und objekti389
Oben Abschnitt II.3., namentlich die mit dem staatsrechtlichen Positivismus (Fn. 55) für die Staatsrechtslehre in erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer sowie methodologischer Hinsicht eingetretene fundamentale Zäsur. 390 Fn. 174 f. bzw. Fn. 61. 391 Oben Abschnitt X.
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XII. Die praktische Vernunftidee vom Staatsrecht und Staat
ven ideellen Seinsmodus jener Idee, erweisen. Aber auch gegebenenfalls solche Beobachtungen und einschlägige Beurteilungen können nichts an dem im gegenständlichen Erörterungszusammenhang festzustellenden bemerkenswerten Umstand ändern, dass von Seiten der Staatsrechtslehre jedenfalls keine explizite aktive Teilnahme an der sie betreffenden philosophiegeschichtlichen Entwicklung eines transzendentalphilosophischen Weges zu einer Vernunftidee des geschichtlichen Staatsrechts und Staates sowie zu deren unmittelbaren wissenschaftstheoretischen Implikationen feststellbar ist. Eine thematisch konzentrierte, gezielte Beschäftigung von fachspezifischer Seite der Staatsrechtslehre mit den ihrerseits genauso fachspezifischen Konsequenzen der praktischen Vernunftkritik für die Rechts- und Staatslehre beschränkt sich bekanntermaßen auf letztlich wiederum in erster Linie methodologisch geführte Auseinandersetzungen mit den in ihrer besonderen Weise an die Vernunftkritik anknüpfenden neukantischen Richtungen von Rechtsphilosophie, Rechts- und Staatstheorie, namentlich angesichts der dem originären und strikten Neukantianismus folgenden normlogischen Rechts- und Staatstheorie.392 Dagegen ist seit der in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geschehenen allgemeinen kulturgeschichtlichen Zeitenwende, insbesondere seit jenes damaligen Bedeutungsverlustes idealistischer Philosophie, sowie aus spezifisch staatsrechtlicher Perspektive seit dem zu jenem Zeitpunkt einsetzenden Beginn der angesprochenen eigenen ideellen Entwicklung der Staatsrechtlehre von deren Seite im Wesentlichen keine positive aktive Teilnahme mehr an der generellen ideengeschichtlichen Entwicklung der die Vernunftkritik substantiell fortführenden transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie sowie einer dementsprechenden Ontologie zu vermerken.393 Es ist also die erörterte, seinerzeit einsetzende fachspezifische ideelle Entwicklung der Staatsrechtslehre, der sich jener Umstand einer signifikanten thematischen Trennung der Staatsrechtslehre einerseits sowie des sich seinerseits weiter entwickelnden Weges der Transzendentalphilosophie andererseits verdankt. Namentlich betrifft die thematische Absonderung der Staatsrechtslehre die auf Seiten der Transzendentalphilosophie bestimmend hervorgetretene Phänomenologie, auch in deren abschließend deutlich hervorgetretener transzendentaler Phase.394 Schließlich kann nicht festgestellt werden, dass in der betreffenden neueren ideengeschichtlichen Entwicklung der Staatsrechtslehre die in gewisser Weise dem Weg der Transzendentalphilosophie in spezifisch ontologischer Hinsicht zugehörige sogenannte „Neue Ontologie“395 eine besondere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermocht hätte, obwohl gerade dort explizit und gezielt das wissenschaftstheoretische Grundproblem nicht nur vernunftbegründeter Staatsrechtslehre und ihrer Staatslehre 392
Fn. 63 – 65 sowie 85. Zum ideengeschichtlichen, „nachkantischen“ Weg vernunftkritischer Erkenntnistheorie hin zur transzendentalen Phänomenologie siehe Fn. 36 und speziell zu dieser nachvollziehbaren Entwicklung und unmittelbaren Beziehung Tietjen (a.a.O.); zu der ideengeschichtlich zugehörigen „Neuen Ontologie“, insb. im Hinblick auf das ontologische Problem geistigen Seins die Nachw. in Fn. 37. 394 Fn. 36 und 133. 395 Siehe die Nachweise zum betreffenden Werk von Nicolai Hartmann in Fn. 37. 393
XII. Die praktische Vernunftidee vom Staatsrecht und Staat
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aufgegriffen wird, das geschichtliche Staatsrecht und deren regulative Staatsidee als erkenntnistheoretisches und vornehmlich ontologisches „Problem geistigen Seins“ einzuordnen sowie in der Seinsweise einer eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit begreifbar zu machen.396 Es ist also allein schon die grundsätzliche ideengeschichtliche und thematisch greifbare Isolierung vom generellen transzendentalphilosophischen Weg der Erkenntnistheorie sowie von deren Entwicklung zu einer Ontologie geistigen Seins, welche für die Staatsrechtlehre jenen Werdegang der Transzendentalphilosophie prinzipiell zu einem Problemfeld hat werden lassen, zu ihrem eigentlichen Problemfeld, das sie nicht wahrzunehmen fähig oder nicht aufzugreifen gewillt war. Im Übrigen ist es für die gegenständliche Erörterung eine zwangsläufige Konsequenz dieses Umstandes, dass die noch gebotene, die erst noch nachfolgend zu erledigende weitere und genauere Verfolgung des erkenntnistheoretischen und ontologischen Weges der Transzendentalphilosophie zu einer Vernunftidee des geschichtlichen Staates und Staatsrechts sowie zu einer dementsprechenden wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Staatsrechtslehre und ihrer Staatslehre zu einer spezifisch philosophiegeschichtlichen Angelegenheit werden muss. Angesichts dieser Situation kann das Wort, wonach „doch für immer ein wissenschaftstheoretisches Staatsrecht ohne philosophische Grundlegung undenkbar bleiben“ werde, seine gegen die Staatsrechtslehre kritisch gerichtete Bedeutung sehr wohl beanspruchen.397 Freilich kann eine solche Kritik die Staatsrechtslehre nur in unterschiedlichem Maße betreffen; zum Teil gilt sie nur, was eben gerade einen transzendentalphilosophischen Weg der Staatsrechtslehre zu einer praktischen Vernunftidee des geschichtlichen Staatsrechts und Staates als Problemfeld der Staatsrechtslehre angeht. 2. – Weitgehend und wesentlich zutreffend erscheint eine Kritik mangelnder, verlorengegangener philosophischer Grundlegung des fachspezifisch staatsrechtlich relevanten Staatsbegriffs sowie der Staatsrechtslehre jedenfalls im Falle des die spätkonstitutionelle Epoche des Staatsrechts bekanntermaßen maßgeblich bestimmenden staatsrechtlichen Positivismus; darauf war schon bei einer vorausgegangenen anderen Gelegenheit hinzuweisen.398 Auch wenn jener sogenannte staatsrechtliche Positivismus in seiner ideengeschichtlichen Erscheinungsweise und Form, abgesehen von den erörterten politisch motivierten und argumentierenden dekonstruktiven Bezugnahmen heutiger Staatskritik auf die betreffende spätkonstitutionelle Epoche von Staatsrecht und Staatsrechtslehre, keine aktuelle Aufmerksamkeit mehr zu beanspruchen vermag, kann er unter dem gegenständlichen Aspekt einer 396
Insofern schon oben im Abschnitt V.2. (mit Nachw. in Fn. 161 – 173) zu den kritischen Beurteilungen und Richtigstellungen, welche die „Neue Ontologie“ gegenüber der betreffenden ideengeschichtlichen „Entdeckung“, Begriffsbildung und Begriffsverwendung „objektiven Geistes“ in der spekulativen Geschichtsphilosophie zu treffen vermochte; siehe Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus (Fn. 37), 495 ff., insb. 507. Zur „neuen“ Ontologie des geistigen Seins, insbesondere zur Seinsweise objektiver und eigenständiger ideeller Allgemeinheit in dem „neuen“ Begriffsverständnis „objektiven Geistes“ siehe Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins (Fn. 37), Zweiter Teil, 175 ff. 397 O. v. Gierke, Schmollers Jahrbuch 7 (1883), 1/22. 398 Oben Abschnitt II. unter 3.
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gewählten Distanzierung der Staatsrechtslehre von einer philosophischen Grundlegung noch als repräsentativ stehen für weitere, im Ergebnis aus gleichem Geiste kommende Entwicklungen eines juristischen, eines begriffsjuristischen Formalismus. Bei genauerer Betrachtung allerdings stellt jener staatsrechtliche Strang, also der für die spätkonstitutionelle Epoche stehende staatsrechtliche Positivismus, beginnend mit den insofern epochal wirksamen Abhandlungen „Über öffentliche Rechte“ von 1852 sowie dann zu den „Grundzügen eines Systems des Deutschen Staatsrechts“ von 1865,399 im Hinblick auf das gegenständliche Beurteilungskriterium mangelnder philosophischer Bezüge wegen seiner spezifischen Ursprungs- und Begründungsbesonderheiten auch wiederum eher eine Besonderheit bzw. eine Erscheinung mit einer ganz anderen besonderen Bedeutung dar. Denn zum einen ist sein ganz spezifisches rechtskonstruktives Kennzeichen die eigengeprägte Zusammenführung einer aus der Historischen Rechtsschule kommenden zivilistischen Begriffsjurisprudenz sowie einer dementsprechenden Rechtskonstruktion der Staatspersönlichkeit nach der ebenfalls aus der Zivilistik rezipierten Willenstheorie und in Verbindung mit der Letzteren einer maßgeblichen Verankerung staatsrechtlicher Ordnung in der monarchisch-herrschaftlichen Staatsauffassung. Ganz speziell nur aus diesen Gründen ist eine „organische“ Staatsvorstellung, wie sie mit der idealistischen Philosophie in Verbindung gestanden hat oder gebracht werden konnte, in einer spezifisch „juristischen“ Sicht als wissenschaftstheoretisch irrelevant beurteilt worden. Zum Zweiten kann das für die Staatsrechtslehre vermittelte Erbe logisch systematischen Denkens sowie einer dadurch gewährleisteten Widerspruchsfreiheit des Rechts, von Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit keineswegs in Frage gestellt werden. All dies gehört zu den vergangenen Besonderheiten bzw. zu dem aktuell weiter bedeutsamen Erbe des staatsrechtlichen Positivismus. Zum Letzteren kann sicherlich gezählt werden, dass Begriffe als notwendiger Bestandteil in den Beziehungen jeder Erkenntnis zu ihren Gegenständen und Rechtsbegriffe als konstruktiv unerlässlich für Rechtswissenschaft und Rechtsdogmatik gelten; nur machen diese das Recht nicht aus. Unter der gegenständlichen Perspektive einer verlorengegangenen philosophischen Vergewisserung von Staatstheorie und Staatsrechtslehre sollte sich die Aufmerksamkeit viel eher darauf richten, dass der staatsrechtliche Positivismus in einer Reihe gestanden hatte mit dem seinerzeit um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in der Rechtswissenschaft generell sich manifestierenden ideengeschichtlichen Bruch ihres wissenschaftstheoretischen Verständnisses. Programmatisch und sprachgewaltig ist dieser generelle Bruch für die damalige rechtswissenschaftliche Zeitgenossenschaft als „Unsere Aufgabe“ bezeichnet und dargestellt worden,400 seinerzeit gegebenermaßen im Rahmen der rechtswissenschaftlich beherrschenden Zivilistik, aber eben gerade auch im Gegensatz zur „historischen Schule auf dem Gebiete des römischen und deutschen Rechts“.401 Indessen ist es über jene Argumentation wider die Letztere und wider 399 400 401
Fn. 55. v. Ihering (Fn. 55). A.a.O., 1.
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deren „bloß rezeptives Verhalten gegenüber dem historischen Stoff“ hinaus eigentlich um die „bewegende Kraft“ des neuen Gedankens gegangen, dass die Rechtswissenschaft ganz im Gegenteil „das Recht und den Beruf zur productiven Gestaltung hat“, dass sie also eine „receptive und productive Jurisprudenz“ werden müsse.402 In Bezug auf das propagierte Verständnis der Rechtswissenschaft als „juristischer Production“ ist von einem „Evangelium der Rechtsgeschichte der Zukunft“403 die Rede und von einer den eigentlichen und aktuellen Gegenstand der Rechtswissenschaft bildenden dementsprechenden Dogmatik; sie sollte von nun an vermittelt werden durch „die juristische Construction, indem sie den gegebenen Rohstoff zu Begriffen verflüchtigt.“404 Gemeint ist „die Schöpfung einer Welt aus rein geistigem Stoff“, einer „über der niederen und substanziellen Welt des positiven Stoffes sich erhebenden idealen, ihm unsichtbaren Kunstschöpfung“.405 Es handelt sich um Gedanken von einer „producierten“ geistigen Welt, die sowohl unabhängig von einer sie tragenden geschichtlichen Wirklichkeit verstanden werden soll als auch frei ist von einer politischen Identifikation; es geht nicht einmal um die Annahme von Objektivationen geistigen Lebens, vielmehr um eine Vorstellung von nur nackten Begriffen, die weder die Bedeutung einer „reinen“ oder jedenfalls einer allgemeinen Erkenntnis konkreter Erfahrungswirklichkeit besitzen, geschweige denn die ideale Funktion einer „praktischen“ Philosophie zu beanspruchen vermögen. Man kann in einer so verstandenen idealen Welt „reiner“ juristischer Begriffe in deren Verhältnis zum erkennenden Subjekt einen Bereich sogenannter „freier Idealität“ sehen; wie die Idealität der Mathematik weist sie keine Verbindung mit einer Realität auf im Unterschied von Begriffen einer sognannten „anhängenden Idealität“, die einer Realität anhaften und nicht losgelöst von ihr erkennbar sind,406 wie dies für die Rechtsbegriffe nach einer Vernunftidee von geschichtlichem Recht, nach der Vernunftidee von geschichtlichem Staatsrecht und Staat, gilt. Die Letztere bildet das essentielle Problemfeld der dargelegten begriffsjuristischen Rechtstheorie sowie jener Staatsrechtslehre „reiner“ juristischer Begriffe nach dem staatsrechtlichen Positivismus. Zusammengefasst und erkennbar erscheint die ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erfolgte wissenschaftstheoretische Abwendung der Staatsrechtslehre und ihrer Staatslehre von einem transzendentalphilosophischen Weg aus der Vernunftidee vom geschichtlichen Staat und Staatsrecht als ein komplexer Vorgang. Die wesentlichen unmittelbaren und positiven Begründungsfaktoren für den spezifischen juristischen Formalismus des staatsrechtlichen Positivismus sind bekanntermaßen, wie hier wiederholt zu erwähnen ist, sicherlich die seinerzeit in der Rechtswissenschaft generell und nachhaltig sich durchsetzende, aus der Historischen Rechtsschule 402
A.a.O., 3 f. A.a.O., 4. 404 A.a.O., 9. 405 A.a.O., 12 f. 406 Zur Realität des Abgemeinen Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt (Fn. 37), 375 ff. sowie zur Ablösbarkeit ideeller Allgemeinheit von der sie tragenden realen Seinsschicht ders., Das Problem des geistigen Seins (Fn. 37), 177 ff. 403
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und vornehmlich aus deren Zivilistik kommende Begriffsjurisprudenz gewesen sowie die hierdurch in rechtskonstruktiver Hinsicht gestützte politische, verfassungsgeschichtliche Behauptung des monarchischen Prinzips in der konstitutionellen Entwicklung, Letzteres in einer rechtskonstruktiven Verbindung mit einer ebenfalls in der Zivilistik maßgeblich zugrundegelegten Willenstheorie der Rechtsbeziehungen. Nicht abtrennbar erscheint jene Entwicklung der Staatsrechtslehre und ihrer Staatsauffassung aber auch von dem damaligen kulturgeschichtlichen Bruch mit der idealistischen Philosophie und von den hieraus resultierenden Jahren eines Bedeutungsverlustes der Philosophie; insofern erweist sich der begriffsjuristische Formalismus im staatsrechtlichen Positivismus auch als Erscheinung aus einem philosophischen Niemandsland. Unter solchen damals zeitgeschichtlichen Bedingungen und Voraussetzungen innerhalb der Staatsrechtslehre konnte ein demgegenüber aus der praktischen Vernunftphilosophie kommender transzendentalphilosophischer Weg zu einer Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat mit seiner philosophischen und spezifisch idealistischen Richtunggebung für die Staatsrechtslehre nur noch ins Leere stoßen. Diese Situation sollte sich nachfolgend in einer ganz bestimmten Hinsicht ändern. 3. – Im Verlaufe der weiteren ideengeschichtlichen Entwicklung der Staatsrechtslehre hatte der transzendentalphilosophische Weg einer Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat die Rolle eines ideengeschichtlich eigentlichen und gerade eines philosophisch prinzipiellen Widerparts zu verkörpern gegenüber der neukantischen Rechtsphilosophie,407 namentlich aus der Sicht von deren die Staatsrechtslehre und die Staatstheorie speziell betreffender normlogischer Rechtsund Staatslehre.408 Aus einer objektiven Perspektive dieser Letzteren hat jener transzendentalphilosophische Weg als das eigentliche Problemfeld zu gelten bei der betreffenden neuerlich unternommenen Selbstfindung der Staatsrechtslehre aus dem Geiste der Philosophie, und zwar gerade wegen des ideengeschichtlichen Rückgriffs der neukantischen Rechtsphilosophie gleichfalls auf die originäre Vernunftkritik. Dabei ist der von dort ausgehende transzendentalphilosophische Weg zu einer Vernunftidee des geschichtlichen Staatsrechts und Staates der genuine Bezugspunkt des Angriffs neukantischer Rechtsphilosophie gegen eine Grundlegung der Rechtswissenschaft in einer praktischen Vernunftphilosophie; objektiv stellt er den Zielpunkt dar der in der normlogischen Rechts- und Staatstheorie artikulierten prinzipiellen Anfeindung praktischer Vernunftphilosophie409 sowie der in Verbindung damit zu bringenden Ursprungs- und Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung und er ist schließlich bei objektiver Betrachtung Gegenstand der dementsprechenden neukantischen Kritik an einem staatsrechtlichen Begriff des Staates als einer eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit und als einer regulativen Vernunftidee der Staatsrechtslehre. Aufgrund der betreffenden gegensätzli407 408 409
Fn. 64. Fn. 85. Fn. 86.
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chen Anknüpfungen an die Vernunftkritik scheint die einer praktischen Vernunftphilosophie derselben folgende Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat mit ihrem Anspruch als einer erkenntnistheoretischen und ontologischen Grundlage für die Wissenschaftstheorie der Staatsrechtslehre im Blickfeld der erörterten seinerzeitigen fachspezifisch ideellen Entwicklung derselben überhaupt erst wieder wahrnehmungsfähig geworden zu sein. Es war jedenfalls die normlogische Rechts- und Staatslehre, mit der zur damaligen Zeit die Philosophie überhaupt erst erneut signifikant in die Staatsrechtslehre zurückgekehrt ist. Mag die neukantische Rechtsphilosophie und die sogenannte „Reine Rechtslehre“410 sich in gewisser Weise auch als eine rechtspositivistische Theorie bzw. als eine Fortentwicklung des rechtspositivistischen Rechtsdenkens und des betreffenden staatsrechtlichen Positivismus gesehen haben, so folgt sie in einer wesentlichen und entscheidenden Weise doch ganz anderen gesellschaftlichen sowie politischen Vorstellungen und Anliegen, nicht zuletzt auch einer ganz anderen wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Rechtswissenschaft; insbesondere führt sie auf die Vernunftkritik als den philosophischen Mittelpunkt in der Ideengeschichte der deutschen Rechtswissenschaft zurück. Es ist dieser besondere Umstand, der es im gegenständlichen thematischen Rahmen geboten erscheinen lässt, sich der neukantischen Rechtsphilosophie vor allem in deren zu einer normlogischen Theorie vom Staatsrecht und Staat führenden Richtung und Ausgestaltung noch einmal zuzuwenden, obwohl die Beschäftigung damit sowie die rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Auseinandersetzungen hiermit eigentlich ausgeschöpft erscheinen. Die „Reine Rechtslehre“ gilt bekanntlich über ihren kulturellen Herkunftsbereich hinaus als eine der großen Ereignisse und Entwürfe in der Ideengeschichte der Rechtstheorie. Mit der weiterhin nachhaltigen Wahrnehmung der ideengeschichtlichen normlogischen Rechts- und Staatstheorie innerhalb von Rechts- und Staatslehre sowie in einschlägig interessierten oder engagierten Kreisen kann jedenfalls eine transzendentalphilosophische Grundlegung von Staatsrechtswissenschaft und Staatstheorie in einer praktischen Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat, also eine Begründungsidee von Recht und Staat aus praktischer Vernunftphilosophie, nicht konkurrieren. Auch hat schließlich bekanntermaßen in einem der deutschen Rechtskultur zugehörigen Rechtsraum unter der dortigen Rechtsordnung die „Reine Rechtslehre“ sowie unter der dortigen Verfassungsordnung die normlogische Staatsrechtslehre und Staatstheorie die wissenschaftstheoretische, methodische Führung übernommen; bemerkenswerterweise ist es derjenige Rechtsraum, der unter den dort während der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts politisch und verfassungsgeschichtlich besonders wirkungsvollen Bedingungen der sogenannten Restaurationsepoche von Einflüssen idealistischer Philosophie und ihrer jeweiligen
410 Fn. 65 sowie Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, § 3 II bzw. § 3 III und ders., Allgemeine Staatslehre, 16. Aufl. 2010, § 6; ferner Bartlsperger (Fn. 3), 41 ff. und ders. (Fn. 2), 175 ff.
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staatsrechtlichen Bedeutungsgehalte mehr oder weniger isoliert war.411 Aber abgesehen von einem solchen Aspekt, der sich in ein Bild vom Wirkungsfeld der „Reinen Rechtslehre“ sowie ihrer normlogischen Rechts- und Staatslehre einfügt, hätten eine transzendentalphilosophische Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat sowie deren Ausgangspunkt in der praktischen Vernunftphilosophie auch dem fundamentalen weltanschaulich politischen Anliegen jener ersteren Rechts- und Staatstheorie entgegengestanden, die Rechtsordnung, namentlich die staatsrechtliche Ordnung und einen staatsrechtlichen Staatsbegriff sowie die staatsrechtliche Praxis, unter ein ausschließlich demokratisches Verfassungsprinzip zu stellen und demzufolge als einen „Stufenbau“ von nur positiv erkennbaren, keinesfalls zu bewertenden, ausschließlich willentlichen und dezisionistischen Rechtserzeugungsvorgängen zu sehen, und zwar ausgehend von der erwähnten fiktiven sogenannten „Grundnorm“ als Geltungsgrundlage bis hin zur Rechtsauslegung und Rechtsanwendung im Einzelfall; die Letzteren sollten als bloß noch logische Zuordnungsmöglichkeiten an ein in den betreffenden Normen vorhandenes Deutungsmuster fungieren. Ein solcher demokratisch legitimierter Rechtsdezisionismus richtete sich auf der einen Seite gegen eine in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aufgekommene Rechtstheorie materialistischer Rechtsentstehung und in anderer Richtung gegen den Normbegründungsanspruch einer praktischen Vernunftidee vom Recht sowie vom Staat als regulativer Vernunftidee des Staatsrechts. Gemeinsam ist einer vernunftbegründeten Staatsrechtslehre und ihrer Staatstheorie sowie der normlogischen Rechts- und Staatslehre allerdings die Verwerfung eines Rechtsverständnisses unmittelbar aus dem realen „Sein“ konkreter geschichtlicher, politischer und soziologischer Realität, die Verneinung einer Rechtsauslegung und Rechtsanwendung aus einer dem Recht angesonnenen unmittelbaren Greifbarkeit von dort verwirklichten konkreten Bedürfnissen und Interessen, der Ausschluss einer dementsprechend soziologisch begründeten teleologischen Rechtsmethode sowie überhaupt jeder organischen Staatsauffassung und „geisteswissenschaftlichen“ Methode der Staatsrechtslehre, die keine ontologische und wissenschaftstheoretische Trennung zwischen der geschichtlichen Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens und einer ideellen Allgemeinheit von Recht und Staat im Rechtssinne vornehmen. Zusammengefasst kann man diese Gemeinsamkeit in der Verwerfung jedes wissenschaftstheoretischen und methodischen sogenannten „soziologischen Monismus“ der Rechtswissenschaft sehen, der nicht zu unterscheiden in der Lage ist bzw. nicht trennen will zwischen der Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens einerseits sowie dem Staatsrecht und dem Staat in deren Seinsweise und in deren „juristischer“ Funktion einer jener geschichtlichen Wirklichkeit normativ gegenüberstehenden ideellen Allgemeinheit andererseits.412 Aber 411 G. Jellinek, Die deutsche Philosophie in Österreich (1874), in: Ausgewählte Schriften und Reden von Georg Jellinek, Erster Band, 1911, 55 ff. 412 Dazu von Seiten der normlogischen Rechts- und Staatslehre vor allem Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff 1922. Grundsätzlich zu diesem Methodenproblem der Staatsrechtslehre Badura (Fn. 116), 100 ff. und 107 ff.
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diese äußerlich feststellbare Gemeinsamkeit zwischen einer praktisch vernunftbegründeten Staatsrechtslehre und Staatstheorie einerseits sowie der neukantisch bestimmten normlogischen Rechts- und Staatstheorie andererseits ist nur vordergründig; sie besteht nicht in den jeweiligen philosophischen Begründungsansätzen und bei genauerer Betrachtung auch gar nicht in den rechts- und staatstheoretischen Ergebnissen. Unterschied und Gegensätzlichkeit liegen in der jeweils angenommenen, fundamental und konsequentiell verschiedenen positiven Funktion, welche die geschichtliche Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens, das betreffende politische und soziale Kollektiv, nach dem einen und nach dem anderen Standpunkt in der erkenntnistheoretischen bzw. in einer ontologischen Grundlegung der Rechtsund Staatstheorie sowie im wissenschaftstheoretischen, methodischen Verständnis der Rechtsauslegung und Rechtsanwendung zu beanspruchen haben. Die „Reine Rechtslehre“ sowie deren normlogische Rechts- und Staatstheorie müssen darin nur den Schauplatz und die Faktoren der von ihnen angenommenen willentlichen Rechtserzeugungsvorgänge im Stufenbau demokratisch legitimierter sukzessiver Rechtserzeugung sehen; getrennt davon können sie einem „reinen“ Rechtsmonismus folgen. Eine praktische Vernunftidee vom geschichtlichen Recht und Staat hingegen vermag in der geschichtlichen Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens, im betreffenden politischen und sozialen Kollektiv, lediglich den Schauplatz und die Faktoren zu sehen, aus denen nach dem vernunftbegründeten, apriori „Allgemeinen Prinzip des Rechts“, also nach dem vernunftnotwendigen allgemeinen Prinzip intersubjektiv wechselseitiger Komptabilität und Anerkennung, das Recht und der Staat in der Idee als eine jenen realen Vorgängen „anliegende Idealität“,413 als eine eigenständige und objektive ideelle Allgemeinheit entstehen; diese ist von jenen realen Vorgängen in ihrer erkenntnistheoretisch ideellen Gegenständlichkeit abhängig und wird von ihnen in ihrer ontologisch kategorialen Seinsweise getragen. Dem konnten die an den ursprünglichen Entwicklungsstand neukantischer Erkenntnistheorie bzw. Wissenschaftstheorie anknüpfende und sich darauf beschränkende neukantische Rechtsphilosophie sowie deren rechtstheoretische Ausgestaltung in der „Reinen Rechtslehre“ und in der normlogischen Rechts- und Staatstheorie lediglich die Argumentation entgegensetzen, dass die Vernunftkritik überhaupt nur eine Erkenntnistheorie aus „reiner Vernunft“ habe begründen, allein einer solchen theoretischen Vernunft eine Erkenntnisfunktion habe zuerkennen können und dass insofern eine praktische Vernunftphilosophie sowie eine darauf gestützte vernunftbegründete Rechtstheorie, Staatsrechtslehre und Staatslehre gar nicht möglich seien. Eine solche neukantische Beurteilung des vernunftbegründeten „Allgemeinen Prinzips des Rechts“414 konnte die betreffende, „nach einem allgemeinen Gesetz“ gebotene, in dem gemeinten Verständnis nur zu denkende Kompatibilität und wechselseitige Anerkennung „der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit“ jedenfalls lediglich als eine praktische Denkform und normative Idee ohne eine Erkenntnisfunktion in Bezug auf eine geschichtliche Wirklichkeit von Recht und 413 414
Fn. 406. Kant (Fn. 3), 39 (§ C).
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Staat sehen. Hiervon ausgehend konnte einer praktischen Vernunftidee vom geschichtlichen Recht und Staat, also einer vernunftbegründeten normativen Idee von Recht und Staat als einer erkenntnistheoretisch gegenständlichen, ontologisch existenten eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit, das Theorem einer logischen Trennung von Sein und Sollen, die logische Unmöglichkeit eines Schlusses von einem Sein auf ein Sollen entgegengestellt werden. Dieses Theorem ist, wie schon gesagt,415 unbestritten und nicht bestreitbar. Durchschlagend richtet es sich gegen alle methodischen Grundlegungen der Rechtswissenschaft, insbesondere der Staatsrechtslehre, die einem unmittelbaren Schluss von der geschichtlichen Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens auf den Rechtsinhalt folgen möchten, wie dies in bestreffenden wissenschaftstheoretischen und methodischen Folgerungen aus einer organischen Staatstheorie sowie in der sogenannten „geisteswissenschaftlichen Richtung“ der Staatsrechtslehre zu finden ist. Jedoch kann jenes Theorem die gegenständlich erörterte Vernunftidee vom geschichtlichen Recht und Staat nicht treffen. Wollte es als logisches Argument gegen eine solche vernunftbegründete Rechtslehre und Staatstheorie verwendet werden, würde es sich um einen Kampf gegen Windmühlen handeln.416 Der betreffende Gegensatz besteht vielmehr in einem fundamental unterschiedlichen Verständnis praktischer Vernunftphilosophie. Die neukantische Rechtsphilosophie sowie die normlogische Rechts- und Staatslehre möchten der praktischen Vernunftphilosophie nicht auf ihrem in der dargelegten Weise nachvollziehbaren, schon immanent angelegten ideengeschichtlichen Weg in den erkenntnistheoretischen und ontologischen Realismus folgen, auf dem ihre Erkenntnisfunktion offenbar beruht. Sie möchten die praktische Vernunft nur „denken“, aber sie nicht in ihrer realen Funktion eines wirklichen ideellen Vorganges „kennen“ und sie nicht in ihrer dementsprechenden Erkenntnisfunktion gebrauchen. Aus Sicht der Vernunftidee von geschichtlichem Staatsrecht und Staat erweist sich die praktische Vernunftphilosophie als das von der neukantischen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie sowie von der normlogischen Rechts- und Staatstheorie nicht bewältigte Problemfeld. Die Letzteren haben den originären, authentischen Aussagegehalt praktischer Vernunftphilosophie nicht in deren schon immanent angelegtem Bedeutungsgehalt praktischer Vernunft des realen Geschehens anerkennen, d. h. nicht in der Vernunftfunktion eines transzendenten Apriori bzw. eines transzendentalen Realismus sehen und nicht in diesem ideengeschichtlich konsequenten wirkungsgeschichtlichen Sinne zur Kenntnis nehmen wollen. Mit anderen Worten und zusammengefasst geht es nicht um das Theorem eines logisch unmöglichen Schlusses von einem Sein auf ein Sollen, vielmehr um den der praktischen Vernunftphilosophie und vornehmlich ihrem „Allgemeinen Prinzip des Rechts“ zugehörigen Vernunftschluss von den konkreten individuellen Freiheiten der „Willkür eines jeden“ auf die Idee der diesen realen Freiheiten kraft ihrer vernunftgebotenen
415
Oben Abschnitt VI. 2., Fn. 213 sowie bei Bartlsperger (Fn. 2), 176 f. Die praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat folgt einem Vernunftschluss, keinem logischen Schluss von einem Sein auf ein Sollen. 416
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Kompatibilität „anliegenden Idealität“ einer eigenständigen und objektiven normativen Allgemeinheit.417 Danach besteht der eigentliche Gegensatz zwischen einer vernunftbegründeten Rechts- und Staatslehre, zwischen deren Grundlegung in der erkenntnistheoretischen und ontologischen Annahme einer Vernunftidee vom geschichtlichem Recht und Staat auf der einen Seite, sowie der „Reinen Rechtslehre“ und ihrer normlogischen Rechts- und Staatstheorie auf der anderen Seite in dem Für und Wider um ein Verständnis praktischer Vernunft als bloßer praktischer Denkform oder um ein Verständnis derselben, die einen Vernunftschluss von konkreten individuellen Bestimmungsgründen des Handelns auf eine Idee eigenständiger und objektiver normativer Allgemeinheit eröffnet; mit Blick auf die geschichtliche Wirklichkeit von Recht und Staat geht es, wie hier nochmals festzuhalten ist, um eine Erkenntnisfunktion praktischer Vernunftphilosophie für eine Vernunftidee vom geschichtlichen Recht und Staat.418 Diese von der neukantischen Rechtsphilosophie sowie von deren normlogischer Rechts- und Staatstheorie verneinte Erkenntnisfunktion praktischer Vernunft gilt dem Umstand, dass das transzendentale Vermögen praktischer Vernunft den Vernunftschluss eröffnet vom realen Rechts- und Staatsleben auf die Idee einer diesem „anhängenden“ eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit von Recht und Staat im Sinne von deren erkenntnistheoretischer Gegenständlichkeit und ontologischer Seinsweise. Die Bedeutung dieser Erkenntnisfunktion praktischer Vernunft für die Rechts- und Staatstheorie liegt also darin, dass diese das Recht und den Staat unter der Vorrausetzung von deren geschichtlicher Wirklichkeit als eine vom realen Rechts- und Staatsleben ontologisch getragene, jener Realität „anhängende Idealität“,419 als eine eigenständige und objektive ideelle Allgemeinheit erkennen können, d. h. das Recht sowie in gleicher Weise den Staat in seiner Funktion als regulativer Idee des Staatsrechts in einer solchen erkenntnistheoretischen Gegenständlichkeit und in einer derartigen ontologisch kategorialen Seinsweise wahrzunehmen vermögen sowie darin schließlich die Grundlage für eine Wissenschaftstheorie von Rechtswissenschaft und Staatsrechtslehre besitzen. Wohlgemerkt kann mit einer solchen Erkenntnisfunktion praktischer Vernunft für die Rechts- und Staatslehre nicht gemeint sein, dass die konkreten Bestimmungsgründe im realen Rechts- und Staatsleben, die betreffenden Bedürfnisse, Interessen und Motive von Einzelnen und Gruppen bzw. deren kollektive Manifestationen, den unmittelbaren Ausgangs- und Anknüpfungspunkt, die unmittelbare Grundlage für die erkenntnistheoretische Gegenständlichkeit von Recht und Staat bilden könnten. Zwar ist es die Voraussetzung praktischer Vernunftphilosophie unter den Bedingungen von 417
Dazu Fn. 406. Zur Erkenntnisfunktion praktischer Vernunft kraft des nachvollziehbaren Vermögens von Vernunftwesen, ihren Willen aus der Kausalität von Bestimmungsgründen zu begreifen, siehe wiederholtermaßen bei Bartlsperger (Fn. 2), 177 mit den betreffenden Nachw. zu Luf (ders., Überlegungen zum Verhältnis von Entscheidung und Rechtfertigung im Recht, 1983, in: ders., Freiheit als Rechtsprinzip, 2008, 41 ff.). 419 Dazu Fn. 406. 418
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deren transzendentalem Realismus, also im Rahmen der gegenständlichen Thematik im Hinblick auf das geschichtliche Staatsrecht und den geschichtlichen Staat, dass das Handeln unter Vernunftbedingungen aus einer individuellen Freiheitsbetätigung unter einer vernunftbegründeten Kausalität konkreter Bestimmungsgründe, d. h. aus einer realen Vernunftkausalität von Freiheitswahrnehmung und Willensbetätigung zu verstehen ist.420 Aber die Vernunftidee vom geschichtlichen Recht und Staat als Idee von der eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit des Rechts und des Staates entsteht erst in dem Vernunftschluss, wonach die intersubjektive Vergegenwärtigung bzw. Betätigung individueller Freiheiten durch ihrer sich selbst bewusste Subjekte sowie eine daraus resultierende wechselseitige Anerkennung eine erkenntnistheoretisch gegenständliche und ontologisch existente eigenständige und objektive ideelle Allgemeinheit hervorbringen. Es ist der betreffende Vernunftschluss praktischer Vernunftphilosophie, der die Brücke darstellt vom konkreten realen Rechts- und Staatsleben zu einer Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat, also zu der Idee von einer erkenntnistheoretisch gegenständlichen und ontologisch existenten eigenständigen und objektiven ideellen, sinnerfüllten Allgemeinheit des Rechts und des Staates. Jedenfalls ist es jener staatstheoretische und staatsrechtliche Vernunftschluss praktischer Vernunftphilosophie von der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens auf die „eine“ Vernunftidee vom geschichtlichem Staatsrecht und Staat, der das ideengeschichtliche Dilemma der Staatsrechtslehre aufzulösen vermag bzw. schon von Anfang an hätte zu vermeiden vermocht, in das sie abgesehen von der normlogischen Rechts- und Staatstheorie auch andere ZweiSeiten-Theorien von einem „soziologischen“ und einem „juristischen“ Staatsbegriff geführt haben und das zur bekannten methodischen „Krisis der Staatslehre“, gemeint ist zur Krise der Staatsrechtslehre, geworden war.421 Die normlogische Rechts- und Staatstheorie ist dabei lediglich der wegen ihrer radikalen neukantischen Begründung, überhaupt wegen ihrer erkenntnistheoretischen Konsequenz sowie wegen ihrer forcierten Präsentation und Verteidigung bekannteste Vergleichs- und Kontrastfall. Demgegenüber lässt sich der Aussage- und Bedeutungsgehalt des staatstheoretischen und für die Staatsrechtslehre methodischen Vernunftschlusses auf die staatstheoretisch und staatsrechtlich „eine“ Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat deutlich vergegenwärtigen und entsprechend verallgemeinern, sowohl was seine Präzisierung und Konsequenz sowie nicht zuletzt was seine Anschaulichkeit in 420
Dazu Fn. 418. Bei Kelsen engagiert arktikuliert in: ders., Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 1992. Bei G. Jellinek mit einer insofern gleichen neukantischen Begründung die bekannte Zwei-Seiten-Theorie mit der Unterscheidung in eine „Allgemeine Soziallehre des Staates“ und eine „Allgemeine Staatsrechtslehre“ (ders., Allgemeine Staatslehre, a.a.O., 129 ff. bzw. 383 ff.). Einer im Ergebnis gleichen Zwei-Seiten-Theorie folgt schon der staatsrechtliche Positivismus, wenn in dessen methodologischer Begründungsidee der „staatstheoretischen“ Vorstellung von einem staatlichen Organismus aus Gründen einer spezifisch begriffsjuristischen Methode eine „juristische“ Bedeutung für die Staatsrechtslehre abgesprochen wird (Bartlsperger, Fn. 2, 172; ders., Fn. 3, 33 f.; ders., Fn. 191, 25 ff.). 421
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der Sache betrifft als auch vor allem was seine Gegensätzlichkeit gegenüber jeder staatstheoretischen und staatsrechtlichen Zwei-Seiten-Theorie vom Staatsbegriff der Staatsrechtslehre sowie gegenüber jeder methodologischen Zweiteilung in eine Sozialtheorie des Rechts und in die Jurisprudenz angeht. 4. – In der Sache lässt sich der staatstheoretische und staatsrechtliche Vernunftschluss praktischer Vernunftphilosophie von der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens auf die Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat nicht nur in seinem erkenntnistheoretischen Aussage- und Bedeutungsgehalt, d. h. wegen seiner spezifischen Erkenntnisfunktion praktischer Vernunftphilosophie für Staatslehre und Staatsrechtlehre, als die entscheidende Gegenposition gegenüber der staatstheoretischen und staatsrechtlichen Zwei-SeitenTheorie der normlogischen Rechts- und Staatstheorie sowie gegenüber jeder anderen methodisch vergleichbaren „juristischen“ Staatstheorie und Staatsrechtslehre beurteilen. Vielmehr liegt der Unterschied und Gegensatz zu den betreffenden staatstheoretischen und staatsrechtlichen Zwei-Seiten-Theorien auch auf den Ebenen einer gegenstandsspezifischen Logik sowie einer dementsprechenden ontologischen Perspektive. Der Betrachtung einer gegenstandsspezifischen, interobjektiven Logik folgend ist schon angesprochen worden, dass die Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat nichts anderes, nicht mehr, aber auch nicht weniger zutage fördert als die Idee von einer dem konkreten geschichtlichen Rechts- und Staatsleben ideal anhängenden eigenständigen objektiven ideellen Allgemeinheit des Staatsrechts und des Staates, die kraft ihres vernunftgebotenen Anspruchs einer allseitigen Kompatibilität der betreffenden realen Bestimmungsgründe nicht nur den Charakter einer Generalisierung aufweist, vielmehr ihre eigene sinnerfüllte Objektivität besitzt. Zwar hat sie in dem betreffenden konkreten geschichtlichen Rechts- und Staatsleben eine sie im Sinne gegenstandsspezifischer Logik jedenfalls tragende „Seite“. Aber ungeachtet jenes ihres realen Getragenseins vom betreffenden konkreten politischen und sozialen Kollektiv besitzt sie ihre eigene erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Gegenständlichkeit und nur diese eine „ideale Seite“ einer selbst sinnerfüllten eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit. Eine ontologische Perspektive vermag diese erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretische Sache auf ihre fachspezifische Weise noch weiter zu verdeutlichen, zu präzisieren und zu veranschaulichen. Ersichtlich besagt die Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat auch und vor allem etwas zum Seinsverhältnis des Staatsrechts und des Staates im staatsrechtlichen Sinn gegenüber der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens. Danach hat die Letztere die in einer ontologisch kategorialen Sicht nicht wegzudenkende Seinsfunktion der real tragenden Seinsschicht für eine ihr ideal anhängende eigenständige und objektiv sinnerfüllte, ideelle Allgemeinheit des Staatsrechts und des Staates im staatsrechtlichen Sinne. Ohne das ontologisch kategoriale Getragensein vom konkreten politischen und sozialen Kollektiv wäre eine Vernunftidee vom Staatsrecht und vom Staat lediglich eine Denkform im Sinne der in der originären Vernunftkritik authentisch formulierten Idee vom Staatsrecht und Staat, die nur dem „Staat in der Idee,
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wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll“, gelten würde und wie er „jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient“.422 Demnach wären auch ein rein formaler „juristischer“ Begriff vom Staatsrecht und vom Staat sowie eine damit verbundene erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Abtrennung von der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens mittels einer staatstheoretischen und staatsrechtlichen Zwei-Seiten-Theorie folgerichtig. Indessen fehlt einer solchen im Neukantianismus vollzogenen abschließenden und ausschließlichen Anknüpfung an die originär entwickelte, authentisch formulierte Vernunftidee vom Staatsrecht und vom Staat die Vergegenwärtigung von deren erörtertem, ersichtlich immanenten und ideengeschichtlich zwingend ausgewiesenen Aussage- und Bedeutungsgehalt als Vernunftidee eines auch schon transzendentalen Realismus, also einer Vernunftidee auch schon vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat. Es geht bei der von der neukantischen Rechtsphilosophie ideengeschichtlich beanspruchten und genutzten originären und authentisch artikulierten Vernunftphilosophie, namentlich bei deren Vernunftidee vom Staatsrecht und vom Staat, letztlich um das „Für und Wider“, dass die Vernunftkritik die Ontologie kritisch, dass aber der Seinsgedanke die Vernunftidee ontologisch gemacht hat.423 Ontologisch besagt der Vernunftschluss von der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens auf die Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat, dass kategorial getragen und vermittelt von der realen, konkreten „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ Staatsrecht und Staat als Vernunftidee die Seinsweise einer jener geschichtlichen Wirklichkeit ideal anhängenden Allgemeinheit eines eigenständigen und objektiven Sinngehalts besitzen, dass sie als solche eine eigene erkenntnistheoretische Gegenständlichkeit zu beanspruchen haben und eine eigenständige wissenschaftstheoretische Einheit darstellen. Als Vernunftidee im Verständnis des transzendentalen Realismus haben Staatsrecht und Staat keine zwei getrennten „Seiten“, vielmehr kennzeichnet sie lediglich eine ontologisch kategoriale Zweischichtigkeit, wie sie allen objektiven und objektivierten geistigen Seinsgebilden eigen ist, ohne deren „eine“ erkenntnistheoretisch eigenständige Gegenständlichkeit und wissenschaftstheoretisch eigenständige Seinsweise in Frage zu stellen.424 Der von der normlogischen Rechts und Staatstheorie vertretenen, auf der erkenntnistheoretischen Grundlage des radikalen Neukantianismus beruhenden ZweiSeiten-Theorie von einem „soziologischen“ und einem bloß gedachten „juristischen“ Staatsbegriff sowie von einer methodisch nur diesem Letzteren verpflichteten Staatsrechtlehre steht die Vernunftidee von der nur „einen“ eigenständigen, ideellen Gegenständlichkeit und ideellen Seinsweise des Staatsrechts und des Staates im 422
Kant (Fn. 3), 39 (§ C). Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (Fn. 37), 193 ff.; Zitat a.a.O., 195. 424 Insofern im Sinne der „neuen“ Ontologie zum „objektiven Geist“ bzw. zum „objektivierten Geist“ Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins (Fn. 37), 175 ff. bzw. 406 ff. 423
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staatsrechtlichen Sinne als die prinzipielle ideengeschichtliche Kontrastposition gegenüber. In ihrer dargelegten, konsequenterweise spezifisch ontologischen Grundlegung von Staatstheorie und Staatsrechtslehre konnte sie von jener der radikalen neukantischen Erkenntnistheorie folgenden staatsrechtlichen Zwei-SeitenTheorie als eigentliches ideengeschichtliches Problemfeld nicht aufgenommen, gar nicht erst vergegenwärtigt, geschweige denn bewältigt werden. Der betreffende ideengeschichtliche Gegensatz kennzeichnet auch alle anderen im Ergebnis vergleichbaren staatsrechtlichen Zwei-Seiten-Theorien425 und deren fundamentale Verwicklung in eine wissenschaftstheoretische Grundlegung von Staatsrechtslehre und staatsrechtlicher Staatstheorie ohne eine ontologische Grundlegung derselben. Eine solche Beurteilung bliebe unvollständig, würde man den Bedeutungsgehalt staatsrechtlicher Zwei-Seiten-Theorien über die erörterte unbewältigte Problematik einer ontologischen Grundlegung der Wissenschaftstheorie von Staatslehre und Staatsrechtslehre hinaus an dieser Stelle nicht auch nochmals in den spezifisch staatsrechtlichen Konsequenzen nachdrücklich vor Augen führen. Die wie auch immer begründete wissenschaftstheoretische Aufspaltung in eine Sozialtheorie vom Staatsrecht und in „juristische“ Denkformen der Staatsrechtslehre versperrt dem Staatsrecht den Zugang zu seiner „einen“ erkenntnistheoretischen Gegenständlichkeit und Seinsweise als einer eigenständigen und objektiven ideellen, selbst sinnerfüllten Allgemeinheit. In zweifacher Hinsicht impliziert dieser Umstand einen fundamentalen verfassungsstaatlichen Verlust für das Staatsrecht. Nicht nur geht diesem seine verfassungsstaatliche Funktion einer material inhaltlichen, wertbezogenen Normativität gegenüber der konkreten Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens verloren. Desaströs ist nicht zuletzt auch schon ein Verlust der Begründungsidee vom Verfassungsstaat überhaupt, nämlich der Idee von der „einen“ geschichtlich existenten, kraft ihrer freiheitlichen und demokratischen Vernunftbegründung sich selbst tragenden staatsrechtlichen Ordnung und Staatlichkeit im Unterschied zu jeder anderen, nur „juristisch“ konstruierten staatsrechtlichen Herrschaftsordnung, mag eine solche im betreffenden Falle auch noch so dezidiert und engagiert mit dem politischen Postulat und der politischen Voraussetzung einer freiheitlich demokratischen Wirklichkeit des Staates verbunden werden.426 Das auch unter den genannten sowohl erkenntnistheoretisch ontologischen als auch verfassungsstaatlichen Aspekten unverkennbar bestehende, unbewältigte Problemfeld staatsrechtlicher Zwei-Seiten-Theorien erscheint in der normlogischen Rechts- und Staatstheorie wegen deren Grundlegung im radikalen Neukantianismus sicherlich am deutlichsten greifbar und von besonderer ideengeschichtlicher Charakteristik. Davon kann aber nicht überdeckt werden, dass der Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat sowie deren angesprochenem verfassungsstaatlichen Bedeutungsgehalt in der den radikalen Neukantianismus modifizieren425
Fn. 421. Wie das eindrücklich im Falle der normlogischen Rechts- und Staatstheorie von Kelsen der Fall ist; dazu die speziellen Nachw. in Fn. 63. 426
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den, sich auch einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung der „Geisteswissenschaften“ öffnenden Schule des sogenannten Südwestdeutschen Neukantianismus427 eine weitere ideengeschichtliche Gegenposition erwachsen war; man hat ihr sogar „einen ungewöhnlich starken Einfluss auf die positive Rechtswissenschaft“ zu bestätigen vermocht.428 5. – In der Sache und anhand der betreffenden, als fortgeschritten zur betrachtenden und am Ende als maßgeblich anzusehenden Ausgestaltung präsentiert sich jene „südwestdeutsche“ Rechtstheorie auf eine wissenschaftstheoretisch bezeichnende Weise letztlich in Gestalt einer der Rechtsphilosophie bzw. der Rechtswissenschaft generell geltenden empirischen „Methodologie der Rechtswissenschaft.“429 Mit Nachdruck sieht sich diese im Unterschied zu der von ihr verstandenen „Philosophie des Rechts“ einer „Philosophie der Wissenschaft“ verpflichtet; die Letztere gilt nicht dem „Werttypus Recht“, vielmehr dem „Werttypus Wissenschaft“ zugeordnet.430 Demzufolge soll es sich um eine „Methodologie der empirischen Rechtswissenschaft“ handeln, die „streng methodisch gesehen nicht in die Philosophie des Rechts, sondern in die Philosophie der Wissenschaft“ gehöre.431 Einer „Rechtsphilosophie“ werde sie nur mit Rücksicht darauf zugezählt, dass es die „Logik der Rechtswissenschaft“ sei, die „gerade das gegenwärtig bei weitem am meisten kultivierte Gebiet der Rechtsphilosophie“ ausmache, und dass es die „positive Jurisprudenz“ sei, die „sehr wertvolle Beiträge hierzu geliefert“ habe.432 Danach ist offensichtlich, dass es sich nur um ein weiteres ideengeschichtliches Kapitel handelt im Ringen des Neukantianismus um eine aus der Erkenntnistheorie allein theoretischer Vernunft begründbare rein „juristische“ Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, also ein weiteres mal um eine formalistische Empirie vom Recht; allerdings geht es hierbei um eine im bekannten Sinne des südwestdeutschen Neukantianismus „kulturwissenschaftlich“ verfeinerte und insofern um eine entsprechende Zwei-Seiten-Theorie des Rechts. Die Entschlüsselung dieser „südwestdeutschen“ Rechtstheorie macht einen nicht geringen Aufwand, um im Ergebnis nur ebenfalls wiederum feststellen zu können, dass auch ihr jeder ansatzweise noch so geringe Zugang zu einer praktischen Vernunftidee vom geschichtlichen Recht, 427 Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft (1894), in: ders., Präludien, 5. Aufl. 1915, Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1902, Lask, Gesammelte Schriften in drei Bänden, hgg. von Herrigel, 1923. Dazu Ollig, Neukantianismus, in: Fellmann, Geschichte der Philosophie im 19. Jahnhundert, 1996, 197 ff., Holzey, Der Neukantianismus, in: Hügli/Lübcke (Hg.), Philosophie im 20. Jahrhundert, Bd. 1, 1998, 19 ff. und ders., Der Neukantianismus, in: Holzey/Röd (Hg.), Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, 2004, 13 ff. 428 E. Kaufmann (Fn. 228), 202. 429 Lask, Rechtsphilosophie (1905), hier in: Lask (Fn. 427), I. Band, 275 ff., speziell zur „Methodologie der Rechtswissenschaft“ a.a.O., 306 ff.; dazu Hobe, ARSP 59 (1973), 221 ff. sowie weitere Nachw. bei dems., a.a.O., 221 f. Fn. 2. 430 A.a.O., 306 f. 431 A.a.O. 432 A.a.O., 307.
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also zur ontologischen Grundlegung einer Wissenschaftstheorie des Rechts in dessen eigenständiger und objektiver ideeller Seinsweise versperrt ist. Ungeachtet von gegenständlich zu vernachlässigenden „schulinternen“ Entwicklungen und Unterschieden innerhalb des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus gilt bekanntlich dessen allgemeiner und gemeinsamer ideengeschichtlicher Aussage- und Bedeutungsgehalt der Vergegenwärtigung, Begründung und Rechtfertigung von wissenschaftstheoretisch eigenen und spezifischen Geistesbzw. Kulturwissenschaften auf der Grundlage einer sogenannten Wert- und Kulturphilosophie. Im Unterschied zu der im radikalen Neukantianismus entschieden verfochtenen reinen Erkenntnisbezogenheit der Erkenntnisrelation, d. h. einer Erkenntnistheorie bloßer „Denkformen“, möchte der sogenannte südwestdeutsche Neukantianismus in der Erkenntnisrelation von Subjekt und Objekt durchaus auch das Gegebene in seiner erkenntnistheoretischen Gegenständlichkeit berücksichtigen, also eine Gegenstandsbezogenheit der Erkenntnis annehmen. Neben den Naturwissenschaften als den auf das apriorisch Allgemeine der Wirklichkeit wertfrei gerichteten und insofern „nomothetischen“ Erfahrungswissenschaften will er danach auch eine Wissenschaftstheorie der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften begründen, die das geistige Geschehen und die Welt des geistigen Ausdrucks in deren Besonderheit und Individualität auf der Grundlage einer kulturbezogenen Betrachtung, einer sogenannten „idiographischen“ Methode erfassen. Die dazu gegenständlich anstehende Frage nach den Konsequenzen jener „idiographischen“ Methode der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften für eine wissenschaftstheoretische Grundlegung der Rechtswissenschaft, einschließlich und namentlich der Staatsrechtslehre und ihrer Staatstheorie, sollte sich, wie schon angesprochen, auf die dazu letztlich als maßgeblich erscheinende Ausarbeitung zu einer aus dem sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus entwickelten „Philosophie des Rechts“ sowie auf deren genannte „Methodologie der Rechtswissenschaft“ verwiesen sehen.433 Abzusehen ist jedenfalls von rechtsphilosophischen bzw. rechtstheoretischen Positionen, die sich in ihrer Grundlegung auch in einer Verbindung mit dem sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus sehen wollen oder in einen solchen Zusammenhang gebracht werden mögen, aber vor allem im vorliegend interessierenden ideengeschichtlichen Vergleich mit der Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat kaum ergiebig erscheinen. Wenn an der beteffenden „südwestdeutschen“ Rechtsphilosophie bzw. Rechtstheorie generell im Gegensatz zu ihrem angeblichen starken Einfluss auf die Rechtsdogmatik ein „Mangel an abgeschlossenen und charakteristischen Leistungen“ vermerkt wird,434 so braucht diese Kritik letztlich die genannte, zu einer fortgeschrittenen Form ausgearbeitete „Philosophie des Rechts“ und „Methodologie der Rechtswissenschaft“ aus der Schule des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus nicht unbedingt zu betreffen. Denn es konnte ihr immerhin auch bestätigt werden, den förmlichen Charakter des philosophischen Denkens im 433 434
Fn. 429. E. Kaufmann (Fn. 228), 202.
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Neukantianismus „intensiv durchgeführt“ sowie die dualistische „Auseinanderreißung von Wert und Wirklichkeit“ festgehalten zu haben.435 Diese resümierende wissenschaftstheoretische Charakterisierung vermag jedenfalls zu verdeutlichen, in welcher fundamentalen Weise auch die „südwestdeutsche“ Rechtstheorie in einer philosophiegeschichtlichen Distanz zur Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat sowie zu deren verfassungsstaatlicher Begründungsidee steht. Mit Blick darauf hat man letztlich vor allem der genannten „Methodologie der Rechtswissenschaft“ in ihrem „kulturgeschichtlich“ verfeinerten Aussage- und Bedeutungsgehalt genauere Aufmerksamkeit zu widmen. Wenn erwogen worden ist, dass man in jenem angesprochenen Falle bereits eine Fortentwicklung über den sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus hinaus nicht ausschließen und dass man zweifeln könne, ob diesem jene „Methodologie der Rechtswissenschaft“ noch ganz zuzurechnen sei,436 so lässt sich dem schwerlich folgen. Die betreffende, letztlich als repräsentative Ausgestaltung angesehene Darstellung vermittelt insofern, auch wenn sie sich in ihrer argumentativen und kommunikativen Dichte sowie in ihrer vorausgesetzten eigengearteten „kulturwissenschaftlichen“ Terminologie nicht leicht erschließt, ein im Ergebnis zweifelfreies und recht eindeutiges Bild von der im sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus entstandenen Rechtstheorie und Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft. Sie mündet in eine „Methodologie der empirischen Rechtswissenschaft“.437 Ausgangspunkt und Grundlage jener „südwestdeutschen“ Rechtsschule lassen sich allerdings nicht erst aus deren genannter, betreffender „Methodologie der Rechtswissenschaft“ ersehen; definitiv ersichtlich sind sie bereits, wenn man sich den ideengeschichtlichen Standort jener Richtung des Neukantianismus in der spezifisch rechtsphilosophischen Frage nach einer Wertbeziehung des Rechts vergegenwärtig. Selbstredend hat der sogenannte südwestdeutsche Neukantianismus Teil an der philosophiegeschichtlichen Abwendung des neunzehnten Jahrhunderts von der metaphysischen Spekulation einer naturrechtlichen Metaphysik.438 Aber nicht weniger fundamental für jene Richtung des Neukantianismus erscheint, dass sie in jener Frage und in rechtswissenschaftlicher Hinsicht auch eine prinzipielle erkenntnistheoretische Gegenposition gesucht hat gegenüber der in der damaligen Epoche für das generelle Erscheinungsbild der Rechtswissenschaft bestimmend gewordenen historischen Rechtsschule,439 welche die Empirie unter der Perspektive ihrer tatsächlichen Inhaltlichkeit betrachtet, eine überempirische Bedeutung des empirischen Rechts voraussetzt und folglich die Wirklichkeit des Rechts unter dem Gesichtspunkt ihres Wertgehaltes beurteilen konnte; auch die fachspezifische Staatsrechtslehre war hierdurch bekanntlich bis zu dem ideengeschichtlichen Um435 436 437 438 439
A.a.O. A.a.O. A.a.O., 306 f. A.a.O., 283 ff. A.a.O., 278, 289, 291.
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schlag in den staatsrechtlichen Positivismus weitgehend geprägt. Jene „kritische Wertlehre“ des Historismus wollte die empirische, die geschichtliche Rechtswirklichkeit als die „eine“ Realität und als das Substrat auch überempirischer Werte bzw. allgemeingültiger Bedeutungen sehen. Unter der Voraussetzung einer solchen „einen“ Geschichtlichkeit des Rechts konnte eine gedankliche Trennung von Wert und empirischer Wertrealität vollzogen und dementsprechend ein Dualismus von philosophischer und empirischer Rechtsmethode angenommen werden. Aber von einer solchen Zwei-Seiten-Betrachtung des Rechts hatte sich die „südwestdeutsche“ Rechtsschule aufgrund ihrer empirischen, „kulturgeschichtlichen“ Betrachtungsweise der geistigen Welt, aufgrund ihrer dementsprechenden Wissenschaftstheorie empirischer „Kulturwissenschaft“ zu unterscheiden. Bei deren „idiographischer“ Erfassung des Rechts als empirischem Kulturprodukt sind aus rechtsphilosophischer Sicht Wertbeurteilung und Wirklichkeitsbetrachtung des Rechts von vornherein zu trennen, die Kulturbedeutung des Rechts „nicht als direkte Wertbeurteilung, sondern lediglich als rein theoretische Wertbeziehung, d. h. als Mittel der bloßen Wirklichkeitsumformung aufzufassen“.440 Für die Rechtswissenschaft hatte dies zu bedeuten, dass sie wissenschaftstheoretisch nur mehr als eine empirische Kulturwissenschaft verstanden werden musste. Es kann überhaupt keine Rede davon sein, wie immerhin erwogen worden ist, dass auf der Grundlage jener Auffassung von Rechtsphilosophie die Wissenschaftstheorie des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus möglicherweise die Schranken dieser Richtung bereits verlassen haben könnte, welche die Rechtswissenschaft lediglich als eine empirische Kulturwissenschaft versteht.441 Vor allem liegt es, wie im vorliegenden thematischen Zusammenhang hervorzuheben ist, außerhalb der erkenntnistheoretischen Wahrnehmungsfähigkeit jener „südwestdeutschen“ Rechtsphilosophie und von deren Methodologie einer empirischen Rechtswissenschaft, eine Wertbeziehung des Rechts als Ergebnis eines praktischen Vernunftschlusses anzuerkennen, der von der empirischen Wirklichkeit individueller Freiheitsrealisierung kraft des vernunftbegründeten „Allgemeinen Prinzip des Rechts“, d. h. von einer vernunftnotwendigen wechselseitigen Komptabilität jener individuellen Freiheiten, zur Idee vom Recht in der Seinsweise einer eigenständigen und objektiven ideellen, selbst wertbezogenen Allgemeinheit führt. Die „kulturwissenschaftliche“ Rechtsbetrachtung des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus vermochte aufgrund der auch von ihr festgehaltenen neukantischen Verengung der Erkenntnistheorie auf die „reine“ Vernunftkritik theoretischer Vernunft ihre Methodologie einer „empirischen Rechtswissenschaft“ nicht im Sinne einer praktischen Vernunftkritik zu Ende zu denken; sie konnte keinen Zugang finden zu dem aus praktischer Vernunft resultierenden Ergebnis, dass nämlich die Kulturbedingungen des Rechts keine bloße, wissenschaftlich zu Ende gedachte Welt von „juristischen“ Normbedeutungen darstellen, vielmehr eine der empirischen Wirklichkeit des Rechts ideal anhängende Seinsweise einer eigenständigen und objektiven ideellen, selbst wertbezogenen Allgemeinheit bilden. Die 440 441
A.a.O., 289 f. E. Kaufmann (Fn. 228), 202 f.
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„südwestdeutsche“ Philosophie des Rechts kennt die Rechtswissenschaft ausschließlich als empirische Rechtswissenschaft, als „Methodologie im engeren Sinne“.442 Deren bloßem „kulturwissenschaftlichen“ Empirismus ist eine wissenschaftstheoretisch eigenständige und objektive „kulturelle“ Seinsweise des Rechts als Ergebnis praktischer Vernunft und aufgrund von deren erkenntnistheoretisch transzendentalem Realismus sowie von dessen ontologischer Konsequenz für eine Vernunftidee vom geschichtlichen Recht nicht zugänglich. Jene nachweisliche rechtsphilosophische Voraussetzung des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus von einer strikten Trennung der philosophischen Frage nach einer Wertbeziehung des Rechts einerseits und einer allein dem Wissenschaftswert verpflichteten empirischen Rechtswissenschaft andererseits hatte folgerichtig zu einer, zu der genannten „Methodologie der empirischen Rechtswissenschaft“ zu führen. Die Letztere ihrerseits verlangt dann den Nachvollzug, um nicht zu sagen die Hinnahme, einer in gleicher Weise spezifisch empirischen, weiteren Differenzierung einer wissenschaftstheoretischen Beurteilung des Rechts; dabei handelt es sich freilich um bemerkenswerte Beobachtungen bzw. Annahmen. Zum einen wird der Blick auf die Situation des Rechts innerhalb einer systematischen Gliederung der „Kulturwissenschaften“ nach den verschiedenen „Kulturtypen“ gelenkt und dabei die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, dass die Kulturdisziplinen nicht nur im Verhältnis einer Nebenordnung stehen, dass sie vielmehr auch in einem Verhältnis der Über- und Unterordnung zu ihrem jeweiligen „Moment des Sozialen stecken“, sich insofern als jeweils homogener Teilausschnitt aus dem „komplexen Kulturmaterial“ herauslösen, „in dem sie in konkrete Zusammenhänge eingebettet sind“;443 dieser Umstand gilt der betreffenden „Kulturwissenschaft“ als „das allgemeinste Schema der Wissenschaftsklasse, der unter anderem die Rechtswissenschaft angehört“.444 Jene „Methodologie der Rechtswissenschaft“ begründet daraus die Annahme von einer besonderen eigenen „Sozialtheorie des Rechts“ im Unterschied zur „Jurisprudenz“ im wissenschaftstheoretischen Sinne.445 Auffallend ist an dieser sozialtheoretischen Beurteilung und Sicht des Rechts eine von dem dortigen Standpunkt aus nicht bemerkte, aber in der Sache offensichtliche gedankliche Verbindung mit der im vorstehenden Erörterungszusammenhang der normlogischen Rechts- und Staatstheorie angesprochenen ontologischen Zweischichtentheorie der sogenannten „neuen Ontologie“ zur Seinsweise objektiver geistiger Gebilde. Wie in jener normlogischen Rechts- und Staatstheorie, die für die Rechtswissenschaft entschieden sogar nur zu der einen „reinen“ Normlogik des Rechts gelangen will, ist ersichtlich in der „südwestdeutschen“, hier erörterten „Methodologie der Rechts442
Lask (Fn. 429), 306. A.a.O., 310. 444 A.a.O., 310 f. 445 A.a.O., 311 unter Hinweis und Bezugnahme auf solche gleiche, in der Rechtswissenschaft schon vorausgegangene erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretische bzw. methodologische Unterscheidungen, auch auf die bekannte sogenannte Zwei-Seiten-Theorie in der Staatslehre von G. Jellinek (siehe Fn. 421). 443
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wissenschaft“ nicht erkannt, dass das notwendige reale Getragensein des Rechts durch ein betreffendes konkretes soziales Substrat nicht zu einem wissenschaftstheoretischen Methodendualismus des Rechts bzw. zu einer staatstheoretischen „Zwei-Seiten-Theorie“ führen kann, sondern lediglich eine ontologische Zweischichtigkeit geistigen Lebens bzw. der „Kulturtypen“ in deren realer Seinsweise begründet. Jedenfalls hat die im Rahmen des südwestdeutschen Neukantianismus entwickelte „Methodologie der Rechtswissenschaft“ aus dem Verhältnis einer sogenannten Über- und Unterordnung , in dem die „Kulturtypen“ gegenüber dem „Moment des Sozialen“ stehen, den wissenschaftstheoretischen Fehlschluss eines methodischen Dualismus der Rechtswissenschaft gezogen, dem angeblich „alle Rechtserforschung unterworfen ist und den man mit Fug das ABC der juristischen Methodologie nennen könnte.“446 Eine solche Bekundung ist man sich offenbar schuldig gewesen. Es stellt sich auch die Frage, welche Erkenntnisfunktion eine solche angenommene „Sozialtheorie des Rechts“ für die Rechtswissenschaft überhaupt beanspruchen sollte, außer dass sie angeblich das Recht von anderen Kulturtypen abzugrenzen erlaubt und dass eine betreffende „Realitätsforschung“ eine Bereichsabgrenzung sowie wissenschaftstheoretische Folgerungen auf die methodologische Funktionsbestimmung einer davon getrennten „Jurisprudenz“ im Sinne der schon erörterten Zwei-Seiten-Theorie des Rechts ermöglicht. In dieser letzteren Hinsicht ist dann auch eine entscheidende Klarstellung erfolgt. Für den „Juristen“ wird die betreffende soziologische oder auch rechtsgeschichtliche „Grenzregulierung“ als bloße Voraussetzung und Vorarbeit angesehen – „mag sie auch aus wissenschaftstechnischen Gründen von ihm selbst mit besorgt werden“.447 In spezifisch „juristischer“ Hinsicht soll es lediglich darauf ankommen, „den gedankenmäßigen Inhalt der Normen, die auf Grund sozialtheoretischen Urteils als ,Recht‘ erkannt sind, in einen systematischen Zusammenhang zu bringen.“448 Mit diesen prinzipiellen Feststellungen zu einer der Rechtswissenschaft geltenden „Bedeutungsforschung“449 des Rechts gelangt die betreffende „Methodologie des Rechts“ schließlich zu ihren „juristischen“ Kernaussagen. Die betreffenden Annahmen ergeben das abschließende wissenschaftstheoretische Bild von der „südwestdeutschen“ Rechtstheorie und deren Methodologie. Bemerkenswerter Ausgangs- und Ansatzpunkt jener spezifisch „juristischen“ Wissenschaftstheorie vom Recht ist die empirische Beobachtung, dass das Recht wie die anderen typischen Kulturbedeutungen nicht erst von der Wissenschaft abgegrenzt wird, sondern bereits eine eigene sogenannte „vorwissenschaftliche Begriffsbildung“ aufweist, die „nirgends eine so große Rolle spielt wie auf juris-
446
A.a.O., 311. A.a.O., 313. 448 A.a.O. 449 Es ist von der “Entgegensetzung von Realitäts- und Bedeutungsforschung“ die Rede (a.a.O., 314). 447
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tischem Gebiet.“450 Nach dieser Feststellung nimmt das Recht selbst „bereits eine weitgehende Auseinandersetzung zwischen sich und der außerrechtlichen Wirklichkeit vor und bildet Begriffe von so hoher technischer Vollendung, dass sie sich oft nur dem Grade nach von denen der Wissenschaft unterscheiden und der wissenschaftlichen Bearbeitung zuweilen nichts anderes als die bloße Fortsetzung des vom Gesetz begonnenen Formungsprozesses übrig lassen.“451 Unterstützend wird angemerkt, dass „doch auch umgekehrt zu allen Zeiten Ergebnisse der Wissenschaft zu modifiziertem Recht geworden“ seien.452 Dementsprechend wir von einem in allen bisherigen Versuchen einer juristischen Methodenlehre anerkannten, „im Recht selbst steckenden begriffsbildenden Geist“ gesprochen, so dass man „häufig zwischen einer Logik des Rechts und einer Logik der Rechtswissenschaft nicht einmal terminologisch einen Unterschied gemacht“ habe.453 Die „juristische Wissenschaft“ gilt danach nur als „die ganz unvergleichbare Methode eines rein empiristischen Operierens mit einer gedachten Welt von Bedeutungen“.454 Die kulturwissenschaftliche Welt des Rechts wird bereits in das sogenannte „vorwissenschaftliche Denken“455 verlegt. „Der kopernikanische Beruf der Wissenschaft kann also zwar eingeschränkt und verhüllt, aber niemals dadurch ganz in Frage gestellt werden.“456 Vielmehr verbleibt der Wissenschaft die Aufgabe, „dem vorwissenschaftlichen Ausleseprozess erst die begriffliche Schärfe zu verleihen.“457 Als Aufgabe der „Methodologie der Rechtswissenschaft“ gilt es demzufolge, die Abgrenzung des Rechts als Ergebnis einer „Umarbeitung der erkenntnistheoretischen ,Wirklichkeit‘ zu einer abstrakten, auf bestimmtgeartete Kulturbedingungen bezogenen Welt zu begreifen“.458 Unverkennbar ist hiermit die Konsequenz eines rechtswissenschaftlichen Methodendualismus gezogen; denn ersichtlich wird eine strikte Trennung eingeführt zwischen dem Recht als realem Kulturfaktor und dem Recht als Komplex von begrifflichen Normbedeutungen, zwischen einer dem Recht geltenden „Realitätsforschung“ und einer „Bedeutungsforschung“,459 zwischen der genannten Sozialtheorie des Rechts und der Jurisprudenz als „Reich reiner losgelöster Bedeutungen“;460 wissenschaftstheoretischer Gegenstand der Letzteren ist 450
A.a.O., 315 unter Übernahme einer betreffenden Begriffsbildung von Rickert (a.a.O., 309). Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 3. Aufl. 1915, 418 und ders., Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6. und 7. Aufl. 1926, 84. 451 Lask, a.a.O. 452 A.a.O. 453 A.a.O. 454 A.a.O. 455 A.a.O., 309. 456 A.a.O. 457 A.a.O., 311. 458 A.a.O. 459 Als Entgegensetzung zwischen empirischer und philosophischer Wissenschaft (a.a.O., 314). 460 A.a.O., 312.
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„das Recht im juristischen Sinne als Inbegriff von nur gedachten Bedeutungen“,461 und zwar von Normbedeutungen, die nicht aus einer wie auch immer angenommenen Werthaftigkeit entstehen und deren Charakter tragen, sondern sich als Normbedeutungen einer formellen Geltung aus der empirischen Autorität positiver Anordnung durch einen sogenannten Gemeinschaftswillen verdanken. Der betreffende „südwestdeutsche“ Methodendualismus zur wissenschaftstheoretischen Besonderung und Charakterisierung der „Jurisprudenz“ wird also nicht mit einer logischen Entgegensetzung von Sein und Sollen begründet und nicht in diesem Sinne verstanden; die Rechtswissenschaft, obwohl „Normwissenschaft“, wird nicht in einen Gegensatz zu den empirischen Disziplinen gesetzt. Zwar wird sie als „juristische Bedeutungsforschung“ beurteilt und auf ein Seinsollendes bezogen. Aber prinzipiell anders als bei einem philosophischen Verständnis des Sollens, in dem dieses einer absoluten Werthaftigkeit und einer bloßen Geltung zugeordnet wird, hat es in der Jurisprudenz des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus „seinen formellen Grund in positiver Anordnung durch Gemeinschaftswillen“,462 besitzt also insofern ungeachtet seines spezifischen Geltungscharakters eine empirische Gegebenheit. Die betreffende „Methodologie der Rechtswissenschaft“ beansprucht für sich einen rein empiristischen Charakter in „einer gedachten Welt von Bedeutungen“.463 Zusammengefasst versteht sich die selbst bekundete „Methodologie der empirischen Rechtswissenschaft“ darin, dass sie, wie dargelegt, an positiv gesetzte Normbedeutungen des Rechts anknüpft, die dabei vom Recht als realem Kulturfaktor bereits selbst geschaffene „vorwissenschaftliche“ Bedeutungsbeziehung des Rechts zum „vorjuristischen Lebens- und Kultursubstrat“464 aufgreift und sie unter rechtswissenschaftlicher Bearbeitung in einen systematischen Zusammenhang bringt. Der so beschriebene und angenommene „juristische“ Empirismus ist es, der das greifbare und maßgebliche Moment bildet, um die aus dem sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus entwickelte „Methodologie der Rechtswissenschaft“ auch mit der gegenständlich interessierenden Ideengeschichte der Staatsrechtslehre in eine vergleichende Verbindung zu bringen. Jene „südwestdeutsche“ Rechtsschule selbst vermochte zu einer solchen ideengeschichtlichen Einordnung, soweit ersichtlich, keinen brauchbaren eigenen Beitrag zu leisten; gleichwohl lässt sich dazu bei nochmaliger Betrachtung Klarheit gewinnen. In dem wesentlichen Punkt scheint jene authentisch artikulierte „Methodologie der Rechtswissenschaft“ jedenfalls Schwierigkeiten damit gehabt zu haben, vor dem Hintergrund der seinerzeitigen ideengeschichtlichen Situation der Rechtswissenschaft den richtigen Standort für sich auszumachen. Nachweislich wollte sie in einer schon erwähnten ausdrücklichen Anknüpfung an die nicht zuletzt in der damaligen 461 462 463 464
A.a.O., 413. A.a.O., 314. A.a.O., 315. A.a.O.
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Staatsrechtslehre des staatsrechtlichen Positivismus vertretene Zwei-Seiten-Theorie sowie an deren Unterscheidung von Sozialtheorie des Rechts bzw. soziologischem Rechtsbegriff und Jurisprudenz auch für sich akzeptieren, dass man „in der Methodologie der Rechtswissenschaft keinen Schritt vorwärtstun“ könne, „ohne zunächst den methodischen Dualismus zu berücksichtigen, dem alle Rechtserforschung unterworfen ist.“465 Dem ist sie dann aber bei genauerer Betrachtung nachweislich keineswegs gefolgt, im Gegenteil. Schon die angenommene sogenannte Sozialtheorie des Rechts wird nicht nur gegenständlich definiert als Realitätserforschung der das Recht im Verhältnis der Über- und Unterordnung tragenden konkreten Wirklichkeit des sozialen und politischen Kollektivs. Vielmehr wird ihr bereits die besagte Funktion zugeordnet, das Recht „aus dem komplexen Kulturmaterial“, in dessen konkrete Zusammenhänge es eingebettet ist, aufgrund einer sozialtheoretischen Beurteilung als „Wissenschaftsklasse“ abzugrenzen,466 insbesondere anhand der erwähnten, vom Recht schon selbst geschaffenen und spezifischen „vorwissenschaftlichen Begriffsbildung“, sogar was die „soziologische oder rechtsgeschichtliche Grenzregulierung“ angeht. Diese sozialtheoretische und „vorwissenschaftliche“ Abgrenzung des Rechts ist es bereits, innerhalb deren sich die betreffenden Normbedeutungen des positiv gesetzten Rechts bewegen, denen dann die Rechtswissenschaft „begriffliche Schärfe“ und eine Systematisierung angedeihen lässt. Nachweislich wird also von einem empirisch verfolgbaren, schon von Beginn an durchgängig vorhandenen und einheitlichen, spezifisch „juristischen“ Weg ausgegangen, auf dem das Recht die „Auseinandersetzung zwischen sich und der außerrechtlichen Wirklichkeit“ vornimmt.467 Das Recht erweist sich schon von seiner sozialtheoretischen Abgrenzung an und nicht erst in seinen positiven Normbedeutungen, welche seine kulturelle Beziehung zur Wirklichkeit herstellen, als eine spezifisch „juristische“ Kulturrealität, nicht erst als „Reich reiner losgelöster Bedeutungen“, nicht bloß als eine Welt von Denkformen und formellen Begriffen, unbeschadet des Umstandes, dass es selbstredend auch zu den Aufgaben der Rechtswissenschaft gehört, einen systematischen Zusammenhang der positiven Normbedeutungen und ihrer Rechtsbegriffe untereinander herzustellen und der Jurisprudenz eine Systemform zu geben. Im Ergebnis hat man es also mit einer methodologisch durchaus eindimensionalen Rechtstheorie zu tun; als solche hat sie ihre Grundlage in einer kulturwissenschaftlich verstandenen Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften, bewegt sich dabei infolge ihrer philosophiegeschichtlichen Verankerung im Neukantianismus und in dessen Beschränkung der Erkenntnistheorie auf die reine theoretische Vernunft im Rahmen einer Erfahrungswissenschaft, gelangt also dementsprechend zu dem von ihr nachdrücklich geäußerten Bekenntnis einer empirischen Rechtswissenschaft. Dieses schließliche Resümee findet eine Bestätigung in der schon erwähnten, im Rahmen einer bekannten „Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie“ vertretenen Beurteilung, dass jene „südwestdeut465 466 467
A.a.O., 311. A.a.O., 310 f. A.a.O., 315.
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sche“ Rechtsphilosophie gerade auf die „positive Rechtswissenschaft“ einen ungewöhnlich starken Einfluss auszuüben vermocht sowie den methodologischen Unterbau zu jener „herrschend gewordenen Behandlungsart rechtsdogmatischer Probleme“ geliefert habe und so „aus demselben Geiste geboren“ sei.468 Zutreffend erscheint in dieser Beurteilung jener „südwestdeutschen“ Rechtstheorie erkannt und als wesentlich beurteilt, dass diese mit ihrer „Methodologie der empirischen Rechtswissenschaft“ das Recht als bloßen Erfahrensgegenstand der bloßen Geschichtlichkeit der jeweiligen konkreten sozialen und politischen Wirklichkeit ausliefert, und zwar sowohl was die positive Rechtssetzung bzw. Rechtsentstehung angeht als auch die im gleichen positiven Sinne nachfolgende rechtsdogmatische Bearbeitung, praktische Auslegung und Anwendung der betreffenden „Normbedeutungen“. Eine solche Rechtstheorie verschließt sich jedem erkenntnistheoretisch gegenständlichen und wissenschaftstheoretischen Verständnis für die dem Recht neben der autoritären positiven Rechtssetzung bzw. Rechtsentstehung in seinen „Normbedeutungen“ nicht weniger zugehörige, kraft einer eigenständigen Vernunftbegründung und Seinsweise auch innewohnende ideelle Objektivität, inhaltliche Apriorität und normative Selbstentfaltung, d. h. für die den Rechtsverwirklichungsvorgängen ideal anhängende eigenständige und objektive ideelle Allgemeinheit des Rechts sowie für deren entsprechende eigenständige und objektive Normativität gegenüber der konkreten Wirklichkeit. Auch für die Rechtstheorie des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus und für deren erörterte „Methodologie der Rechtswissenschaft“ stellt der transzendentalphilosophische Weg zu einer praktischen Vernunftidee vom geschichtlichen Recht, namentlich auch zu der Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat, das ideengeschichtlich nicht bewältigte erkenntnistheoretische Problemfeld dar. Auch im Rahmen der größeren und generellen ideengeschichtlichen Thematik einer Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften lässt sich das Gesagte zusammenfassend vergegenwärtigen. Der sogenannte südwestdeutsche Neukantianismus hat im Zuge seiner generellen Grundlegung einer kulturwissenschaftlichen, idiographischen Methodologie der Geisteswissenschaften diesen wieder eine im Verlaufe des mehrfach angesprochenen kulturgeschichtlichen Bruches um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verlorengegangene, neben den Naturwissenschaften behauptungsfähige eigene Wissenschaftstheorie zurückzugewinnen versucht, ohne die vom Neukantianismus verfochtene „reine“ vernunftkritische Erkenntnistheorie einer ausschließlich theoretischen Erfahrungswissenschaft und die dementsprechende Empirie aufzugeben. Unzugänglich ist ihm aber aus diesem letzteren Grunde das transzendentalphilosophische Vernunftvermögen in dessen Funktion einer transzendentalen Erkenntnis und wissenschaftlichen Metaphysik geistigen Seins überhaupt geblieben, namentlich und genauer der Weg eines transzendentalen geschichtlichen Realismus zu der Idee von einer eigenständigen und objektiven Seinsweise einer der konkreten Wirklich468
E. Kaufmann (Fn. 228), 202.
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keit geistigen Lebens ideal anhängenden ideellen Allgemeinheit sowie zu einer darin ontologisch begründeten Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften. Für die Rechtswissenschaft bedeutete dies die Verkennung der eigenen ideellen Seinsweise des Rechts und die Verwerfung der Idee eines dem gesetzten bzw. jedenfalls positivierten, „empirischen“ Recht kraft dessen praktischer Vernunftnotwendigkeit und Vernunftbegründetheit zugehörigen eigenen, originären Wertbezugs sowie einer dementsprechend eigenständigen, apriorischen Normativität. Im Rahmen der gegenständlichen staatsrechtlichen Thematik schließlich, d. h. speziell in Bezug auf die rechts- und staatsphilosophische Grundlegung der Staatsrechtslehre sowie von deren fachspezifischer Staats- und Verfassungstheorie, hat die erörterte Wissenschafts- und Rechtstheorie des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus noch eine besondere, eine in dieser Hinsicht abschließende Beurteilung und Würdigung zu beanspruchen. 6. – In der hier ideengeschichtlich letzten Endes als maßgeblich genommenen und erörterten Grundlegung jener neukantischen Richtung der Wissenschafts- und Rechtstheorie mag auffallen, dass diese sich in Bezug auf Besonderheiten des Staatsrechts, auf einen fachspezifisch staatsrechtlichen Staatsbegriff sowie auf eine Verfassungstheorie verschweigt; namentlich in der spezifischen rechts- und staatsphilosophischen Frage nach einer Begründungsidee des Verfassungsstaates scheint sie bedeutungslos zu sein. Indessen wäre eine daher naheliegende, darauf Bezug nehmende Kritik, dass sie ausschließlich im Banne zivilistischer Rechtswissenschaft stehe, ebenso nicht haltbar. Die betreffende, die sogenannte „juristische“ Methode, in diesem Falle die erörterte „Methodologie empirischen Rechtswissenschaft“, kann in diesem ihrem spezifischen methodologischen Aussage- und Bedeutungsgehalt überhaupt nur eine gemeinsame auch für das öffentliche Recht sein. Erst wenn sich jene einheitlich „juristische“ Methode gemäß ihrer genannten, für sie verpflichtenden empirischen Perspektive den betreffenden „kulturgeschichtlichen“ Gegebenheiten des Rechts konkret zuwendet, ihre Aufmerksamkeit auf die von ihr angenommenen und so bezeichneten „vorwissenschaftlichen“ Normbedeutungen des positiven Rechts richtet,469 stößt sie auch auf die betreffenden materiellen Besonderheiten des öffentlichen Rechts und vermag sie dann zu entsprechenden, fachspezifisch staatsrechtlichen Begriffsbildungen und Systematisierungen zu gelangen. Auf der Grundlage jener einheitlichen neukantischen „Methodologie empirischer Rechtswissenschaft“ gibt es also durchaus einen eben gerade empirisch auszumachenden besonderen begriffs- und systemspezifischen Bereich des öffentlichen Rechts und speziell des Staatsrechts. In vergleichbarer Weise war dies auch schon im erörterten sogenannten staatsrechtlichen Positivismus der Fall gewesen; auch dort war die betreffende begriffsjuristische Wissenschafts- und Rechtstheorie für das ganze Recht einheitlich, aber aufgrund einer organischen Staatsauffassung eine entsprechende eigenständige Begriffs- und Systembildung für das Staatsrecht
469
Fn. 450
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möglich.470 Ebenfalls wie dort zeichnet sich die Wissenschafts- und Rechtstheorie auch des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus in staatsrechtlicher Hinsicht jedenfalls dadurch aus, dass sie sich mit ihrer generellen „empirischen“ Rechtsbegründungstheorie und mit ihrer „Methodologie empirischer Rechtswissenschaft“ in staats- und verfassungstheoretischer Hinsicht jeder staatsrechtlichen Herrschaftskonstruktion und jeder „empirischen“ Staatsrechtslehre offenhält; in ihrer verfassungstheoretischen und verfassungspolitischen Konsequenz bedeutet sie einen geschichtlichen Positivismus. Die neukantische Verwerfung praktischer Vernunftphilosophie sowie das dementsprechende Unvermögen, das Staatsrecht und den Staat kraft praktischer Vernunftnotwendigkeit und Vernunftbegründung in ihrer erkenntnistheoretischen Gegenständlichkeit und Seinsweise als einer eigenständigen und objektiven ideellen, selbst sinnerfüllten Allgemeinheit begreifen zu können, bedeuten für das Staatsrecht den fundamentalen Verlust der Idee vom Verfassungsstaat und zwar, wie schon an anderer Stelle hervorgehoben, in zweifacher Hinsicht. Dem Staatsrecht geht dadurch nicht nur, wie schon eben nochmals betont, seine verfassungsstaatliche Funktion einer material inhaltlichen, eigenständig wertbezogenen Normativität gegenüber der konkreten Wirklichkeit des Rechts- und Staatslebens verloren. Vor allem bedeutet jene philosophiegeschichtliche, rechtsphilosophische und rechtswissenschaftliche Position des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus auch den Verlust der Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung und vom Verfassungsstaat überhaupt; denn diese ist die Idee von einer allein aus der ursprünglichen individuellen Freiheit der Einzelnen und aus einer dementsprechenden demokratischen Willensbildung vernunftnotwendig hervorgehenden und dadurch legitimierten eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit des statutarischen geschichtlichen Staatsrechts und des geschichtlichen Staates, d. h. von einer staatsrechtlichen Ordnung und Staatlichkeit, die sich auf solche Weise in ihrer eigenständigen erkenntnistheoretischen Gegenständlichkeit und ihrer objektiven Seinsmodalität selbst tragen und von jeder anderen „juristisch“ konstruierten staatsrechtlichen Herrschaftsordnung unterscheiden. Die erörterte, im sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus entstandene „Philosophie des Rechts“ sowie die betreffende, allein empirisch verstandene „Methodologie der Rechtswissenschaft“ haben also in der praktischen Vernunftidee vom geschichtlichen Staatsrecht und Staat ihr unbewältigtes Problemfeld nicht nur in erkenntnistheoretischer, sondern auch in verfassungstheoretischer und spezifisch verfassungsstaatlicher Hinsicht. Insofern fügt sich die Wissenschafts- und Rechtstheorie des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus ein in die Reihe der während der spätkonstitutionellen Epoche entstandenen Rechts- und Staatstheorien, die sich, einmal ganz abgesehen von den damaligen verfassungsgeschichtlichen Voraussetzungen sowie von unterschiedlichen politischen Standpunkten und Motivationen, allein schon aufgrund ihrer erkenntnistheoretischen Grundlegung bzw. wissenschaftstheoretischen Annahmen eines spezifisch „juristischen“ Denkens einen ideengeschichtlichen rechtskonstruktiven Zugang zu der Vernunftidee des ge470
Bartlsperger (Fn. 191), 25 f
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schichtlichen Verfassungsstaates, zu der Idee von dessen realer Seinsweise als einer eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit, versperrt haben. 7. – Aus Sicht der Staatsrechtslehre und im Hinblick auf die angesprochenen verfassungstheoretischen Konsequenzen kann die Wissenschafts- und Rechtstheorie des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus ihre ideengeschichtliche Bedeutung und eine nachhaltige Präsenz sowie nicht zuletzt eine besondere Anschaulichkeit durch den Umstand beanspruchen, das ihre erkenntnistheoretisch methodologischen Charakteristika in einem während der Endphase spätkonstitutioneller Staatsrechtslehre entstandenen bekannten staatsrechtlichen Werk, speziell in dessen betreffender „Allgemeiner Staatslehre“ sowie in einem vorausgegangenen, aus dem gegenständlichen thematischen Anlass vorstehend auch schon erörterten „System der subjektiven öffentlichen Rechte“471 eine signifikante Abbildung erfahren haben. Jedenfalls lässt sich bei einer ideengeschichtlich objektiven Sicht eine deutliche ideengeschichtliche Verbindung herstellen zwischen den in jenem Werk erklärtermaßen zugrundegelegten erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen sowie den daraus entstandenen staatsrechtlichen und staatstheoretischen Aussagegehalten auf der einen Seite sowie auf der anderen Seite der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus, genauer der betreffenden, hier dargelegten und erörterten, zuletzt ausgearbeiteten „Rechtsphilosophie“ desselben.472 Zwar waren die genannten maßgeblichen staatsrechtlichen Werke schon in den Jahren 1900 bzw. 1892 erschienen, während die insofern einschlägigen Grundlegungen und Entwicklungen des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus allenfalls gleichzeitig oder gar erst nachfolgend entstanden sind473 und ihren ideengeschichtlichen Einfluss wesentlich erst nach der Jahrhundertwende zu entfalten vermocht haben; jedenfalls die letztlich ausgearbeitete und deshalb hier verwendete „Rechtsphilosophie“ aus der erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretischen Welt des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus ist erst 1905 erschienen.474 So erklärt sich auch die zutreffend darauf bezogene Beurteilung, dass jenes betreffende staatsrechtliche Werk seine erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen nicht unmittelbar aus einer „fachphilosophischen Rezeption“ erlangt haben konnte und dass es sich im Vergleich zu seiner in der Sache gleichwohl zweifellos erkennbaren objektiven Zugehörigkeit zur Gedankenwelt des Neukantianismus jedenfalls einem „eigenständigen“, einem „originellen Denker“ verdanke.475 Eine darin wahrgenommene Problematik und hierüber geführte Diskussion haben offenbar damit zu tun, dass jenes staatsrechtliche und staatstheoretische Werk zwar erklärtermaßen ein er471
Fn. 58. Fn. 429. 473 Windelband 1894, Rickert 1902, Lask 1905 (Fn. 427 und 429). Dazu auch Lepsius, Georg Jellinecks Methodenlehre im Spiegel der zeitgenössischen Erkenntnistheorie, in: Paulson/ Schulte (H.g.), Georg Jellineck – Beiträge zu Leben und Werk, 2000, 309/340 f. 474 Lask (Fn. 429). 475 Lepsius (Fn. 473), 340 bzw. 341. 472
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kenntnistheoretisch wissenschaftstheoretisches Bekenntnis zur „juristischen Methode“ der Staatsrechtslehre abgelegt hat, aber in einem wesentlichen Punkt keineswegs denjenigen Anforderungen gefolgt ist, die nach den seinerzeit ideengeschichtlich maßgeblichen Auffassungen des genannten staatsrechtlichen Positivismus sowie noch weniger der dem ursprünglichen und strikten Neukantianismus verpflichteten sogenannten normlogischen Rechts- und Staatstheorie den „juristischen“ Formalismus ausgemacht haben. Zwar werden auch in jenem staatsrechtlichen und staatstheoretischen Werk uneingeschränkt und entschieden der erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretische Ausgangspunkt und das betreffende Postulat einer „juristischen Methode“ von Rechtswissenschaft und Staatsrechtslehre bekräftigt, wonach das Recht „nicht in das Gebiet des Seienden, sondern des Seinsollenden“ gehöre, dass es vielmehr aus „Begriffen und Sätzen“ bestehe, „die nicht der Erkenntnis des Gegebenen, sondern der Beurteilung der Wirklichkeit dienen“, dass deshalb die Rechtswissenschaft ausschließlich eine Normwissenschaft und dass das Recht von „rein idealer Natur sei“ sowie „nur eine gedankliche Existenz“ führe.476 Aber zugleich und nichtsdestoweniger besteht eine hiervon prinzipiell abweichende Besonderheit sowie eine erkennbare Einzigartigkeit innerhalb der neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre darin, dass die in jenem Werke angenommene, im Sinne des „juristischen“ Formalismus verstandene „Allgemeine Staatsrechtslehre“ durchaus auch in einer seinsmäßigen Beziehung und in einem wissenschaftstheoretischen Zusammenhang gesehen wird mit einer zugleich anzuerkennenden „Allgemeinen Soziallehre des Staates“.477 Es handelt sich um die sogenannte Zwei-Seiten-Theorie vom Staat in deren eigentlichem und genauem erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretischen Sinne, den Staat zugleich als einen realen Gegenstandsbereich der Staatsrechtslehre sowie als eine bloß ideelle rechtswissenschaftliche Begriffs- und Systembildung derselben zu erfassen.478 Im Unterschied dazu hatte der sogenannte staatsrechtliche Positivismus, wie erörtert, zwar auch neben dem „juristischen“ Staatsbegriff den Staat als realen Organismus zur Kenntnis genommen, um ihn als Element der Begriffsbildung vom öffentlichen Recht und vom Staatsrecht sowie in der Unterscheidung derselben vom Zivilrecht zu verwenden; aber eine unmittelbare wissenschaftstheoretische, methodologische Folgerung für die Staatsrechtslehre in deren „juristischem“ Sinne ist dem nicht beigemessen worden.479 Gar die im ursprünglichen und strikten neukantischen Sinne 476
G. Jellineck, Allgemeine Staatslehre (Fn. 58), 138. A.a.O., 383 ff. bzw. 129 ff. 478 Zu dieser im ideengeschichtlich spezifischen Sinne sogenannten Zwei-Seiten-Theorie Kersten, Georg Jellineck und die klassische Staatslehre, 2000, 145 ff., Koch, Die staatsrechtliche Methode im Streit um die Zwei-Seiten-Theorie des Staates (Jellineck, Kelsen, Heller), in: Paulson/Schulte (Fn. 473), 371/373 ff., Lepsius (Fn. 473), 317 ff., 319 ff., 329 ff. und ders., EuGRZ 2004, 370/371 f., Schulte, Georg Jellinecks „Funktionenzuordnung“ von Rechts- und Staatswissenschaft sowie ihre Nachbarwissenschaften – ein mehrspektivischer Zugang zum Recht?, in: Paulson/Schulte (Fn. 473), 359/359 ff. und 362 ff., Jouanjan, Savigny, Zschr. für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 125 (2008), 367/390 ff. 479 Bartlsperger (Fn. 2), 172; ders. (Fn. 3), 33 f.; ders. (Fn. 191), 25 ff. 477
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normlogische Rechts- und Staatstheorie hat überhaupt nur die eine „juristische“ Seite des Staates für die Staatsrechtslehre als wissenschaftstheoretisch relevant anerkennen wollen; eine Zwei-Seiten-Theorie vom Staat hat sie bekanntlich entschieden bekämpft.480 Worin im Unterschied zu diesen ideengeschichtlichen Positionen des „juristischen“ Formalismus jenes um die genannte „Allgemeine Staatslehre“ entstandene staatsrechtliche Werk die erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretische Bedeutung seiner „Allgemeinen Soziallehre des Staates“ für die Staatsrechtslehre genau gesehen und anerkannt wissen wollte, lässt sich, soweit ersichtlich, kaum aus einer entsprechenden generellen ausdrücklichen und ausgeführten eigenen methodischen Bekundung deutlich ersehen, was eben gerade die betreffende Diskussion um eine fachphilosophische Einordnung jenes Werkes auslösen musste. Gleichwohl lässt sich – dies sei im gegenständlich beschränkten Erörterungsrahmen als zusammenfassende, prinzipielle und generelle Behauptung erlaubt – durchaus eine überzeugende und eindeutige fachphilosophische Zuordnung jenes staatsrechtlichen Werkes gewinnen, wenn man nur dessen zahlreiche Beiträge zu vielfältigen Bereichen der Staatsrechtslehre in ihren Rechtskonstruktionen, Begriffs- und Systembildungen gerade unter jener Fragestellung zur hierbei angewendeten fachphilosophisch reflektierten Wissenschaftstheorie und Methode genauer besieht. Erkennbar bilden jene Beiträge jeweils das Ergebnis einer empirischen „Bedeutungsforschung“ zu angenommenen, in der sozialen bzw. politischen Wirklichkeit vorgeprägten Normbedeutungen des bestehenden bzw. anerkannten positiven Rechts oder gerade auch zu Normbedeutungen eines aufgrund von sozialen oder politischen Erfordernissen potentiellen, anzuerkennenden positiven Rechts;481 nicht zuletzt die aus jenem Werk bekannte Rechtsquellenlehre von der „normativen Kraft des Faktischen“482 ist dezidierter Ausdruck einer „Methodologie empirischer Rechtswissenschaft“, die das positive Recht, dessen Rechtsgeltung und Normbedeutungen überhaupt nicht ohne eine Vorbegründung und Vorprägung in dem einer „Allgemeinen Soziallehre des Staates“ zugehörigen Bereich zu begreifen sowie in einer „juristischen“ Begriffs- und Systembildung zu erfassen vermag. Ersichtlich handelt es sich bei jenem staatsrechtlichen Werk in erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretischer Hinsicht um ein ideengeschichtlich vorweg verwirklichtes Abbild der erörterten „Rechtsphilosophie“ des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus;483 unterlegt man diese in der Sache berechtigterweise jenem wenig vorher entstandenen staatsrechtlichen Werk, so kann über dessen fachphilosophische Zuordnung kein Zweifel bestehen. Jenes fachspezifisch staatsrechtliche und staats480
Kersten (Fn. 478), 169 ff. m. Nachw. und Koch (Fn. 478), 371/377 ff.; Kersten (a.a.O., 170 bzw. 171) spricht von einer „Antirezeption“ bzw. „wissenschaftlichen Fundamentalopposition“ Kelsens. 481 Siehe die in der Rechtsschule des südwestdeutschen Neukantianismus begründete, vorstehend erörterte „Methodologie der empirischen Rechtswissenschaft“ (Lask, Fn. 427) und speziell deren betreffende sogenannte „Bedeutungsforschung“ zu angenommenen „Normbedeutungen“ des Rechts (ders., a.a.O., 311 ff.). 482 G. Jellineck, Allgemeine Staatslehre (Fn. 58), 337 ff. 483 Lask (Fn. 429).
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theoretische Werk bildet in seinen fachphilosophischen Voraussetzungen und Grundlagen den Fall einer entstehungsgeschichtlich gleichzeitigen bzw. schon vorweggenommenen Identifizierung mit der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus, speziell mit dessen vorstehend erörterter, methodologisch ausgearbeiteter „Rechtsphilosophie“. Von deren Seite ist denn auch gelegentlich einer in dem thematischen Zusammenhang gemachten Bemerkung authentisch und ausdrücklich auf jenes staatsrechtliche und staatstheoretische Werk hingewiesen worden und auf solche Weise eine entsprechende Bestätigung erfolgt.484 Die angesprochene nachfolgende bzw. aktuelle Diskussion um die fachphilosophische Zuordnung jenes staatsrechtlichen und staatstheoretischen Werkes war also bei genauerem Zusehen schon längst gelöst. In fachphilosophischer Hinsicht sind die erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretische sowie die methodologische Voraussetzung und Grundlegung jenes staatsrechtlichen und staatstheoretischen Werkes Ausdruck einer Identifikation mit der „Rechtsphilosophie“ des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus so wie umgekehrt diese ihre spezifisch staatsrechtlichen und staatstheoretischen Konsequenzen nachweislich in jenem für die Staatsrechtslehre in der Endphase ihrer spätkonstitutionellen Epoche kennzeichnenden Werk ausgeführt findet. Es erscheint darum keine zutreffende ideengeschichtliche Beurteilung, wenn bei Gelegenheit einer bekannten „Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie“ behauptet wird, die „südwestdeutsche Schule“ des Neukantianismus habe „nicht zwei so abgeschlossene und charakteristische Leistungen“ zu verzeichnen wie die eines anderen neukantisch begründeten Rechtspositivismus sowie der normlogischen Rechts- und Staatstheorie.485 Aufgrund der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus für die Kultur- bzw. Geisteswissenschaften konnte es in der neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre am Ende von deren spätkonstitutioneller Epoche immerhin geschehen, dass dem „juristisch“ ausschließlichen Formalismus des staatsrechtlichen Positivismus in Form einer sogenannten ZweiSeiten-Theorie jedenfalls eine „Allgemeine Soziallehre des Staates“ als realer Begründungsvoraussetzung des Staatsrechts entgegengesetzt sowie dem strikten neukantischen Rechtspositivismus und der erst nachfolgenden „reinen“ normlogischen Rechts- und Staatstheorie die ebenfalls der rechts- und staatstheoretischen ZweiSeiten-Theorie wissenschaftstheoretisch zugehörige Methodologie empirischer Staatsrechtslehre entgegengestellt worden ist. Auch sind Staatsrechtslehre und Staatstheorie in dem betreffenden erörterten Werk durch ideengeschichtlich und nachhaltig bedeutsame Rechtskonstruktionen, Begriffs- und Systembildungen bereichert worden.486 Aber eine letztlich überzeugende Wissenschaftstheorie der Staatsrechtslehre sowie vor allem eine aus zwischenzeitlicher Sicht überhaupt 484
A.a.O., 314. E. Kaufmann (Fn. 228), 202 in Bezug auf Stammler (ders., Die Lehre vom richtigen Recht, 1902 und ders., Theorie der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 1923) bzw. Kelsen (Fn. 65). 486 Zu dem außerordentlich umfangreichen, eindrucksvollen Werk G. Jellinecks die Zusammenstellung bei Paulson/Schulte (Fn. 473), 391 ff. 485
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brauchbare Idee und Verfassungstheorie verfassungsstaatlicher Ordnung sind dabei nicht entstanden. In der letzteren Hinsicht ist es zu keiner normativen Begründung und Idee des Verfassungsstaates gekommen, im Gegenteil ein verfassungsgeschichtlicher Positivismus sowie ausgehend von der damaligen verfassungsgeschichtlichen Situation die staatsrechtliche Idee einer monarchischen Herrschaftskonstruktion bestimmend geblieben und zugrunde gelegt worden.487 In wissenschaftstheoretischer und methodologischer Hinsicht ist die erörterte, ins Zentrum jenes Werkes gestellte Annahme einer im realen, im sozialen bzw. politischen Bereich stattfindenden Vorprägung der „juristischen“, begriffs- und systembildend zu bearbeitenden Normbedeutungen des Rechts, einer sogenannten „vorwissenschaftlichen Begriffsbildung“ des Rechts,488 nur im Wege einer „kulturwissenschaftlichen“ Annahme behauptet worden; in ihrer logischen Haltbarkeit zwischen Seinssphäre und Sollenssphäre des Rechts ist sie überhaupt nicht aufgegriffen oder gar in seinsmäßiger Hinsicht, d. h. in ihrem ontologischen Begründungszusammenhang bzw. in ihrer ontologischen Konsequenz, aufgeklärt worden. Es fehlt der „Rechtsphilosophie“ der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus sowie dem erörterten, mit ihr fachphilosophisch identifizierten staatsrechtlichen und staatstheoretischen Werk erst einmal an einer erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretischen Vorstellung zur Seinsbegründung und Seinsweise der von ihnen zum wissenschaftstheoretischen Ausgangspunkt und zur methodologischen Grundlage genommenen, angeblich schon im sozialen und politischen Kulturbereich des Rechts „vorgeprägten“ und „vorwissenschaftlichen“ Normbedeutungen des Rechts“; ansonsten können diese im Sinne der von jener „Rechtsphilosophie“ postulierten „Methodologie empirischer Rechtswissenschaft“ gar nicht als gegenständliches geistiges Sein erfasst und als solches keiner „juristischen“, keiner rechtswissenschaftlichen Begriffs- und Systembildung zugeführt werden. Es ist, wenn man schon von einer „kulturwissenschaftlichen“ Erfassbarkeit des Rechts ausgeht und demzufolge einen empirischen sozialen und politischen Kollektivbereich des Rechts anzuerkennen gezwungen ist, auch die folgerichtige Einsicht und zwingende Annahme gefordert, dass diese soziale und politische Wirklichkeit des Rechts und deren „juristische“ Idealität keine zwei erkenntnistheoretisch und wissenschaftstheoretisch getrennten „Seiten“ sind; vielmehr müssen sie dann kraft ontologisch kategorialen Notwendigkeit als zwei seinsmäßig voneinander abhängige und nicht zu trennende „Schichten“ realen geistigen Seins gesehen werden.489 Das Recht und der Staat in dessen fachspezifischem rechtlichen Sinne bilden danach als ideelle Seinsgebilde 487 Explizit, signifikant und folgenreich in der sogenannten Statuslehre von den subjektiven öffentlichen Rechten, die solche Rechte lediglich im eingeschränkten und sekundären Sinne einer herrschaftlichen Statusverleihung durch den Staat, d. h. im Sinne der Vorstellung einer Herrschaft des Staates über „Freie“, versteht; siehe bei Bartlsperger (Fn. 191), 17/33 ff. Zur Verfassungslehre Georg Jellinecks die Beiträge in: Brugger/Gröschner/Lembcke (Hg.), Faktizität und Normativität – Georg Jellinecks freiheitliche Verfassungslehre, 2017. 488 Lask (Fn. 429), 315, 309. 489 Nachw. zur betreffenden ontologischen Seinsidee vom objektiven Geist in Fn. 161 und 396 sowie die betreffenden Erörterungen dort.
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aufgrund dieser ihrer ontologischen Dependenz von dem sie real tragenden sozialen und politischen Kollektiv eine jener sozialen und politischen Wirklichkeit anhängende objektive und eigenständige ideelle Allgemeinheit. In einem fachphilosophischen Sinne mangelt es der von der sogenannten südwestdeutschen Schule des Neukantianismus vertretenen „Rechtsphilosophie“ sowie jenem erörterten staatsrechtlichen und staatstheoretischen Werk an einer ihnen durch ihren Neukantianismus versperrten transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie, nach welcher eine Erkenntnis auch geistigen Seins aufgrund des in den vernunftgemäß apriorischen Bedingungen der Erkenntnis begründeten Erkenntnisvermögens eröffnet ist. Im Sinne der betreffenden, vom Neukantianismus verworfenen praktischen Vernunftphilosophie handelt es sich um den praktischen Vernunftschluss von einer bereichsspezifischen sozialen und politischen Wirklichkeit des Rechts und des Staates auf die dabei im individuellen Bewusstsein der Einzelnen entstehende, d. h. intentional getragene und auf solche Weise jener sozialen und politischen Realität anhängende ideelle Allgemeinheit von Recht und Staat. In der weiteren, auch in dem Zusammenhang abschließend noch einmal aufzugreifenden verfassungstheoretischen Perspektive mangelt es der „Rechtsphilosophie“ des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus, namentlich jenem erörterten, damit fachphilosophisch identifizierten staatsrechtlichen und staatstheoretischen Werk, an einer Anerkennung des praktischen Vernunftschlusses von intentionalen Aktivitäten individueller Freiheit bzw. von entsprechenden intentionalen Manifestationen objektiver Belange auf die Existenz einer kraft des allgemeinen Vernunftprinzips wechselseitiger kompatibler Beschränkung jener Aktivitäten bzw. Manifestationen entstehenden objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit von Recht und Staat; es fehlt also der rechtsphilosophischen und der staatsrechtlichen Richtung jenes Neukantianismus eine normative Idee von einer in der vernunftmäßig ursprünglichen individuellen Freiheit begründeten und aus dieser vernunftnotwendig entstehenden verfassungsstaatlichen Ordnung. 8. – Zweifellos ist in der genannten „Rechtsphilosophie“ des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus490 sowie schon ganz in deren Sinne in dem erörterten, um eine bekannte „ Allgemeine Staatslehre“491 entstandenen staatsrechtlichen und staatstheoretischen Werk aufgrund von betreffenden empirischen Annahmen einer „kulturgeschichtlich“ bzw. einer „sozialtheoretisch“ erfassbaren Vorprägung der Normbedeutungen des Rechts ein erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretisch weitgehender Schritt getan worden, um über einen ausschließlichen „juristischen“ Formalismus, speziell was denjenigen in der seinerzeitigen neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre angeht, hinauszuführen sowie die Rechtswissenschaft in einen empirischen Begründungs- und Methodenzusammenhang mit der sozialen Wirklichkeit des bereichsspezifischen Rechtslebens zu bringen. Jener ideengeschichtliche Schritt hat sich abgehoben von der aus der historischen 490 491
Lask (Fn. 427). Fn. 58.
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Rechtsschule gekommenen Begriffsjurisprudenz und von deren damaligem fachspezifisch staatsrechtlichen Positivismus, er ist einem Eindringen des naturwissenschaftlichen Dogmatismus in das Rechtsdenken sowie einem strikten neukantischen Rechtspositivismus entgegengetreten und er hat nicht zuletzt auch schon eine Gegenposition errichtet gegen die auf der Grundlage der strikten neukantischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie nachfolgende „reine“ normlogische Rechts- und Staatstheorie. Immerhin ist damit eine im Sinne des „juristischen“ Formalismus verstandene „allgemeine“ Rechts- bzw. Staatstheorie in ein erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretisches Abhängigkeitsverhältnis zu einer Sozialtheorie vom Recht und vom Staat gestellt und einer solchen methodologisch zugeordnet worden. Aber jener ideengeschichtliche Schritt hat aufgrund dieser seiner erkenntnistheoretisch nicht weiter begründeten und begründbaren Voraussetzung auch nichts anderes bedeuten können als eine logische Unterstellung, wonach die soziale und politische Wirklichkeit des Rechtslebens zugleich schon ein werthaftes Kulturgut sei und dass ein sozialtheoretisch erfassbarer besonderer Kulturbereich des Rechts bestehe, in dem dessen Normbedeutungen bereits „vorgeprägt“ würden und auf diese Weise das Recht seine Begründung schon als empirischer Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Begriffs- und Systembildung erfahre. Eine insofern erfahrungswissenschaftliche Rechtsbegründungstheorie sowie die betreffende „Methodologie einer empirischen Rechtswissenschaft“ erweisen sich indessen als prinzipiell unvereinbar mit der für den Neukantianismus fundamentalen und unverrückbaren erkenntnistheoretischen Auffassung, nach welcher dem transzendentalen Idealismus und seiner Vernunftkritik folgend im Bereich praktischer Erkenntnis nicht ein empirisch vorgegebenes Sollen normbegründend sein kann, vielmehr gerade umgekehrt und ausschließlich das vernünftige, das freie individuelle Wollen das Sollen bestimmt.492 Die praktische Vernunftkritik kann prinzipiell keinen normbegründenden Schluss von einem real und objektiv bestehenden, empirischen Sein auf ein Sollen anerkennen;493 in rechtsphilosophischer Hinsicht hat aufgrunddessen bekanntlich denn auch die neukantische „reine“ normlogische Rechts- und Staatstheorie das wissenschaftstheoretische Theorem nachdrücklich zu artikulieren und nachhaltig zu verfechten vermocht, dass es keinen logischen Schluss von einem Sein auf ein Sollen und dass es für die Rechtswissenschaft eine wissenschaftstheoretische und methodologische Beziehung zwischen der soziologischen, geschichtlichen Realität und dem Recht nicht wirklich geben kann.494 Die im transzendentalen Idealismus der Vernunftkritik begründete uneingeschränkte und unverrückbare erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretische Kritik an einem bloß logischen bzw. logisch unter492 Cohen, Ethik des reinen Willens, 1904 und ders., Logik des reinen Erkennens, 2. Aufl. 1914 sowie Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, hgg. von Ringhofer und Walter, 1979, 258. 493 Winkler, Rechtstheorie, 1979, 257; Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, § 3. 494 Kelsen (Fn. 492) sowie ders. in den Nachw. Fn. 65 sowie in dessen prinzipieller erkenntnistheoretischer Kritik an der rechts- und staatstheoretischen Zwei-Seiten-Theorie von G. Jellineck (Kersten, Fn. 478, 169 ff. und Koch, Fn. 478, 377 ff.).
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stellten Schluss von der sozialen und politischen Wirklichkeit auf eine Norm- und Geltungsfunktion des Rechts musste auch für die in der sogenannten südwestdeutschen Schule des Neukantianismus entwickelte „Rechtsphilosophie“ das erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretische Scheitern bedeuten; eine positive Erwägung, wie auf erfahrungswissenschaftliche Weise, auf einem empirischen Wege, eine Normbegründung erfolgen bzw. angenommen werden könnte sowie die Norm- und Geltungsfunktion des Rechts zu begründen wäre, durfte im Rahmen des Neukantianismus und letztlich vor allem auf der ideengeschichtlichen Ausgangs- und Grundlage der vernunftkritischen Erkenntnistheorie gar nicht erwartet werden. Ein solcher gleichwohl unternommener rechtsphilosophischer Ansatz, wie er in jener erörterten „Rechtsphilosophie“ der sogenannten südwestdeutschen Schule des Neukantianismus entwickelt und wie er im Sinne der Letzteren von der genannten „Allgemeinen Staatslehre“ sowie in deren Staatsrechtslehre ins Werk gesetzt worden ist, konnte schon von den eigenen erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen des Neukantianismus aus nicht als gelungen gelten. 9. – Es ist indessen nur die eine, diese eine Seite der ideengeschichtlichen Bedeutung des konsequenten und strikten Neukantianismus, für die erkenntnistheoretische Grundlegung und für eine Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften sowie speziell für die Rechts- und Staatsphilosophie die revolutionäre Errungenschaft des transzendentalen Idealismus gegenwärtig gehalten und dabei in „praktischer“ Hinsicht das wissenschaftstheoretische Prinzip behauptet zu haben, dass kein wie auch immer in Betracht gezogener Versuch Anerkennung finden, dass es keine erkenntnistheoretische Möglichkeit geben kann, Normen und Geistiges überhaupt auf einem unmittelbar empirischen Wege zu begründen; für die Rechtsphilosophie und für die Methodologie der Rechtswissenschaft bedeutet dies, vor allem mit einem kritischen Blick auf die bekannten, schon erörterten wissenschaftstheoretischen und methodologischen Verwicklungen der Staatsrechtslehre in deren neuerer Ideengeschichte, die unverrückbare Maßgabe und prinzipielle Voraussetzung, dass kein Begründungszusammenhang angenommen werden kann zwischen der „Natur des Menschen“ bzw. der betreffenden geschichtlichen Wirklichkeit und der ideellen „Natur des Rechts“.495 Insofern steht der konsequente und strikte Neukantianismus noch ganz auf dem Boden der Vernunftkritik und von deren „praktischen“ Konsequenzen. Er teilt in kulturgeschichtlich vergleichender Hinsicht die prinzipielle Abwendung der Vernunftkritik, ihres transzendentalen Idealismus, von der Erkenntnistheorie des ideengeschichtlich vorausgegangenen bloßen rationalen Dogmatismus, jenes sogenannten „empirischen“, nämlich eines erkenntnistheoretisch auf eine Objektbeziehung des Einzelsubjekts abstellenden Idealismus,496 und er teilt die ideengeschichtliche Distanzierung praktischer Vernunftphilosophie von allen sogenannten modernen, rationalen rechts- und vertragstheoretischen Herrschafts495
Kant (Fn.3), 13. Zum ideengeschichtlichen sogenannten empirischen Idealismus siehe Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (Fn. 37), 144 ff. 496
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begründungen497 sowie von deren empirischen Voraussetzungen und schließlich steht er in seinen wirkungsgeschichtlichen Konsequenzen auf Seiten von ebenfalls schon aus der Vernunftkritik folgenden wissenschaftstheoretischen Bedenken gegen ein utilitaristisches Nützlichkeits- und gegen ein eudemonistisches Glücksethos.498 Zum besonderen und eigentlichen kulturgeschichtlichen Problemfall für die „praktische“ Philosophie, namentlich für die fachspezifische Rechts- und Staatsphilosophie, ist der Neukantianismus erst dadurch geworden, dass er den transzendentalen Idealismus in seiner praktischen Vernunftkritik ausschließlich festgelegt und abschließend begrenzt sehen will auf den Aussage- und Bedeutungsgehalt von apriorischen normativen Denkformen;499 die Vernunftidee vom Recht und die betreffende Vernunftidee vom Staat sollen nicht über ihren originär und authentisch explizierten Aussagegehalt als apriorische Rechtsbegründungs- und Rechtsgeltungsidee bzw. apriorisch normative Staatsidee hinaus verstanden werden können und dürfen, wonach das Recht als praktische Vernunftidee den „Inbegriff der Bedingungen“ bildet, unter denen es kraft praktischer Vernunft „a priori notwendig“, d. h. „überhaupt von selbstfolgend ist“, und die praktische Vernunftidee des Staates nicht mehr meint als den „Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll.“500 Dagegen soll sich die Annahme eines ideengeschichtlich immanenten und für eine fachspezifische Rechts- und Staatsphilosophie des geschichtlichen Rechts und des geschichtlichen Staates erst grundlegenden Bedeutungsgehalts jener praktischen Vernunftphilosophie vom Recht und vom Staat verbieten. Der Neukantianismus beharrt darauf, er ist ersichtlich entschlossen, darauf zu beharren, dass die apriorisch gegründeten Gesetze praktischer Vernunft sowie speziell die praktischen Vernunftideen vom Recht und vom Staat apriorische Prinzipien lediglich im Sinne von normativen Denkformen kennen; sie sollen keinen transzendentalen Ausgangs- und Anknüpfungspunkt, keine ideengeschichtliche Grundlage bilden können und dürfen für eine „nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“ aufzugreifende, d. h. für eine unter wissenschaftstheoretischen Anforderungen gebotene, in ihrem authentischen Aussage- und Bedeutungsgehalt auch durchaus eröffnete und deshalb fortzubildende praktische Vernunftidee vom geschichtlichen Recht und vom geschichtlichen Staat.501 Damit hat der Neukantianismus die Vernunftkritik in ihrer „praktischen“ Hinsicht erst nochmals „neu“ erfunden, anstatt diese in ihrem originär und authentisch durchaus noch offen geblieben ideengeschichtlichen Bedeutungsgehalt für das geschichtliche Recht und den geschichtlichen Staat zur Kenntnis zu nehmen und die betreffende „nachkantische“ Entwicklung der die Vernunftkritik fortführenden transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie, speziell und gerade auch was die 497
Zum sogenannten „Kontraktualismus vor Kant“ Kersting (Fn. 39), 98 ff. Insofern Kritik des Utilitarismus und des Eudämonismus Nicolai Hartmann, Ethik, 4. Aufl. 1962, 87 ff.; zur praktischen Vernunftkritik an einer „Glückseligkeitslehre“ Kant (Fn. 3), 12. 499 Nachw. Fn. 64 und 85 sowie bei Bartlsperger (Fn. 2), 176 ff. m. w. Nachw. 500 Kant (Fn. 3), 38 bzw. 129 (§ 45). 501 Zu der betreffenden „nachkantischen“ Entwicklung Nachw. Fn. 36 f. und Fn. 393. 498
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praktische Vernunftphilosophie angeht, zu verfolgen. Das Ergebnis dieses „neuen“ neukantischen Verständnisses der Vernunftkritik, speziell von deren praktischer Vernunftphilosophie sind ein Dogmatismus ausschließlich formalistischen Denkens praktischer Philosophie sowie in rechtsphilosophischer Hinsicht eine formalistische Rechtsbegründungstheorie und in der rechtswissenschaftlichen Methodologie eine formalistische Begriffs- und Systembildung.502 Im neukantisch begründeten Rechtspositivismus sowie in der betreffenden sogenannten „Reinen Rechtslehre“ hat jene spezifische, verengte ideengeschichtliche Interpretation bzw. Entwicklung der praktischen Vernunftkritik ihren bekannten Niederschlag gefunden; die in den letzteren Werkzusammenhang gehörende betreffende normlogische Rechts- und Staatstheorie steht bekanntlich vor allem für die sogenannte „Krisis“503 in der neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre. Es sind auch erst der „praktische“ Neukantianismus, dessen dogmatischer ethischer Formalismus, seine substanzlosen, inhaltsleeren Abstraktionen, sowie die betreffende neukantische Rechts- und Staatstheorie, die letzten Endes und in erster Linie den nach anderer Ansicht schon in der Vernunftkritik überhaupt und selbst gesehenen kulturgeschichtlichen „Bruch zwischen dem deutschen Denken über die Probleme des sozialen Lebens und dem Westeuropas und Amerikas“504 in den darin liegenden möglichen Konsequenzen verdeutlichen. Ein besonders signifikanter Ausdruck dieses kulturgeschichtlichen Bruches sowie der hieraus resultierenden Isolierung praktischer Philosophie des Neukantianismus ist speziell unter einem verfassungstheoretischen Gesichtspunkt die ideell und normativ substanzlose rechtswissenschaftliche Begriffsbildung zum subjektiven Recht. Die neukantische „Reine Rechtslehre“ wendet sich ab von der schon aus einer konsentierten vernunftnaturrechtlichen Tradition kommenden Annahme des die individuelle Freiheit rechtskonstruktiv überhaupt erst definierenden sowie jeder rationalen und vernunftbegründeten staatlichen Herrschaftsbegründung als ursprünglich und primär vorausgehenden und für diese grundlegenden subjektiven Rechts.505 Bekanntlich kennt die neukantische „Reine Rechtslehre“ das Recht überhaupt nur als eine objektive Rechtsordnung und dementsprechend lediglich objektive rechtliche Verpflichtungen, „sich unmittelbar gegenüber einem bestimmten anderen, dem be-
502 In der wohl nach wie vor bekanntesten „Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie“ (E. Kaufmann, Fn. 228) wird aufgrund des betreffenden, dort ausgemachten „substanziellen Rationalismus“ (a.a.O., 221) von einer „Rechtswissenschaft ohne Recht“ und von einer „Wahrheitstheorie ohne Wahrheitsbegriff“ gesprochen (a.a.O., 220), von einer „Erkenntnistheorie ohne Wahrheitsbegriff“ und von einer „Rechtswissenschaft ohne Rechtsidee“ (a.a.O., 244) und es wird schließlich zur seinerzeitigen ideengeschichtlichen Situation resümiert, dass der deutsche Geist sich auf solche Weise in einer Krise befinde, „wie er sie vielleicht noch nie in seiner tragischen Geschichte erlebt hat“ (a.a.O., 244). 503 Heller (Fn. 64). 504 E. Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie (Fn. 228), 239. 505 Zu dem sogenannten „Primat des subjektiven Rechts“ Nachw. Fn. 108 und speziell bei Bartlsperger (Fn. 191), 46 ff.
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rechtigten Individuum in bestimmter Weise zu verhalten.“506 Danach soll das Individuum, dem gegenüber eine solche objektive Rechtspflicht besteht, ausschließlich „Objekt“, kein „Subjekt“ und das subjektive Recht soll folglich überhaupt „überflüssig“ sein.507 Im Unterschied zu einer solchen „juristischen“ Begriffsbildung, zu deren von jener neunkantischen Rechtslehre behaupteten fachphilosophischen Voraussetzungen, sollte die originäre Vernunftkritik trotz ihrer, trotz ihrer revolutionären transzendentalphilosophischen Abwendung von der vorausgegangenen rationalen Epoche der Erkenntnistheorie, vom rationalen Dogmatismus, speziell von der idealistischen Erkenntnistheorie eines empirischen Idealismus,508 immer noch als ein den thematischen Zusammenhang im Gang der Philosophie wahrender Vorgang ideengeschichtlicher Entwicklungen und Auseinandersetzung sowie trotz des betreffenden erkenntnistheoretischen Traditionsbruches als ein ideengeschichtlicher Entwicklungsschritt in der Geistesgeschichte, speziell in der Geschichte der Philosophie, beurteilt werden können. Gewiss ist die Vernunftkritik seinerzeit neben dem empiristischen Historismus die zweite ideengeschichtliche Entwicklung gewesen, mit der sich der deutsche Kulturraum von der westeuropäischen Geistesgeschichte, speziell auch von deren Rechts- und Staatsdenken, abgesondert hat, und im Vergleich zu den Letzteren hat sie sich mit der Begründung einer wissenschaftlichen Metaphysik einen bleibenden herausragenden Rang in der Geistesgeschichte zu verschaffen vermocht. Aber man muss bezweifeln, ob man deshalb auch wirklich bereits von einer „geistesgeschichtlichen Isolierung“509 sprechen kann. Mit dem Neukantianismus dagegen lässt sich eine solche Beurteilung sicherlich in Verbindung bringen. Jedenfalls hat er den Effekt der mit der Vernunftkritik eingeleiteten Entwicklung praktischer Philosophie in jenen seinen exponierten formalistischen Folgerungen erst einmal „verdoppelt.“ Die signifikante geistesgeschichtliche Isolierung des Neukantianismus besteht eben darin, dass er in besonders charakteristischer Weise ein ideengeschichtlicher Teil des im deutschen Kulturraum ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts einsetzenden erkenntnistheoretischen Ringens um eine von den Naturwissenschaften grundlegend getrennte Wissenschaftstheorie der Geistes- und Normwissenschaften ist und dass er die Letztere ausgerechnet mit dem Anspruch einer vermeinten konsequenten Rezeption der Vernunftkritik in den Formalismus „reiner“ abstrakter Denkformen zu führen unternommen hat, anstatt den in der Vernunftphilosophie bereits eröffneten transzendentalphilosophischen Weg einer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie geistigen Seins und die betreffende „nachkantische“ Entwicklung zu sehen, geschweige denn anerkennen zu wollen. Sicherlich sind der neukantische Rechtspositivismus510 und vor allem die sogenannte „Reine Rechtslehre“ sowie deren betreffende normlogische Staatsrechtslehre und Staatstheorie eindrucksvolle ideengeschichtliche Erscheinungen jener geistesge506 507 508 509 510
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 65), 130 ff./131. A.a.O., 133 f. Nachw. Fn. 496 f. E. Kaufmann (Fn. 228), 239. Stammler (Fn. 485).
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schichtlich epochalen Entwicklung, die sich aufgrund der wissenschaftstheoretischen Herausforderungen durch das naturwissenschaftliche Denken der Aufgabe gestellt hat, sich der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften zu vergewissern sowie dabei namentlich die Methodologie der Rechtswissenschaft auf eine wissenschaftstheoretisch nicht angreifbare Grundlage zu stellen und die betreffenden „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“511 zu bereinigen; vor allem mit der „Reinen Rechtslehre“512 ist so eine der anerkannt „großen“ Rechtstheorien entstanden. Aber damit und namentlich mit den betreffenden Erscheinungen eines normlogischen „juristischen“ Formalismus ist innerhalb der neukantischen Rechts- und Staatsphilosophie ein Schritt in eine Richtung getan worden, die gerade fortgeführt hat von der in der originären praktischen Vernunftphilosophie bei unverstellter Beurteilung ihres Aussage- und Bedeutungsgehalts schon selbst enthaltenen, von der bereits in der wissenschaftlichen Metaphysik der Vernunftkritik generell angelegten erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Geisteswissenschaften, speziell auch der Rechtslehre sowie der Staatsrechtslehre und der Staatstheorie. Anders dagegen die „nachkantische“ Entwicklung; sie hat die ideengeschichtlich ganz anderen Ausgangsbedingungen sowie den ganz anders angelegten und dann auch verlaufenden ideengeschichtlichen Weg transzendentalphilosophischer Erkenntnis und Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften, nicht zuletzt auch speziell in deren Konsequenzen für die Rechtsund Staatstheorie, erkannt und diesen Weg nachvollziehbar beschritten.513 Aus fachspezifisch rechts- und staatsphilosophischer Sicht ist Anlass und Ausgangspunkt der „nachkantischen“ Entwicklung praktischer Vernunftphilosophie die fachphilosophisch bestehende und bekannte Thematik, dass die originär und authentisch vernunftkritische, transzendentale Begründungsidee vom Recht und vom Staat die Fragen um eine Deduktion von deren geschichtlicher Realität nicht wirklich aufgegriffen, vielmehr als eine Angelegenheit von technisch-praktischen Regeln offengelassen hat514 und sie der theoretischen Philosophie zuordnen wollte.515 Die hieraus resultierende rechts- und staatstheoretische Fragestellung sowie deren betreffende wissenschaftstheoretische Problematik mussten in den vorstehend sie jeweils schon betreffenden Erörterungen mehrfach angesprochen werden, jedenfalls als solche vermerkt werden.516 Lediglich in demjenigen vorhergehenden Abschnitt war sie unumgänglich bereits als ein thematisch besonderer Erörterungsgegenstand aufzugreifen, der sich wegen der mit dem Erscheinen der expliziten und speziellen Publikationen zur vernunftkritischen Rechts- und Staatsidee ideen- und zeitge511
Kelsen (Fn. 65). Ders. (Fn. 65). 513 Hinweis schon eingangs im Abschnitt I. sowie die betreffenden Nachw. in Fn. 36 und 37. 514 Zur insofern aus ideengeschichtlich kritischer und „nachkantischer“ Sicht bestehenden Unfertigkeit bzw. Unvollständigkeit der originären praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat siehe Bartlsperger (Fn. 2), 154 f. und 155 ff. mit entsprechenden Nachw. 515 Bartuschat (Fn. 381), 173/184. 516 Fn. 378. 512
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schichtlich gleichzeitigen Beurteilung derselben „nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“ und wegen des hiermit schon seinerzeit eingeleiteten und vorgezeichneten Weges der vernunftkritischen Rechtsbegründungsidee zur praktischen Vernunftidee vom geschichtlichen Recht und vom geschichtlichen Staat damit zu befassen hatte.517 Hieran anknüpfend bedarf es indessen nochmals einer genaueren Erfassung sowie einer auch abschließenden Verfolgung jener Thematik, im Verlaufe von deren ideengeschichtlicher Aufarbeitung und Entwicklung die vernunftkritische Idee vom Recht und vom Staat zur „nachkantischen“ Seinsidee vom vernunftbegründeten geschichtlichen Recht und geschichtlichen Staat werden musste und damit die „metaphysische“ Grundlage für eine Wissenschaftstheorie der Rechts- und Staatslehre entstehen konnte. In der zeitgeschichtlichen Staatsrechtslehre ist, soweit ein bei dieser Gelegenheit möglicher Überblick reichen kann, nicht erkennbar, dass die genannte, gerade auch die Frage geschichtlich realer Deduktion der originären vernunftkritischen Rechts- und Staatsbegründungsidee betreffende ideengeschichtliche Ausgangsproblematik oder dass gar die spezifisch sie betreffende nachfolgende fachphilosophische Entwicklung zu einer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften Aufmerksamkeit hätten auf sich ziehen können. Es handelt sich denn auch um eine schon im ideengeschichtlichen Ausgangspunkt nicht leicht aufzulösende, gleichwohl einer grundlegenden Bewältigung und Klarstellung bedürftige fachphilosophische Thematik;518 sie bringt freilich nicht die Voraussetzungen mit, um in einem aktuellen Bedeutungsvergleich mit zeitgeschichtlichen politischen Philosophien zur verfassungsstaatlichen Ordnung unter vermeinten Bedingungen und Anforderungen der politischen Gegenwart bestehen zu können.
517
Oben Abschnitt II.1. und2. Dazu Bartuschat (Fn. 381, 173 ff.), vor allem dessen Entwicklung und Beurteilung jener ideengeschichtlichen Problematik sowie der gegen die betreffenden Annahmen Kants von Fichte präzise geführten Kontroverse (a.a.O., 183 ff.). 518
XIII. Von der apriorischen Vernunftidee zur „nachkantischen“ Seinsidee vom Recht und Staat 1. – Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen und denkbaren Einwendungen entgegenzutreten: Die gegenständlich gewählte Thematik sowie die schon an den Anfang von deren Erörterung gestellte Behauptung und die betreffende, dann unter Berücksichtigung verschiedener ideengeschichtlich einschlägiger Entwicklungen und Gesichtspunkte weiterverfolgte und bekräftigte Annahme, wonach die rechts- und staatsphilosophische Ursprungs- und Begründungsidee vom Verfassungsstaat und von dessen staatsrechtlicher Ordnung unter den kulturgeschichtlichen Voraussetzungen in Deutschland nur in einer aus der praktischen Vernunftkritik begründeten Vernunftphilosophie vom Recht sowie vom Staat als Vernunftideen gesucht und gefunden werden kann, begründet sich aus dem dabei gemachten Anspruch, schon im originären und authentischen Aussage- und Bedeutungsgehalt jener praktischen Vernunftphilosophie den maßgeblichen Ausgangspunkt einer betreffenden nachvollziehbaren ideengeschichtlichen Entwicklung vernunftbegründeter Rechts- und Staatslehre sehen zu können, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Allerdings, wie eben bemerkt, schon in jenem Ausgangspunkt selbst beginnen in rechts- und staatstheoretischer Hinsicht nicht gerade geringe fachphilosophisch bedingte Probleme. Es bedurfte, wie ebenfalls schon hervorgehoben, erst einer von der Bewältigung jener Probleme ausgehenden „nachkantischen“ ideengeschichtlichen Entwicklung, um aus der ursprünglichen, „reinen“ praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat auch die Vernunftidee vom geschichtlich realen Recht und Staat, also einen vernunftbegründeten Rechts- und Staatbegriff, deduzieren sowie auf dieser Grundlage auch zu einer Wissenschaftstheorie vernunftbegründeter Rechtsund Staatslehre gelangen zu können. Es ist zuzugeben, dass dem die originäre und authentische, die sich als „praktisch“ und als „rein“ in ihrem apriorischen normativen Bedeutungsgehalt verstehende Vernunftidee vom Recht und vom Staat einigen Klärungsbedarf und einige Widerstände entgegenstellt. Dies bedurfte ideengeschichtlich einer „nachkantischen“ Aufarbeitung und sie ist es, die hier noch eine abschließende Erörterung und Klarstellung verlangt. 2. – Unverrückbar versteht sich jene genuine praktische Vernunftidee vom Recht als dem „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“, also jenes „Allgemeine Prinzip des Rechts“ von der vernunftnotwendigen wechselseitigen Komptabilität und Vereinigung ursprünglicher individueller Freiheiten,519 als eine apriorische und lediglich normative Idee vom 519
Kant (Fn. 3), 38 bzw. 39 (§ C).
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XIII. Vernunftidee und „nachkantische“ Seinsidee vom Recht und Staat
allgemeingültigen Recht und ebenso versteht sich die betreffende praktische Vernunftidee vom Staat nur als apriorische normative Idee der unter jener Rechtsidee entstehenden Vereinigung von Menschen, d. h. bloß als „Staat in der Idee“, die also beide jedem wirklichen Recht und jedem wirklichen Staat zur Richtschnur dienen.520 In dieser ihrer ausschließlichen ideellen Normativität ist die reine praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat selbstredender Ausdruck der apriorischen Unbedingtheit praktischer Vernunftphilosophie; ihr ersichtlicher Ertrag und ihre Konsequenz sind der alleinige Aussage- und Bedeutungsgehalt einer spezifisch rechts- und staatsphilosophischen Begründungsidee vom Recht und vom Staat. Eine hieran anschließende und klärungsbedürftige, spezifisch rechts- und staatstheoretische Thematik hatte sich daran erst dann und dadurch geknüpft, dass es auch darum gehen musste, jene in dem genannten Sinne rein normative Vernunftidee vom Recht und vom Staat mit deren geschichtlicher Realität in Verbindung zu bringen, also eine Vernunftidee vom geschichtlich realen Recht und vom im staatsrechtlichen Sinne geschichtlich realen Staat zu deduzieren und damit auch eine Voraussetzung und einen „metaphysischen“ Anknüpfungspunkt für eine dementsprechende Wissenschaftstheorie der Rechts- und Staatslehre zu begründen. Die originäre und authentische Grundlegung der reinen praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat will es an einer Beurteilung dazu, an einer noch ihr möglichen Auffassung zu dieser Angelegenheit auch keineswegs völlig mangeln lassen; aber sie möchte dazu lediglich „die besondere Natur des Menschen, die nur durch Erfahrung erkannt wird, zum Gegenstand nehmen“ und „an ihr die Folgerungen aus den allgemeinen moralischen Prinzipien“ zeigen, „ohne dass jedoch dadurch der Reinigkeit der letzteren etwas benommen, noch ihr Ursprung apriori dadurch zweifelhaft gemacht wird.“521 Nach dieser ihrer, aufgrund ihrer ausschließlich apriorischen normativen „Metaphysik der Sitten“ offensichtlich nur als möglich gesehenen Auffassung handelt es sich bei den Fragen einer Rechts- und Staatstheorie um ein „Gegenstück“, um „das andere Glied der Einteilung der praktischen Philosophie überhaupt“, um eine „moralische Anthropologie“, welche die subjektiven Bedingungen der Ausführung jener reinen praktischen Vernunftphilosophie vom Recht und vom Staat „in der menschlichen Natur“, die betreffenden „auf Erfahrung gründenden Lehren und Vorschriften enthalten würde.“522 Dies soll erklärtermaßen besagen, dass die apriorische normative Vernunftidee vom Recht und vom Staat nicht mit einer betreffenden moralischen Anthropologie von denselben vermischt werden, vor allem nicht auf die Letztere begründet werden, „aber doch auf sie angewendet werden“ dürfe.523 In methodologischer Hinsicht bedeutet dieser einschränkend gewählte Standpunkt der originären und authentischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat, dass diese eine klare Unterscheidung und eine eindeutige Trennung vornehmen möchte zwischen den betreffenden apriorischen normativen Prinzipien reiner 520 521 522 523
A.a.O., 129 (§ 45). A.a.O., 13. A.a.O., 13 f. A.a.O, 13.
XIII. Vernunftidee und „nachkantische“ Seinsidee vom Recht und Staat
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praktischer Philosophie und deren Anwendung auf die geschichtliche Realität von Recht und Staat. Sie sieht also den geschichtlich realen Rechts- und Staatsbegriff sowie eine dementsprechende Rechts- und Staatstheorie als eine technisch-praktische Begriffsbildung, welche nicht mehr der reinen praktischen Philosophie, sondern der theoretischen Philosophie zugeordnet ist.524 Ihr Blick und ihre Aussagebedeutung erscheinen insofern erklärtermaßen und entschieden beschränkt auf die objektiv gesehen pure Selbstverständlichkeit, dass die reine praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat in ontologischer Hinsicht auf die reale Seinsschicht eines geschichtlichen, sozialen und politischen Kollektivs trifft, auf diese angewendet werden kann und anzuwenden ist. Ihr allgemeines apriorisches normatives Prinzip des Rechts, wonach eine „jede Handlung recht ist, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammenbestehen kann“,525 wird lediglich in seinen subjektiven Ausführungsbedingungen im Bereich der „menschlichen Natur“, d. h. im Sinne der erwähnten sogenannten „moralischen Anthropologie“ verfolgt;526 auf diese Weise soll es bei einer apriorisch normativen Begründungsidee vom Recht und vom Staat bleiben können. Dagegen zu einer weitergehenden Überlegung, dass beim geschichtlich realen Vollzug der vernunftgeboten intersubjektiven Wechselseitigkeit individueller Freiheit real getragen von der betreffenden sozialen und politischen Wirklichkeit im Ergebnis die normative praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat zur Vernunftidee einer geschichtlich realen eigenständigen und objektiven ideellen Allgemeinheit derselben, also eine vernunftbegründete Seinsidee vom geschichtlich realen Staat, von einer geschichtlich realen Rechtsgemeinschaft und Staatlichkeit zu entstehen vermag und entstehen muss, wollte jene genuine, rein normative praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat gar keinen Beitrag mehr leisten. Hierauf bezieht sich denn auch die in den vorstehenden Erörterungen an jeweils gebotener Stelle zunächst einmal wiederholt getroffene Bemerkung, dass jene genuine praktische Vernunftphilosophie vom Recht und vom Staat in der betreffenden spezifisch rechts- und staatstheoretischen Hinsicht letzten Endes offen geblieben war, die Fragen nach einer praktischen Vernunftidee vom geschichtlich realen Recht und Staat sowie damit nach einer als Grundlage und Anknüpfungspunkt für eine Wissenschaftstheorie der Rechts- und Staatslehre fungierenden Vernunftidee vom Recht und vom Staat unbeantwortet gelassen habe, sich also insofern jedenfalls als objektiv unfertig erweise.527 Um dies zu wiederholen und nochmals genauer zu erklären: Aus Sicht einer Rechts- und Staatstheorie im fachspezifischen Sinne sowie aus einer wissenschaftstheoretischen Sicht derselben besteht das jedenfalls objektiv Unfertige im originären und authentischen ideengeschichtlichen Erscheinungsbild der genuinen praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat darin, dass diese ihre apriorische praktische Unbedingtheit nur noch in ihrem normativen Aussage524 525 526 527
Bartuschat (Fn. 381), 184. Kant (Fn. 3), 39 (§ C). A.a.O., 13. Fn. 514.
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XIII. Vernunftidee und „nachkantische“ Seinsidee vom Recht und Staat
und Bedeutungsgehalt für den betreffenden technisch-praktischen Anwendungsbereich verfolgt und dabei zu einer sogenannten „moralischen Anthropologie“528 gelangen möchte. Angesichts der von ihr erklärtermaßen als „Gegenstück einer Metaphysik der Sitten“ und „als das andere Glied der Einteilung der praktischen Philosophie“529 durchaus anerkannten technisch-praktischen Seite der reinen praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat hat sie sich für diese auf die Annahme eines normativen Anwendungsbereichs beschränkt und es offensichtlich dabei auch belassen wollen. Dies musste schon in der seinerzeit zeitgeschichtlichen, damals sogleich einsetzenden ideengeschichtlichen Beurteilung der genuinen praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat kritisch auffallen und in einer schon vorstehend in einem eigenen Abschnitt erörterten Weise zu der konzeptionellen Korrektur veranlassen, dass eine praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat „nach Prinzipien einer Wissenschaftslehre“ bereits als solche nur als eine Vernunftidee vom geschichtlich realen Recht und Staat gedacht werden könne.530 In der dort besagten Weise musste sich die Überlegung geradezu aufdrängen, dass die praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat in ihrem genuinen Verständnis die gar nicht zu vermeidende Frage aufzugreifen unterlassen bzw. sich dieser dezidiert verweigert hat, ob es überhaupt denkbar und vorstellbar ist, dass jenes vernunftnotwendige allgemeine Rechtsbegründungsprinzip von der wechselseitigen Intersubjektivität und der dabei zu gewährleistenden Komptabilität individueller Freiheiten seine in diesem Sinne kategorische Normativität im betreffenden technischpraktischen Anwendungsfall sich überhaupt entfalten sowie eine entsprechende technisch-praktische Begriffsbildung überhaupt eröffnen kann, ohne dass hierbei auch die Aktivierung eines Bewusstseins von einer wechselseitigen Anrufung und Anerkennung und von einer hierbei entstehenden Gemeinschaft sowie vom Recht und vom Staat als einer von dieser Gemeinschaft getragenen objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit erfolgt. Es stellt sich mit anderen Worten die fachphilosophisch ideengeschichtliche Frage, ob die genuine praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat in der geschilderten Hinsicht lediglich offen und unfertig geblieben war oder nicht vielmehr gerade entschieden den Standpunkt hatte beziehen wollen, dass jenes ihr Rechtsbegründungsprinzip der Wechselseitigkeit und kategorischen Kompatibilität individueller Freiheit ohne die Idee von einer dabei vorauszusetzenden Gemeinschaft sowie ohne die Idee einer im Ergebnis entstehenden objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit des Rechts und des Staates, d. h. gerade ohne eine solche intentionale Voraussetzung und ontologische Seite allein in seiner vernunftkritischen, apriorischen Normativität verstanden werden muss. Es handelt sich um eine das fachphilosophische Verständnis der genuinen praktischen Vernunftphilosophie, namentlich der betreffenden praktischen Vernunftphilosophie vom Recht und vom Staat, offenbar bis heute beschäftigende Frage, geradezu um „die“ Frage nach dem Aussage- und Bedeutungsgehalt origi528 529 530
Kant (Fn. 3), 13. A.a.O. Oben Abschnitt IV.
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närer praktischer Vernunftphilosophie überhaupt für eine Grundlegung vernunftbegründeter Rechts- und Staatslehre. Auf dem Spiel steht nicht weniger als die ganze „nachkantische“ ideengeschichtliche Entwicklung der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie in Bezug auf eine transzendentalphilosophische Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften, nicht zuletzt in Bezug auf eine Wissenschaftstheorie der Rechts- und Staatslehre. 3. – Sicherlich ist auf der Grundlage der originären und authentischen praktischen Vernunftphilosophie die angesprochene fachphilosophische Fragestellung eindeutig beantwortbar sowie das vernunftgebotene allgemeine Rechtsbegründungsprinzip von der intersubjektiven Wechselbezüglichkeit und kategorischen Komptabilität der individuellen Freiheiten insofern unzweideutig verstehbar. Danach soll die apriorische unbedingte Normativität jenes allgemeinen vernunftgebotenen Rechtsbegründungsprinzips bestehen und sich entfalten können, ohne dass hierfür notwendigerweise auch schon eine entsprechende intentional existierende Gemeinschaft der betreffenden Einzelnen vorausgesetzt und ohne dass die hierbei angestrebte Allgemeingültigkeit der Gesetze mit einer Seinsidee von deren objektiver und eigenständiger ideeller Allgemeinheit in Verbindung gebracht werden müsste. Für die genuine praktische Vernunftphilosophie ist allein die in der praktischen Vernunft begründete ursprüngliche individuelle Freiheit kraft ihres apriorischen normativen Bedeutungsgehalts und Anspruchs schon Grund genug, um eine vernunftnotwendige Pflicht intersubjektiver Wechselbezüglichkeit mit den Freiheiten der anderen sowie aus der betreffenden vernunftnotwendigen kategorischen Komptabilität jener Freiheiten die praktische Vernunftidee einer die Individuen verbindenden und vereinigenden Allgemeingültigkeit eines allgemeinen Gesetzes der Freiheit begründen zu können.531 Danach soll die vernunftnotwendige individuelle Freiheit schon selbst und allein sie selbst es sein können, aus der eine vernunftgebotene Wechselbezüglichkeit mit der Freiheit der anderen entsteht. Mit anderen Worten soll sich demzufolge die Subjektivität des Einzelnen nicht aus einer Wechselseitigkeit derselben in einer Gemeinschaft ergeben, vielmehr soll es sich umgekehrt verhalten, dass nämlich der vernunftbegründeten Wechselbezüglichkeit individueller Freiheit die Subjektivität des Einzelnen vorgeordnet ist.532 In einem solchen, also in jenem genuinen Verständnis des vernunftgebotenen allgemeinen Rechtsbegründungsprinzips vom Recht soll die den Einzelnen bindende Allgemeingültigkeit des Gesetzes nicht als eine objektive und eigenständige ideelle Allgemeinheit im Sinne eines Seinsgesetzes verstanden werden, die den Individuen äußerlich ist und ihnen aus Gründen des Rechts als eine auf wechselseitiger Anrufung und Anerkennung der Träger individueller Freiheit beruhenden geschichtlich realen Rechtsgemeinschaft gegenübersteht.533 531
Bartuschat (Fn. 381), 188 f. A.a.O. 533 Letzteres ist die gegenteilige Auffassung Fichtes, wonach die geschichtliche Deduktion der Allgemeingültigkeit des Rechts nur aus einer betreffenden faktischen Gemeinschaft, also 532
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Gleichwohl konnte jenes genuine, das rein normative Verständnis des allgemeinen Vernunftprinzips vom Recht letzten Ende nicht überzeugen; schon in der ideengeschichtlich gleichzeitig reagierenden sowie in der nachfolgenden ideengeschichtlichen Beurteilung und Entwicklung konnte es bei einer genaueren und speziell wissenschaftstheoretischen Beurteilung keinen Bestand haben.534 Denn mit jener allein normativen Konzeption konnte nicht das Problem gelöst werden, dass die Allgemeingültigkeit des Gesetzes in der Idee und namentlich in seiner geschichtlich realen Deduktion hypothetisch bedingt ist durch ein gemeinsames Wollen jedes Einzelnen, den Anderen prinzipiell als vernünftig Handelnden anzuerkennen und die jeweilige Maxime des eigenen Handelns mit der vernunftgebotenen Allgemeingültigkeit des Gesetzes zusammenzubringen. Hierfür bedarf es auch der Voraussetzung einer intentional existenten Gemeinschaft, dass also das Recht und die im Rechtssinne verstandene Staatlichkeit von einer entsprechenden, im Bewusstsein der Einzelnen präsenten Gemeinschaft getragen sind. Denn, so musste die Frage gestellt und beantwortet werden, warum sollte der Einzelne die jeweiligen Maximen seines Handelns mit einer Allgemeingültigkeit des Gesetzes zusammenbringen, ohne die angenommene Voraussetzung einer im Bewusstsein existenten Gemeinschaft.535 Die in der genuinen Vernunftidee vom Recht und vom Staat insofern allein als Begründung genommene vernunftbegründete Subjektivität des Einzelnen kann hierfür nicht ausreichen. Vielmehr ist die Vernunftidee vom Recht und von der im Rechtssinne bestehenden Staatlichkeit auch durch eine Vernunftidee von einer Rechtsgemeinschaft und von einer mit der betreffenden Rechtsgemeinschaft verbundenen staatlichen Gemeinschaft bedingt, die sich aus Gründen eben jener Vernunftidee vom Recht und vom Staat als notwendig erweist. Die genuine praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat in dessen Rechtssinne versteht sich in ihrer genauer besehenen und zu Ende gedachten Folgerichtigkeit nicht nur als eine apriorisch normative Vernunftidee vom Recht und vom Staat, sondern auch als eine Seinsidee vom vernunftbegründeten geschichtlich realen Recht und Staat. Sie bedeutet nicht allein, dass eine praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat auch die Seinsidee einer im transzendentalen Bewusstsein der Einzelnen existenten rechtlichen und staatlichen Gemeinschaft zur Voraussetzung hat. Zu ihrem Aussage- und Bedeutungsgehalt gehört folgerichtig auch die Annahme einer Seinsidee von einer zufolge des allgemeinen vernunftgebotenen aus einer betreffenden empirischen Bedingung der Vernunftidee vom Recht und vom Staat für möglich gehalten wird (Bartuschat, a.a.O., 184 f. und 186). 534 Siehe die betreffende Argumentation von Fichte (Bartuschat, a.a.O., 184 – 186). 535 Fichte, Brief an Reinhold vom 29. 08. 1795 (Fn. 381), 385 sowie bei Bartuschat, a.a.O., 185. Zu der betreffenden gemeinschaftsbedingten Rechtsidee Fichtes auch Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, 1973, 32 ff. und ders., Naturrecht und Wissenschaftslehre, in: Kahlo/Wolff/Zaczyk (Hg.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis, 1992, 71/ 73 ff. und 85 ff.; in dem Zusammenhang zu der betreffenden Auffassung von Fichte ferner T. S. Hoffmann (Hg.), Das Recht als Form der „Gemeinschaft freier Wesen als solcher“, 2014 und Eisfeld, Erkenntnis, Rechtserzeugung und Staat bei Kant und Fichte, 2015.
XIII. Vernunftidee und „nachkantische“ Seinsidee vom Recht und Staat
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Rechtsbegründungsprinzips intersubjektiver Wechselbezüglichkeit und kategorischer Kompatibilität der individuellen Freiheiten der einzelnen entstehenden Allgemeingültigkeit der Gesetze als einer vernunftbegründeten objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit vom Recht und Entsprechendes gilt auch für die Vernunftidee vom Staat im rechtlichen Sinne. Danach entfaltet und bedeutet das aus jenen Vernunftgründen entstandene Recht, einmal gesetzt, ein inhaltliches, ein materiales Apriori des Rechts; für die Rechtslehre ergibt sich daraus in wissenschaftstheoretischer und methodologischer Hinsicht eine materiale Rechtstheorie, speziell für die Staatsrechtslehre ein materiales, auf eine objektive Wertordnung bezogenes Verfassungsverständnis sowie für die Staatslehre ein Staatsbegriff im staatsrechtlichen Sinne, der eben für das Staatsrecht des Verfassungsstaates als eine fundamentale regulative Idee fungiert. Die dargelegte, für die genuine praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat, für deren in sich unvermeidliche kritische Beurteilung und Aufarbeitung sowie die betreffende unumgängliche Fortbildung derselben zu einer vernunftbegründeten Seinsidee vom geschichtlich realen Recht und Staat sind, wie schon in einem vorstehenden Abschnitt speziell erörtert536 und eben nochmals genauer ausgeführt, erstmals schon in der betreffenden, in der seinerzeit unmittelbar reagierenden kritischen Rezeption jener vernunftkritischen „Rechtslehre“ und aus speziell wissenschaftstheoretischen Überlegungen und Gründen erfolgt.537 Aber dies war nur ein erster ideengeschichtlicher Schritt innerhalb der dann erst nachfolgenden generellen, als „nachkantisch“ zu bezeichnenden fachphilosophischen Entwicklung einer vor allem für den Bereich geistigen Seins grundlegenden transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie. Jedenfalls objektiv nachvollziehbar lässt sich insofern eine ideengeschichtliche Gedankenverbindung feststellen zwischen jener erörterten Begründung einer im transzendentalen Bewusstsein existenten Seinsidee vom Recht und vom Staat sowie der dann von einer sogenannten transzendentalen Phänomenologie allein in einem bestimmten Vermögen transzendentalen Bewusstseins generell begründeten transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie.538 In deren erkenntnistheoretischem Verständnis ist es, letztlich in einer möglichen verkürzten Zusammenfassung formuliert, jedenfalls nicht schon das unmittelbare mundane Gegenstandsbewusstsein allein, sondern erst das transzendental reduzierte tätige Bewusstsein von jenem unmittelbaren Gegenstandsbewusstsein, das letztlich die Objektivität in der Erkenntnisrelation erzeugt und Erkenntnis ermöglicht.539 Die ideengeschichtlich „nachkantische“ Fortbildung der genuinen praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat zu einer Seinsidee vom geschichtlich realen Recht und Staat vermochte in dieser Weise eine fachphilosophisch weiter fortge536
Oben Abschnitt IV. Fichte (Fn. 36). 538 Dazu Tietjen (Fn. 36), 205 ff. und 237 ff. 539 Ausschließliche Bedingung aller Erkenntnis ist danach das „unmittelbare Bewusstsein meiner selbst und meiner Bestimmungen“, dass ich „daher nicht ein Bewusstsein von Dingen, sondern ein Bewusstsein vom einem Bewusstsein der Dinge“ habe (Tietjen, a.a.O., 208 f.). 537
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schrittene erkenntnistheoretische Grundlegung zu erfahren.540 Die ideengeschichtliche Entwicklung jener für eine Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften und nicht zuletzt von Rechtswissenschaft und Staatslehre fundamentalen transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie braucht hier als solche nicht weiter erörtert zu werden. Aber jener „Phänomenologische Idealismus“ muss konstatiert werden zum Zwecke einer erkenntnistheoretischen Vergewisserung des Weges, den die praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat zu einer im transzendentalen Bewusstsein existenten vernunftbegründeten Seinsidee nehmen musste. Die betreffende ideengeschichtliche Entwicklung zu Ende verfolgt, geht es darum, dass die praktische Vernunftbegründungsidee vom Recht und vom Staat, wie vorstehend erörtert, sowohl in ihrer Voraussetzung als auch in ihrem Ergebnis nicht gedacht werden kann ohne eine ontologische Vorstellung von einer entsprechenden, im transzendentalen Bewusstsein existenten objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit von Recht und Staat. Es ist dieser in der praktischen Vernunftphilosophie von ihrem zentralen und fundamentalen allgemeinen Vernunftprinzip des Rechts nicht wegdenkbare Seinsgedanke, der die praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat ontologisch macht.541 Verallgemeinert gesagt, ist es der für die praktische Vernunftphilosophie unumgängliche Seinsgedanke der praktischen Vernunftideen, der ihren transzendentalen Idealismus auch realistisch macht. Es ist das im Sinne jener erwähnten transzendentalen Phänomenologie in der Erkenntnisrelation tätige Objektbewusstsein, das in der genuinen vernunftkritischen, transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie deren idealistisches Element wenn nicht ersetzt, so doch dieses jedenfalls mit einem Realismus vereinbar macht oder anders gesagt eine transzendentale Erkenntnistheorie „diesseits von Idealismus und Realismus“ begründet.542 In einer ideengeschichtlichen Rückschau wiederholt und bestätigt sich damit die erörterte, ideengeschichtlich schon frühzeitig „nach Prinzipen der Wissenschaftslehre“ getroffene Beurteilung der genuinen praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat; wie in jener Beurteilung überzeugend dargelegt, ist sie eben nur unter der Annahme denkbar und fungibel, dass ihr betreffendes allgemeines Vernunftbegründungsprinzip des Rechts von der Intersubjektivität und vernunftgebotenen Komptabilität der individuellen Freiheiten unter der Bewusstseinsvoraussetzung von einer entsprechenden rechtlichen Gemeinschaft auch effektiv ist. Die praktische Vernunftidee vom Recht ist danach nur denkbar und fungibel als Inbegriff von realen Bewusstseinsbedingungen, „unter denen die Willkür 540
Ideengeschichtlich generell ist es um die erkenntnistheoretische Möglichkeit von „Realität im transzendentalen Idealismus“ gegangen (Tietjen, a.a.O., 205 ff.). Speziell für die Rechts- und Staatstheorie hat es bedeutet, dass eine praktische Vernunftidee vom geschichtlich realen Recht und Staat auf der Grundlage und im Rahmen von vernunftkritischer Erkenntnistheorie begründbar geworden ist. 541 Anlässlich einer Kennzeichnung des transzendental-idealistischen Elements in der Ontologie, wonach die Vernunftidee die Ontologie kritisch, der Seinsgedanke aber die Idee ontologisch mache (Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Fn. 37, 195). 542 A.a.O., 194.
XIII. Vernunftidee und „nachkantische“ Seinsidee vom Recht und Staat
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des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“;543 sie hat nicht nur die Funktion einer vernunftgeboten apriorisch normativen Rechtsbegründungsidee. Vielmehr handelt es sich zugleich um eine von jener ihrer apriorischen normativen Funktionsweise für das „äußere“, für das „statutarische“ Recht aus den erörterten Gründen gar nicht wegdenkbare transzendentale Seinsidee; sie gilt dem im Sinne jenes allgemeinen vernunftgebotenen Rechtsbegründungsprinzips aktivierten und tätigen Bewusstsein des betreffenden sozialen und politischen Kollektivs von einer im Zuge jenes intersubjektiven und kompatibilitätsgebundenen Rechtsbegründungsvorganges entstehenden, in einem ontologisch kategorialen Sinne bewusstseinsgetragenen objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit des Rechts sowie des unter diesem konstituierten Staates. 4. – Angesichts der fachphilosophisch nachvollziehbaren „nachkantischen“ Entwicklung praktischer Vernunftphilosophie, speziell ihrer praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat, könnte man versucht sein, deren apriorische normative Funktion für das positive Recht und für die betreffende geschichtlich reale Staatlichkeit im staatsrechtlichen Sinne sowie deren ontologischen Aussage- und Bedeutungsgehalt als einer Seinsidee vom Recht und vom Staat als „zwei Seiten“ in einem erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretischen und methodologischen Sinne zu bezeichnen. Indessen wäre dies eine missverständliche, eine in der Sache fundamental irreführende Begriffsbildung. Eine Bezeichnung als „Zwei-SeitenTheorie“ ist bekanntlich und, wie vorstehend eingehend erörtert, besetzt durch die neukantische Unterscheidung und erkenntnistheoretisch essentielle Trennung eines „juristischen“ Formalismus und einer Sozialtheorie des Rechts, eines „soziologischen und juristischen Staatsbegriffs“. Im erkenntnistheoretisch fundamentalen Gegensatz dazu ist die praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat in ihrem ideengeschichtlich schließlichen „nachkantischen“ Verständnis gerade durch einen, durch ihren dezidierten Monismus von transzendentalem Idealismus und Realismus gekennzeichnet. Das allgemeine Vernunftprinzip des Rechts hat sich in der erörterten Weise als normative Rechtsbegründungsidee nur unter der hierfür zugleich vorauszusetzenden Seinsidee einer betreffenden intentional existenten rechtlichen und staatlichen Gemeinschaft überhaupt als fungibel erwiesen sowie als gar nicht denkbar ohne die Seinsidee einer im Rechtsbegründungsergebnis entstehenden objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit des Rechts sowie einer unter diesem im Rechtssinne vereinigten Staatlichkeit. Die praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat hat nicht nur jede in der vorausausgegangenen Ideengeschichte, namentlich jede nur rational begründete oder in anderer Weise angenommene Seinsidee vom Recht und vom Staat „kritisch“ gemacht, sondern auch umgekehrt hat sich ihre „kritische“ Idee vom Recht und vom Staat in dem ihr eigenen Sinne letztlich als ontologisch in der Bedeutung einer Ontologie als der Lehre vom Seienden erwiesen. Das Letztere allerdings führt für die praktische Vernunftidee vom Recht und 543
Kant (Fn. 3), 38.
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XIII. Vernunftidee und „nachkantische“ Seinsidee vom Recht und Staat
vom Staat zu der Konsequenz, dass für ihre in dem erörterten Sinne verstandene Seinsidee von einer vernunftbegründeten objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit des Rechts und des Staates schließlich auch im Bereich der ganz anderen fachphilosophisch eigenen Disziplin einer Ontologie in deren „neuem“ Sinne einer Lehre vom Seienden eine zutreffende Einordnung erfolgen muss; es geht insofern darum, aber auch nur darum, dass für die vernunftbegründete Seinsidee vom Recht und vom Staat auf der Grundlage und im Rahmen einer Lehre vom Seienden das betreffende Problem, „Das Problem des geistigen Seins“,544 einer Klarstellung bedarf. Die gemeinte betreffende Ontologie hat nichts zu tun und in keiner Weise noch etwas gemeinsam mit der sogenannten alten Ontologie in deren Bedeutung einer spekulativen Metaphysik als der Lehre von den letzten Gründen des Seins, von dessen Wesen und Sinn überhaupt.545 Es geht im Sinne einer sogenannten „Neuen Ontologie“ um nicht mehr aber auch um nicht weniger als um die in dem bezeichneten Verständnis fachphilosophisch spezifische ontologische Perspektive der praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat, letzten Endes auch um die mit dieser „neuen“ ontologischen Perspektive verbundene unmittelbare ontologische Anknüpfung und Grundlegung einer Wissenschaftstheorie und Methodologie vernunftbegründeter Staatsrechtslehre. Nicht mehr die praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat selbst als die ursprüngliche transzendentale normative Begründungsidee und deren im erörterten Sinne transzendentale Seinsidee vom Recht und vom Staat steht letztlich abermals in grundlegender Hinsicht zur Erörterung, sondern lediglich noch die ihr geistiges Sein als Seiendes und nur als solches speziell in dem dargelegten Verständnis ontologisch betreffende Perspektive. Die sogenannte „Neue Ontologie“ in der ihr eigenen Entwicklung und Aufgabenstellung vermag dazu in erster Linie den in fachphilosophischer Hinsicht geforderten genaueren Aufschluss zu geben; aber mit jener ontologischen Perspektive sind auch spezielle staatsrechtliche, staats- und verfassungstheoretische Modalitäten verbunden.
544 545
5 ff.
Nicolai Hartmann (Fn. 37). Zum „Ende der alten Ontologie“ Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie (Fn. 37),
XIV. Die ontologische Perspektive – Ihre staats- und verfassungstheoretischen Modalitäten 1. – Ganz auf der Grundlage und gemäß der erörterten „nachkantischen“ Entwicklung transzendentalphilosophischer Erkenntnistheorie sowie ganz im Sinne des dabei spezifisch kennzeichnenden Monismus von transzendentalem Idealismus und Realismus gelangt die betreffende „Neue Ontologie“ zu einer allgemeingültigen Seinslehre; diese vermag nicht nur alles Seiende zu erfassen, sondern erlaubt es auch, innerhalb des geordneten „natürlichen“ Ganzen des Seins anhand von transzendental phänomenologischen Objekteigenschaften eine ontologisch kategoriale Schichtenfolge vom „Niederen“ zum „Höheren“ sichtbar und erklärbar zu machen. Speziell und vor allem „Das Problem des geistigen Seins“546 hatte dabei angestanden und es hat sich einer kategorial ontologischen Klarstellung zugänglich gezeigt. Vor dem Hintergrund vorgängiger unterschiedlicher Bestimmungen des „Geistigen“ in der einschlägigen Ideengeschichte der Philosophie547 erweist sich dessen Seinsbereich auf der Grundlage der transzendentalphilosophisch-realistischen „neuen“ Ontologie als das im aktivierten und tätigen Bewusstsein existente, sowohl von realem Sein getragene, gleichwohl aber auch autonome Wissen von der Welt. Nicht weniger fundamental ist an dieser kategorial ontologischen Erfassung des Geistigen seine aufgrund von unterschiedlichen, es jeweils unmittelbar tragenden Seinsgegebenheiten dreifache Gliederung. Innerhalb der betreffenden „drei Grundformen des geistigen Seins“548 findet letztlich auch die praktische Vernunftidee vom geschichtlich realen Recht und Staat als Seinsidee ihre Einordnung und Bestimmung. Die auf der genannten Grundlage transzendentaler Phänomenologie sowie unter den dementsprechend spezifischen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der sogenannten „Neuen Ontologie“ das geistige Sein konstituierenden drei ontologischen Grundformen ergeben sich aus zwei überkreuzend wirksamen ontologischen Gegensatzpaaren.549 Zum einen lässt sich ein fundamentaler ontologischer Gegensatz ausmachen zwischen einem real lebendigen sowie einem bereits in einer geformten Materie festgehaltenen und verfestigten geistigen Sein. Zum anderen stehen sich ein lediglich individuell getragenes sowie ein im Bewusstsein einer Gemeinschaft existentes überindividuelles geistiges Sein gegenüber. Individualität und Lebendigkeit geistigen Seins bestimmen den sogenannten „personalen Geist“.550 Auf 546 547 548 549 550
Nicolai Hartmann (Fn. 37). A.a.O., 45 ff. A.a.O., 71 ff. A.a.O., 71. A.a.O., 45 ff.
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XIV. Die ontologische Perspektive
der anderen Seite ist das in schriftlichen oder in materiell geformten „Werken“ fixierte geistige Sein in dieser seiner realen Form sogenannten „objektivierten Geistes“ dem geschichtlichen realen Leben enthoben und zu einer bloßen Idealität gelangt.551 Schließlich bilden reale Überindividualität und Lebendigkeit zusammen den Seinsbereich „objektiven Geistes“.552 Aufgrund von dessen Lebendigkeit ineins mit dem genannten personalen Geist, andererseits aufgrund seiner Überindividualität ineins mit dem genannten objektivierten Geist macht er das Sein des geschichtlich realen Geistes aus. Es ist diese Letztere, die im Sinne der „Neuen Ontologie“ spezifische ontologische Grundform „objektiven Geistes“, die der praktischen Vernunftidee vom geschichtlich realen Recht und Staat zu der ihr eigenen ontologischen Perspektive verhilft und sie auf solche Weise auch wissenschaftstheoretisch unmittelbar greifbar macht. Freilich bedarf diese in einem genuin „neuen“ ontologischen Sinne verstandene und definierte Grundform „objektiven Geistes“ angesichts offenkundiger, allein schon durch die gleiche Begriffsbildung geweckter kritischer ideengeschichtlicher Reminiszenzen an ihre Verwendung in der erörterten geschichtsphilosophischen Vernunftmetaphysik553 noch einer weiteren Erläuterung und Klarstellung. Ganz zu schweigen ist von dem Odium, das jener ontologischen Grundform eines lebendigen objektiven geistigen Seins von Seiten der Ressentiments eines naturwissenschaftlichen Dogmatismus gegen eine Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie geistigen Seins überhaupt anhängt. Indessen die letzteren Anfeindungen von Seiten eines naturwissenschaftlichen Dogmatismus gegen die erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Akzeptanz einer ontologischen Grundform „objektiven Geistes“ beurteilen sich im gegenständlichen thematischen Rahmen schon von selbst; sie stehen mit ihrer Ablehnung praktischer Vernunftphilosophie und überhaupt mit ihrer Verneinung einer in der Vernunftkritik, in deren entsprechender umfassender transzendentaler Erkenntnistheorie begründeten wissenschaftlichen Metaphysik des Geistes ohnedies unter ganz anderen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen. Anders dagegen verlangt die im Rahmen der „Neuen Ontologie“, speziell in deren ontologischer Grundlegung geistigen Seins geschehene Rezeption der ideengeschichtlich aus der Vernunftmetaphysik stammenden Begriffsbildung von einer Grundform „objektiven Geistes“ nochmals eine genauere Vergegenwärtigung und Beurteilung; sie dient einer notwendigen ideengeschichtlichen Klarstellung und Distanzierung angesichts der mit der Begriffsbildung und Begriffsverwendung „objektiven Geistes“ verbundenen ideengeschichtlichen Reminiszenzen an die ursprüngliche „Entdeckung“ jener Grundform geistigen Seins in der spekulativen Gesichtsphilosophie der Vernunftmetaphysik. 2. – Die im Sinne der „Neuen Ontologie“, in deren spezifisch transzendentaler Phänomenologie begriffene ontologische Grundform „objektiven Geistes“ hat in ihrer allein transzendentalphilosophischen Grundlegung nichts gemeinsam mit der 551
A.a.O., 406 ff. A.a.O., 175 ff.; speziell zur Unterscheidung des objektiven vom objektivierten Geist noch a.a.O., 196 f. 553 Oben Abschnitt VII. 552
XIV. Die ontologische Perspektive
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ideengeschichtlich ursprünglichen, innerhalb der bekannten geschichtsphilosophischen „Phänomenologie des Geistes“ entwickelten Annahme einer vernunftmetaphysischen Grundform; deren spekulativer, metaphysischer „Entdeckerirrtum“ innerhalb jener seinerzeit zweifellos gemachten „Entdeckung“ ist in einem betreffenden eigenen, in dem genannten vorhergehenden Abschnitt ausführlich erörtert worden. Gleichwohl rechtfertigt sich die Rezeption jener ideengeschichtlich ursprünglichen Begriffsbildung vom „objektiven Geist“ innerhalb der „Neuen Ontologie“ aus gutem Grunde. Er liegt freilich allein darin, dass zur transzendental phänomenologischen Lösung des Seinsproblems einer geschichtlich realen objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit gerade die ursprünglich aus jener geschichtsphilosophischen spekulativen Metaphysik entwickelte Grundform „objektiven Geistes“ schon die ganz spezifische kategorial ontologische Struktur offenzulegen und zu bezeichnen vermocht hat. Sie besteht gemäß den erörterten, sich überkreuzenden Gegensatzpaaren in der ontologisch kategorialen Seinsweise geistigen Seins eben gerade darin, dass sich Lebendigkeit und Überindividualität derselben in einer Grundform „objektiven Geistes“ vereinigen und dass auf diese Weise eine Grundform geistigen Seins entsteht und besteht, die unbeschadet ihres intentionalen Getragenseins in einer entsprechenden realen Gemeinschaft, einmal positiviert, eine eigenständige objektive Wirkungsgeschichte entfaltet und so in einem transzendentalphilosophischen Sinne ein inhaltliches, ein materiales Apriori begründet.554 Die Grundform „objektiven Geistes“ ist zwar selbst getragen, sie ist überhaupt nur existent in aktiviertem und tätigem individuellen Bewusstsein;555 aber diese kategoriale Grundlegung einmal geschehen und vorhanden ist sie kraft ihrer Objektivität, aber auch allein kraft dieser ihrer Objektivität, zugleich eigenständiger, auch eigenständig wirksamer Träger der betreffenden ideellen Allgemeinheit. Zwar ist sie vom betreffenden Kollektiv intentional getragen, überformt dieses aber auch zu einer eigenständigen, eigenständig wirksamen geistigen Einheit und Ganzheit;556 die Einzelnen können sich überhaupt nur in dieser Objektivität verständigen. Unmissverständlich klar muss dabei nur eines sein, dass nämlich die „neue“ ontologische Grundform „objektiven Geistes“ nicht den spekulativ metaphysischen Begründungs- und Seinsmodus einer übermenschlichen Vernunft besitzt,557 dass sie vielmehr ausschließlich getragen ist von einer im realen geschichtlichen Geschehen und Wandel gemeinsamen wirkenden Vernunft individueller Personen. Man muss einräumen, dass die in der dargelegten Weise verstandene und begreifbare „neue“, in der besagten Weise transzendental phänomenologisch konsti554
205 ff.
Siehe insb. Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins (Fn. 37), 177 ff., 186 ff.,
555 Speziell zu dieser betreffenden Thematik und zu den betreffenden jeweiligen Fragen von „objektivem Geist und Individuum“ a.a.O., 205 ff. 556 Objektiver Geist als „Formgebung der Gemeinschaft“ (a.a.O.), speziell von Staat und Recht (a.a.O., 210 f.). 557 Deshalb nochmals ein Hinweis auf die betreffende distanzierende „Stellungnahme zu den Hegelschen Thesen“ (a.a.O., 197 ff.).
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XIV. Die ontologische Perspektive
tuierte und begriffene ontologische Grundform objektiven Geistes unvermeidlich mit den angesprochenen Gegenargumenten von Seiten einer sich ausschließlich theoretisch verstehenden Erkenntnistheorie sowie eines naturwissenschaftlichen Dogmatismus konfrontiert ist und bleiben wird. Aber es sind gerade auch diese betreffenden Argumente, die angesichts der einschlägigen Ideengeschichte der Erkenntnistheorie die stärksten und überzeugendsten Gründe für jene ontologische Grundform objektiven Geistes offenlegen und zu verdeutlichen vermögen. Die betreffenden Einwände gegen die Möglichkeit und Glaubwürdigkeit einer ontologischen Grundform objektiven Geistes stützen sich allein darauf, dass alles lebendige geistige Sein seine Voraussetzung und Grundlage immer nur in der Identität eines individuellen Bewusstseins mit der eigenen individuellen Personalität haben, dass es also allein als personaler Geist bestehen könne. Und in der Tat kann ein soziales Kollektiv selbst, weil es keine Personalität hat, auch kein eigenes Bewusstsein haben; es gibt kein selbständiges allgemeines Bewusstsein im Sinne eines „Überbewusstsein“ über dem individuellen Bewusstsein, weil es keine allgemeine Personalität über der individuellen Person gibt. Lebendiger Geist hat immer nur die Form personalen Bewusstseins zur Voraussetzung und Grundlage.558 Eine ontologische Grundform lebendigen objektiven Geistes leidet daher prinzipiell an einem ontologischen „modus deficiens“559. Bis zu diesem Punkt handelt es sich durchaus um eine in sich schlüssige kritische Beurteilung zur Seinsweise objektiven Geistes. Aber sie geschieht unter Vernachlässigung bzw. unter dem beabsichtigten Ausschluss eines in der Ideengeschichte der Erkenntnistheorie ganz wesentlichen Gesichtspunkts zum Verhältnis vom Bewusstsein und geistiger Welt. Denn sie steht eben auch, was den ideengeschichtlichen Standort ihrer das geistige Sein betreffenden Erkenntnistheorie angeht, außerhalb originärer transzendentalphilosophischer Erkenntnistheorie, außerhalb von deren kulturgeschichtlich revolutionärer und von da an fundamentaler vernunftkritischer Neubegründung der Erkenntnistheorie gerade in einem umfassenden „transzendentalen Bewusstsein“ und damit außerhalb einer darauf gegründeten wissenschaftlichen Metaphysik des Geistigen.560 Der ideengeschichtlich fundamentale und weitreichende Bedeutungs- und Funktionsgehalt transzendental idealistischen, vernunftkritischen Erkenntnisvermögens besteht im Bereich des Geistigen nicht nur darin, dass dieses kraft seines transzendentalen Objektbewusstseins überhaupt auch geistiges Sein wissenschaftlich zu erfassen vermag. Vielmehr erlaubt es das „transzendentale Bewusstsein“ in seinem folgerichtig „nachkantisch“ entwickelten, transzendental phänomenologischen Erkenntnisvermögen auch, geistiges Sein unter der Bedingung und Voraussetzung eines von einem entsprechend aktivierten und tätigen individuellen Bewusstsein der Einzelnen getragenen gemeinsamen geistigen Seins in 558
A.a.O., 305 und 311 f. A.a.O., 303. 560 „Transzendentales Bewusstsein“ ist als idealistischer Bewusstseinsbegriff gerade dadurch erkenntnistheoretisch begründet und gekennzeichnet, dass Erkenntnis keine reine individuelle Angelegenheit ist, dass vielmehr die Erkenntnisformen gemeinsam sind, d. h. die Vernunft „eine“ ist (a.a.O., 308). 559
XIV. Die ontologische Perspektive
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der ontologischen Grundform objektiven Geistes anzuerkennen.561 Die kategorial von einem gemeinsamen Bewusstsein der Einzelnen getragene ontologische Grundform objektiven Geistes gehört zum erkenntnistheoretischen Potential „transzendentalen Bewusstseins“ im Sinne vernunftkritischer Erkenntnistheorie. So besagt die praktische Vernunftidee vom Recht in deren ontologischer Konsequenz und Bedeutung, dass das Recht getragen von einem gemeinsamen individuellen Rechtsbewusstsein der Einzelnen, vom betreffenden Wissen derselben um die objektive und eigenständige ideelle Allgemeinheit und um den objektiven Geltungsanspruch des Rechts für alle existent ist in der ontologischen Grundform objektiven Geistes.562 Als positives Recht ist es in dieser seiner ontologischen Grundform objektiven Geistes jeweiligen positiven Objektivationen, als regelmäßig geschriebenes Recht den betreffenden schriftlichen Objektivationen anvertraut. Die Auslegung und Anwendung des Rechts bleibt auf den personalen Geist angewiesen.563 Es ist also die aus dem „transzendentalen Bewusstsein“ vernunftkritischen Erkenntnisvermögens erklärbare, in dessen letztlich transzendentaler Phänomenologie verstehbare kategorial angelegte Schichtenabfolge vom personalen Geist der Einzelnen zu einem davon getragenen Seinsmodus einer den betreffenden Individuen gemeinsamen, objektiven und eigenständigen ideellen Allgemeinheit, worin die ontologische Grundform objektiven Geistes ihre Voraussetzung und Grundlage findet; auch die praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat im Rechtssinne hat, wenn es um sie als Seinsidee geht, ihre Existenz in der spezifischen ontologischen Grundform objektiven Geistes. Dieser ontologischen Perspektive vernunftbegründeter Rechts- und Staatsphilosophie gilt es im Übrigen noch weiteres hinzuzufügen. Der Aussage- und Bedeutungsgehalt jener „neuen“ ontologischen Grundform objektiven Geistes vermag über die bloße Funktion eines ontologischen Abbildes der praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat hinaus auch noch genaueren Aufschluss über deren in fachspezifisch staatsrechtlichem Sinne verfassungs- und staatstheoretische Modalitäten zu vermitteln. 3. – Im Unterschied zu den in der schon genannten Weise zusammengefasst als kulturell zu bezeichnenden Bereichen geistigen Lebens ist es auf dessen gesellschaftlichem Gebiet, insbesondere im Bereich von Recht und Staat unumgänglich, dass Maßnahmen getroffen, Institutionen organisiert, Verfahren eingeleitet und durchgeführt sowie Entscheidungen getroffen werden; vor allem in politischen Angelegenheiten muss letztlich Handeln gewährleistet sein. Politisches Leben, Recht und Staat benötigen daher ein konstituiertes vertretendes bzw. repräsentierendes Bewusstsein, das über Kompetenzen verfügen, Entscheidungen treffen und
561 Die „neue“ ontologische Grundform objektiven Geistes ist getragen vom Bewusstsein des Einzelnen (a.a.O., 310 ff.). Sie ist nicht selbst Subjekt, sondern Objekt des sie betreffenden Bewusstseins. Subjekt des Bewusstseins der ontologischen Grundform objektiven Geistes sind die Individuen (a.a.O., 311). Es gibt also ein Bewusstsein vom objektiven Geist, aber nicht in ihm, sondern in den ihn ontologisch kategorial tragenden Individuen. 562 A.a.O., 313. 563 A.a.O., 313 f.
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XIV. Die ontologische Perspektive
Verantwortung übernehmen kann.564 Im Unterschied zu anderen Bereichen objektiven Geistes verlangen Recht und Staat von der sie intentional tragenden ontologischen Grundform personellen Geistes, dass ihnen von dort neben dem sie ohnedies schon repräsentierenden Bewusstsein auch eine sie repräsentierende Initiative und Aktivität vermittelt wird. Anders gesagt bedürfen Recht und Staat in ihrer ontologischen Grundform objektiven Geistes einer über diese ihre bloße Grundform hinausgehenden ontologischen Ergänzung. Abgesehen von der ohnedies generell notwendigen personalen Vermittlung eines repräsentierenden Bewusstseins des objektiven Geistes benötigen sie auch noch die personalen Fähigkeiten von Leitung und Handeln. Recht und Staat fordern die sie generell kategorial tragende Einzelperson über deren Individualität hinaus auch in deren besonderen, spezifisch rechts- und staatstheoretisch repräsentierenden Fähigkeiten.565 Eine normative Funktion allerdings kommt auch dieser bereichsspezifischen ontologischen Perspektive vom Recht und vom Staat nicht zu. Zwar mögen im Bereich politischer, rechtlicher und staatlicher Entscheidungen repräsentierende Institutionen und Verfahren den Regelfall bilden oder in der Sache ausschließlich in Betracht kommen. Aber eine aus ontologischen Gründen normative Exklusivität besitzen sie auch hier nicht, wenn man davon absieht, dass plebiszitäre Entscheidungsverfahren ebenfalls einer entsprechenden repräsentierenden institutionellen und verfahrensmäßigen Organisation bedürfen. 4. – Anknüpfend an jene Feststellungen zu den besonderen Seinsmodalitäten von Recht und Staat in der Grundform objektiven Geistes ist es eine schließlich noch einmal aufzugreifende Frage, namentlich eine die ontologische Perspektive der Vernunftidee vom Recht und Staat überhaupt betreffende abschließende Thematik, ob und inwiefern jene ontologische Grundform objektiven Geistes als ontologische Begründungs- und Seinsidee von Recht und Staat damit zugleich eine rechts- und staatsphilosophische Bedeutung auch als normative Begründungsidee für dieselben beanspruchen kann. Immerhin birgt die erörterte ontologisch kategoriale Abhängigkeit jener Grundform objektiven Geistes, deren generelles existentielles sowie speziell im rechtlichen und staatlichen Bereich auch repräsentierendes Getragensein durch den personalen Geist in verfassungs- und staatstheoretischer Hinsicht ein erst noch zu beurteilendes spezifisches Potential. Auf jeden Fall das allgemeine praktische Vernunftprinzip des Rechs bzw. des Staatsrechts von einem gebotenen intersubjektiven und kompatiblen Zusammenbestehen personeller Freiheiten nach einem allgemeinen Gesetze sowie die Idee einer demzufolge vernunftbegründet freiheitlichen, rechtsstaatlich demokratischen Verfassungsordnung vermögen sich in dem kategorialen Getragensein der ontologischen Grundform objektiven Geistes durch den personalen Geist wiederzufinden. Aber unbeschadet einer sicherlich in eine solche Richtung gehenden verfassungs- und staatstheoretischen Offenheit bzw. 564
A.a.O., 320 ff., speziell 321 ff. Das fachspezifische staats- und verfassungstheoretische Repräsentationsprinzip hat in dem bewusstseinsspezifischen sogenannten modus deficiens der ontologischen Grundform objektiven Geistes seinen sachnotwendig begründeten Sinn (a.a.O., 324). 565
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Eignung der Grundform objektiven Geistes lässt sich deren kategoriales Getragensein vom personalen Geist auch in anderen verfassungs- und staatstheoretischen Formen wiedererkennen.566 Die ontologische Grundform objektiven Geistes als solche und allein erweist sich in verfassungs- und staatstheoretischer Hinsicht durchaus als positivistisch. Die rechtliche Form bzw. die staatsrechtliche Ordnung, in welcher Recht und Staat in ihrer ontologischen Grundform objektiven Geistes vom betreffenden Kollektiv personalen Geistes getragen werden und in welcher Weise die dabei stets notwendige Repräsentation durch Einzelpersonen in institutioneller und verfahrensmäßiger Weise seine Organisation erfährt, erscheinen aus der ontologischen Perspektive als solcher prinzipiell gleichgültig. Einen normativen verfassungsund staatstheoretischen Aussage- und Bedeutungsgehalt könnte sie nur dadurch und erst dann annehmen, dass und wenn sie als ontologische Perspektive der praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat, als ontologische Perspektive der apriorisch normativen Vernunftidee vom Recht und vom Staat, angesehen, wenn also die „neue“ ontologische Grundform objektiven Geistes als die ontologische Perspektive der vernunftkritischen Ursprungs- und Begründungsidee des Verfassungsstaates und seiner staatsrechtlichen Ordnung fungieren würde. Die betreffende ideengeschichtliche Entwicklung transzendental idealistischer Philosophie indessen verläuft, wie hier erörtert worden ist, von der Vernunftkritik, von deren transzendentalphilosophischer Erkenntnistheorie, zur „Neuen Ontologie“; es gibt keinen Begründungsweg in umgekehrter ideengeschichtlicher Richtung. Aus Anlass der angesprochenen Fragestellung um die Voraussetzung eines normativen Aussage- und Bedeutungsgehalts der ontologischen Grundform objektiven Geistes hat man sich nochmals den ideengeschichtlichen Weg zu vergegenwärtigen, den die Erkenntnistheorie des transzendentalen Idealismus von ihrem ursprünglichen vernunftkritischen Ausgangspunkt zu einer vernunftkritischen Wissenschaftstheorie sowie zu einer generellen transzendentalen Phänomenologie genommen hat und auf dem es zu der erörterten erkenntnistheoretischen Erfassung und Bewältigung gerade des „Problems geistigen Seins“ gekommen ist. Es liegt denn auch durchaus in einer spezifischen Konsequenz jenes ideengeschichtlichen Weges, dass mit der betreffenden erkenntnistheoretischen, vernunftkritischen Begründungsidee eines „transzendentalen Bewusstseins“ von der Seinsweise objektiven und eigenständigen geistigen Seins567 auch deren originäre apriorisch normative Begründungsidee ideengeschichtlich wirksam und maßgeblich bleiben musste. Auch sprechen wesentliche und in der Sache greifbare Gründe dafür, dass die ontologische Grundform objektiven Geistes schon allein als solche unter gegebenenfalls eintretenden Umständen gar nicht ohne den apriorisch normativen Aussage- und Bedeutungsgehalt praktischer Vernunftphilosophie auskommt und dass speziell die betreffende ontologische Perspektive zur praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat in bestimmten Problem- und Bewährungsfällen gar nicht der apriorisch normativen 566 567
A.a.O., 321 f. Fn. 560.
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Bedeutung jener praktischen Vernunftidee entbehren kann. Man hat sich dies zu vergegenwärtigen, um gerade auch an der ontologischen Perspektive der praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat, d. h. selbst an dieser ontologischen Perspektive als solcher, verfassungs- und staatstheoretisch normative Modalitäten erkennen zu können. 5. – Aufgrund des erörterten kategorialen Aufruhens der ontologischen Grundform objektiven Geistes auf dem personalen Geist in dessen kollektiver Erscheinung ist es unumgänglich, dass sie von dort gerade in ihren Bereichen von Politik, Recht und Staat auch vielfältigen problematischen Einwirkungen ausgesetzt sein kann, die sich in den Vorstellungen und Bestrebungen des betreffenden Kollektivs bilden. Es ist keineswegs immer gewährleistet, dass die aus sich heraus eigenständigen und in diesem Sinne wirklichen Vorstellungen und Bestrebungen der Einzelnen sowie ein intersubjektiver und kompatibler Ausgleich unter diesen maßgeblich bleiben.568 In der Sache handgreiflich können es vor allem in politischen Bereichen die Fälle einer in dem betreffenden Kollektiv entstehenden und wirkenden Suggestion oder gar einer „Massensuggestion“ sein569 sowie sonstige Fälle einer für den personalen Geist uneigentlichen kollektiven Bewegung sein, welche die Rolle und den Vorrang von Subjektivität und Personalität bei der kategorialen Konstituierung des objektiven Geistes verfehlen und verfälschen.570 Unter dergleichen Geschehnissen und Voraussetzungen, unter solchen Bedrohungen und daraus hervorgehenden Irrungen objektiven Geistes geht dessen ontologische Grundform ihrer kategorialen Unfehlbarkeit bei der intersubjektiven Objektivierung personalen Geistes verlustig; man kann also davon sprechen, dass es „Echtes und Unechtes im objektiven Geiste“ gibt.571 Ungeachtetdessen handelt es sich hierbei um eine Unterscheidung, die ausschließlich dem spezifisch ontologischen Wesen der Grundform objektiven Geistes gilt. Sicherlich kann dieser, was die genannten Problemfälle einer Verfehlung seiner genuinen ontologischen Voraussetzungen angeht, ein Wissen um sich selbst haben. Aber dieses Wissen allein reicht nicht hin, um damit der ontologischen Grundform objektiven Geistes selbst auch schon eine normative Bedeutung und 568 Zutreffend ist daher das allein schon ontologische Unterscheidungskriterium eingeführt worden, wonach es „Echtes und Unechtes im objektiven Geiste“ geben könne (Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, Fn. 37, 338 ff.). Zur Veranschaulichung und Präzisierung ist hierbei auch darauf hingewiesen, dass sich für eine solche Unterscheidung auf der Grundlage der Vernunftmetaphysik und von deren geschichtsphilosophischem Verständnis objektiven Geistes keine Grundlage findet (a.a.O., 338 f.); gleiches muss aber auch für jeden jenem geschichtsphilosophischen Realismus ideengeschichtlich folgenden wissenschaftstheoretischen und methodologischen Realismus in der Rechtstheorie gelten, aber nicht weniger auch für den „juristischen“ Formalismus. 569 A.a.O., 340 und 341 f. 570 Fälle politischer Mobilisierungsstrategien und politischer Agitation, welche die Subjektivität und Personalität korrumpieren und damit verhindern, dass die „neue“ ontologische Grundform objektiven Geistes für ihr Zustandekommen ethische Verantwortung und ein Gewissen verlangt (auch zu Letzterem schon a.a.O., 342 f.). 571 Fn. 568.
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Wirkungsentfaltung beizumessen. Dazu bedarf es erst der ideengeschichtlichen Vermittlung des in der praktischen Vernunftphilosophie begründeten normativen Vernunftprinzips ursprünglicher personaler Freiheit sowie des damit verbundenen allgemeinen Vernunftgebots einer unverfälscht notwendigen Intersubjektivität und Komptabilität der personalen Freiheit des einen mit derjenigen des anderen. „Echter“ objektiver Geist in dem erwähnten gemeinten normativen Sinne seines voraussetzungsgemäßen Aufruhens auf der unverfälschten Subjektivität personalen Geistes der Einzelnen ist nur als das nachvollziehbare ideengeschichtliche Erbe praktischer Vernunftphilosophie denkbar. Demzufolge und dementsprechend lässt sich eine abschließende Klarstellung treffen und eine eindeutige Antwort geben auf die in dem Zusammenhang schließlich gestellte Frage, ob und inwiefern allein schon der ontologischen Perspektive vom Staatsrecht und vom Staat im Rechtssinne, also bereits aufgrund von deren Seinsweise in der ontologischen Grundform objektiven Geistes, auch eine normative Festlegung in verfassungs- und staatstheoretischer Hinsicht eigen ist. Aus den genannten generellen Gründen ist dies selbstredend zu verneinen. Ausschließlich die dem Staatsrecht und dem Staat im staatsrechtlichen Sinne in deren ontologischer Grundform objektiven Geistes nachvollziehbar als ideengeschichtliches Erbe vermittelte vernunftkritische Ursprungs- und Begründungsidee des Verfassungsstaates, deren apriorisch normative Idee vom Recht und vom Staat ist es, aus der sich eine normative Verfassungs- und Staatstheorie ergibt. Die praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat als normative Ursprungs- und Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung konnte im Verlaufe ihrer ideengeschichtlichen Durchdringung und Präzisierung ontologisch werden, aber auch in umgekehrter ideengeschichtlicher Richtung vermag die ontologische Perspektive vom Staatsrecht und vom Staat eine normative Idee vom Verfassungsstaat und von dessen staatsrechtlicher Ordnung nur in Verbindung mit der praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat als der Ursprungs- und Begründungsidee vom Verfassungsstaat, also nur auf jener Grundlage, anzunehmen. Erst beide zusammen, sowohl Recht und Staat als praktische Vernunftidee in deren apriorisch normativer Bedeutung wie auch als transzendental phänomenologische Seinsidee in der ontologischen Grundform objektiven Geistes, können, so muss das Resümee lauten, als die rechts- und staatsphilosophische Bedingung vernunftbegründeter Staatsrechtslehre gelten. Beides zusammen bildet eine wissenschaftliche Metaphysik verfassungsstaatlicher Ordnung und verfassungsstaatlicher Staatsrechtslehre.
XV. „Metaphysik“ der Verfassungsstaatlichkeit Die der praktischen Vernunftidee vom Staatsrecht und vom Staat in deren ontologischer Perspektive zugeordnete Seinsidee einer ontologischen Grundform objektiven Geistes ist der erkenntnistheoretisch, d. h. im Sinne der Erkenntnisrelation, gegenständliche Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für die Wissenschaftstheorie sowie im Sinne der Erkenntnisrelation, für die einer solchen entsprechende Methodologie der Staatsrechtslehre. Jene ontologische Perspektive fungiert für die Staatsrechtslehre als die ihr zugehörige „Metaphysik der Erkenntnis“. In wissenschaftstheoretischer Hinsicht versteht sich danach jedes „statutarische“, in welcher Form auch immer positivierte Recht als eine objektive und eigenständige ideelle Allgemeinheit, die den vernunftbegründet ursprünglichen subjektiven Freiheiten der Einzelnen normativ gegenübersteht. In methodologischer Hinsicht besagt diese ontologische Perspektive, dass jeder Rechtsnorm eine objektiv und eigeständig existente, auch objektiv und eigenständig wirksame Idee eigen ist, die sich als auslegungsfähig, aber auch als auslegungsbedürftig erweist sowie im Wege der Anwendung eine Realisierung erfahren kann und zu erfahren hat. Für die Staatsrechtslehre bedeutet diese in einem ontologischen Sinne „metaphysische“ Grundlegung eine materiale Verfassungstheorie sowie die dementsprechende Methodologie. Die praktische Vernunftidee vom Recht und vom Staat in ihrer staatsrechtlichen Bedeutung als der genuinen, apriorisch normativen Ursprungs- und Begründungsidee verfassungsstaatlicher Ordnung fungiert als „Metaphysik des Verfassungsstaates“. Sie besteht in der apriorisch normativen Idee der Verfassungsstaatlichkeit als einer in der vernunftbegründet ursprünglichen Personalität und subjektiven Freiheit des Einzelnen gegründeten, dem allgemeinen praktischen Vernunftgebot von der Intersubjektivität und wechselseitigen Komptabilität der Freiheit des Einzelnen mit der Freiheit jedes anderen verpflichteten staatsrechtlichen Ordnung freiheitlicher, deshalb rechtsstaatlich gebundener und kontrollierbarer Demokratie sowie in der normativen Idee von einer unter solchen staatsrechtlichen Bedingungen sich konstituierenden Vereinigung der Einzelnen zum Staat. Die letztere, die praktische Vernunftidee vom Staat beansprucht innerhalb der praktischen Vernunftidee verfassungsstaatlicher Ordnung die normative Bedeutung der unter einer solchen Verfassungsordnung die Einzelnen vereinigenden sowie jener staatsrechtlichen Ordnung Einheit und Ganzheit verleihenden regulativen Idee. Die „Metaphysik des Verfassungsstaates“ in dem so bezeichneten verfassungs- und staatstheoretischen Aussage- und Bedeutungsgehalt ist die Identitätsnorm sowie die Identitätsgewährleistung der Verfassungsstaatlichkeit, auch ohne dass die Verfassungsurkunde eine solche in der ausdrücklichen Form einer sogenannten „Ewigkeitsgarantie“ oder
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„Identitätsgarantie“ kennt.572 Auch ist es schließlich jene in der praktischen Vernunftidee vom Recht und vom Staat begründete „Metaphysik des Verfassungsstaates“, die den sogenannten „Integrationsgrenzen“ bei der europäischen Integration573 Maßstäbe zu geben vermag.574
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Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz. Dazu Schmidt-Aßmann (Fn. 306). Durner, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2012, Bd. X, § 216, Rn. 18 ff. (Art. 23 Abs. 1 S. 3 Grundgesetz); zur entsprechenden sogenannten „Struktursicherungsklausel“ (Art. 23 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 Grundgesetz) a.a.O., Rn. 26 ff. und 38. 574 Maßgeblicher Beurteilungsstand Urt. BVerfG 12. 10. 1993, BVerfGE 89, 155 ff. (sogenanntes Maastrich-Urteil), 182 ff., 188 ff., 191 ff., 207 ff. und Urt. BVerfG 30. 06. 2009, BVerfG 123, 267 ff. (sogenanntes Lissabon-Urteil), 336 ff., 369 ff.: „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.“ Zu dieser Rechtsprechung Durner, a.a.O., Rn. 5 ff. und 11 ff.; ferner zu der Thematik Oeter, Souveränität und Demokratie als Probleme in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, ZaöRV 55 (1995), 659 ff. und Kokott, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), 7 ff. sowie Mannefeld, Verfassungsstaatliche Vorgaben für die europäische Integration, 2017. Eine stringent verfassungsstaatlich entwickelte „freiheitliche Souveränitätslehre“ steht für eine prinzipielle Kritik der genannten Verfassungsrechtsprechung und beurteilt die europäische Integration im Rahmen der Europäischen Union sowie der europäischen Währungsunion als „Souveränitätsverletzungen“ (a.a.O. S. 460 ff. bzw. 501 ff.). 573