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German Pages 196 Year 2021
Vermeer und Epikur
ANDREAS PRATER
Vermeer und Epikur Lebenslust in der Kunst der Frühaufklärung
DE GRUYTER
Gedruckt mit großzügiger Unterstützung der
ISBN 978‑3‑11‑068289‑2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-075955-6 Library of Congress Control Number: 2021940630 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliogra‑ fie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Vermeer, Milchmagd, Ausschnitt, © Amsterdam, Rijksmuseum Satz: LVD GmbH, Berlin Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com
Dem Freund Dieter Pointner, Schönau, zugeeignet
Inhalt Dank
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Tronies
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Das Mädchen mit dem Perlenohrring
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Eukrasie
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Lust
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Vermeer und die Philosophen
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Seelenruhe
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Schadenfreude
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Meeresstille
52
Der leere Kirchturm
56
Lebe im Verborgenen!
61
Die Frau mit der Goldwaage
68
Wissenschaft
82
Musik
86
Alltagsfreuden und der Tod
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Exkurs I. Blauer Lorbeer: Der Ruhm der Malkunst
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Der Tastsinn des Auges
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Genuss oder Ehe (Lust oder Liebe)
119
Exkurs II. Die Allegorie des (katholischen) Glaubens
129
War Vermeer ein Nikodemit?
149
Epikur, Vermeer und anderes
153
Nachwort auch als Einleitung zu lesen mit einem kurzen Exkurs zum Garten der Lüste von Hieronymus Bosch
164
Anmerkungen
170
Namensregister
190
Abbildungsnachweis
193
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Dank Mein Dank gilt dem De Gruyter Verlag, namentlich Dr. Katja Richter und Susanne Drexler für die Gestaltung und Ausstattung des Buches. Dr. Karin Zeleny bin ich für zahlreiche wertvolle Hinweise und kritische Lektüre zu großem Dank verpflichtet. Moritz Bittel hat mit seinem freundlichen Engagement bei AION art investment on next die Drucklegung des Buches in überaus dankenswerter Weise gefördert. Das Verständnis, die Geduld und Diskussionsbereitschaft meiner Frau waren wie stets auch hier für meine Arbeit von größtem Gewinn.
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Leer ist jenes Philosophen Rede, durch die kein Affekt des Menschen geheilt wird. Denn wie die Heilkunde unnütz ist, wenn sie nicht die Krankheiten aus dem Körper vertreibt, so nützt auch die Philosophie nichts, wenn sie nicht die Erregungen der Seele vertreibt.“ Epikur1 Philosophi sunt quodammodo pictores atque poetae. Non est enim philoso‑ phus, nisi qui fingit et pingit. Giordano Bruno2
Tronies Nach einer langen, bis in die griechische Antike zurückreichenden Vorlaufzeit wird das europäische 17. Jahrhundert zu einer Epoche tiefgreifender Erforschung von Emotionen und Leidenschaften in Literatur, Philosophie, Kunst und natürlich auf den Bühnen des Theaters. In der als Wiedererfindung der antiken Tragödie entste‑ henden Oper finden große Gefühle ihren Schauplatz. In der Musik wird mit der Er‑ gründung des Ausdruckspotentials der Tonarten den Gemütsbewegungen des Men‑ schen große Aufmerksamkeit geschenkt. 3 Seit den theoretischen Fundierungen der Affektübertragung in Leon Battista Albertis Della Pittura (1435–1436) widmen sich die Künstler der genauesten, ja minutiösen Protokollierung seelischer Regungen. De‑ mokrit und Heraklit, der lachende und der weinende Philosoph erfreuen sich im Ein‑ zel- oder Doppelbildnis mit allen Varianten ihrer Gemütsverfassungen größter Be‑ liebtheit in den europäischen Bildergalerien.4 Dem rhetorischen Schema entsprechend schreibt der Humanist und Theologe Ge‑ rardus Jansz. Vossius Mitte des 17. Jahrhunderts dem Maler sowohl die Fähigkeiten eines Pathopoios als auch eines Ethopoios zu. Er meint damit, dass der Künstler so‑ wohl die Gefühle der Betrachter zu generieren als auch auf deren Lebensweise einzu‑ wirken weiß. Die Möglichkeiten ihrer Darstellung werden in der niederländischen Kunsttheorie ausführlich diskutiert. 5 Freude, Trauer, Zorn, Liebe, Heiterkeit, Hass, Furcht, Schmerz und Schattierungen wie Reue, Groll, Scham, Zögerlichkeit, Mitleid, Stolz usw., aber auch widerstreitende Empfindungen finden in Gesichts- und Körper‑ sprache hochreflektierten Ausdruck, um zu vielfältigen Reaktionen und Mitempfin‑ dungen, auch zu Abscheu oder Lachen auf der Seite des Betrachters anzuregen. Die Familienfeste eines Jan Steen, um nur ein Beispiel zu nennen, sind in dieser Hinsicht eine Fundgrube. Und natürlich lassen sich die Gesten der großen Gefühle ebenso vor‑
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Tronies
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züglich ironisieren. Allerdings entdecken die Maler auch Bezirke seelischer Befind‑ lichkeiten, die zu indifferent, delikat und unspektakulär sind, um in der Kunstlitera‑ tur Erwähnung zu finden. Wie etwa ließe sich mit der dort verfügbaren Begrifflichkeit der vielschichtige verhaltene Ausdrucksgehalt von Rembrandts Portrait des Jan Six (Amsterdam, Rijksmuseum) eindeutig bestimmen? Nicht nur in den Niederlanden, aber vor allem dort wurde auch eine Bildgattung begehrt, die für die Möglichkeiten prädestiniert war, vielfältigen Ausdrucksgehalt zu transportieren: die Tronies. Das sind Gesichter, im weitesten Sinne Studienköpfe, Bildnisse unbekannter Menschen oder sogar Phantasieprodukte ohne reales Modell.6 Anders als repräsentative oder private Portraits von Zeitgenossen, die einst benenn‑ bar waren und es teils jetzt noch sind, ist das Tronie anonym, frei von Konventionen, und seiner Entstehung liegt kein Auftrag zugrunde. Damit war es als Träger emotio‑ naler Ausdrucksformen verfügbar. Obwohl oft mit größter Kunstfertigkeit gemalt, konnten solche Bilder zumeist als preiswerte und begehrte Sammlerobjekte auch von weniger bemittelten Kunstliebhabern erworben werden. Die Freiheit, die in dieser Bindungslosigkeit gegenüber Dritten lag, wussten die Maler für unterschiedlichste Vorlieben zu nutzen. Häufig sind es phantasievolle, auch exotische Kostümierungen als Krieger, Orientale, Prophetengestalt, Sibylle, Patri‑ arch oder Bettler, wie wir das bei Rembrandt mit vielen Schattierungen der Gemüts‑ bewegungen, aber keineswegs nur bei ihm finden. Gelegentlich sind die Grenzen etwa zum Portrait historié unscharf. Solche „Studienköpfe“ haben – grob gespro‑ chen – in der Kunstgeschichte eine Tradition von Dürer bis Fragonard.
Das Mädchen mit dem Perlenohrring In aller Regel bleiben die verständlichen Versuche, die Identität eines Tronie zu ermit‑ teln, ohne Erfolg und im Hinblick auf den künstlerischen Erkenntnisgewinn wertlos, wie sich gerade im Fall von Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring (Den Haag, Mauritshuis) (Abb. 1) gezeigt hat. Ähnliches gilt, nebenbei gesagt, auch von dem Ohrgehänge, das diesem Sujet seinen Namen eingetragen hat. Die Bemühungen, dem Schmuck vielsagenden Symbolgehalt abzugewinnen, sind angesichts der außeror‑ dentlichen Häufigkeit von Perlen in Vermeers Frauenbildern wie in der holländischen Malerei überhaupt wenig erfolgversprechend. Eine tiefere Sinnebene lässt sich durch sie kaum erschließen Die Perle kann aber eine Anspielung auf den Namen Marga‑ retha oder Margriet sein von altgriechisch margarites, lateinisch margarita, Perle, aber auch dem Sprachgebrauch entsprechend als geläufige Metapher für ein anspre‑ chendes weibliches Wesen überhaupt einstehen.7 Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring trägt gleichsam sein eigenes vergegenständlichtes epitheton ornans mit höchst suggestiver Wirkung zur Schau.
1 Vermeer, Das Mädchen mit dem Perlenohrring, Den Haag, M auritshuis
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Das Mädchen mit dem Perlenohrring
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Man darf annehmen, dass die Maler ihre Studienköpfe in größtmöglicher Leben‑ digkeit und Lebenswirklichkeit erscheinen lassen wollten und zu diesem Zweck auch zu Mitteln greifen durften, welche die Normen des Standesportraits ihnen verwehrten. Was gab es für Möglichkeiten außer den üblicherweise angestrebten Idealen und den von allen Kunsttheoretikern und ‑schriftstellern mit den üblichen Topoi gepriesenen Kriterien der Naturnachahmung, um das zu erreichen? Man musste, wie an einem be‑ sonders aufschlussreichen Tronie-Thema, den Modellportraits junger Frauen, zu be‑ obachten ist, Strategien entwickeln, die diese Suggestion unterstützen konnten, indem sie die mediale Differenz zwischen Wirklichkeit und Bild durchbrachen. Das geschah nicht nur mit dem geläufigen Illusionismus des rahmenübergreifenden Trompe-l’œil, wie wir das z. B. bei Rembrandts Frau in einer geöffneten Tür (Berlin, Gemäldegale‑ rie) unter Verwendung eines innerbildlichen gemalten Rahmens oder in den Fenster‑ bildern Gerrit Dous finden.8 Subtiler sind in grenzüberschreitender Absicht wechsel‑ seitige Subjekt-Objekt-Relationen und die entsprechenden Reaktionen auf diese. Albertis wohlbekannter Topos des Gemäldes als Blick durch ein offenes Fenster9 erfährt hier eine Aufwertung und Umdeutung insofern als nun auch der Blick der Bildpersonen von außen in den Lebensbereich des Betrachters und auf diesen selbst oder sogar die Verweigerung eines Kontaktes inszeniert wird. Kommunikationspsy‑ chologische Interaktion tritt an die Stelle illusionistischer Trompe-l’œil-Wirkungen. Die Menschen im Bild werden nicht mehr nur als beobachtete Objekte gezeigt, son‑ dern als Personen, die in der einen oder anderen Weise darauf reagieren, in Augen‑ schein genommen zu werden. Sie geben den Betrachtern emotionale Signale in einer zuvor unbekannten Weise.10 Wird das Gegenüber des Betrachters überzeugend dergestalt vergegenwärtigt, als sei es ein quasi lebendiges, reaktionsfähiges und interagierendes Individuum, kann das für das wechselseitige Empfinden und Verhalten Konsequenzen haben. Die inten‑ sive Erforschung des Ausdrucksgehaltes eines solchen Tronie würde den Kunstlieb‑ haber bei bestimmten Konstellationen sogar in eine fragwürdige Situation bringen. Einer jungen Frau ausforschend ins Gesicht zu starren, wäre auch im weniger zeremo‑ niösen Holland des 17. Jahrhunderts durchaus ungehörig gewesen. Dergleichen Ver‑ haltensweisen sind allenfalls im Bordellmilieu üblich, wie entsprechende Genrebilder bezeugen. Auch wenn sich Vermeers Mädchen mit dem Weinglas (Braunschweig, Herzog Anton Ulrich Museum) (Abb. 2) das sich von dem devot-zudringlichen Herrn ab- und uns Betrachtern mit angeheitertem Lächeln zuwendet, nicht zwingend die‑ sem Themenkreis zuordnen lässt, fordert es ein entsprechendes Verhalten des Be‑ trachters geradezu heraus. Aber hier befinden wir uns nicht vis à vis mit einem iso‑ lierten, nahe gesehenen Studienkopf, sondern in Gesellschaft einer Dame mit zwei Kavalieren, einem gelangweilt dösenden und einem sehr bemühten, und zusammen mit diesem Personenkreis auch in einem definierten räumlichen Ambiente. Auf dergleichen müssen wir verzichten, wenn wir z. B. Rembrandts unergründli‑ chem oder frechem, närrisch lachendem und oft schmerzverzerrtem Konterfei begeg‑ nen. Wobei wir uns aber auch von den emotionsgeladenen und provozierenden Gri‑
Das Mädchen mit dem Perlenohrring
2 Vermeer, Das Mädchen mit dem Weinglas, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich Museum
massen zumal seiner radierten Selbstbildnisse nicht davon abhalten lassen wollen, diese ausführlich zu begutachten. Die Erregungen, die er vor dem Spiegel inszeniert, sind keine Reaktionen auf Betrachterverhalten, sondern provozieren solches. Sie spie‑ len Unbehagen, Belustigung, Kränkung, Ablehnung und Spott, die sein Betragen her‑ vorrufen könnte, gegen Genuss und Bewunderung der künstlerischen Umsetzung sei‑ ner Seelenzustände und ihrer schauspielerischen Darbietung im Bild aus. Das unterscheidet die Experimente mit der Physiognomie des sensiblen Grobians funda‑ mental von den Wirkungen des wechselseitigen Sehens und Gesehenwerdens, die im Gesicht eines von natürlicher Scheu befangenen weiblichen Wesens wahrgenommen werden können. Vor Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring sieht sich der Interessierte alsbald zu seiner scheinbaren Entlastung vom Vorwurf imaginärer Indiskretion freigespro‑ chen. Die Strategie des Malers zielt ja gerade darauf ab, den An- und Augenblick des innerbildlichen Geschehens in der Vorstellung des Betrachters nicht lange währen zu lassen und so von dem Verdacht zudringlicher Neugier abzulenken. Denn das Mäd‑ chen ist ja unverkennbar im Begriff, sich zu entfernen, als es soeben Anlass spürt, uns anzublicken. Nur der kurze Moment des Sich-Umwendens stellt einen intensiven, womöglich vielsagenden Blickkontakt her, der aber zu kurz sein wird, um auf seine Wangen eine spontane Rötung der Verlegenheit zu zaubern. Mutatis mutandis gilt das gleiche von den anderen ausschließlich weiblichen Tronies Vermeers. Eine Aus‑
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Das Mädchen mit dem Perlenohrring
3 Vermeer, Mädchen mit Flöte, Washington D. C., National Gallery of Art
nahme ist das Mädchen mit Flöte (Washington D. C., National Gallery of Art, Wi‑ dener Collection) (Abb. 3). Es befindet sich ganz offensichtlich in einem Gespräch mit dem Betrachter, was das verschattete ruhige Schauen aus dem Bild und umgekehrt den in dieses auf die Musikerin gerichteten Blick legitimiert. Flirrende Malweise und die gleiche instabile Beleuchtung kommen auch der ephemeren, aber wachen Erschei‑ nung des Mädchens mit dem roten Hut (Washington D. C., National Gallery of Art, Andrew W. Mellon Collection) (Abb. 4) zur Hilfe, dessen Gesicht sich im Spiel des Lichtes aufzulösen scheint. An den geröteten Wangen dieser Frauen lassen sich leicht die Reaktionen auf angeregte Kommunikation ablesen. Doch wird uns nur ein unge‑ nauer Blick auf eine optische Situation geschenkt, die keine eingehendere und tiefere Erforschung des Gegenübers zulässt, schon weil die Augen jeweils nur als unscharfe, bewegliche Flecke wahrnehmbar sind. Ganz anders verhält es sich bei dem Mädchen mit dem Perlenohrring. Es gibt ei‑ nerseits zu erkennen, dass es sich sogleich unseren Blicken entziehen wird. Anderer‑ seits bleibt dieser Moment ebenso wie sein Blick auf uns ungeachtet des feinen Sfu‑ mato mit allergrößter optischer Genauigkeit für alle Zeiten im Bild festgehalten. Doch das hat umgekehrt keinerlei Bedeutung für das Geschehen der innerbildlichen Erzählung. Der Stillstand der Bildwirklichkeit kommt der narrativen Intention zur Bewegung in die Quere. Er bietet somit dem Maler die Möglichkeit, Subjekt und Ob‑ jekt der Betrachtung in wechselseitig vertauschbaren Rollen gegeneinander auszu‑ spielen. Was sieht das Mädchen? Sein Mund öffnet sich wie leise sprechend, doch 16
Das Mädchen mit dem Perlenohrring
4 Vermeer, Das Mädchen mit dem roten Hut, Washington D. C., National Gallery of Art
was will er sagen? Der feuchte Glanz auf Augen und Lippen verbindet sich mit dem Schimmer der Perle zu sinnlichen Argumenten unwiderstehlicher Anziehung. Die Befragung der unbestimmbaren Gemütsstimmung und ebenso mögliche Phantasien über das unhörbar Gesagte und das „Je ne sais quoi“ werden ungeachtet der intendierten Flüchtigkeit der Begegnung beliebig andauern. Der Ausdruck ist multivalent, nicht festlegbar, und Spekulationen darüber mögen sich unwillkürlich einstellen. Das in Frage kommende Spektrum ist groß: Blickt das Mädchen freund‑ lich, verletzlich, aufmerksam, abgelenkt, traurig, nachdenklich, melancholisch, teil‑ nahmsvoll, überrascht, fragend, visionär oder etwa sinnlich, keusch, offen, introver‑ tiert, geheimnisvoll, sehnsüchtig, unschuldig, wissend usw.? Der Ausdrucksgehalt scheint sich ständig in Nuancen zu verändern, und seine Einschätzung ist in höchs‑ tem Maße abhängig sowohl von äußeren Bedingungen als auch von der aktuellen Be‑ findlichkeit und Stimmung des Beobachters. Ja, die Anmutung dieses Gesichtes ver‑ ändert sich im Verlauf einer längeren intensiven Betrachtung und mag sogar von leiser Trauer zu verhalten aufkeimender Freude changieren. Und die Fragen, die sich bei ihrem Anblick in uns regen, spiegelt auch ihr Blick auf uns. Aber alle Vermutungen dazu wären nichts weniger als eindeutig. Flüchtig wie sie sind, entgehen sie sogleich jedem Versuch, sie zu ergründen. Das Mädchen ist im Be‑ griff, sich aus dem Bildfeld zu entfernen; im Vorbeigehen nimmt es zwar noch an der Welt des Betrachters teil, hat sich ihr aber bereits in der Unbestimmbarkeit seiner psy‑ chischen Verfassung entzogen. Vermeers geniale Strategie ist es, die Aufmerksamkeit
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Das Mädchen mit dem Perlenohrring
5 Anthonis van Dyck, Selbstbildnis, Wien, Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste
6 Vermeer, Briefschreibendes Mädchen, Washington D. C., National Gallery of Art
für diese Gestalt mit minimalen Anzeichen immanenter Potentialität von Gefühls regungen wach zu halten. Das zieht das Interesse des Betrachters mit größter Sympa‑ thie auf sich, wird aber nicht eingelöst. Die Bilderzählung ist auf wenige Andeutun‑ gen reduziert, aber fraglos höchst lebendig. Dieses Tronie sucht nicht nur in der holländischen Malerei hinsichtlich seiner sensiblen Vitalität seinesgleichen. Allen‑ falls könnte es mit Van Dycks frühem Selbstbildnis, um 1615 (Wien, Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste) (Abb. 5), verglichen werden. Der junge Mann – mehr Tronie als repräsentatives Portrait – wendet sich über die rechte Schulter zum Betrachter.11 Sein großer Blick drückt nichts anderes aus als sich selbst. Er ist ganz Auge, Sehen, Blick des Malers. Bei den genannten Beispielen Vermeers, in denen die jungen Frauen Notiz vom Be‑ trachter nehmen, sind ihre Lippen leicht geöffnet, als sprächen sie oder wollten dies tun. Anders verhält es sich mit jenen, die bei ihrer Tätigkeit unterbrochen werden und dem Hinzutretenden einen wachen, aber verbal unbegleiteten Blick schenken wie etwa dem Briefschreibenden Mädchen (Washington D. C., National Gallery of Art) (Abb. 6). Und natürlich müssen gerötete Wangen nicht immer ein Zeichen von Verle‑ genheit sein, insbesondere dann, wenn der außerbildliche Betrachter gar nicht mit im Spiel ist wie etwa bei der lachenden Dame mit einem Offizier im angeregten Ge‑ spräch (New York, Frick Collection) (Abb. 7) oder dem Gitarre spielenden Mädchen (London, Kenwood House, Iveagh Bequest) (Abb. 8), dessen Mienenspiel anschei‑ nend einem nicht gezeigten Mitspieler oder Zuhörer deutliche Freude über gelunge‑ nes Musizieren und Beifall bekundet. 18
Das Mädchen mit dem Perlenohrring
7 Vermeer, Lachende Dame im Gespräch mit einem Offizier, New York, Frick Collection
Michiel Sweerts, ein Zeitgenosse Vermeers, hat mit seinem Tronie, das eine Junge Frau mit weißer Haube zeigt (Leicester, New Walk Museum & Art Gallery) (Abb. 9), einen anderen Weg gefunden, der Betrachtung legitime Muße zu gewähren: Sein frontal gezeigtes Modell blickt zur Seite, weiß nicht oder will nicht zu erkennen ge‑ ben, dass es weiß, genau in Augenschein genommen zu werden. Für letzteres spricht, dass eine zarte Röte seine Wangen färbt. Der Maler überführt die statische Situation des Modellstehens in Distanzwahrung und eine kaum merkliche Befindlichkeit un‑ terdrückter Verlegenheit. Um 1660 hat Sweerts sich eines minimal narrativen Kompositionsschemas be‑ dient, das bei Vermeer dann mit ganz anderer Sinngebung wiederkehrt. Sweerts zeigt
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Das Mädchen mit dem Perlenohrring
8 Vermeer, Gitarrespielerin, London, Kenwood House
eine junge Frau, offenbar eine Dienstmagd (gegenwärtig als Leihgabe in Den Haag, Mauritshuis) (Abb. 10), wie die einfache Kleidung und die in den Stoff gesteckten Na‑ deln verraten. Ihre Körpersprache drückt Unbehagen und etwas Unfreies, Unent‑ schlossenes aus. Sie wendet den Kopf zurück über die Schulter und blickt zur rechten Seite am Betrachter vorbei. Ihre Lippen sind aufeinandergepresst, als wollten sie eine Äußerung unterdrücken. Die Wendung des Oberkörpers nach links deutet zwar nicht darauf hin, dass sie im Begriff ist, sich dem Blickfeld zu entziehen, doch ihr Verhar‑ ren erscheint gezwungen. In ihrem leicht melancholischen Ausdrucksgehalt finden wir also das genaue Gegenteil zu Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring. Hier unbefangene Offenheit, bei Sweerts‘ Dienstmagd dagegen verschlossene, nicht eben glückliche, zwiespältige Gefühle, die sich auf den Betrachter übertragen und ihn zu Deutungen einladen könnten. Während diese junge Frau möglicherweise gönnerhafte, gar herablassende (und letztlich sich selbst beschämende) Neugier stimulieren mag (wie es später viel gröber und sentimental bei Jean-Baptiste Greuze abermals der Fall sein wird), setzt Ver‑ meers Mädchen mit dem Perlenohrring solchen Annäherungsversuchen eine sonder‑ bare Grenze. Das Gesicht zeichnet sich durch eine hochgradige „Schwingungsfähig‑ keit“ aus, wie die moderne Psychologie das vielleicht nennen würde. Es ist auf subtile Weise reaktionsbereit, responsiv und damit auch ein Spiegel der Befindlichkeiten de‑ rer, die es zu ergründen suchen. Die Bereitschaft zur Empathie mag hier stärker als bei anderen Tronies mobilisiert werden, doch woran soll sie sich orientieren? Das in‑ 20
Das Mädchen mit dem Perlenohrring
9 Michiel Sweerts, Junge Frau mit weißer Haube, Leicester, New Walk Museum & Art Gallery
10 Michiel Sweerts, Dienstmagd, Den Haag, Mauritshuis
nere Engagement des Betrachters findet trotz aller Kommunikationsfähigkeit der jun‑ gen Dame keine eindeutige Beantwortung außer jener Unbefangenheit, die ihm als offene Projektionsfläche seiner eigenen Empfindungen vor Augen steht.12 Im Zeitalter der Erforschung und Darstellbarkeit der Emotionen ist das Mädchen mit dem Perlenohrring eine paradoxe Erscheinung. Obwohl sich ihre Gemütsverfas‑ sung eindeutiger Bestimmbarkeit entzieht, ist die Ausdruckshaftigkeit oder besser, die Ausdrucksdichte im Gesicht der jungen Frau hoch. Hier liegt der klassische Fall des ineffabile, des „Nescio quid“, des „Je ne sais quoi“ vor,13 des „Ik en weet niet (en) wat“14. Nach Samuel van Hoogstraten ist dies eine unbestimmbare, undefinierbare Anmut. Während das „Je ne sais quoi“ in den Theorien des 17. Jahrhunderts auch auf das engste mit dem Sublimen, dem Großartigen, Überwältigenden und Erhabenen verknüpft wird,15 hebt der Delfter auf die unspektakulären, sogar unterschwelligen, aber Gemüt und Empfindungen subtil bewegenden Momente ab.16 Diese Strategie zielt auf eine kunstvolle Verwirrung der Gefühle beim Betrachter. Dergleichen kommt in der zeitgenössischen Theorie nicht vor. Außer Vermeer und Sweerts waren sich auch andere Maler der echten oder ge‑ spielten Problematik bewusst, einem jungen Mädchen ungeniert ins Gesicht zu star‑ ren, was durch den Umstand, dass es „nur“ gemalt ist, keineswegs abgeschwächt wird, wenn das reaktive Verhalten der Bildperson deutlich macht, dass sie sich der augenblicklichen Situation bewusst ist. Eine Möglichkeit dieser Peinlichkeit zu entge‑ hen war es, die Dargestellte den Blick abwenden zu lassen, als nähme sie den Betrach‑ ter bewusst oder scheinbar unbewusst gar nicht wahr. Solche Verhaltensweisen tran‑
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Das Mädchen mit dem Perlenohrring
11 Vermeer, Brieflesende junge Frau am offenen Fenster, Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister
szendieren ihre Bildgegenständlichkeit und lassen sie gleichsam zu „realen“ Personen werden. Eine Art widersprüchlicher, „negativer“ Kommunikation findet statt, gleich‑ sam ein Wegsehen, um nicht gesehen zu werden, wobei sich eben beiläufig auch ein tugendhaft zurückhaltendes Wesen beweisen möchte. Doch kein dialogbereiter Be‑ trachter entgeht solchen Wechselwirkungen. Auch Rembrandt und seine Schüler ha‑ ben nach Möglichkeiten gesucht, ihm kompromittierende Situationen der Imagina‑ tion zu ersparen. Mit dem Vermeiden von Blickkontakten kann eine Distanz eingefordert und zugleich aufgehoben werden, weil dies umso ungestörteren Kunst‑ genuss gewährt. Aber Rembrandt kehrt gelegentlich auch den Spieß um und lässt seine jungen Mädchen den Betrachter mit freundlicher Gleichgültigkeit mustern. Beobachtungen unauffälliger Verhaltensweisen und feinster psychischer Regun‑ gen können bei Vermeer eine zentrale Rolle spielen. Als ob sie das Gelesene leise mit‑ spräche, ruhig, ohne Emotionen zu zeigen, aber mit in sich gekehrter Konzentration ist die Brieflesende junge Frau am offenen Fenster (Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister) (Abb. 11) in ihre Lektüre vertieft, die sie vollständig gefangen nimmt. Das Innere des Wohnraumes und die introvertierte Haltung der Briefleserin korrespon‑ dieren miteinander. Es müssen bedeutsame Dinge und nicht unbedingt heitere sein, von denen sie da liest. Das sagen ihre beherrschte Körpersprache und der Gesichts‑ 22
Das Mädchen mit dem Perlenohrring
12 Adriaen van Gaesbeeck, Ruhe auf der Flucht, Leiden, Stedelijk Museum de Lakenhal
ausdruck. Der mattgrüne Bildvorhang spielt eine ambivalente Rolle in Bezug auf den Realitätsgrad des ganzen Gemäldes. Vermeer zeigt nicht, wo die Vorhangstange befestigt ist. Hätte er wie Rembrandt in der sog. Holzhackerfamilie (Kassel, Wilhelmshöhe, Gemäldegalerie Alte Meister) oder wie Adriaen van Gaesbeeck in der Ruhe auf der Flucht (Leiden, Stedelijk Mu‑ seum De Lakenhal) (Abb. 12) dem Interieur einen innerbildlichen gemalten Rahmen mit einer an diesem befestigten Vorhangstange gegeben, dann wäre auch dieses Ge‑ mälde eindeutig als Bild eines Bildes und somit als Sonderfall eines Stilllebens zu ver‑ stehen.17 Unbeschadet dieser keineswegs ausgeschlossenen Lesart suggeriert der Vor‑ hang in solch unklarer Zugehörigkeit aber, dass wir möglicherweise dennoch unbefugt zu Zeugen eines intimen Geschehens werden. Sofern wir uns aber zu der In‑ terpretation verstehen, dass hier eher ein in dem Gemälde dargestelltes Bild, also gleichsam ein Bild aus zweiter Hand vorliegt, sind wir entschuldigt, denn die lesende Frau entkommt unserer Neugierde ja in dieser doppelten ikonischen Brechung. Weil das, was wir sehen, dann ja „nur“ ein Bild ist, welches ein Bild abbildet, wird der Illusion, die Frau könne durch indiskrete Beobachtung bei ihrer Lektüre gestört wer‑ den, ein Riegel vorgeschoben. Doch kann eben diese Schranke bei dem Dresdener
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Das Mädchen mit dem Perlenohrring
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Gemälde sehr leicht übersehen und der Vorhang als illusionistisches Requisit stellver‑ tretend für einen wirklichen aufgefasst werden. Dies wiederum würde einen höheren Grad persönlicher Gegenwart der Briefleserin suggerieren und uns Betrachter in eine etwas indiskrete, voyeuristische Situation bringen. Schon lange war bekannt, dass im Hintergrund des Brieflesenden Mädchens (Abb. 11) das sehr große Gemälde eines Amor an der Wand zu sehen war, das aber unter einer großflächigen Übermalung verschwunden ist. Die Annahme, Vermeer selbst habe dieses Bild im Bild getilgt, hat sich jüngst als falsch erwiesen, das ist of‑ fenbar lange nach dem Tod des Malers erfolgt. Diese Farb- und Firnisschichten wer‑ den nun in mühsamer Restaurierungsarbeit entfernt. Der Cupido, der dabei wieder zum Vorschein kommt, gleicht jenem der Dame am Virginal stehend (London, Natio nal Gallery) (Abb. 13) mit dem abgesetzten Bogen in der rechten und der erhobenen linken Hand. Nur bleibt uns anders als bei diesem Liebesgott der Gegenstand, den der Dresdener da emporhält, hinter dem Vorhang verborgen. In ihrem Ausdruck al‑ lerdings unterscheiden sich die beiden gründlich voneinander. Während uns der Cu‑ pido im Zimmer der Dame am Virginal keck und fordernd entgegentritt, blickt jener des Brieflesenden Mädchens ernst, fast melancholisch aus dem Bild. Das scheint mit der verhaltenen Stimmung der Briefleserin zu korrespondieren. Aber gerade in der Rolle als voyeuristische Betrachter wird unsere Neugier ent‑ täuscht, weil der Amor hinter dem Vorhang ja versteckt, was er eigentlich zeigt. Das weckt die Versuchung, dieses höchst illusionistisch gemalte Stück Stoff zur Seite zu ziehen. In jedem Fall und gerade in dieser den Blick auf das Objekt des Interesses ver‑ hindernden Funktion aber ist der Vorhang eine Metapher des Sehens. „Durch das Enthüllen des zuvor Verhüllten wird ein Prozess in Gang gesetzt, der auf das begie‑ rige Sehen-Wollen des Betrachters abzielt. Der Vorhang hat somit auch die Funktion, die optische Wahrnehmung bezüglich des Dargestellten zu intensivieren.“18 Das aber gilt genauso umgekehrt, wenn etwas zuvor offenbar Gezeigtes, aber uns Unbekann‑ tes, nun plötzlich verschwindet und verborgen bleibt. Amors Rolle ist undurchsichtig. Das Mädchen mit dem Perlenohrring aber lässt sich nicht durch einen dergleichen Reflexionen einfordernden Vorhang schützen und zugleich präsentieren. Und doch gibt es hier ein in seiner Funktion vergleichbares Bildmittel. Der spontane Kontakt zum Betrachter und der sprechbereite Mund kommen der plötzlichen Freigabe durch das Öffnen eines Vorhangs gleich. Die beginnende Abwendung und damit das ange‑ zeigte Verschwinden des Mädchens aus dem Bildfeld entsprechen aber umgekehrt ebenso der möglichen Verhüllung, die ein Bildvorhang leisten könnte. Wie bei der Brieflesenden jungen Frau am offenen Fenster sind Präsenz und potentielle Absenz zueinander in ein Spannungsverhältnis gebracht. Das eine Mal durch den Bildgegen‑ stand Vorhang, das andere Mal durch das Verhalten des Mädchens mit dem Perlenohrring. Besonders deutlich ist das Thema der mit Anmut verbündeten scheuen Verlegen‑ heit unter den verschärften Bedingungen der Beobachtung, wie sie das Modellstehen vor dem Blick eines Malers mit sich bringt. Diese Konstellation finden wir in einem
Das Mädchen mit dem Perlenohrring
13 Vermeer, Dame am Virginal stehend, London, National Gallery
Hauptwerk Vermeers, der Ruhm der Malkunst (Wien, Kunsthistorisches Museum) (Abb. 14) gleichsam am Rande und doch zentral fokussiert. Es ist eine Situation, aus der es für das Modell kein Entrinnen gibt und die infolgedessen entsprechendes Ver‑ halten hervorruft. Die Eindringlichkeit, mit welcher der Maler sich der Beobachtung seines Modells, einer sehr jungen als Fama oder auch als Muse verkleideten Frau widmet, wird nur indirekt an ihrem Verhalten nachvollziehbar.19 Als ob sie sich von der aufmerksamen Prüfung des Malers ablenken wollte, hat sie den Blick in Betrach‑ tung der Gegenstände auf dem Tisch vor ihr gesenkt. Dass sie dabei eine ruhmkün‑ dende Allegorie zu spielen hat, inspiriert sie erkennbar noch gar nicht zu einem ent‑
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Das Mädchen mit dem Perlenohrring
14 Vermeer, Die Malkunst, Wien, Kunsthistorisches Museum
sprechenden Auftreten. In sich gekehrt mag sie vielleicht bedenken, was diese Rolle zu bedeuten hat. Wie zu erwarten, rötet ihr in dieser Situation Verlegenheit ein wenig die Wangen, und dass dies nur den Anfang der ungewohnten Aufgabe markiert, wird auch auf der Leinwand vor dem Maler sichtbar, die noch nicht mehr als zarte weiße Vorzeichnungen und die blaue Untermalung eines Lorbeerkranzes zeigt. 20 Warum sollte überhaupt der Versuch unternommen werden, die inneren Regun‑ gen des Mädchens mit dem Perlenohrring zu ergründen und sich damit auf ein höchst unsicheres spekulatives Terrain zu begeben? Eine wesentliche Anregung kommt in 26
Das Mädchen mit dem Perlenohrring
15 Vermeer, Mädchen mit dem runden Gesicht, New York, Metropolitan Museum of Art
dieser Hinsicht von einem anderen Tronie, dem ebenfalls hell im Licht stehenden Mädchen mit dem runden Gesicht (New York, Metropolitan Museum, Sammlung Friedsam) (Abb. 15). Der Vergleich drängt sich aus mehreren Gründen auf. Zum einen bildet dieses Bild (44,5 × 40 cm) möglicherweise ein Pendant zu dem Mädchen mit dem Perlenohrring (44,5 × 39 cm). 21 Zum anderen haben wir in diesen beiden Personen ausgesprochen gegensätzliche Erscheinungen vor uns. Die junge Frau des New Yorker Tronie blickt freundlich, wach, durchaus intelligent, aber vielleicht nicht sonderlich inspiriert; sie möchte nichts sagen, bleibt stumm und reaktionsarm. Von Schüchternheit ist an ihr nichts zu bemerken: Ohne Scheu sieht sie den Betrachter aufmerksam, unbefangen und gleichmütig an. Dass sie selbst gemustert wird, kann sie nicht aus der Ruhe bringen. Ansonsten gibt es in dem gleichmäßig und span‑ nungslos ausgeleuchteten Gesicht nicht viel zu lesen und noch weniger zu rätseln. Auch wird man hier zwar von einer sympathischen Erscheinung, aber kaum von be‑ sonderer Anmut und großem Liebreiz sprechen wollen.
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Eukrasie Da die barocke Gedankenwelt sich mit Vorliebe nach bestimmten Kategorien ordnet, möchte zunächst auch hier eine zugrunde liegende Systematik vermutet werden, die am ehesten in der Temperamentenlehre anzunehmen wäre. Das wenig lebhaft wir‑ kende New Yorker Mädchen ist von unverkennbar phlegmatischer Natur. Nahelie‑ gend wäre daher die Vermutung, dass die taufrische Den Haager Schönheit als ihr Pendant eine Vertreterin der sanguinischen Komplexion verkörpern sollte. 22 Eine sol‑ che Paarung litte nicht etwa darunter, dass die beiden übrigen Temperamente nicht vorhanden sind; es könnte, aber es muss sie nicht gegeben haben. Schließlich sind auch in Darstellungen der Sinne durchaus nicht immer alle fünf vertreten, sondern aus unterschiedlichsten Gründen unterliegen sie häufig einer Auswahl. Überdies wird die Zusammengehörigkeit der beiden Bilder auch dadurch plausibel, dass sie sich gut als vita activa und vita contemplativa verstehen ließen. Das Mädchen ist möglicher‑ weise im Begriff, sich mit Turban und Perlenohrring als Sibylle und auf türkische Art „op sijn Turx“ verkleidet zur Teilnahme an einer Theateraufführung der Rederijkers zu begeben. 23 Ihr ist die stille Betrachterin beigesellt. Die ruhig dasitzende und sich auf einer Brüstung oder ähnlichem abstützende Phlegmatikerin und ihr in gemesse‑ ner Bewegung sich entfernendes Pendant bilden nur einen milden Kontrast, der aber auch schon bei der biblischen Verkörperung des aktiven und kontemplativen Lebens durch Maria und Martha in Vermeers Frühwerk Jesus im Haus der Schwestern Maria und Martha (Edinburgh, National Gallery of Scotland) ganz ohne die übliche Aufgeregtheit in den Bildern dieser Erzählung inszeniert worden war. Es gehört zu Vermeers ikonographischem Stil, solche Gegenüberstellungen nicht als scharfe Ge‑ gensätze zu formulieren. Gewiss sind in der „schwebenden“ Gemütsverfassung des Mädchens mit dem Perlenohrring auch schwache melancholische Momente neben den sanguinischen enthalten: subtile Brechungen, die zur Rätselhaftigkeit des Aus‑ drucks beitragen und eine Klassifizierung nach der klassischen Temperamentenlehre letztlich nicht zulassen. Dementsprechend hat der Maler hier auch keine humoralpa‑ thologischen Merkmale betont, weder durch eine rötliche Gesichtsfarbe und Fröh‑ lichkeit im Ausdruck entsprechend der sanguinischen Komplexion noch durch dunk‑ len, schwärzlichen Teint und düstere Stimmung wie er mit den Melancholikern in Verbindung gebracht wurde. Hinweise auf den Überschuss von Schleim bei der Phleg‑ matikerin wären erst recht undenkbar. Nur im Eindruck der Gesamterscheinung und im Vergleich werden die Unterschiede zwischen beiden Persönlichkeiten deutlich. Im‑ merhin hat Vermeer bei letzterer der medizinischen Theorie insofern Rechnung ge‑ tragen, als diese das Gehirn für die entsprechende phlegmatische Veranlagung ver‑ antwortlich macht, was der Maler durch die auffallend hohe und breite Stirn des New Yorker Mädchens andeutet. Umgekehrt suchen wir bei dem Mädchen mit dem Perlenohrring vergeblich nach überwiegenden Merkmalen des sanguinischen, melan‑ cholischen oder eines anderen der vier kanonischen Temperamente. Das Schwebende 28
Eukrasie
und das in vielen Nuancen oszillierende Ausdrucksspektrum verweigert sich einer eindeutigen Zuordnung zu der herkömmlichen Kategorisierung der Komplexionen, es sei denn, man wollte die lebensvolle, aber emotional ebenso undefinierte, „schwin‑ gend“ vielsagende Erscheinung des Mädchens mit dem Perlenohrring als Verkörpe‑ rung der eukrasis, der ausgeglichenen Mischung der humores (Körpersäfte), des bonum temperamentum, verstehen. Diese glückliche Veranlagung als Resultat einer guten humoralphysiologischen Verfassung ohne markante normüberschreitende Merkmale konnte sich allerdings keiner besonderen Bildtradition erfreuen. Vermeer hat diese ideale Veranlagung ohne Vorbild „portraitiert“. Er unterläuft die herkömm‑ liche Einteilung von den vier Temperamenten gemäß der Säftelehre, indem er seiner Phlegmatikerin das Bild eines positiven, wohltemperierten und unspezifisch definier‑ ten Gemütes gegenüberstellt. Wer würde beim Anblick dieser Schönheit noch an die Säftelehre denken wollen? Eine anmutigere Verkörperung von Eukrasie als das Mädchen mit dem Perlenohrring mit seiner lebendigen Fülle von Stimmungsschattierun‑ gen lässt sich kaum denken. Eukrasie steht im besten Einklang mit Epikurs Lebens‑ philosophie. Auch wenn dieser Begriff in seinen Schriften noch nicht vorkommt, hat er doch mit der Ataraxie ein Lebensideal gelehrt, das dem bonum temperamentum sehr nahekommt und dem Vermeer in der ausgeglichenen Anmutung des Mädchens mit dem Perlenohrring ein Gesicht und in seinen Menschendarstellungen so oft den Vorzug gegeben hat.
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Lust Es stellt sich überdies die Frage, was die beiden Tronies als Pendants über ihren Bezug zur Temperamentenlehre und als Verkörperungen unterschiedlicher Lebensweisen hinaus noch verbindet. Offenbar ist es zum einen das Ideal innerer Ruhe, einer Be‑ herrschung der Emotionen oder gar der Kunst, diesen keinen besonderen Spielraum der Äußerung zu geben. Vermeer hatte ja schon in der erwähnten Erzählung des Besuchs Jesu bei Maria und Martha diese sonst so häufig mit erregten Gesten der Mar‑ tha emotional aufgeladene Szene als Inbegriff häuslichen Friedens geschildert. Philo‑ sophen der Antike haben die Fähigkeit, über die Leidenschaften erhaben zu sein, als apatheia (ἀπάθεια) gepriesen. (Mit dem modernen Verständnis von Apathie im Sinne abgestumpfter Empfindungsfähigkeit hat das jedoch nichts zu tun). Zum andern ist nicht nur in diesen beiden Tronies, vielmehr auch in jenen der Flötenspielerin (Abb. 3) und der jungen Dame mit dem roten Hut (Abb. 4) eine schwer beschreibbare, aber umso deutlicher spürbare Grundstimmung wirksam, die freilich erst dann fassbar wird, wenn es gelingt, die mediale Barriere zu überwinden und die Frauen nicht ding‑ lich kalt als wissenschaftlich-kunsthistorische Bildbesitzobjekte, sondern mit Empa‑ thie als lebendige Gestalten wahrzunehmen – zweifellos eine Einstellung, die den In‑ tentionen des Künstlers am ehesten entsprechen wird. Dann aber stellt sich fast unwillkürlich das Wort von der Lust am Dasein ein, von einer selbstverständlichen Lebensfreude, die ungebrochen und kommunikativ ist. Sie äußert sich schon in den exotischen Kopfbedeckungen, ist aber nicht laut und extrovertiert oder auch vulgär und sie drängt sich nicht vor wie bei so manch anderen niederländischen Genrema‑ lern. Treffend hat Johan Huizinga dieses Lebensgefühl als ein zentrales Charakteris‑ tikum der holländischen Malerei hervorgehoben: „Eine wesentliche Eigenschaft war das intensive Behagen an den Dingen in ihrer äußeren Ge‑ stalt, jener unerschütterte Glaube an die Wirklichkeit und Wichtigkeit all des Irdischen, der im Umkreis jeder Art von philosophischem Realismus all unseren Geistern des siebzehnten Jahr‑ hunderts einfach als Lebenslust und Interesse für die Dinge im Bewußtsein lag.“24
In selten zu findendem Einklang mit sich und der Welt blicken uns diese Frauen als geistig bewegliche Individuen an. Ihr Ausdrucksspektrum findet in keiner zeitgenös‑ sischen Theorie Erwähnung, weil es sich nicht in kodifizierbaren Merkmalen und Zeichen manifestiert. 25 Mit der in Van Hoogstratens Verständnis teilweise sogar mantisch aufgeladenen „Kroostkunde“ (Gesichts-, Ausdrucks-, Charakterkunde) lie‑ ßen sich solche Eigenschaften nur ungefähr fassen. 26 Vermeer hat vorzugsweise junge Frauen mit unverkennbar lebhaften physiogno‑ mischen Anzeichen von Freude, Vergnügen und Lust ausgezeichnet wie z. B. die fröh‑ liche Gitarrespielerin (Abb. 8), das leicht beschwipste Mädchen mit dem Weinglas (Abb. 2) oder die lachende Dame im Gespräch mit einem Offizier (Abb. 7). Ja, man könnte Vermeer als den feinsinnigsten und vornehmsten Entdecker einer Lebenslust 30
Lust
16 Vermeer, Die Wein‑ probe, Berlin, Staat liche Gemäldegalerie
bezeichnen, die in seinen Bildern mit größter Selbstverständlichkeit gelebt wird und völlig frei ist von der Altlast religiöser Präponderanz, welche der Genremalerei in die Wiege gelegt war. 27 Er hat seine Bildpersonen und ihr Handeln von den latenten bib‑ lischen Paradigmen befreit, die den Hintergrund der Alltags- und Allerweltsszenen auch noch in seiner Zeit oft darstellten. Seine Menschen sind nicht länger Mängelwe‑ sen im Hinblick auf eine religiöse Erlösungsperspektive. Dies wird noch genauer zu beleuchten sein. Allerdings ist „Lust“, hedoné (ἡδονή) ein schillernder Begriff und bereits seit der Antike mit einer schweren historischen Hypothek belastet. Ihr Leumund in einer christlichen Welt, die Entsagung, Mitleiden und Buße preist und fordert, war die längste Zeit denkbar schlecht, haftete ihr doch das Stigma an, dem Gift des Epikure‑ ismus mit seiner angeblich ungezügelten Gier nach niedrigen, sinnlichen Genüssen verfallen zu sein. 28 Hedonismus ist bis heute ein Schmähbegriff. So ist es kein Wun‑ der, dass Vermeer auch beinahe frustrierende Möglichkeiten findet, dem voyeuris‑ tisch eingestellten Betrachter die Genuss- und Lustempfindungen seiner Bildperson vorzuenthalten und der physiognomischen Inspektion zu entziehen. Das ist der Fall bei der aufrecht sitzenden, teuer gekleideten Dame, die sich unter den aufmerksamen Blicken eines neben ihr stehenden Herren im Reiseumhang zu einer Weinprobe be‑ reitfindet (Berlin, Staatliche Gemäldegalerie) (Abb. 16). Eine Frau in Gesellschaft lediglich eines Mannes beim Weintrinken, das ist einem für Zweideutigkeiten empfänglichen Publikum zunächst einmal verdächtig und macht neugierig, zumal der Kavalier die Trinkende sehr aufmerksam beobachtet. Doch der Vorgeschmack auf den Genuss moralischer Bedenken wird abermals ent‑
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17 Gabriel Rollenhagen, Temperantia
täuscht, sobald man sich klar machen muss, dass der Herr, vielleicht ein Weinhänd‑ ler, nur auf der Durchreise ist. Er hat seinen Umhang nicht abgelegt, es sich nicht be‑ quem gemacht, sondern wohl nur eine Weinprobe vorbeigebracht. Auch macht er keinerlei Anstalten, der Dame als Mittrinker Gesellschaft zu leisten. Sowohl aus der Perspektive des erwartungsvollen Besuchers als auch aus der unseren als Betrachter ist das Gesicht der Dame der Beobachtung entzogen, da ihre weiße Haube es zu den Seiten hin größtenteils verdeckt. In der Zurückgezogenheit unter ihrem steifleinenen Schutzhelm darf sie sich allerseits sicher vor forschenden Blicken fühlen. Körperhal‑ tung und ‑sprache lassen jedoch ohne weiteres erkennen, dass sie ihr Glas mit Be‑ dacht und Verstand leert und wohl in der Lage ist, den Wein ruhig und konzentriert zu beurteilen. Wie schon des Öfteren beobachtet, gibt das halb geöffnete Fenster gegenüber der Gruppe das bunte Glasbild einer weiblichen Gestalt zu erkennen. Sie wurde zunächst für eine Allegorie der Mäßigung gehalten, die ein Zaumzeug in der Hand hält. So konnte sie als eine Allegorie der Temperantia verstanden werden, vergleichbar dem entsprechenden Emblem in einem populären Werk von Gabriel Rollenhagen (Abb. 17). 29 Da war es naheliegend, in dem Fensterbild eine Mahnung und moralische Botschaft für die Weintrinkerin in Vermeers Gemälde zu sehen.30 Diese konventio‑ nelle Interpretation auf der Basis des verbreiteten Gebrauchs von Emblematik hat ei‑ nige Zeit lang funktioniert. Aber sie hat sich als falsch herausgestellt, als Gregor J. M. Weber zeigen konnte, dass es sich um keine Allegorie, sondern um eine Wappenhal‑ terin handelt, die in ihren Händen keine Zügel, sondern die Bänder eines Allianz‑ 32
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wappens fasst. 31 Dieses wurde als ein real existierendes Fensterbild aus Vermeers Nachbarschaft identifiziert, hat aber weder einen nachweisbaren Bezug zu dessen Fa‑ milie noch zu der Bilderzählung. Offenbar hat der Maler absichtsvoll das trotz seiner Helligkeit nicht sehr deutlich wiedergegebene Glasbild gewählt, um mit den wie bei Rollenhagens Temperantia flatternden Bändern des Wappens als vermeintliche Zügel zu spielen – ein wirkungsvolles Missverständnis, um dem auf Moral erpichten Be‑ trachter die Falle eines verlockenden, aber irreführenden und bedeutungslosen Sinn‑ angebotes zu stellen. Die Dame scheint ja geradezu vom Licht dieser Figur einer Pseu‑ doallegorie erleuchtet. So werden Assoziationen evoziert, die zwar den Geschmack der Zeit bedienen, aber ins Leere gehen. Es ist nicht das einzige Mal, dass Vermeer die Erwartungshaltung des Betrachters unterläuft, wie noch zu zeigen sein wird. Aber nicht er betrügt den Betrachter, sondern dieser täuscht sich selbst. Um dem zu entgehen, sind Ansprüche an ein Sehen gestellt, das in seiner Sorgfalt der Arbeit des Malers adäquat sein sollte, auch wenn diese immanente Anforderung – wie immer bei großer Kunst – allenfalls näherungsweise erfüllt werden kann. Die vermeintliche moralische Ermahnung von außerhalb an die Weintrinkende findet also gar nicht statt. Sie scheint dergleichen auch nicht nötig zu haben, denn Mäßigung zählt erkennbar bereits zu ihren Eigenschaften und muss nicht mehr ange‑ mahnt werden; von Leichtfertigkeit auf ihrer Seite keine Spur. Dasselbe gilt von dem Herrn, der sich in seiner respektvollen ruhigen Haltung keinerlei unlauterer Absich‑ ten verdächtig macht. Auch wenn man der Szene eine kryptische und keineswegs von vornherein ausgeschlossene Sinnambivalenz unterstellt, lässt sie nichts weiter erken‑ nen als den einfachen Genuss dieses kleinen Glases Weins und die Vermutung einer Lust, die die Frau nüchtern, aber ungezeigt für sich behält. Mäßigung ist – durchaus im Sinne Epikurs – ein Schlüssel zur Seelenruhe, und sie ist nicht nur ein Anliegen der Bildpersonen, die keiner allegorischen Ermahnung be‑ dürfen. Auch der Raum, in dem sie sich befinden, ihr Ambiente, gibt auf ungewöhn‑ liche Art ein Echo dieser Tugend der Temperantia als ausgeglichener Mischung. Un‑ übersehbar und in stärkstem Kontrast zu dem halb geöffneten und hell erleuchteten Fenster befindet sich an der Rückwand des Zimmers ein großes nachtdunkles Ge‑ mälde in einem reich vergoldeten Rahmen. Es bietet sich dem Blick frei dar und wird nicht von dem Paar überschnitten. Berücksichtigt man seine räumliche Entfernung, so dürfte es etwa die Abmessungen des Fensters haben. Es ist kaum anzunehmen, dass es für die Lektüre des Gemäldes unerheblich ist. Doch soll dieses Bild im Bild wirklich dunkle Absichten des Herrn mit dem Weinkrug symbolisieren, wie gemut‑ maßt wurde? Tag und Nacht, Helligkeit und Finsternis stellt Vermeer einander farbig definiert gegenüber, und mit der Dame und dem Herrn wird diese Aufteilung wieder‑ holt. Mit Ausnahme des Blaus sind die Farben des bunten Fensters auch die Farben der leuchtend schön gekleideten Weintrinkerin. Als ob die dunkle Landschaft ihr ei‑ nen Reisenden geschickt habe, trägt dieser mit seinem schwarzen Hut und dem Oliv‑ grün seines Umhangs auch deren nächtliche Farben in den Raum. In den beiden Ge‑ stalten gelangen Licht und Dunkel, Glanz und Farbsättigung in Opposition zu
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unbunter Trübung, aber noch zu keinem spannungsfreien Ausgleich. Natürlich ver‑ deutlicht dieser großflächige Kontrast von ernst-dunkel und heiter-bunt auch den Ge‑ gensatz von männlich und weiblich, doch nichts weist dabei auf erotische Spannung hin. Erst in den kleinteiligen Ornamentmustern des Orientteppichs, der als Tischde‑ cke dient, finden alle Farben in einer eng verknüpften Helldunkelstruktur eine end‑ gültige unauflösliche und doch in sich differenzierte Synthese. Hier in der Mitte des Bildes und des Raumes verdeutlicht sich die optische Umsetzung des guten Mi‑ schungsverhältnisses, welches die vermeintlich angemahnte Temperantia auszeich‑ net. Und hier steht der weiße Weinkrug, den der Herr ergriffen hat, sei es, um ihn dort abzustellen, sei es, um nachzuschenken. Dabei ist angesichts seiner Reisekleidung keineswegs deutlich, ob er erst hier angekommen oder schon im Begriff ist, sich bald wieder auf den Weg zu machen. Der Mäßigung wird so oder so kein Abbruch gesche‑ hen. Jenseits aller manifester Ikonographie können auch ästhetische Konstellationen inhaltlich bedeutsam werden. Nichts ist bei Vermeer beliebig oder zufällig, erst recht nicht der Verzicht auf eine verbrauchte, konventionelle moralische Sinngebung der Szene, die ihr für gewöhnlich unterstellt wird. Die Bilder in den Bildern Vermeers sind ikonische Subtexte, die ernst zu nehmende, aber nicht immer auf Anhieb deutlich erkennbare Botschaften enthal‑ ten und auch teilweise noch nicht restlos geklärt sind. Dem Betrachter die Falle mit der Wappenhalterin zu stellen, scheint Vermeer auch ein weiteres Mal Vergnügen bereitet zu haben. Auf eine ganz andere Situation blickt dieselbe Gestalt in dem leicht geöffneten Fenster vor dem Mädchen mit Weinglas (Abb. 2). 32 Auch hier wiederholen das prächtige Rot und das Goldgelb der teuren Kleidung der Weintrinkerin jene des bunten Glasbildes mit seiner als Allegorie der Mäßigung missverständlichen Figur. Dank der Bemühungen des katzbuckelnden Ka‑ valiers zeigt der Wein hier schon eine gewisse Wirkung. Die offensichtlich leicht be‑ schwipste junge Dame wendet sich dem Betrachter ganz ungeniert zu, lächelt etwas töricht und lässt ihn teilhaben an ihrem Vergnügen am Wein und am Werben des Herren, welches sie sichtlich genießt, das sie aber und mehr amüsiert als beeindruckt. Sie sucht Gesellschaft und Mitvergnügte außerhalb ihres Bildraumes, während der zweite Herr in der Runde sein Desinteresse an galanten Unternehmungen deutlich be‑ kundet, gelangweilt döst und sich damit epikureischen Ratschlägen nicht zu ver‑ schließen scheint. 33 Wird denn das Verhalten der Dame als ein bedenkliches oder gar verwerfliches ge‑ schildert? Spüren wir hier wirklich gemäß den ausgetretenen Pfaden herkömmlicher Interpretation weintrinkender Damen den moralisch warnend erhobenen Zeigefin‑ ger? Tatsächlich ist dieser in der verrauchten Gestalt des altertümlich schwarz geklei‑ deten Herrn in dem lebensgroßen Bildnis an der Rückwand des Zimmers zu ahnen. Es ist das einzige Portrait im Werk Vermeers, aber eben nur ein Portrait aus zweiter Hand. Es stellt vermutlich einen sittenstrengen Vorfahren dar, der aber als Bild im Format eines Kniestücks zur Unbeweglichkeit verurteilt ist. Damit ist die Autorität
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dieses Herrn obsolet und seine mahnende Erscheinung in eine ironische Distanz ge‑ rückt. Der unaufgeregten Lust und Lebensfreude, die sich unter seiner Aufsicht ab‑ spielt, wird er keine in diese Gegenwart eingreifende Beschränkung auferlegen.34 Und schon gar nicht geht eine solche von der Figur in dem Glasbild aus. Es wird deutlich, dass Vermeer die Konventionen des moralisierenden Gesellschaftsgenres hier vorder‑ gründig bedient, um sie desto besser enttäuschen zu können. Gäbe es wie bei den anspielungsreichen Bildschöpfungen anderer Maler auch in diesem Interieur ein Bett im Hintergrund, so würde unsere Bildlektüre deutlich auf Verfängliches in den Bemühungen des Kavaliers gelenkt. Der Tugendwächter im Bild müsste dann wohl ernstlich als Mahnung gelesen werden. Dergleichen mag zweifel‑ los mitschwingen, aber im Vordergrund steht doch unschuldiger Genuss, Lebens‑ freude und eine Prise Spottlust. Entscheidend ist, dass die Damen der beiden Ge‑ mälde unbeschadet der jeweiligen Situation und äußerer Einflüsse auf die eine und andere Weise ruhige Freude zeigen, die keine Leidenschaften aufrührt und der augen‑ zwinkernden Lust des Betrachters auf zweideutige Assoziationen keinen handfesten Vorschub leistet. Es ist kaum erstaunlich, dass in einer Epoche der Ausdruckserfor‑ schung auch der leichthändige Umgang mit potentiell bewegenden Seelenzuständen entdeckt und die Pointe ihrer Irrelevanz ironisch zum bildwürdigen Sujet werden konnte.
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Vermeer und die Philosophen Über Vermeers Biographie wissen wir leider viel zu wenig, um ihn mit bestimmten philosophischen Strömungen in Verbindung bringen zu können. Welche Sprachen er beherrschte, ob er Kenntnisse des Lateinischen besaß und überdurchschnittliche Bil‑ dung genossen hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Wir wissen nicht einmal, wo und bei wem er im Malen unterrichtet worden war, und ebenso wenig, mit wem er sich über philosophische Dinge hätte austauschen oder wer sie ihm hätte vermitteln kön‑ nen. Ambitionierte Versuche, in seiner Kunst Bezüge zu den Gedankengebäuden Pla‑ tons, 35 vor allem aber jenen Descartes‘36 und auch des nur wenige Kilometer von Delft entfernt lebenden Spinoza aufzufinden, 37 sind durchaus legitim und für das überaus vielfältige geistige und intellektuelle Klima im Holland des mittleren 17. Jahrhunderts gewiss aufschlussreich. Für deutliche Berührungen des Malers mit den Gedanken‑ welten dieser Philosophen gibt es allerdings kaum hinreichende Indizien. Die Versu‑ che, sie nachzuweisen, verlaufen im Ungefähren. Zwar war Descartes ein Wegberei‑ ter des modernen selbstbewussten Denkens, der in seiner Ethik auch die Leidenschaften der Seele untersucht und Spinoza inspiriert hat, doch sein Entwurf einer auf mechanistisch-rationalistischen Prinzipien beruhenden materiellen und vom Geist getrennten dualistischen Welt, in welcher der Mensch eine „Gliederma‑ schine“, gar ein „Leichnam“ ist, 38 kann kaum tiefere Perspektiven auf bildwertige Äquivalente glücklichen Lebens eröffnen. Ähnlich verhält es sich mit Spinozas Imma‑ nenzpostulat. Es begreift die Anwesenheit Gottes in der Welt als Ursache aller Wir‑ kungen, bietet diesen aber keinerlei Angebot zu anschaulicher Umsetzbarkeit. Die mit der unterstellten Rezeption Spinozas angeblich einhergehende Theologisierung der Bildwelt Vermeers hat dementsprechend weder eine evidente, noch eine latente Grundlage. Affekte und ihre Beherrschung sind zwar auch Gegenstand in Spinozas postum 1677 und somit erst zwei Jahre nach Vermeers Tod erschienener Ethica, ordine geometrico demonstrata, doch werden diese Themen auf einem so hohen Abs‑ traktionsniveau abgehandelt, dass sie als künstlerische Anregung kaum in Frage kommen. Spinozas Gleichung natura sive deus bedeutet, dass die äußere sichtbare Welt der Dinge religiöse Bedeutung hat. Das Unsichtbare manifestiert sich im Sichtbaren. Wenn dies als eine Prämisse des philosophierenden Malens gelten soll, ist zu fragen, wie der Maler Göttliches denn sichtbar machen will, wie dem Unsichtbaren An‑ schaulichkeit verleihen? Der zunächst einleuchtende Versuch, von der materiellen Kostbarkeit der vermeerschen Bildrequisiten eine Brücke zu Konstrukten einer Ein‑ heit metaphysischer und physischer Entitäten im Sinne Spinozas zu bauen, erweist sich jedoch als zu unspezifisch. Seit es die Van Eycks mit ihrer ölharzbasierten Licht- und Glanzmalerei verstan‑ den hatten, alle Bildgegenstände in Erscheinungen von geradezu überirdisch transpa‑ renter Klarheit und luzider, edelsteinhafter Materialität zu verwandeln, ist diese tief‑ 36
Vermeer und die Philosophen
gründige Qualität der altniederländischen Malerei zwar vielfach modifiziert worden, aber nie mehr verloren gegangen. 39 Vermeer war nur einer der niederländischen Künstler des 17. Jahrhunderts, die dieses Erbe antraten. Sein „stofuitdrukking“, die Fähigkeiten einer höchst differenzierten Wiedergabe stofflicher Qualitäten der Dinge durch das unterschiedliche Verhalten ihrer Oberflächen im Licht, durch seine matte Absorption, durch glänzende Reflexion, perlmuttrigen Schimmer oder verschwim‑ mende Grenzauflösung suchen ihresgleichen. Mit dem Leuchten tieffarbiger Flächen und den Glanzlichtern, die sich auf den stillebenhaften Versatzstücken seiner Ge‑ mälde förmlich als Punkte und winzige Perlen materialisieren, konnte er auf eine ganz eigene und neue Art an diese Tradition luminaristischer Licht- und Glanzmale‑ rei anknüpfen. Aber es wird kaum möglich sein, dies als Emanation göttlichen Geis‑ tes aus der Materie zu erweisen. Die Welt ist zwar nach Spinoza in allen ihren Formen eine Erscheinungsweise Gottes, doch es ist eine schwierige Frage, inwieweit seine Vorstellung, dass Gott die Substanz und immanente Ursache aller Dinge sei und sich in der Hinwendung zu ih‑ nen offenbare, für die kreative Phantasie des Malers förderlich oder gar ursächlich gewesen sein könnte. Und es ist wiederum eine andere Frage, welche Möglichkeiten es gebe, diese Vorstellung entsprechend umzusetzen und wahrnehmbar zu machen. Dass Gott in der „unergründlichen Schönheit“ in Vermeers Bildern und durch sie er‑ kennbar werde, wie Daniela Hammer-Tugendhat meint,40 lässt sich gerade angesichts jener weit zurückreichenden Tradition luminaristischer Farbkultur in der niederlän‑ dischen Helldunkelmalerei kaum als spezifische Umsetzung spinozischer Immanenz‑ lehre verstehen. Unergründliche Schönheit der Dinge durchaus ohne Berufung auf philosophische Diskurse der Neuzeit ist ebenso ein Erbe der altniederländischen Ma‑ lerei wie es die geschlossenen Interieurs sind. Das konnte verschmäht werden wie z. B. von Pieter Bruegel d. Ä. mit seinen offenen Bildlandschaften und der stumpfen, glanz‑ losen Lokalfarbigkeit ihrer Gegenstandswelt. Andere haben aber auch sehr viel spä‑ ter noch auf die Kostbarkeit altniederländischer Farbgebung zurückgegriffen wie, um nur ein herausragendes Beispiel zu nennen, Willem Kalf in seinen Stillleben. Doch diese Einwände sagen natürlich nichts über eine mögliche philosophische Bildung Vermeers aus und schon gar nicht lassen sie sich gegen eine solche überhaupt ins Feld führen, zumal die Bildende Kunst nach den Worten Samuel van Hoogstra‑ tens eine „Schwester der Philosophie“ ist.41 Doch das ist sehr allgemein gesprochen und will dem Künstler generell einen geistigen Status als Denker sichern, ihm aber nicht bestimmte Orientierungen empfehlen. Zutreffend zum hypothetischen Einfluss der beiden Denker Descartes und Spinoza bringt Nils Büttner das Problem kritisch auf den Punkt: „Die Versuche, Vermeer mit Philosophen seiner Zeit in Verbindung zu bringen, kranken zu‑ meist daran, dass starre Theoriekonzepte über die Bilder gestülpt werden. Am Anfang stehen dann Bildbeschreibungen, in denen die sprachlich gefassten visuellen Phänomene zu theore‑ tisch aufladbaren Begriffen verdichtet werden, um die so generierten philosophischen Termini dann in modernen Übersetzungen zeitgenössischer Philosophen aufzuspüren.“42
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Vermeer und die Philosophen
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Mit einem Wort: Die Kenntnis dieser Philosophen kann bisher zum Verständnis von Vermeers Bildern nichts Substantielles beitragen. Zu Recht hat man auf die relativ große Alphabetisierung in der damaligen Bevöl‑ kerung hingewiesen. Ein Emblem in Roemer Visschers Sinnepoppen, Amsterdam 1614, zeigt ein Stillleben kleiner und großer Bücher unter dem Motto: „Kruij voor de wilde woeste“ (Heilkraut gegen die wilde Wüste).43 Vermeer besaß fünf Bände in folio und weitere fünfundzwanzig Bücher unterschiedlicher Art, wie aus dem Inven‑ tar seines Nachlasses hervorgeht, das bedauerlicher Weise aber keinen einzigen Ver‑ fasser oder Titel nennt.44 Im Laufe des 17. Jahrhunderts hatten sich die Lehren des so oft geschmähten an‑ tiken griechischen Philosophen Epikur, allen Anstrengungen seitens der Kirchen zum Trotz, sie zu unterdrücken, weit verbreitet. Der wichtigste Anstoß hierzu ging von dem Werk De rerum natura des römischen Dichters Titus Lucretius Carus aus, das von Michel de Marolles (1650) und John Evelyn (1656) übersetzt wurde, welcher 1641 die Niederlande bereist und seine Eindrücke in einem Tagebuch festgehalten hatte.45 Die Wiederentdeckung dieser grandiosen lateinischen Dichtung – in der zu‑ nächst einzigen erhaltenen Handschrift überhaupt – war dem Humanisten und ehe‑ maligen päpstlichen Notar Poggio Bracciolini 1417 in einem deutschen Kloster ge‑ glückt.46 Erst später wurden weitere Abschriften aus dem 9. Jahrhundert aufgefunden. Die hier in größter poetischer Eigenständigkeit vorrangig entfaltete Naturlehre Epi‑ kurs fand ihre Ergänzung bei dem antiken Philosophiehistoriker Diogenes Laertios, der im 3. Jahrhundert nach Chr. das ganze letzte seiner zehn Bücher dem Epikur ge‑ widmet und auch dessen Ethik wenigstens in den wichtigsten Grundzügen überliefert hat. In den Niederlanden mit der damals größten relativen Liberalität aller europäi‑ schen Länder war der Boden für die Aufnahme der Gedanken Epikurs zur Lebens‑ kunst besonders gut vorbereitet. Die Hauptanliegen der Lebensphilosophie des Griechen lassen sich in wenigen Stichworten zusammenfassen, als da sind die Seelenruhe und deren Voraussetzungen wie der angemessene Umgang mit Begierden, die Freiheit von Schmerzen, Hunger und Kälte; dazu kommen die Freundschaft, ein Leben im Verborgenen, die Ableh‑ nung öffentlicher Ämter, ferner eine Lebensfreude, die als Grundlage jenes Lustprin‑ zip hat, das Epikur seit jeher in Verkennung und böswilliger Absicht zum Vorwurf gemacht worden war. Bedeutsam ist auch die Verachtung des Todes als irrelevant; Hand in Hand damit geht seine Zurückweisung von Aberglauben, falschen Gottes‑ vorstellungen und entsprechenden Religionspraktiken sowie der damit verbundenen Furcht und Hoffnung. Und natürlich war es Epikur ein zentrales Anliegen, dass ein um Weisheit bemühter Mensch sich diesem Streben ohne Störung widmen könne. Von diesen Dingen wird noch die Rede sein. Bereits Michel de Montaigne (1533–1592) hatte Epikur als einen der wichtigsten Denker der Menschheitsgeschichte verehrt und seine Philosophie ebenso wie De rerum natura des Lukrez in den Essais reflektiert.47 Mitte des 17. Jahrhunderts erlebte die Epikur-Rezeption ihren nachhaltigsten Aufschwung durch die Forschungen des
Vermeer und die Philosophen
bedeutenden Gelehrten Pierre Gassendi. Mit der Biographie De Vita, moribus et placitis Epicuri (1647), den Schriftensammlungen Syntagma philosophiae Epicuri cum refutationibus dogmatum quae contra fidem christianam ab eo asserta sunt (1649) und Syntagma philosophicum (1658) hatten die Lehren des dergestalt abermals wie‑ derentdeckten antiken Denkers weite Verbreitung gefunden.48 Aber auch andere Ge‑ lehrte wie Daniel Heinsius mit seinem an De rerum natura orientierten Lehrgedicht De contemptu mortis (1621), Walter Charleton, Verfasser einer Physiologia EpicuroGassendo-Charletoniana (1654) sowie der Schrift Epicurus’s Morals (1656) und einer Natural History of Passions (1674) trugen erheblich dazu bei.49 Auch Thomas Hobbes rezipierte die Forschungen Gassendis und teilte Epikurs Religionskritik. 50 Gassendi lernte auf einer Reise nach Holland, die er in den Jahren 1628 bis 1629 in dieses Refugium freiheitsliebender Geister unternahm, den berühmten Rektor der Dordrechter Lateinschule, Isaac Beekman (1588–1637), kennen. Dieser hatte als viel‑ seitiger und auch naturwissenschaftlich forschender Gelehrter schon Descartes‘ Auf‑ merksamkeit auf sich gezogen. Er weckte Gassendis Interesse für antike Autoren wie Demokrit und Lukrez, und bestärkte ihn vor allem in seiner Begeisterung für Epikur auf der Basis jenes zehnten Buches von Diogenes Laertios‘ Werk De Vita et moribus philosophorum (Über Leben und Lehren berühmter Philosophen), das damals bereits in mehrfachen lateinischen Ausgaben zur Verfügung stand. 51 Gassendi, der einerseits den Libertins érudits mit ihren Kontakten zu zahlreichen Künstlern angehörte, 52 an‑ dererseits auch den heiklen, allerdings wenig überzeugenden Versuch unternahm, die Lehren Epikurs mit jenen des Christentums verträglich zu machen, ebnete den Zu‑ gang zur Ethik des antiken Denkers mit seiner Schrift Petri Gassendi animadversiones in decimum librum Diogenis Laertii, qui est de vita, moribus, placitisque Epicurei, Lyon (Barbier) 1649. Epikurs Ethik tritt im Lehrgedicht Über die Natur der Dinge des ihn hymnisch verehrenden Lukrez hinter den naturphilosophischen Einsichten zurück und wird eher selektiv greifbar. Die am Epikureismus geschulte materialistische Erkenntniskri‑ tik Gassendis erwies sich als besonders erfolgreich in der Dekonstruktion des speku‑ lativen, sogenannten ontologischen Gottesbeweises, mit dem Descartes in seinen Meditationes dieses Problem ein für alle Mal gelöst zu haben glaubte, indem er darlegte, dass aus der Idee eines vollkommenen Wesens auch dessen Existenz folge. Gassendi argumentierte dagegen ganz im Einklang mit Epikur und Lukrez, jegliches Wissen komme von den Sinnen, und nichts, was nicht durch sie vermittelt werde, könne Wis‑ sen genannt werden. Diese sinnliche Erfahrbarkeit gelte gerade für Gott, den Des‑ cartes als perfektes Wesen nur für vorstellbar und daher auch schon real existierend erklärte. 53 Gassendis Verdienste an der Wiederentdeckung und Rehabilitation des verfemten antiken Philosophen bestanden zum einen darin, die von Diogenes Laertios überlie‑ ferten Schriften Epikurs neuerlich zugänglich gemacht zu haben, und zum anderen in der Widerlegung der alten, trivialen und sogar bis heute vulgärvirulenten Vorurteile gegenüber Epikurs Lebensphilosophie, die darin nichts weiter sehen wollten als gott‑
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Vermeer und die Philosophen
18 Jan Steen, Umkreis, Zecher, Rockville MD, US, Kunsthandel
lose Propagierung verwerflichen Genusslebens und ungezügelten Hedonismus. Gas‑ sendis Schüler sorgten für die Verbreitung seiner Gedanken. An erster Stelle ist hier ein Epikureer reinsten Wassers zu nennen, Charles de Saint-Évremond, der als Frei‑ denker und Verfasser geistreicher Schriften von 1665 bis 1670 in den Niederlanden gelebt hatte. 54 Die holländische Malerei ist reich an Themen aus dem Rüpelgenre. Jan Steen und Maler aus seinem Umkreis mit Figuren wie einem geräuschvollen Zecher (Tavern Singer) (Abb. 18) mögen Kunde von Seneca gehabt haben, dem Stoiker, der Epikur einer durchaus wohlwollenden Kritik unterzieht. Gerade er lässt Epikur Gerechtigkeit im Hinblick auf jenen vielgeschmähten Lustbegriff widerfahren, indem er zunächst des‑ sen Karikatur skizziert: „Jener ununterbrochen rülpsende Trunkenbold, der ganz sei‑ nen ausschweifenden Vergnügungen lebt, weiß, dass sein Leben der Lust geweiht ist, aber nun glaubt er, die Tugend sei darin einbegriffen. Denn er hat sich einreden las‑ sen, Lust sei von Tugend nicht zu trennen.“ Diesem Missbrauch epikureischer Philosophie durch trübe Zeitgenossen hält der in Mittelalter und Neuzeit ausgiebig rezipierte Römer entgegen: „Sie bemerken gar nicht, wie nüchtern und trocken der Lustbegriff Epikurs eigentlich ist.“55 Aber diese Ehrenrettung wurde lange ignoriert. So setzte Luther Mohammed als Begründer des „türkischen“ Glaubens und Leugner aller christlichen Glaubenswahrheiten mit dem Griechen gleich. Horaz, der sich einmal selbstironisch als Schwein aus der Herde Epi‑ kurs (Epicuri de grege porcus) bezeichnet hatte, 56 lieferte dem Wittenberger Professor wohl die Vorlage für die Beschimpfung des Papstes, seiner Söhne und Kardinäle als „Epicurische Sew des gleichen alle Bebste deine Vorfaren“. 57 „Epikureer“ war über‑ haupt ein nicht nur von Luther freigiebig gebrauchtes Schimpfwort, das er z. B. auch dem in den Niederlanden hochgeschätzten Erasmus von Rotterdam und dessen Inte‑ resse an den Lehren des antiken Philosophen entgegenschleuderte.58 Der humanisti‑ sche Theologe reagierte darauf mit einer differenzierten Würdigung der epikurei‑ 40
Vermeer und die Philosophen
19 Raffael, Schule von Athen, Rom, Vatikan
schen Lustphilosophie, die von deren Gegnern traditionell verzerrt wiedergegeben wurde. Aber auch ein Reformator wie Martin Bucer titulierte seine angeblich atheis‑ tischen Gegner als Epikureer. „In der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts treten uns die Heterodoxien in einer Viel‑ zahl von Neologismen entgegen. Worte wie Atheist, Deist, Libertin und Nikodemiker erschei‑ nen in der Mitte des Jahrhunderts im Sprachgebrauch neben ‚Epikureer‘, häufig untereinander auswechselbar, vielfach schon in den uns heute vertrauten Bedeutungen.“59
Das ist umso weniger erstaunlich als sich schon in der ersten Hälfte des 15. Jahrhun‑ derts einige bemerkenswerte literarische Schöpfungen humanistischer Autoren von zum Teil äußerst derber Art des epikureischen Skandalthemas „Lust“ annahmen. Es seien hier nur Lorenzo Valla, Cosma Raimondi, Leonardo Bruni und der „odiose“ Antonio Beccadelli Panormita, der „Dichter mit offener Hose“ erwähnt,60 der bei Lo‑ renzo Valla die Rolle des Epikureers übernimmt.61 Doch schon in Raffaels Schule von Athen in der Stanza della Segnatura des vati‑ kanischen Palastes erscheint der oft so heftig diffamierte Grieche gleichsam im Uni‑ versum der Philosophie rehabilitiert, zwar nicht an zentraler Stelle, eher zurückgezo‑ gen, aber an einem würdigen Platz (Abb. 19, 20). Wir finden Epikur als jungen Mann von erkennbar heiterem Wesen links vorne im Bild. Er wird von einem tief nachdenk‑
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20 Raffael, Schule von Athen, usschnitt, Rom, Vatikan A
lichen Freund umarmt, der hinter dem Bekränzten halb verborgen, sich aber umso fester an ihn hält, während dieser auf seine Aufzeichnungen konzentriert ist. Als Schreibunterlage dient Epikur eine Säulenbasis, was die Bedeutung von Unerschütter‑ lichkeit und konstanter Ruhe als Grundlage eines weisen Lebens versinnbildlicht; der Kranz von Weinlaub auf seinem Haupt ist ein Symbol der Lebensfreude und ‑lust, der hedoné, von der auch seine stattliche Leiblichkeit zeugt. Menschen jeden Lebensal‑ ters umgeben ihn, was zum Ausdruck bringt, dass Epikur dafür eintrat, dass nie‑ mand früh genug anfangen könne, philosophierend für seine seelische Gesundheit zu sorgen und damit auch im Alter nicht nachlassen solle.62 Zentrale Werte seiner Ethik haben bereits hier eine zwar knappe, aber durchaus anschauliche Umsetzung gefun‑ den. Der Epikureismus war eine zunehmend virulente und zwiespältig wahrgenom‑ mene Begleiterscheinung der Renaissance, und es dürfte kaum ein Zufall sein, dass die breitere Rezeption seiner lust- und lebensbejahenden Maximen auch nördlich der Alpen genau zur Mitte des 17. Jahrhunderts einsetzte, als die radikale Frühaufklä‑ rung mit ihrer Religionskritik in Holland ihren Anfang nahm.63
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Seelenruhe Bedeutsame Schnittmengen des Epikureismus mit der stoischen Philosophie etwa im Hinblick auf die Affektkontrolle, die zur Freiheit von Leidenschaften und somit zur Unerschütterlichkeit des Gemüts führt,64 aber auch der hohe Wert der Muße in bei‑ den Schulen ließ diese schon im Altertum zu Konkurrenten werden. Ihre Wirkungen sind auch in philosophischen und künstlerischen Strömungen des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden festzustellen. So war etwa Rubens bekanntermaßen ein Anhänger des Neostoikers Justus Lipsius und – anders als es Epikur empfohlen hatte – in bester stoischer Tradition diplomatisch in rebus politicis engagiert. In einem berühmten Gruppenportrait (Florenz, Palazzo Pitti) (Abb. 21) hat er sich mit anderen Schülern um den Gelehrten unter der Büste Senecas versammelt.65 Für die Annahme der Vertrautheit Vermeers mit Epikur kennen wir zwar keiner‑ lei dokumentierte Belege, doch im Unterschied zu den philosophischen Konstruktio‑ nen Descartes‘ und Spinozas oder gar zu Platons kunstfeindlicher Ideenlehre finden sich, wie zu zeigen sein wird, in seinen Bildschöpfungen deutliche Bezüge zu den Leh‑ ren der epikureischen Ethik. Es fällt schwer, dabei an bloße Zufälle oder eine nur all‑ gemeine intellektuelle Aufgeschlossenheit des Malers für philosophische Diskurse oder Lebensweisheiten zu glauben. Ebenso wie das abstrakte und kaum eindeutig vi‑ sualisierbare Immanenztheorem Spinozas oder die völlig unanschauliche radikal-kri‑ tische Vernunftdominanz des Cartesianismus liefert Epikurs Naturlehre im Rück‑ griff auf Demokrits Atomismus kaum etwas, was ein Maler in spezifisch künstlerische Qualitäten hätte umsetzen können. Anders verhält es sich dagegen mit der Ethik des Griechen und ihren zahlreichen den Menschen und sein Leben konkret berührenden und für eine narrative Ikonisierung fruchtbaren Wertungen und Verhaltensmaximen. Eine wesentliche Zugangs- und Umsetzungsmöglichkeit der Lehren Epikurs ver‑ dankt sich dem Umstand, dass seine Ethik nicht als ein systematisches Konstrukt, nicht als Entwurf eines geschlossenen Gedankengebäudes vorlag, sondern in Form von Briefen und einzelnen Lehrsätzen, Sprüchen und Sentenzen, die unmittelbar auf die Lebenswirklichkeit Anwendung finden konnten. Es erstaunt, dass die Hinweise, die Vermeer auf epikureische Kernaussagen gibt, bisher völlig unbemerkt geblieben sind. Studiert man seine Bilderwelt, so lassen sich etwa zu einem Leitmotiv Epikurs, der ataraxia (ἀταραξία), der tranquillitas animi, dem unerschütterlichen Fundament glücklicher Seelenruhe, zwar nicht in allen, aber doch in manchen Gemälden des Delfters erstaunliche Referenzen entdecken. Um zwei schöne Beispiele für das emotional tangierte, aber dennoch sicher bewahrte in‑ nere Gleichgewicht zu nennen, sei auf die beiden Versionen von brieflesenden Frauen verwiesen, die bereits erwähnte in Dresden (Gemäldegalerie Alte Meister) (Abb. 11) und jene vielleicht schwangere Briefleserin in Blau (Amsterdam, Rijksmuseum). Er‑ kennbar tief berührt von ihrer Lektüre – man möchte meinen, ihren leisen Atem zu hören – bleiben sie nichtsdestoweniger selbst in ihrem privatesten Ambiente ruhig
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Seelenruhe
21 Peter Paul Rubens, Gruppenportrait, Florenz, Palazzo Pitti
und gefasst, geradezu Sinnbilder der apatheia. Darüber hinaus aber gibt es aber noch ungleich deutlichere Hinweise auf epikureisches Gedankengut. Worin lassen sich nun im Werk Vermeers Bezüge zu Epikur, sei es zu den von Dio genes Laertios überlieferten originalen Texten, den grandiosen poetischen Überhö‑ hungen bei Lukrez oder den Referenzen bei anderen antiken Schriftstellern erkennen, die den Griechen zustimmend oder ablehnend zitieren? Zunächst und gerade für ei‑ nen Maler ist die Grundlage der epikureischen Erkenntnislehre von zentraler Bedeu‑ 44
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tung, die nicht in rein gedanklichen, das heißt logischen oder dialektischen und da‑ mit abstrakten Theoremen Welt, Mensch und Leben deutet, sondern sich aus sinnlich fassbaren Wahrnehmungen erschließt. Das unterscheidet sie fundamental von den er‑ kenntnistheoretischen Zugängen Descartes‘ und Spinozas. Der Augenschein liefert dem epikureischen Denken die unmittelbare Evidenz (ἐνάργεια), und dies war für Vermeer visuell umsetzbar.66 Das bedeutet besondere Ansprüche an die strukturelle Klarheit und Transparenz der Bildorganisation. Bei aller Entdeckerfreude müssen wir uns aber davor hüten, Epikur wie eine gene‑ relle Gebrauchsanleitung zur Kunst Vermeers zu lesen. Von seiner Ethik fällt zwar ein neues Licht auf einige Gemälde Vermeers und bietet neue Zugänge, sie ist aber kein Universalschlüssel zum Verständnis des Künstlers. Natürlich ist auch Vermeer ein Kind der barocken Epoche des Helldunkels in der Malerei. Doch die Unbestimmtheit räumlicher Strukturen, ihr Versinken oder die Auflösung der Raumtiefe in opaker Finsternis wie wir sie bei Rembrandt und vielen anderen Malern seit Caravaggio finden, macht sich Vermeer niemals zu eigen. Der „Tastsinn“ des Auges hat oberste Priorität für sinnliche Wahrnehmung und subjektive Einsicht; er ist wesentlicher Teil von Erkenntnis nicht nur im Sinne künstlerischer Klarheit, sondern auch in Entsprechung zur praktischen und materialistischen Er‑ kenntnislehre Epikurs. Die beunruhigende Verunsicherung, ja möglicherweise Bedrohung, die von irrati‑ onalen, weil unauslotbaren Finsterniszonen einer willkürlichen, auf dramatische Wirkungen ausgerichteten Helldunkelregie ausgehen kann, ist ein substantielles Inst‑ rument barocker Bildrhetorik. Sie bezweckt ja nicht zuletzt, im Sinne des Sublimen bzw. Erhabenen die seelische Stimmung des Betrachters in Bewegung zu versetzen, ihn durch emotionale Verwirrung, perturbatio, für die Bedeutung von Bildinhalten empfänglich zu machen – eine Strategie, derer sich Vermeer nicht bedient hat. Seine ästhetische Bildregie will den Betrachter niemals verwirren oder beunruhigen. Er muss sich nicht in dunklen Räumen mit undeutlichen Fixpunkten zurechtfinden wie z. B. in Rembrandts Judas bringt die Silberlinge in den Tempel zurück (England, Pri‑ vatsammlung). Zwar sind auch bei Vermeer nur wenige Interieurs bis in jeden Winkel ausgeleuch‑ tet, doch ist sein meist mäßiges Bilddunkel vorzugsweise nahe am vorderen Bildrand angesiedelt.67 Es verhält sich so, als leite es sich hauptsächlich aus den natürlichen Lichtverhältnissen der jeweiligen und zumeist im rückwärtigen Teil erhellten Räume her. Und auch wenn das rationaler Überprüfung nicht standhielte, entstünde niemals der Eindruck einer den Betrachter überwältigenden rhetorischen Gestik in der Vertei‑ lung und im Gefälle von Licht und Finsternis. Damit hängt zusammen, dass Vermeer auch keinen Gebrauch macht von den Effekten künstlicher Lichtquellen, den Kerzen, Laternen oder Fackeln, die in der Folge der Utrechter Caravaggisten noch lange in Holland nachwirkten. Doch auch wo sich das Helldunkel einmal stärker und intensiver ausweitet – wie bei der Frau mit der Goldwaage (Washington DC, National Gallery of Art, Widner
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Seelenruhe
22 Vermeer, Junge Dame mit Perlenhalsband, Berlin, Staatliche Gemäldegalerie
Collection) (Abb. 36) oder der Jungen Dame mit Perlenhalsband (Berlin, Staatliche Gemäldegalerie) (Abb. 22) –, werden die Finsterniszonen nicht als Quell des Unge‑ wissen und Ahnungsvollen empfunden, weil sie nicht wie etwa bei Leonaert Bramer in die bedeutungsträchtigen Aktionsbereiche der Bildpersonen übergreifen. Zentralperspektive und Helldunkel, die sich seit Caravaggios malerischer Revolu‑ tion der innerbildlichen Lichtregie um 1600 gegenseitig weitgehend ausschließen,68 sind bei Vermeer keine Gegensätze. Vermeers Bilddunkel ist in rational nachvollzieh‑ bare Raumstrukturen integriert. Er setzt die Dinge niemals dem Spannungsfeld eines dramatischen Helligkeitsgefälles als Substitut für Räumlichkeit aus. Vielmehr er‑ scheinen die meisten seiner Bilder schon in der ersten Wahrnehmung ihres anschau‑ lichen Charakters aufgrund ausgewogener Licht- und klarer Raumdispositionen wie ein Spiegel der tranquillitas animi. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Behandlung der klassi‑ schen Trias der Grundfarben Rot, Blau und Gelb, die so dominant und charakteris‑ tisch für die Malerei des Hochbarock, insbesondere die eines Peter Paul Rubens ist. Den volltönenden Akkord und damit die großflächigen Spannungen dieses Drei‑ klangs zelebriert Vermeer mit großer Klarheit und Vordergründigkeit in seinen drei frühesten Werken, um ihn alsbald fast ganz aufzugeben. Später greift er nur noch sel‑ ten in darauf zurück wie in der Kleidung der Milchmagd (Amsterdam, Rijksmuseum) (Abb. 23) oder lässt ihn nur dezent anklingen in den Fensterscheiben mit Familien‑ 46
Seelenruhe
23 Vermeer, Milchmagd, Amsterdam, Rijksmuseum
wappen bei den Berliner und Braunschweiger Weintrinkerinnen (Abb. 2, 16), wo die Reprise der Trias im Bildraum von der Dominanz des prächtigen Rot der jeweiligen Atlaskleider überlagert wird. Anders als hier ist dieser Farbe sonst oft nur eine be‑ scheidene Rolle zugewiesen: In den Fäden auf dem Tisch der Spitzenklöpplerin (Pa‑ ris, Louvre), oder den Strümpfen des Malers in der Schilderkunst (Wien, Kunsthisto‑ risches Museum) (Abb. 14), wo die Elemente der Trias räumlich voneinander entfernt und kontingent sind. Und bisweilen verzichtet der Maler auch völlig auf sie wie bei der Jungen Dame am Clavichord sitzend (London, National Gallery) (Abb. 24), um auch im Farbmilieu des Bildes einen phlegmatischen Schwebezustand zu erzeugen, der dem Ausdruck der Musikerin völlig entspricht. Ähnliches ist bei der Briefschrei-
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Seelenruhe
24 Vermeer, Junge Dame am Clavichord sitzend, L ondon, National Gallery
berin eingetreten (Washington, DC, National Gallery of Art) (Abb. 6), wo allein aus Weiß, Gelb und dunklem Blau eine große optische Stille entsteht.69 Eine bedeutsame Verbindung in lebensphilosophischer Hinsicht, welche die Rela‑ tionen der Temperamentenlehre sowie der aktiven und kontemplativen Lebensweisen übergreift und eint, vermittelt die vermeersche Bildwelt über die gemeinsame Hal‑ tung eben jener fundamentalen Seelenruhe, die alle eingangs erwähnten Frauenbild‑ nisse zeigen. Jener in der griechischen Philosophie, besonders von Epikur, aber nicht nur von ihm gepriesene Zustand der ataraxia, also des seelischen Ungestörtseins oder der Unerschütterlichkeit, erfüllt sich im Streben nach vollkommenem, innerem Frie‑ den und der Befreiung von Leidenschaften (apatheia). Aber auch eudaimonía, ein ausgeglichener Gemütszustand und gelungene Lebensführung in autarker Unabhän‑ gigkeit von äußeren Umständen, gleichsam eine „Privatisierung des Glücks“70 als Le‑ bensideal wie sie erneut in der frühen Neuzeit ihre Vertreter fand, führt ins Zentrum epikureischer Lebenskunst. Freilich haben solche Ideale schon in der Antike eine lange Tradition und sind keine Alleinstellungsmerkmale epikureischer oder stoischer Philosophie. Auch bei Denkern des 17. Jahrhunderts spielen sie eine wichtige Rolle; für Spinoza war sie erstrebenswert, stand hier aber nicht mit Priorität im Mittelpunkt des Lebens wie bei den antiken Lehrern.
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Schadenfreude Vermeer hat sich einmal auch einem Thema gewidmet, das – auf den ersten Blick überraschend – in Widerspruch zu den Idealen epikureischer Lebensphilosophie zu stehen scheint. So sind etwa im Kupplerinnengenre und in Bordellszenen Vergnügun‑ gen zu beobachten, deren Fragwürdigkeit Epikur durchaus zu bedenken gab. In sei‑ nem frühen Werk Gesellschaft bei der Kupplerin (Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister) (Abb. 25) hat Vermeer diese in der niederländischen Genremalerei so be‑ liebte Thematik aufgegriffen, ihr aber eine verblüffende Akzentuierung gegeben. Wie es scheint, lässt sich hier ein Bezug zu einer zunächst seltsam anmutenden Empfeh‑ lung Epikurs entdecken, nämlich Schadenfreude zu zeigen, denn dies diene der Bes‑ serung des Geschädigten: „Auch Schadenfreude werde er [der Weise] über jemand zeigen, doch nur, um ihn dadurch zu bessern. Auch eine Schule werde er stiften, aber seine Belehrung nicht in einer Weise, daß er dadurch den Pöbel aufregt.“71 Wir sehen einen unternehmungslustigen Soldaten, der eine nicht zuletzt durch ihre leuchtend gelbe Miederjacke als solche gekennzeichnete Dirne bezahlt. Sie sitzt beim Wein an einem Tisch und lässt sich die plumpe Zudringlichkeit dieses hinter ihr stehenden Kunden gefallen. Ihre Wangen sind wohl kaum vor Verlegenheit gerötet, sondern wohl eher durch vorteilhafte Verhandlungen des Liebeslohns und die eroti‑ sierende Wirkung des Geldes, das ihr in die Hand gedrückt wird. Die Kupplerin im Hintergrund beobachtet das erfolgreiche Geschäft mit deutlichem Vergnügen.72
25 Vermeer, Gesellschaft bei der Kupplerin, Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister
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Schadenfreude
26 Adriaen van de Venne, Arme Welt, Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen
Links ein wenig abseits, aber eng an diese Bordellgesellschaft hinter der teppich‑ verhangenen Barriere herangerückt, amüsiert sich ein unbeteiligter, vornehm und modisch in Schwarz gekleideter Kavalier. Offenbar ist er ein Herr von Stand, und ob‑ wohl er den Mantel abgelegt hat, ein Musikinstrument hält und sein Glas hebt, macht er sich nicht wirklich mit der übrigen Gesellschaft gemein. Deutlich distanziert wen‑ det er sich von ihr ab und lacht dem Betrachter in einer Weise entgegen, die eher hä‑ mische Schadenfreude als herzliche Anteilnahme am Vergnügen des in geckenhaftes Rot gekleideten Freiers ausdrückt. Als genieße er nicht nur seinen Spott über dessen plumpe Übergriffigkeit, sondern womöglich auch über künftige Vergnügungen der‑ selben Art des Betrachters schon im Voraus, da ihm wohl bewusst sein wird, welche gesundheitliche Risiken in den „hoerhuizen“ und bei den Geschäften der „hoerewaar dinnen“ lauerten. Zweifellos ist dies eine Belehrung, über die der Pöbel sich nicht auf‑ regt. Die Szene hat ihre Vorläufer in Bilderzählungen vom Verlorenen Sohn,73 doch be‑ kommt sie mit der Betonung der Schadenfreude und im Kontext der späteren Ikono‑ graphie Vermeers eine deutliche Rechtfertigung aus der Ethik Epikurs. Dort wird dazu passend auch noch angeregt, über Nutzen und Schaden geschlechtlicher Ge‑ nüsse nachzudenken,74 denen der Philosoph nach eigenem Bekunden durchaus zuge‑ neigt war, was bei dem Maler ein Echo in den allenthalben attraktiven Protagonistin‑ nen seiner Bilder findet. Epikurs Jünger Lukrez wird hier deutlich, indem er kaum verhohlen den Bordellbesuch empfiehlt, wenn man sich damit nur die Komplikatio‑ nen von Liebe und Ehe vom Hals halten könne. Dazu später mehr.75 Das Dresdner Bild pflegt hinsichtlich der Lehren, die sich aus ihm gewinnen las‑ sen, eine durchaus ambivalente Haltung. Es unterscheidet sich aber deutlich von der zynischen Schadenfreude einer höhnisch lachenden Frau, die auf die tanzenden Bett‑ 50
Schadenfreude
ler und Krüppel in einer monochromen Ölmalerei Arme Welt des Adriaen van de Venne von 1635 (Rotterdam, Museum Boijmans-van Beuningen) (Abb. 26) zeigt. Denn diesen von der Gesellschaft Ausgestoßenen, Verachteten und von der Obrigkeit Verfolgten kann keine pädagogische Attitüde mehr helfen,76 während der Betrachter die Wahl hat, ob er sich genüsslich dem Spott der Frau anschließen oder Mitleid füh‑ len möchte. Schließlich gibt Vermeer in seiner Gesellschaft bei der Kupplerin ein Bei‑ spiel jenes Lustbegriffs, der ebenso wie der des Geräuschvollen Zechers aus Jan Steens Umkreis (Abb. 18) nicht jener Epikurs ist, aber im Unterschied zu diesem eine bloßstellende Lehre enthält.
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Meeresstille Seien es die glücklich, vielleicht auch nachdenklich Musizierenden in Vermeers Inte‑ rieurs, auch die Menschen im friedlichen heiteren Gespräch oder bei einfachsten häuslichen Tätigkeiten, stets finden wir jene gelassene, von den antiken Skeptikern und Stoikern und vor allem von dem nun ernsthaft wiederentdeckten Epikur und sei‑ nen Anhängern als höchstes Gut gepriesene und angestrebte Grundstimmung der Seelenruhe. Im Wort Meeresstille (galéne) oder im Bild einer ruhigen Meeresfläche stellte Epikur dafür Metaphern zur Verfügung, deren Anschaulichkeit Vermeer in der Ansicht von Delft (Den Haag, Mauritshuis) (Abb. 27) zu einem einzigartigen Inbe‑ griffbild verdichtet hat. Außer dieser Stadtlandschaft und der Kleinen Straße (Ams‑ terdam, Rijksmuseum) (Abb. 28) und einem verlorenen Bild ähnlicher Thematik hat der Maler keine Motive außer Haus in seine Bilder aufgenommen. Schon das allein rechtfertigt die Vermutung, dass ihnen ein besonderer Sinngehalt anvertraut wurde. Zwar liegt Delft nicht an der See, doch Vermeer evoziert diese Vorstellung in sei‑ ner Stadtansicht und gibt ihr mit der weit gedehnten Wasserfläche vielleicht auch eine
27 Vermeer, Ansicht von Delft, Den Haag, Mauritshuis
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Meeresstille
28 Vermeer, Die kleine Straße, Amsterdam, Rijksmuseum
kryptische Signatur.77 Er zeigt eine Ausdehnung der Hafenmündung, die vergessen lässt, dass es sich in topographischer Wirklichkeit nur um einen eher schmalen, ka‑ nalisierten Fluss, die Schie, mit einem kleinen dreieckigen Hafenbecken handelt, den man bezeichnender Weise „Kolk“ (Teich, Tümpel) nannte,78 was den Unterschied zwischen Realität und malerischer Inszenierung deutlich genug kennzeichnet. Um die Metapher für die heitere Ruhe der Seele überzeugend umzusetzen, ist es jedoch unerheblich, ob die sanft gekräuselte Wasserfläche den Ausschnitt einer Mee‑
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Meeresstille
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resbucht oder malerisch übersteigert einen davon kaum zu unterscheidenden Binnen‑ hafen zeigt. Überhaupt ist Vermeer hier nicht an unbedingter Objekttreue interes‑ siert, da er ja, wie man festgestellt hat, auch das Weichbild des Ortes mit seinen Dächern und Türmen modifiziert.79 Es ist die poetische Überhöhung von Delft, das sich in seinem erdichteten „Meer“ in mächtigen, schweren Silhouetten spiegelt, die zumal beim doppeltürmigen Rotterdamer Tor größer sind, als sie es nach den opti‑ schen Gesetzen sein dürften, und dadurch auf dem Wasser eine tiefe Resonanz erfah‑ ren. Die in einige Ferne gerückte Stadt liegt dahinter am Ufer eingefasst von ihren Mauern in größtem Frieden. Diese subtil unter einem majestätischen Wolkenvorhang gelagerte Vedute ist gleichsam als „Portrait d’apparat“ inszeniert und dergestalt in der holländischen Malerei völlig einzigartig. Weil es eine poetisch überhöhte Stadt‑ ansicht ist, die weit mehr als eine bloße Bestandsaufnahme der tatsächlichen Verhält‑ nisse bietet, gibt sie epikureischen Metaphern Raum. Plutarch, der wie der kritische Cicero als viel gelesener Gegner Epikurs ausführ‑ lich manche von dessen Gedanken in umfangreichen Abhandlungen überliefert hat, berichtet, dieser habe das Gute mit tiefster Ruhe gleichgesetzt und mit einem stillen Hafen ohne Wellen verglichen.80 Ein schöneres Angebot an die Malerei als dieses Motiv lässt sich für die bildliche Versinnlichung des Abstraktums „Seelenruhe“ kaum denken. Doch es gibt hier eine sanfte Kräuselung der Wasseroberfläche. Es ist, wie der Altphilologe Johannes Mewaldt diesen Zustand beschreibt, „jene immer sich gleichbleibende selig-frohe Glücksstimmung, die von Epikur selber am liebsten mit einer nur leise bewegten, strahlenden Meeresfläche, also mit der Meeresstille (γαλήνη) verglichen wird.“81 Epikur hat seine Meeresmetaphorik für die Zustände der Seele von dem Sokrates‑ schüler Aristippos von Kyrene übernommen. Für diesen ist Schmerz ein Sturm der Seele, Lust eine sanfte Wellenbewegung und die völlige Ruhe Ataraxie, Unerschütter‑ lichkeit.82 Offenbar hat Vermeer hier die beiden zentralen Lebensgüter Epikurs mit‑ einander kombiniert: die überaus sanfte Wellenbewegung des Hafenbeckens als Sinnbild der Lust auf der Oberfläche tiefer Ruhe. Der Hafen ohne Wellen oder mit sanfter Bewegung der Wasseroberfläche ist eine sprachliche Metapher, ein Wortbild, das leicht in ein gemaltes Bild übertragen und sich hier einem allegorischen Verständ‑ nis öffnen kann. Aristipp und Epikur liefern die gleichnishafte Bedeutung für ihre Sprachbilder gleich mit; für Vermeers Gemälde möchte sie sowohl aus diesen Quellen indirekt erschlossen werden, als auch aus dem alltäglichen Erfahrungsschatz der Küstenbewohner, denen das Meer seit jeher eine Quelle lebensphilosophischer Ver‑ gleiche und Lektionen war. Unter einem hohen, fast zwei Drittel der Bildfläche einnehmenden Himmel wirft ein lebhaftes Wolkenschauspiel breite, schnell veränderliche Zonen von Sonnenlicht und Schatten auf die Häuser. Die Witterung mit ihrem Stimmungswechsel mag an die Unbeständigkeit des täglichen Lebens oder sogar menschlicher Geschicke erin‑ nern; den Frieden des Ortes tangiert sie nicht. Nur wenige und winzige Figürchen sind dort mit Mühe erkennbar. In der Stille des Hafens mit den vertäuten Schiffen
Meeresstille
29 Anton Woensam, Köln
sind keinerlei Aktivitäten der Bewohner oder gar betriebsame Geschäftigkeit des Handels zu erkennen. Er zeigt sich ganz im Sinne Epikurs frei von den Leidenschaf‑ ten des Gelderwerbs. Das ist umso bemerkenswerter als dieser Hafen in der Realität das quirlige Verkehrs- und Kommunikationszentrum von Delft war. Das kahle, in den linken Bildvordergrund geschobene Stück Strand gibt den bei einem für Passa‑ giertransporte überdachten Kahn stehenden Personen in ihren unaufgeregten Ge‑ sprächen Raum. Das alles will aber nicht träge Untätigkeit preisen. Vielmehr ist die‑ ses Stadtportrait auch ein gemaltes Manifest jener Philosophie des ungetrübten, weil anspruchslosen Genusses am Dasein. In seiner Mitte ruht das Gewässer als Sinnbild inneren Friedens. Der Unterschied zu den selbstbewussten Bildzeugnissen prosperierenden und ge‑ winnorientierten urbanen Lebens am Fluss kann ein Vergleich mit einem Holzschnitt verdeutlichen, den Anton von Worms (Anton Woensam) 1531 von Köln geschaffen hat (Abb. 29). Unter himmlischem Schutz drängen sich hier die Warentransporte auf dem Rhein zu einem überquellenden und unübersichtlichen Ansturm des Handels und Wohlstandes. Es ist ein nach außen hin aufbrechendes großstädtisches Ambiente, das keine Zentrierung auf sein Inneres erkennen lässt. Vermeers Stadtansicht von Delft erscheint als dessen genaues Gegenteil, als ob hier die Bevölkerung zur Gänze beherzigen würde, was Epikur im folgenden Lehr‑ satz dem einsichtsvollen Einzelnen empfiehlt: „Wenn die Sicherheit vor den Men‑ schen sich auch bis zu einem gewissen Grade durch Macht schützen und durch Reich‑ tum befestigen lässt, echter ist doch die, welche das Leben in der Stille und die Zurückgezogenheit vor der Masse verleihen.“83 Damit hängt zusammen, dass Epikur im Gegensatz zu den pflichtbewussten Stoikern die Übernahme von aktiver Verant‑ wortung im öffentlichen politischen Leben abgelehnt hat.84 Die Notwendigkeit des Gelderwerbs hat er gleichwohl anerkannt.
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Der leere Kirchturm Vermeers Stadtvedute weist mit ihren Giebeln und Turmspitzen einige markante Fix‑ punkte auf. Der Turm der Nieuwe Kerk in der rechten Bildhälfte hebt sich besonders hervor, doch nicht, weil er die urbane Silhouette dominiert, sondern weil seine hell hervorgehobene und fein strukturierte Gestalt ein besonderer Blickfang ist (Abb. 30). Man hat darauf hingewiesen, dass die Glockenstube des Turms leer ist, und daraus auf ein Entstehungsdatum des Bildes um 1660 geschlossen, als das neue Geläute ge‑ rade fertig, aber noch nicht aufgehängt war.85 Diese kleine Unvollständigkeit im Delf‑ ter Stadtbild ist umso auffälliger, als der Kirchturm im vollen Sonnenlicht steht und so geradezu demonstrativ auf das fehlende Geläute aufmerksam macht. Ob es Ver‑ meer dabei auf einen historischen Tatsachenbericht angekommen ist und er eine kryptische Datierung des Bildes auf den engen Zeitraum eines Jahres beabsichtigte, sei dahingestellt. Ein Bild dieser Art ist schließlich keine Reportage. Doch dürfte die elfjährige Pause zwischen dem ersten und dem zweiten niederländisch-englischen Seekrieg von 1654–1665 immerhin ausreichend Zeit und Ermunterung geboten ha‑ ben, ein Stadtbild wie dieses als Inbegriff des Friedens zu konzipieren. Es wäre dem Maler indes ein Leichtes gewesen, diese Lücke im Turm zu füllen; doch warum hat er darauf bestanden, sie so deutlich zur Geltung zu bringen? Gewiss tragen die schweigenden, weil fehlenden Glocken hier feinsinnig zum Ein‑ druck von Stille bei, doch das wird kaum eine ausreichende Erklärung sein können, denn die gleichsam sonntägliche Ruhestimmung ließe eher Empfänglichkeit für die Stimmen des Turms erwarten. Zu bedenken ist aber, ob mit dieser subtilen Zuspit‑ zung nicht auch eine – freilich utopische – Absage an das Läuten im Dienst religiöser Riten zum Ausdruck kommt. Glocken, die zum Glauben, zu Gebeten, zu Kirchgang und Gottesdiensten aufrufen, kollidieren mit der epikureischen Ablehnung sinnloser Hoffnung auf göttliche Erhörung und Hilfe,86 der eine falsche, abergläubige Gottes‑ vorstellung zugrunde liege. So heißt es in dem Brief an Menoikeus, die Götter seien „nicht so, wie die große Menge sie sich denkt, denn wie sie sich die Götter vorstellt, so sind sie nicht, und nicht der ist gottlos, der die Gottesvorstellung der Masse beseitigt, sondern wer den Göttern die Ansichten der Masse anhängt. Was die Masse über die Götter aussagt, entspricht nämlich nicht der richtigen Gotteserkenntnis, sondern falschen Vermutungen.“87
Eine weit zurückreichende Fama bezichtigte Epikur der Gottlosigkeit. Jedoch hat er den Glauben an Götter durchaus nicht abgelehnt, ja, ihre Verehrung sogar gefordert, die damit verbundenen Erwartungen und Ängste, die Vorstellungen von Lohn und Strafe jedoch sehr entschieden als falsch verworfen. Nun mag man einwenden, dass die Rede von den Göttern nicht ohne weiteres auf Gott bezogen werden dürfe. Doch die Mehrzahl schränkt die Relevanz für die Einzahl nicht ein. Epikur spricht ja nicht nur von „Göttern“, womit er zweifellos die klassischen Olympier meint und sie sich in herrlicher Menschengestaltigkeit denkt, sondern auch mehrmals von „Gott“ oder 56
Der leere Kirchturm
30 Vermeer, Ansicht von Delft, Ausschnitt, Den Haag, M auritshuis
der „Gottheit“ als einem Wesen mit bestimmten Eigenschaften (Brief an Menoikeus, 123). Das macht diesen Gottesbegriff mit dem monotheistischen kompatibel. Im Plu‑ ral und in der abstrakten Verallgemeinerung „Gottheit“ konnte auch die vertraute Dreieinigkeit erkannt werden. Das Tertium comparationis zwischen Göttern und Gott ist die Gottheit. Im barocken, mit Analogien vertrauten Verständnis macht dies keinen Unterschied. Schon bei Pieter Bruegel d. Ä. erscheint „Kirchenarchitektur generell als Ort der Gottesferne“, wie Jürgen Müller dargelegt hat.88 Von daher sind auch Lesarten mög‑ lich, die auf Grundsätzliches abzielen. So kann das Fehlen der Glocken auch als eine fundamentale Kritik an religiös etablierten Gebräuchen, ja, an der Kirche selbst ver‑ standen werden. Ein vorübergehend leuchtender, aber leerer Kirchturm, der keine Glocken hat, ist einerseits wie eine Religion, die imposant, aber gottlos und innerlich stumm ist, eine glänzende Hülle ohne Botschaft. Andererseits aber würden auch die Glocken daran nichts ändern, denn im ersten Korintherbrief heißt es: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.“89 Das kann auf die Manifestationen der Kir‑ che bezogen werden, wenn bedacht wird, was der in den Niederlanden stark rezi‑ pierte deutsche Theologe, Philosoph und Antidogmatiker Sebastian Franck in seinen Paradoxa kurz und umfassend mit dem Verdikt formuliert, dass sich der Sündenfall fortsetze, wenn der Mensch Kirchen baut und glaubt, über Zeichen seinen Glauben veräußerlichen zu können. Tempel, Bilder, Feste, Opfer und Zeremonien gehörten
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nicht ins Neue Testament.90 In diesem Licht betrachtet ist die Leere der Glockenstube im Turm nicht nur eine äußerliche, sondern auch eine innere, und dessen Hervorhe‑ bung unter dem Spiel der Wolken scheint als minimales Naturereignis ebenso belie‑ big und zufällig wie das kurze Bad in der Sonne, das der launische Wind auch eini‑ gen bedeutungslosen Häusern in der Ferne gönnt. Der leuchtende Westturm der Delfter Nieuwe Kerk kann wie ein Ausrufezeichen auch an die kritischen Fragen erinnern, die Lukrez im Geiste Epikurs den Verfechtern fehlgerichteter, abergläubischer Religionen entgegenhält. Er bezweifelt, dass Blitze göttliche Botschaften seien und fragt, warum sie öde Plätze heimsuchen, ins Meer niedergehen oder unschuldige Menschen töten. Völlig widersinnig aber sei es, dass der Gott sie auch gegen sich selbst richtet: “Endlich, warum zerspaltet er doch die heiligen Tempel, / Ja den eigenen herrlichen Sitz mit feindlichem Donner? / Schmet‑ tert entzwei die mit Kunst gebildeten Säulen der Götter / Und entwürdigt sein eigenes Bild mit schnöder Verletzung?“91 Blickt man zurück in die Delfter Stadtgeschichte, so begegnet ein einschneidendes Ereignis, das diesem Passus in De rerum natura einst zu bedrohlicher Aktualität ver‑ holfen hat. Am 3. Mai 1536 verursachte ein Blitzschlag in den Turm der Nieuwe Kerk eine große Brandkatastrophe, die Teile der Stadt vernichtete und auch der Kir‑ che selbst schwere Schäden zufügte. Erst der Calvinismus verbot das in katholischen Ländern verbreitete Wetterläuten zur Abwehr von Gewittern. Vermeers Pointierung des leeren Turmes will die Aufmerksamkeit auf eine markante Stelle in der Stadtland‑ schaft lenken, die zunächst in konventioneller Weise als Topos des Städtelobs gelesen werden kann. Wenn aber den Vorzeichen der epikureischen Metaphern und Lebens‑ ideale, dem stillen Hafen und der Zurückgezogenheit, mit denen dieses Delft ausge‑ zeichnet ist, Beachtung geschenkt wird, gesellen sich andere Akzente hinzu. Ambi- und multivalente Interpretationsangebote sollten hier wie überhaupt bei Vermeers Bildern bedacht werden. Daher ist zu überlegen, ob der leere Kirchturm als ein symbolischer Fingerzeig nicht nur auf Konfessionen mit leerem Gottesbegriff und sinnlose abergläubische Riten verstanden werden soll, sondern auch auf die negati‑ ven Auswirkungen, welche Religionen überhaupt zuzuschreiben sind. War und ist Religion doch dem Epikureer Lukrez zufolge seit jeher und überall die Verursacherin größter Verbrechen!92 Eindringlich warnt der Dichter vor den „dräuenden Worten der Priester […], was können sie dir nicht alles für Märchen ersinnen […] und mit lähmender Angst dein Glück vollständig verwirren!“93 Die grausame Verfolgung freier Geister wie Giordano Bruno, Lucilio Vanini oder Michel Servet durch die In‑ quisition oder Calvin persönlich, sodann die Vernichtung der Wiedertäufer in den Niederlanden, ihre viehische Abschlachtung in Münster um 1530 waren nur ein An‑ fang religiös motivierter Gräueltaten, aber unvergessen. Viele weitere Ereignisse glei‑ cher Art ließen sich noch hinzufügen. Vor dem Hintergrund der schier endlosen Glaubenskriege mit ihrer Instrumenta‑ lisierung der Religion im 16. Jahrhundert, zumal durch das Schreckensregiment des Herzogs von Alba war gerade in Holland die Erinnerung an solche katastrophalen
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Ereignisse der jüngeren Vergangenheit besonders präsent. Die Unabhängigkeit der re‑ formierten nördlichen Niederlande von der katholischen spanischen Krone gelang erst 1648 als der Achtzigjährige Krieg zeitgleich mit dem Dreißigjährigen Krieg been‑ det wurde. Dieser hatte ja als Religionskrieg begonnen und in ihn waren, entgegen verbreiteter Meinung, auch die Niederlande hineingezogen worden. Die calvinisti‑ sche Synode von Dordrecht 1618 hatte unerbittliche Konsequenzen im Namen kon‑ fessioneller Machtdemonstrationen wie etwa die Hinrichtung von Oldenbarnevelt 1619 und vielfache Vertreibung der Remonstranten. Die geistige Zuflucht in epikurei‑ sche Ablehnung religiöser Zwänge war vor diesem Hintergrund nur allzu verständ‑ lich. Zwar mag der aufleuchtende Turm auf die Grablege der Oranier, der Befreiungs‑ helden Hollands, in der Nieuwe Kerk verweisen, wo auch Vermeers Eltern und seine Schwester beigesetzt wurden. Doch hat das nicht unbedingt etwas mit Religionstreue zu tun. Mit ihnen wird der leere, stumme Turm kaum in Verbindung zu bringen sein; es ist ja nicht zwingend, ihn als affirmatives religiöses Symbol zu lesen. Denn das Fehlen der Glocken, die ja auch zum Sturmläuten in Kriegszeiten dienten, kann als Friedenswunsch und Symbol der Freiheit von religiöser Bevormundung verstanden werden. Hinzu kommt ein überaus zwiespältiger Aspekt, der aus der dualen Verwen‑ dung der Glockenspeise, der Bronze, sowohl für die Klangkörper als auch für Kano‑ nen resultiert. Wurden diese in Friedenszeiten eingeschmolzen, um Läutwerke für Siegesfeiern zu gießen, so mussten sie in Kriegszeiten wiederum der Herstellung von Kanonen geopfert werden.94 Man meint gleichsam zu spüren, dass der schweigende Turm für Vermeer eine besondere Freude war und seine Auszeichnung durch das warme Sonnenlicht im Bild eben dem Fehlen seiner bronzenen Stimmen verdankt. Bei Vermeer finden wir Epikureisches meistens als Angebote der Bildlektüre, die sich dem erschließen, der über die entsprechenden Vorkenntnisse verfügt oder mit philosophischer Orientierung zu sehen bereit ist. Eingebettet in unverfängliche Iko‑ nographien entziehen sich diese Epicurea zwar belastbaren Vorwürfen, nicht aber ih‑ rer Erkennbarkeit. Sind solche Bezüge aber einmal entdeckt, kann der Rezipient diese Interpretationsangebote nicht leicht zurückweisen, da es zu viele sind, um als unbe‑ absichtigte Assoziationsmöglichkeiten ignoriert zu werden. Und Interpretationen, die sich Phantasie leisten wollen, waren schon von Vermeers Zeitgenossen gefordert und sind ein permanentes Desideratum. Blicken wir noch einmal zurück auf die beiden eingangs besprochenen MädchenTronies mit der Frage, ob sich der jeweilige Ausdrucksgehalt der so gegensätzlichen Gesichter nach dem bisher Gesagten näher bestimmen lässt. Nach wie vor wird die Suche nach deutlichen, gar heftigen Emotionen oder, um mit Epikur zu sprechen, „Leidenschaften“, hier nichts zu Tage fördern, im Gegenteil. Wenn das epikureische Bild der galéne, der Meeresstille, den Zustand des Seelengleichgewichtes, der apatheia, und der Unerschütterlichkeit, der ataraxia, charakterisiert, wird die Sprache der Physiognomie dies nicht verbergen. Unschwer lässt sich im Gesicht eines Menschen ablesen, welche dem Meer entliehene Metapher seinem Ausdrucksgehalt am ehesten
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entspricht. Für das Antlitz des sanguinischen Mädchens mit dem Perlenohrring (Abb. 1) ließe sich kaum ein besseres Bild als eben jenes der leise bewegten, leuchten‑ den Meeresfläche finden, während ihr phlegmatisches Pendant im Schutz gänzlicher innerer Ruhe lebt und ihr Antlitz mit der völligen Meeresstille vergleichbar ist. Dass Vermeer sich auch der cholerischen Komplexionen angenommen hat, dürfte eher unwahrscheinlich sein, sind sie doch unvereinbar mit dem epikureischen Postu‑ lat größtmöglicher Freiheit von Schmerzen und dem Streben nach Gelassenheit, Freude und Lust. Auffallend aber ist, dass die meisten Frauen in Vermeers Bildern Eukrasie ausstrahlen oder entweder sanguinische, allenfalls phlegmatische Tempera‑ mente zu haben scheinen, die sich sämtlich durch Unerschütterlichkeit des Gemüts auszeichnen. Vor dem Hintergrund des epochalen Interesses an der Erforschung emotionaler Ausdrucksspektren ist es kaum erstaunlich, dass deren Beherrschung und minimalen Erscheinungsformen oder sogar der Erhabenheit über alle „Leidenschaften“ Auf‑ merksamkeit geschenkt wurde. Die Theorie hatte dafür freilich keine Instrumente; es war allein den Möglichkeiten der Kunst vorbehalten, ihnen ein „Gesicht“ zu geben.
Lebe im Verborgenen! Wenn die Delfter Stadtvedute selbstbezogene „Innerlichkeit“ in großem Maßstab vor Augen führt, zeigt solches in engerem Blickfeld auch die Kleine Straße (Amsterdam, Rijksmuseum) (Abb. 28). Die bei Vermeer meist zu findenden häuslichen Tätigkeiten und Freuden werden hier einmal nicht in einem Interieur gezeigt. Sie sind vielmehr in einer Außenansicht auf die im Inneren befolgte Empfehlung Epikurs für ein zurück‑ gezogenes Leben zu sehen. Eine stimmigere bildliche Umsetzung seiner von Plutarch überlieferten Losung „lebe im Verborgenen!“ (λάθε βιώσας – lathe biosas)95 lässt sich kaum denken. Das kleine Glück des privaten „Lebens im Winkel“ wird erfahrbar in den auf dem Pflaster spielenden, ins Bildinnere abgewandten Kindern – es ist die ein‑ zige Kinderdarstellung, die wir von Vermeer kennen –, einer in der Tür sitzenden, nähenden Frau und der an einem Wasserfass beschäftigten Magd im rückwärtigen Teil des Durchgangs. Niemand in diesem Bild kümmert sich um das, was außerhalb vor sich gehen mag. Und schon gar nicht ist der Betrachter für diese kleinen Leute existent. Die übrigen, wohl besser gestellten Bewohner der Häuser lassen sich nicht blicken; sie leben eben im Verborgenen. Die Abwesenheit von männlichen Staffagefiguren, die in holländischen Genresze‑ nen so oft als Offiziere auftreten, signalisiert tiefen Frieden. Das stimmt übrigens mit der politischen Lage des Landes überein. Dem Maler, in dessen Schaffenszeit das Land drei Seekriege mit dem englischen Nachbarn und eine französische Invasion durchzustehen hatte, brachten die desaströsen wirtschaftlichen Verhältnisse gegen Ende seines Lebens Verzweiflung und den Tod. Er durfte, wie gesagt, zwischen dem ersten und dem zweiten niederländisch-englischen Krieg eine Ruhephase erleben, in welcher diese beiden Gemälde sehr wahrscheinlich entstanden sind. Es ist methodisch nicht ganz unproblematisch, mit dem Fehlen von Motiven im Werk eines Künstlers zu argumentieren. Aber gerade in der epikureischen Lebensphilo sophie ist die Abwesenheit, die Ablehnung oder Vermeidung gemeinhin akzeptierter Normen ebenso zentral wie die entsprechenden Verhaltensweisen von Vermeers Bild‑ personal. Dies wird im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchungen noch zu zeigen sein. Natürlich stellt sich die Frage, welche Motivation es gegeben haben mag, das hol‑ ländische Alltagsleben epikureisch zu „veredeln“. Ein sehr wichtiger Faktor war ge‑ wiss die Friedenssehnsucht, die ein Blick auf die europäische Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts im Allgemeinen und die niederländische im Besonderen nur allzu verständlich macht. Das Bedürfnis nach politischem Frieden verlangte nach seiner Spiegelung im privaten Leben und nach Konsolidierung bis in die intimsten seeli‑ schen Bezirke des Individuums. Umgekehrt aber bildet die Seelenruhe, zu der die epi‑ kureische Philosophie so wichtige Anregungen gibt, mehr Wunsch als Realität und eine Lebensutopie ab, wie sie gerade in der Malerei anschaulichen Ausdruck finden konnte.
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31 Pieter de Hooch, Der Hinterhof, London, National Gallery
Zwar haben auch andere Maler die Geborgenheit kleiner Hinterhöfe, enger Gas‑ sen und Hausdurchgänge gerne als Bildthemen gewählt, wie etwa Pieter de Hooch in Der Hinterhof (London, National Gallery) (Abb. 31), doch nirgends ist das Für-sichSein der Menschen ein so ausdrückliches wie bei Vermeer. Bei jedem sich als Ver‑ gleich anbietenden Gemälde anderer Maler bleibt der Eindruck, dass sie durchaus auch für den Betrachter ins Blickfeld getreten sind und als Modelle der Alltäglichkeit für uns posieren. Den Menschen in Vermeers Kleiner Straße hingegen sind wir völlig gleichgültig, sie wollen gar nicht wahrgenommen werden, und ihre Rolle als Bildper‑ sonen ist ihnen anders als bei de Hooch überhaupt nicht bewusst. Ihre Zurückgezo‑ genheit in jeder Hinsicht ist der vollkommenste Ausdruck eines Lebens im Verborge‑ nen. Eine solche Lebenshaltung, die Epikur allem anderen vorzog, führt auch in die Häuslichkeit der sauber gefegten Räume holländischer Wohnlichkeit. Bei Vermeer blicken wir oft in dasselbe Zimmer mit der charakteristischen Fensterlaibung. Nur einmal im sogenannten Liebesbrief (Amsterdam, Rijksmuseum) (Abb. 32) rahmt die schmale Tür eines kaum definierten halbdunklen Vorzimmers, in dem eine Land‑ karte und Notenblätter zu entdecken sind, den Blick in einen anderen Wohnraum. Mit dieser Distanzierung des seinerseits unbeobachteten Beobachters wird die Intimi‑ tät der Szene zelebriert, in der ein wissend lächelndes Dienstmädchen der von ihrem musikalischen Zeitvertreib aufblickenden Dame des Hauses soeben einen versiegel‑ 62
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32 Vermeer, Der Liebes‑ brief, Amsterdam, R ijksmuseum
ten Brief überbracht hat. Dass es sich dabei nicht um lang ersehnte Nachrichten etwa des in der Ferne weilenden Gatten handeln wird, verdeutlicht der unsicher fragende Blick der Empfängerin. Die Situation zielt nicht ohne Hintersinn auf epikureische Werte, denn ein heimlicher Liebesbrief birgt die Gefahr einer Störung der Seelenruhe in sich. Vor solchen Gefahren hat Vermeer mit seiner Dame am Virginal stehend (Abb. 13) sehr deutlich gewarnt.96 Passend zu solchen Bedenken hängt an der Rück‑ wand über dem Kopf der Briefempfängerin ein Seestück, in dessen freundlicher Wet‑ terstimmung sich schon Wolken auftürmen. Die Schräglage der Segelboote lässt be‑ reits auf eine steife Brise und ein bewegtes Meer schließen.97 Es ist das einzige Bild Vermeers, das unzweideutig mit diesem bei seinen Malerkollegen häufigen Thema ei‑ ner verschwiegenen Liebschaft assoziiert werden kann. Die voyeuristische Situation des Betrachters und sein unbemerkter Blick in die häusliche Verborgenheit verstärken diesen Eindruck. Bei Vermeer, der mit Frau, zahlreichen Kindern und einer sehr präsenten Schwie‑ germutter ein ausgeprägtes Familienleben geführt haben muss, möchte man erwar‑ ten, dass dieses in der einen oder anderen Weise Eingang in seine Ikonographien fand,98 haben sich doch andere Künstler in Holland wie Jan Steen oder Pieter de Hooch dieses Motivangebotes reichlich bedient. Indessen halten wir in den Gemäl‑ den Vermeers vergeblich Ausschau nach einer Mutter mit Kindern, ja überhaupt nach irgendeinem Zeichen familiären Lebens. Ganz im Widerspruch zu seinem eigenen so‑
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33 Vermeer, Schlafendes M ädchen, New York, Metro politan Museum of Art
zialen Dasein folgte er in seinen Bildideen offenbar Epikurs Bedenken gegen Ehe‑ schließung und Nachkommenschaft. Zwar will dieser dergleichen nicht verboten wissen, doch zu einer idealen Lebensführung zählt der Philosoph Ehe und Familie nicht: „Ferner wird der Weise nicht heiraten und Kinder zeugen[…]. Nur unter be‑ sonderen Lebensumständen würde der eine oder andere heiraten, nicht ohne ein ge‑ wisses Schamgefühl“, wie Diogenes Laertios das Diktum Epikurs überliefert.99 Der Grund dafür ist wahrscheinlich, dass von solchen Bindungen keine Ruhe und Unge‑ störtheit zu erwarten ist, wie es dem Weisen zukommt.100 Es wäre also auch in dieser Hinsicht falsch, Vermeers Malerei als eine mehr oder weniger umstandslose Übertragung des realen altholländischen Lebens in seine Bild‑ welt zu verstehen. Im Gegenteil, hier wird alles ausgeblendet, was dem inneren Gleichgewicht des weisheitsliebenden Menschen abträglich werden könnte. Weitaus realistischer haben andere Maler das holländische Alltagsleben in ihre Bilderfindun‑ gen übernommen. Ungeachtet der Tatsache, dass wir bei Vermeer keine Sicht durch mehrere Räume hinaus ins Freie finden, die andere holländische Interieurmaler zu perspektivischen Meisterstücken inspirierte, ist er, wie oft betont wurde, ein Virtuose der Perspektivi‑ tät. Kaum einmal gibt er Einblick in ein rückwärtiges Zimmer wie beim schlafenden Mädchen (New York, Metropolitan Museum of Art) (Abb. 33). Oft zeigt er ein Fens‑ ter, lässt Hausherrinnen wie Dienstmädchen frohgestimmt dort hinaussehen oder es öffnen wie die Junge Frau mit silberner Wasserkanne (New York, Metropolitan Mu‑ 64
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34 Vermeer, Junge Frau mit silberner Wasserkanne, New York, Metropolitan Museum of Art
seum of Art) (Abb. 34); auch sehen wir junge Damen, die im Licht eines Fensters le‑ sen. Man möchte meinen, sie seien sich der utopischen Vergangenheit des berühmten philosophischen Gartens, des kepos (κῆπος), bewusst, den Epikur in Athen geschaf‑ fen hatte und zu dem er auch Sklaven und Frauen Zutritt mit Redefreiheit gewährte, was schon in der Antike als sehr ungewöhnlich galt. Doch gönnt Vermeer uns als Be‑ trachtern solche Ausblicke nicht. An der voluptas prospiciendi der Bildpersonen kön‑ nen wir nur indirekt teilhaben. Abgesehen von der Ansicht von Delft (Abb. 27) und von Het Straatje (Abb. 28) kommen für den Betrachter Außenansichten, Natur und Landschaft nur aus zweiter Hand als gerahmte Bilder ins Bild. Im äußersten Kontrast zum konkreten häuslichen Innenleben bringen große Landkarten der Niederlande und Europas die Welt als abstrakte Projektionen in die Wohnräume.101 Dennoch ent‑ steht niemals die Empfindung des Eingeschlossenseins der Bewohner, wohl aber die Vorstellung von Zurückgezogenheit wie sie Epikur empfiehlt. Das lässt an seinen Rat denken, sich nicht um schwer erreichbare Dinge zu kümmern, die ja im Allgemeinen außerhalb des eigenen Aktionsradius liegen. Gerade der Genuss, den der Ausblick aus Fenstern spendet, hat eine lange Ge‑ schichte. Er war ein wichtiger Gesichtspunkt der antiken römischen Villenarchitek‑ tur und wurde ausführlich in der Literatur der Zeit kommentiert. „‚Voluptas‘ ist ge‑ radezu eine Leitvokabel der Beschreibungen von architektonisch gerahmter Sicht auf die ländliche Umgebung von Bauten.“102 Die Kirchenväter verurteilten diese Augen‑ lust als sündhaft unzulässige cupiditas videndi.103 Dazu „dürfte beigetragen haben,
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35 Anonymer holländischer Maler, Die Terrasse (19. Jh.?), The Art Institute of Chicago
dass in der antiken Literatur der Ausblick aus Fenstern und Türen auf Garten oder Landschaft ausgesprochen häufig im Zusammenhang mit der Philosophie Epikurs und deren zentraler, bei den Epikureern ausdrücklich positiv konnotierter Kategorie der ‚voluptas‘ behandelt wurde.“104 Seit Leon Battista Alberti als erster humanisti‑ scher Architekturtheoretiker auf entsprechende Stellen in De rerum natura des Epi‑ kureers Lukrez rekurriert und das Bild als Blick aus einer fenestra aperta, aus einem viereckigen Fenster, definiert hatte,105 war das theologische Verdikt obsolet gewor‑ den. Fenster und Bild öffnen sich seither unwiderruflich der Augenlust. Auch wenn die epikureisch-lukrezischen Theorien zur optischen Wahrnehmung im 17. Jahrhun‑ dert irrelevant geworden waren, sollte nicht vergessen werden, dass Lukrez immerhin der erste gewesen ist, der die konzentrische Konvergenz aller Sehinhalte am Beispiel 66
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einer in der Ferne fluchtenden Säulenhalle als ein perspektivisches Erscheinungsbild beschrieben hat.106 Die holländischen Kirchenraumbilder z. B. zelebrieren im Gegen‑ satz zu anderen europäischen barocken Malschulen gerade die grandiose Perspekti‑ vität von solchen Tiefenräumen. Aber auch bescheidene bürgerliche Wohnungen wurden von holländischen Malern und zumal von Vermeer in Meisterwerken pers‑ pektivischer Konstruktion wiedergegeben. Ein bislang noch nicht identifizierter, aber qualitätvoller holländischer Maler hat Albertis Vergleich ganz wörtlich genommen. Seine Terrasse (Chicago, Art Institute) (Abb. 35) bietet eine Aussicht aus einem Fenster, dessen verglaster und vergitterter Flügel weit nach außen geöffnet ist. Wie sehr dieser Durchblick, ein mehrfach variier‑ ter „Doorkijk“, im angenehmen Halbschatten des Rebenlaubdaches der Lust gewid‑ met ist, verdeutlicht seine unmittelbare Vergemeinschaftung mit Musik, Wein, rei‑ zenden Menschen, ebensolchen Skulpturen und amourösem Geplauder. Es sind eben jene Freuden, die Epikur als seine wichtigsten aufzählt.107 Epikureisches bei Künst‑ lern hat sich offenbar nicht auf Vermeer allein beschränkt, doch fand er Möglichkei‑ ten, es auf subtilere Weise aufzunehmen.
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Die Frau mit der Goldwaage Die sogenannte Perlenwägerin, zutreffender: die Frau mit der Goldwaage (Washing‑ ton D. C., National Gallery of Art, Widener Collection) (Abb. 36), kann in mehrfa‑ cher Hinsicht als ein Schlüsselwerk Vermeers bezeichnet werden.108 Bei genauer Be‑ trachtung erweisen sich, wie längst gesehen wurde, die Waagschalen als leer. In ihnen finden sich weder Perlen noch Münzen oder Gewichte. Perlen liegen nicht einzeln und lose, sondern als Ketten vor ihr auf dem Tisch und in der geöffneten Kassette. Die Frau ist nicht im Begriff, Pretiosen zu wiegen. Ihr Tun wirkt rätselhaft, könnte aber auch dazu verleiten, sich mit einfachen Erklärungen zufrieden zu geben etwa in dem Sinn, es handle sich um das Sternzeichen Libra, Waage, eine Allegorie des Gleichge‑ wichts, des Ausgleichs oder um eine Person, die sich nicht entscheiden kann. Es scheint, als prüfe die Frau die Balance des Instruments oder als sei sie in Betrachtun‑ gen seiner symbolischen Qualitäten versunken. Nach ihrer meditativen Haltung zu schließen, findet ein Abwägen als geistiger Vorgang in ihrem Inneren statt und gilt nicht den Kostbarkeiten ihres Besitzes.109 Uneins ist sich die Forschung über die Frage, ob Vermeer hier eine Schwangere dargestellt hat. Auch in Anbetracht der modischen Eigentümlichkeit der Kleidung dieser Zeit, die als Argument gegen eine Schwangerschaft angeführt wird, ist die Lei‑ beswölbung doch zu beträchtlich, um diese Vermutung ohne weiteres ad acta zu le‑ gen. Wie das Gleichgewicht der Waagschalen bleibt auch dieser Umstand unentschie‑ den in der Schwebe. Es ist eine Situation zurückgezogenen Lebens, in der wir die Frau sehen. Es scheint, als sei ein halbhoher Fensterladen außen geschlossen, und als solle kein Blick ins In‑ nere des Kabinetts möglich sein, ist auch der Vorhang zugezogen – sehr ungewöhnlich für die Gebräuche im calvinistischen Holland, wo man für gewöhnlich von außen Ein‑ blick auf einwandfreien Lebenswandel im Inneren des Hauses auch heute noch gibt. Das gönnt dem Raum nur gedämpftes Tageslicht, das auf die Frau, den Tisch, auf die Münzen, die Perlschnüre, Ketten und Schatullen vor ihr fällt und auch die graue Wand hinter ihr streift. Dort lässt es die Goldleisten eines schweren, schwarzen Rahmens aufleuchten, der ein Gemälde des Jüngsten Gerichtes einfasst. Das ist für sich genom‑ men schon seltsam genug, eignet sich doch ein so großformatiges, ehemals wohl für ei‑ nen Altar bestimmtes Bild mit sakraler Thematik nicht gut für die Ausstattung einer profanen bürgerlichen Wohnstube, es sei denn, die Bewohner verbinden damit ein be‑ sonderes Anliegen. Oft hat man daher betont, dass dieses Gemälde für eine mora‑ lisch-religiöse Interpretation der Szene aufschlussreich sein müsse. Diese Sicht hat ihre vordergründige Berechtigung, soll aber geprüft werden, denn sie ist ebenso wie die zwar sehr wahrscheinliche, aber mit vielen Fragezeichen versehene Vermutung, Ver‑ meer sei zum Katholizismus konvertiert, keineswegs unproblematisch.110 Die vermeintlich so offenkundige und eindeutige Parallelisierung von Pretiosenund Seelenwägung ist zwar naheliegend, erweist sich bei genauer Betrachtung jedoch 68
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36 Vermeer, Frau mit der Goldwaage, Washington D. C., National Gallery of Art
als oberflächlich. Um die Aussagekraft dieses Bildes im Bild adäquat zu gewichten, ist zunächst der blasse, reduzierte und verfremdete Realitätsgrad des Geschehens auf der sakralen Tafel an der Rückwand des Raumes zu bedenken.111 Wir sehen ein altertüm‑ liches Gemälde mit geisterhaft huschenden Wesen, die schemenhaften Schrecken im Nachhall einer vergangenen, gleichsam wahnhaften Sphäre, deren wie vom Kerzen‑ rauch verdüsterte Farben auch stärkeres Licht in dem Zimmer kaum zum Leben er‑ wecken könnte. Treffend, aber vielleicht noch nicht scharf genug hebt Daniela Ham‑ mer-Tugendhat den Kontrast zwischen Vermeers eigener Komposition und jener des Gerichtsbildes in dieser hervor: „Es ist der Gegensatz zwischen einer harmonischen,
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geordneten (diesseitigen) Welt – ‚Vermeers Welt‘ – und einem Bild, in dem alle Ge‑ setze von Maß, Ruhe und Harmonie außer Kraft gesetzt sind zu Gunsten einer affek‑ tiv bewegten und gestikulierenden Menge.“112 Zwar ist der Christus mit ausgebreitet erhobenen Armen in einer trüben Gloriole zwischen den verschwommenen Gruppen der Beisitzer des Gerichtes genau über dem Kopf der Frau deutlich zu erkennen. Doch eben ihre Gestalt stört den Zusammen‑ hang der apokalyptischen Bilderzählung und das traditionelle Schema seiner Lesbar‑ keit. Der Bezug der ohnehin schon in großer Ferne agierenden Christusfigur zu den Auferstehenden ist unterbrochen. Nicht dass die Figur des Richters bedeutungslos wäre, doch sie und ihre urteilsverkündende Gestik sind weit entrückt aus dem gegen‑ wärtigen Leben der Frau wie ein matter Nachhall aus fremden Zeiten und Welten. Al‑ les in diesem Gerichtsbild wirkt zunächst wie die verkümmerte Überlieferung einer verblassten Botschaft. Zwei unbeachtete Details haben in dieser Tradition keinen Platz und geben zu denken: 1. Mit der Weisung zweier undeutlicher Gegenstände in seinen Händen sind Lilie und Schwert als Symbole des Urteils über die Seligen und die Verdammten gemeint. In der herkömmlichen Ikonographie des Jüngsten Gerichtes gehen sie stets von Mund oder Gesicht Christi aus. Doch hier ist es, als sei er verstummt oder als habe sein Wort keine Macht. Als hätten diese Zeichen ihre spirituelle Kraft verloren, sind es hier Dinge von handgreiflicher Trivialität. 2. Der Ort in dem Gemälde, wo der Erzengel als Seelenwäger anzunehmen wäre, ist kaum zufällig nur eine tiefdunkle Leerstelle. Sie wirkt so, als sei das Bild im Bild an dieser Stelle und vielleicht schon bevor es seinen Platz im Zimmer der Frau bekom‑ men hatte, mit einer breiten, quergelagerten schwarzen Farbfläche übermalt worden, und als habe Vermeer eben diesen auslöschenden Eingriff in die Mechanik und Cho‑ reographie der traditionellen Prozessordnung beim Jüngsten Gericht auch deutlich mit abgebildet und einer genauen Betrachtung erkennbar machen wollen. Denn die‑ ser Bereich wird von der Frau davor nur teilweise verdeckt. Der fehlende Seelenwäger kann allenfalls nur in Gedanken ergänzt werden, besitzt insofern aber keinerlei Furcht und Demut fordernde Bildpräsenz. Weder sind der wägende Engel oder ein ge‑ rüsteter Himmelsbote mit Schwert oder Kreuzlanze, noch die Posaunen des Dies irae dargestellt. Von einer Intercessio oder Deesis, also der mit Johannes dem Täufer um Gnade für die Menschheit bittenden Muttergottes fehlt ebenso jede Spur. Der himm‑ lische Gerichtshof ist unvollständig, ohne Fürsprecher und exekutive Organe. Chris‑ tus thront vereinsamt; die vermeintliche beziehungsreiche Parallelisierung des Seelen‑ wägens und der Tätigkeit der Frau mit ihrer Goldwaage findet nicht statt. Dies alles sind zwar nur kleine und bisher übersehene Details. Doch sie fallen umso schwerer ins Gewicht, als sie das Bild im Bild zur Negierung all dessen umwid‑ men, was es vordergründig und nach gängiger Auffassung darzustellen vorgibt. Da‑ mit stellt es sich in eine freigeistige Tradition, die seit Giordano Bruno die Gottes‑ sohnschaft Christi und die Vorstellung des Jüngsten Gerichtes ablehnt. Dass solche
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zunächst unscheinbaren, letztlich aber gravierenden „Kleinigkeiten“ einem so ge‑ nauen und scharf kalkulierenden Künstler, der Vermeer war, nur zufällig unterlaufen sein könnten, möchte wohl auch der engagierteste Verfechter seiner biblischen Glau‑ benstreue kaum behaupten wollen. In dieser Lage zieht der Christus dieses unglaubwürdigen Jüngsten Gerichts jene Fragen auf sich, die in der Frühen Neuzeit als Theodizeeproblem große Geister be‑ schäftigt haben, aber schon in der Antike und vielleicht auch von epikureischen Den‑ kern aufgeworfen worden waren: Wie sind das Böse und das Leid in der Welt mit der Allmacht, der allumfassenden Güte und Allwissenheit Gottes vereinbar? Der früh‑ christliche Autor Laktanz (ca. 250 – ca. 320) überliefert folgende dem hellenistischen Philosophen zugeschriebene Überlegung: „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht. Oder er kann es zwar, will aber nicht. Oder er kann nicht und will auch nicht. Oder er will es und kann es. Wenn er will und nicht kann, ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft; wenn er kann und nicht will, ist er miß‑ günstig, was mit Gott ebenso unvereinbar ist; wenn er weder will noch kann, ist er schwach und mißgünstig zugleich und daher kein Gott; wenn er aber will und kann, was allein Gott zu‑ kommt, woher kommen dann die Übel oder warum hebt er sie nicht auf?“113
Mit Blick auf Epikurs Gottesvorstellung findet die Ruhe der Waagschalen freilich eine plausible Erklärung, denn dieser keineswegs atheistische Denker hat die Exis‑ tenz der Götter ja durchaus nicht geleugnet, sondern im Gegenteil denjenigen hoch gepriesen, der fromm von ihnen denkt und den Tod nicht scheut.114 Doch unabhängig davon spricht Epikur den Göttern jegliches Interesse am Schicksal der Menschen, an Lohn oder Strafe ab und verortet sie in der Ferne von Intermundien, Zwischenwelten, wo sie verehrt werden können und sollen, aber weder zu beeinflussen sind noch ge‑ fürchtet werden müssen: „Ein seliges und unvergängliches Wesen (die Gottheit) trägt weder selbst Mühsal, noch belädt es ein anderes Wesen damit. Darum kennt es weder Zorn noch Wohlwollen. Dergleichen gibt es nur bei einem schwachen Wesen.“115 Nichts könnte der Theologie der biblischen Welt mit einem belohnenden und stra‑ fenden Richtergott fremder sein als diese ebenfalls antike Lehre. Das kompositorisch und damit zugleich semantisch „entkernte“ Bild des Jüngsten Gerichtes in Vermeers Frau mit der Goldwaage und dem deutlich erkennbaren, aber in seiner erratischen Aktion fragwürdigen Christus wirkt wie eine Visualisierung dieser falschen Gottes‑ vorstellung, vor der die gedankenverlorene Frau aber völlig unberührt im Gleichge‑ wicht ihrer ataraxia, ihrer unerschütterlichen Seelenruhe verharrt.116 Der Gottessohn wird hier gleichsam herbeizitiert, um der traditionellen Vorstellung des Dies irae zu entsprechen, verfehlt diese Rolle unspektakulär, aber deutlich. Die Frau wird von diesen „entwaffneten“ eschata nicht tangiert und schon gar nicht beunruhigt, und ihre Gedanken gelten nicht ihnen. An Stelle des Erzengels mit der üblicherweise schweren Balkenwaage hebt sie nur dieses zarte, hochempfindliche Instrument, auf dessen Schalen nichts als Lichtglanz liegt. Das entmachtete Jüngste Gericht lässt ihre Hand nicht zittern. Ihre reglose Haltung und vollkommene Affektlosigkeit stehen in
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keinem inneren Bezug zum gespenstischen Terror der flackernden Szenen der Letzten Dinge in dem Gemälde an der Wand. Sie korrespondieren vielmehr mit dem realen diesseitigen Leben und finden ihre Entsprechung durchaus in den Gedanken Epikurs. Ja, die Frau mit der Goldwaage ist geradezu ein Sinnbild des epikureischen Ideals ei‑ nes ausgeglichenen Lebens. So ist in Epikurs Brief an Menoikeus zu lesen: „Unsere Aufgabe ist es, durch Abwägen und Unterscheiden des Zuträglichen und Abträgli‑ chen immer alles richtig zu bewerten, denn manchmal bedienen wir uns des Guten gleich wie des Übels und umgekehrt.“117 Was wäre hier bei Vermeer das Gute, was das Übel? Führen die Drohungen und Verheißungen des Letzten Gerichtes zum Guten? Geht es hier wirklich um das Abwä‑ gen zwischen irdischen und ewigen Gütern? Dafür gibt es keinerlei überzeugende An‑ zeichen. Einige Zeilen vorher im selben Brief Epikurs aber ist zu finden, was die durchaus nähere Lebenswirklichkeit der Frau betreffen könnte, nämlich vielleicht gu‑ ter Hoffnung mit bevorstehender freudvoller, gleichwohl schmerzbringender Geburt zu sein: „Viele Schmerzen bewerten wir mitunter sogar höher als Freuden [Lustempfindungen], nämlich dann, wenn auf eine längere Schmerzenszeit eine umso größere Freude folgt. So bedeutet für uns also jede Freude [Lust], weil sie an sich etwas Annehmliches ist, zwar gewiss ein Gut, aber nicht jedes ist erstrebenswert, wie umgekehrt jeder Schmerz wohl ein Übel ist, aber darum doch nicht unbedingt vermieden werden muss.“118
Selbst wenn die Frau nicht schwanger sein sollte, sondern der pointierte Schnitt ihrer Kleidung dies nur als Möglichkeit ins Bewusstsein des Betrachters ruft, ist die Abwä‑ gung von den Schmerzen einer Geburt und der umso größeren Freude künftigen Mutterglücks eine Thematik, die sehr gut ihre meditative Haltung erklären könnte. Als Mann, dem seine Frau mehr als ein Dutzend Kinder geboren hatte, muss Vermeer ausreichend Erfahrung damit gehabt haben. Die Goldwaage in Balance ist geradezu ein Sinnbild der vollkommen souveränen Ausgeglichenheit ihrer Besitzerin. Ob sie sich als nächstes der Gewichtsprüfung einiger ihrer Pretiosen widmen wird oder nicht, bleibt unentschieden. Hier kommt es allein auf den unbegrenzten Mo‑ ment des Innehaltens an. Wenn das Jüngste Gericht an der Wand jegliche Relevanz für die Enge einer im herkömmlichen Sinne religiös orientierten Interpretation verloren hat, kann die Frau anderen Assoziationen den Weg weisen, die weit über häusliches Glück, harmonische Ausgeglichenheit oder die praktische Anwendung ihres feinen Instrumentes hinaus‑ reichen. Die Goldwaage könnte nämlich von einem wissenschaftlich aufgeklärten Be‑ trachter auch als deutliche Anspielung auf eine höchst brisante Schrift Galileo Gali‑ leis von 1632 verstanden werden. Sie trägt den Namen Il Saggiatore, was bedeutet: „Die Goldwaage“, „Der Prüfer“ oder auch entsprechend dem Untertitel der Abhand‑ lung: „Der Prüfer mit der Goldwaage“119 (Abb. 37). Diese methodologische Haupt‑ schrift Galileis mit ihrer Absage an Alchemie und Astrologie hat unter anderem die auf Leukipp, Demokrit und Epikur sowie in dessen Nachfolge auf Lukrez fußende 72
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37 Galileo Galilei, Il Saggiatore
Lehre des Atomismus zum Inhalt. Steven Greenblatt verdanken wir die glänzende Er‑ zählung der nachantiken bzw. nachmittelalterlichen Fortuna critica dieses das neu‑ zeitliche Denken beflügelnden Opus des römischen Dichters De rerum natura – Von der Natur der Dinge. Er fasst die in den Augen der Inquisition kritischen Punkte der Abhandlung präzise zusammen: „Wie Lukrez argumentierte auch Galilei für die Einheit der irdischen und der himmlischen Welt. Es gebe, schrieb er, keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Natur der Sonne und der Planeten und der Natur der Erde und ihrer Bewohner. Wie Lukrez glaubte er, alles im Univer‑ sum könne und solle allein durch geordneten Gebrauch von Beobachtung und Vernunft ver‑ standen werden. Wie Lukrez bestand er auf dem Zeugnis der Sinne, und das, wenn es sein musste, auch gegen die orthodoxen Behauptungen der Lehrautoritäten. Wie Lukrez versuchte er, von diesem Zeugnis zu einem rationalen Verständnis der verborgenen Strukturen aller Dinge zu gelangen. Und schließlich war er, ebenfalls wie Lukrez, davon überzeugt, dass diese Strukturen von der Natur durch das, was er ‚minimi‘ – kleinste Partikel – nannte, konstituiert würden; mit anderen Worten: von einem begrenzten Repertoire von Atomen, die sich auf im‑ mer neue, unzählige Weisen verbänden.“120
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Das Werk des römischen Dichters aber steht ausdrücklich für die Naturlehre des griechischen Denkers ein, der ja seit alters fälschlich des Atheismus bezichtigt wurde. Epikur sah es als unerlässlich für ein glückliches Leben an, die Natur in ihren beiden Grundprinzipien zu begreifen, dem unendlichen leeren Raum und den unzerstörba‑ ren Atomen. Alle Dinge, so meinte er, lösten sich irgendwann einmal auf, um ihre atomaren Bestandteile für neue Verbindungen freizugeben, und wie der Körper be‑ stehe auch die Seele aus Atomen und zerfalle im Tod. Als gläubiger Katholik wird Galilei die Unsterblichkeit der Seele nicht bezweifelt haben. Nichtsdestoweniger hat er mit einer weiteren naturwissenschaftlichen Schrift den Zorn der Kirche auf sich gezogen. In diesem Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo tolemaico e copernicano (Florenz 1632) – Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemeische und das kopernikanische – werden die beiden Modelle der Himmelsmechanik, das geozentrische und das heliozentri‑ sche, argumentativ gegeneinander abgewogen.121 Galileis Eintreten für das koperni‑ kanische Weltbild in dieser Schrift hätte ihn beinahe auf den Scheiterhaufen ge‑ bracht. Nur Selbstverleugnung und die Uneinigkeit der zuständigen Kardinäle oder klandestines Wohlwollen einiger von ihnen bewahrte den Astronomen vor dem Schlimmsten. Die mit dem spärlichen Fensterlicht kaum erklärbare helle Erscheinung der Frau mit der Goldwaage ist keine Metapher für Erleuchtung aus den finsteren Drohungen der Apokalypse. Einerseits ist es kein sakrales, sondern ein durchaus indifferentes Licht, das ungeachtet der geheimnisvoll anmutenden Aura des Interieurs auf sie fällt und ihre Gestalt in ein weiches Sfumato hüllt. Andererseits aber steht die Frau in ei‑ genständiger, gleichsam geistiger Helligkeit da, die man in Anbetracht der religions‑ kritischen Bewegungen einen Vorschein der Aufklärung nennen könnte. Die Chronologie von Vermeers Gemälden ist umstritten und – abgesehen von den nur drei Werken mit Jahreszahl versehenen (Bei der Kupplerin, Dresden 1656; Der Astronom, Paris 1668; Der Geograph, Frankfurt 1669) – größtenteils arbiträr und ein unsicheres Terrain, das keine tragfähige Grundlage gibt, wie allein schon die zum Teil stark divergierenden Annahmen der Forschung zeigen. Nichts spräche zwingend dagegen, die Frau mit der Goldwaage anders als üblich erst gegen Ende der 60er Jahre in die Nähe des Astronomen und des Geographen zu datieren. 1668 erregten zwei Schriften des radikalen Religionskritikers Adriaan Koerbagh Aufsehen, obwohl sie von den Autoritäten noch vor ihrer weiteren Verbreitung eingezogen worden wa‑ ren. Een Bloemhof van allerley Lieflijkheyd sonder verdriet (Ein Blumengarten vol‑ ler Lieblichkeiten ohne Verdruss), und Een Ligt schynende in duystere Plaatsen, om te verligten de voornaamste saaken der Godsgeleerdtheyd en Godsdienst, (Ein Licht, das in dunkle Orte scheint, um die Hauptfragen der Theologie und Religion zu erhel‑ len), beide Amsterdam 1668,122 wurden von offizieller Seite umstandslos als im höchsten Maße blasphemisch und häretisch verurteilt (Abb. 38). Als ob der Titel der zweiten Abhandlung in Vermeers Frau mit der Goldwaage schon seine anschauliche Umsetzung erfahren hätte, enthüllt die vorsichtig in den
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Raum tastende Tageshelle die theologische Dunkelheit des Jüngsten Gerichtes an der Wand. Es ist nicht das einzige Gemälde Vermeers, in welchem der Düsternis eines Bil‑ des im Bild Aussagekraft zugeschrieben werden kann. Adriaan Koerbagh und sein Bruder Johannes, ein studierter Theologe, lehnten Offenbarung und Dogmen ebenso ab wie jede sprachliche Form theologischer Mystifizierung. Christus galt ihnen als normaler sterblicher Mensch, nicht als Gottes Sohn. Sie leugneten Wunder, Engel, Dämonen und übernatürliche Vorgänge. Sie lehnten die Trinität als einen ebensol‑ chen Irrationalismus ab wie die Auferstehung der Toten, Magie und Hexenwerk. Die Offenbarung widerspräche der Vernunft ebenso wie der Schöpfungsmythos. Sie ak‑ zeptierten allein die Vernunft und im Gegensatz zur Theologie nur die Naturwissen‑ schaften als wahre Wissenschaften. Die Bibel nannten sie Menschenwerk und schrie‑ ben, die Religionen gründeten sich auf Täuschung, Betrug und Gewalt. Das Interesse der Priester sei es, den Betrug zu festigen und das Volk vom Gebrauch kritischen Ver‑ standes abzuhalten. Der Umstand, dass die Koerbaghs ihre Schriften in holländischer Sprache verfasst hatten, um auch das einfache Volk zu erreichen, wurde ihnen von den Obrigkeiten als besonders erschwerend angelastet.123 Vorbereitet wurde diese Religionskritik nicht nur durch den europaweit verbreite‑ ten antitrinitarischen Sozianismus, sondern gewiss auch durch die Schriften des Se‑ bastian Franck, von denen siebzehn zwischen 1558 und 1621 ins Niederländische übersetzt und wiederholt nachgedruckt wurden. Franck war gerade in den Nieder‑ landen ein bekannter Autor mit großer Wirkung. Er lehnte grundsätzlich jede Form von religiöser Bevormundung ab. „Dabei wird er von Anfang an als Kritiker der Kirchen und Konfessionen wahrgenommen, des‑ sen Einfluss nur im Verborgenen stattfinden kann. Seine Kritik zielt auf die Verweltlichung der Amtskirchen. Davon ist keine Konfession ausgenommen. Gott ist für ihn nur im Innern erfahr‑ bar. Er bedarf keiner Vermittlung durch Priester und Sakramente. Jedwede äußere Autorität wird bestritten. Auch die Bibel stellt für ihn keinen Selbstzweck dar,“124
sie ist nur ein historisches Zeugnis unter anderen. In Christus sieht er nicht den Er‑ löser, sondern nur ein Vorbild. In einem monumentalen, auf umfassendem Quellenstudium fußenden und viel‑ diskutierten Buch beleuchtet der britische Historiker Jonathan I. Israel die verschie‑ denen Strömungen der Aufklärung, wobei er den Koerbaghs besonderes Augenmerk schenkt. „Vor der moderaten oder ‚Mainstream‘-Aufklärung des 18. Jahrhunderts gab es eine radikalere Bewegung mit Epizentrum in den Niederlanden,“ fasst Tho‑ mas Hippler in seiner Rezension eine Kernthese des Buches zusammen. Israel charak‑ terisiert diese Strömung folgendermaßen: „The Radical Enlightenment, whether on an atheistic or deistic basis, rejected all compromise with the past and sought to sweep away existing structures entirely, rejecting the Creation as traditionally understood in Judaeo-Christian civilisation, and in the intervention of a provi‑ dential God in human affairs, denying the possibility of miracles, and reward and punishment in an afterlife, scorning all forms of ecclesiastical authority, and refusing to accept that there is
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38 Adriaen Koerbagh, Een Bloemhof van allerley lieflykheyd und Een Ligt schynende in duystere plaatsen
any God-ordained social hierarchy, concentration of privilege or land-ownership in noble hands, or religious sanction for monarchy. From its origins in the 1650s and 1670s, the philo‑ sophical radicalism of the European Early Enlightenment characteristically combined im‑ mense reverence for science, and for mathematical logic, with some form of nonprovidential deism, if not outright materialism and atheism along with unmistakably republican, even de‑ mocratic tendencies.“125
Wenn Jonathan Israel die enorme Wertschätzung der Frühaufklärung für Mathema‑ tik und Wissenschaft betont, so wird man daran vor Vermeers Gemälden nicht nur durch die Kunst seiner wissenschaftlichen Perspektive erinnert, sondern auch durch die Abbildung großer Landkarten. Acht seiner Interieurs sind mit solchen Meister‑ werken der Kartographie ausgestattet, deren Genauigkeit nicht zuletzt Mathemati‑ kern wie Willebrord van Roijen Snell (Snellius) mit seinen Erfindungen zur geodäti‑ schen Triangulation verdankt wird. Auch wenn Epikur in den Abhandlungen der holländischen Frühaufklärung noch keine ausdrücklich herausgehobene Rolle zu spielen scheint, hat diese doch seit der Mitte des 17. Jahrhunderts den Boden für eine breite Rezeption seiner Schriften berei‑ tet. Gerade von Spinoza ist er gelesen worden, und dieser hat praktisch alle frühen ra‑ dikalkritischen Aufklärer, auch die Koerbaghs beeinflusst. Gleiches gilt auch von ge‑ 76
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mäßigten Geistern. Diesem Interesse an dem antiken Aufklärer ist wohl auch durch eine religionskritische Einstellung der Boden bereitet worden, die in den Niederlan‑ den eine längere und nicht zuletzt künstlerische Tradition hat.126 Die Wägerin ruft gleichsam einen Wettstreit unter einer Vielzahl von inhaltlichen Assoziationen auf, vor allem aber scheint sie für die Prüfung der „Gewichte“ von Dogmen des Offenbarungsglaubens einerseits und rationaler Erkenntnis andererseits zu stehen, die Galilei in Konflikt mit der Inquisition und die Brüder Koerbagh ins Ge‑ fängnis gebracht hatte. Die enormen wissenschaftlichen Fortschritte, die damals in Holland gemacht wurden, hielten die Erinnerung daran wach.127 So könnte die Waage nicht nur für das damals hochaktuelle Abwägen der beiden Weltsysteme, des geozentrischen gegen das heliozentrische, sondern auch überhaupt für die Gewich‑ tung von Wissen gegen Glauben stehen. Ambivalenz als Bildform hätte kein vielschichtigeres und zugleich prägnanteres Symbol finden können als die Waage in der Hand der Frau, die sich überdies auch als Anspielung auf die „Stilstaanders“, die religiös Unentschiedenen, verstehen ließe, die 1566–1568 in den friesisch-flämischen Auseinandersetzungen und während des Schismas neutral bleiben wollten.128 Dieses dauerte fast ein Jahrhundert an. Der am Fenster des Zimmers zugezogene Vorhang mag vordergründig bedeuten, dass die Frau mit der Goldwaage verständlicher Weise fremde Blicke von ihren Pre‑ ziosen fernhalten will. Wir werden auf diese Weise abermals an Epikurs dringliche Empfehlung erinnert: „Lebe im Verborgenen!“ Auf symbolischer Ebene aber ist wohl auch auf das Verbergen eines Gedankengutes angespielt, mit dem selbst im damali‑ gen liberalen Holland unbefangen vor die Öffentlichkeit zu treten nicht ratsam war. Denn sogar hier hatte die Toleranz der Religionsfreiheit ihre Grenzen, und eine An‑ klage wegen Blasphemie, wirklichem oder geargwöhntem Atheismus konnte strenge Konsequenzen nach sich ziehen, wie das harte Schicksal des radikalen Freigeists Adriaan Koerbagh erweist.129 Die Kirche Calvins war zwar nicht Staatskirche, aber die einzige offizielle und stellte die stärkste Macht dar. Ihre Anhänger und die refor‑ mierten Theologen des „Goldenen Zeitalters“, die Mennoniten und andere konfessi‑ onelle Splittergruppen waren ebenso wie der auch in den nördlichen Provinzen durch‑ aus präsente Katholizismus alles andere als Freunde der Lehren Epikurs und seiner Jünger. Die Ambivalenz oder besser Multivalenz der Bildlektüre erlaubt es ja durchaus, die Reflexion der Frau auf das Seelenwägen im Jüngsten Gericht zu beziehen, wie es in den meisten Interpretationen des Gemäldes zu lesen ist. Die Frau mit der Waage als ungebrochen affirmatives Zeugnis christlichen Glaubens zu akzeptieren, hätte ja auch der verschleiernden Absicherung und Rechtfertigung des Malers, aber ebenso eines Bildkäufers bzw. ‑besitzers gegen den möglichen Vorwurf der Gottlosigkeit und ähnlicher Verdächtigungen devianter Einstellung von Nutzen sein können. Ja, es wäre leicht gewesen, auf die Treue zu altkirchlicher Konfessionalität zu verweisen mit dem Argument, hier hänge ein Bild in der Stube, gut hundert Jahre alt, und vor den Bilderstürmern gerettet, die 1566 und 1573 auch die Delfter Kirchen heimgesucht
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hatten. Der Verdacht auf antitrinitarischen Sozianismus läge von daher fern. Vermeer habe vielmehr eine andächtige Gläubige bei eschatologischen Betrachtungen gemalt, und der Bezug auf Galileis Schrift sei unwahrscheinlich, da es sich doch um eine Frau und keinen Mann mit einer Goldwaage handle. Doch diese Abweichung ist wohl eher einer äußerst geschickten Strategie der dissimulatio, des Verbergens und der Verstel‑ lung geschuldet, der sich Vermeer bei unorthodoxer Betrachtung ebenso in seiner Allegorie des Glaubens (New York, Metropolitan Museum) (Abb. 57) bedient hat.130 Hinter einer vorgespielten konfessionellen Identität verbirgt sich eine womöglich nikodemische Haltung.131 Allerdings hatten die Verhaltensformen der simulatio und dissimulatio etwa bei Erasmus von Rotterdam tiefgründige theologische Rechtferti‑ gungen gefunden. Calvins harte Alternative Martyrium oder Auswanderung wurde durchaus nicht allgemein akzeptiert,132 und die nikodemische Verstellung war keines‑ wegs auf das 16. Jahrhundert im Zeitalter der Reformation beschränkt.133 Das Gemälde war offenbar nicht nur durch Mehrdeutigkeit, sondern auch noch auf andere, materielle Weise vor misstrauischen Blicken geschützt. Aus einem Ams‑ terdamer Verkaufskatalog von 1696, der die Gemäldesammlung von Jacob Dissius, dem Schwiegersohn des Vermeersammlers Pieter van Ruijven, auflistet, geht einer‑ seits hervor, dass die Tätigkeit von „een Juffrouw die goud weegt, in een kasje van J. vander Meer van Delft, extreordinaer konstig en kragtig geschildert“,134 schon da‑ mals unzutreffend beschrieben wurde. Andererseits lässt aufhorchen, dass die „junge Dame beim Goldwiegen“ wie auch einige andere Bilder des Delfters in einem „kasje“, also einem wahrscheinlich verschließbaren Gehäuse, aufbewahrt war. Das konnte sowohl einer Präsentation des Bildes wie in einem Guckkasten, als auch seinem Schutz in materieller und rezeptiver Hinsicht gedient haben. Ambivalenz ähnlicher Art begegnet uns auch in der Beschreibung der Stadt Delft und ihrer christlichen Kultstätten, die Dirck van Bleyswijck zwischen 1667 und 1680 verfasst hat. Bleyswijck war seit 1666 Verwalter der Oude und Nieuwe Kerk und hatte in dieser Eigenschaft Zugang zu den Archiven und allen wichtigen Dokumen‑ ten zur Frömmigkeitsgeschichte der Stadt.135 Einerseits berichtet er gewissenhaft von den wundertätigen Bildwerken und den Mirakeln, die ihnen zugeschrieben wurden, andererseits aber zieht er sie ironisch und spöttisch in Zweifel, sei es mit natürlichen Erklärungen oder als Frucht des päpstlichen Jochs, des Aberglaubens und der Göt‑ zendienerei. „Dabei impliziert die Chronologie stets eine moralische Beurteilung. Diese wird mittels werten‑ der Gegensatzpaare zum Ausdruck gebracht, die den Text durchziehen und sich der zeitlichen Unterscheidung mühelos zur Seite stellen lassen, wie etwa ‚magische Dunkelheit – aufklärendes Licht‘, ‚äußerlicher Schein – innere Wahrheit‘, ‚Götzendienst – Gottesdienst‘, ‚Aberglaube – Glaube‘.“136
Zwar bedauert Van Bleyswijck die Plünderungen der Bilderstürmer und den immen‑ sen Verlust an hervorragender Malerei. Dabei hat er aber ausschließlich deren Kunst‑ wert im Sinn. 78
Schließlich lässt sich Van Bleyswijck auch nicht das Wortspiel mit Delft und Delphi entgehen, wenn er die Fama der Heiligtümer der christlichen mit jener der heidni‑ schen Stadt und ihren jeweiligen Wallfahrten vergleicht. Die Frau mit der Goldwaage ist als Zeugnis altkirchlicher Glaubensobservanz nur dann akzeptabel, wenn eine beträchtliche Reihe von widersprechenden Indizien ignoriert wird. Für ihre Orientierung im Sinne der reformierten Kirche oder über‑ haupt von Bibelgläubigkeit gibt es ebenso wenig zwingende Gründe. Überdenkt man die hier skizzierten Interpretationsansätze noch einmal, so fällt auf, dass einem wichtigen Umstand bisher zu wenig Rechnung getragen wurde, von dem eine Bildanalyse bisweilen ihren Anfang nehmen sollte: dem anschaulichen Cha‑ rakter138 dieser – man scheue sich nicht vor dem Wort – mystischen Versenkung der Frau, die mit dem eher blassen Begriff „Meditation“ wohl noch nicht hinreichend ge‑ kennzeichnet ist. Das Bild des Jüngsten Gerichtes an der Wand mit seinem seltsam obsoleten Gottesbild bleibt unter jedem Gesichtspunkt eine kritische Herausforde‑ rung der Interpretation. Wenn nach Epikur die Vorstellung des richtenden, belohnenden und strafenden Gottes unangemessen und falsch ist, was ist dann angemessen und richtig? Epikur lehrte, dass die Götter glückselig und menschengestaltig schön seinen und wie alles andere aus Atomen bestünden, dass sie nicht nur verehrt werden sollen, sondern auch gesehen werden können, und zwar in den Bildern, die uns quasi feinstofflich zuflie‑ ßen.139 Es war ihm wichtig zu betonen, dass sie sich in keiner Weise um menschliche Belange kümmern. Lukrez verdichtet dies zu eindringlicher Mahnung vor abergläu‑ bischer Gottesfurcht:
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„Der liturgische Gebrauch von Kirchenausstattung gerät dagegen in den Bereich des Kuriosen. Prozessionen, Mysterienspiele oder der Umgang mit Marienfiguren sind Lächerlichkeiten, an welchen sich der interessierte Leser ergötzen kann, die aber nicht mehr ernsthaft zur Diskus‑ sion stehen. Der Bildergebrauch und andere ‚paapse superstitien‘ sind als geschichtliche, wenn auch bedauernswerte, Irrungen festgelegt.“137
„Wenn du Unwürdiges von den Göttern glaubst, was nicht passt zu ihrem Frieden, dann min‑ derst du ihre selige Majestät, und sie wird dir schaden; nicht als ob du der Götter heilige Gewalt zum Zorn reizen könntest, sondern weil du den Friedvollen den Zorn zuschreibst und nicht mit abgeklärtem Herzen ihre Tempel betrittst, nicht mit stiller Seele die Bilder aufnehmen kannst, die von ihren hehren Gestalten ausströmen.“140
Eine ruhigere Gestalt mit abgeklärterem Herzen und stillerer Seele als sie der Frau mit der Goldwaage zugeschrieben werden dürfen, ist kaum vorstellbar. Denkbar ist, dass sie sich in ihrer Versenkung einem von allen religiösen Vorurteilen und aber‑ gläubischen Missbräuchen gereinigtem Gottesbild hingibt. Wenn es zunächst nahe‑ liegend ist anzunehmen, dass sie auf die Waage blickt, so belehrt uns ihre Verinner‑ lichung eines Besseren: Die dicht über die Ohren gezogene Haube dämpft wohl das Hören, und die Augen unter den gesenkten Lidern wirken ebenso geschlossen wie der Mund der Frau. Die Nahsicht bestätigt diese Vermutung, denn Vermeer hat sogar die
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Stellung der Wimpern angedeutet. Letzte Gewissheit hierüber lässt das Sfumato der Modellierung des Gesichtes nicht zu. Nun mag es unerheblich scheinen, ob die Augen leicht geöffnet oder geschlossen sind. Jedoch bedeutet es einen signifikanten Unter‑ schied und gibt je nach Sichtweise ein weiteres Mal Anlass, über die auf allen Ebenen dieses Bildes bemerkbare Ambivalenz nachzudenken. Was der zugezogene Vorhang für das Ambiente der Frau aussagt, bedeuten die still gelegten Sinnesorgane für sie persönlich: Die Außenwelt wird ausgeschlossen. Das sind deutliche Indizien für eine Grundvoraussetzung gleichsam mystischer Erfahrung, um „mit stiller Seele“ eine hö‑ here Wirklichkeit zu erfahren. Das Wort Mystik, das man sich für gewöhnlich scheut, mit Epikur in Verbindung zu bringen, kommt von griechisch „myein“ (μύειν), was sich schließen, zusammengehen, aber auch die Augen und Lippen schließen bedeutet. Anders als die Bilder, die die Augen des Körpers optisch empfangen, sind die epiku‑ reischen Bilder der Götter nur für das innere Auge der Seele wahrnehmbar. Schon seit langem hätten die Menschen die „herrlichen Göttergestalten“ wahrgenommen in wa‑ chem Zustand, aber mehr noch im Traum, sagt Lukrez.141 Vermeers Wägerin ist wach und zugleich wie in einem traumverlorenen Zustand, ihr leises Lächeln scheint die Glückseligkeit und Schönheit dieses inneren Anblicks zu reflektieren. Das soll freilich nicht heißen, dass sie als eine bestimmte neuzeitliche Mystikerin zu verstehen ist, doch im Zustand einer abgeklärten Verinnerlichung hat sie, sei es mit sehenden oder geschlossenen Augen, den Glauben an die apokalyptisch geoffenbarten Drohungen verlassen, die das Gerichtsbild mit seinen gespenstischen, hektisch flackernden Seelen vergeblich aufrufen will. Diese Haltung spiegelt die Forderung des Sebastian Franck nach einer Absage an alle materiellen Bilder zugunsten einer inneren Gotteserfahrung wieder, die am Ende seines ersten Paradoxons steht: „Alldieweil und solange der Mensch mit Bildern umgehet, kann er zu dem Gemüt und zu dem, was in ihm ist, nicht einkehren. […] Ihr müsst allen Bildern den Ab‑ schied geben, zu Gott einkehren in den Grund der Seele, da sollt ihr Gott finden, denn das Reich Gottes ist in euch.“142 Im Hinblick auf die Goldwaage in der Hand der Frau als Anspielung auf Galilei ist natürlich auch die Tatsache zu bedenken, dass es in der Frühen Neuzeit durchaus hoch gebildete Frauen gab wie etwa Margaret, die staunenswerte Tochter des Tho‑ mas Morus oder Marie le Jars de Gournay, die Freundin und Verwalterin des schrift‑ lichen Nachlasses von Montaigne.143 Doch erst das Goldene Zeitalter hatte auch für Frauen Freiräume geschaffen, die es im übrigen Europa in dieser Weise noch nicht gab. So war etwa Anna Maria Schuurmans (1607–1678), vielleicht die gelehrteste Frau ihrer Zeit, als Historikerin, Philosophin und Theologin außer in den wichtigs‑ ten europäischen Sprachen bewandert in Latein, Griechisch, Hebräisch, Persisch und Syrisch, Aramäisch, Äthiopisch, ferner in Arithmetik, Astronomie, Geographie, Mu‑ sik und Malerei. Als „virgo docta“ wurde ihr Bewunderung wie Schmähung zuteil. Mit der Gründung der Utrechter Universität 1637 und einem zu diesem Ereignis von ihr verfassten lateinischen Lobgedicht gelangte sie als „Stern von Utrecht“ zu euro‑
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päischer Berühmtheit.144 Sie ist eine frühe Kämpferin für die Gleichstellung der Frauen und ihren Zugang zu den Wissenschaften. Der Hinweis auf diese außerordentliche Gelehrte soll freilich nicht andeuten, dass Vermeer die Frau mit der Goldwaage als Kryptoportrait der Anna Maria Schuur‑ mans verstanden wissen wollte. Aber er hat der von Epikur geförderten Möglichkeit der philosophierenden Frau eine Anschauungs- und Denkmöglichkeit gegeben, die zwar auch in Holland selten, aber doch Realität war. Die universalgelehrte, auch mit astronomischen und naturwissenschaftlichen Fragen befasste philosophische Frau fi‑ gurierte dort als eine rühmliche Ausnahmeerscheinung, aber nicht als Exotikum.145 Vermeers Frau mit der Waage ist in exemplarischer Weise polyvalent hinsichtlich der Interpretationsangebote, die das Gemälde bereithält. Eine zunächst gewonnene Lesart will überdacht werden und gegen eine andere oder auch abweichende abgewo‑ gen werden. Insofern kann die Waage der Frau auch als eine Anleitung zur Bildlek‑ türe verstanden werden.
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Wissenschaft Einen überraschenden Bezug hinsichtlich Gottesfurcht und Naturwissenschaft stellt ein Passus aus den Hauptsätzen Epikurs von diesem Bild zu zwei anderen Gemälden her, dem Astronomen (Paris, Musée du Louvre) (Abb. 39) und seinem Pendant, dem Geographen (Frankfurt a. M., Städelmuseum) (Abb. 40): „Man wird die Furcht, die uns bei Fragen nach den letzten Dingen beschleicht, unmöglich los, wenn man über die Beschaffenheit des Alls nicht unterrichtet ist und daher argwöhnen muss, es könne an dem, was die Göttermythen darüber berichten, doch etwas Wahres sein. Ohne Na‑ turerkenntnis kann man also keine Freude [Lust] vollkommen genießen.“ Und: „Es nützt nichts, seine Sicherheit vor Menschen auszubauen, solange die Vorgänge am Himmel droben und unter der Erde, kurzum die Vorgänge im unendlichen All, uns beängstigen.“146
Lukrez formuliert es so: „Nun zu dem übrigen noch, was am Himmel, auf Erden die Menschen / Oft als Erscheinungen sehn und in bängliche Zweifel ihr Herz setzt, / Zagen sie macht in ihrem Gemüt aus Furcht vor den Göttern / Und zur Erde sie drückt: denn es zwingt Unkunde der Gründe / Menschen, die Dinge der Welt dem Geheiß und der Herrschaft der Götter / Anzuvertrauen; und wo durchaus man die wirkende Ursach / Nicht zu erkennen vermag, da schreibt man sie göttlicher Macht zu.“147
Der Dichter entfaltet in vielen Versen eine Lehre, welche die natürlichen Ursachen zahlreicher beunruhigender Phänomene über, auf und unter der Erde zu erklären ver‑
39 Vermeer, Der Astronom, Paris, Musée du Louvre
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40 Vermeer, Der Geograph, Frankfurt a. M., Städelmuseum
Wissenschaft
41 Jan Steen, Gelehrter am Studientisch, Prag, Národní galerie v Praze
sucht. Seine Prämisse ist, dass die wissenschaftliche, rationale Erkenntnis des Kos‑ mos und der Erde von Götterfurcht und Aberglauben befreit. Epikur und Lukrez können unabhängig von der Falsifizierbarkeit ihrer Theorien als Vorläufer der natur‑ wissenschaftlichen Aufklärung verstanden werden. Wie nötig in der Epoche der „kleinen Eiszeit“ seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts mit ihren katastrophalen kli‑ matischen Ereignissen und zahlreichen als Bedrohung empfundenen Erdbeben, Vul‑ kanausbrüchen und Himmelserscheinungen die Befreiung vom Glauben an überna‑ türliche Ursachen war, lehren die Chroniken dieser Zeit, die Phillipp Blom ausgewertet hat.148 Anders als wir das in manch anderen Darstellungen von Gelehrten in der hollän‑ dischen Malerei finden, sind Vermeers Forscher frei von allen Assoziationen mit Va‑ nitas und Astrologie oder Alchemie, in die z. B. Jan Steens Gelehrter am Studientisch (Prag, Národní galerie v Praze) (Abb. 41) oder Gerrit Dous Astronom bei Kerzenlicht (Leiden, Stedelijk Museum De Lakenhal) (Abb. 42) verstrickt zu sein scheinen. Jan Steens Gelehrter imponiert als ein würdevoller, ernsthafter älterer Herr. Doch dieser Eindruck wird offenbar von seinem Ambiente konterkariert. Er sitzt konzentriert über seinen Aufzeichnungen am Studiertisch, wo Folianten, ein leerer Destillierkol‑
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42 Gerrit Dou, Astronom bei Kerzenlicht, Leiden, Stedelijk Museum de Lakenhal
ben neben einem Holzblasinstrument, wohl einer Schalmei, stehen. Er nimmt den Tod nicht wahr, der geisterhaft sein Zimmer betritt und ein weinendes Kind mit sich führt – ein drastischer Hinweis auf die Vernachlässigung Schutzbefohlener. Er scheint auch nicht zu bemerken, wie seine Forschungen von einer grinsend auf ihn zeigenden Person verspottet werden. Ein ernst dreinblickender Knabe weist ihm ein Stunden‑ glas und will zeigen, wie die Zeit verrinnt. Das alles könnte bedeuten, dass das Le‑ ben, ja, die Welt selbst im Symbol des zur Seite abgestellten Globus mit leeren Speku‑ lationen vertan ist, die dem Destillieren von Luft und der Flüchtigkeit der Töne gleichen. Wenn wir aber die sehr respektable Erscheinung des Mannes bedenken, möchte all diesen Momenten der Bilderzählung auch ebenso gut eine positive Bedeutung ab‑ gewonnen werden. Dann haben wir einen Forscher vor uns, der unbeirrt von den Ir‑ ritationen der Welt den Spott der Unwissenheit ignoriert und ohne kindische Furcht vor dem Tod sich seinen uns unbekannten Studien widmet. Ein jugendlicher Genius, bekränzt vom Efeu der Unsterblichkeit, verheißt seinen Mühen dauernden Ruhm, auch wenn die Zeit bemessen ist. Das klare Tageslicht, das den Gelehrten und seine Arbeit förmlich erleuchtet, weist jedweden Gedanken an obskurante Interessen ab. Das Stundenglas auf der Fensterbank vor Dous Astronomen ist zur Seite gekippt; der Sand und die Zeit sind abgelaufen: Es mag zeigen, dass auch die Lebensfrist des alten Mannes zu Ende ist. Ob die alten, zerfledderten Folianten brauchbares Wissen enthalten, kann bezweifelt werden; ihr vanitäres Studium will dem paradoxen Ver‑ such des Alten gleichen, den Himmel mit einer Kerze in der Hand ausleuchten zu wollen, um dort jene Wesen zu entdecken, die seinen Himmelsglobus bevölkern. Und auch die Astrologie, die damals ja noch Hand in Hand mit der Astronomie ging, of‑ fenbart ihm anscheinend nicht, was die Stunde geschlagen hat. Doch andererseits ließe sich auch diese Gestalt des wachenden Alten im Schein der Kerze als Wahrheitssuchender verstehen, als ein Weiser, der die weltliche Gelehrsam‑ keit hinter sich gelassen und den Blick in die Ewigkeit gerichtet hat. Dem stünde aber 84
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sogleich eine andere Interpretationsmöglichkeit gegenüber, die in dem Forscher eine Allegorie falscher Gottessuche sieht. Denn nicht im Äußeren und nicht mit nutzlosem Kerzenlicht, sondern nur im Inneren sei Gott zu finden – eine Auffassung, die der in Holland viel gelesene Sebastian Franck eindringlich vertreten hatte.149 Die Quintessenz, die aus solchen Bilderlehren gezogen werden könnte, würde einerseits auf die Vergeblichkeit von obskurem Wissen anspielen und diesem anderer‑ seits jene nicht gezeigten, aber jedermann bekannten Werte entgegenhalten, auf die es angesichts des Todes, wenn nicht sogar einer Todesverachtung ankäme. Mehrdeu‑ tigkeit ist auch hier ein Mittel, die Interpretationsmöglichkeiten in einer spannenden diskursiven Schwebe zu halten, doch sie ist ungefährlich und hat nichts von der Sub‑ versivität, die in manchen Gemälden Vermeers dem naiven Bildverständnis den Bo‑ den entzieht. Auch wenn Ambiguität und polyvalente Interpretationsangebote bei Vermeer ein vorzügliches Mittel der dissimulatio sind, hat er sich solcher Verschleierung doch nicht immer bedient. Wie sachlich und nüchtern gehen sein Astronom und Geograph mit Zirkel, Astrolabium und Aufzeichnungen zu Werke! Der Himmelsglobus steht im hellsten Sonnenlicht und gibt beiläufig einen indirekten Hinweis auf das heliozentri‑ sche Weltsystem. Und anders als manche Gelehrte in der holländischen Malerei hul‑ digen diese Forscher nicht einem asketischen nächtlichen Studium, sondern nutzen die taghelle Ruhe einer Ferne vom Alltagsgetriebe und von den Störungen der Außen‑ welt. Vielleicht hat Vermeer seine beiden einander brüderlich ähnelnden Wissen‑ schaftler nicht im Sinne einer Portraithaftigkeit, sondern gedanklich mit Pierre Gas‑ sendi verbunden, der nicht nur als Philosoph die Lehren Epikurs in ihrer Gesamtheit soweit wie möglich rekonstruiert, sondern auch als Theologe, Mathematiker und Naturforscher sich insbesondere der Astronomie gewidmet und in lebhaftem Aus‑ tausch mit Galilei gestanden hat.
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Musik Vermeer hat einige Male Musik als Thema seiner Malerei gewählt. Die ausgeglichene Verfassung, in welcher die Menschen sich dieser Kunst widmen, wird in vier seiner Kompositionen durch baumbestandene Landschaftsbilder kommentiert.150 Ihre hei‑ tere Grundstimmung akzentuiert die jeweilige Szene und assoziiert sie mit jenem sorglosen Glück einfachen Lebens, das in den Dichtungen von Vergil bis Sannazaro Arkadien zum mythischen Sehnsuchtsort werden ließ. In zwei Gemälden aber hat Vermeer diese Harmonie durch die derb-groteske Thematik eines anderen Bildes im Bild konterkariert. Das Konzert von drei Personen (Boston, Isabella Steward Gard‑ ner Museum [dort 1990 gestohlen]) (Abb. 43), findet in einem Raum statt, an dessen Rückwand neben der Landschaft ein bekanntes Bordellstück des Utrechter Caravag‑ gisten Dirk van Baburen, Die Kupplerin, hängt (Boston, Museum of Fine Arts) (Abb. 44). Dieses Werk zeigt eine vergnügt lachende und die Laute schlagende Dirne,
43 Vermeer, Das Konzert, Boston, Isabella Steward Gardner Museum
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44 Dirk van Baburen, Die Kupplerin, Boston, Museum of Fine Arts
einen begehrlich zugreifenden Freier, der ihr ein Geldstück präsentiert, und eine un‑ zufriedene, zudringlich feilschende alte Kupplerin. Es stammt den Quellen zufolge aus dem Besitz von Vermeers Schwiegermutter Maria Thins. Als größeres Format und in einen kostbaren goldenen Rahmen gefasst schmückt es auch das Zimmer, in dem die Londoner Dame am Virginal sitzt (Abb. 24). Aber Vermeer legt weder in die‑ sem noch in dem anderen Gemälde den geringsten Wert darauf, die grandiose male‑ rische Qualität des Utrechter Caravaggisten in seine Bilder zu transportieren. Es geht ihm nicht um die exemplarische Demonstration der Gemütsverfassungen, die seine Darsteller zum Ausdruck bringen, sondern offenbar nur um das Zitat des Genres. Nun ist es naheliegend, wie das gerne geschieht, dieses als Hintergedanken auf die Musizierenden Vermeers zu projizieren. Doch die einst so populäre und oft ausgekos‑ tete Vergemeinschaftung von Musik und sexueller Stimulanz gehört einer Ikonogra‑ phie an, die für Vermeer offenbar keine unmittelbare Bedeutung hat. Nichts weist im Verhalten seiner Musikliebhaber offen auf erotische Absichten oder auch nur auf un‑ terschwellige Erregungen hin, wie sie dem Bordellmilieu entsprächen. Ganz im Ge‑ genteil, in der flüchtigen und skizzenhaften Wiedergabe der Komposition Baburens greift die Dirne auf ihrer Laute keinen frivolen Akkord. In seiner dekonstruierenden, geradezu ruinösen Form entwertet dieses Zitat das Zitierte. Seine gedämpfte Präsenz vermag den ernsthaft der Musik hingegebenen Menschen keinen ernstzunehmenden Akzent hinzuzufügen. Ihre sanfte Stimmung wird vielmehr von den Landschaftsge‑ mälden auf den Innenseiten der aufgeklappten Deckel der Tasteninstrumente beglei‑ tet. Es sind heitere, baumbestandene Landschaften mit ausgedehnten stillen Gewäs‑ sern, die den Musizierenden als Sinnbilder ihrer eigenen Freude und Seelenruhe vor Augen stehen und insofern auch den großen Garten Epikurs in Erinnerung rufen. Wieder ist es das Thema der galéne, das hier im Einklang mit dem Frieden der Land‑ schaft nicht prononciert, aber bei sorgfältiger Betrachtung unübersehbar die harmo‑ nische Verfassung der Menschen kommentiert. Musik stiftet nicht nur Frieden und Freundschaft, sondern scheint bei Vermeer auch das Temperament ihrer Liebhaber zu modellieren. Der Kontrast der Musizierenden zu den visuell abgewerteten Bordell‑
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bildern an der Wand verdeutlicht die vornehmere Variante des epikureischen Lust‑ prinzips im Gegensatz zu dessen gerade von Lukrez durchaus befürworteter Variante. Der Dame am Virginal (Abb. 24) hat der Maler ähnlich wie dem Mädchen mit dem runden Gesicht (Abb. 15), dem sie geschwisterlich ähnelt, den Ausdruck eines phlegmatischen, mithin nur schwer in Unruhe zu versetzenden Temperaments gege‑ ben. Dieser Eindruck wird hier besonders effektvoll durch das Zitieren von Baburens derb emotionsreicher Bordellszene verstärkt, die ihre kontrastierende Wirkung in dem extrem großen, goldgerahmten Format aufdrängt. Die so prominent neben dem links im Bild zur Seite gezogenen Wandteppich lehnende Bassgambe präsentiert sich griffbereit mit dem zwischen die Saiten gesteckten Bogen und mag auf einen erhoff‑ ten Mitspieler verweisen. Das satte Gelborange des elegant modellierten und glanzla‑ ckierten Korpus erscheint in unterschiedlichen Brechungen auf allen Raumebenen in enger Verflechtung mit dem im ganzen Gemälde dominanten Blau. Nur in dem Bild an der Wand fehlt diese Farbe, obwohl sie in Baburens ursprünglicher Komposition einen deutlichen Akzent setzt. In dem gewebten Vorhang, in der Kleidung der jungen Frau und der Marmorierung ihres Tasteninstrumentes, eines in der damaligen Ter‑ minolgie „Muselar“ genannten Virginals, gehen diese beiden Farben die innigste Ver‑ bindung ein: Als ob die weibliche und die männliche Klangfarbe der beiden Musik‑ instrumente in ihrem Zusammenspiel hier ihre koloristischen Entsprechungen fänden, erfüllen sie den gesamten Raum, der bezeichnender Weise frei von jeder Spur eines „leidenschaftlichen“ Rot ist. Wie sehr die Bildelemente bei Vermeer aufeinander abgestimmt sind, kann ein Vergleich mit einem Gemälde von Gabriel Metsus Dame und Herr am Virginal (Lon‑ don, National Gallery) (Abb. 45) verdeutlichen. Eine junge Frau und ein Kavalier ha‑ ben ein tête à tête. Vor einem prächtigen Tasteninstrument sitzen sie einander gegen‑ über. Sie hält ihm erwartungsvoll ein Schriftstück entgegen, während er seinen Hut auf den Schoß gelegt hat und mit leicht verschwommenem Gesichtsausdruck sein halb gefülltes Flötenglas hebt. Beide stützen die Arme auf das Muselar, aber Musik scheint hier nicht wirklich das Thema zu sein, auch wenn auf einem Tisch, dessen Kante rechts ins Bild ragt, eine Geige liegt, die wohl dem Herrn zugeordnet werden kann. Der weiße Krug auf dem Boden verspricht Aussicht auf weiteren Weingenuss. An der Rückwand hängen zwei Bilder, eine schwarzgerahmte bewölkte Baumland‑ schaft und ein großes Gemälde in einem schweren vergoldeten Rahmen, dessen et‑ was zur Seite gezogener Bildvorhang den gekrönten Kopf eines feiernden Mannes er‑ kennen lässt, wie solche aus Darstellungen des Bohnenfestes Jan Steens bekannt sind. Ein Zipfel des blauen Bildvorhangs hängt über den aufgeklappten Deckel des Vir‑ ginals, auf dem in lateinischen Majuskeln steht: [I]N·TE·D[O]MINE·SPERAVI·[N] ON·CONF[UN]DAR·Ĩ·AETERNṼ (Psalm 30, Vers 2: Auf dich, o Herr, habe ich meine Hoffnung gesetzt, in Ewigkeit werde ich nicht zuschanden). Was haben all diese Bildelemente miteinander zu tun, in welcher Beziehung stehen der Herr mit dem unsicheren Blick und die selbstbewusste Dame zueinander, was sagt das teilverhüllte Bild des Bohnenfestes, was jenes der Landschaft darüber aus? Und wie fügt sich dies
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45 Gabriel Metsu, Dame und Herr am Virginal, London, National Gallery
alles zu dem Tasteninstrument mit dem glaubensfesten Psalmvers, ist er als Motto des ganzen Gemäldes zu sehen, gar als ironische Anspielung auf eine fragwürdige Li‑ aison? Spielt Musik hier überhaupt eine Rolle? Das Bild ist aus kontingenten Versatz‑ stücken komponiert. Es ist daher nach vielen Sinnrichtungen offen und hält reichlich Angebote für spekulative Interpretationsversuche bereit, doch ob ein schlüssiger ge‑ lingen wird, bleibt dahingestellt. Obwohl Vermeer ähnliche Bildrequisiten und Per‑ sonen in seinen Interieurs versammelt, ist seine Kunst von solch unzusammenhän‑ genden ikonographischen Strukturen weit entfernt. Der Klarheit und Transparenz seiner Raumkonzeptionen entspricht die Erkennbarkeit der Bildinhalte, auch wenn diese sich unterschiedlichen Deutungen durchaus nicht verschließen.
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46 Vermeer, Die Musikstunde, London, Windsor, Royal Collection
In Vermeers Musikstunde (London, Windsor, Royal Collection) (Abb. 46) sitzt eine junge Dame am Muselar und spielt einem rechts neben ihr stehenden Herren vor.151 Er hat seine Rechte auf das Instrument gelegt und begutachtet mit konzentrier‑ tem Ausdruck das Spiel. Als Mann von Stand hat er einen Degen an der Seite; die Linke hält einen kostbaren Stab, wohl einen Gehstock, mit dem sich auch der Takt auf den Boden klopfen ließ, wie das mit mächtigem Gerät in dieser Zeit am Hof Lud‑ wig XIV. üblich ist. Die Musikerin sitzt mit dem Rücken zu uns; der Spiegel, der über dem Virginal hängt, zeigt, dass sie ein wenig zur Seite, aber nicht zu dem Herrn auf‑ blickt. Bei genauer Betrachtung der Kopfwendung der Musikerin, die an der Stellung der symmetrisch gescheitelten Frisur leicht abzulesen ist, zeigt sich, dass es keine Dis‑ krepanz zwischen ihr und dem Spiegelbild gibt, wie so oft behauptet wird. Zweifel‑ los eint die beiden Personen ihre ernsthafte Liebe zur Musik und nicht eine häufig un‑ terstellte erotische Beziehung, für die es keinerlei Indizien gibt. Besonders hoch preist Epikur den Wert der Freundschaft: „Die Fähigkeit, Freund‑ schaft zu gewinnen, ist unter allem, was Weisheit zur Glückseligkeit beitragen kann, bei weitem das Bedeutendste.“152 Freundschaft verdankt sich der Weisheit. Bei Ver‑ meer ist die Musik eine Verbündete der Freundschaft und folglich auch der Weisheit. Musik spielt nicht mehr die Rolle eines erotisch verführenden Stimulans, wie das aus den mitgeschleppten Interpretationen holländischer Genremalerei auch von VermeerForschern gerne, aber ohne ersichtliche Indizien fortgeschrieben wird. Er thematisiert 90
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47 Vermeer, Die Musikstunde, Ausschnitt, London, Windsor, Royal Collection
Musik vielmehr als ein Mittel, das Freundschaft stiften kann, denn ihr ist ja Harmo‑ nie per se inhärent; Feinde musizieren nicht miteinander. Ja, bei Vermeer kommen auch die allein Musizierenden gleichsam in ein glückliches Verhältnis zu sich selbst.153 Der geöffnete Deckel des kostbaren Tasteninstrumentes in der Londoner Musikstunde (Abb. 47) präsentiert in teilweise verdeckten klassischen Majuskeln die Le‑ bensweisheit: MUSICA· LETITIAE·CO[NSOR]S·MEDICINA· DOLOR[UM] – (Musik ist die Begleiterin der Freude und Medizin für Schmerzen).154 Auf eine kürzere und prägnan‑ tere Formel könnten die Eckpfeiler der epikureischen Programmatik für ein gelunge‑ nes Leben nicht gebracht werden, denn Freude ist für Epikur Anfang und Ende eines glückseligen Lebens, wie im Brief an Menoikeus zu lesen ist. Freude und Freiheit von Schmerzen bedingen sich geradezu gegenseitig in Epikurs Sentenz: „Das Höchstmaß der Freude [Lust] ist erreicht, wenn alle Schmerzen beseitigt sind. Denn wo die Freude [Lust] eingezogen ist, da gibt es, solange sie herrscht, weder Schmerz noch Qualen oder gar beides.“155 Epikur sagt nicht, welche Mittel zu diesem wünschenswerten Zustand verhelfen mögen. Der Musik, als deren Liebhaber er sich ausdrücklich, wenn auch in etwas an‑ derem Kontext erklärt, wird in dem lateinischen Hexameter heilende Wirkung zuge‑ schrieben; sie ist die begleitende Gefährtin der Freude, in deren Gefolge Musik erst ihre Heilkraft entfaltet. Ganz im Sinne Epikurs stehen offenbar auch bei Vermeer Weisheit, Freundschaft, Freude, die Freiheit von Schmerzen und Musik in engstem Verhältnis zueinander. Wie in der Musikstunde sind auch die anderen Interieurs bei Vermeer meist mit ei‑ nem diskreten, aber hochwertigen Luxus von Möbeln, Bildern, prächtigen zur Seite geschobenen Orientteppichen, chinesischem Porzellan und großen Landkarten an den Wänden ausgestattet. Das alles finden wir auch bei anderen Interieurmalern. Vermeer aber häuft Requisiten dieser Art gerne im Vordergrund als Barriere zum
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Bildinnenraum, wo sie beinahe ebenso große Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie die Bildpersonen. „Seit dem älteren Pieter Bruegel wissen die niederländischen Maler, dass nichts größeren Ordnungssinn verlangt als die Darstellung von Unordnung,“ be‑ merkt Reinhard Liess treffend.156 Vermeer hat sich diesem Thema mit größter Sorg‑ falt gewidmet. Epikur hat – kaum anders als die katholische Kirche oder die Lehre Calvins – nicht den Luxus an sich verurteilt,157 wohl aber das maßlose Streben danach für falsch erklärt. Auch abgelegte teure Musikinstrumente wie eine Viola da Gamba oder eine Cister gehören bisweilen zum Hausstand. Auch wo solche gerade nicht in Ge‑ brauch sind, sondern nachlässig beiseite oder auf dem Boden liegen, stehen sie nicht für luxuriösen Selbstzweck, sondern für Lebenslust. Als deutliche Hinweise auf pri‑ vate musikalische Vergnügungen widersprechen sie der längst nicht mehr akzeptier‑ ten calvinistischen Ablehnung von Musik – von welcher allein der kirchliche Psal‑ mengesang ausgenommen war. Mit sanfter Zurückweisung sinnenfeindlicher asketischer Zwänge erinnern solche Motive an den Zusammenhang von Freude, Harmonie, Freundschaft und Weisheit.
Alltagsfreuden und der Tod Der Tradition holländischer Ikonographie folgend, scheint es naheliegend, auch bei einigen Bildschöpfungen Vermeers moralisierende Botschaften zu vermuten. So etwa bei dem schlafenden Mädchen (Abb. 33). Dass es sich hier aber nicht etwa um eine faule Dienstmagd handelt, der man in dieser Situation die pflichtvergessende Sünde der acedia oder desidia, der Trägheit und des Nichtstuns, vorwerfen könnte, wird schon an der sehr gehobenen seidenen Ausstattung und dem Schmuck der Frau deut‑ lich. Verglichen mit der schlichten Kleidung, welche Vermeers Dienstmädchen tragen, haben wir hier wohl eher eine Dame von Stand, wenn nicht die Hausherrin vor uns.158 Das Arrangement aus Obstschale, Weinkrug und Glas deutet die bescheidenen Ge‑ nüsse an, die sie sich offenbar in Gesellschaft einer zweiten Person gegönnt haben mag, wie ein weiteres, heute kaum noch erkennbares Glas verrät. Nun fordert der Wein seinen Tribut und macht die junge Frau schläfrig. Der schwer gewordene Kopf verlangt eine stützende Hand, doch hat das nichts mit der altvertrauten Gestik der Melancholie zu tun. Es ist nichts anderes als ein Verhalten, das den naturgegebenen Begierden entspricht, die Epikur in notwendige und natürliche wie folgt einteilt: „Man muss sich aber auch darüber klar werden, daß von unseren Begierden die einen naturbe‑ dingt, die anderen nichtig sind, und daß von den naturbedingten ein Teil notwendig, der andere eben nur natürlich ist, und schließlich, daß von den notwendigen einige zur Erlangung der Glückseligkeit erforderlich sind, andere, um unsere Gesundheit vor Störungen zu bewahren, und wieder andere, um überhaupt leben zu können.“159
Johannes Mewaldt erläutert diesen Passus folgendermaßen: „Essen und Trinken z. B. sind natürliche Begierden, das Trinken eines Verdurstenden aber ist zugleich eine notwendige. Eine natürliche, jedoch nicht notwendige, die Glückseligkeit aber fördernde Begierde ist z. B. der Genuß feiner Speisen, eine nichtige dagegen ist z. B. die Sucht nach öffentlichen Ehrungen.“160
Das Verlangen nach einem guten Schluck Wein ist ein natürliches, aber nicht notwen‑ diges Verlangen; der resultierende Schlaf folgt dagegen einem notwendigen Bedürfnis. So ist statt einer moralischen Auslegung auch hier vielmehr an eine Interpretation im Sinne des Genusses von Lebensfülle zu denken, die schon durch das bescheidene, aber opulent gemalte Stillleben auf den Orientteppichen in diesem Bild suggeriert wird. Sie soll dem Menschen zur größtmöglichen, ruhigsten und ungetrübtesten Freude und Lust – hedoné (ἡδονή) verhelfen. Natürlich bleibt es dem Betrachter unbenom‑ men, auch über mögliche latente Warnungen nachzudenken, die er herkömmlichen Interpretationsmustern folgend hier vermuten möchte. Zwingend ist dies aber nicht. Der Lebenslust gibt sich in aller Unschuld etwa auch das Mädchen vor dem Spiegel hin, das Vermeer zeigt, wie es Perlenschmuck anprobiert (Berlin, Staatliche Ge‑ mäldegalerie) (Abb. 22). Zwar findet sich auf dem Tisch eine Puderquaste, die schon
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lange die Requisiten der superbia, der Eitelkeit komplettiert,161 zu denen sich auch der Spiegel als ambivalentes Symbol wohl oder übel gesellt. Aber was sagt uns denn, dass Vermeer die herkömmlichen, Konnotationen immer noch beachtet wissen wollte? Nils Büttner zitiert in diesem Zusammenhang den Paulusbrief an Timotheus (2,9): „dass die Weiber in zierlichem Kleide mit Scham und Zucht sich schmücken, nicht mit Zöpfen oder Gold oder Perlen oder köstlichem Gewand, sondern wie sich’s ziemt den Weibern, die da Gottseligkeit beweisen wollen, durch gute Werke.“162 Kaum eine Frau gehobenen Standes in den Bildern Vermeers zeigt sich ohne Perlenschmuck, und köst‑ lich gewandet sind sie alle. Sollen sie sämtlich als Todsünderinnen der superbia ver‑ fallen sein, zumal ja unbekannt bleiben muss, ob sie sich nicht auch guten Werken widmen? Will die intelligente und reflektierte Art ihrer Präsentation Mahnung und Warnung sein? Das sind Denkmuster, die in den Bildern schmucksüchtiger Damen bei anderen holländischen Malern gewiss angelegt sind. So stellt sich etwa Frans Mieris´ Dame vor dem Spiegel (München, Alte Pinakothek) voller Selbstbewunde‑ rung in Positur. Dass nicht nur Eitelkeit, sondern auch Hochmut in ihr eine Vertrete‑ rin finden, lässt sich kaum bestreiten. Vermeer aber gibt uns keine ernstlichen Hin‑ weise auf solche Laster. Angesichts des unbefangenen, niemals outrierten Auftretens seiner Frauen und ihres sehr natürlichen Habitus bleiben die überlebten moralisieren‑ den Interpretationsschemata ohne Echo und finden keine Bestätigung. Vermeer zeigt seine Bildpersonen frei von biblischen Zwängen, für die es keine erkennbaren An‑ haltspunkte gibt. In den Köpfen vieler Zeitgenossen mögen sie freilich immer noch Geltung beansprucht haben, doch lässt das kaum Rückschlüsse auf Absichten des Malers zu, denen jede Art von Dogmatismus fremd ist. Im gedanklichen Hintergrund des bilderkundigen Betrachters waren diese Sche‑ mata gewiss präsent und haben eine Rolle gespielt, doch sind sie nicht ohne Alterna‑ tiven. Vermeer entfernt die Drohkulissen von der Bühne des Lebens und zeigt die Möglichkeiten eines sanften Paradigmenwechsels zu unbefangener Lust ohne meta‑ physische oder sonstige Reue. Bei genauer Betrachtung findet sich auch von müßi‑ gen Dienstboten bei Vermeer keine Spur; sehr wohl aber zeigt er uns Frauen, die ihr Leben in Freude zu genießen wissen. Vermeer ist der Maler maßhaltender und nobi‑ litierter Lust, die keiner Ermahnung bedarf. Indem er keinen Bezug zu obsoleten Moralforderungen erkennen lässt, macht er die Frauen in seinen Bildern zu Protago‑ nistinnen einer stillen Revolution der hedoné. Den einfachen, aber tiefen Genüssen, die Epikur so sehr rühmt, hat Vermeer eines seiner eindrucksvollsten und berühmtesten Gemälde gewidmet: Die Milchmagd (Abb. 23). Das in Lichtpunkten sprühende Stillleben mit dem Brotkorb und den gla‑ sierten Töpferwaren auf dem Tisch kündigt an, dass die Frau in ihrem bedächtigen Tun ein Mahl vom Einfachsten zubereitet, das nach Epikur dem Hungrigen die größte Köstlichkeit sein wird.163 Hier verheißt die überhöhte ästhetische Darbietung beschei‑ denster Requisiten in einem schlichten Ambiente eine aufschlussreiche Analogie zum sinnlichen Genuss einfachster Speisen. Was das Bild dem Gaumen vorenthalten muss, gibt es den Augen umso freigiebiger. Aus zarten pastosen Texturen dringt das Licht
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gleichsam verflüssigt an die Oberflächen der Dinge. Auch der blaue Leidener Woll‑ stoff der Dienstbotenkleidung verwandelt sich in das sehr teure Ultramarin und trägt eine unerwartete Kostbarkeit in die karge Nüchternheit dieses abgewohnten Ambien‑ tes. Die einzigartige malerische Kultur vermittelt eine transformierte Vorstellung da‑ von, wie deliziös und im Sinne Epikurs freudenbringend einige Stücke Brot mit ihren duftenden, knusprigen Krusten sein können, wenn nur das Verlangen danach groß ist. Ein weiterer als Fragment durch andere antike Philosophen überlieferter Kernsatz lautet: „Die Stimme des Fleisches spricht: Nicht hungern, nicht dürsten, nicht frie‑ ren!164 Kunst verkündet hier auf höchstem Niveau die Lust, welche die einfachsten, ganz kunstlosen Gaumenfreuden spenden können. Die Malerei macht dies mit einem un‑ vergleichlich „luxuriösen“ Augenschmaus bewusst. Sie lässt die Augen genießen, was der Mund schmecken könnte, wenn bei Epikur gelernt würde, „daß schon Dinge wie Brot und Wasser, wenn man sie zuvor entbehrte, einen Hochgenuß bereiten kön‑ nen.“165 Dass Vermeers Milchmagd (Abb. 23) neben dem Brot nicht mit Wasser, son‑ dern stattdessen mit Milch hantiert, sollte nicht gegen den epikureischen Bezug ange‑ führt werden, denn äußerst anspruchslos ist auch dieses Getränk im viehreichen Land der Polderwiesen allemal. Die Besinnung auf den Wert einfacher, bodenständi‑ ger Produkte hat auch in Holland trotz vergleichsweise zurückhaltender Manifesta‑ tionen des privaten Luxus gute Gründe gehabt.166 Für Epikur war es von essentieller Bedeutung nicht zu hungern, nicht zu dürsten und nicht zu frieren. Auf letzteres spielt das Stövchen oder auch Feuerkike genannte hölzerne Kästchen auf dem Fußboden an, in welchem ein glutgefüllter Tontopf den Füßen und Beinen zumal weiblicher Haus‑ bewohner Behaglichkeit spendet und dem Frieren Abhilfe schafft. Vermeers Gemälde Die Milchmagd vereint in sich das wenige, das die Befriedigung existentieller Grund‑ bedürfnisse in der minimalistischen Glücksdefinition Epikurs benötigt. Kaum ein an‑ deres Bild des Delfters fasst ein epikureisches Diktum als derart prägnante und kon‑ krete ikonographische Formulierung in das Ambiente einer Akteurin von großer, stiller Ausgeglichenheit. Natürlich ist die Gestalt einer Frau, die den Inhalt von Ge‑ fäßen mischt, seit jeher ein Bild der temperantia, der Mäßigung. Auch wenn es hier nicht um den Wein und seine Vermischung geht, hat doch dieser allegorische Gehalt in der Erscheinung der Frau noch Gültigkeit. Eukrasie, das bonum temperamentum wird auch in ihr als leibhaftige Vergegenwärtigung anschaulich. Bisweilen ist es hilfreich, zu bedenken, welcher Themen sich ein Maler nicht an‑ nimmt. Von Vermeer gibt es Tronies, Modellportraits, aber es sind keine Auftrags‑ bildnisse benennbarer Personen, keine repräsentativen Standesportraits von seiner Hand bekannt. Das ist erstaunlich, wenn nicht gar befremdlich bei einem Künstler, der seine Fähigkeiten in einzigartigen Kopfstudien ebenso wie bei den Bewohnern seiner Interieurs unter Beweis gestellt und sich damit als herausragender Porträtist er‑ wiesen hat. Dieser Verzicht auf das gemalte Denkmal – nichts anderes ist ein Privatoder Standesportrait – mag zu tun haben mit Epikurs Ablehnung persönlicher Eh‑ rungen und Auszeichnungen, die der Auftraggeber eines solchen Werks sich ja
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letztlich selbst oder einer anderen Person angedeihen lässt. „Die Natur ist leicht be‑ friedigt,“ sagt Epikur, „die Eitelkeit niemals.“167 Die naheliegende und bisweilen dis‑ kutierte Vermutung, Vermeer habe sich in der Schilderkunst (Wien, Kunsthistori‑ sches Museum) (Abb. 14) selbst dargestellt, läuft durch jegliche Vermeidung von Portraithaftigkeit der sitzenden Rückenfigur des Malers ins Leere.168 Auffallend ist auch, dass Vermeer sich künstlerisch nicht im üblichen Sinne mit dem in der europäischen und gerade in der holländischen Barockmalerei allgegen‑ wärtigen Topos der Vanitas und folglich auch nicht mit dem damit implizit themati‑ sierten Tod beschäftigt. Schädel, verlöschende Kerzen, Seifenblasen und Stundenglä‑ ser finden in seinen Interieurs in keiner Weise Zutritt. In den subtilen stillebenhaften Arrangements, die in manchen Interieurs wie der eben erwähnten Malkunst oder der Milchmagd zelebriert werden, gibt es keine Hinweise auf die Vergänglichkeit irdi‑ scher Güter mit einem Fingerzeig auf ewige Werte. Nirgends knüpft Vermeer an die Tradition der Banketjes oder Ontbeijtjes an, jener Mahlzeitstilleben, deren kunstvolle Unordnung mit ihren angebrochenen Broten oder Pasteten, leeren Austernschalen und umgestürzten Pokalen oder Gläsern an die unerwartete plötzliche Abberufung der Gäste erinnerten. Ja, nicht einmal Blumen, die als biblische Symbole des kurzen Lebens eine Domäne holländischer Malerei sind, dürfen ihre vergängliche Schönheit in Vermeers Bildern zeigen. Gegen diese Feststellung jeglicher Ausblendung von Vanitasgedanken ließe sich allenfalls ein Einwand bei Vermeers Briefschreibendem Mädchen finden (Washing‑ ton D. C., National Gallery of Art) (Abb. 6). Die junge Frau sitzt an einem Tisch und hält im Schreiben inne. An der Rückwand des Zimmers ist der Ausschnitt eines schwarz gerahmten Stilllebens zu sehen, auf dem sich äußerst schemenhaft die Form eines großen, liegenden Streichinstrumentes, wohl einer Bassgambe, abzeichnet. Die‑ ses Bild wurde mit einem Gemälde aus Vermeers Nachlass identifiziert, „waerin een bas met een dootshooft“ – worin ein Bass mit einem Totenschädel dargestellt ist.169 Mit ihrer leuchtend gelben, pelzverbrämten Jacke, wie sie häufiger von den Frauen in Vermeers Bildern getragen wird,170 und den weißen Schleifen im Haar vereint die Briefschreiberin als optisches Zentrum alle Schattierungen von Hell und Dunkel auf sich. Diese finden im milden Dämmer des Gemäldes und dem in zartes Sfumato ge‑ hüllten Gesicht differenzierteste Äquivalente. Ihr nachdenklicher, heller und zugleich unergründlich ruhiger Blick und das sehr verhaltene, wenn nicht weise abgeklärte Lächeln gilt kaum, wie man zunächst vermuten möchte, dem Betrachter, sondern wohl privatesten Dingen, die uns verborgen bleiben. Vieldeutig und daher nicht an‑ ders als Das Mädchen mit dem Perlenohrring (Abb. 1) entzieht sich auch diese Frau jeder Interpretation ihrer Emotionen. Auch sie ist eine Verkörperung von Eukrasie und Ataraxie. Aber was hat jenes obskure Gemälde an der Rückwand des Zimmers hier zu be‑ deuten? Soll „die Gegenüberstellung des briefschreibenden Mädchens mit den Moti‑ ven des Stilllebens […] als ein Beispiel des Gegensatzes von Jugend und Tod“ verstan‑ den werden, wie es der Frankfurter Ausstellungskatalog Leselust (1993) erwägt?
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Dort wird dieser Gedanke aber sogleich zutreffend relativiert, denn der „Verweis auf die Vergänglichkeit der Liebe oder anderer irdischer Freuden“ spiele für die Gesamt‑ wirkung des Bildes nur eine untergeordnete Rolle. Doch wie kommt dieser Eindruck zustande? Bedeutsam, aber bisher unbemerkt geblieben ist das disproportional und für Vanitasstilleben dieser Art völlig unge‑ bräuchliche und exorbitant große Format. Die Gegenstandsmotive erfahren dadurch aber keinerlei Aufwertung, die dem entspräche; ganz im Gegenteil, statt ihr hapti‑ sches Potential auszuspielen, versinken sie geradezu demonstrativ in tiefem Dunkel, obwohl die Wand, an der dieses Bild hängt, immerhin einen mittleren Grad von Hel‑ ligkeit aufweist. Die Dinge erreichen ganz anders als in den obligatorisch kleinen und auf kontemplative Nahsichtigkeit von Kabinettstücken angelegten holländischen Va‑ nitasstilleben keine auch nur annähernde Deutlichkeit. Sie sind kaum identifizierbar; der Totenschädel erscheint, wenn überhaupt, nur als verwaschener Fleck. Es geht eben nicht um das bloße Vorhandensein symbolträchtiger Motive, die von Bildern in Bilder eingebracht werden, sondern auch und vor allem darum wie das geschieht. Da sie hier zwar vorhanden, aber der Betrachtung weitgehend entzogen sind, drängen sich auch keine Gedanken über den metaphorischen Gehalt der beiden Hohlkörper auf, der z. B. einen Vergleich des schnellen Verklingens von Tönen mit der Kürze des Lebens, der Liebe usw. nahelegen würde. Mahnung oder gar Furchteinflößendes geht von diesem Stillleben nicht aus. Seine Motive haben keine Bedeutung für das Ambiente der jungen Frau und schon gar nicht für diese selbst. Vermeer hat die Erinnerung an den Tod als Inhalt des Zitates zum Verstummen gebracht, dieses sozusagen in sich selbst erstickt und mit der Repräsentation durch das absurde Format als falsch deklariert. Das be‑ rühmte media vita in morte sumus, geradezu der Kernsatz aller Vanitaspoetik und ‑ikonographie samt der Bitte um Gnade, wirkt hier wie beiseitegeschoben. Nicht um ein memento mori oder die ars moriendi ist es dem Maler zu tun, sondern um Lebens‑ kunst, um eine ars vivendi. Und wo die Mahnung an die Vergänglichkeit gegenstands‑ los ist, ist es auch jene an vermeintlich ewige transzendente Güter. Der Rahmen des Stilllebens reicht sogar über die realen Bildgrenzen des Briefschreibenden Mädchens hinaus. Er entspricht in der Größe zwar dem Konsens, der dem Zeitalter allenthalben im Nachdenken über die Nichtigkeit irdischer Güter zu ei‑ gen war,171 doch wird eben dieser Topos barocker Rhetorik hier als irrelevant und keiner Beachtung für würdig erklärt. Auch wenn sich nicht mit Bestimmtheit sagen lässt, dass die junge Frau von Gedanken über solche Dinge gänzlich unberührt ist, betont Vermeer ihre gelassene Abwendung von dem verworrenen Geraune in der Finsternis des übergroßen, aber bedeutungslosen Bildes. Wie anders ließe sich diese Botschaft lesen, denn als bildliche Umsetzung des irrelevanten Stellenwertes von Tod und Todesfurcht, den Epikur so nachdrücklich formuliert hatte? Das Gemälde ist nicht das einzige Beispiel in Vermeers Werk für einen ikonographischen Subtext, des‑ sen ursprüngliche Botschaft mit formalen Mitteln negiert wird, wie oben am Beispiel der Frau mit der Goldwaage zu zeigen war. Doch ist wohl nicht jedes Bild im Bild bei Vermeer in gleicher Weise aussagekräftig.
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Epikurs Gedanken zum Tod sind mehrfach und in einprägsamen Sentenzen über‑ liefert. Darüber habe sich der Mensch nicht zu sorgen: „Der Tod ist ein Nichts, denn was der Auflösung verfiel, besitzt keine Empfindung mehr. Was aber keine Empfin‑ dung mehr hat, das kümmert uns nicht.“172 Und mit dem Satz „So lange wir da sind, ist er [der Tod] nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr,“173 bringt er dieses von ihm so energisch und mehrfach geleugnete Problem auf die kürzeste aphoristi‑ sche Formulierung. Besonders eindrücklich hat er diese Gedanken in dem vielzitier‑ ten Brief an Menoikeus formuliert, wo wir lesen: „Gewöhne Dich daran zu glauben, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat. Denn alles, was gut, und alles, was schlecht ist, ist Sache der Wahrnehmung. Der Verlust der Wahrnehmung aber ist der Tod. Daher macht die richtige Erkenntnis, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat, die Vergänglichkeit des Lebens zu einer Quelle der Lust, indem sie uns keine unbegrenzte Zeit in Aussicht stellt, sondern das Verlangen nach Unsterblichkeit aufhebt. […] Das schauer‑ lichste aller Übel, der Tod, hat also keine Bedeutung für uns.“174
Der Tod, sagt Epikur, geht uns nichts an, und schon gar nicht nach einem weise ge‑ führten, glücklichen Leben. Dass die Vergänglichkeit des Lebens eine Quelle der Lust sei, würde sich mit dem in der holländischen Malerei so kunstvoll zelebrierten Kult der Vanitas berühren wollen, stünde hinter dieser nicht eine Jenseitshoffnung, die der griechische Philosoph kategorisch abgelehnt hat. Es gehört zum Kernbestand der von Lukrez verherrlichten epikureischen Lehre, dass alle Formen der sichtbaren Welt vom Gestirn bis zum Menschen, aber auch die Seele letztlich der Auflösung anheimgege‑ ben und nur ihre kleinsten Bausteine, die Atome, unvergänglich sind. Wenn Vermeer, woran kaum zu zweifeln ist, sich als Künstler aus eigener Über‑ zeugung oder im Auftrag diese Absage an jedwede Vorstellung eines postmortalen Seins zu eigen gemacht haben sollte, kann es auch nicht verwundern, dass die sonst häufig in holländischen Stillleben anzutreffende eucharistische Kombination von Brot und Wein bei ihm niemals vorkommt. Diese Erkenntnis ist frei von Furcht und metaphysischen Drohungen, kennt weder Belohnung für ein vermeintlich gottgefälli‑ ges noch Strafe für ein gottvergessenes Leben, da es keinerlei Erwartung an ein Jen‑ seits gibt. Epikur will die Götter frommen Sinnes, aber frei von jedweder Hoffnung auf ihr Eingreifen geehrt wissen. Sein Glaube kennt kein „do ut des“. Im Hier und Jetzt soll der Mensch sein Heil suchen und mit seinesgleichen teilen, denn: „Man kann nicht in Freude [Lust] leben, ohne vernünftig, edel und gerecht zu leben, aber auch umge‑ kehrt kein vernünftiges, edles und gerechtes Leben führen, ohne in Freude [Lust] zu leben. Man kann es aber nicht, wenn jene Voraussetzungen fehlen.“175 Es sind Vor‑ aussetzungen, die sich vorzugsweise in menschlicher Gemeinschaft und gerade in der Freundschaft finden. Wer aber möchte den Menschen in Vermeers Bildern dies und das offenkundige Glück solcher Tugenden absprechen! Ganz im Sinne eines epikureischen Ideals im Dasein ist es auch, dass es bei ihm keine Darstellungen unerfreulicher Lebensumstände gibt. Alter, Krankheit oder gar 98
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Tod kommen nicht oft in holländischen Bilderzählungen vor. Bei Vermeer finden sie nicht einmal in Andeutungen Zugang in seine Bildwelt oder nur, wie am Beispiel des zitierten Vanitasstillebens zu zeigen war, in Negation der mahnenden Funktion. Frie‑ rende, rekonvaleszente Frauen, wie sie bei Jacobus Vrel zu finden sind, Das kranke Kind, das Gabriel Metsu Anfang der sechziger Jahre des 17. Jahrhunderts so mitfüh‑ lend der Pflege der Mutter anheim gegeben hat (Amsterdam, Rijksmuseum), oder auch dessen Kranke Frau mit weinender Magd (Berlin, Gemäldegalerie) wären ebenso wie die in Holland beliebte Thematik der Liebeskranken oder anderweitig lei‑ dender Menschen im Werk des Delfters kaum denkbar. Die Vermeidung von unglücklichen Zuständen wie Schmerzen und allem, was solche hervorrufen könnte, war für Epikur ein oberstes Ziel und Gut als Vorausset‑ zung für ein freud- und lustvoll gelungenes Leben. Entsprechend zeigen die Men‑ schen bei Vermeer auch keine starken oder gar heftigen Emotionen wie Zorn, Trauer oder Furcht, auch werden sie niemals in Situationen gebracht, die solche Erregungen hervorrufen könnten, denn dergleichen bedeutet ja Schmerzen. Heftige Leidenschaf‑ ten sind häufig in den Familienfesten des Goldenen holländischen Zeitalters anzu‑ treffen, und dramatische Gefühlsausbrüche haben durchaus ihre Spezialisten gefun‑ den – man denke nur an Adriaen Brouwers, auch Adriaen van de Vennes entfesselte Rüpel (Abb. 26) oder die Werke der Bamboccianti und Bentvueghels als Vorlagen wohlfeiler Belustigung. Rembrandt wollte heftigsten Emotionen mit Themen aus dem Alten Testament eine Bühne im Historienbild bieten; Zorn und wütende Schmerzen des Samson sind für ihn grandiose Ideengeber für die Zurschaustellung von heftigs‑ ten Reaktionen von Seele und Körper. Vermeer hat sich um dergleichen nie bemüht.
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Exkurs I. Blauer Lorbeer: Der Ruhm der Malkunst Das von den Humanisten der Renaissance – und auch von dem in den Niederlanden so einflussreichen Erasmus von Rotterdam – eifrig rezipierte spätantike Werk des Diogenes Laertios über die bedeutendsten griechischen Philosophen überliefert in der Einleitung zu seinem zehnten, Epikur gewidmeten Buch auch die Verunglimpfungen, die dessen Person und Lehre bei seinen Gegnern erfahren haben. Unter anderem ist dort zu lesen, dass Epikur im Briefwechsel mit vielen Hetären gestanden habe, wobei auch eine nicht erhaltene Schrift Über das Lebensziel erwähnt wird. Der daraus zi‑ tierte Satz enthält die schlichte Aufzählung der Lebensfreuden Epikurs, die ein dem Dasein zugewandter Holländer und Künstler wie Vermeer nicht ohne eine gewisse Selbstbezüglichkeit zur Kenntnis genommen haben dürfte: „Ich wenigstens weiß nicht, was ich mir unter dem Gut vorstellen soll, wenn ich mir die Freu‑ den [Lust] an Sättigung, die Wonnen der Liebe, die Genüsse der Musik und der bil‑ denden Künste hinwegdenke.“176 Es ist die einzige überlieferte Äußerung Epikurs über Musik und Augenlust, wo‑ mit eben auch Kunst gemeint sein kann. Er nennt solches nicht als Erbauungen höhe‑ rer Ordnung, sondern im Kontext handfester Genüsse von Essen, Trinken und Sexu‑ alität, jenseits derer er sich keine sinnlichen, lustspendenden Güter denken mag. All diese Freuden hat Vermeer in seinen Werken vergleichsweise zurückhaltend, vor‑ nehm oder diskret – etwa nur durch ein Glas Wein, einen Brotkorb und Obst in einer Porzellanschale oder mit dem Bild eines munteren und vielsagenden Amorknaben an‑ gedeutet, wie er an der Wand im Londoner Bild einer Dame an ihrem Virginal stehend zu sehen ist (Abb. 13).177 Die Musik ruft Vermeer mehrfach auf; bei dem im Zi‑ tat zuletzt genannten „Gut“ war der Maler in seinem Element, sofern er glauben durfte, dass „venustas formae“ sich auch auf künstlerische Gestaltungen bezieht, denn insbesondere die Freude an solchen betrifft ja sein professionelles Anliegen. Die Allegorie der Malerei (Wien, Kunsthistorisches Museum) (Abb. 14) oder mit dem schlichten Titel, der auf Vermeers Witwe zurückgeht – „de Schilderkonst“ (die Mal‑ kunst), ist ein Werk, das oft beschrieben, und vielfältiger und kontroverser als alle anderen Gemälde Vermeers interpretiert wurde. Es fällt auf, dass der Maler vor der Staffelei auf viele für seine Kunst nötigen Re‑ quisiten verzichtet. Auf dem Tisch finden sich der Gipsabguss des Gesichtes einer männlichen überlebensgroßen Skulptur,178 davor ein aufgeschlagenes Heft mit Gra‑ phiken und ein leicht zerknitterter Zettel – Dinge, die üblicherweise im Fundus eines Künstlers zu finden waren. Aber nirgends ist ein Farbenreibstein zu entdecken, wie er in Vermeers Nachlass verzeichnet ist,179 auch gibt es keine Flaschen mit den diversen für die Ölmalerei unverzichtbaren Flüssigkeiten, und ebenso fehlen die obligatori‑ schen Tiegel, Stifte, Pinsel, Lappen, Zirkel, Lineale usw. Weil der Maler die rechte Hand auf den Malstock stützt und den perspektivisch sehr verkürzten, erst auf den zweiten Blick erkennbaren Pinsel angesetzt hat, darf man annehmen, dass er wohl 100
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auch eine Palette in der Linken hält, die uns aber mit Absicht nicht gezeigt wird. Wir blicken in ein Ambiente, das beileibe nichts von einem Atelier hat, wie so oft unter‑ stellt wird. Dieser repräsentative Wohnraum lässt die Werkstattgerüche von Pigmen‑ ten, Ölen, Terpentin und Firnissen gänzlich vermissen und würde gewiss auch keine Farbflecke auf seinem kostbaren Marmorfußboden dulden. Hier bleibt alles, was in der Malerei Handwerk ist, ausgespart. Allein ihre Vornehmheit als Kunst und distin‑ guierte Tätigkeit wird vorgeführt. Malen nicht als Gewerbe und Arbeit, sondern vor allem als Manifestation genießenden Sehens, als tätige Lust durchaus aristokrati‑ scher Muße ist ein weiteres Thema. Man könnte meinen, dass Vermeer den alten To‑ pos vom Fürsten aufgreift, der den Maler ehrt, indem er ihn bei der Arbeit besucht. Dem Betrachter fiele dabei die Rolle eines solchen hochmögenden Herren zu. Doch der Maler ist hier selbst eine aristokratische Erscheinung, und wir sind Zeugen seiner utopischen Vornehmheit. Offenbar zelebriert sich diese Kunst auch durch Verweise auf ihre theoretischen Grundlagen, denn auf dem im Entstehen begriffenen Modellportrait einer jungen Frau – kaum mehr als ein Tronie,180 und nur in wenigen hellen Linien auf der Lein‑ wand fixiert – setzt die Malerei der Zeichnung (teykeninge) pars pro toto den Lor‑ beerkranz auf. Damit sind auch Ehre und Ruhm der „arti del disegno“ (kunst van te‑ kenen) gemeint, zu denen entsprechend der Kunsttheorie alle bildenden Künste, die Architektur, auch die Kartographie und konzeptuelles Entwerfen überhaupt gezählt werden.181 Eine direkte Bestätigung dieser Bedeutung der Zeichnung gibt das Modell selbst. Aus normaler Distanz gesehen wird man nicht zweifeln, dass die sehr junge Frau die Augen niedergeschlagen hat, sei es aus Schüchternheit oder im nachdenkli‑ chen Versuch, ihre allegorische Rolle zu verinnerlichen. Doch aus der Nähe ist zu er‑ kennen, dass sie wohl etwas betrachtet, das vor ihr auf der mächtigen Tischplatte liegt: vielleicht das aufgeschlagene graphische Konvolut, vielleicht aber auch das kleine Stück Papier. Der Anflug eines Lächelns mag andeuten, dass sie zu verstehen beginnt, was sie da sieht. Was das aber ist, erfahren wir nicht, zu stark ist die pers‑ pektivische Verkürzung dieser Dinge. Der Kreis des Sehens schließt sich hier. Er öff‑ net sich mit der Zeichnung auf dem Staffeleibild zu den ersten Schritten der Malerei und führt von der Farbigkeit des Bildes zu jener des Modells vor dem koloristisch ak‑ zentuierten graphischen Panorama der Landkarte und kehrt wieder zurück zum Disegno des aufgeschlagenen Graphikbandes. Es ist derselbe Weg, den die Augenlust bei der Erforschung dieser Zusammenhänge nimmt. Wir haben teil an dem Vergnü‑ gen, mit dem der Maler sein Modell zweifellos anschaut, und er wird verzaubert von dem verhaltenen, vieldeutigen Ausdruck, mit dem dieses Mädchen sich dem Genuss seiner Betrachtung hingibt. Doch Vermeer lässt das Sehen auch an enttäuschten Wünschen fühlbar werden. Er verweigert uns ja den Blick auf das Gesicht des Ma‑ lers – wir sehen dessen Sehen nicht wirklich –, und er deutet nur an, was die Auf‑ merksamkeit seines Modells gefangen nimmt. Der moderne Bildtitel Ruhm der Malkunst ist gut begründet, zumal 1642 die Druckfassung einer Gildenrede des Leidener Stilllebenmalers Philips Angel mit die‑
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sem Titel als ein seltener Beitrag zur holländischen Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts erschienen ist.182 Doch bleibt noch einmal zu prüfen, was es mit dem „Ruhm“ hier für ein Bewenden hat. Offenbar wollte Vermeer mit diesem Gemälde ein Denkmal in ei‑ gener Sache setzen, und zwar nicht sich selbst, sondern der Malerei, der „Schilder‑ konst“. Es ist ein Bild, in welchem gezeigt wird, wie ein Werk der Malerei entsteht. Diese Kunst potenziert sich hier in ihrem eigenen Medium, und das Anschauen wird dabei auf mehrfache Weise als Genuss präsentiert: zum einen in Gestalt des feiertäg‑ lich gekleideten Malers in seinem subtil ausgeleuchteten Ambiente,183 der, erkennbar an der Wendung seines Kopfes, das anmutige Modell ins Auge fasst, zum andern als das Schauen des Betrachters, der mehr sieht als der Künstler, wenn er die Lichteffekte des glänzenden Messingkronleuchters und ihre räumliche Wirkung bestaunt. Durch den theatralisch zur Seite gerafften schweren Wandteppich wird ihm eine festlich hochgestimmte Inszenierung der Malerei als Offenbarung dieses Sehens vom Dunklen ins Helle, gleichsam als ein gemaltes Tableau vivant präsentiert. Gerade in den Niederlanden hat das „Lebende Bild“ eine lange und schon vor seiner europäi‑ schen Blüte im 18. und 19. Jahrhundert einsetzende Geschichte.184 Das durch einen Vorhang inszenierte und feierlich apostrophierte Bild folgt einer Praxis der Theater‑ aufführungen der Rederijkers, auf deren Bühnen die sogenannten „vertooningen“, le‑ bende Bilder, die moralisch-allegorischen Höhepunkte der Handlung hervorhoben und einer ruhigen eingehenden Betrachtung darboten.185 Vermeer bedient sich eben dieser didaktischen Strategie, wobei er den Kunstgenuss, die epikureische Freude an schöner Gestaltung, zu einem inhärenten und gesteigerten Gehalt seiner Bilderfin‑ dung macht. Der Maler sieht vor sich ein überaus anmutiges Modell, über dessen Bedeutung in der Forschung allerdings keine Einigkeit herrscht. Stellt das Mädchen den Ruhm, Fama, oder eine Muse dar, und welche käme in Frage? Der Lorbeerkranz, das Buch und die Trompete gehören bei Cesare Ripa zur Ausstattung der rot gekleideten Clio als Muse der Geschichtsschreibung: „Wir werden Clio als ein Mädchen mit einem Lorbeerkranz darstellen, das in der rechten Hand eine Trompete hält und mit der lin‑ ken ein Buch, auf dem geschrieben sein soll: Thucydides.“186 Doch folgt das Modell Ripas Vorgaben nicht konsequent. Es trägt kein rotes Gewand, und das geschlossene Buch zeigt wohl mit Bedacht keinen Titel und verschweigt die Auskunft darüber, ob es sich um Historie oder Dichtung oder gar eine „neue“, nicht klassisch kodifizierte Muse, etwa der Bildenden Kunst, handelt.187 Wen auch immer diese Gestalt verkör‑ pern soll, in jedem Fall sind ihr die Insignien des Ruhmes sicher. Die als annähernd quadratisch zu ergänzende Leinwand auf der Staffelei ist ge‑ rade so groß, dass – nach den zarten, hellen Vorzeichnungen der Figur und dem Lor‑ beerkranz zu schließen – das Modell nur bis zur Höhe der Tischkante darauf Platz fände. Die Halbfigur ist ein für Allegorien ungewöhnlich beengtes Formular und ein ikonographisch unbestimmter Bedeutungsträger. Mehr als für diesen interessiert sich der Maler vor seiner Staffelei offenbar als erstes für den Lorbeerkranz und hat ihn unverhältnismäßig groß entworfen.188 Dieses krönende Insigne ist in blauer
Exkurs I. Blauer Lorbeer: Der Ruhm der Malkunst
Farbe angelegt, was darauf schließen lässt, dass das Blau durch eine spätere Gelboder Grünlasur zur Farbe des immergrünen Gewächses vervollständigt werden möchte. Entgegen den künstlerischen Gepflogenheiten wird hier der Malprozess aber mit den Blättern eines Attributes begonnen. Nach maltechnischen Regeln müsste dieses sinnvoller Weise doch wohl erst am Schluss und nach der Fertigstellung der Fi‑ gur oder wenigstens des Kopfes ins Bild gebracht werden. Kein Maler würde tatsäch‑ lich so vorgehen, wie es hier zu sehen ist. Seine Größe und die vorgezogene Behand‑ lung wollen auf die besondere Bedeutung hinweisen, die diesem Ehrenzeichen hier zukommt. Seltsamerweise ist aber auch der Lorbeer blau, der das Modell schmückt. Nur drei, vier Blätter zeigen ein sich schüchtern andeutendes, allenfalls werdendes Grün. Diese auffallende Parallele zwischen dem Ruhmeskranz auf der Leinwand und jenem auf dem Haupt des Mädchens, für die bisher höchstens konservatorisch-technische Ursachen vermutet wurden, kann ebenso wenig ein Zufall sein wie der „verkehrte“ Arbeitsansatz des Malers. Zwar kommt Grün in Vermeers Œuvre nicht sehr oft vor, doch er wusste ihm eine durchaus beständige Farbwirkung zu verleihen, wie etwa an den Ärmeln der Milchmagd, dem Vorhang in der Allegorie des Glaubens oder an ei‑ nigen der als Bilder ins Bild gemalten Landschaften mit ihrer Vegetation zu beobach‑ ten ist. Im Zusammenhang mit der 2010 im Kunsthistorischen Museum Wien veranstal‑ teten Ausstellung „Vermeer – Die Malkunst. Spurensicherung an einem Meister‑ werk“189 wurden auch die konservatorischen und gemäldetechnischen Aspekte ebenso wie Probleme der Restaurierungsgeschichte des Gemäldes minutiös analysiert und dokumentiert. Bemerkenswerterweise hat die Untersuchung des Lorbeerkranzes auf dem Haupt des Mädchens keinerlei deutliche Ergebnisse über spätere Farbverän‑ derungen zutage gefördert. Um ein ansprechendes Grün zu erzielen, war es durchaus üblich, eine ultramarinblaue Untermalung mit darüber gelegten grünen und gelben Lasuren zu versehen. Doch ein gutes Grün lässt sich auch ohne Untermalung von Blau erzielen. Im Fall des vermeerschen Lorbeers auf dem Kopf des Modells haben sich keine Spuren entsprechender Lasuren erhalten. Die vagen Vermutungen über ei‑ nen wahrscheinlichen oder nur möglichen Verlust solcher Farbschichten konnten zu‑ gegebenermaßen durch keine konkreten Nachweise gestützt werden.190 Auch blieb in der Gesamtbetrachtung dieser Unbestimmtheiten unberücksichtigt, dass das wenige Grün, das es auf dem Kranz des Modells ja tatsächlich gibt, kompositorisch sehr sorgfältig und überlegt eingesetzt ist. Ein Pigmentverlust durch Lichteinwirkung oder andere Ursachen hätte kaum zufällig zu einem so ausgewogenen ästhetischen Bild des Kranzes mit seinem zarten partiellen Grünansatz im blauen Laub führen können. Bei diesen wissenschaftlichen Annahmen scheint indessen der Wunsch der Vater des Ge‑ dankens; ein blauer Lorbeerkranz ist normalerweise schlechterdings unvorstellbar: Was nicht sein kann, das nicht sein darf. Doch es gilt den Stereotypen gerade bei ei‑ nem Maler wie Vermeer zu entkommen, dessen Bilder doch an Stimmigkeit der Farb‑ gebung nichts zu wünschen übriglassen.191
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Offenbar sind niemals in der Sammlungsgeschichte der Malkunst Versuche unter‑ nommen worden, dieses vermisste Grün wiederherzustellen, was eine sehr leichte Übung gewesen wäre. Vielmehr scheint man immer verstanden zu haben, dass der „fehlfarbene“ Lorbeerkranz auf dem Modell und auf der Staffelei wohlüberlegt war und Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollte. Anders als bei den auf Darstellungen ge‑ schmückter Häupter für gewöhnlich glatt anliegenden Zweigen entfaltet dieser Lor‑ beer hier mit seinen zwar symmetrisch, aber in alle Richtungen zeigenden Blättern ein beachtliches Eigenleben. So sehen frisch geschnittene Lorbeerzweige aus, und ge‑ rade in Verbindung mit seinem verfremdenden Blau muss dieses ungewöhnliche und lebendige Insigne zum Nachdenken auch über die Konstellationen in seinem Umfeld anregen. Solchen eigenartigen und der malerischen Genauigkeit von Vermeers Farbgebung scheinbar deutlich widersprechenden Beobachtungen hat die Forschung zu wenig Be‑ achtung geschenkt. Hier ist die oben angedeutete Anmutungsqualität der Schilderkunst als Tableau vivant möglicherweise von Bedeutung. Die theaterhafte Wirkung der Szenerie übt seit jeher eine unausgesprochene Faszination auf die Interpreten die‑ ses öfter als alle andern Werke Vermeers analysierten Gemäldes aus. Der Reiz liegt im Spiel mit den vertauschten Medialitäten und Realitätsebenen von Bühne und Bild. Wird die Schilderkunst unter diesem Aspekt gesehen, als Gemälde, das den Eindruck eines Tableau vivant, eines lebenden Bildes, als Vertooninge, wiedergibt, werden ge‑ wisse Inkongruenzen erklärbar. Zum einen würde, wie bereits erwähnt, ein Maler ein Bildnis nicht mit dem Lorbeerkranz beginnen. Auch käme es kaum infrage, dass er sein Modell längere Zeit mit einem schweren Buch im Arm posieren ließe, wäh‑ rend er selbst gerade erst mit der Darstellung eines ganz anderen Attributes beschäf‑ tigt ist, wie Nils Büttner zu Recht betont. Auch an solchen Unstimmigkeiten ist er‑ kennbar, dass wir keinesfalls eine realistische Atelierszene vor Augen haben. Die Rückübersetzung eines derartigen dreidimensionalen Arrangements mit lebenden Fi‑ guren ins Medium des Gemäldes lässt das Stillstehen aller Aktionen als inszenierte „Aufführung“ eines solchen empfinden. Auch Sprach- und Wortlosigkeit müssen da‑ bei nicht mehr nur als notgedrungene Eigenschaften dieses zweidimensionalen Medi‑ ums hingenommen, sondern wollen als Charakteristika des Tableau vivant gewertet werden. In der übergreifenden Kategorie „Bild“ werden beide deckungs- aber nicht wesensgleich. Auch die Fehlfarbe eines nicht perfekten Requisits wie es der blaue Lor‑ beerkranz ist, fügt sich als vordergründige Erklärung bestens in die künstliche Be‑ helfssemantik im Organismus eines lebenden Bildes. Die Wechselwirkungen zwi‑ schen den Tableaux vivants und der Malerei sind gut erforscht.192 Kunsttheoretiker wie Karel van Mander, Van Hoogstraten und Gerard de Lairesse empfehlen den Ma‑ lern, sich am Theater zu orientieren und Schauspieler als Vorbilder zu nehmen. Phi‑ lips Angel betrachtet die Malerei sogar als gemaltes Theater.193 Wenn Vermeer in der Schilderkunst auf Inszenierung eines Lebenden Bildes re‑ kurrierte, bedeutet das, dass die „Unvollkommenheit“ der behelfsmäßigen Requisite eines blauen Lorbeerkranzes keineswegs für die Botschaft seines Gemäldes bedeu‑
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tungslos war; ganz im Gegenteil, er hat sie nicht korrigiert, sondern aus dem Reali‑ tätsmodus des Tableau vivant übernommen. Was könnte der Maler also mit dem „Fehler“ dieser sonderbaren koloristischen Verfremdung beabsichtigt haben? Ausflüge in das schwammige Terrain der Farbensymbolik führen hier kaum weiter. Der quasi greifbare, aber in seiner blauen Luftigkeit unkörperliche Lorbeer auf dem Haupt des Modells erlangt sein Immergrün erst in zarten Ansätzen. Wie jener im Bild auf der Staffelei erscheint er nicht über die Untermalung hinaus gediehen. Diese kaum zufällige Übereinstimmung kann eigentlich nur bedeuten, dass nicht allein das Requi‑ sit als Symbol des Ruhmes, sondern der Ruhm selbst zwar preiswürdig, aber noch un‑ fertig und erst am Beginn seiner Vollendung steht. An seiner vollen Vitalität und der seiner Fama ist somit im übertragenen wie im praktischen Sinn offenbar noch zu ar‑ beiten. So wie der Lorbeer auf der Staffelei vor dem Künstler noch nicht fertiggemalt ist, ist auch der Ruhm der Malkunst, um die es hier geht, erst im Entstehen. Der Ver‑ vollkommnung des emblematisch als Lorbeer apostrophierten Ruhmes widmet sich der Maler hier. Vermeer selbst arbeitet an dessen Mehrung, indem er dieses Bild malt. Vor dem Künstler, der sich als Anonymus incognito dem Lorbeer auf der Leinwand zuwendet, hinterfängt eine große, einst kostspielige Karte mit den siebzehn südlichen und nördlichen Provinzen unübersehbar die gesamte Szene. Hier in der Epoche der sich herausbildenden Nationalstaaten wird diese alte Land‑ karte von 1636 präsentiert. Sie gibt die damals zu Vermeers Zeiten aktuelle politische Situation nach der 1648 erfolgten Teilung in die südlichen und die nördlichen Nieder‑ lande noch nicht wieder. Stattdessen betont sie das unfertige, in seiner künstlerischen Potenz aber sehr deutlich umrissene Territorium, in dem die südlichen und die nördli‑ chen Niederlande noch eine Einheit bildeten wie sie etwa Karel van Mander in seinem Schilder-Boeck (Haarlem 1604) gesehen hatte. Es geht um den Ruhm der niederlän‑ dischen Malerei. Aber dieser hatte in den Provinzen des Südens und des Nordens eine jeweils sehr unterschiedliche Entwicklung erfahren. Die scharfe Falte, die genau in der Mitte der Karte etwa auf der Höhe der nördlichen Grenze von Noord-Brabant die südniederländischen-flämischen und die nördlichen „holländischen“ Provinzen trennt, akzentuiert diese Teilung subtil, aber deutlich, wie man gesehen hat.194 Es ist bemerkt worden, dass Buch und Trompete des Modells genau vor der un‑ tersten Stadtansicht auf dem linken Randstreifen der Städtebilder positioniert sind. Es handelt sich bei dieser Kartusche um die Residenz der Statthalter der Republik der sieben vereinigten Provinzen in Den Haag, „T’Hof van Hollandt“, ehemals Sitz der Grafen von Holland. Auch auf Brüssel, den Regierungssitz der südlichen Nieder‑ lande, wird angespielt: Auf dessen Bild am rechten Kartenrand ist der Malstock wie auf ein Ziel gerichtet.195 Einerseits steht das Mädchen vor den südlichen Niederlan‑ den, andererseits werden die allegorischen Attribute vor die Ansicht des holländi‑ schen Kernbereichs gehalten. So wie das Ehrenzeichen des Ruhms auf dem Haupt des Modells wie im Bild auf der Staffelei noch seiner farbigen und damit malerischen Vollendung harrt, bliebe auch die Trompete, die ihn verkünden soll, hier nur Frag‑ ment und Andeutung.196
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Noch lässt dieser so bescheidene und zurückgenommene Auftritt jede triumphale Anmutung von Ruhm und dessen Verkündung durch Fama vermissen. Die Ausstat‑ tung mit dessen Requisiten ist ein Anfang. Was hier auf der Staffelei in Arbeit ist, kann eigentlich nur die Vorstudie für ein späteres großes Gemälde sein. Diese Allego‑ rie zeigt einen Ruhm der holländischen Malerei, der noch ebenso jung, bescheiden und anfänglich ist wie das für diese Rolle ausstaffierte Mädchen. Es ist ein Ruhm in statu nascendi. Als ob der Wunsch, dessen noch unwirklich blauen, da unfertig ge‑ malten Lorbeer auch hier bald vollständig ergrünen zu lassen Vermeers Vermächtnis gewesen sei, hat er ihm auf dem Haupt der Musendarstellerin nur einen ersten Anflug seiner immergrünen Unsterblichkeit gegeben. Doch selbst wenn das Blau des Kran‑ zes auf dem Haupt des Mädchens einem bislang ungeklärten Prozess von Farbverän‑ derung geschuldet sein sollte, harrt der blaue Lorbeer auf dem Staffeleibild und mit ihm der Ruhm, den es zu verkünden gilt, ganz eindeutig noch seiner malerischen Vollendung. Die Betonung, die diese unaufdringliche Botschaft in dem Bild eines Lebenden Bildes vor der großen Landkarte erfährt, wird verständlich, wenn die grandiose künstlerische Vergangenheit und Gegenwart der südlichen Niederlande und Bur‑ gunds bedacht wird. Hier hatte – sehr verkürzt gesagt – die Malerei ausgehend von den Van Eycks im späten Mittelalter der europäischen Kunstgeschichte neue und überaus fruchtbare Impulse gegeben.197 Einige wenige Namen der bedeutendsten Fla‑ men sollen hier genügen. Im 16. Jahrhundert waren die Werke Pieter Bruegels, im 17. Jahrhundert die seiner Söhne und Enkel überaus begehrt. Die grandios bevölker‑ ten Landschaften eines Roelant Savery erfreuten sich kaiserlicher Wertschätzung. Vor allem aber der Großmeister der mythologischen und religiösen Historienmalerei Peter Paul Rubens begründete mit umfangreichen Projekten und Aufträgen in Italien, Spanien, Frankreich, England und Bayern den Ruhm flämischer Malerei im interna‑ tionalen Maßstab aufs Neue. An den europäischen Höfen war er überdies als erfolg‑ reicher Diplomat zuhause. Sein Schüler Antonis van Dyck entwickelte in Italien und am englischen Hof eine eigene aristokratische Formensprache. Der schöpferischen Kraft dieser Künstler stellt sich Jacob Jordaens, auch er ein Antwerpener, mit immen‑ ser Vitalität und thematischer Vielfalt ebenbürtig zur Seite. Prestigeträchtige fürstli‑ che Aufträge und Bestellungen der schwedischen und englischen Monarchen bewäl‑ tigte er mit kaum überschaubarer Produktionskraft ähnlich wie Rubens und van Dyck in einer sehr großen, florierenden und arbeitsteilig organisierten Werkstatt und brachte es ebenso zu beträchtlichem Reichtum und einem repräsentativen Lebensstil. Es gab im Holland des 17. Jahrhunderts die höchste Dichte von Malern in der Be‑ völkerung, eine unfassbare Menge an Gemälden und entsprechend viele private Sammler, aber noch keine nennenswerte internationale Strahlkraft, die solchen Vor‑ aussetzungen entsprochen hätte.198 Hollands Schilders waren alles andere als „Ma‑ lerfürsten“ vom Schlage der großen Flamen, mit ihren aufwendigen Selbstdarstellun‑ gen und ‑portraits, sondern mussten sich oft ihren Lebensunterhalt mit sehr unkünstlerischen Einkünften etwa als Anstreicher, Schankwirt, Gefängnisaufseher,
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48 David Teniers d. J., Die Bildergalerie Erzherzog Leopold Wilhelms in Brüssel, Madrid, Museo del Prado
Steuereintreiber oder Bilder- und Tulpenhändler sichern. Vermeer selbst bestritt sei‑ nen Lebensunterhalt keineswegs nur als gesuchter Künstler. Der Sohn eines Webers war unter anderem als Kunsthändler tätig und betrieb ein Gasthaus. In der retrospektiven „veralteten“ Landkarte der Schilderkunst werden die beiden Teile der Niederlande zwar unterschieden, aber auch zu einer idealen Einheit zusam‑ mengefasst. So gerühmt und sozial hochstehend wie der Süden sollte auch der Nor‑ den der Niederlande in seiner Kunst werden. Und es ist bezeichnend, dass in dieser nicht genordeten Landkarte kein Teil der Niederlande über dem anderen steht, und Holland sich nicht über Flandern „erhebt“, sondern neben ihm steht. Das ist eine Botschaft, welche Vermeer seinen Zeitgenossen in diesem Bild zu lesen geben konnte. Es ging dem Delfter um die Mehrung des Ruhms der holländischen Malerei inner‑ halb der Niederlande schlechthin, so wie die Landkarte diese zeigt. So nimmt es auch nicht wunder, dass das Buch im Arm des Mädchens keinen Titel trägt. Als sei es zwar dafür bestimmt, aber noch nicht bereit, dass der Ruhm gerade und besonders der holländischen Malkunst in ihm verewigt werde. Zwar hat man betont, dass die Zeitgenossen keinen Unterschied machten zwi‑ schen der künstlerischen Kultur der südlichen und der nördlichen Niederlande.199
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49 David Teniers d. J., Die Bildergalerie Erzherzog Leopold Wilhelms in Brüssel, München, Staatsgalerie Schleißheim
Doch die sieben nördlichen Provinzen hatten auch in ihrem kurzen, sogenannten Goldenen Zeitalter nichtsdestoweniger einen gewissen „Nachholbedarf“ hinsichtlich ihres künstlerischen Renommees. Selbst der so herausragende und schulbildende Rembrandt und auch der international geschätzte Ter Borch konnten daran nicht viel ändern. Rembrandt hat zwar einige Gemälde an die englische Krone und sogar bis nach Sizilien an den adeligen Sammler Antonio Ruffo verkauft. Aber der am frühen europäischen Klassizismus orientierte Kunstgeschmack fand am späten Rembrandt keinen Gefallen mehr. So verwundert es nicht, dass der Nachtwache und der von den Stadtoberen abgelehnten Verschwörung des Claudius Civilis keine öffentlichen Auf‑ träge mehr folgten. Der deutsche Maler und Kunstschriftsteller Joachim von Sand‑ rart fasste Jahre nach Rembrandts Tod die maßgeblichen Kritikpunkte zusammen: Er habe sich nicht an „Kunst-Reglen“ gehalten und niemals Italien bereist, um die Antiken und die dortige Kunst zu studieren. 200 Das kam dem Vorwurf von Provinzi‑ alismus gleich. Rembrandt war im internationalen Vergleich längst aus der Mode. Aber auch zu Lebzeiten hatten er und die Holländer keinen bemerkenswerten Stellen‑ wert in den bedeutenden Gemäldesammlungen Brüssels und Antwerpens. Bereits die frühesten Antwerpener Galeriebilder von Frans Francken II. präsentie‑ ren in fiktiven Sammlungen vorwiegend flämische Meister. Mustert man die Serie der elf erhaltenen Gemälde, in welchen David Teniers d. J. die Galerie des Erzherzogs Le‑ opold Wilhelm, Statthalter der spanischen Niederlande in Brüssel von 1646 bis 1656, 108
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50 Willem van Haecht, Die Bildergalerie des Cornelis van der Geest, Antwerpen, Rubens‑ haus
repräsentiert hat, so wird man dort fast nur italienische Meisterwerke finden (Abb. 48, 49). 201 Während sein 1660 in Brüssel erschienenes Theatrum pictorium Maler aller europäischen Schulen verzeichnet, enthält der Katalog – der erste bebilderte und ge‑ druckte Katalog einer Bildersammlung überhaupt, eine Auswahl von 243 Italienern aus einem Gesamtbestand von über 1300 Gemälden. In mehreren Sprachen verfasst, wurde er an den europäischen Fürstenadel verschickt. Eine zweite Ausgabe erschien 1673. Die Galeriebilder, die den Erzherzog mit Besuchern jeweils in einer imaginären Galerie mit den am höchsten geschätzten Werken zeigen, sind veritable „Fürstenspie‑ gel“ der Kunst und verfolgen eine ähnliche Absicht. Der Habsburger ließ seine Samm‑ lung von seinem flämischen Galeriedirektor Teniers in verschiedenen Versionen als Präsente für die großen europäischen Adelshäuser malen. Zwar hat er als Mäzen auch Aufträge an regionale Künstler vergeben und besaß sogar drei Werke des Klein‑ meisters Jacobus Vrel, aber dessen verschrobene häusliche Idyllen mit ihren humilen Staffagefiguren waren alles andere als repräsentativ und fanden naturgemäß keinen Eingang in Teniers‘ Galeriebilder. 202 Eine andere berühmte Sammlung war jene des Rubens-Mäzens Cornelis van der Geest, deren Bestand Willem van Haecht 1628 in seinem Galeriebild überliefert hat (Antwerpen, Rubenshaus) (Abb. 50). 203 Diese und Van Haechts Werkstatt des Apelles, um 1630 (Den Haag, Mauritshuis), sowie ein weiteres Gemälde gleichen Themas (Privatsammlung) setzen bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts andere Ak‑
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zente, indem hier entweder nur Gemälde Antwerpener Meister präsentiert werden oder hervorragende italienische Werke der Renaissance und des Frühbarock solchen burgundischer und flämischer Provenienz und auch wenigen deutschen gegenüberge‑ stellt sind. Das ergibt ein klares Bild: Italien und Flandern figurieren in solchen be‑ deutsamen und zum Teil wohl fiktiven Sammlungen auf höchster Ebene, und diese Botschaft wird in Van Haechts Galeriebildern auch unmissverständlich proklamiert. Während italienische Malerei hauptsächlich mit Meistern der Renaissance und des klassizistischen Frühbarocks etwa durch Domenichino und Reni vertreten ist, figu‑ riert die flämische mit Rubens und Van Dyck vor allem als Gegenwartskunst. Die Botschaft ist deutlich: Diese Flamen sind den besten Italienern ebenbürtig. Von Hol‑ ländern und ihrer Interieur- und Genremalerei, die entsprechend der Gattungshierar‑ chie an unterster Stelle rangierte, findet sich in ihnen kein einziges erkennbares Werk. Die Malerei der nördlichen Niederlande war z. B. mit ihren Stillleben zwar europa‑ weit begehrt, spielte aber in der Wahrnehmung prestigeträchtiger Kunst bei der ver‑ mögenden Sammleraristokratie offenbar praktisch keine Rolle. Ihr fehlte das trium‑ phale Pathos des katholischen Barocks, das Italien und Flandern in ihren Historienbildern so reichlich liefern konnten. Wie nahm sich die holländische Malerei neben der flämischen Fama in solchen Sammlungen aus? Was konnte sie dem Ruhm des Südens entgegensetzen, und wie in diesem imaginären Paragone bestehen? Bezeichnenderweise macht Vermeer keinerlei thematische Andeutung, welcher Weg da zu suchen wäre. Auf die übliche Hierarchie der Gattungen nimmt er keinen Bezug; er empfiehlt nicht das mythologische oder bi‑ blische Historienbild, wo flämische Maler ihre großen Triumphe feiern und deren Themen er sich selbst ja in seiner Frühzeit vorübergehend gewidmet hatte. Aber auch auf Landschaft und Portrait, die ohnehin holländische Kernbereiche waren, bezieht er sich nicht. Vermeer sucht weder mit den Domänen der Flamen noch jenen der Hol‑ länder in Wettbewerb zu treten. Vermeer war nicht nur als Kunsthändler, sondern auch als Gutachter tätig. So be‑ sichtigte er 1672 zusammen mit dem sachverständigen Maler Johannes Jordaens in Gegenwart eines Notars eine Sammlung von zwölf Bildern, vorwiegend italienischer Provenienz mit Namen wie Giorgione, Tizian, Jacopo Palma, Pordenone und Raffael. Versehen mit dem Siegel des Kürfürsten Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg und als „uytmuntende“ – ausgezeichnete deklariert, wollte sie der Kunsthändler Gerard Uylenburgh für 30.000 Gulden verkaufen. Die Gemälde wurden in dem Gutachten der beiden Delfter Maler jedoch in Bausch und Bogen als minderwertig abqualifi‑ ziert. Es handele sich um Fetzen, die nicht einmal ein Zehntel der angegebenen Preise wert seien und die von den Zeugen nicht geschätzt werden könnten, weil sie keinen Wert hätten. 204 Wir können dieses Urteil mangels Kenntnis der Gemälde nicht über‑ prüfen. Doch es ist schwer vorstellbar, dass der Kurfürst von Brandenburg einem Kunstagenten aufgesessen sein sollte, der ihn derart schlecht bediente oder gar be‑ trog. Wir haben andererseits aber auch keinen Grund, Vermeers und Jordaens’ Fähig‑ keiten als Gutachter in Frage zu stellen. Aber es erstaunt doch, dass ihre Meinung so
Exkurs I. Blauer Lorbeer: Der Ruhm der Malkunst
pauschal, undifferenziert und geradezu missgünstig ausfällt, als habe sich zumal hier beim späten Vermeer ein Groll gegen die allgemeine Bevorzugung des Italienischen Ausdruck verschafft. Hinzu kam die bekannte durch Erziehung und familiäre Ver‑ bindungen entstandene Vorliebe Friedrich Wilhelms (des Großen Kurfürsten) für Holland und seine Kultur. Als einer der wenigen feudalen Kunstsammler war er auf nordniederländische Maler spezialisiert, und es wäre nur allzu verständlich, wenn holländische Maler als Gutachter einen Wechsel dieses Sammlerinteresses ungern un‑ terstützt hätten. Natürlich ist diese Vermutung sehr hypothetisch, doch im Hinblick gerade auf Vermeer erhält sie eine gewisse Bestätigung durch seine Allegorie des Glaubens (New York, Metropolitan Museum of Art (Abb. 57), deren affektive Italianità keineswegs als eindeutig affirmatives Bekenntnis zur Kunst des Südens, sondern mit vielleicht mehr Berechtigung als Satire zu werten ist, wie zu zeigen sein wird. 205 Eine wichtige „Tugend“, die Vermeer in der Schilderkunst zur Geltung bringt, ist die unvergleichliche Ausgewogenheit der Komposition mit ihrer klaren räumlichen Struktur. Dazu kommt die ruhige stillebenhafte und bildgerechte Vorhandenheit der Menschen und Dinge. Bewegungen, die nie ihre Ziele erreichen werden, weil das Me‑ dium per se alles Geschehen zum Stillstand bringen muss, gibt es hier nicht. Eine Szene wie Rembrandts Opferung Isaaks (St. Petersburg, Eremitage), wo dem fas‑ sungslosen Abraham das Messer aus der Hand fällt, wäre mit Vermeers Bildver‑ ständnis kaum vereinbar. Selbst das Rinnen der Milch aus dem Krug der Milchmagd wird nicht als Bewegung wahrgenommen. Auch im Verzicht auf dramatische Ereig‑ nisse, auf emotionale Vereinnahmung des Betrachters gewinnt Vermeers Kunst gene‑ rell ihre Autonomie und Unabhängigkeit von vorgeprägten rhetorischen Rezeptions‑ strukturen. Er schafft in seiner Malerei eine Stille und Ruhe, die den Betrachter in keiner Weise aktiv mit Leidenschaften bedrängt. Im Zeitalter des höchsten Interesses an emotionalen Ausdrucksformen ist dieses antizyklische Ideal die große Ausnahme. Der Ruhm holländischer Malerei – so könnte die Botschaft der Schilderkunst ver‑ standen werden – ist nicht im Wettbewerb mit den Domänen des Südens zu finden, nicht in der Schilderung von Taten geschichtslastiger Bedeutungsträger und nicht in der überwältigenden Dynamik großer Gesten, nicht in bildrhetorischer Überredungs‑ kunst, sondern einzig im kultivierten menschlichen Leben außerhalb historischer Ko‑ ordinaten. Vermeer gibt dem einzelnen Individuum nicht nur völlige Befreiung von Geschichte und Vorsehung, er kennt weder Helden noch Opfer und teilt solche Rol‑ len seinen Bildpersonen auch nicht im Mikrokosmos seiner Interieurs zu. 206 Es sind vielmehr die Möglichkeiten, das Bild und mit ihm den reflektierenden Be‑ trachter in sich selbst ruhen zu lassen und sie im hochgestimmten Topos des schlecht‑ hin Vertrauten zusammenzuführen. Nicht als scheinbar handelndes, überredendes oder gar übergriffiges Agens, sondern als sinnlich erfahrbares Gegenüber stellt es sich in den Dienst des epikureischen Lebensziels, der hedoné, in der sich ein Höchst‑ maß an Augenlust mit dem intellektuellen Vergnügen des interpretierenden Sehens verbindet. Insofern verfolgt Vermeer mit seiner Schilderkunst keinerlei propagandis‑
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Exkurs I. Blauer Lorbeer: Der Ruhm der Malkunst
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tische Absichten. Es ist vielmehr ein introvertierter Monolog über die holländische Malerei, wie er sie selbst pflegte. Vermeer hat es denn in diesem programmatischen Bild auch nicht an einer Gegen‑ überstellung holländischer und flämischer Kunst fehlen lassen. Der große zur Seite gezogene Wandteppich ist zweifellos ein Erzeugnis aus Flandern, das ja schon seit dem 15. Jahrhundert berühmt für diese herausragenden Kunstwerke der Bildwirkerei war. Der Maler sucht mit diesem Zitat aber keineswegs rivalisierende Konkurrenz. Er ruft die Textilie stellvertretend für den Ruhm der flämischen Bildkunst auf; einerseits lässt er ihr links vorne im Bild gleichsam den Vortritt, andererseits aber weist er ihr eine dienende Funktion zu, indem er sie in Form einer revelatio, einer Enthüllung, den Blick auf die junge, an der Vollendung ihres Ruhmes arbeitende holländische Malerei freigeben lässt, was die textile Malerei zugleich an der Entfaltung ihrer eige‑ nen pikturalen Potentiale hindert, sie gleichsam dekomponiert. Wir bekommen an der Tapisserie keine Bilder, sondern nur verschiedenfarbige Flecken, auch Fragmente von Laubwerk und damit ein Sprießen und Florieren wie auf einer spätmittelalterli‑ chen Mille fleur-Tapisserie zu sehen. Die Herkunft des Teppichs wird jedem zeitge‑ nössischen Kunstliebhaber klar gewesen sein, und er konnte die vegetative Kraft auf diese beziehen. Zwar hat Vermeer auch in anderen Gemälden flämische Wandteppi‑ che als Mittel der Inszenierung seiner eigenen Bilderfindungen eingesetzt, aber an‑ ders als hier lässt sich damit keine kunstlandschaftliche Aussage verknüpfen. Das Überraschende an diesem „Theatervorhang“ ist nun, dass seine Vegetation ebenfalls kaum Grün kennt, sondern Gelb und viel Blau. Es sind eben die Farben, die in spät‑ gotischen flämischen Wandteppichen für die so reichliche Wiedergabe von Laubwerk der Bäume und Gärten verwendet worden waren. Welche Parallele hat Vermeer hier konstruiert und was hat dies zu bedeuten? Die Palette der Malkunst ist vornehmlich aus den Farben der Tapisserie entwickelt. Dies dient einerseits der Harmonisierung des koloristischen Gefüges im gesamten Bild, ist gleichzeitig aber auch eine abstrakte Hommage an die Kunst Flanderns. Vermeer setzt also auf ein Kontinuum, aber nicht im Sinne einer Übernahme von Motiven und Erzählstrukturen, sondern von koloris‑ tischen Elementen. Zur Erklärung der blauen Lorbeerkränze taugt diese Harmonisie‑ rung freilich nicht, denn auch das Rot der Strümpfe des Malers, einiger Stellen auf der Landkarte und der Lippen des Mädchens geht über die farbigen Vorgaben des Teppichs hinaus. Dass der Ruhm der holländischen Malerei zwar auf sich warten ließ, aber nicht ausblieb, hat deren Rezeption in den Kunstzentren des 18. Jahrhunderts gezeigt. Ge‑ rade die Wiederentdeckung Vermeers hatte da aber noch nicht begonnen, und erst im 19. Jahrhundert wurde sein Name zu einem Begriff, der bis heute zu einer Blüte wis‑ senschaftlicher Beschäftigung mit seiner Kunst geführt hat, die auf eine tief ersehnte Wahlverwandtschaft mit den bürgerlichen Idealen seiner Gemälde schließen lässt.
Der Tastsinn des Auges Die Schilderkunst ist genau genommen keine Allegorie, sie zeigt vielmehr, wie eine solche als Modell und Entwurf konzipiert wird. Darüber hinaus ist sie ein Zeugnis, das die Malerei sich selbst und ihrer eigenen Sinnlichkeit ausstellt. Ihre vornehme Lust des Sehens wird von schönen Dingen, sowohl der Kunst als auch der menschlichen Gestalt geadelt. Es ist ein Gipfelwerk nicht nur solchen Vergnügens, sondern auch der Kunst des Zeigens, die zugleich eine des Verbergens ist, einer Kunst, in welcher der Tastsinn des Auges zur ruhigen und fühlenden Aufnahme von einer Raumebene zur nächsten geführt wird. In den bildparallelen Ebenen und den ihnen kontrastierend winkelig entgegengestellten Dingen wie Tischen, Stühlen oder Tasteninstrumenten verbinden sich Optisches und Haptisches zu einer Synthese, die im perspektivischen Koordinatensystem als Wirklichkeitsillusion eine Quintessenz der Malkunst ist. In dieser Hinsicht hat das Wiener Hauptwerk vielleicht nur einen sehr allgemei‑ nen Bezug zu Epikur, der in mehrdeutiger Weise schöne Gestaltungen und damit wohl auch die Kunst zu seinen Genüssen zählt. Es gibt keine griffige Sentenz des Griechen zu diesem Thema, dafür aber die klare Aussage, dass Erkenntnis sich auf die überprüfbare Evidenz der Sinneswahrnehmungen gründen solle. 207 Insofern zeigt sich Vermeer einerseits selbständig gegenüber den gedanklichen Vorgaben des Philo‑ sophen, wenn es um die Reflexion seiner eigenen Profession geht. Andererseits aber bleibt er diesem treu im Hinblick auf die Qualität von Wirklichkeitserkenntnis durch eine Bündelung sinnlicher Wahrnehmungen, die der Augenlust, der voluptas oculorum und der voluptas prospiciendi dient, welche der christlichen Theologie so lange als verderblich gegolten hatten. Vermeer ist kein pedantischer Feinmaler, er kultiviert vielmehr ein subtiles Sfu‑ mato; doch neben den sanften Übergängen in plastischen Modellierungen und dem bisweilen pastosen Farbauftrag, wie ihn das Dresdener Brieflesende Mädchen am offenen Fenster (Abb. 11) zeigt und der sich absetzt gegen die körperlosen graphischen Strukturen des Ambientes, pflegt Vermeer auch andere malerische Modi. Das aus der Nähe gesehen fleckige Inkarnat der Milchmagd (Abb. 23), die „körnige, rauhe Mal‑ masse mit keck vorspringenden Höckern“, die schon Thoré-Buerger faszinierte, 208 weckt hier und in anderen seiner Bilder den Tastsinn des Auges. Christiane Rambach hat diesen Aspekt sogar noch weiter gefasst, wenn sie sagt, Vermeers Bilder „stimu‑ lieren mit ihren farb- und lichtgetränkten Oberflächen, ihren rauen und sfumatoarti‑ gen Partien ein ‚Berühren-Wollen‘, nicht nur mit den Augen, sondern ein Aufnehmen mit all unseren Sinnen, welche die Seele bewegen und Vorstellungen im Gedächtnis platzieren.“209 Sie hat damit, ohne sich dessen bewusst zu sein, einen Kernbereich epi‑ kureischer Rezeption der frühen Neuzeit auf Vermeers Bildschöpfungen übertragen. Der Titel ihrer Arbeit Vermeer und die Schärfung der Sinne sowie die hier zitierte Stelle erinnern sehr deutlich an Pierre Gassendis epikureische Argumentation, dass alles Wissen nur durch die Sinne vermittelt werde, und es ist äußerst stimmig, dass
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Der Tastsinn des Auges
51 Vermeer, Briefschreibe‑ rin mit Dienstmagd, Dublin, National Gallery of Ireland
sich deren konzentrierte Stimulation in diesem Küchenbild mit seinen einfachsten Genüssen findet. 210 Besonders sensibilisiert wird die Fülle sinnlicher Anregungen auch durch gewebte oder geknüpfte Teppiche, die der Maler als zur Seite gezogene Vorhänge oder als räumlich-optische Barrieren gerne im Vordergrund drapiert. Vor allem in den flächi‑ gen, farbigen Mustern, die den Bergen und Tälern der textilen Faltungen folgend zu plastischen Gebilden werden und dem Licht wechselvolle Möglichkeiten bieten, For‑ men und Farben in taktilen und luminaristischen Effekten zu variieren, brilliert Ver‑ meers Kunst des begreifenden Sehens. Die Glätte raschelnder Seidenstoffe, die kühle Glasur eines Fayencekruges oder die flockige, weiche Wärme eines Pelzbesatzes ver‑ mitteln sich synästhetisch dem Auge wie der Hand. Aber er begnügt sich nicht mit Kostbarem, sondern macht ebenso die unbedeutendsten Dinge wie die Knickfalten einer Landkarte, den im Streiflicht wellig modellierten Wandverputz in der Musikstunde oder einen vergessenen Nagel zum quasi berührbaren malerischen Ereignis, wie wir das bei der Frau mit der Goldwaage (Abb. 36) und der Milchmagd (Abb. 23) entdecken können. Sogar kleine ausgebrochene Löcher im leicht unebenen und ver‑ brauchten Verputz in der Kammer der Milchmagd oder unter dem großen Gemälde hinter der Briefschreiberin mit Dienstmagd (New York, The Frick Collection) 114
Der Tastsinn des Auges
52 Pieter Codde, Student mit Pfeife am Schreibtisch, Lille, Palais des Beaux-Arts
(Abb. 51) und links über der Landkarte in der Malkunst (Abb. 14) werden zum je ei‑ genen kleinen innerbildlichen Trompe-l’œil. Hier stellt Vermeer den Blick auf äu‑ ßerste Schärfe; ein Nagel oder ein kleiner Schaden in der Wand lassen sich nicht im sanften Sfumatomodus darstellen. Es ist, als fühle Vermeer sich den Dingen – auch den trivialsten gegenüber – zu ei‑ ner Zuteilung von tastbarer Sichtbarkeit oder sichtbarer Tastbarkeit verpflichtet. 211 Damit stellt er sich allerdings in eine Tradition, die diesen trivialsten Kleinigkeiten eine geradezu virtuose Aufmerksamkeit widmet, wie es etwa bei Pieter Codde in sei‑ nem Student mit Pfeife am Schreibtisch von 1633 (Lille, Palais des Beaux-Arts) zu finden ist (Abb. 52). Die fleckige, marode Wand mit Nagel und Loch quittiert seine lustlose, melancholische Geistesverfassung mit einem feinen, aber unübersehbaren Kommentar. Wie verloren steht Rembrandts Maler in der Werkstatt (Boston, Museum of Fine Arts) (Abb. 53), herausgeputzt mit Hut und einem behäbigen, bequemen, aber durch‑ aus lächerlichen Meisterhabit vor dem massigen Gestell einer Staffelei. Mit ihrer fins‑ teren von rückwärts zu sehenden riesigen Tafel stellt sie sich dem kleinen Möchte‑ gern-Malerfürst furchteinflößend als drohende Überforderung entgegen. 212 An dem mit geradezu aufdringlicher Hingabe „portraitierten“ bröckelnden Gemäuer des
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53 Rembrandt, Der Maler in der Werkstatt, Boston, Museum of Fine Arts
trostlosen Raumes sind minutiös sogar kleinste Lichtkanten wiedergegeben. De‑ monstrativ hält es dem ratlosen Ehrgeiz imaginärer Phantasie lakonisch die reiche malerische Ruinosität der Wirklichkeit als lohnendes Studienobjekt für einen ange‑ henden Maler entgegen. Die höchste Stufe der Kunst kann nicht als erste erklommen werden. Natürlich sind hier auch andere Lesarten möglich, aber wohl kaum eine käme ohne Überlegungen zum ironischen Selbstbild des Künstlers aus. Dergleichen Lektionen versagt sich Vermeer offensichtlich. Es wäre sinnlos, die vergessenen Nägel in seinen Interieurs als Aufhänger für unterschwellige moralische oder pädagogische Botschaften zu bemühen, sei es an ihre Bewohnerinnen, sei es an uns Betrachter oder den Maler selbst. Vielmehr kultiviert er ein „taktiles Sehen“ um seiner selbst willen. Hartmut Böhme bringt dies bereits für die Nachfolge Van Eycks bei Petrus Christus am Beispiel von dessen hl. Eligius in der Werkstatt (Paris, Lou‑ vre) treffend mit der „Skulpturalisierung der Dinge durch das Licht“ in einen funk tionalen Zusammenhang. 213 Vermeers Hingabe an die Erkenntnishaftigkeit der Sinne beruht auf dieser altniederländischen Tradition. Weil dergestalt das Anschauen als transformierte Berührung Greifbarkeit suggeriert, kann es sich auch niemals im Un‑ bestimmten verlieren, das andernorts so kennzeichnend für die barocke Malerei ist. Doch gleichzeitig spielt Vermeer auch mit der malerischen Entwertung von Plastizi‑ 116
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tät. Aus der Nähe betrachtet sind die beleuchteten und verschatteten Partien der Briefschreiberin mit Dienstmagd (Abb. 51) nur flächige, scharfrandig voneinander getrennte Muster. Freilich würde man bei Epikur vergeblich nach der Erwähnung von dergleichen ästhetischen Qualitäten suchen, doch harmonieren sie als multiple voluptas oculorum, wie sie nur wenige andere holländische Zeitgenossen zu bieten haben, vorzüglich mit seinem erstrebenswerten Lustprinzip der hedoné. Da sie doch so klar und transparent strukturiert sind, scheint es einfach und be‑ quem, sich vor Vermeers Bildern der Illusion zu überlassen, dass diese schnell und bei‑ nahe augenblicklich zu erfassen seien. Dieser Eindruck ist nicht ganz verkehrt, doch bei genauerem und völlig ruhigem Schauen wird deutlich, dass das kaum ausreicht. Vermeers Gemälde verlangen nach einer langen und intensiven Betrachtung. Nicht dass die optischen Verhältnisse sich nach und nach als komplizierter darstellen wür‑ den, vielmehr ziehen sie ein körperliches Mitfühlen auf sich, welches das Sehen nach einer anderen Wahrnehmungsebene hin erweitert. Der Grund dafür ist nicht etwa eine übermäßig forcierte Plastizität der Dinge, auch sind es keine effektvollen Beleuch‑ tungsverhältnisse oder willkürlichen Helldunkelverteilungen; nichts von dem, was die Nachfolge Caravaggios in den Niederlanden so folgenreich werden ließ, hat sich Vermeer im Sinne überraschender Bildwirkungen angeeignet. Seine Malerei ist nicht auf stupende Effekte angelegt. Aber er setzt in subtiler Weise plastische und optische Qualitäten ein, ja, er spielt sie sogar gegeneinander aus. Dafür nur zwei Beispiele: Im eben erwähnten frühen Werk steht das Dresdener Brieflesende Mädchen am offenen Fenster (Abb. 11) hinter einem Tisch, auf dem sich links im Vordergrund ein prächti‑ ger Knüpfteppich zu einem tief verschatteten Faltengebirge aufstaut. Ein kostbarer Porzellanteller mit Früchten liegt wie achtlos zur Seite geschoben schräg auf dem schweren Stoff. Dieses kleine Stillleben ist ein Ausbund an plastischer Suggestions‑ kraft. Der Flor auf den Faltenbergen überlässt sich einer optischen Auflösung in Form winziger Lichtpunkte, dem berühmten Pointillé Vermeers. In noch feinerer Ausfüh‑ rung bestimmt dieses auch die Oberfläche der Quitte, der Äpfel und Pfirsiche. Die haptische Greifbarkeit verflüchtigt sich hier in einer luminosen Aura. Aber umgekehrt weckt diese das Verlangen, sich der doch ebenso suggestiv präsentierten Körperlich‑ keit fühlbar zu versichern, gerade weil sich ihre taktilen Grenzen auflösen. Ähnlich ist Vermeer mit dem Stillleben auf dem Tisch der Milchmagd (Abb. 23) verfahren. Anders geht er aber bei dem Braunschweiger Mädchen mit dem Weinglas vor (Abb. 2). Der haptische Blickfang der Stoffe, wie ihn das blütenweiße, scharffaltige Tuch auf dem Tisch, das Seidenkleid und die plissierten Manschetten der Bildperso‑ nen bieten, findet keine Entsprechung in dem leicht verschwommenen Sfumato ihrer Gesichter. Als ob hier der dingliche, stoffliche Kontakt optisch verweigert und die Persönlichkeiten gleichsam geschützt werden sollten, wendet Vermeer zwei verschie‑ dene Modi des Sehens an: eine Gestaltung, die sich der Berührung darbietet, und eine andere, die ihre Objekte dieser imaginären Greifbarkeit entzieht. Gerard ter Borch ist berühmt für seine Fähigkeiten in der Wiedergabe kostbarer, glänzender Atlaskleider und er stellt die Frauen, die solche tragen, mit Vorliebe vor
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dunkle Bildgründe oder lässt sie in seinen Interieurs als Blickfang aufleuchten, neben dem alle anderen Personen und Gegenstände zweitrangig werden. Ter Borch legt kei‑ nen großen Wert auf ein inneres Kontinuum seiner Bildstrukturen, vielmehr pflegt er optische Hierarchien, die dem Auge oft nur unklare räumliche Verhältnisse darbie‑ ten. Vermeer baut seine Bilder anders auf. Die in Darstellungen von Innenräumen seit dem Ende des fünften Jahrzehnts stets lückenlos nachvollziehbare Perspektivität führt den Blick bis zur gegenständlich klar definierten Rückwand der Räume. Würde man diese Räume einem Blinden beschreiben, so könnte er sich in den meisten von ihnen leicht von Gegenstand zu Gegenstand vortasten, ohne die Gefahr über uner‑ wartete Hindernisse zu stolpern. Nur Vermeers Allegorie des Glaubens (Abb. 57) wäre eine bezeichnende Ausnahme. Ter Borchs Räume würden sich nicht in derselben Weise vermitteln lassen. Nicht von ungefähr widmet Vermeer den Begegnungen von Hand und Ding be‑ sondere Aufmerksamkeit und fast immer stellt er diese ins Zentrum seiner Komposi‑ tionen: So bei dem Herrn, der in Die Weinprobe den Henkel des weißen Kruges fasst (Abb. 16), bei der Milchmagd, die sorgsam mit beiden Händen das Rinnsal aus dem glasierten Tongefäß dosiert (Abb. 23), bei der Frau mit der Goldwaage, die die Ruhe ihrer Hand auf das zarte Gerät überträgt (Abb. 36), bei dem beschwipsten Mädchen mit dem Weinglas, das sich die unterstützende Berührung ihrer Hand durch den schmeichelnden Herrn gefallen lässt (Abb. 2), bei der Briefleserin am offenen Fenster in Dresden (Abb. 11) und der Briefleserin in Blau (Amsterdam, Rijksmuseum) oder bei der auf die Geschicklichkeit ihrer Finger konzentrierten Spitzenklöpplerin (Paris, Musée du Louvre). Diese und manch andere von Vermeers Bildpersonen geben sol‑ chen Momenten der Berührung im Stillstehen der Handlungen an zentraler Stelle Dauer. Die subtilste Steigerung, welche das Sehen und Berühren erfahren, vollzieht die junge Frau mit der Wasserkanne (New York, Metropolitan Museum of Art) (Abb. 34), die den Fensterflügel mit der einen Hand öffnet und die silberne Kanne mit der anderen auf das glänzende Becken neben sich stellt. Sie, die selbst eine helle und peripher durchschienene Gestalt ist, bildet eine luminaristische und gleichwohl kör‑ perliche Brücke vom Licht des Fensters zu dem schimmernden Metall. Die schlichten taktilen Ereignisse gewinnen an Bedeutung dadurch, dass sie beim Betrachter synästhetisch die gleichen oft gemachten Erlebnisse wachrufen. Im genie‑ ßenden Sehen verstärken sich Optisches und Haptisches gegenseitig zu einer sensuel‑ len Gegenwart, die nicht über sich hinausweist und nicht ins Übersinnliche transzen‑ diert. Im Hier und Jetzt findet Vermeers Bildwelt ihre Erfüllung. Das sagen uns nicht nur seine Menschen, sondern auch die Dinge, die er malt, und der Umgang mit ihnen. Das Glück ist in dieser Welt und nur in ihr zu finden. Darin liegt der tiefe Einklang von Vermeers Malerei mit der „materialistischen“ Ethik Epikurs. Doch weder dem einen noch dem anderen war es um plumpe Behaglichkeit zu tun. Insofern unter‑ scheidet sich Vermeers vornehme Diesseitsbindung von der, die bei manch anderen holländischen Malern ihren mehr oder weniger derben Ausdruck gefunden hat.
Genuss oder Ehe (Lust oder Liebe) Vermeer hat nur selten Gebrauch von der reichen Emblemliteratur seiner Zeit ge‑ macht. Manches aus dem Fundus an Maximen, Sentenzen und Lebensweisheiten, die in der barocken Kombinationskunst von Bild und Text in reizvoller Verrätselung als zu beherzigende Einsichten dargeboten wurden, konnte er klar formuliert auch bei Epikur finden. Etwas zugespitzt ließe sich sagen, dass Vermeer Gemälde geschaffen hat, die – freilich erheblich über die knappe sinnbildhafte Form hinaus erweitert – dem Ikon des klassischen dreiteiligen Emblems entsprechen. Dabei ist die Formulie‑ rung eines jeweils passenden Mottos dem Scharfsinn des Betrachters und die Auffin‑ dung eines entsprechend sinnreichen Epigramms seiner Kenntnis von Quellen der Lebensklugheit oder sogar epikureischer Lehren überlassen, sofern er sie nicht wie auf dem Tasteninstrument in der Londoner Musikstunde mit der Weisheit „MUSI‑ CA·LETITIAE·CO[NSOR]S·MEDICINA·DOLOR[UM] (Abb. 46, 47) schon vorge‑ geben fand. Insoweit ist Vermeer kaum anders verfahren als solche Maler, die in ihrer Kunst die zeitgenössische Emblematik verarbeitet haben. Es lohnt sich daher, noch einmal auf die an ihrem Muselar stehende und ermun‑ ternd dem Betrachter entgegenblickende Dame zurückzukommen (London, National Gallery) (Abb. 13, 54). Sie steht in dem hellsten und freundlichsten Raum, den wir von Vermeer kennen, und sie ist eine etwas gereiftere Schönheit als die jungen Frauen, die Vermeer sonst für seine Bilder bevorzugt hat. Offenbar schlägt sie einen Akkord,
54 Vermeer, Dame am Virginal stehend, Ausschnitt, London, National Gallery
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55 Otto van Veen, Amorum Emblemata
also eine harmonische Tonkombination an. Die helle arkadische Landschaft auf dem Deckel des Instruments veranschaulicht gleichsam spiegelbildlich die innere Ge‑ stimmtheit der Dame. Sie wirkt sehr gepflegt, freundlich und äußerst sympathisch, ist kostbar in Seidenatlas gekleidet und zweifellos wohlhabend, sittsam, eine gute Partie, geradezu das Idealbild einer repräsentativen Hausherrin und potentiell guten Ehefrau und Mutter. Ihr Lächeln hat in keiner Weise die Anmutung verführerischer Absich‑ ten, auf die in holländischen Genrebildern gerne angespielt wird. An der Rückwand des Zimmers hängt neben einer kleinen sonnigen und goldgerahmten Felsenland‑ schaft ein anderes, unübersehbar großes Bild. In einem ernsten schwarzen Rahmen tritt uns energisch die helle Gestalt eines munteren Amor entgegen, der auffordernd ein weißes Kärtchen hochhält (Abb. 54). Die naheliegende Vermutung, er sei hier als Postillon d’amour unterwegs, wie üblicherweise angenommen wird, 214 bestätigt sich bei genauerer Betrachtung durchaus nicht. Für einen Brief ist das weiße Rechteck in seiner Hand zu klein, auch finden sich darauf weder Schrift noch Siegel. Längst und zutreffend ist gesehen worden, dass der kleine Liebesgott ein wohlbekanntes Zitat aus Otto van Veens (Vaenius) Amorum Emblemata (Zinnebeelden der Liefde) von 1608 darstellt (Abb. 55). 215 Dort ist auf dem von Amor präsentierten Täfelchen eine stolze 1 unter einem Kranz zu sehen. Eine weitere Tafel, auf die er den Siegerfuß setzt, zeigt einige Zahlen von 2 bis 10. Der Sinn seines propagandistischen Auftritts wird bündig erklärt. Das Lemma dieses Emblems – es ist das zweite in der Sammlung die‑ ser Sinnbilder van Veens – lautet: „Perfectus amor non est nisi ad unum“ / „Vol‑ maakte liefde is er alleen voor één“. Es gilt nur eine einzige Liebe zu haben und nur zu einem Menschen; nur sie ist vollkommen. Mehrere aber sind unvollkommen und nichts wert, sie verlieren die Kraft wie ein Fluss, der vertrocknet, wenn er sich in viele Arme verteilt. So erklärt es van Veen durch das Epigramm in mehreren Sprachen. Aber was möchte der Liebesgott im Ambiente der musikalischen Dame mit seiner Paraphrase des van veenschen Emblems signalisieren? Was ist seine Botschaft? Will er auch hier für die eine und einzig wahre Liebe votieren? Diese Vermutung stellt sich 120
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bei genauer Betrachtung als problematisch heraus, denn das Kärtchen, welches er hochhält ist leer, zeigt keine 1, und zu seinen Füßen findet sich auch kein Täfelchen mit verworfener Mehrzahl. Offenbar wurde die emblematische Vorlage des Otto van Veen hier mit Bedacht und Hintersinn verändert. Doch was könnte mit dieser Abwei‑ chung bezweckt sein? Die Forschung hat dafür keine überzeugende Erklärung ge‑ funden, kaum einmal die Differenz gesehen oder gar diskutiert. 216 Indessen ist die Lösung des Rätsels einfach. Eine Karte ohne irgendeine Zahl in Amors Hand bedeutet hier schlicht: „keine Liebe!“ Eine sonderbare Empfehlung des wichtigen kleinen Unruhestifters hinter dem Rücken der sympathischen Bewohnerin, sollte man meinen, ist er doch von Amts wegen für die Stimulation erotischen Begeh‑ rens zuständig. Aber auch eheliche Beständigkeit, für die er bei Otto van Veen so un‑ beirrt eintritt, ist ihm sonst keineswegs ein Anliegen. Doch gerade hier im Unter‑ schied zwischen Liebe und Lust plaziert Vermeers Cupido seine Botschaft und hält das leere Signal deutlich vor den Hintergrund eines düster drohenden Himmels. Das ist gewiss als Warnung zu verstehen, wenn man in Betracht zieht, was Epikur und insbesondere auch sein römischer Apologet in eroticis zu bedenken geben. Die Überlegungen des Griechen und die weitausholenden Argumentationsschlei‑ fen des Lukrez217 lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Gut beraten ist, wer – sofern es ihm möglich ist – geschlechtlichen Freuden entsagt. Sie könnten ihn um seine Seelenruhe bringen. Sofern ihm dies aber schwerfalle, weil es umso mehr Unbe‑ hagen verursachen würde, möge er sich ihrer bedienen. Doch eines solle er unter al‑ len Umständen vermeiden: Liebe, die ihn an eine Person bindet. Denn die Seelennöte, der Wahn, die Wirrungen und Irrungen, die Täuschungen und Enttäuschungen, die Leiden und vieles mehr, was mit der Liebe einherzugehen droht, bedeuten eine Un‑ freiheit, die dem Weisen schlecht ansteht. „Aber entfliehe den Bildern, entreiße der Liebe den Zunder / Ihres Feuers und wende den Sinn auf anderen Vorwurf: / Wirf den gesammelten Reiz auf andere Körper und halt / Ihn nicht für die eine zurück, für die du die Neigung gewonnen, / Um dir sichern Verdruß und langen Kum‑ mer zu sparen.“218
So empfiehlt es Lukrez. Aber er nennt Auswege: „Wer die Liebe vermeidet, entsagt deshalb dem Genuss nicht, / Welchen Venus ihm beut; er greifet nach ihren Geschen‑ ken / Und entfernet die Pein. Denn unverdorbnere Freude / wird dem Gesunden zu Teil als dem, der siechet von Liebe.“219 Aus dieser Perspektive scheint die Botschaft Amors in Vermeers Frau am Virginal klar: Sie bezieht sich nicht auf die Harmonie intonierende und der Liebe in vorneh‑ mer Absicht anscheinend nicht abgeneigte Dame, sondern auf den Betrachter, der von dem Liebesgott so unmissverständlich auffordernd angeblickt und auf sein Signal aufmerksam gemacht wird. Während Amor in Van Veens Emblem ohne unmittelba‑ ren Adressaten agiert, ist er bei Vermeer in einem stummen Dialog der Blicke mit dem außerbildlichen Bewunderer der Musikliebhaberin engagiert, und seine Botschaft ist personalisiert. Dieser Cupido bedeutet dem Betrachter mit seinem leeren Kärtchen:
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Verliebe dich nicht! Genieße den fleischlichen Eros, wenn es dir Beruhigung schenkt, aber halte dich fern von Bindungen des Gemüts! In Otto van Veens Emblem hat Amor den Bogen abgesetzt. Da seine Mission er‑ füllt ist, muss er hier keine neuen Pfeile abschießen. Bei Vermeer kommt derselben Haltung ein deutlich anderer Sinn zu: Er wird keine Liebeswirren anzetteln; auch hier kein Köcher, keine Pfeile, und der Bogen hat nur noch die Aufgabe eines Spielzeugs oder Spazierstocks, denn es geht allenfalls um unverbindliche Amouren, um Vergnü‑ gungen und nicht um die ernsthafte Liebe mit all ihren Konsequenzen und Lasten. Noch einmal ist hier an Epikurs bereits zitierte Einschätzung von Ehe und Familie zu erinnern: „Ferner wird der Weise nicht heiraten und Kinder zeugen,[…]. Nur unter besonderen Lebensumständen würde der eine oder andere heiraten, nicht ohne ein gewisses Schamgefühl.“220 So hat es Diogenes Laertios in seinem Epikur gewidmeten Buch überliefert. Ferner lesen wir dort: „Dass der Weise sich verliebe, dünkt ihnen [i. e. den Anhängern Epikurs] nicht recht“; „auch sei die Liebe kein Gottesgeschenk.“221 Die Dame und der kleine Intrigant blicken den Betrachter an, doch die Absichten, die sich jeweils darin ausdrücken, könnten verschiedener nicht sein. Vermeer begeg‑ net uns hier als unübertroffener Meister in der physiognomischen Wiedergabe sub‑ tilster Verhaltensformen. Während sie vornehm zurückhaltend lächelt, ihr Gegenüber erwartungsvoll mus‑ tert, zugleich musikalisch Kontakt herstellt und einlädt, näher zu treten, lautet die imaginäre Warnung Amors: Halt! Liebe nicht diese und nicht so eine, so reizvoll sie auch sein mag, und liebe überhaupt nicht, sonst wirst du geheiratet und dir droht ein Haus voller Kinder; um deine Ruhe ist’s geschehen! Der Stuhl im Vordergrund des Bildes soll – so er denn als ein Symbol domestizierender Häuslichkeit verstanden wer‑ den kann – dem hoffentlich weisen Betrachter vergeblich angeboten sein und leer bleiben, wie er ist. Eine subtile Warnung vor dem Ehestand wird möglicherweise auch mit dem klei‑ nen Landschaftsgemälde angedeutet, das eine in der holländischen Malerei eher sel‑ tene Motivwahl zeigt. 222 Es ist kaum anzunehmen, dass es beziehungslos neben dem Bild des Aufmerksamkeit fordernden Liebesgottes hängt. Die freundliche Stimmung ist zwar auf den ersten Blick einladend, doch dann bemerkt man das fast kahle, fel‑ sige Gelände, über welches im Hintergrund schwere Wolkenmassen aufziehen, schon die Hälfte der Himmelsfläche bedecken und bald die Sonne verhüllen werden. Ein Gewässer, zwei Häuser und eine Schafherde sind angedeutet. Von seinem leuchtend goldglänzenden Rahmen eingehegt, prophezeit dieses Gelände dem zu ehelicher Ver‑ bindung Geneigten trotz seiner idyllischen Anmutung wohl ein hartes, arbeitsvolles und steiniges Leben in einem vergoldeten Käfig, das einem nach hedoné, nach Lust, Freude und Seelenruhe strebenden Weisen überaus hinderlich wäre. 223 Zu bedenken ist natürlich, dass auch im 17. Jahrhundert Liebe sehr wohl in eine Ehe münden konnte, aber ein Kausalitätsbündnis zwischen beiden nicht der Regelfall war. Wie auch immer die an ihrem Instrument stehende Dame über dergleichen den‑ ken mag, sie ahnt anscheinend nicht, was der Amor an der Wand in Wahrheit treibt.
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Doch wie kann das sein? Er ist doch nur eine Bildfigur, die noch genauso dastehen und agieren wird, wenn – lassen wir einmal in Gedanken die minimalistische Erzäh‑ lung weitergehen – der Betrachter seine epikureische Lehre erhalten hat, seiner Wege gehen, und die Schöne sich wieder ihren häuslichen Angelegenheiten widmen wird. Wie könnte sie denn sehenden Auges ein Bild in ihrem Ambiente dulden, das ihre Herzenswünsche durchkreuzt! Das bedeutet womöglich, dass sie in dem Cupido und seinem hinterhältigen Agieren etwas anderes wahrzunehmen glaubt als das, was uns soeben deutlich geworden ist. Doch was könnte das sein? In Frage kommt zunächst einmal doch nur, dass sie demselben Missverständnis erliegt, wie jene Interpreten, die hier nur den Liebesboten als ein treuherziges Zitat aus den Emblemata van Veens sehen können und über die kleinen, aber so bedeutsamen Veränderungen, über die Brisanz der Carte blanche in der Hand des „Verräters“ nicht weiter nachdenken. Die Dame leistet also, wie es scheint, jenen Betrachtern Gesellschaft, welche die clavis interpretandi nicht suchen oder ignorieren und sich mit der Annahme begnü‑ gen, ein Amor sei eben Cupido und stehe für die Liebe schlechthin und besorge zu‑ verlässig deren Geschäfte. Hier begegnen wir also ein weiteres Mal einem Vermeer, der Fallen stellt, indem er den Betrachter sehen lässt, was er erwartet, ihm aber wo‑ möglich die eigentliche Botschaft vorenthält, sofern er nicht genau hinsieht und nach‑ denkt. Wer sich dieser Mühe verweigert, ist dem Spiel ausgeliefert, das Vermeer mit den anscheinend Ahnungslosen treibt, mit der erwartungsvollen Dame im Bild und dem unbedarften Betrachter davor. Dieses Gemälde kann also auch als eine ironische Lektion in Sachen Bildbetrachtung und Bildverständnis interpretiert werden, die ver‑ deutlicht, dass wir uns bei Vermeer nie sicher fühlen dürfen, wenn wir uns nur in den üblichen Bahnen der ikonographischen Konventionen der Zeit bewegen. Freilich hätte der Maler, um den epikureischen Aussagen über die Vermeidung von den Beschwernissen der Liebe die größte Eindeutigkeit zu verleihen, einfach eine Null auf das Kärtchen in der Hand Amors schreiben können, das uns hinter der an ihrem Muselar stehenden Dame warnt. Jedem, der die überaus populären Amorum Emblemata des Otto van Veen kannte, würde der Sinn der so veränderten Botschaft ohne weiters klar geworden sein. Doch das wäre in seiner Deutlichkeit plump gewe‑ sen und würde den Reiz der Interpretation verkürzt und zu sehr eingeengt haben, denn auch Vermeers Kunst lebt nicht zuletzt vom vielfältigen Diskurs und wetteifern‑ den Gedankenaustausch der Betrachter – eine immanente Aufforderung, die heute so aktuell ist wie damals. 224 Umso mehr empfiehlt es sich, auch alternativen Interpretationsvorschlägen Gehör zu schenken, denn nicht jedem muss gefallen, dass die Dame die Dumme in diesem Spiel ist, da sie ja keineswegs den Eindruck naiver Ahnungslosigkeit macht. So wäre etwa nicht auszuschließen, dass es sich bei ihr um eine gebildete Frau, sogar eine Jün‑ gerin epikureischer Lehren handelt, die mit dem zehnten Buch des Diogenes Laertios vertraut und wohlbewandert im Lehrgedicht des Lukrez ist und vielleicht auch Ovids Remedia amoris kennt, die ganz im Sinne Epikurs laut der Vorrede ihres Autors dazu dienen sollen, unglücklich Verliebte vor allzu großem Leiden oder gar Selbstmord zu
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bewahren. 225 Sie könnte über das Leben Epikurs wissen, dass der Philosoph unverhei‑ ratet blieb, aber die Freuden der Erotik durchaus zu schätzen verstand und mit Hetä‑ ren regen Umgang und auch Briefverkehr pflegte. Warum sollte sie als Besitzerin des Bildes die Botschaft Amors und des leeren Kärtchens in seiner Hand nicht zu der ih‑ ren machen, auch wenn sie selbst keine Hetäre sein muss? Sollte es sich denn so ver‑ halten, dann würde dem Betrachter signalisiert: Hier findest du Freundschaft und Musik, gebildete Unterhaltung und alle erdenklichen Wonnen. Aber vor den Leiden der Liebe und festen Bindungen wird gewarnt. Denn das würde sowohl der Dame im Bild als auch dem Betrachter die Freiheit rauben. Ovid hat es auf eine berühmte For‑ mel gebracht: „Principiis obsta, sero medicina paratur!“ – Wehre den Anfängen, zu spät wird ein Heilmittel bereitet!226 Welcher Lesart auch immer der Vorzug gegeben werden mag, die Warnung Epikurs in Amors Hand ist jedes Mal die gleiche und kaum zu ignorieren. Mit christlichen Moralvorstellungen steht sie allerdings nicht im Einklang. Nicht viele Gemälde Vermeers beziehen sich derart zweideutig und dennoch un‑ missverständlich auf epikureische Empfehlungen. Das ist auch insofern bemerkens‑ wert, als gerade in diesem Fall die buchstäblich hintergründige Aussage des Bildes kaum einem damals allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Konsens entsprochen haben dürfte. Betrachter, die das Spiel durchschauten, könnten damit je nach ihrer moralischen Prägung in ihrer apatheia auf die Probe zwischen Entrüstung und Belus‑ tigung gestellt letztlich aber zum Nachdenken angeregt werden. Hier und an anderen Beispielen möchte deutlich geworden sein, dass Vermeer nicht nur Metaphern und Stichworte epikureischer Ethik ikonographisch umsetzt, sondern auch Tarnkappen scheinbarer Affirmation nutzt, um ihren von gesellschaft‑ lichen Konventionen abweichenden und subversiven Botschaften den Boden zu berei‑ ten. Allerdings stimmt das helle, freundliche Timbre, das den Charakter seiner Kunst vorwiegend kennzeichnet, mit der sanften, aber auch jenseits christlicher Werte und wohlfeiler Moralvorstellungen gelagerten Weisheit Epikurs überein. Der offene, auch einladende künstlerische Habitus des Malers ist weit davon entfernt, irgendwelche Normen dogmatisch einzufordern, ist aber eng verwandt mit der Kunst des Lebens, der sich der alte Grieche verschrieben hatte. Offenbar hat Vermeer diesem Amor ein besonderes Interesse entgegengebracht. In drei Gemälden begegnet er uns in jeweils verschiedenen Varianten als Bild im Bild. Die unterbrochene Musikstunde (New York, Frick Collection) (Abb. 56), zeigt eine junge Dame an einem Tisch sitzend, auf dem ein Fayencekrug und ein Glas Rotwein neben einem Notenheft und einer (häufig fälschlicherweise als Laute bezeichneten) Cister stehen. Ein stattlicher junger Herr, bekleidet mit einem weiten Reiseumhang, ist herbeigetreten und beugt sich leicht nach vorne, wobei er sich auf die Stuhllehne der Dame stützt und auf das Schriftstück in ihren Händen blickt. Offenbar pflegen die beiden Personen einen vertrauten Umgang miteinander. Die Kleidung lässt wie bei der Berliner Weinprobe (Abb. 16) auf eine nur kurze Visite dieses Herrn schließen. Doch ob er soeben eingetroffen ist, um das Papier zu überreichen oder ob er es gerade
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56 Vermeer, Die unterbrochene Musikstunde, New York, Frick Collection
in Empfang nimmt, um sich sogleich wieder auf den Weg zu machen, ist unklar. Als würde sie durch unsere Anwesenheit abgelenkt, blickt die Frau aus dem Bild, doch ohne Erstaunen oder Verlegenheit, so als seien wir keineswegs unwillkommen, viel‑ leicht sogar erwartet worden. Sollen Musik, Vogelbauer und Amor suggerieren, dass es sich bei dem Blatt um ei‑ nen Liebesbrief handelt? Diese Auffassung wird in der Literatur zumeist vertreten. Doch wie kann das sein? Möchte man denn einen Liebesbrief unverschlossen und un‑ versiegelt überbringen lassen oder abschicken, und würde die Empfängerin einem Dritten so freizügig Einblick in intime Botschaften gewähren und sie zum Gegen‑ stand gemeinsamer Lektüre machen wollen? Das ist kaum anzunehmen. Das Blatt, auf dem nichts zu erkennen ist, soll wohl eher Noten wie jene auf dem Tisch oder mu‑ sikalische Instruktionen enthalten, irgendwelche sachlichen Dinge, kaum aber Lie‑ besschwüre. In dem großen, schwarz gerahmten Bild an der Rückwand des Zimmers taucht dunkel der nackte Amor auf. Seine hier überraschend plumpe Figur ist schemenhaft und mehr zu erahnen als zu sehen. Schon gar nicht erkennbar ist, was er in der erho‑
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benen Hand hält; eine Botschaft hat er offenbar nicht zu überbringen. Zwar ist Ver‑ meers Gemälde in keinem guten Erhaltungszustand, was erklären mag, dass das Schriftstück in den Händen der beiden Bildpersonen leer ist, doch kann das kaum der Grund sein für das geisterhafte und schwerfällige Phänomen dieses Amor und dessen dämmeriges Auftauchen, das zugleich ein Verschwinden ist. Als Liebesbote wie auch immer wird er in dieser unbeholfenen Erscheinung hier keine Rolle spielen, und für Freundschaft, Vertrautheit in intellektuellen Dingen ist er ohnehin nicht zuständig. Van Veens Amor bekommt seine spezifische Aussagefähigkeit erst durch die Modali‑ täten und den Grad der Deutlichkeit, mit denen er als Zitat aufgerufen wird. Mit ganz wenigen Eingriffen kann die Absicht seiner ursprünglichen Aussage aber auch ins Gegenteil verkehrt werden oder seine defiziente Erscheinung deren Irrelevanz ver‑ künden. Nun liegt bei solchen Überlegungen der Verdacht auf Überinterpretation nahe. Andererseits ist kaum anzunehmen, dass Vermeer, der seine Werke derart sorgfältig durchdacht und konzipiert hat, Bilder in seinen Gemälden wiedergegeben haben wird, die im Hinblick auf deren „Lektüre“ bedeutungslos sind. Die ikonischen Sub‑ texte der Bilder im Bild wollen gelesen und als Angebote im Kalkül der Interpretation erwogen werden. Dabei kommt es wohl weniger darauf an, ob und welchen Malern sie zugeschrieben werden können, als vielmehr in welchem Verhältnis sie zu dem Kontext stehen, dem sie integriert sind. In dieser Hinsicht müssen bei Vermeer aber noch manche Fragen offen bleiben wie etwa jene nach der Bedeutung des großen Gemäldes in der Londoner Musikstunde (Abb. 46), das vom rechten Bildrand stark überschnitten und fragmentiert wird. Es ist undeutlich genug wiedergegeben, um Neugier zu wecken. Als Teil einer Caritas romana-Szene hätte sich dieses Fragment nur einem Kenner der Vorlage er‑ schlossen. Wollte Vermeer mit einem solchen rechnen? Wegen des für diese Erzäh‑ lung häufig verwendeten Kompositionsschemas war es nicht ausgeschlossen, dass das Sujet dieses Bildes im Bild wiedererkannt werden konnte, allen Schwierigkeiten zum Trotz, die der Maler dem bereitet hatte. Erst der jüngeren Vermeerforschung ist das ja tatsächlich gelungen. 227 Wie sollte dieses Zitat eines Gemäldes aus dem Umkreis des Dirk van Baburen zu verstehen sein? Es zeigt ja nur den nackten, kahlen Alten mit auf dem Rücken gefesselten Armen – er ist der einzige betagte Mensch in Vermeers Bildern überhaupt –, verschweigt aber den Kern der Geschichte. Der Glücksfall einer solchen Entdeckung konnte die Interpretation entweder auf den erotischen Aspekt der Pero lenken, die ihrem zum Tod durch Verhungern verurteilten Vater Cimon im Gefängnis die Brust mit ihrer Muttermilch gibt. Wer mit der von Valerius Maximus erzählten Historie vertraut war, 228 mochte an die zwiespältigen Empfindungen der Tochter denken, die einerseits glücklich ist, ihren Vater am Leben zu erhalten, ande‑ rerseits aber Angst hat, von den Gefängniswärtern entdeckt zu werden. Ja, auch der glückliche Ausgang, der diese wagemutige Tat mit der Begnadigung des Cimon be‑ lohnte, konnte bedacht werden. Nächstenliebe und Menschlichkeit mögen mit die‑ sem Zitat aufgerufen sein oder auch beides. Doch warum beschneidet Vermeer es bis
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an die Grenze der Unkenntlichkeit? Warum zeigt er weder den heroischen Akt der Kindesliebe, noch dessen latente Erotik, geschweigen denn Aspekte menschlicher Größe? Wer das Sujet identifizieren konnte, hatte dennoch ein Problem. Der Besuch von Gefangenen hat im christlichen Kanon der Sieben Werke der Barmherzigkeit seinen festen Platz und ist oft am Beispiel der Caritas romana darge‑ stellt worden. Was aber, wenn dieses Werk nur in verstümmelter Form zitiert wird und kaum als solches erkennbar ist? Warum bietet Vermeer dieses in der Malerei des Barock so beliebte Thema einem Diskurs an, indem er es seinem Kontext zugleich entzieht? Offenbar wollte Vermeer eben diese christliche Assoziationsmöglichkeit ausschließen und dem Alten kein erkennbares Gegenüber und keine tröstende oder rettende Hilfe beigeben. Das wenige, was dieses fragmentierte Bild im Bild zu erkennen gibt, verbirgt die Erzählung von Pero und Cimon, und zeigt nur einen Menschen, der, seiner Freiheit beraubt, Schmerzen leidet. Von daher ergibt sich ein Bezug zu dem lateinischen Text auf dem geöffneten Deckel des Virginals: Musica laetitiae consors medicina dolorum. Es geht um Beseitigung von Schmerzen, dieses zentrale Thema der epikurei‑ schen Lebensphilosophie. Ob die Nöte des gefesselten Alten gelindert werden, ver‑ schweigt das Bildzitat. Dass sie aber real und existenzbedrohend sein müssen und Musik als Begleiterin der Freude ihm wohl kaum zur Hilfe kommt, lässt sich leicht vermuten. Darin unterscheiden sich seine Schmerzen fundamental von solchen, die in der lateinischen Spruchweisheit nur als abstrakte Möglichkeit und als Motto einer le‑ bensfrohen Gesellschaft angesprochen werden. Für Epikur ist die Abwesenheit von körperlichen wie seelischen Schmerzen bereits ein hoher Lustgewinn. Er unterscheidet zwischen starken und kurzen oder langan‑ haltenden Schmerzen und gibt Empfehlungen für den mentalen Umgang mit ihnen. Der weiße Fayencekrug auf dem teppichgedeckten Tisch im Bildvordergrund steht nicht zufällig genau vor dem Bildausschnitt an der Rückwand des Raumes. Er ist ein diskreter, aber unübersehbarer Hinweis darauf, dass es um Durst, um das Stillen ei‑ nes elementaren Bedürfnisses, um eine natürliche und notwendige Begierde geht, die Epikur sehr genau von anderen Formen des Verlangens unterschieden hat. 229 So stellt die Musikstunde nicht nur Freude, Musik und Schmerz in einen quasi epikureischtherapeutischen Zusammenhang, sondern öffnet sich auch dem ernsten Thema Schmerz und Entbehrung, gibt dies aber nur einer eindringlichen Befragung preis. Epikur ist als Verfasser von Briefen bekannt; Raffael zeigt ihn in der Schule von Athen schreibend (Abb. 20). Immerhin sind die Texte von drei Episteln an namentlich genannte Empfänger und weitere Bruchstücke überliefert. Briefe spielen in der hol‑ ländischen Malerei eine große Rolle.230 In der Bildwelt Vermeers sind sie, gemessen an dem geringen Umfang seines Œuvres, ein bevorzugtes Thema. Sieben von drei‑ unddreißig Gemälden haben das Lesen, Empfangen oder Schreiben von Briefen zum Gegenstand. Dass es sich dabei um Liebesbriefe handelt, wie so gerne angenommen wird, ist nicht generell auszuschließen, wird aber nur einmal durch Indizien gestützt wie sie der Der Liebesbrief zeigt (Abb. 32). Ebenso wenig ließe sich ein philosophi‑
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scher Inhalt der Schriftstücke belegen. Doch ist das Briefeschreiben und ‑lesen eine Tätigkeit, die in geradezu sinnbildhafter Deutlichkeit Denken und Reflexion in der überdurchschnittlich alphabetisierten Gesellschaft Hollands thematisiert. Für den Umgang von Vermeers brieflesenden und ‑schreibenden Frauen gilt das in ganz be‑ sonderer Weise. Ein Brief kann überraschen, das Leben in die eine oder andere Rich‑ tung lenken, erschüttern oder beglücken. Mit Briefen sind Emotionen verbunden, und Briefe der Philosophen – nicht nur jene Epikurs – lehren den Umgang mit ihnen.
Exkurs II. Die Allegorie des (katholischen) Glaubens Die Allegorie des Glaubens oft auch als Allegorie des katholischen Glaubens be‑ zeichnet (New York, Metropolitan Museum) (Abb. 57) ist das späteste bekannte Ge‑ mälde Vermeers und in den letzten Jahren vor seinem Tod 1675 entstanden. Obwohl von einzigartiger malerischer Vollendung stellt dieses Werk, seit Abraham Bredius 1899 seine wahre Autorschaft erkannt hatte, 231 mit wenigen Ausnahmen für die Ver‑ meer-Forschung ein „unbehagliches“ (Bredius), und unerwünschtes Stiefkind dar. Es ist ein Fremdkörper und ein opus non gratum geblieben, das offensichtlich so gar nicht in das Œuvre des Delfters passen will, aber nach Rechtfertigung sucht. Das Missbehagen an diesem Werk hat gute Gründe. Augenfällig ist zunächst die Darbietung der Glaubensmatrone, deren Pathos sich in Vermeers Werk überaus fremdartig ausnimmt, nichtsdestoweniger aber bereitwillig als persönliches Bekennt‑ nis des Malers zum Katholizismus gesehen wird. Doch ist Vermeers Einstellung ge‑ genüber seiner vermuteten konfessionellen Zugehörigkeit mit etlichen Fragezeichen zu versehen.232 Die Vorstellung, hier habe ein aufrichtig konvertierter und katholisch verehelichter Künstlers den Pinsel gehandhabt, hat denn auch Bemühungen angeregt, die Allegorie des Glaubens als affirmatives Zeugnis seiner Konfessionalität zu reha‑ bilitieren. 233 Doch liegt dem möglicherweise ein Fehlverständnis zugrunde, insofern als dabei einfache Tatsachen geflissentlich ignoriert werden müssen, die geeignet sind, die für gewöhnlich vermuteten Darstellungsabsichten dieser Allegorie zu bezweifeln. Um die Befunde angemessen gewichten zu können, wird man sich nicht mit den übli‑ chen Konventionen der Interpretation zufriedengeben dürfen. Körpersprache, narra‑ tive Elemente und auch weniger auffällige Details wollen ebenso gesehen und bedacht werden wie Dinge, die nur mittelbar in Erscheinung treten, aber umso bedeutsamer sein können. Zweifel an der herkömmlichen Sicht eines christlichen, religionstreuen Bildgehaltes sind nicht neu, so hat etwa Reinhard Liess rigorose Argumente von ver‑ nichtender Schärfe angeführt, 234 die hier einige etwas weiter ausholende Ergänzun‑ gen finden sollen. Wie im Ruhm der Malkunst öffnet auch hier ein links zur Seite gezogener Vor‑ hang die Sicht in einen Innenraum auf eine Szene, die kaum anders als die bühnen‑ hafte Darbietung eines lebenden Bildes verstanden werden will. In der Tat hat Ver‑ meer in diesem Werk die sonst so vornehme emotionale Zurückhaltung seiner Prot‑ agonistinnen aufgegeben und mit spürbarem Vergnügen eine theatralische Inbrunst der Darstellerin inszeniert, die ihresgleichen sucht. Die vornehm und kostbar in weiße und blaue Seide gekleidete Frau, die den christlichen und, wie oft angenommen, katholischen Glauben verkörpert, sitzt über einem bedeckten Podest und stützt sich nach rechts gelehnt auf einen verhüllten altarähnlichen Tisch. Den Blick himmel‑ wärts gerichtet legt sie die Rechte bekennerhaft ergriffen aufs Herz. Ihr Gesichtsaus‑ druck lässt sich kaum anders als naiv treuherzig und unbedarft charakterisieren. Dass ihre Körpersprache höchste pathetische Erregung mitteilt, wird durch einen
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57 Vermeer, Allegorie des Glaubens, New York, Metropolitan Museum of Art
Vergleich mit Caspar Netschers Tod der Kleopatra von 1673 (Karlsruhe, Kunsthalle) eindrucksvoll bestätigt (Abb. 58). Ist ein derartiger Gefühlsüberschwang schon unge‑ wöhnlich genug in Vermeers Bildwelt, so trifft dies auch für die reiche Ansammlung von Gegenständen im Umfeld der Frau zu. Auf dem mit schwarzen und weißen Mar‑ morfliesen ausgelegten Fußboden liegen zwei aus der mythischen Sphäre der Bibel höchst fremdartig in den Realismus der holländischen Stube transponierte Symbole: 130
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58 Caspar Netscher, Tod der Kleopatra, K arlsruhe, Kunsthalle
der angebissene Apfel des Sündenfalls und die vom Eckstein Christus (Matth. 21, 44) erschlagene Schlange (1 Mose 3,15), Requisiten, die überaus gut zur Szenerie eines al‑ legorischen Tableau vivant oder vertooninge passen. Der verhüllte Tisch präsentiert Attribute des Glaubens: Bibel oder auch Missale, Kelch und Kruzifix, dabei die Dor‑ nenkrone. 235 Ein mit ornamental geprägter Ledertapete bedeckter Wandschirm gibt dem Kruzifix aus Ebenholz und Silber einen profanen goldfarbenen Grund. 236 An der Rückwand des Raumes hängt im Halbdunkel als Bild im Bild ein großformatiges Ge‑ mälde der Kreuzigung. 237 die im Vergleich mit Vermeers sonstigen Ausstattungen seiner Interieurs geradezu aufdringliche Häufung von Attributen und Symbolen lässt hier wie auch bei der Schilderkunst vor allem an ein lebendes Bild denken. Doch anders als bei dem Wie‑ ner Werk muss solcher Aufwand ebenso wie die theatralische, emotional überladene Emphase der allegorischen Figur skeptisch im Hinblick auf den vorgeblichen Bildsinn stimmen. Mehr noch gilt das für den Globus, der halb verborgen unter dem Kleid der Frau auftaucht. Während die janusköpfige auf Himmel und Erde blickende Allegorie der Theologie (Godgeleertheyd), in Cesare Ripas Iconologia (Amsterdam 1644, S. 175–176), die auch Christoph Wagner als Argument für Vermeers Katholizismus anführt, 238 auf einem Himmelsglobus mit Sternen und neben einem Rad sitzt, pla‑ ziert Vermeers Allegorie ihren Fuß auf einen Erdglobus – ein bezeichnender Unter‑ schied! Denn zweifellos wird damit auf den Begriff „katholisch“, katholikós – allum‑ fassend, weltumspannend, angespielt. Bei diesem Globus handelt es sich um eine Arbeit des Jodocus Hondius von 1618; die Inschrift in der großen demonstrativ ins Sichtfeld gedrehten Kartusche enthält eine Dedikation an Moritz von Oranien, 239 der 1625 starb und wie sein Vater, der 1584 von einem katholischen Fanatiker ermordete
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Wilhelm der Schweiger in der Nieuwe Kerk von Delft begraben liegt, die in Vermeers Stadtansicht dieser Stadt im hellen Sonnenlicht steht. Moritz hatte sich seinerzeit zu dem radikalen calvinistischen Flügel der Gomaristen bekannt, was schwerlich mit ei‑ nem harmonischen Verhältnis zum Katholizismus in Einklang zu bringen war. Ein Friedensstifter zwischen den verfeindeten calvinistisch reformierten Glaubenspar‑ teien war er aber auch nicht. Als einer der erfolgreichsten Feldherrn seiner Zeit kämpfte er gegen die katholische Besatzung der Spanier, eroberte zwischen 1591 und 1595 eine bedeutende Zahl von Städten und vertrieb die Habsburger Truppen inner‑ halb von vier Jahren aus sieben Provinzen. Von einem landesweiten, gar weltumspan‑ nenden Katholizismus konnte weder aus niederländischer Sicht noch von den Resul‑ taten des Dreißigjährigen Krieges her die Rede sein. Es ist kaum anzunehmen, dass Vermeer diesen Globus nur zufällig in dieser Ansicht zeigt. Einerseits mag die Widmung an den Oranier Loyalität ausdrücken, andererseits wird dessen ungeachtet die fundamentale epikureische Kritik an religiösen Motiven menschlichen Machtwillens überhaupt bedeutsam. Denn nach der Überzeugung des Lukrez verhindert der Glaube als eine gnadenlos richtende, ja mordende Macht kei‑ neswegs Untaten und Grausamkeiten der Menschen, ganz im Gegenteil. So beklagt der Dichter das schändliche Blutopfer der Iphigenie beim Kriegszug der Griechen ge‑ gen Troia, nur um günstigen Wind für die Flotte zu erbitten: „Tantum religio potuit suadere malorum“– so viel Unheil hat Religion einzureden vermocht. 240 Lukrez „preist Epikur als den ersten, der es gewagt hat, der ‚Schreckensfratze‘ Religio entge‑ genzutreten.“241 Schließlich werden Kriege in ihrem Namen gerechtfertigt und entlar‑ ven sie damit als Bringerin von Furcht und Leid 242 – eben jene von Epikur am meisten verabscheuten Störungen der Seelenruhe. Unter solchen Gesichtspunkten erscheint die Berufung auf Moritz von Oranien als eine Zeugenschaft für den christlichen Glauben, die ebenso zwiespältig ist wie dessen Autorität selbst. Das Gemälde als Darstellung eines Tableau vivant stellt seine vorgebliche und vordergründig affirma‑ tive Botschaft in Gestalt einer gespielten Inszenierung infrage. Die Glaubensallegorie, eine Frau von wohlgenährter, stattlicher Gestalt, zeigt mit dem auf den Erdglobus gesetzten Fuß die missionarische, aber illusionäre Intention des Katholizismus, ja des Christentums überhaupt an, sich die Welt wie einen besieg‑ ten Gegner zu unterwerfen. Zu allem Überfluss besetzt sie mit diesem Fußgestus aber ausgerechnet die Region des keineswegs christianisierten Asiens, was sich allerdings nur einer sehr genauen Betrachtung zeigt. 243 Dieser präpotente globale Übergriff hat einen dubiosen Beigeschmack insofern, als er ironischerweise zwischen den indezent gespreizten Beinen der emotional so erregten Bekennerin stattfindet. Ripas Allegorie der Theologie sitzt dagegen sehr sittsam und sicher auf ihrem Himmelsgewölbe. Auch die Allegorie der Wahrheit an Berninis Grabmal Alexanders VII. in St. Peter (1672–1678) setzt einen Fuß auf die Erdkugel, doch ist dies keine triumphale Atti‑ tüde (Abb. 59). 244 Die Arme in einer Geste der inneren Zurücknahme vor den Leib ge‑ legt, das Haupt gesenkt, drückt ihre in sich gekehrte Haltung vollkommene Demut aus, wie die gegenreformatorische Theologie ja überhaupt sehr vom Demutsgedan‑
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59 Gianlorenzo Bernini, Grabmal Alexander VII., Detail, Veritas, Rom. St. Peter
ken geprägt ist. 245 Mit der pathetisch aufs Herz gelegten Rechten und dem das avant la lettre „sursum corda“ schmachtenden Blick stellt Vermeers Allegorie dagegen ihre Ergriffenheit ostentativ und damit undemütig und unglaubwürdig zur Schau. Damit verlässt der Maler abermals alle sonst in seinen übrigen Gemälden zu beobachtende emotionale Zurückhaltung. Insbesondere von Seelenruhe kann bei solchen Anzei‑ chen von Erregung schwerlich die Rede sein. Es ist in der Tat ein Ausnahmebild, und es scheint, als wollte Vermeer in solchen deklamatorischen Übertreibungen das ge‑ naue Gegenteil einer affirmativen Haltung bekunden. Zu Recht hat man hinsichtlich des himmelnden Blicks an italienische Malerei er‑ innert, wo sich die Aufschau der Heiligen bei Malern von Raffael bis Reni und ande‑ ren großer Beliebtheit erfreute, so zum Beispiel auch die hl. Magdalena aus dem Um‑ kreis Tintorettos (Privatsammlung) (Abb. 60). Doch gibt es einen Unterschied, der diesen Blick in höhere Sphären bei Vermeers Glaubensallegorie eher ad absurdum führt. Während die himmlisch Bewegten bei den Italienern der Erfahrung des Gött‑ lichen stets im Freien, unter sich öffnendem Himmel oder zumindest vor einem dunk‑ len undefinierten Hintergrund teilhaftig werden, zelebriert die Holländerin das Ge‑ habe ihrer Schau in der guten Stube als Bühne, wo eine Balkendecke ihr als Ersatz für den Himmel dient. Es zeichnet sich ab, dass Vermeer hier womöglich eine Negatival‑ legorie geschaffen hat oder anders gesagt, er hat seiner Verkörperung des Glaubens Streitpotential in die Wiege gelegt. Dieser Verdacht bestätigt sich sogleich, wenn wir dem besagten Blick der Allegorie folgen. Denn dieser ist ja nicht auf die manifesten Bildwerke der Passion, weder auf den Gekreuzigten in dem Gemälde hinter ihr, noch auf das Bildwerk vor ihr, auch nicht auf die blau verfremdete und hinter dem über‑ mächtigen Missale fast verschwindende Dornenkrone und auch nicht auf die symbo‑ lischen Paraphernalia von Schuld und Überwindung des Bösen auf dem Fußboden
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60 Tintoretto, Umkreis, Die hl. Magdalena, Privat‑ sammlung
gerichtet, sondern auf diese ominöse gläserne Kugel, die zu welchem Zweck auch im‑ mer an einem blauen Band befestigt von der Zimmerdecke herabhängt. 246 Aber warum blickt die Frau so bewegt, so ergriffen auf diesen Gegenstand, und was könnte sie dort überhaupt sehen? Ist es eine Vision, die sie von geistlichen Be‑ trachtungen am Altar abhält oder eine Spiegelung des großen Gemäldes der Kreuzigung, dem sie den Rücken zuwendet? Und warum sollte sie seiner optischen Verfrem‑ dung durch die Kugel den Vorzug vor dem Bild selbst geben wollen? Die Kugel ist durchsichtig, reflektiert aber auch als ein Rundumkonvexspiegel nicht nur die hellen Fensterflächen, sondern potentiell ebenso das ganze Ambiente. Sie könnte – zwar sehr viel schwächer als es bei verspiegeltem Glas der Fall wäre – so doch umfassend den Innenraum, die Attribute und Symbole abbilden und das Panorama einer virtu‑ ellen Zusammenfassung des Zimmers bieten. 247 Aber es sollte nicht übersehen wer‑ den, wie und in welcher Form die schimmernde Kugel das alles spiegeln würde! Ver‑ meer deutet die Wahrheit über diese Bildgebung an: Zwangsläufig werden die Dinge darin minimiert, verzerrt, verunwirklicht, und die Proportionen der Verhältnisse er‑ scheinen buchstäblich verrückt. Eine in spiegelnde Glaskugeln blickende Person fin‑ det sich dort gerne in der Mitte, während alles Übrige taumelnd zur Peripherie hin abgleitet. Würden wir sehen, was Vermeers Glaubensallegorie sieht, so wäre es bes‑ tenfalls ein um sie selbst kreisendes, verbogenes und schier berstendes Gehäuse. Aber aus der Distanz zwischen ihr und der Kugel müsste auch dies bis zur Unkenntlichkeit winzig und undeutlich werden. Der Versuch, daraus klare Erkenntnisse zu gewinnen, bedeutet nichts als Spekulation über Spiegelungen. Was sie sehen könnte, wäre nach Art der Träume wirklich, aber nicht real. Pieter Claesz. Heda hat in einigen seiner Vanitasstilleben derartige Glaskugeln nahsichtig dargestellt und damit wahrheitsge‑ treu die „Unwahrheit“ solcher Spiegelbilder mit Selbstbildnis wiedergegeben 134
(Abb. 61). 248 Von Jacob de Gheyn II. wird der Zusammenhang der Symbole drasti‑ scher zelebriert (New York, Metropolitan Museum of Art) (Abb. 62). Mit anderen Worten: In Vermeers Tableau vivant blickt die Allegorie des Glaubens mit outrierter Emphase auf und in eine hinter verzerrten, unkenntlichen Phänomenen schimmernde Leere, in der sich gewiss nichts Göttliches offenbart. Sie kann doch dort nur ein ober‑ flächiges Trugbild ihrer selbst und ihrer Behausung finden, das ebenso eine nichtige Illusion ist wie die weltbeherrschende Macht des Christentums oder gar des Katholi‑ zismus. Wollte man dem Epikureer Lukrez in dieser Frage nach der Faszination für glatte, spiegelnde Dinge Gehör schenken, so böte er uns eine einleuchtende Erklärung für diese Vorlieben im Hinblick auf musikalische und optische Erlebnisse:
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61 Pieter Claesz. Heda, anitasstilleben mit Selbstbild‑ V nis, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum
„Leicht erkennt man daraus, was lieblich die Sinne berühret, / müsst‘ aus glatten bestehen und rundlichen Körpern des Urstoffs,[…]“ Ferner: „Denn was den Sinnen behagt und den Augen schmeichelt, das alles / Ist ursprünglich begabt mit einer gefälligen Glätte; / Alles, was widrig hingegen und rauh und ihnen beschwerlich, / Findet sich immer bereits schon harsch und wid‑ rig im Grundstoff.“249
Es lässt sich allerdings nichts Gefälligeres mit einer runden Glätte denken als eine gläserne Kugel und kaum Sperrigeres als ein Kreuz und nichts Harscheres und Wid‑ rigeres als eine Dornenkrone, eben jene Symbole, an denen die Allegorie sich gerade nicht erbaut. Sollte hier etwa ein überraschendes Moment sinnlichen Genusses von den langwierigen und herben Exerzitien der christlichen Gottesliebe ablenken? Zu bedenken ist freilich auch, dass die Kristallkugel, die sphaira, ein altes Attri‑ but des Christus Salvator als Weltenherrscher ist, das dieser in der spätmittelalterli‑ chen und frühneuzeitlichen Malerei so oft in beeindruckender Größe und Klarheit in seiner Linken hält. Die durchsichtige sphaira ist häufig von einem Kreuz bekrönt und in ihrem Inneren mit einem Miniaturbild von Erde, Meer und Himmel versehen. In geschlossenem Zustand zeigen die Flügel von Hieronymus Boschs Garten der Lüste (Abb. 74) (Madrid, Prado) den frühen noch menschenlosen Zustand der Welt in einer großen gläsernen Kugel. Aber auch in der Ikonographie des Jüngsten Gerichtes kann
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62 Jacob de Gheyn II., Vanitas stilleben, New York, Metropolitan Museum of Art
diese Weltkugel erscheinen wie z. B. in der Schedelschen Weltchronik, wo sie dem richtenden Christus als Fußbank dient (Abb. 63). Unter diesem Aspekt sind sowohl der Globus unter dem Fuß der Allegorie des Glaubens als auch die Glaskugel über ihr äußerst fragwürdige Attribute. Ist es denkbar, dass Vermeer die transparente Glas‑ kugel des Salvators gleichsam pars pro toto und die gotterfüllte Welt bedeutend in solcher Verfremdung und ohne das Kreuz an der Zimmerdecke hängend vor die Au‑ gen des Glaubens bringen wollte? Losgelöst aus solchen Zusammenhängen ist die Kristall- oder Glaskugel ein äußerst zwiespältiges Symbol. Bereits im Mittelalter wurden spiegelnde Gebilde für okkulte Praktiken der Kristallomantie oder Kristal‑ loskopie verwendet. Thomas von Aquin nannte das Wahrsagen und Hervorholen verborgener Dinge solcher Art „divinatio ex lapide polito“. 250 Wird der christliche Glaube hier als mantische Spiegelseherei und blanker Okkultismus vorgeführt? Diese vernichtende Schlussfolgerung wäre eindeutig, wenn die Frau das Objekt ihrer zwei‑ felhaften divinatorischen Schau nahe vor sich auf dem Tisch positioniert hätte. Es hängt aber in für dergleichen Zwecke ganz ungebräuchlicher Weise von der Zimmer‑ decke herab und erlaubt keine tiefen Einblicke. 136
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63 Schedelsche Weltchronik, Jüngstes Gericht
Doch so weit auszugreifen ist nicht nötig. Die Frau blickt nicht in den Himmel, sondern auf die gläserne Kugel, die seit alters die Welt symbolisiert, hier bezeichnen‑ der Weise aber nicht unter dem Zeichen des Kreuzes steht. Zwischen dem Globus un‑ ter ihrem Fuß und der Sphaira über ihr ist sie in doppelter Weise der Welt hingege‑ ben. Die assoziativen Verbindungen der Glaskugel reichen aber noch weiter. Es ist nicht zu vergessen, dass hier nur verzerrte Spiegelungen auf der Oberfläche eines Ge‑ bildes zu finden sein werden, das einem der häufigsten Vanitasmotive der holländi‑ schen Malerei zum Verwechseln gleicht, der Seifenblase, die wunderschön anzuse‑ hen, aber ein Nichts und nur von kurzer Lebensdauer ist und damit als Symbol des „homo bulla“ das trügerische Lebensglück des Menschen in Erinnerung ruft. 251 Die Kugel in Vermeers Allegorie des Glaubens ist zwar aus Glas, aber damit nur um ein geringes weniger fragil als eine Seifenblase. Reinhard Liess lässt sich die Schlussfol‑ gerung aus diesem Vergleich nicht entgehen: „Zerbrechlichkeit symbolisiert auch hier die gläserne Kugel Vermeers, die Nichtigkeit und Eitelkeit christlichen Glaubens, der wie eine Luftblase zerstiebt, wenn er sich, wie hier, als theatralische Sentimenta‑
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lität gebärdet.“252 Er bringt jenen Gehalt des Bildes auf den Punkt, der hinter dieser Pathetik zu entdecken ist: „Kein intellektuelles Konstrukt vermag das realistische Erscheinungsbild des holländischen Wohnzimmer-Interieurs mit der in ihm nicht originär zu behausenden, italianisierenden Pose der ›Fides‹ in Einklang zu bringen. Wenn das Gemälde nicht von vornherein als künstlerischer Unglücksfall abgetan werden soll, dann bleibt nur die Erklärung, daß Vermeer den christlichen Glauben, sei er nun katholisch, jesuitisch oder calvinistisch zu interpretieren, bewußt parodie‑ ren wollte. Er bediente sich der Stilform der Ironie, um auszudrücken, daß den in jener Zeit vorherrschenden Indoktrinationen christlicher Glaubenssätze keine Überzeugungskraft mehr innewohnte. >Fides< nicht mehr denn ein Theater, ein religiös geseufztes Aushauchen. Allein in diesem dem Zeitalter der Aufklärung vorauseilenden Anliegen, Hypokrisie zu entlarven, darf jene sittliche Idee gesucht werden, die als eine der Kunst immanente Wahrheit auszudrü‑ cken Vermeer jedenfalls beabsichtigt hat.“253
Wollte man sich mit Polemik zufriedengeben, wäre damit alles gesagt. Doch soll noch weiteren Argumenten Raum gegeben werden, die eine solche Sicht stützen. Es ist schwer, die Augen davor zu verschließen, dass Vermeer hier ein bildliches Äquivalent zu den religionskritischen Positionen der radikalen holländischen Früh‑ aufklärung im Sinne eines Adriaan Koerbagh mit seiner Schrift Een Ligt schynende in duystere plaatsen, om te verligten de vornaamste saaken der Godsgeleerdtheyd en Godsdienst (1668) – Ein Licht, das in dunkle Orte scheint, um die Hauptfragen der Theologie und Religion zu erhellen – und ähnlich denkender Rationalisten ge‑ schaffen hat. 254 Der entscheidende Unterschied ist freilich, dass sein Gemälde anders als die Traktatliteratur seine Argumentation ironisch positioniert und ihre Subversi‑ vität damit der stringenten Eindeutigkeit entzieht. Damit trifft es aber den Tenor, den Dirck van Bleyswijck in seiner Beschreibung der Stadt Delft und ihrer christlichen Kultstätten hinsichtlich der katholisch-papistischen Vergangenheit gepflegt hatte. 255 Vermeer hat, wie bereits oben vermerkt, auffallend selten Gebrauch von der rei‑ chen Emblemliteratur seines Jahrhunderts gemacht. Die Dame am Virginal stehend (Abb. 13) und die Allegorie des Glaubens machen hier doppelbödige Ausnahmen. Die Forschung hat bei letzterer scheinbar zutreffend auf Ähnlichkeiten mit einer Ikon hingewiesen, die sich in Willem Hesius, Emblemata sacra de fide, spe, charitate, (Antwerpen 1636) findet (Abb. 64). 256 Wiederholt hat man darin eine Bestätigung für die katholische Ikonographie des Bildes gesehen, da Hesius ja nicht nur Architekt, Schriftsteller, sondern auch Jesuit war. Ein geflügeltes Kind, die Seele bedeutend, sitzt im Freien vor einem großen, etwas verwitterten Kreuz, hält eine an einem Faden hän‑ gende spiegelnde Kugel nach oben und erblickt dort das sehr klein am linken unteren Rand reflektiert Kreuz und die Sonne. „Capit quod non capit“– es begreift, was es nicht fassen kann – oder umgekehrt, es fasst, was es nicht begreifen kann, lautet das Motto. Im Epigramm ist unter anderem zu lesen „Minimo exhiberi maximus potest mundus / pila parva caelos claudit intus immensos […]“ – Im Kleinen kann das größte Universum dargestellt werden, eine kleine Kugel umfasst den unermesslichen Him‑ mel. Lässt man einmal den Text von Hesius‘ Emblem beiseite und betrachtet allein
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64 Willem Hesius, Emblemata sacra de fide, spe, charitate
die ikon, so fällt auf, dass das Seelenkind ein altbekanntes Bild auf seiner Kugel er‑ blickt: Kreuz und Sonne, die zusammen den Begriff des Sol invictus ergeben: Chris‑ tus, die unbesiegte Sonne. Allerdings sagt weiter unten Seite 89 das elegische Gedicht, dass die Kugel aus gegossenem Metall sei, „Parua sit ipsa licet, solido sit fusa me‑ tallo, / Quae vacuo circum-ducitur orbe pila…“ Der Faden aber ist „der Glaube“: Im ganzen Buch wird das Wortspiel fides = Glaube/Saite zelebriert. Schon unter diesen Aspekten hat die Allegorie bei Hesius mit Vermeers Allegorie des Glaubens nur eine oberflächliche Gemeinsamkeit. Der Vergleich, so einleuchtend er auch auf den ersten Blick scheinen mag, trägt nicht. Doch was zeigt die gläserne Bulla in Vermeers Ge‑ mälde? Wir als Bildbetrachter entdecken kaum mehr als die irrlichternden hellen Fle‑ cke der Fenster, aber keine Sonne und kein Kreuz, keine fides-Saite und erst recht kein Bild des Kosmos; für die Gestalt der Allegorie kann es sich kaum anders verhal‑ ten. Hesius‘ Emblem reflektiert übrigens eine hochaktuelle kontroverse Diskussion über das damals kaum mehr zu unterdrückende heliozentrische Weltbild. Dessen Be‑ kämpfung seitens der Kirche sollte durch einen von den Jesuiten getragenen Kompro‑ miss mit der geozentrischen Lehre zu einem Ende geführt werden. So hatte Tycho Brahe ein geo-heliozentrisches System entwickelt, in welchem die Erde stillsteht und von Sonne und Mond umrundet wird, während die Planeten die Sonne umkreisen. Seit im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts kopernikanische Ideen wie sie auch Galilei vertrat, kirchlicherseits härter bekämpft wurden, akzeptierten die Jesuiten Tycho Brahes Modell, das 1633, also drei Jahre vor Erscheinen von Hesius‘ Emble-
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65 Michelangelo, Sogno, The Samuel Courtauld Trust
mata verbindliche Lehre wurde. Hält man diesem letztlich weiterhin der Geozentrik verpflichteten Bild des Kosmos mit der – wie in Hesius‘ Kugelbild zu sehen – kreisen‑ den Sonne die epikureische Lehre von unendlich vielen Welten in einem unbegrenz‑ ten Weltall entgegen, so erscheinen die erkenntnisbringenden Möglichkeiten des Ku‑ gelgebildes in Vermeers Allegorie verglichen mit jenen in Hesius‘ Epigramm berufenen „größten Universum“ und „unermesslichen Himmeln“ höchst beschränkt. Rück‑ schlüsse auf ein wie auch immer definiertes Bild des Kosmos lässt sie nicht zu. Ripas Allegorie der Theologie thront auf einem Himmelsglobus, der keine Stern‑ bilder zeigt, sondern nur gleichmäßig mit Sternen gemustert ist (wie z. B. auch Cara‑ vaggios Triumphierender Amor, Berlin). Vermeers Allegorie blickt auf eine Glasku‑ 140
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gel, deren spiegelnde Oberfläche uns keine Sterne, sondern Glanzlichter und vier Fenster eines hinter ihr liegenden Raumes als Lichtpunkte nebst einigen Farbflecken zeigt. Was die Allegorie des Glaubens sehen mag oder zu sehen glaubt, entzieht sich unserer Kenntnis. Die Kugel ist ein altes Symbol des Unfesten, Haltlosen. Allein die Allegorie der Theologie bei Cesare Ripa findet auf ihr einen sicheren Sitz. Wer anders aber auf ei‑ ner Kugel steht oder sich auf eine solche stützt, sucht Beständigkeit, wo es keine gibt. Daher balancieren Allegorien des Glücks auf rollenden Kugeln wie in den bekannten Kupferstichen Dürers oder sie hantieren mit ihnen. Der nackte Jüngling hingegen, der sich in Michelangelos schon früh in Drucken verbreiteter Zeichnung des Sogno, des Traums vom menschlichen Leben, an eine Kugel lehnt, müht sich vergebens (Abb. 65). Der Kasten, auf welchem sie liegt, ist im Inneren mit allerlei Masken, Symbolen der Täuschung, angefüllt. Die unstete Kugel und der an seinem Standort stabile, aber Trügerisches enthaltende Kubus bieten dem um seine Haltung ringenden Menschen weder äußere noch innere Sicherheit, da er umgeben ist von Traumgesichten der Las‑ ter und Todsünden. Der von obenher anstürmende Engel weckt den aufschreckenden Träumer mit Posaunenschall. Eher als frei variiertes denn als dringliches Zitat asso‑ ziiert Vermeers Allegorie des Glaubens einige Charakteristika des michelangelesken Träumers: die Körperhaltung, den empor gerichteten Blick, die Kugel unter ihr, den Tisch als vermeintlichen Garanten der Sicherheit mit seinen fragwürdigen Requisiten. Wenngleich die Frau in ihrer labilen Körperhaltung stabiler, starrer und umso unfle‑ xibler zu sein scheint als der kontrapostisch um Ausgleich der Schwerkräfte ringende Jüngling in der Zeichnung, ist ihre Position auch wegen der traumhaft hingegebenen Realitätsvergessenheit prekär. Die Kugel droht unter ihrem Fuß fortzurollen, und ob der auf den Tisch gestützte Arm mit der schlaffen Hand dann noch genügend Halt bieten kann, scheint ungewiss. Lange wird sie in dieser Schräglage nicht bleiben kön‑ nen, und so mag keine Engelsposaune sie rufen, sondern ein triviales Schreckerlebnis ihr ein unsanftes Erwachen bescheren. Vermeers Allegorie des Glaubens bietet auch aus dem Blickwinkel eines in der Vorstellung des Betrachters weiter imaginierbaren Bildgeschehens einen ironischen Kommentar zu der Lesart katholischer Orthodoxie. Die Bilanz dieser Personifikation ist unter den verschiedenen Aspekten, die der Gegenstand ihrer hingebungsvollen Aufschauung bietet, reichlich dubios oder durchaus subversiv, zumal sich kaum eine positive Assoziation mit der Glaskugel als Symbol des Gottvertrauens einstellen will. Doch hat Vermeer bezeichnender Weise das Objekt des Anstoßes so weit aus dem Blickfeld der Allegorie und des Betrachters gerückt, dass das körperlose Schweben der Glaskugel auch als ein unverbindliches Schweben der Bedeutungen aufgenom‑ men werden kann. Schon dies ironisiert die Andachtshaltung als gespielte Attitüde. Was wir sehen, ist Theater im mehrfachen Sinn, zum einen ein Tableau vivant, zum andern gespielte Emphase. Zu Füßen die haltlose Kugel, die die Welt und damit übli‑ cher Weise den Inbegriff des Unsicheren und Täuschenden symbolisiert, dabei den Blick auf ein Sinnbild leerer, zerbrechlicher Illusion über sich gerichtet, führt die Frau
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66 Jan Steen, Die kranke Frau, Rotterdam, Museum B oijmans Van Beuningen
in diesem Bild eines lebenden Bildes die Vergeblichkeit religiösen Hoffens und die Leere der Hingabe an welche Konfession auch immer vor Augen. Zudem weisen Körperhaltung und Körpersprache der vermeerschen Glaubensallegorie in schöner Übereinstimmung damit in eine unzweideutige Richtung. Für die moralisierende holländische Genremalerei sind das keine Unbekannten. Jan Steen hat sie ausdrucksvoll in Gemälden eingesetzt, die einen höchst fragwürdigen Zustand der jeweiligen Protagonistin veranschaulichen. Sie bedienen sich ironischerweise der glei‑ chen Körperformel wie Caspar Netschers Kleopatra (Abb. 58) und verkehren deren dramatisches „Ethos“ als lächerliches „Pathos“ ins genaue Gegenteil. Der Maler ist hier nach dem Diktum des Philosophen Gerardus Jansz. Vossius ein Ethopoios und Pathopoios in einem. 257 In dem im siebten Jahrzehnt entstandenen Bild sitzt Die kranke Frau von Jan Steen (Rotterdam, Museum Boijmans van Beunigen) (Abb. 66) schlaff an einen Tisch ge‑ lehnt und wendet sich mit auf den Leib gelegter Hand und nach oben verdrehten Au‑ gen ihrer alten Dienerin zu, die mit einer großen Klistierspritze herbeikommt. Über die zu kurierende Krankheit darf der Betrachter spekulieren. Deutlicher wird ihm Vergleichbares wiederum von Jan Steen in Der liederliche Haushalt (New York, Me‑ tropolitan Museum of Art), datierbar 1663–1664, vor Augen geführt (Abb. 67). Die 142
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67 Jan Steen, Der liederliche Haushalt, New York, Metro politan Museum of Art
Herrin des Hauses fläzt im Lehnstuhl, hebt ihr Weinglas der hinter ihr stehenden Magd entgegen und lässt sich einschenken. Mit grandioser Treffsicherheit hat der Ma‑ ler ihrem auf das Glas gerichteten Blick den Ausdruck törichter Weinseligkeit gegeben. Zu allem Überfluss traktiert die Dame mit einem Fuß das aufgeschlagene Buch, ver‑ mutlich eine Bibel, auf dem Boden vor ihr, was außer der Körperhaltung ebenfalls an Vermeers Allegorie des Glaubens und deren Umgang mit dem Erdglobus erinnert. Von der Zimmerdecke hängt zwischen theatralisch sich bauschenden Draperien ein Korb mit Requisiten und Symbolen, die dieser Gesellschaft eine düstere Zukunft pro‑ phezeien: Schulden, Armut, Krankheit, Unglück, und, wie Rute und Schwert andro‑ hen, auch Strafe. Der Delfter konnte also mit seinem in der ersten Hälfte der siebziger Jahre gemalten Werk leicht auf den haut goût dieses auffallend häufigen Motivs der Körpersprache mit seinen per se pejorativen Konnotationen zurückgreifen. 258 Noch ein weiteres Mal hat Jan Steen Ende der sechziger Jahre diese liederliche Haltung in einer Bordellszene zum Vergnügen des Betrachters aufgegriffen (Buda‑ pest, Szépmüvészeti Múzeum) (Abb. 68). Während im Hintergrund eine Kupplerin mit einem Kunden handelseinig wird, lädt uns eine üppige Kurtisane in Frontalan‑ sicht mit erhobenem Weinglas ein, ihr Gesellschaft zu leisten. Zu allem Überfluss hängt von der Zimmerdecke an einem roten Band eine Glaskugel herab. Sie ist ein
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68 Jan Steen, Bordell‑ szene, Budapest, Szépmüvészeti Múzeum
wenig kleiner als jene in Vermeers Glaubensallegorie, doch ändert das nichts an der vanitären Symbolik, die beiden zukommt. 259 Vermeers Allegorie des Glaubens hält sich auf virtuose und ungeahnt mehrdeu‑ tige Weise offen für konträre Interpretationen, die allerdings umso weniger Spiel‑ raum für positive bzw. affirmative Lesarten finden, je genauer die Analyse sich der Ikonographie widmet. Dies zeigt sich auch im Hinblick auf die fragwürdige An‑ nahme einer „katholischen“ Allegorie. Offenbar ist es bisher noch nicht aufgefallen, dass die Ikonographie des Gemäldes auch den Möglichkeiten einer konfessionellen Zuordnung Widersprüchliches zu bieten hat. Die katholische Interpretation ist ge‑ rade im Hinblick auf eine Bestimmung des Gemäldes für eine inoffizielle jesuitische „Schuilkerk“, „Huiskerk“ oder „Versteckkirche“, die sich als oft wiederholte These in der Literatur findet, unhaltbar. Denn obligatorisch wäre in der Darstellung eines ka‑ tholischen Kultraumes ein feststehender, wenn nicht in aller Regel steinerner Altar. Ein solcher wurde wiederum von den Calvinisten abgelehnt. Die Reformierten bedie‑ nen sich stattdessen eines einfachen mobilen Abendmahlstisches. Dass das vor Ver‑ 144
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meers Allegorie stehende Möbel eine kultische Bestimmung hat, wird schon an seiner erhöhten Position auf dem Podest erkennbar. Auch wenn es von einer schweren Dra‑ perie vollständig verhüllt wird, muss es sich dabei um einen beweglichen Gegenstand handeln, denn stünde hier ein immobiler Stipes, könnte der darunter liegende Tep‑ pich nicht das ganze Podest als Standort bedecken. Für die Calvinisten ist die Kirche kein geheiligter, geweihter Raum; auch soll dieser keinen Chorbereich haben. Das würde mit der Lokalität der Allegorie übereinstimmen. Andererseits aber gilt bei den Reformierten ein striktes Bilderverbot, welches nicht einmal einen Kruzifixus zulässt. Das für privaten Bildgebrauch viel zu große Gemälde der Kreuzigung hinter der alle‑ gorischen Gestalt wäre als Altarbild im katholischen Kult denkbar, wenn es denn ei‑ nen Bezug zu dem Tisch hätte, der aber nicht erkennbar ist. Für einen calvinistischen Versammlungs- und Abendmahlsraum aber ist eine solche Ausstattung erst recht un‑ zulässig. Vermeer hat also offenbar weder einen calvinistisch reformierten noch einen katholischen Kultraum dargestellt. Nun ließe sich natürlich geltend machen, der Maler habe hier durchaus kein bild‑ liches Dokument antichristlicher, gar atheistischer Überzeugung geschaffen und ebenso wenig ein deutliches Bekenntnis zum Katholizismus oder überhaupt zu kodi‑ fizierten und dogmatisch fixierten Glaubensdingen. Er habe auch keine konfessionell definierte Kirche wiedergeben wollen, sondern nur die Frömmigkeit der Seele in ei‑ nem privaten Andachtsraum. Das theatralische Pathos sei dabei die angemessene Darbietungsform eines Tableau vivant. Dem ließe sich wiederum entgegenhalten, es sei Vermeers Absicht gewesen, die Fragwürdigkeit von leidenschaftlich vorgetragener Affirmation zur Verehrung Got‑ tes zu veranschaulichen und vor einer zwischen privater Devotion und substanzlos ri‑ tualisierten liturgischen Illusionen schwankenden, sich selbst täuschenden und leeren Religiosität zu warnen. 260 Auch diese Haltung fände bei Epikur Bestätigung und Rückhalt. So sei nochmals an die entsprechende Stelle im Brief an Menoikeus erin‑ nert, wo es heißt: „Denn Götter gibt es, da wir sie doch offenbar zu erkennen vermögen. Nur sind sie nicht so, wie die große Menge sie sich denkt, denn wie sie sich die Götter vorstellt, so sind sie nicht, und nicht der ist gottlos, der die Gottesvorstellung der Masse beseitigt, sondern wer den Göttern die Ansichten der Masse anhängt. Was die Masse über die Götter aussagt, entspricht nämlich nicht der richtigen Gotteserkenntnis, sondern falschen Vermutungen. Aus diesem Grund sieht sie als Fügung der Götter an, was den Bösen an Üblem widerfährt oder was die Guten fördert. Sie empfindet eben als fremd, was nicht wie sie selbst geartet ist, und läßt sich darum nur Göt‑ ter gefallen, die ihresgleichen sind.“261
Doch wenn es Vermeer ernst war mit einem von allen falschen Gebräuchen und Ri‑ tualen gereinigten Glauben, warum lässt er dann dessen Verkörperung sich abwen‑ den von der großen Kreuzigung hinter ihr, die Vermeer in diesem Zitat ja keineswegs entwertet hat? Warum ignoriert sie dieses Bild dennoch in ähnlicher Weise wie die Frau mit der Goldwaage das Jüngste Gericht hinter ihr (Abb. 36)? In der Passions‑
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darstellung wird doch eines der ganz wenigen historischen Ereignisse festgehalten, das der Bibelkritik der frühen Radikalaufklärung standhalten konnte. So leugneten etwa die Brüder Adriaan und Johannes Koerbagh zwar die Trinität und die Gottes‑ sohnschaft Jesu, nicht aber dessen schrecklichen Tod am Kreuz. In Vermeers Aus‑ stattung der Allegorie des Glaubens gäbe es Anschauung und Gelegenheit genug, sich in die menschliche Tragödie Christi und seiner Mutter, die Trauer des Lieblings‑ jüngers und der Maria Magdalena einzufühlen. Die große Kreuzigungsszene hinter der Darstellerin und der kleine Kruzifixus vor ihr führen das Martyrium ja deutlich genug vor Augen. Doch die sich so hingebungsvoll produzierende Bekennerin ver‑ schmäht diese Begegnungen und wendet sich verfälschenden Truggebilden zu. Be‑ denkt man die Forderungen Sebastian Francks hinsichtlich der Gottessuche im eige‑ nen Inneren des Menschen und der Ablehnung äußerer Zeichen und Bilder, so muss die Allegorie des Glaubens mit ihrer extrovertierten Haltung und den nutzlosen, gar hinderlichen Glaubensrequisiten vor ihr als genaues Gegenteil von Verinnerlichung erscheinen. 262 Wie die Frau mit der Goldwaage kann auch die Allegorie des Glaubens auf einer vordergründigen Ebene – zunächst und wie zumeist geschehen – durchaus als be‑ kenntnisträchtiges, religiöses und oberflächlich sogar als konfessionelles Werk gele‑ sen werden, doch ist ein solches Verständnis keineswegs unproblematisch und eben auch nicht frei von innerbildlichen Widersprüchen, wie zu zeigen war. Der Streit der Interpretationen ist, wie gesagt, im Bild selbst angelegt. Vermeers kritischer, ja, par‑ odistischer Blick auf den zu angenehmen oder irrelevanten Trugbildern sich hinwen‑ denden Glauben fügt sich wie schon bei der Frau mit der Goldwaage in ein epikurei‑ sches Weltbild und eine entsprechend skeptisch distanzierte, wenn nicht gar ablehnende Einstellung zu Religion und ihren Riten. Seine Allegorie des Glaubens grenzt an eine Karikatur des Glaubens. Hier findet sie ihren Ausdruck in der Hin‑ gabe an Täuschungen, vor denen der antike Philosoph so eindringlich gewarnt hat. Allerdings ist der Bezug auf Epikur nicht ohne weiteres aus dem Bild selbst ablesbar, sondern erst, wenn eine darauf gerichtete Sichtung von Vermeers übrigem Werk die Aufmerksamkeit für solche kritischen Aspekte geschärft haben wird, dann aber umso deutlicher. Der Stoiker Seneca, der in seinen Schriften gelegentlich und zumeist skeptischen Bezug auf Epikur und seine Schule nimmt, führt in einem Brief an Lucilius aus: „Die Epikureer kennen nur zwei Teile der Philosophie, Naturwissenschaft und Ethik; die Dialektik lehnen sie ab. Abgesehen davon sehen sie sich durch die Macht der Tatsa‑ chen gezwungen, Doppeldeutiges auszuscheiden und unter dem Mantel der Wahrheit verborgene Falschheiten zu entlarven.“263 Wer sich in dieser Weise der Interpretation von Vermeers Frau mit der Goldwaage oder der Allegorie des Glaubens widmet, handelt also wohl selbst im besten Sinne epikureisch, wenn ihm daran gelegen ist, dem Doppeldeutigen Eindeutiges abzugewinnen. Dass diese religionskritische Haltung sich nicht sogleich umstandslos offenbart, liegt zum einen auch in der langen Tradition niederländischer Ikonologie begründet,
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69 Jacob Duck, Allegorie des Glaubens, New York, Kunsthandel
die ihren Bedeutungsgehalt nicht schon auf den ersten Blick preisgibt. Zum andern verfährt Vermeer kaum anders als Schriftsteller, die sich auch im liberalen Holland aus guten Gründen vorsehen mussten. Philipp Blom beschreibt deren Strategie über‑ aus schlüssig: „Autoren, die durch ihre Schriften in Konflikt mit Zensoren, Kirche und Gönnern geraten konnten, und das waren die meisten, benutzten damals wie selbstverständlich Strategien des Verbergens, Verleugnens, der Allegorie und des Umschreibens, um der Verfolgung zu entgehen. Dabei kam dem Leser eine sehr aktive Rolle dabei zu, die rhetorischen und logischen Kunst‑ griffe eines Autors zu durchschauen und zwischen den Zeilen zu lesen, um so etwas wie ein verborgenes Argument zu rekonstruieren, auch wenn der Text gerade dieses Argument anzu‑ greifen schien.“264
Es war seine Sache – um noch einmal Senecas Charakterisierung epikureischer Kritik zu zitieren –, „unter dem Mantel der Wahrheit verborgene Falschheiten zu entlarven.“ Wie in Vermeers Frau mit der Goldwaage sind auch in der Allegorie des Glaubens verbergende Strategien von Vorteil, denn so wird den Betrachtern, die mögli‑ cherweise auf religiöse Observanz bedacht sind, bei der Bildlektüre der strittige Ge‑ halt ebenso wie ihre eigene Rolle als Grenzgänger entgehen. Die Ambivalenz des Bildverständnisses schützt den Maler wie den Besitzer des Gemäldes durch leicht zu behauptendes schlichtes Nichtwissen einer allein durch genaues Hinsehen und infor‑ miertes Nachdenken zu entdeckenden, vorsichtshalber aber nicht offenkundig prä‑ sentierten „gefährlichen“ Bedeutung und deren philosophischen Bezügen. Heutige Kunsthistoriker bedürfen dieser Vorsicht natürlich nicht mehr. Allegorien des Glaubens sind nicht eben häufig in der holländischen Malerei zu finden. Ein aufschlussreiches Beispiel aber gibt der aus Utrecht stammende Maler Ja‑ cob Duck (1600–1667) mit einem Bild, das 2010 in New York bei Christie’s verstei‑
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gert wurde (Abb. 69). Die Italianità der vermeerschen Allegorie hat hier ein Ver‑ gleichsstück, dessen holländischer Charakter nicht ausgeprägter sein könnte. Links im Bild neben einem schwarz drapierten Tisch sitzt eine im Profil gezeigte Dame mitt‑ leren Alters bequem in einem Scherenstuhl. Kleider und Perlenschmuck sind aufwen‑ dig und von kostbarster Qualität. Über ihr entfaltet sich theatralisch eine Draperie, neben ihr am Boden häufen sich zur Seite geschobene Requisiten der Eitelkeit und Täuschung, darunter eine Maske, ein Puderpinsel, diverse Schmuckstücke usw. Vor ihr auf dem Tisch ist ein veritables Vanitasstilleben mit Totenschädel und Gebein, Stundenglas und einem gekippten Becher neben einem Stapel von dickleibigen Bü‑ chern versammelt. 265 Ein Globus, ein Prunkpokal und eine brennende Kerze setzen vertraute Akzente. Erst bei genauem Hinsehen wird das kleine, fragil wirkende Kreuz erkennbar, das weiter hinten im Halbschatten verborgen seiner Entdeckung harrt. Und damit deutet sich schon die Widersprüchlichkeit der Bilderfindung an. Auch diese Allegorie hebt den Blick, wenngleich ein wenig träge und, wie es scheint, nur zu der banalen Vorhangquaste über ihr. Auch sie führt eine Hand gegen ihre Brust. Doch wie anders, geradezu lässig muten solche Gesten an! Eine konfessionelle Präfe‑ renz lässt sich nicht erkennen, und die stupende Kostbarkeit der spitzenbesetzten Kleidung konterkariert die Absage an vergängliches Gut – auch dies ein Bild voll in‑ härenter Widersprüche. Wäre nicht der ergebene Augenaufschlag, der folgsam sprechende Mund, man könnte die Dame mit ihrer preziösen Handgeste leicht für eine Allegorie der Eitelkeit halten, so verschwindend marginal ist das einzige Requisit des Glaubens, das kleine Kreuz, im Bild untergebracht. Während hier eher bildloser calvinistischer als epiku‑ reischer Geist zu walten scheint und sich ein Glaubensbekenntnis leidenschaftslos in formellen Gebärden konventioneller Veräußerlichung ausdrückt, gleichen sich doch die Darstellerinnen beider Allegorien in ihren Rollen als wohlkalkulierte „Fehlbeset‑ zungen“. Auch wenn Jacob Duck nicht eben zu den geistvollsten Künstlern des hol‑ ländischen Goldenen Zeitalters gezählt werden muss, erweist er sich mit diesem Stück exquisiter Feinmalerei als ein subtiler Ironiker.
War Vermeer ein Nikodemit? Aus Vermeers Lebensumständen hat man geschlossen, dass er zum Katholizismus konvertiert sein müsse. 266 Zum einen war da seine Schwiegermutter Maria Thins, die zunächst die formelle Zustimmung zur Eheschließung des Malers mit ihrer Tochter, Catharina Bolnes, verweigert hatte. Allerdings erklärte sie, sich dem Aufgebot nicht widersetzen zu wollen. Weder sind die Motive für ihre Ablehnung noch für ihre schlussendliche Duldung belegt. Gründe für ihre Vorbehalte gegen Vermeer dürften, wie die Forschung zumeist vermutet, nicht nur die großen sozialen Unterschiede der beiden Familien und die kargen finanziellen Verhältnisse des Bräutigams, sondern auch dessen protestantische Herkunft gewesen sein. Maria Thins stammte aus einer angesehenen katholischen Familie, die Kontakte zu den Jesuiten unterhielt. Dass sie schließlich doch der Heirat zustimmte, die nach katholischem Ritus stattfand, schreibt man der Konversion Vermeers zu. Allerdings ist völlig unbekannt, ob und wann diese geschehen sein soll. Die Eheschließung Vermeers mit Catharina Bolnes fand am 20. April 1653 in dem südwestlich von Delft gelegenen Ort Schipluy statt, wo eine große Zahl katholischer Bürger unter der Betreuung von Jesuiten lebte. Das Ehegelöbnis des Paares wurde vor einem ihrer Patres in einer Schuilkerk abgelegt, einer von offizieller Seite geduldeten „Versteckkirche“. Das freilich ist ein starkes Ar‑ gument für einen katholischen Vermeer. Das Paar lebte in dem großen Haus der außerordentlich wohlhabenden Schwie‑ germutter Vermeers im sogenannten Papenhoek, dem Papstviertel, in einem Stadtteil von Delft, der einen Großteil der katholischen Bevölkerung beherbergte, die in Delft immerhin ein Viertel der Bewohner ausmachte. Alle Kinder des Ehepaares trugen die Namen von Heiligen; darunter war auch ein Ignatius, ein nach dem Gründer des Je‑ suitenordens getaufter Sohn. Die Namensgebung der Kinder mag allerdings in der Zuständigkeit seiner Frau gelegen haben, wie ja überhaupt die holländische Herrin des Hauses in familiären Angelegenheiten dominierte. 267 Einerseits ist die Konversion Vermeers in keiner Weise belegt und wird vereinzelt sogar stark in Zweifel gezogen, 268 andererseits lassen sich die genannten Indizien schwerlich ignorieren. Ebenso wenig sind aber auch die Bildzeugnisse zu übersehen, die mit einer wahrhaft katholischen Orientierung Vermeers bei genauer Betrachtung kaum in Einklang zu bringen sind. Die oben dargelegten Indizien gegen eine solche sind schwerwiegend. Die Frage ist, wie diese Widersprüche sich zueinander verhalten und wie sie erklärt werden könnten. Da dieses Problem erst durch das Augenmerk auf die hier diskutierten religionsskeptischen oder sogar ‑ablehnenden Sinngehalte ver‑ meerscher Kunst deutlich wird, stellt sich das Problem, wie der wie auch immer be‑ schaffene Katholizismus des Malers mit seinem hypothetischen Epikureismus als ei‑ ner zumindest religionskritischen Haltung vereinbar ist. In der konfessionell so vielfältigen und nur scheintoleranten Sozialstruktur des damaligen Holland war für bekennende Epikureer kein Platz. Wer freigeistigen Gedanken anhing, sollte sich zu‑
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War Vermeer ein Nikodemit?
mal in einer konfessionell unterschiedlich, aber deutlich geprägten Umgebung wohl tunlichst bedeckt halten. Dass ausgerechnet die doppelbödige und in mancherlei Hinsicht so befremdliche Allegorie des (katholischen) Glaubens als treuherziger Be‑ weis für Vermeers überzeugten Katholizismus gewertet wird, heißt diesem Maler ein Maß an Naivität zuzuschreiben, das seine Fähigkeit zu subversivem Witz verkennt. Auch wenn Vermeer, wie es scheint, einen Konfessionswechsel vollzogen hat, ist ja nicht zwingend anzunehmen, dass dies aus innerer Überzeugung geschehen sein muss. Sich nur scheinbar zum Katholizismus zu bekennen wäre unter dem persönlichen Druck seiner familiären und finanziellen Situation, aber auch angesichts einer breiten und langen Tradition von gesellschaftlichen Verstellung nach außen nicht ungewöhn‑ lich. Konversion nicht aus Gründen der Überzeugung, sondern aus Gründen der Prag‑ matik ist kein einmaliger Vorgang in der Frühen Neuzeit. Zumal in Holland, wo unter der liberalen und toleranten Oberfläche doch erhebliche Restriktionen gegen religiöse Minderheiten praktiziert wurden, dürfte das Mittel der Verstellung durchaus üblich gewesen sein. In gewissem Sinne war es ja bereits importiert worden durch das er‑ zwungene Doppelleben der iberischen „Marranen“, denen dieser Schandname hart näckig erhalten blieb. Dies waren die zwangsgetauften jüdischen Conversos (Anussim), die ihrem alten Glauben weiter anhingen und im Exil auch in Holland und zumal in Amsterdam, dem „neuen Jerusalem“, zwar Zuflucht und Zukunft gefunden hatten, aber trotz freier Religionsausübung unter neuer Dualität und Heterodoxie litten. Man wird Vermeer kaum zu nahe treten mit der Frage, ob er ein Nikodemit gewe‑ sen sei – eine Wortschöpfung, die an eine problematische Figur aus dem Johannes‑ evangelium erinnert. „Der Begriff des Nikodemiten und des Nikodemismus wurde in seiner modernen Bedeutung von Delio Cantimori geprägt, der damit eine simulierte Zugehörigkeit zum Katholizismus oder zu einer der großen Kirchen der Reformation ausdrückte. Nikodemiten sind stets eine Minder‑ heit von sich äußerlich anpassenden Protestanten oder anderen Heterodoxen in katholischem oder von Dissidenten in welch auch immer konfessionell dominiertem Gebiet. Der Name war von Cantimori aber nicht aus dem Nichts geschaffen worden: vielmehr kommt er im 16. Jahr‑ hundert vor, und zwar in der von Calvin ausgesprochenen Verurteilung des Nikodemismus.“269
Dieser ist im 16. und 17. Jahrhundert ein europaweit verbreitetes Phänomen des Wi‑ derstands gegen religiöse Zwänge und hatte wie diese viele Varianten. Traditionell wurden Nikodemiten auch als Epikureer betrachtet. „Gemeinsam ist all diesen verschiedenen Heterodoxien, den schwärmerischen Sektierern wie den humanistisch gebildeten Nikodemiten und Epikureern, die strikte Trennung von Innen und Außen, des inneren Wesens des Menschen, auf das es einzig ankommt, von seiner äußeren Erscheinung, die bloße Konvention ist.“270
Der Vorwurf der Verstellung, der aber auch als eine klandestine Empfehlung verstan‑ den werden kann, wurde ja gerade schon im Altertum gegen die Epikureer erhoben. So lesen wir bei Plutarch: 150
Es scheint immerhin erstaunlich, wie sehr diese Beschreibung zu den hier vermuteten epikureischen Orientierungen Vermeers und einer sozial bedingten konfessionellen Verstellung passt. Es ist nicht entscheidend, ob er als nomineller Katholik nach außen hin der ererbten reformierten Konfession innerlich weiter anhing, ob er etwa ein heimlicher Franckist oder überhaupt religiös indifferent war. In der Religionsge‑ schichte figuriert der Nikodemismus als eine deviante Haltung zu herrschenden Glaubensbekenntnissen. Als eine abweichende, aber verborgene, die Simulation ebenso wie die Dissimulation nutzende Einstellung, welcher Färbung auch immer, war dies eine zumal seit der Reformation und schon lange davor, seit den Zeiten, als das Christentum Staatsreligion wurde, häufig eingenommene Position. Die Verdam‑ mungen, die sie von Seiten sämtlicher Reformatoren erfuhr, konnten daran nichts ändern. Darüber hinaus muss auch hier die Frage offen bleiben, ob Indifferenz nur gegenüber einer geforderten Konfession bestand oder generell gegen Religion, deren Dogmen, Riten, alle Drohungen und Versprechungen überhaupt, die Epikur ein Dorn im Auge gewesen waren. Nikodemismus war durchaus auch ein Instrument der Dip‑ lomatie, wie die Haltung Wilhelm des Schweigers von Oranien im Spannungsfeld zwischen dem katholischen Spanien und dem protestantischen Sachsen zeigt. Das prominenteste Beispiel opportunistischer Konfessionswechsel in der großen Politik hatte Heinrich IV. von Frankreich vorgelebt. Freilich sind diese Überlegungen nur Vermutungen, die unseren Interpretationen im Sinne eines Epikureismus in Vermeers anschaulicher Gedankenwelt geschuldet sind, und natürlich lassen sie sich nicht direkt nachweisen, denn Nikodemismus ist ja per se nicht offenkundig und im Leben des Einzelnen kaum dokumentiert. Das gilt erst recht für Vermeer, von dem kein Brief, nicht einmal eine Zeichnung erhalten ist und über dessen familiäres Umfeld nur Tauf- und Sterberegister, Notariatsakten oder Rechtsdokumente und ein Nachlassinventar Auskunft geben. Ähnliches gilt auch für Auftraggeber und Käufer von Vermeers Gemälden. Doch welche alternativen Erklä‑ rungsmöglichkeiten gäbe es für die Widersprüche zwischen kirchentreuer Katholizi‑ tät und den satirischen oder subversiven Elementen in Vermeers Malerei? Wie es scheint, ist Ambivalenz nicht nur ein wesentliches Moment des „intrinsic meaning“ seiner Kunst, sondern auch seines Lebens gewesen. Die hier stellvertretend für einen Großteil der Forschung zitierte und quasi als Feststellung deklarierte Behauptung Büttners: „Dass die in den Bildern vorgeführten Dinge nicht real waren, wurde wohl wahrgenommen, jedoch anders als heute, weil in einer zutiefst von religiösen Vorstellungen geprägten Zeit auch die Dinge der sichtba‑
War Vermeer ein Nikodemit?
„(Der Epikureer) heuchelt nämlich, wenn er Gebete spricht und sich zu Boden wirft, ohne ein inneres Bedürfnis danach zu haben, aus Furcht vor den Leuten, und er sagt Dinge, die im Ge‑ gensatz zu seiner Philosophie stehen. […], nach der Opferzeremonie entfernt er sich mit den Worten Menanders: ‚Ich opfere Göttern, die sich gar nicht um mich kümmern.‘ So nämlich, meint Epikur, müsse man sich verstellen, um die Leute nicht vor den Kopf zu stoßen und ihren Hass zu wecken, indem man das tut, worüber andere sich freuen, auch wenn man es selbst missbilligt.“271
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ren Welt nur als schaler Abglanz der wahren, jenseitigen Welt Gottes galten“, 272 mag für große Teile der europäischen Malerei im Barock gültig sein. Für die holländische ist sie kaum eindeutig zutreffend und angesichts der Ästhetik ausgefeilter Vanitasiko‑ nographien nur allzu ambivalent. Für Vermeer, der sich selbst dieser Thematik ver‑ sagt, ist sie vor dem Hintergrund der materialistischen Skeptik und Religionskritik im konfessionell zerspaltenen Holland überhaupt nicht wahrscheinlich und schon gar nicht erkennbar. Wo hätte Vermeer denn einen metaphysischen Anker auswerfen wollen und gibt er uns auch nur irgendeinen entsprechenden Hinweis?
Epikur, Vermeer und anderes Natürlich lassen sich Vermeers Werke nicht passgenau auf die Prinzipien der Lehren Epikurs verteilen, und längst nicht alle Maximen des Philosophen haben einen Nie‑ derschlag im Werk des Delfters gefunden. Aber unsere Vorstellungen von holländi‑ scher Lebenskultur sind auch durch seine Gemälde so stark geprägt, dass das Beson‑ dere dieses bisher unerkannten philosophischen Einschlags, den manche seiner Bilder erkennen lassen, allzu oft als genaue Zustandsschilderung und nicht als ethisches Ideal oder sanftes Postulat aufgefasst worden ist. Es hieße Vermeers Kunst missver‑ stehen, wollte man sie in das Prokrustesbett einer Interpretation als gemalte Philoso‑ phie zwängen. Vermeer hat Epikur nicht „illustriert“. Das wäre viel zu kurz gegriffen. Kunst von dieser Qualität wird niemals mit ihren Mitteln eindeutige Lehrsätze repro‑ duzieren oder gar auf solche reduzierbar sein. Nichtsdestoweniger finden sich deut‑ liche Hinweise auf Epikur bei Vermeer. Sofern auch lebensgestaltende Maximen der Philosophie ihr Anliegen sind, kann lebensschildernde Ikonographie diese zumindest partiell in den Grenzen der Darstellbarkeit von Menschen, in deren Verhalten, ihren Freuden im Streben nach Seelenruhe und moralisch unbelasteter Lust spiegeln. Es geht auch umgekehrt nicht darum, für jedes Bild des Malers die passenden Texte bei Epikur, bei dessen Jünger Lukrez oder auch bei Plutarch, Cicero, Seneca und anderen Autoren zu finden, die den Griechen zustimmend oder ablehnend zitie‑ ren. Obwohl sich solche Bezüge bisweilen geradezu aufdrängen, dürfen sie nicht eng oder gar zwanghaft fixiert werden. Vermeers Kunst bietet ja viel mehr als die poeti‑ sche Veranschaulichung einiger Idealvorstellungen des Philosophen oder seines latei‑ nischen Exegeten, und schon gar nicht will sie sich nur an ethischen Forderungen ausrichten. Aber sie spiegelt etwas wider von der Liberalität Epikurs, in dessen phi‑ losophischem Garten wie schon erwähnt, auch Frauen willkommen waren und sogar Sklaven Zutritt und Redeerlaubnis hatten. Mit Frauen als weisen Menschen war also damals zu rechnen: warum nicht auch in Vermeers Vergegenwärtigungen eines epi‑ kureischen Lebensgefühls? Werden diese Besonderheiten im Blick behalten, gewin‑ nen wir vielleicht eine Erklärung für so manche Eigenart im Werk des Delfters wie etwa gerade jene, dass bei ihm vorzugsweise junge Damen im Kontext der Wegwei‑ sungen des antiken Denkers auftreten. Für Epikur ist Weisheit an kein Lebensalter gebunden, fordert er doch, dass schon junge Menschen sich der Philosophie widmen sollen. Der Delfter hatte womöglich eine Vorstellung dieser Art im Sinn. Vermeer war beileibe nicht der einzige holländische Maler, der geräumige Inte rieurs zum Anschauungsort des stillen, privaten Lebens gemacht hat. Auch Pieter de Hooch, der ebenfalls in Delft tätig, ungleich produktiver als Vermeer war und diesem vielleicht sogar motivische Anregungen lieferte, gibt uns in seinen Gemälden Men‑ schen in ihren alltäglichen Beschäftigungen zu beobachten, wie sie arbeiten und mit‑ einander plaudern, wie sie musizieren und sich beim Kartenspiel oder dergleichen vergnügen. Er zeigt stillende Mütter oder solche, die sich anderweitig ihrer Kinder
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70 Pieter de Hooch, Gold wägerin, Berlin, Staatliche Museen, Gemäldegalerie
annehmen. Wir begegnen fröhlichen Trinkern, blicken unbemerkt in die Stube einer von uns abgewandten Frau bei ihrer vielleicht frommen Lektüre. Anscheinend geht es in diesen Genreszenen um die gleichen selbstbezüglichen Schilderungen des holländi‑ schen Lebens. Doch die meisten Menschen De Hoochs unterscheiden sich in einer auf den ersten Blick nicht ganz leicht zu erkennenden Hinsicht von den Gestalten Vermeers, die sich niemals selbstzufrieden und unreflektiert oder gar mit nutzlosen Dingen die Zeit ver‑ treiben. Ein naheliegender und schon des Öfteren angestellter Vergleich von De Hoochs Goldwägerin (Berlin, Gemäldegalerie) (Abb. 70) mit Vermeers Frau mit der Goldwaage (Abb. 36) macht eine bezeichnende Differenz deutlich. De Hoochs Wä‑ gende widmet sich ihrer prüfenden Tätigkeit mit pragmatischer Sachlichkeit in ihrem quasi vergoldeten Ambiente. An einem Tisch stehend und leicht vorgeneigt legt sie eine Münze auf die Waagschale. Mehr als die geschäftig angespannte Konzentration auf diese schlichte Tätigkeit ist an ihrer Haltung nicht zu erkennen. Galileis Schrift über den Prüfer mit der Goldwaage könnte sie dem Betrachter kaum in Erinnerung rufen. Sie geht ganz in der unzweideutigen Handlungsabsicht auf und interessiert sich nur für ihr Geld. Reflexionen anderer Art haben hier gewiss keinen Platz. Inso‑ fern hat De Hoochs Goldwägerin außer dem Motiv der Waage und der räumlichen Situation nichts mit der denkenden oder meditierenden Haltung und der absoluten 154
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Seelenruhe gemein, welche die in sich versunkene Frau in Vermeers Gemälde aus‑ strahlt. Diese ist einer inneren Betrachtung hingegeben, die die Zweckmäßigkeit ei‑ ner praktischen Handlung transzendiert. Den Kopf unter der weißen Haube leicht zur Seite geneigt und mit geschlossenen Augen bedenkt sie vielleicht die symbolischen Gewichte ihres Instrumentes mit den leeren Schalen. Auf einer höheren Ebene der in‑ nehaltenden Anschauung scheint sie den prüfenden Bezug zu ihm jedoch zu verlieren. Bei De Hooch geschieht dergleichen nie. Stets bleiben die Handlungen seiner Men‑ schen auf sich selbst und ihr pragmatisches, wenn nicht triviales Tun beschränkt. Sogar Vermeers Milchmagd (Abb. 23) verrichtet den schlichten Akt des Milchaus‑ gießens mit einer kontemplativen Verinnerlichung, die sie dem Zweck dieser Hand‑ lung zwar in keiner Weise entfremdet, diesen vielmehr geistig um eine entscheidende Dimension spürbar erweitert. Ein Vergleich von lebensphilosophischen Sentenzen und dem Verhalten von Bild‑ personen kann sich nicht in der Suche nach platten Gemeinsamkeiten erschöpfen. Würde das genügen, müsste zweifellos auch Pieter de Hooch als ein Maler mit epiku‑ reischen Anliegen gelten, was durchaus möglich wäre, durch ihn aber eine deutlich an‑ dere Umsetzung als bei Vermeer erfahren hätte. Überhaupt kann eine gewisse epiku‑ reische Grundstimmung durchaus bei zahlreichen holländischen Genredarstellungen wahrgenommen werden. Der erste ausschlaggebende Unterschied liegt jedoch darin, dass bei Vermeer jede Handlung zwar alltäglich, aber niemals banal ist. Die zweite entscheidende Differenz betrifft die geistige Grundhaltung der Menschen, die man bei De Hooch, Ter Borch und anderen Malern als naiv bezeichnen könnte, was sich gerne auch in entsprechenden Physiognomien äußert. In Vermeers Menschen aber fin‑ den wir meistens Individuen, die ein ausgeprägtes und intelligentes Bewusstsein er‑ kennen lassen. Mit anderen Worten: Keineswegs alle, aber viele Bildpersonen Ver‑ meers, Musizierende vor allem, der Astronom und der Geograph, die Frau mit der Goldwaage, ja, auch die Milchmagd sind denkende Menschen. Das Mädchen, das dem Maler Modell steht und mit gesenktem Blick in der Betrachtung von Kunst seine Rolle in der Malkunst verinnerlicht, auch die beim Schreiben oder Empfang eines Briefes innehaltenden Frauen sind freundliche, den Betrachter auch freundschaftlich anblickende Menschen. Sie begegnen uns erkennbar sinnend, nachdenklich und somit der Philosophie wohl nicht abgeneigt. Zugespitzt formuliert: Sie könnten auch Jünge‑ rinnen Epikurs sein – insofern als sie ihr Dasein anders als bei De Hooch in ihren Handlungen nicht einfach nur leben, sondern auch erkennbar reflektieren, was für Epikur eine Voraussetzung für die Erlangung von Freude, Genuss und Lebensglück ist. Vermeer aber hat Epikurs Liste der Faktoren, die solches ermöglichen, um ein Thema klug erweitert, das in den damals bekannten Schriften des Philosophen – nur einem Bruchteil der Werke dieses Mannes mit dem Ruf eines Vielschreibers273 – nicht vorkommt: das Lachen. Diogenes Laertios erwähnt kein Lachen in Epikurs Schriften; die konkurrierende Schule der Stoiker kennt es ebenso wenig wie – mit wenigen Aus‑ nahmen im Hellenismus – die antike Ikonographie. 274 In christlicher Theologie und Kunst hat es abgesehen von lächelnden Verkündigungsengeln erst recht keinen gern
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geduldeten Platz. Für Vermeers Bildgestalten wie die lachende Dame im Gespräch mit einem Soldaten (New York, Frick Collection) (Abb. 7) oder die Gitarrespielerin (Abb. 8) ist es eine selbstverständliche Äußerung der Lebenslust, die aber nichts zu tun hat mit dem vulgären, exzessiven und womöglich auf derbe Kumpanei mit dem Betrachter zielenden Gelächter in den Bildschöpfungen eines Frans Hals oder Jan Steen und manch anderer Genremaler. Allerdings gibt es auch Werke des sogenannten „Goldenen Zeitalters“, die nicht von der Hand Vermeers sind, deren Beeinflussung durch epikureische Ethik aber schon auf den ersten Blick für wahrscheinlich gehalten werden könnte. Warum auch hätte die künstlerische Rezeption des antiken Weisen sich auf Vermeer beschränken sollen? Wenn er, wie auch immer, Zugang zu dessen Lehren hatte, wäre das doch auch für andere Maler möglich gewesen. Das gilt etwa für Gabriel Metsu, der 1662– 1665 die Brieflesende Dame und ihre Magd sowie den Briefschreibenden jungen Mann am Fenster (beide Dublin, National Gallery of Ireland) (Abb. 71, 72) als Pen‑ dants gemalt hat. Angesichts der wunderbaren Gemütsruhe, mit der die beiden Ge‑ stalten ihren Tätigkeiten nachgehen, möchte man in ihnen durchaus Geistesver‑ wandte der vermeerschen Idealfiguren epikureischer Lebensklugheit sehen. Doch der Schein trügt. Während die Dame sehr konzentriert ihre Lektüre ins Licht des Fensters hält, schlägt die Magd, die ebenfalls ein Papier in der Hand und einen Eimer unter den Arm geklemmt hat, einen Bildvorhang zur Seite und betrach‑ tet das Gemälde, das da zum Vorschein kommt: eine Marine mit Schiffen, die in schwerer See von sturmgepeitschten Wogen und aufschäumender Gischt bedrängt und nahe dem Untergang sind. Das Zimmer des jungen Briefschreibers hingegen schmückt in vergoldetem Rahmen eine Pastorale mit Herdenvieh und Hirten in der Art des Karel Dujardin oder Nicolaes Berchem, ein Sinnbild tiefsten Friedens. Hinter dem geöffneten Flügel des Sprossenfensters wird als größter Kontrast zu der beschaulichen Idylle ein gewichtiger Erdglobus sichtbar. So wie dieser als symbo‑ lische Anspielung auf die weltumspannenden Handelsaktivitäten Hollands, auf große Reisen und Unternehmungen des jungen Mannes verstanden werden kann, enthüllt die Magd das Bild der rauen See im Haus der Briefleserin wie ein propheti‑ sches Menetekel. Es ist wohl ein Hinweis auf die Stürme der Lebensreise und des Herzens, die die Dame des Hauses erwarten und durch Briefe allein dauerhaft kaum besänftigt werden können. Stürme und Schiffbrüche gehören seit alters zu den langlebigen Topoi des Erhabe‑ nen in der Erlebnissphäre des Betrachters aus sicherer Entfernung. So heißt es zu Be‑ ginn des zweiten Buches des Dichter-Philosophen Lukrez‘ Von der Natur der Dinge: „Süß ist’s anderer Not bei tobendem Kampfe der Winde / Auf hochwogendem Meer vom fernen Ufer zu schauen; / Nicht als könnte man sich am Unfall andrer er‑ götzen, / Sondern dieweil man es sieht, von welcher Bedrängnis man frei ist.“275 Freilich ist nicht anzunehmen, dass die Magd mehr als die allgemeinen und ver‑ breiteten Assoziationen zu dergleichen Motiven kennt. Vom Betrachter, dem sie die‑ sen Ausblick öffnet, wird ein umfassenderes Bildverständnis erwartet. Mit ganz ge‑
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71 Gabriel Metsu, Brieflesende Dame und ihre Magd, Dublin, National Gallery of Ireland
ringen, aber deutlichen Anzeichen hat Metsu die kommenden Störungen angedeutet: Ein einsamer Pantoffel steht quer im Raum und ein Fingerhut ist der Dame bei ihrer Näharbeit entglitten und auf den Boden gerollt. Der Schuh mag anspielen auf die Re‑ densart: „Men moet zijn voeten niet in eens anders schoen steken“ – man soll seine Füße nicht in die Schuhe eines anderen stecken, was eine deutliche Warnung vor Ehe‑ bruch zum Ausdruck bringt. 276 Bei aller gegenwärtigen Ruhe der beiden Protagonis‑ ten drohen dieser zweifachen häuslichen Zufriedenheit mit den Risiken der Liebe und Eifersucht, wohl auch der Sinnlosigkeit der fernen Jagd nach Reichtum, doch jene Gefahren, vor denen Epikur so eindringlich warnt. 277 Unter epikureischen Gesichts‑ punkten enthält dieses Bilderpaar unter seiner harmonischen Oberfläche fundamen‑ tale Warnungen. Ein ganz gegenteiliges Signal geht hingegen von Vermeers Briefschreiberin mit Dienstmagd aus (Abb. 51). Auch hier finden wir Anzeichen für eine Störung der häus‑ lichen Ruhe auf dem Fliesenboden. Ein abgerissenes hellrotes rundes Siegel liegt dort neben einem papierenen Etui mit zerknülltem Deckel. Die länglichen Gegenstände darin sind wohl Stangen von Siegellack, deren eine frei davor liegt. Diese Dinge er‑ zählen von der Hast, die diese kleine Unordnung vor kurzem herbeigeführt haben muss. Die Dame des Hauses hat an dem teppichbedeckten Tisch Platz genommen und widmet sich konzentriert und emsig einer Schreibarbeit, während ihre Dienstmagd
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72 Gabriel Metsu, Briefschrei‑ bender junger Mann am Fenster, Dublin, National Gallery of I reland
nicht daran denkt aufzuräumen, sondern mit verschränkten Armen ein wenig zur Seite steht, zum Fenster blickt und offenbar darauf wartet, das Schriftstück im Emp‑ fang zu nehmen. An den geröteten Wangen der Frauen lassen sich noch letzte Zeichen vorausgegangener Aufregung ablesen, die nun aber souveräner Gelassenheit gewi‑ chen ist. Das große Gemälde, das in einem breiten schwarzen Rahmen an der Wand hinter ihnen hängt, schildert die Auffindung des Mosesknaben, als solle die glückli‑ che Rettung des Kindes aus dem Nil irgendein ähnliches Ereignis in der Gegenwart paraphrasieren, das die häusliche Ordnung vorübergehend aus dem Gleichgewicht brachte. Aber wie in dem Gemälde an der Wand sind nun wieder Entspannung und Ruhe eingekehrt. Nicht immer führen Bilder im Bild ohne weiteres zu schlüssigen kontextuellen Er‑ klärungen, doch sie sind geeignet, kleine hypothetische Narrative anzuregen und den Betrachter damit gleichsam an der Sinnstiftung eines Werks zu beteiligen. Dasselbe Bild der Auffindung des Mosesknaben hängt in undeutlicher Wiedergabe auch im Studierzimmer des Astronomen. Dieser zunächst rätselhafte Befund enthält jedoch das Angebot einer stimmigen Übereinkunft mit dem Hauptthema des Bildes, die viel‑ leicht in der Anspielung auf die kosmologische Weisheit der Ägypter gesehen werden kann. 278 Dies wiederum fügt sich gut zu der epikureischen Forderung, die Funktions‑ weisen des Universums zu ergründen. 158
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Stoßen Lebensmaximen der Stoa oder Epikurs, ja von Philosophen überhaupt an Grenzen, wenn es ausschließlich um genuin künstlerische Kategorien und ästhetische Gestaltungsprinzipien jenseits ikonographischer Inhalte geht? Zur Lösung der stritti‑ gen Frage nach Vermeers Verwendung einer Camera obscura z. B. können sie wohl nichts beitragen. Zum Verständnis der Klarheit seiner Räume, zu den Offenbarungen des Lichtes, 279 ja, auch zum Modus des Malens selbst aber schon. Denn ist nicht Ver‑ meers gesamte Malweise selbst ein Ausdruck der tranquillitas animi, die seine abwä‑ gende und langsam ausführende Hand, eine docta manus im wahrsten Sinne, geführt haben muss? Sie lässt sich kaum schöner beobachten als an den berühmten ver‑ schwimmenden Lichtpunkten, ‑tröpfchen und ‑perlen, die der Maler auf den nahe ge‑ sehenen Bildobjekten, vorzugsweise dem Flor der Orientteppiche oder an den Broten auf dem Tisch der Milchmagd und sogar in der Ferne an den Kähnen im Hafen der Stadtansicht von Delft aufleuchten lässt. Auch diese oft bestaunte Eigentümlichkeit der vermeerschen Malerei, sein Pointillé findet bei Epikur eine Erklärung. Sinnliche Wahrnehmung ist für ihn ja ein durchaus materiell zu denkender Vorgang: „Sie ent‑ steht dadurch, daß feinste Teilchen von der Oberfläche der Dinge ausstrahlen und als deren Abbilder (εἲδωλα) in unsere Sinnesorgane eingehen, wie z. B. die Luftströmun‑ gen in unsere Ohren.“280 Natürlich kann dieser Vorgang nicht unmittelbar dargestellt werden, aber die Lichtpunkte lassen sich stellvertretend für die von den Dingen aus‑ strömenden eidola auffassen. Das Malen selbst wird bei der nachgestaltenden Erforschung der Dinge in deren Antworten auf das Licht als tätige ataraxia erlebbar, einer unerschütterlichen Stetig‑ keit, die eine einmal gefasste Bildkonzeption zwar mit Pentimenti und gelegentlichen Übermalungen, aber ohne Schwankungen des Temperaments vollendet. Wie groß die Unterschiede sein können, verdeutlicht schon ein Blick auf Rembrandts oder Frans Hals‘ Malweisen. Deren oft sprunghaft impulsgesteuert erscheinende Pinselgestik und tatsächliche oder inszenierte Leidenschaftlichkeit mit ihren inhärenten Kontras‑ ten bringt das genaue Gegenteil zu Vermeers demonstrativ ausgeglichenem Duktus zum Ausdruck. 281 Freilich ist auch die ruhige Hand kein Merkmal, das auf Vermeers Kunst allein zuträfe. Die holländischen Feinmaler wurden ja gerade ihretwegen ge‑ schätzt und hoch gehandelt. Doch in Verbindung mit den epikureischen Bezügen sei‑ ner Gemälde gewinnt die Ruhe seiner unvergleichlich ausgewogenen Bildkonzeption und ‑ausführung eine Souveränität, die gerade der angestrengten Feinmalerei seiner Zeit fehlt. Freilich stößt die Möglichkeit zur anschaulichen Umsetzung der epikureischen Er‑ kenntnislehre an ihre Grenzen. Die Luftströmungen, die das Hören, die eidola, die das Sehen ermöglichen, sind nicht unmittelbar darstellbar. Dennoch hat Vermeer die so übermittelten Sinneswahrnehmungen in einer seiner Bildfiguren thematisiert. Die Lautenspielerin (New York, Metropolitan Museum) (Abb. 73) sitzt an einem mit Notenblättern bedeckten Tisch, stimmt ihr Instrument und blickt zur Seite aus dem Fenster, durch das ein weiches Licht auf sie selbst und auf die Rückwand des Zimmers mit einer großen Landkarte Europas fällt. Wir wissen nicht, was die junge
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73 Vermeer, Die Lautenspielerin, New York, Metropolitan Museum of Art
Frau da draußen sieht, und wir hören nicht den Ton, den sie soeben anschlägt. Aber wir erkennen ohne weiteres, mit welcher Intensität sie sich diesem Tun ausschließlich widmet, denn ihr Blick ist wie gebannt. Ihr Ohr, dem eine große Perle Bedeutung ver‑ leiht und die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht, ist der Laute zugewandt. Als wolle sie eben jenen Ton auch mit ihrer Singstimme treffen oder zumindest jedes störende Atemgeräusch vermeiden, öffnet sie leicht ihren Mund. Doch lässt sich nicht sagen, ob Konzentration und Aufmerksamkeit mehr dem Gesehenen, mehr dem Ge‑ hörten oder doch beidem gleichermaßen gelten. In der Gestalt der Frau werden die Sinne gleichsam gebündelt und auf einen ge‑ meinsamen Nenner bezogen. Allein in der gleichzeitigen höchsten Bereitschaft dieser ihrer Wahrnehmung gibt sich zu erkennen, dass deren beide Arten auf einem ver‑ gleichbaren Sensorium beruhen. Natürlich dürfen derartige Überlegungen keines‑ falls alleinige Geltung der Interpretation beanspruchen. Frauen, die ihre Laute stim‑ men, sind in der holländischen Malerei keine Seltenheit, doch lässt sich kaum ein anderes Beispiel finden, in dem reines Hören und Sehen völlig losgelöst aus den alle‑ gorischen Konventionen der Sinnesdarstellungen in vergleichbarer Weise aus dem Schatten der Passivität in einen Zustand verinnerlichter Aktivität überführt werden. Zwar mögen andere traditioneller Weise parallel mitschwingende Bedeutungsebenen wie amouröse Freuden oder Sehnsüchte wie bei Hendrick ter Brugghens Lautenspielerin (Wien, Kunsthistorisches Museum), durchaus assoziiert werden, doch gibt es in dem Bild nichts, was dergleichen Hintergedanken wirklich nahelegen würde. 160
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Wie schon angedeutet, sind nicht alle der bisher genannten Eigentümlichkeiten Alleinstellungsmerkmale der Kunst Vermeers. Auch bei anderen und ungleich pro‑ duktiveren Interieurmalern wie Gerard Ter Borch oder Gabriel Metsu gibt es reich‑ lich Orientteppiche, Obstschüsseln und Musikinstrumente als Requisiten eines geho‑ benen Wohlstandes, während Stilllebenelemente mit Vanitasmotiven selbst in deren Œuvre seltene Ausnahmen bleiben. Wie bei Vermeer finden wir Wein trinkende und musizierende Damen allein oder in Herrenbegleitung, meist in oberflächlich heiterer Verfassung. Gelegentlich erscheinen auch Menschen mit ernsterem Gesichtsausdruck, aber bei keinem dieser Künstler ist die Konzentration auf die Menschen selbst auch nur annähernd so eindrücklich wie bei Vermeer, und bei keinem anderen widmen sie sich ihren Tätigkeiten mit dem Ausdruck eines ähnlich ausgeprägten Bewusstseins. Dies freilich ist eine Thematik, die in ihrer Subtilität allein der Malerei vorbehalten und theoretischen Zugängen zur Skala der Ausdrucksmöglichkeiten verschlossen bleiben musste. Vermeers weiträumige, oft ausgeleuchtete Wohnräume nehmen die Bildpersonen in ihre Mitte, fokussieren den Blick auf sie für eine Betrachtung, welche triviale Lebensumstände, wie sie von anderen Malern erzählt werden, vollständig ausblendet. In seiner mittleren Schaffenszeit sind Vermeers Menschen in Situationen ohne Geschehen sogar aus dem narrativen Fluss eines Vorher und Nachher ihrer Handlungen isoliert. Erst in seiner letzten Phase lösen sie sich aus dieser stillebenhaf‑ ten Zeitlosigkeit. 282 Seine dezidiert anthropozentrische Haltung bewahrt sich Vermeer auch bei Dar‑ stellungen von Menschen, die aus ihrem Ambiente herausgelöst sind wie der Spitzenklöpplerin (Paris, Louvre) oder den Mädchen-Tronies (Abb. 1, 3, 4, 15). Im Unter‑ schied zu den Werken von Vermeers Zeitgenossen wirken viele seiner Bilder wie in Erfüllung gegangene Utopien menschlichen Lebensglücks. Häusliche Arbeiten wer‑ den zu Momenten meditativer Hingabe. Anders als es vermutlich Vermeer selbst ver‑ gönnt war, führen die Menschen in seinen Bildern ein Dasein ohne Anspannung und die Last banaler Alltagspflichten. Forschend, lesend, musizierend, frei von den Pflich‑ ten und Bedrängnissen des öffentlichen Lebens und den Bedrohungen einer unkalku‑ lierbaren Zukunft, aber auf einem erkennbar geistigen Niveau genießen sie eine nach innen leuchtende Privatheit, in der kein Gedanke an die Beengungen physischer, me‑ taphysischer, psychischer, politischer, konfessioneller, familiärer oder welcher Art auch immer aufkommt. Diese vernunftgeleitete Anthropozentrik erscheint als ein mildes Phänomen der frühesten Aufklärung, 283 gleichsam als ihre künstlerische Morgenröte, und sie korre‑ spondiert meist auf sehr natürliche, vornehme Weise mit der Lebenskunst Epikurs, die nichts anderes als das menschliche Glück und Wohlergehen zum Thema hat. Dass diese freilich keine universelle Interpretationsbasis für Vermeers Kunst darstellt, son‑ dern „nur“ ein besonderes Licht auf seine „ikonische Anthropologie“ wirft, der epi‑ kureische Interpretationsansatz daher nicht überstrapaziert werden darf, muss nicht eigens betont werden. Wird er jedoch mit Augenmaß angewandt, führt er zur Entde‑ ckung einer – freilich utopischen – Freiheit, die in der Seelenruhe der Selbstgenüg‑
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samkeit liegt, einer Freiheit von Angst und Schmerzen aller Art und damit auch von Leidenschaften und die im Rückgriff auf die Welterklärungen der Antike grundle‑ gend für Aufklärung und Moderne wurde. Freilich setzt das Vergnügen, Vermeers Werk in diesem Sinne lesen zu wollen, die Bereitschaft voraus, sich von den alteinge‑ fahrenen Wegen traditioneller Bildlektüre mit ihren moralischen Vorhaltungen zu lö‑ sen. Diese mögen zwar durchaus bedacht und erwogen werden, doch zeigt sich als‑ bald, dass sie in ihrer Konventionalität keine adäquaten Interpretationszugänge zu Vermeers Sicht auf das menschliche Leben bieten. Natürlich ist zu fragen, wer die Adressaten, die Käufer und Sammler waren, die ein Interesse an Malerei haben konnten, in der epikureische Gedanken ihren Nieder‑ schlag fanden. An erster Stelle wäre hier der vermögende Delfter Pieter van Ruijven (1626–1674) schon deshalb zu nennen, weil aus seinem Nachlass die erstaunliche An‑ zahl von einundzwanzig Gemälden Vermeers in den Besitz seines Schwiegersohnes gelangte. John Michael Montias hat mit intensiven Quellenforschungen umfassende Informationen über das soziale Umfeld und die Liebhaber von Vermeers Malerei zu‑ tage gefördert. 284 Aber nirgends findet sich dort ein Fingerzeig auf besondere philoso‑ phische Interessen. Pieter van Ruijven scheint einem remonstrantischen Milieu zu entstammen, was allerdings nichts über seine Bildung aussagt. Ob er eine Rolle bei der Themenwahl Vermeers gespielt hat, bleibt damit ebenso unbestimmt wie die in‑ tellektuelle Position des Malers selbst hinsichtlich der Indizien für ein katholisches familiäres Umfeld einerseits und sein offensichtliches Interesse für pagane philoso‑ phische Leuchtfeuer andererseits. Dass diese Fragen unbeantwortet bleiben müssen, ist gewiss ein „Schönheitsfeh‑ ler“ unserer Argumentation, aber keineswegs ein Grund sich mit den altgewohnten und verbrauchten Interpretationschemata zufriedenzugeben, die in der Literatur über Vermeer zumeist fortgeschrieben werden. Schon die Annahme, man könne die Bild‑ konzepte eines so differenzierten Geistes mit den üblichen moralischen Topoi der hol‑ ländischen Ikonographie erschließen, wird dem Künstler nicht gerecht und macht es sich mit den bequemen Rezepten herkömmlicher Bildlektüre allzu einfach. Zwar darf auch der Delfter nicht aus seiner Zeit herausgelöst und isoliert betrach‑ tet werden, doch gerade dann kann nicht übersehen werden, dass es durchaus eine allgemeingesellschaftliche Basis für die Aufgeschlossenheit gegenüber einigen epiku‑ reischen Maximen gegeben haben mag. Diese hat sich aber keineswegs aus ungetrüb‑ ten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen in Delft oder Holland überhaupt ge‑ speist, denn von den Voraussetzungen eines friedlichen und prosperierenden Lebens war das Land in den Jahrzehnten nach der Mitte des 17. Jahrhunderts mit den drei niederländisch-englischen Kriegen und den verheerenden Folgen einer französischen Invasion weit entfernt. Dennoch wurde hier der Grund gelegt zu einer im damaligen Europa unvergleich‑ lichen Modernität. Ihre Schlüsselwerte sind Friede, bürgerliche Rechte, verbreiteter Wohlstand, Liberalität, Bildung und Wissenschaften. Obwohl oder gerade weil diese Konstellationen in der Realität der holländischen Gesellschaft und gerade im Leben
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Vermeers äußerst inkonsistent waren, konnten sie als ersehnte Utopie zum Quell einer lustorientierten Lebensphilosophie der Freude, des Genusses und der Genügsamkeit an mäßigem Luxus werden. Sie lieferte eine Voraussetzung für die Überwindung von Aberglauben, Dogmen und Ängsten religiöser Schuld. In einer neuen, vorurteilslosen Sicht auf die Lebensweisheiten Epikurs und seiner Jünger fand sie in dem Delfter ei‑ nen einzigartigen künstlerischen Apologeten. Doch es bleibt die irritierende Erkennt‑ nis, dass wir aus allen Analysen seines Werkes nichts über den Menschen Vermeer selbst, nichts über seine Bildung und auch nichts über seine Lehrjahre und ‑meister erfahren. 285
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Nachwort auch als Einleitung zu lesen mit einem kurzen Exkurs zum Garten der Lüste von Hieronymus Bosch Nachdrücklich und zu Recht hat Nils Büttner die intendierte Mehrdeutigkeit in den Bildern Vermeers und seiner Zeitgenossen hervorgehoben und durch Verweise auf einschlägige Texte belegt. 286 Von einem Publikum, das im Umgang mit der kunstvol‑ len und vielschichtigen Rätselhaftigkeit der Emblematik vertraut und gewitzt war, wurde an einem Gemälde nicht der eindeutige, klare Bildsinn, nicht eine unbezweifel‑ bare Aussage geschätzt, sondern ein reicheres Angebot in Frage kommender und dis‑ kutabler Lesarten. In der Verschleierung lag die Potentialität ihrer vielfältigen Dis‑ kurse. Die Betrachter waren (und sind) nach Maßgabe ihrer Kenntnisse und Bildung wesentlich an der Auffindung und Formulierung künstlerischer Aussagen und deren konventionell kodiertem oder verborgenem Bildsinn beteiligt; sie konnten und sollten durchaus zu unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten finden. „Und so bieten auch Vermeers Gemälde dem Betrachter ein breit gefächertes Spek‑ trum möglicher Interpretationen an, aus dem jeder nach individueller Kenntnis lite‑ rarische oder sonstige Deutungen auswählen mochte, und zwar je nach persönlicher Betroffenheit.“287 Der Reiz lag dabei in der Möglichkeit, nicht nur die Absichten des Malers zu er‑ gründen, sondern ihrer mehr oder weniger deutlichen Sinnoffenheit mit einer eigenen „kreativen“ Auslegung zu begegnen. Als gleichsam geistiger Gehilfe des Künstlers, als Finder einer Quintessenz seines Werkes konnte er im Idealfall in den realen oder ima‑ ginären Wettbewerb mit anderen Betrachtern treten. Gerade darin zeigt sich eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Funktion der Malerei im sogenannten Goldenen Zeitalter Hollands, das eine unglaubliche Menge an Bildern und Bildbesit‑ zern in allen Schichten der Bevölkerung hervorbrachte, aber kaum hermetische Schöpfungen solipsistischer Geister. Wenn in den hier vorliegenden Ausführungen die Lektüre auf den epikureischen Gehalt von Vermeers Kunst fokussiert wird, bedeutet das keinesfalls, dass dieser alle‑ mal zum dominanten oder gar alleinigen Schlüssel des Bildverständnisses gemacht werden soll. Doch schon der Genuss des entdeckenden und tastenden Sehens, die concupiscentia, die Augustinus einst als jenen Teil der verwerflichen Neugierde – curiositas – definierte und der eine reine Augenlust – concupiscentia oculorum – ist, 288 kann ja selbst – und verbündet mit dem Vergnügen am Ausdeuten des Gesehenen – durch‑ aus als dem epikureischen Lustprinzip wesensverwandt verstanden werden. Die alten und im Calvinismus wieder aufs Neue verschärften theologischen Vorbehalte gegen die sinnlichen Begehrlichkeiten hatten ja weitgehend an Bedeutung verloren, für die Musik, für das Theater und natürlich erst recht für die Malerei. Allerdings sieht der Betrachter sich von Vermeer immer dort im Stich gelassen, wo er die beliebten, augen‑ 164
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zwinkernd rezipierten Anspielungen auf unmoralisches Verhalten erwartet. Seine Bildpersonen agieren in dieser Hinsicht neutral; das Behagen an vulgären Zweideutig‑ keiten ist ihnen fremd. Umso tiefer aber reichen die sinnlichen Reize, an denen sie uns teilhaben lassen. Diese beginnen mit ihrer Position im Ordnungsgefüge der viel be‑ wunderten Kunst vermeerscher Perspektivität, breiten sich aus im „stofuitdrukking“, den stupenden Differenzierungen bei der Wiedergabe stofflicher Qualitäten verschie‑ denster Materialien. Von schimmernder Seide, groben, stumpfen Wollgeweben, dem fettigen Glanz glasierter Keramik bis zur matten Oberflächenstruktur einer weißen Wand mit eingehend portraitierten Nagellöchern schenkt Vermeer allen Dingen eine gleichbleibende hochwache Aufmerksamkeit und farbliche Delikatesse. Aber auch und gerade in der kaum fassbaren Subtilität erotischer Anmutung seiner weiblichen Darstellerinnen wie sie uns etwa in dem Mädchen mit dem Perlenohrring (Abb. 1) oder der Briefleserin in Blau (Amsterdam, Rijksmuseum) begegnet, ist Vermeer un‑ vergleichlich und einzigartig unter seinen malenden Zeitgenossen. Die Vielschichtigkeit seiner Bildschöpfungen kann kaum genug hervorgehoben werden, was sich gleichermaßen auf den Reichtum ästhetischer Register wie auf Mut‑ maßungen inhaltlicher Sinngebungen bezieht, welche solch sinnlichem und geistigem Lustgewinn entgegenkommen. Die in der Mitte des 17. Jahrhunderts längst zugängli‑ chen Lehren Epikurs öffnen den Blick auf einen bislang unbekannten Vermeer und bereichern die Lektüre mancher seiner Bildschöpfungen um naheliegende und alter‑ native Aspekte. So gibt es etwa Bezüge auf das höchste erstrebenswerte Gut: die un‑ erschütterliche Seelenruhe, mit welcher das Lustprinzip des antiken Denkers eng ver‑ knüpft ist. Damit hängt die absolute Verankerung zusammen, die Vermeer seinem Werk im Hier und Jetzt gegeben hat, die alle Versuche, transzendente Aspekte seiner Kunst aufzuspüren, ins Ungefähre abgleiten lässt. In mehrfacher Hinsicht muss die Malerei des 17. Jahrhunderts in Holland als Wegbereiterin der Moderne gelten: Zum einen ist da die Freiheit des Marktes; die Bil‑ der konnten als Ware gekauft, gehandelt, verpfändet, als Wertanlage oder sogar als Spekulationsobjekte eingesetzt werden. Ihr Erwerb war in keiner Weise an einen so‑ zialen Status gebunden; auch Bauern sollen Bildbesitz gehabt haben – eine Nachricht, die freilich kaum generelle Gültigkeit haben dürfte. 289 Voraussetzung für diese Frei‑ heit war allerdings die Mobilität der Gemälde, deren Ort anders als in fürstlichen und klerikalen Ausstattungen hier nur selten durch architektonische Vorgaben be‑ stimmt war. Die Privatisierung von Kunst darf auch als eine Folge des weitgehenden Verlustes großer höfischer, kommunaler und kirchlicher Aufträge gesehen werden. Diese Ungebundenheit übertrug sich auf die Möglichkeiten der Bildlektüre. Wo keine kontextuellen Vorgaben zu berücksichtigen sind, ist auch der Betrachter frei, sich ei‑ nen „Reim“ auf das Gesehene zu machen. Das Sammeln und das Sammlerbild hatten Hochkonjunktur. Diese Emanzipation des Gemäldes ist einer der wichtigsten Schritte in der Kunstgeschichte der Neuzeit und wirkt nicht nur bis heute fort, sondern ent‑ faltet erst in der Gegenwart ihre volle Wirkung, die auch in die Suche nach neuen Rückbindungen in übergreifende Kontextualisierungen münden können.
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Die Freiheit des genießenden Sehens bedeutet jedoch nicht, dass Vermeers Bild‑ ideen oder die seiner Zeitgenossen einer Beliebigkeit der Interpretation ausgesetzt ge‑ wesen wären. Abgesehen etwa von Portraits, von Landschaften oder Kircheninte rieurs, die ihren eigenen Qualitäts- und Rezeptionskanon hatten, waren die Basis der Bildlektüre immerhin nachvollziehbare Referenzen. Das konnten zeitgenössische oder antike Autoren und biblische Texte sein, auch religiöse und emblematische To‑ poi. Mithin war das Erkennen oder Konstruieren passender Bezüge ein Ausweis der Bildung und geistigen Präsenz des Betrachters, worauf auch immer in solchen seman‑ tischen Gefilden er sich berufen konnte und mochte. Ambiguität, Ambivalenz, ja Multivalenz blieben aber wohl auch in diesem Rahmen möglich und erwünscht. Die‑ ses Angebot wird hier dankbar angenommen. Leider wissen wir viel zu wenig über den Umgang der Zeitgenossen mit der Male‑ rei ihrer Zeit. Wie war ihr Bildverständnis, wie ihr Umgang mit den erwähnten Mehrdeutigkeiten im angeregten Gespräch? Darüber gibt es keine ad hoc Aufzeich‑ nungen. 290 Die Nachrichten, die sich z. B. in Auktionskatalogen finden, beschränken sich auf handwerkliche und künstlerische Qualität wie „kräftig, feurig und kunstvoll gemalt“ oder dergleichen. Dieser Mangel an Zeugnissen bedeutet freilich nicht, dass Vermeers Publikum schweigend vor seinen Bildern stand. Die ephemeren Diskurse sind nie festgehalten worden und verloren. Das aber darf uns nicht daran hindern, ei‑ gene Wege der Interpretation zu suchen, denn damit kommen wir dem Auftrag des Künstlers nach. Der Rückzug in einen trockenen, phantasiearmen Positivismus würde uns in der Tat stumm machen. Letztlich führt ja das Vergnügen des Sehens und des wetteifernden Interpretierens die Betrachter in der Vergangenheit ebenso wie jene in der Gegenwart unmittelbar auf jenen sinnlichen Kernbereich epikureischer Lebensphilosophie, die in der hedoné, die auch eine Lust des Denkens ist, ein höchst erstrebenswertes Gut sah. Vermeer scheint sich dessen umso mehr bewusst gewesen zu sein, als er manche seiner Bilder mit beträchtlicher Polyvalenz an Sinnhaltigkeit ausgestattet und so dem Genuss des denkenden Sehens oder des sehenden Denkens reiche Nahrung gegeben hat. Vermeer war gewiss kein progressiver Revolutionär; er hat seine geistige Orientie‑ rung an epikureischem Denken ja keineswegs mit unverkennbarem Nachdruck pro‑ pagiert und es ebenso wenig in all seinen Facetten verbildlichen wollen. Vielmehr war er gezwungen, die daraus resultierenden kritischen Positionen klandestin mittels in‑ telligenter Ambiguitäten zu verschleiern. Wer ihm daraus den Vorwurf machen wollte, die Wahrheit der Kunst verraten zu haben, griffe zu kurz. Kunst trägt ihre Wahrheit zwar in sich selbst, gibt sie aber nicht umstandslos preis. Stille oder wort‑ reiche Bewunderung wird ihr nicht gerecht und ist dem Wunsch, die Wahrheit zu ent‑ decken eher abträglich. Sie zu finden setzt durchaus auch fruchtbaren Streit voraus. Ist man einmal auf die Bedeutung der epikureischen Ethik für Vermeer aufmerk‑ sam geworden, stellt sich natürlich die Frage, ob er denn der einzige Maler war, in dessen Werk sie einen wiedererkennbaren Niederschlag gefunden hat. Die umfängli‑ che Ausschau nach anderen Künstlern, etwa Zeitgenossen des Delfters, die in ver‑
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74 Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Madrid, Museo del Prado
gleichbarer Weise die Lehre des alten Griechen reflektiert hätten, kann hier nicht un‑ ternommen werden. Der Hinweis auf ein historisch weiter entferntes Werk soll insoweit hier den An- oder auch Abschluss bilden. Die epikureische Philosophie in der Überlieferung im zehnten Buch von De Vita et moribus philosophorum libri X des Diogenes Laertius wurde in der um 1472 gedruckten Übersetzung des Ambrogio Traversari von humanistischen Gelehrten eifrig benutzt und auch in subversiver Weise ausgebeutet. So musste Epikurs Betonung der Lust natürlich eine Herausforde‑ rung sein, die auch ironische, frivole und obszöne literarische Früchte trug. Einige ih‑ rer Autoren, die wohlweislich Wert auf die Trennung von Dichter und Opus legten, sind oben erwähnt. 291 Eine sehr eigenständige Auslegung epikureischer Lustfürsorge im Hinblick auf ihre poetische Rezeption und wohl ganz im Sinne des mutmaßlichen Auftraggebers kann einem herausragenden niederländischen Maler zugetraut werden, nämlich Hie‑ ronymus Bosch mit seinem Hauptwerk, dem Garten der Lüste, das Anfang des 16. Jahrhunderts, also vor 1516, dem Todesjahr des Malers, entstanden ist (Madrid, Museo del Prado) (Abb. 74). 292 Zwar ist kein authentischer Name dieses Triptychons verbürgt, doch wäre für den Mittelteil kaum ein besserer Titel zu finden. Die Tafel nimmt sich zwischen der biblischen Thematik der Außen- und Innenflügel mit Welt‑ schöpfung, Garten Eden und Hölle, wie ein erratischer Fremdkörper profanster Hy‑ bridität aus. Generationen von Kunsthistorikern haben sich an der Deutung dieses kapitalen Werks versucht. Nur schlanke junge Frauen und Männer bevölkern diesen Garten in ungekannter Harmonie mit sich selbst und in tierischer Gesellschaft. Frei von jeder Furcht, Scham oder Scheu, aber auch ohne den geringsten Anflug von Transzendenz ist dieses bei‑
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spiellose Werk ein Fest des unbeschränkten sinnlichen Genusses seiner Akteure. Die Phantastik der weiten, kristallklaren Flusslandschaft mit ihren aberwitzigen Bauwer‑ ken wird auch von Mischwesen bevölkert, ist aber vor allem Schauplatz einer krei‑ senden Prozession und von endlosen, zeitlosen Erzählungen ohne Anfang und Ende. Aus jedem rationalen Kontinuum und gleichsam aus der Welt und ebenso aus allen jenseitigen Bindungen gefallen, genießen schier unendlich viele nackte Menschen weißer und schwarzer Hautfarben einander. Zuweilen in subtilen durchsichtigen Re‑ fugien geborgen verbergen sie nichts. Sie schnäbeln mit Vögeln jenseits kommensu‑ rabler Maßstäbe und naschen die größten, üppigsten und süßesten Früchte jedweder leiblicher Genüsse. Sie geben sich in paradiesischer Unschuld den zärtlichsten Freu‑ den hin, bevölkern die weitläufigen Gelände der baumgesäumten Flussgewässer, um‑ kreisen auf Tieren aller Arten reitend ein rundes Bassin in der Mitte des Gartens, in welchem Gruppen der schönsten badenden Frauen zu bewundern sind. Ungeachtet der offenen Rätsel, die dieses Bild trotz vielfältiger Interpretationsver‑ suche nach wie vor aufgibt, ließe es sich durchaus als die grandiose Feier eines abso‑ luten Lustprinzips verstehen, welches Epikur so zwar niemals propagiert hatte, das ihm gleichwohl hartnäckig zugerechnet wurde. Als ein früher poetischer Gegenent‑ wurf zum alltäglichen Leben und befreit von der Dominanz biblischer Narrative vom Anfang der Welt und dem Verhängnis ihrer Sündhaftigkeit wie sie auf den Flügeln des Triptychons erscheinen, breitet der Garten der Lüste die Allegorie eines unbe‑ grenzten, sorglosen Hedonismus vor uns aus. Wie im utopischen Rückgriff auf einen vorgeschichtlichen Urzustand ist dieses unbiblische Paradies ebenso vollkommen frei von Schmerz und Ängsten wie ihm Gedanken an Sünde und Schuld fern sind. So wie Epikur die Mythen von Schöpfung, Gotteslohn und ‑zorn zurückgewiesen hatte, ist auch der Garten der Lüste jedem Eingreifen metaphysischer Mächte entzogen. Seine Bewohner entsprechen selbst jener Gottähnlichkeit, die dem Philosophen als Ideal vorschwebte. 293 Insofern ist dieses Bild vielleicht ähnlich wie die literarischen Vorgän‑ ger Zeugnis eines großartig und auf wundervolle Weise poetisch „missbrauchten“ Lustbegriffs epikureischer Prägung. Doch in solcher Übersteigerung ist dieses Fest in seiner traum- und rauschhaften Entrücktheit denkbar weit entfernt von der maßvollen, nüchternen Vorstellung, wel‑ che Epikur und eben auch Vermeer van Delft der Lust in einer wirklichen Welt geben. Und dennoch scheint Boschs Bilderfindung auch in dieser eine beinahe vorbild‑ hafte Entsprechung gehabt zu haben. Als Poggio Bracciolini, der Entdecker jener ein‑ zigen vollständig erhaltenen Handschrift des großen epikureischen Lehrgedichtes von Titus Lucretius Carus (ca. 95–55 v. Chr.), De rerum natura, gelegentlich seiner Teilnahme am Konzil zu Konstanz 1416 einen Abstecher nach Baden in der Schweiz macht, schickt er seinem Humanistenfreund Niccolò Niccoli einen begeisterten Be‑ richt über die dortige Badekultur, der 1510 im Druck (also sechs Jahre vor Hierony‑ mus Boschs Tod) erschienen ist.294 An einem Ort (villa) außerhalb der Stadt zählt er ungefähr dreißig öffentliche wie private Bäder, Voll Bewunderung staunt er über die Unbefangenheit, mit der beide Geschlechter hier in unschuldiger Nacktheit einander
„Das allerdings habe ich bemerkt, obwohl es nur wenige verstehen, wie sehr hier nämlich eine Gemeinde aus der Schule Epikurs zusammenfindet. Zudem glaube ich, dass dies der Ort ist, in dem die ersten erschaffenen Menschen lebten und den die Hebräer Eden (Gan Eden) nennen, mit einem Wort: der Garten der Lüste. Denn wenn die Lust zu einem glücklichen Leben beitra‑ gen kann, dann sehe ich nicht, was diesem Ort zur Vollendung fehlt, gibt es hier doch in jeder Ecke eine vollkommene Lust zu genießen. […] Adlige und einfache Leute gleichermaßen kom‑ men über Hunderte Meilen hierher, nicht nur um der Gesundheit, sondern auch um der Lust willen. Alle Verliebten, alle Heiratswilligen, alle, die ihr Leben ganz auf den Genuss gestellt haben, kommen hier zusammen und erfreuen sich an dem, was sie begehren. […] Hier wirst du unzählbar viele ausgesprochen schöne Frauen finden, die ohne Männer anreisen, ohne Ver‑ wandte, nur mit zwei Mägden […]. Auch Nonnen kommen, die man besser als floralische und nicht als vestalische Jungfrauen bezeichnet. Auch Äbte, Mönche und Priester leben hier in grö‑ ßerer Freiheit als die Übrigen, baden gemeinsam mit den Frauen, schmücken sich die Häupter mit Blumenkränzen und werfen alle Religion von sich ab. Alle fliehen einmütig vor der Traurig‑ keit, suchen nur nach Fröhlichkeit und machen sich keine Gedanken außer dem, wie man lustig leben und das Vergnügen genießen kann. Es geht nicht darum, das Gemeinschaftliche zu ver‑ einzeln, sondern alles Einzelne gemeinschaftlich werden zu lassen.“
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begegnen, über alle herkömmlichen Grenzen hinweg miteinander spielen und sich vergnügen. Er trifft auf eine Welt von schier utopischer Freizügigkeit, in der es keine einschränkenden Gesetze, keine Eifersucht und kein Misstrauen gibt, auf eine Welt, die wie aus Zeit und Geschichte gefallen erscheint. Er schildert die Spiele, bei denen er auch die schönsten Mädchen auf einer großen baumbestandenen Wiese ganz in der Nähe des Flusses beobachtet, und resümiert:
Was Bracciolini hier zu seiner eigenen vollkommenen Lust fehlt, ist allein die sprach‑ liche Verständigung. So wird ihm das Erlebte gleichsam zum überaus lebendigen, aber stummen Bild epikureischer Freuden: „Es blieb also nichts anderes, als die Au‑ gen zu weiden, sie zum Spielen zu schicken, sie hin und her zu führen.“ Er weidet die Augen an und in einem Bild, ähnlich wie auch wir es bei Hieronymus Bosch tun. An‑ ders als dessen Garten der Lüste bietet jener in der Schweiz dem Betrachter zwar keine hybriden Freuden von Mensch und Tier, kommt ihm aber in der Universalität von Lebenslust völlig gleich. Unversehens gerät dem Italiener die Schilderung dieses Ortes, wo die Eifersucht unbekannt ist, und es keinen Namen für die Sache gibt, da es die Sache selbst nicht gibt, zum utopischen Gegenentwurf, den er in scharfem Kontrast zu seinen heimi‑ schen Lebensverhältnissen mit ihren harten Leidenschaften sieht. Der eigentliche Reichtum der Menschen, die er beschreibt, gründe sich, wie er feststellt, in dieser einen (epikureischen) Weisheit: „Nur wenn man gut gelebt hat, hat man überhaupt gelebt.“
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Anmerkungen 1 Hermann Usener (Hg.), Epicurea, Leipzig 1887, Fragment 221. 2 Giordano Bruno, Philothei Iordani Bruni Nolani Explicatio triginta sigillorum ad omnium scientiarum et artium inventionem dispositionem et memoriam, London 1583. 3 Marc Antoine Charpentier, Règles de Composition (Tableau des Énergies des Modes); Wolf‑ gang Auhagen, Studien zur Charakteristik der Tonarten in theoretischen Schriften und Kompositionen vom späten 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1983. 4 S. Werner Weisbach, Der sogenannte Geograph von Velázquez und die Darstellungen des Demokrit und Heraklit, in: Jahrbuch der preußischen Kunstsammlungen 49, 1928, S. 141–158. 5 Grundlegend Thijs Weststeijn, The Visible World. Samuel van Hoogstraten’s Art Theory and the Legitimation of Painting in the Dutch Golden Age (übers. v. Beverly Jackson u. Lynn Ri‑ chards), Amsterdam University Press 2008, hier S. 171, 175. Zur Thematik der Darstellung von Emotionen in der niederländischen Kunsttheorie generell s. ebd. Kap. IV. Vergl. auch Klaus Herding, Bernhard Stumpfhaus (Hgg.), Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, Berlin/New York 2004. 6 Dagmar Hirschfelder, Tronie und Portrait in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Berlin 2008; Franziska Gottwald, Das Tronie. Muster – Studie – Meisterwerk. Die Genese einer Gattung vom 15. Jahrhundert bis zu Rembrandt, Berlin 2011. 7 Vergl. auch Geert Mak, Die vielen Leben des Jan Six. Geschichte einer Amsterdamer Dynastie, München 2016, S. 120. 8 Vergl. auch Stephanie Sonntag, Ein ‚Schau-Spiel‘ der Malkunst. Das Fensterbild in der holländischen Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts, München/Berlin 2006. 9 Leon Battista Alberti, Della pittura libri tre, in: ders., Kleinere kunsttheoretische Schriften, hg. von Hubert Janitschek, Wien 1877, S. 69; Nachdruck Osnabrück 1970. „Dort, wo gemalt wer‑ den soll, zeichne ich ein Viereck mit rechten Winkeln, das ich als ein geöffnetes Fenster nehme, aus welchem ich sehe, was gemalt werden wird.“ S. hierzu Gerd Blum, Epikureische Aufmerksamkeit und euklidische Abstraktion. Alberti, Lukrez und das Fenster als Bild gebendes Dispositiv, in: Horst Bredekamp (Hg.), Imagination und Repräsentation. Zwei Bildsphären der Frühen Neuzeit, München 2010, S. 79–118. 10 Vergl. Gottfried Boehm, Wege der Entgrenzung, in: kunst und kirche, 2, 1988, S. 72–73 und ders., Die Bilderfrage, in: ders. (Hg.), Was ist ein Bild, München 1985, S. 325–243. 11 Vergl. Teresa Posada Kubissa, in: The Young Van Dyck, Ausst. Kat. Madrid 2012, Nr. 1, S. 94. 12 Vergl. hierzu Weststeijn, wie Anm. 5, Kap. IV, insbesondere die Ausführungen zum Stichwort „beweeglijkheid“. 13 Vergl. Erich Köhler, Je ne sais quoi, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel / Stuttgart, Bd. 4 (1976), Sp. 640–644. 14 Weststeijn, wie Anm. 5, S. 157 ff. 15 Hannike Grootenboer, Sublime Still Life. On Adriaen Coorte, Elias van den Broeck, and the „Je ne sais quoi“ of Painting, in: Journal of Historians of Netherlandish Art 8,2; Sonntag wie Anm. 8, S. 13. 16 Samuel van Hoogstraten, Inleyding tot de hooge schoole der schilderconst; anders de zichtbaere werelt, Rotterdam 1678.; s. Weststeijn, wie Anm. 5, S. 157 ff. 17 Vergl. Andreas Prater, Rembrandts Stillleben, in: Pantheon 1996, S. 62–76.
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Anmerkungen
18 Kathrin Wranek, Der gesehene Blick. Äußere und innere Schau als Thema in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Hamburg 2012, S. 160–161. 19 Vergl. hierzu die Bildanalyse von Wranek, ebd., S. 177–180. 20 S. dazu unten das Kapitel Exkurs I. Blauer Lorbeer: Die Malkunst. 21 Léon Krempel, in: Das Gesicht in der frühen Neuzeit, Berlin 2014, S. 108. 22 Geradezu kanonisch sind die Charakterisierungen der Temperamente und ihrer darstellbaren Merkmale durch Leon Battista Alberti geworden: „Du wirst sehen, wie bei dem Melancholiker die Stirn gefurcht, der Nacken schlaff ist, kurz, jedes Glied gleichsam müde und nachlässig he‑ rabfällt. Dem Erzürnten hingegen – weil Zorn das Gemüt in heftige Bewegung setzt – schwellen vor Grimm Gesicht und Augen an. Er wird glühend rot und jedes seiner Glieder ist in umso wil‑ derer Bewegung. Heitere und fröhliche Menschen zeigen Freiheit in ihren Bewegungen, verbun‑ den mit einer gewissen Anmuth in jeder Wendung.“ Alberti, wie Anm. 9, S. 120. 23 Der Turban des Mädchens wird üblicherweise mit der Vorliebe der Zeit für die Türkenmode in Verbindung gebracht; der Vermerk „op sijn Turx“ erscheint in Vermeers Nachlass zur Bestim‑ mung von „twee tronyen“, s. Karl Schütz, Vermeer. Das vollständige Werk, Köln 2017, Quellen S. 250. Doch die orientalische Kleidung gehört auch zur Tracht der Sibyllen. Der Turban steht für den Orient schlechthin, denn er findet sich ebenso bei Prophetendarstellungen. Auch die Perle ist ein Attribut, das auf die Schätze des Orients verweist. Zur Ausstattung der Sibyllen ge‑ hört sehr oft auch der Perlenohrring (vergl. Domenichino – ca. 1620, Dosso, Guercino, Abra‑ ham Janssens – eine schwarze Sibylle). Auch die erythreische Sibylle links auf der oberen Zone der Werktagsseite des Genter Altars von van Eyck trägt Turban und Perlenohrring. Allerdings verweigert Vermeers Mädchen eine eindeutige Identifikation, denn ein wichtiges Attribut der Sibyllen zeigt sie nicht: Schriftrolle oder Buch. Das heißt aber nicht, dass diese Attribute fehlen, denn das Close up ist so nahe, dass ein Buch nicht mehr leicht ins Bildfeld kommen konnte. Frauen traten als Schauspielerinnen in deren Aufführungen auf, vergl. das einleitende Kapitel von Herbert Junkers, Niederländische Schauspieler und niederländisches Schauspiel in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert, Haag 1936, S. 28. Aber ebenso ist zu erwägen, dass die Perle nur ein Epitheton ornans des Mädchens ist, wie oben ausgeführt. 24 Johan Huizinga, Holländische Kultur im 17. Jahrhundert, (1941) München 2007, S. 109–110. 25 Vergl. Majorie E. Wiesemann, Vermeer’s Women, New Haven (Conn.) 2011. 26 Van Hoogstraten: „De Kroostkunde nu is een kennis van uit de bezoderheden die in de ange‑ zichten of tronien der menschen bespuert werden, haer landert, geslacht, geest en neyging des gemoets te verklaren.“ Dazu Weststeijn wie Anm. 5, S. 176–177. 27 Vergl. Birgit U. Münch, Jürgen Müller (Hgg.), Peiraikos‘ Erben, Die Genese der Genremalerei bis 1550, Wiesbaden 2014; Jürgen Müller, Der Gaukler und der Philosoph. Hieronymus Bosch und die Anfänge der Genrekunst, in: Alltag als Exemplum. Religiöse und profane Deutungsmuster der frühen Genremalerei, hg. von Jürgen Müller, Stefano Rinaldi, Sandra Kaden, Mün‑ chen/Berlin 2020, S. 46–61. 28 Vergl. Gerhild Scholz-Williams, Faust verfuhrt: Epikur in der Frühen Neuzeit, in: Festschrift Walter Haug und Burghard Wachinger, hg. von Johannes Janota, Paul Sappler u. a., Berlin 2010, Bd. 1, S. 123–138. 29 Gabriel Rollenhagen, Selectorum Emblematum, 1613, Nr. 35 (Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hg.), Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart/ Weimar 1996, Sp. 1361), bildet eine Frau mit Zaumzeug und Winkelmaß ab unter dem Motto: “Serva modum“ – wahre das Maß! Das Lemma lautet: „Mens servare modum, rebus sufflata secundis, nescit, et affectus fræna tenere sui.“ – Der Verstand weiß das Maß nicht zu wahren und die Zügel seines Affekts zu halten, wenn er vom Glückshauch getroffen wird; vergl. Rüdi‑
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Anmerkungen
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37
ger Klessmann in: Ausst. Kat. Die Sprache der Bilder. Realität und Bedeutung in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Braunschweig 1978, S. 165–168 mit Bezug auf eine entsprechende Deutung von Jürgen Müller. So z. B. auch im Ausst. Kat. Von Frans Hals bis Vermeer, Berlin 1984, S. 320, Kat. Nr. 116. Gregor J. M. Weber, Om te bevestige, aen‑te-raden, verbreeden ende vercieren. Rhetorische Exempellehre und die Struktur des „Bildes im Bild“, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 55, 1994, S. 287–314; ders., Vermeer’s Use of the Picture-within‑a-Picture. A new Approach, in: Ivan Gaskell, Michiel Jonker (Hg.), Vermeer Studies, (Studies in the History of Art, 55, Symposium Papers XXXIII), New Haven/London 1998, S. 295–307, hier S. 303. Zur Rezeptionsgeschichte des Bildes s. auch Christiane Hertel, Vermeer. Reception and Interpretation, Cambridge 1996. S. dazu unten das Kapitel Genuss oder Ehe. Vergl. dazu Daniela Hammer Tugendhat, Das Sichtbare und das Unsichtbare. Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 209–210. Robert D. Huerta, Vermeer and Plato. Painting the Ideal, Lewisburg, Bucknell University Press 2005. Harriet Stone, Tables of Knowledge. Descartes in Vermeer’s Studio, Ithaca U. S., 2006. Karin Leonhard, Das gemalte Zimmer. Zur Interieurmalerei Jan Vermeers, München 2003 hat Erhellendes zum Kunst- und Bildbegriff Descartes‘ beigesteuert. Allerdings wird durch diese Ausführungen nur umso deutlicher, dass es keine wirklichen Berührungspunkte zur Kunst Ver‑ meers gibt. Vergl. Sara Hornäk, Spinoza und Vermeer. Immanenz in Philosophie und Malerei, Würzburg 2004; Hammer-Tugendhat, wie Anm. 34, S. 193–218. Die Dissertation von Hubertus Schlenke, Vermeer mit Spinoza gesehen, Berlin 1998, bietet in gedanklicher und sprachlicher Hinsicht leider zu wenig, um sich auf eine Auseinandersetzung mit ihr einzulassen; vergl. die Bespre‑ chung von Karl Markus Michl in FAZ, 3. Nov. 1998, Nr. 255, S. I, 23.
38 Descartes, Über die Natur des menschlichen Geistes, dass er leichter erkennbar als der Körper, (Meditationes de prima philosophia, zweite Meditation), lt./dt. hg. von Lüder Gäbe, Philoso‑ phische Bibliothek, Bd. 250, Hamburg 1959, S. 34 ff. 39 Vergl. Andreas Prater, Licht und Farbe bei Caravaggio. Studien zur Ästhetik und Ikonologie des Helldunkels, Stuttgart 1992, Kap. II, 3, Farbe und Farbträger in der altniederländischen Malerei, S. 46–50; zu den Erscheinungsweisen von Bildfarbe generell Ernst Strauss, Zur Wesensbestimmung der Bildfarbe, in: ders., Koloritgeschichtliche Untersuchungen zur Malerei seit Giotto und andere Studien, München u. a. 1983. 40 Hammer-Tugendhat, wie Anm. 34, S. 217. 41 Weststeijn, wie Anm. 5. S. 174 f. 42 Nils Büttner, Vermeer, München 2010, Kap. Bilder der Wissenschaft, S. 85 f. 43 Vergl. Eddy de Jongh, Die Sprachlichkeit der Bilder, in: Ausst. Kat. Leselust. Niederländische Malerei von Rembrandt bis Vermeer, Frankfurt a. M. 1993, S. 27. 44 John Michael Montias, Vermeer and his Milieu. A Web of social History. Princeton 1989, S. 341, Dokument Nr. 364; nicht bei Schütz, wie Anm. 23. 45 S. Richard Toellner (Hg.), Aufklärung und Humanismus, Berlin 2015, S. 112. 46 Zur Geschichte der Wiederentdeckung s. Steven Greenblatt, Die Wende. Wie die Renaissance begann (aus dem Englischen von Klaus Binder), München 4201. Ich danke Eva Langenstein, München, die mir dankenswerterweise die Kenntnis dieses Buches vermittelt hat. Vergl. auch Alison Brown, The Return of Lucretius to Renaissance Florence, Cambridge Mass., 2010.
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Anmerkungen
47 Vergl. Dorothee Kimmich, Epikureische Aufklärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1993, S. 78–83. Vergl. auch Susanna Gambino Longo, Savoir de la nature et poésie des choses. Lucrèce et Épicure à la Renaissance italienne, Paris 2004; Karla Pollmann, Epikur als Typos Christi. Lukrez und die christlichen Folgen, Wien 2010, in: Text und Bild, hg. von V. Zimmerl-Panagl, D. Weber, S. 41–55 (Sitzungsber. Öster. Akad. D. Wiss., Phil.-Hist. Klasse 813, – Veröffentl. d. Kommiss. zur Herausg. d. Corpus d. Lat. Kirchenväter, 30); ferner Martin Muslow, Claudia Schmitz, Eigennutz, Statuserhaltung und Naturzustand. Tradierung des ethisch-politischen Epikureismus vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, in: G. Paganini, Edoardo Tortarolo (Hgg.), Der Garten und die Moderne. Epikureische Moral und Politik vom Humanismus bis zur Aufklärung, Stutt‑ gart/Bad Cannstadt 2004, S. 47–85. 48 Zu Gassendi und zur frühen Epikurrezeption vergl. auch Pierre Bayle, Historisches und kritisches Wörterbuch nach der neuesten Auflage von 1740, ins Deutsche übersetzt, Leipzig 1742, S. 396 f. 49 S. Jean-Pierre Schobinger (Hg.), Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 2, Frankreich und die Niederlande, Basel 1993, S. 212–244. Zu Gassendis auch Stanford Encyclopedia of Philosophy (2005) 2013. Der vollständige Titel der erstgenannten Schrift Charletons lautet: Physiologia Epicuro-Gassendo-Charletoniana, or a fabrick of science natural, upon the hypothesis of atoms founded by Epicurus, 1654. 50 Vergl. auch Thomas Franklin Mayo, Epicurus in England 1650–1725, Cambridge 1934. 51 Der ersten lateinischen Ausgabe des griechischen Textes seit der Übersetzung durch den Camal‑ dulenser Ambrogio Traversari, 1433 fertiggestellt, gedruckt in Rom um 1472, folgten bis 1495 acht Inkunabeln nach Traversari und zahlreiche italienische Ausgaben im 16. Jahrhundert. 1659 erschien eine französische Ausgabe: La vie d’Épicure, contenant la doctrine de ce philosophe, Diogene de Laërce; bereits 1655 war auf Niederländisch in Rotterdam erschienen: Kort begrijp van Diogenes Laertius zijnde jet Leven, heerleijke Sprenken, loffeleijke Daden, en sneedige Antwoorden der oude Philosophen: uyt verscheyden Heydensche en andere Schryvers. Eine erudierte Auflistung aller Ausgaben samt Übersicht über die Verbreitung des Werks s. Manuel Kahle, Zum Beispiel Sokrates. Rezeption und Transformation der ‚Vitae philosophorum‘ des Diogenes Laertios im Florenz des 15. Jahrhunderts, Diss. München 2012. Kahles Blick reicht aber weit über Florenz hinaus: „Die internationale Popularität des Textes, mit mehr als fünfzig Druckausgaben im 16. Jahrhundert, bleibt auch im 17. Jahrhundert unverändert.“ (S. 266). Vergl. auch Maximilian Friedrich Schoell, Geschichte der griechischen Litteratur, Ber‑ lin 1830, S. 689 f.; s. auch Josef Rattner, Georg Danzer, Philosophie im 17. Jahrhundert. Die Entdeckung von Vernunft und Natur im Geistesleben Europas, Würzburg 2005, S. 101–102; 108–110. 52 Die Libertins érudits verstanden sich als frei in philosophischer Hinsicht, vergl. Andreas Pietsch, ‚Libertinage érudit‘, Dissimulation, Nikodemismus. Zur Erforschung gelehrter Devianz, in: Neue Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch, hg. von Herbert Jaumann und Gideon Stiening, Berlin 2016, S. 163–196. 53 Zu Gassendis. Kimmich, wie Anm. 47; vergl. auch Philipp Blom, Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart, München 2017, S. 149– 153. Für den Hinweis auf diese Arbeit Bloms danke ich Alexander Rauch, Leipzig. 54 Zu Saint-Évremond und dessen Epikureismus s. Kimmich, ebd. S. 111–113; Michael Jaspers, Saint-Évremond als Vorläufer der Aufklärung (Diss. Münster), Heidelberg 2002. Selbstver‑ ständlich hatte der Epikureismus auch in Holland ausgemachte Gegner, so etwa den Dichter
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Anmerkungen
Joost van den Vondel (1587–1679) in seinem Lehrgedicht Bespiegelingen van God en Godsdienst, 1, 855–860. 55 Seneca, Von der Seelenruhe. Philosophische Schriften und Briefe, hg. und übersetzt von Heinz Berthold, Leipzig 1980, S. 150. 56 „Du wirst mich dick und glänzend mit gut gepflegter Haut sehen, wenn Du lachen willst, als Schwein aus der Herde Epikurs.“ Horaz, Episteln, 1,4,16. Gegen Paul III., Martin Luther, Wider das Papsttum zu Rom vom Teufel gestiftet, Wittenberg 1545. 57 Die Rezeption Epikurs bis zum 20. Jahrhundert und insbesondere in der Renaissance und der Frühen Neuzeit hat ausführlich dargelegt Kimmich, wie Anm. 47; Erasmus von Rotterdam, Colloquia familiaris, 1533, das Schlusskapitel Epicureus; dazu Howard Jones, The Epicurean Tradition, London 1989, S. 163–165. 58 Scholz-Williams, wie Anm. 28, S. 133. 59 Ebd. S. 133. 60 Matthias Roik, Das Spiel mit der Lust. Zwei Skandalautoren des Humanismus, in: Skandalautoren. Zu repräsentativen Mustern literarischer Provokation und Aufsehen erregender Autoreninszenierungen, hg. von Andrea Bartl und Martin G. Kraus, Würzburg 2014, S. 119–140. Eine der zentralen Äußerungen Epikurs, auf die sich diese Autoren womöglich berufen konnten, lautet: „Denn ich habe nichts, was ich als ein Gut verstehen würde, wenn ich die Lüste der Ge‑ schmäcke und die, die aus den Liebesdingen bestehen, und die, die mit den Ohren wahrgenom‑ men werden, und die, die wegen der Lieblichkeit ihrer Form(schönheit) den Augen schmeicheln, wegnähme.“ Vergl. hierzu auch Anm. 176 und die Ablehnung, die Epikur und Lukrez gegen Liebe und Ehe hegten, dazu unten das Kapitel Genuss oder Ehe. 61 Eine konkrete Anknüpfung zwischen Beccadelli und Epikur stellt Lorenzo Valla her, der ihn im Dialog De voluptate (ca. 1431, Neufassung 1433 als De vero bono) die Rolle des Epikureers übernehmen lässt. 62 Gleich zu Beginn des Briefes an Menoikeus. Zu Raffaels Epikur vergl. auch Michael Erler, Epikur in Raffaels ‚Schule von Athen‘? In: Michael Erler (Hg), Epikureismus in der späten Republik und der Kaiserzeit, Stuttgart 2000, S. 273–294. 63 Dazu unten S. 75 64 Seneca, Von der Seelenruhe, wie Anm. 55. 65 S. Rosalind Ingrams, Rubens and Seneca. Rubens‘ Picture „The Four Philosophers“. The Influence of Justus Lipsius and his Circle on the Painter, Oxford 1967. 66 Dieser Begriff spielt auch in der Kunsttheorie eine Rolle, vergl. Valeska von Rosen, Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des „Ut-pictura-poesis“ und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 27 (2000), S. 171–208. 67 Vergl. Gregor J. M. Weber, Die Empirie des Lichts. Anmerkungen zur Lichtbehandlung bei Johannes Vermeer, in: Kritische Berichte 30, 2002, 4, 38–57. 68 Dazu s. Prater, wie Anm. 39, Kap. IV, 6, Die Verwandlung des Raumes, S. 104–110. Natürlich gibt es auch Ausnahmen wie etwa Rembrandts um 1629 entstandenen Maler vor der Staffelei (Boston, Museum of Fine Arts), (Abb. 53). 69 Der vielzitierte Satz aus einem Brief Van Goghs an Émile Bernard charakterisiert Vermeers Pa‑ lette treffend ohne jeden Bezug auf die Trias: „Es stimmt, dass man in den paar Gemälden, die er gemalt hat, die ganze Farbtonleiter finden kann; doch das Zitronengelb, das blasse Blau und Hellgrau zu vereinen, ist bei ihm so kennzeichnend wie bei Velázquez die Harmonisierung von Schwarz, Weiß, Grau und Rosa.“
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Anmerkungen
70 Malte Hossenfelder (Hg), Antike Glückslehren, 2Stuttgart 2013, S. 26. 71 Epikur. Das Leben und die Lehre Epikurs, Diogenes Laertios, Buch X, § 120, übers. und mit kritischen Bemerkungen versehen von Arthur Kochalsky, Leipzig/Berlin 1914, S. 46, § 121; eckige Klammern von mir. 72 Vergl. Lotte van der Pol, The Whore, the Bawd, and the Artist. The Reality and Imagery of Seventeenth-century Dutch Prostitution, in: Lournal of Historians of Netherlandish Art, 2:1 – 2, DOI: 10 5092/jhna.2010.2.1.3. 73 Vergl. etwa den Holzschnitt von Erhard Schoen, Schule der Kupplerin (Wien Albertina, Gra‑ phische Sammlg. 1531), mit dem spottenden Narren im Fenster. Vermeer wollte offenbar nicht das biblische Gleichnis illustrieren – der Verlorene Sohn war kein Soldat wie der Freier in sei‑ nem Bild –, bediente sich aber nichtsdestoweniger der Topoi, mit denen die frühneuzeitliche Ikonographie die biblische Erzählung angereichert hatte. 74 Vergl. Brian Arkins, Epicurus and Lucretius on Sex, Love, and Marriage, in: Apeiron. A Jour‑ nal for Ancient Philosophy and Science, hg. von Christian Wildberg und Benjamin Morison, Bd. 18, Heft 2, 1984, S. 141. Epikurs diesbezügliche Überlegungen haben ja mit dem Grassieren der Syphilis in der Frühen Neuzeit eine ungeahnte Aktualität erfahren. 75 S. dazu unten das Kapitel Genuss oder Ehe. 76 Vergl. Ausst. Kat. Von Frans Hals bis Vermeer, wie Anm. 30, Kat. Nr. 114, S. 316. 77 Vermeer wird als Kontraktion aus „van der Meer“ – „vom See“ erklärt und als Namensände‑ rung, die ein Onkel des Malers, Anthony, 1625 vorgenommen hatte; s. Walter A. Liedke, Genre Painting in Delft after 1650, De Hooch and Vermeer, S. 147, in: Ausst. Kat. Vermeer and the Delft School, New York/London 2001, S. 147. Möglich vielleicht auch: ver Meer, von ver – weit, meer – See. 78 Schütz, wie Anm. 23, S. 74. 79 Arthur K. Weelock, Vermeer and the Art of Painting, New Haven/London 1995, S. 122 f. Vergl. auch Kees Kaldenbach, Ein Flug über die „Ansicht von Delft“. Jan Vermeers Meisterwerk von 1660 als virtuelle Welt, in: Weltkunst 69, 1999, S. 308–310; ferner Arthur K. Weelock, Kees Kaldenbach, Vermeer’s View of Delft and his Vision of Reality, in: Artibus et Historiae, Nr. 6, 1982. 80 Plutarch, Moralia, 778C (= Usener, wie Anm. 1, 544). 81 Epikur, Philosophie der Freude. Eine Auswahl aus seinen Schriften, übersetzt, erläutert und ein‑ geleitet von Johannes Mewaldt, Stuttgart 1949, S. 24. Nach Diogenes Laertios X, § 136, unter‑ scheidet Epikur zwischen zwei Arten der Lust: „Die Seelenruhe und die Schmerzlosigkeit sind ruhige Lustempfindungen; für Freude dagegen und Fröhlichkeit ist Bewegung das charakteristi‑ sche Kennzeichen.“ Im Folgenden bleiben die erst im 19. Jahrhundert aufgefundenen Fragmente aus Herculaneum und die 1888 entdeckte Spruchsammlung des Vatikan natürlich unberücksichtigt. 82 Wie im Falle Epikurs ist Diogenes Laertios auch die wichtigste Quelle für die Gedanken des Aristipp, hier Buch II, 87. 83 Epikur (Mewaldt), wie Anm 81, S. 55 (Hauptlehrsätze § 14). 84 Diogenes Laertios, X, § 119. 85 So z. B. Kaldenbach, 1999, wie Anm. 79. 86 Zum calvinistischen Gebrauch des Delfter Carrillons s. Laura Johanna Meilink-Hoedemaker, Luidklokkenen en speelklokken in Delft. Een cultuurhistorische studie over en Nederlandse erfgoed, Rotterdam 1985, S. 49. 87 Das vollständige Zitat unten S. 145.
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Anmerkungen
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88 Jürgen Müller, Thomas Schauerte, Pieter Bruegel. Das vollständige Werk, Köln 2018, S. 79, s. auch die Kapitel Die Kirche als Fallensteller, S. 221, und Die Kirche als Blindenführerin, S. 254–257. 89 1 Korinther 13,1 (nach Luther). 90 Sebastian Franck, Paradoxa, (Ulm 1534), hg. von Siegfried Wollgast, Berlin 1966, Paradox 89, S. 142. 91 Lukrez VI, 417–420. 92 Dazu auch unten S. 132. 93 Lukrez I, 102–112, hier zitiert nach der Übersetzung von Hermann Diels, Lukrez, Von der Natur, (Lateinisch – Deutsch), Berlin 2013, S. 14 f. 94 In diesem Sinne fasst Jonathan Janson die ironische Pointe der holländischen Glockenproduk‑ tion seit dem 15. Jahrhundert zusammen, The Carrillon in: essentialvermeer.com; zum Ge‑ brauch und Schicksal der Delfter Glocken s. auch ebd., Adelheid Rech, The swinging bells and the „Saint Ursula-beiaard“ of the Nieuwe Kerk in Delft (2006). 95 Epikur (Mewaldt), wie Anm. 81, S. 74. Nr. 38 (Fragment 551); Mewaldt übersetzt diese M axime erwägenswert mit „lebe zurückgezogen!“ Der Satz ist von Plutarch in einer seiner moralphilosophischen Schriften De latenter vivendo überliefert (Plutarch, Moralia, 1128 ff.), s. Ulrich Berner u. a. (Hgg.), Plutarch. Ist „Lebe im Verborgenen“ eine gute Lebensregel?, Darmstadt 2000. 96 S. dazu unten das Kapitel Genuss oder Ehe. 97 Vergl. Lawrence Otto Goedde, Tempest and Shipwreck in Dutch and Flemish Art. Convention, Rhetoric, and Interpretation, London 1989, S. 148; ferner Büttner, wie Anm. 42, S. 49. 98 Herkunft und soziale Lebensumstände sind übersichtlich zusammengefasst von Büttner, ebd. 99 Diogenes Laertios, X, § 119; hier zitiert nach der Übersetzung von Otto Apelt, Bd. 2, Bücher VIII–X, (Leipzig 1921), Hamburg 2008, (Philosophische Bibliothek, Bd. 54), S. 260. Die von Epikur überlieferten Ansichten zur Ehe werden widersprüchlich übersetzt. Andere Zeugnisse, wie jenes von Epiktet, bescheinigen Epikur Ehefeindlichkeit, weil der Weise die mit der Ehe verbundenen Unannehmlichkeiten betont habe. Entscheidend für die richtige Lesart bzw. In‑ terpretation dürften jedenfalls die ausführlichen und eindeutigen Warnungen sein, die Lukrez in De rerum natura auch zu diesem Thema wie stets im Sinne Epikurs ausbreitet; dazu auch unten S. 121. 100 Vergl. auch unten das Kapitel Genuss oder Ehe. 101 Plinius d. J., Epistulae V, 6, 13, vergleicht den Ausblick auf eine Gegend mit einem Gemälde oder einer Landkarte; Vermeer kehrt dieses Verhältnis gewissermaßen um; vergl. auch Nils Büttner, Kartenbilder zwischen Alltag, Kunst und Moral oder: Was man von Vermeer über das Malen und Lesen von Landkarten lernen kann, in: Maria Theresia Leuker (Hg.), Nieder‑ lande-Studien, Münster 2012, S. 174–165. 102 Blum wie Anm. 9, S. 107. 103 Ebd. S. 81–83. 104 Ebd. S. 107 mit Hinweis auf die Villenbriefe des Plinius, die Silvae des Statius und Sidonius Apollinaris. 105 Leon Battista Alberti, De pictura, I, 19. 106 S. Berthold Hub, Die Perspektive in der Antike. Archäologie einer symbolischen Form, in: Europäische Hochschulschriften, Reihe XX, Bd. 720, Frankfurt/Berlin u. a., 2008, hier S. 103. 107 „Ich wenigstens weiß nicht, was ich mir unter dem Gut vorstellen soll, wenn ich mir die Freuden [Lust] an Sättigung, die Wonnen der Liebe, die Genüsse der Musik und der bildenden Künste hinwegdenke.“ (eckige Klammer von mir), vergl. Anm. 176.
Anmerkungen
108 Victor I. Stoichita, Das selbstbewusste Bild, München 1998, S. 184, führt allein neun unter‑ schiedliche Interpretationen auf, zu denen seine eigene und zwischenzeitlich auch noch die eine oder andere hinzukommen. 109 Vergl. Arthur K. Wheelock Jr., Johannes Vermeer, Woman Holding a Balance, c. 1664, NGA Online Editions, https://purl.org/nga/collection/artobject/1236 (24. Februar 2018). Zur christ‑ lich-religiösen Deutung des Bildes vergl. ders. ebd., und ders., The Public and the Private in the Age of Vermeer, Osaka (Japan) 2000, S. 184. 110 S. dazu unten das Kap. War Vermeer ein Nikodemit? Zur Interpretation des Bildes, zumal des „veralteten“ Weltgerichtbildes im Bild s. auch Hammer-Tugendhat, wie Anm. 34; dies. Todesund Jenseitsimagination in der christlichen Kunst, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2, 2014, S. 22–27; ferner Reinhard Liess, Jan Vermeer van Delft, Pieter Bruegel d. Ä., Rogier van der Weyden. Drei Studien zur niederländischen Kunst, Göttingen 2004, S. 39. 111 Vergl. hierzu auch Liess, ebd. 112 Hammer-Tugendhat, wie Anm. 34, S. 203. 113 Vergl. Reinhold Glei, Et invidus et inbecillus. Das angebliche Epikurfragment bei Laktanz, De ira dei, 13, 20–21, in: Vigiliae Christianae, Bd. 42, Heft 1, Leiden 1988, S. 47–58. 114 Brief an Menoikeus 133. 115 Epikur (Mewaldt), wie Anm. 81, Hauptlehrsätze § 1, S. 51; vergl. auch ebd., Brief an Menoikeus, 123, 124, S. 38, s. auch Einleitung S. 28 f.; entsprechend auch Lukrez, De rerum natura, I, 81–101, in der Übersetzung von Karl Ludwig von Knebel, Leipzig 21831 (Frankfurt a. M. 1960), S. 54–61. Diese Haltung konvergiert auffallend mit Spinozas Ablehnung eines Weltge‑ richtes. Dazu Hammer-Tugendhat, wie Anm. 34, S. 214 ff. 116 Entsprechend dem Bild des Jüngsten Gerichtes in diesem Gemälde sollten auch die anderen Bilder im Bild auf ihren Bedeutungsgehalt bzw. ihre Bedeutungslosigkeit im Hinblick auf den Gehalt ihres Ortes untersucht werden. Vergl. z. B. dazu unten S. 96 f., über das Briefschreibende Mädchen (Washington D. C.) und meine Interpretation der Jungen Frau am Virginal stehend im Kapitel Genuss oder Ehe (Lust oder Liebe). 117 Vollständige Texte in: Diogenes Laertios, Das Leben und die Lehre Epikurs, Buch X, § 130 (Kochalsky), wie Anm. 71; ferner: Epikur (Mewaldt), wie Anm. 81, S. 43. 118 Epikur (Mewaldt), ebd., (eckige Klammern von mir). 119 Il Saggiatore nel quale con bilancia esquisita e giusta si ponderano le cose continute nella libra astronomica e filosofica etc., Rom 1632. 120 Greenblatt, wie Anm. 46, S. 263 f. Nach Epikur ist die Anzahl der Atome unbegrenzt, ihre Formen und Kombinationsmöglichkeiten dagegen sehr groß, aber endlich. 121 In deutscher Übersetzung Leipzig 1891. 122 Beide Schriften sind wohl in Zusammenarbeit mit Adriaans Bruder Johannes entstanden: Een Bloemhof und Een Ligt, Amsterdam 1668, Nachdruck Vlaamse Vereniging voor Wijsbegeerte, 1974; Der Titel Een Bloemhof spielt vermutlich ironisch an auf das Buch des Jesuiten Johannes David Den Bloem-hof der Kerckerlicker Cerimonien, Antwerpen 1622. 123 Über die Brüder Koerbagh ausführlich auch Israel, wie Anm. 125, Kap. 10, Radicalism and the People: The Brothers Koerbagh; S. 185–196, hier S. 194. 124 Jürgen Müller, Von Kirchen, Ketzern und anderen Blindenführern. Pieter Bruegels d. Ä. „Blindensturz“ und die Ästhetik der Subversion, in: Eric Piltz, Gerd Schwerhoff (Hgg.), Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz im konfessionellen Zeitalter. Zeitschrift für histo‑ rische Forschung, Beiheft 51, Berlin 2015, S. 493–530. 125 Jonathan Irvine Israel, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity, 1650– 1750, Oxford 2001, S. 11–12; s. die Rezension des Buches von Thomas Hippler, Europäisches
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Anmerkungen
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Hochschulinstitut, Florenz: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-3312; bei J. I. Is‑ rael findet sich kein Hinweis auf Sebastian Franck, obwohl dieser wohl als erster jene Religions‑ kritik formuliert hat, die sich die radikale Frühaufklärung in den Niederlanden zu eigen gemacht hat; s. auch Jonathan I. Israel, Martin Muslow (Hgg.), Radikalaufklärung, Berlin 2014; ferner Winfried Schröder, Ursprünge des Atheismus Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1998; ferner John Greville Agard Pocock, Barbarism and Religion, (5 Bde.) Cambridge 1999–2011. Als Beispiel jener gelehrten Stimmen, die eine rationalistisch-kritische Methode der Bibelinterpretation fordern und jedem Offenbarungsund Wunderglauben entgegentreten, ist hier auch zu nennen der 1666 anonym erschienene: Philosophiae scripturae sacrae interpres, von Lodewijk Meijer; s. dazu Israel, ebd., S. 200–205. Zu diesem Themenkomplex vergl. auch Sonja Lavaert, Winfried Schröder (Hgg.), The Dutch Legacy. Radical Thinkers of the 17th Century and the Enlightenment, Leiden/Boston 2017. 126 Vergl. Ausst. Kat. Bruegel. Das Zeichnen der Welt, Wien (Albertina) 2017/18. Insbesondere den Beitrag von Daniela Hammer-Tugendhat, die die kritisch ablehnende Haltung Bruegels gegen alle Konfessionen beleuchtet. Vergl. auch die Besprechung der Ausstellung von Jürgen Müller in FAZ 01. 09. 2017; ders., Das Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d. Ä., München 1999, insbesondere die vorzügliche Analyse von „Der Aufstieg zum Kalvarienberg“, Kap. III, 3, S. 136–142; ders., Pieter Bruegel. Das vollständige Werk, Köln 2018, S. Kap. I–III. 127 Zur Rezeption von Galileis Arbeiten in den Niederlanden s. Klaas van Berkel, Galileo in Holland before the Discorsi: Isaak Beekman’s Reactions to Galileo’s Works, in: Medelingen der Koniklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, afd. Letterkunde, Amsterdam 1960, S. 263–302; ferner: Filip Adolf Buyse, Galileo Galilei, Holland and the Pendulum Clock, in: O que nos faz pensar, Bd. 26, Nr. 41, Rio de Janeiro 2017, S. 9–43. 128 Nanne van der Zijpp, ‚Stilstaanders‘ Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online. 1959. Web. 24 Jun 2021. https://gameo.org/index.php?title=Stilstaanders&oldid=118746. Huizinga, wie Anm. 24, S. 196. 129 Zu Koerbagh s. Michiel Wielema, Adriaan Koerbagh. A light shining in dark places, to illuminate the main questions of theology and religion, Leiden 2011; ders., Adriaan Koerbagh, in: Dictionary of 17th and 18th–Century Dutch Philosophers, hg. von Wiep van Bunge, Henri Krop u. a., London 2003; ferner Israel, wie Anm. 123, Kap. 10, Radicalism and the People: The Brothers Koerbagh; vergl. auch Mak, wie Anm. 7, S. 163–169. Zu erinnern ist hier auch an religionskritische und antitrinitarische Gelehrte und ihre Konflikte mit Calvin wie Michel Servet, Sebastian Castellio oder die Opfer der Inquisition Giordano Bruno und Lucilio Vanini, die mit ihrem Gottesbegriff zu Vorläufern Spinozas wurden. 130 Vergl. August Buck, Die Kunst des Verstellens im Zeitalter des Barock, Wiesbaden 1981; fer‑ ner Ursula Geitner, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. Und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992. 131 S. unten das Kapitel: War Vermeer ein Nikodemit? 132 Vergl. Gábor Almási, Paola Molino, Nikodemismus und Konfessionalisierung am Hof Maximilian II. in: Frühneuzeit-Info 22 (2011), S. 112–128. 133 Vergl. Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, (Schriften des Vereins für Religionsgeschichte, Nr. 214), hg. von Andreas Pietsch und Barbara Stollberg-Rilinger, Heidelberg 2013. 134 Ausst. Kat. Vermeer and the Delft School, wie Anm. 35, Kat. Nr. 73, S. 383. Derartige „Ka‑ sies“ oder „Kasjes“ waren insbesondere zum Schutz von Feinmalerei gebräuchlich. Vergl. Schütz, wie Anm. 23, S. 62.
Anmerkungen
135 Dirck van Bleyswijck, Beschryvinge Der Stadt Delft etc. (1667–80), Delft 1680. 136 Almut Pollmer-Schmidt, Kirchenbilder. Der Kirchenraum in der holländischen Malerei um 1650, (Diss. Leiden 2011), Weimar 2017, S. 209–222, hier S. 212. 137 Ebd. 218. 138 Zum Begriff des anschaulichen Charakters als Instrument kunstwissenschaftlicher Analyse s. Hans Sedlmayr, Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte, Rein‑ bek 1958, S. 111 ff. 139 Lukrez, V, 1170–1184; s. auch Knut Kleve, Gnosis Theon. Die Lehre von der natürlichen Gotteserkenntnis in der epikureischen Theologie, (Symbolae Osloenses, Suppl. 19), Oslo 1963; Dietrich Lemke, Die Theologie Epikurs. Versuch einer Rekonstruktion, München 1973; s. auch Robert Philippson, Zur epikureischen Götterlehre, in Hermes, Bd. 51, H. 4 (Oct. 1916), bes. S. 574 ff. 140 Lukrez, VI, 68–78. Übersetzung nach Eduard Schwartz, Charakterköpfe aus der Antike, Leip‑ zig 1943, S. 148 f. Zum Vergleich hier Lukrez (von Knebel), wie Anm. 114: „Wann nicht dieses du ganz verbannst aus deinem Gemüte, / Als unwürdig der Götter und fremd ihrer seligen Ruhe, / Werden, geschmälert von dir, die Bilder der heiligen Götter / Dir vor dem Aug‘ oft stehn: nicht so, daß die göttliche Allmacht / Könnte gekränket werden, entrüstet vom Zorne zur Rachsucht; / Sondern dieweil du sie dir im Frieden gefälliger Ruhe / Wirst vorstellen, als schäumeten sie von Wogen des Eifers. / Nicht mit gelassener Brust wirst du dich nahen der Götter / Tempeln, noch ruhig in dir aufnehmen können die Bilder, / Welche, Verkündigerinnen erhabener Göttergestal‑ ten, / Von dem geheiligten Leib zu dem Geist des Menschen gelangen.“ 141 Lukrez, V, 1170–1184. 142 Sebastian Franck, Paradoxa, wie Anm. 91, S. 17, vergl. Müller, wie Anm. 124, S. 519. 143 S. Eintrag in: Lexikon der Philosophinnen, hg. von Ursula I. Meyer und Heidemarie BennentVahle, Leipzig 1997; Brigitte Rauschenbach, Der Traum und sein Schatten. Frühfeministin und geistige Verbündete Montaignes. Marie de Gournay und ihre Zeit, Königstein (Taunus) 2000. 144 Michael Sprang, Wenn sie ein Mann wäre. Leben und Werk der Anna Maria van Schurmann, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2009. 145 Vergl. auch Israel, wie Anm. 123, Kap. 4. 146 Epikur (Mewaldt), wie Anm. 81, S. 54 f. (Hauptlehrsätze § 12, 13), (eckige Klammern von mir). 147 Lukrez (von Knebel), wie Anm. 115, VI, 50–57. 148 Blom, wie Anm. 53. 149 Vergl. auch oben S. 57, 75 f., 80. 150 Dame am Virginal stehend (London) (Abb. 13), Dame am Virginal sitzend (London) (Abb. 24), Konzert (Boston) (Abb. 43), Gitarrenspielerin (London) (Abb. 8). 151 Wegen des rechtsseitigen Manuals kann dieses Muselar der Manufaktur Ruckers in Antwer‑ pen zugeschrieben werden. Die Abbildung eines Instrumentes dieser Manufaktur bei Schütz, wie Anm. 23, allerdings ohne Begründung oder nähere Erklärung. 152 Epikur (Mewaldt), wie Anm. 81, S. 59 (Hauptlehrsätze § 27). 153 Vergl. Majorie E. Wiesemann, Vermeer and Music. The Art of Love and Leisure, hg. von Ra‑ chel Giles, London 2013. 154 Oder: „Musica laetitiae comes et medicina dolorum iure vocor, duce me cura sepulta iacet“, wie die vollständige Version des Distichons lautet – „Ich, die Musik, werde rechtens Begleite‑ rin der Freude und Medizin der Schmerzen genannt: unter meiner Führung liegt die Sorge be‑ graben.“ Die Version „…comes medicina…“ ist prosodisch jedoch nicht passend, weil „comes“
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Anmerkungen
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zwei kurze Silben hat. Es muss also entweder heißen „…comes et medicina…“ oder „…con‑ sors medicina…“ (Freundlicher Hinweis von Karin Zeleny, Wien). Vergl. auch Roger Harmon, ‚Musica laetitiae comes‘ and Vermeers „Music Lesson“, in: Oud Holland, Vol. 113, No. 3 (1999), S. 161–166. Ähnliche Sentenzen finden sich auch sonst auf niederländischen Tastenins‑ trumenten des 17. Jahrhunderts und auch auf Darstellungen derselben, wie z. B. in Jan Steens Familienportrait (William Rockhill Nelson Gallery of Art, Atkins Museum of Fine Art, Can‑ sas City, Missouri): „Musica pellit curas“. Das bedeutet keineswegs, dass Vermeer dieses Motto beliebig und konventionell ausgewählt hat. Vergl. Thierry Grueb, Vermeer oder die Inszenierung der Imagination, Petersberg 2004, S. 125 und Anm. 618. 155 Epikur (Mewaldt), wie Anm. 81, S. 51 (Hauptlehrsätze § 3), (eckige Klammern von mir). 156 Liess, wie Anm. 110, S. 25. 157 Epikur(Mewaldt), wie Anm. 81, Brief an Menoikeus, 130, S. 43 f. 158 Vergl. dagegen Büttner, wie Anm. 42, S. 67–69. 159 Epikur (Mewaldt), wie Anm. 81, Brief an Menoikeus, 127, S. 41. 160 Ebd. 161 Israel van Meckenem, Zwei Affen mit Spiegel und Toilettenutensilien, Kupferstich. 162 Büttner, wie Anm. 42, S. 65. 163 Epikur (Mewaldt), wie Anm. 81, Brief an Menoikeus 130, 131, S. 43 f.: „Auch die Selbstge‑ nügsamkeit halten wir für ein großes Gut, doch nicht, damit wir uns unter allen Umständen am wenigen genügen lassen, sondern damit wir mit wenigem zufrieden sind, wenn wir nicht viel haben. Dabei leitet uns die Überzeugung, daß der eine einen reichen Aufwand am stärks‑ ten genießt, der seiner am wenigsten bedarf, daß alles Natürliche leicht zu beschaffen ist, das Sinnlose aber schwer, und daß schließlich die schlichten Genüsse ebenso viel Freude [Lust] be‑ reiten wie der größte Luxus, wenn nur das Schmerzgefühl des Entbehrens nicht aufkommt. Womit also gemeint ist, daß schon Brot und Wasser, wenn man sie zuvor entbehrte, einen Hochgenuß bereiten können. Außerdem fördert die Gewöhnung an eine einfache, nicht üppige Lebensweise die Gesundheit.“ (eckige Klammer von mir) 164 Dieser Kernsatz ist überliefert u. a. von Porphyrius in Pros Markellan (= Usener 200, wie Anm. 1). 165 Epikur (Mewaldt), wie Anm. 81 und 163; vergl. auch die Ausführungen von Leonhard, wie Anm. 36, Kap. Vermeer und die Farbe. Auf der Suche nach Berührung, S. 172–173, mit den bemerkenswerten Zitaten „kulinarischer“ Assoziationen von Jean Louis Vaudoyer, Geheimnisvoller Vermeer, in: L’Opinion, 30.04. und 14. 05. 1921. 166 Vergl. Simon Schama, The Embarrassment of Riches. An Interpretation of Dutch Culture in the Golden Age, New York 1987 (deutsch: Überfluss und schöner Schein, München 1988). 167 Epikur, Brief an Menoikeus, hier zitiert nach der Übersetzung von Alexander von GleichenRusswurm, Jena 1909, in: Karl Vorländer, Philosophie des Altertums. Geschichte der Philosophie I, mit Quellentexten hg. von Ernesto Grassi, München o. J., S. 265. Es empfiehlt sich generell, verschiedene in der Wortwahl voneinander oft abweichende Übersetzungen mitein‑ ander zu vergleichen. So lautet der hier zitierte Satz beispielsweise in der Textsammlung von Mewaldt, wie Anm. 81, Brief an Menoikeus, 130, S. 43: „[…] daß alles Natürliche leicht zu beschaffen ist, das Sinnlose aber schwer […]“ 168 In der Amsterdamer Versteigerung vom 16. Mai 1696 kam die Bildersammlung von Pieter Claesz. van Ruijven bzw. seines Schwiegersohnes Jacob Dissius mit 21 Gemälden Vermeers zum Verkauf. Darunter befand sich ein angebliches Selbstportrait („‘t Portrait van Vermeer in een Kamer met verscheyde bywerk…“), nach Schütz, wie Anm. 23, Quellen, S. 251, Nr. 30.
Anmerkungen
Die Aussage dieser Quelle ist nicht eindeutig, geht aus ihr doch nicht einmal hervor, ob der Autor dieses Bildes Vermeer selbst oder ein anderer Maler war. 169 Ausst. Kat. Leselust, wie Anm. 43, Kat. Nr. 85, S. 316, mit Bezug auf Montias wie Anm. 44 und S. 191. Vergl. auch das Nachlassinventar Vermeers bei Schütz, wie Anm. 23, Quellen, S. 250, Nr. 24. 170 Ein solches Kleidungsstück ist in Vermeers Nachlass verzeichnet, s. Schütz, ebd., S. 250. 171 Prediger Salomo (Kohelet), bzw. Ekklesiastes 1,9. 172 Epikur (Mewaldt), wie Anm. 81, S. 51 (Hauptlehrsätze § 2). 173 Ebd., Brief an Menoikeus, 125, S. 39, (eckige Klammer von mir). 174 Zitiert nach Epikur. Wege zum Glück, hg. und übersetzt von Rainer Nickel, Düsseldorf, Zü‑ rich 2005, S. 117, (eckige Klammern von mir). 175 Epikur (Mewaldt), wie Anm. 81, S. 52 (Hauptlehrsätze § 5), (eckige Klammern von mir). 176 Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Hamburg 1967, Buch X, § 6, hier in der Übersetzung von Arthur Kochalsky, wie Anm. 71, S. 2, (eckige Klammern von mir). Gerade im Hinblick auf die Rezeption Epikurs in der frühen Neuzeit sind alle modernen Übersetzungen aus dem griechischen Text des Diogenes Laertios ins Deutsche mit Vorsicht zu genießen. Es empfiehlt sich daher, auch zu der lateinischen Fassung des Frater Ambrosius Tra‑ versari zu greifen, Diogenis Laertii de Vita et moribus philosophorum, libri X, Lyon (apud Antonium Gryphium) 1592, die bereits in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in einer Fülle von Handschriften und seit 1472 gedruckt mit zahlreichen Neuauflagen in Gebrauch war. Die fragliche Äußerung Epikurs lautet bei Traversari: „Nam equidem nihil habeo quod bonum intelligam, si saporum voluptates, & quae ex Venereis constant, & quae auribus percipiuntur, quaeque ex formae venustate blandiuntur oculis, auferam.“ – Denn ich habe nichts, was ich als ein Gut verstehen würde, wenn ich die Lüste der Geschmäcke und die, die aus den Liebes‑ dingen bestehen, und die, die mit den Ohren wahrgenommen werden, und die, die wegen der Lieblichkeit ihrer Form(schönheit) den Augen schmeicheln, wegnähme. (Karin Zeleny, Wien, war mir dankenswerter Weise bei der Auffindung der Textstelle behilflich). Auch hier ist die „venustas formae“ vermutlich absichtlich vieldeutig; sie könnte auf Kunstgestaltungen ebenso wie auf menschliche Körper bezogen werden. Lukrez erwähnt Malerei und Skulptur nur am Rande, De rerum natura VI, 1450–52. Cicero (Tusc. 3, 41) übersetzte Epikurs Aussage so: „Nec equidem habeo, quod intellegam bo‑ num illud, detrahens eas voluptates quae sapore percipiuntur, detrahens eas quae rebus perci‑ piuntur veneriis, detrahens eas quae auditu e cantibus, detrahens eas etiam quae ex formis percipiuntur oculis suavis motiones, sive quae aliae voluptates in toto homine gignuntur quo‑ libet sensu.“ – Ich weiß allerdings nicht, was ich für das Gute halten soll, wenn ich die Freuden ausschließe, die man durch den Geschmack genießt, oder die durch Anhören von Musik ent‑ stehen, oder durch Betrachtung von schönen Dingen hervorgerufen werden, wenn ich ferner die wohligen Erregungen oder die anderen Genüsse ausschließe, die im ganzen Menschen durch ein beliebiges Sinnesorgan erzeugt werden), Cicero, Tuskulanische Gespräche, 3. Buch, dritter Tag, übersetzt von A. Kabza, München 1959, S. 106. In dieser Übersetzung fehlt seltsa‑ merweise der Hinweis auf die Liebesdinge, die bei Cicero aber sehr wohl enthalten sind; Vergl. auch Anm. 51. 177 S. dazu unten das Kapitel Lust oder Ehe. 178 Norbert Schneider, Vermeers „Atelier“-Bild in Wien. Versuch einer Neudeutung, (Abschieds‑ vorlesung vom 19. Mai 2010) Karlsruhe 2011, hat eine Neudeutung als politisches Bild vorge‑ legt. Er interpretiert den Gipsabguss als Anspielung auf die Totenmaske Willems von Oranien (S. 27), was allerdings kaum mit der Überlebensgröße des Objektes in Einklang zu bringen ist.
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Anmerkungen
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179 S. Schütz, wie Anm. 23, Quellen, S. 250. 180 Als Tronien wurden nicht nur Köpfe und Büsten, sondern auch Halb- und Dreiviertelfiguren bezeichnet. 181 Vergl. Wolfgang Kemp, Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 19, 1974, S. 219–240. 182 Philips Angel, Praise of Painting. Translated by Michael Hoyle, with an introduction and commentary by Hessel Miedema, in: Simiolus, Vol. 24, 1969, S. 227–258. 183 Hermann Ulrich Asemissen, Jan Vermeer. Die Malkunst. Aspekte eines Berufsbildes, Frank‑ furt a. M. 1988, S. 38–40, hat m. W. als erster überzeugend dargelegt, dass die Kleidung des Malers durchaus als zeitgenössisch zu verstehen ist. 184 Vergl. Albrecht Schöne, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 31993, das Kapitel Vom Bild zum Spiel, S. 208–213, ferner Sturla Gudlaugsson, Ikonographische Studien über die holländische Malerei und das Theater des 17. Jahrhunderts, Würzburg 1938; vergl. auch Daniel Fulda, Komik des Sichtbarmachens. Zu Körper und Verkleidung als Medien des Wanderschauspiels mit einer Wendung von der Medialität des Komischen zur Komik als Medium, in: Anthroplogie und Medialität des Komischen im 17, Jahrhundert (1580– 1730), hg. von B. Becker-Cantarino, Martin Bircher u. a., Amsterdam/New York 2008, S. 84: „Die niederländischen Truppen, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Deutschland unterwegs waren, führten das Prinzip szenischer Evidenz so konsequent durch, dass sie ihren ernsten Stücken, oft Akt für Akt, ‚lebende Bilder‘ aus den nachfolgend auftretenden Figuren voranstellten, die Vertooningen (Darstellungen) genannt wurden.“ S. auch ebd. S. 82. Die Darstellung lebender Bilder war auch bei den Bentvueghels ein beliebtes Bildthema. 185 Sonntag, wie Anm. 8, S. 229–234. 186 Cesare Ripa, Iconologia, Amsterdam 1644. 187 Leonaert Bramer, der in engerer Beziehung zu Vermeer stand und als Zeuge für dessen beab‑ sichtigte Eheschließung mit Catharina Bolnes aussagte (vergl. Schütz, wie Anm. 23, Quellen, S. 248, Nr. 4), erhob 1661 im Programm der Lukasgilde in Delft die Malerei als achte in den Kreis der Freien Künste. 188 Schneider, wie Anm. 176, S. 30–33, sieht in dem Kranz keinen Lorbeer, sondern Blätter des Orangenbaums als Anspielung auf die Oranier. Allerdings finden sich keine Indizien in dem Bild wie z. B. eine Blüte oder Orange, die dieser ansonsten vagen Assoziation Gewicht geben würden. 189 Ausst. Kat. Wien 2010, hg. von S. Haag, E. Oberthaler u. a., Salzburg 2010. 190 S. ebd. in den Beiträgen von Robert Wald, S. 207, und Elke Oberthaler, Jaap. J. Boon u. a., S. 229 f. 191 Diese Feststellung bedarf allerdings einer vorsichtigen Abwägung, für die freilich die gemälde‑ technischen Voraussetzungen noch nicht gegeben sind. Ein Gang durch eine Gemäldegalerie alter Meister mit Landschaften des Barock, seien es italienische oder niederländische Bilder des 17. Jahrhunderts, kann auf ein sonderbares koloristisches Phänomen aufmerksam machen: Es fehlt zumeist ein echtes Grün. Die Vegetation, die Bäume, Sträucher etc. erscheinen vorwie‑ gend in Olivtönen, oft bräunlich oder in anderen Verfärbungen. Diese Farbvermeidung ist schwer erklärbar, standen den Malern doch durchaus geeignete Pigmente zur Wiedergabe satt‑ grüner Pflanzen zur Verfügung. In dieser Hinsicht nimmt Vermeer eine Sonderstellung ein. Nur in wenigen Bildern hat er Vegetation dargestellt, so in der Kleinen Straße (Abb. 28), wo ein blau blühender und grün durchsetzter Strauch an einer Hauswand wächst, und an den Bäumen in der Ansicht von Delft (Abb. 27), wo blaues Laub zu sehen ist. So lange keine gemäldetechni‑ schen Untersuchungen vorliegen, die Rückschlüsse auf eventuelle Pigmentverluste zulassen
Anmerkungen
oder sie ausschließen, lässt sich nicht entscheiden, ob und weshalb Vermeer Grün in der Vege‑ tation gemieden haben sollte, sofern es nicht in Bildern im Bild erscheint. Immerhin gibt es Grün ja als Lokalfarbe in vielen Gemälden Vermeers. Doch abgesehen davon ist festzuhalten, dass der Maler eine große Vorliebe für das Blau hatte; er ist sogar der Entdecker blauer Schat‑ ten. In der Ansicht von Delft (Abb. 27) sind auch einige Dächer und Turmhauben blau, und es ist kaum anzunehmen, dass sie ursprünglich alle grün gewesen seien. Grün patinierte Dächer gibt es in holländischen Stadtansichten kaum. Jedenfalls tragen diese blauen Flächen mit ihrer „Fernfarbe“ zur Distanzierung in Vermeers Delfter Stadtvedute im Gesamteindruck bei. 192 Vergl. auch Sonntag, wie Anm. 8, hier vierter Teil, I. Malerei und Theater, insbesondere: Die Rückwirkung des Theaters auf die Malerei, Das ‚lebende Bild‘ im Bild, S. 224–227. 193 Angel, wie Anm. 182, S. 227–228. 194 Es ist zu beachten, dass auf der Karte Norden nicht wie üblich oben liegt, sondern der Kom‑ pass um 90° nach rechts gedreht ist. Diese Zeigerichtung betont Büttner, wie Anm. 42, S. 105. Vergl. auch Richard Helgerson, Genremalerei, Landkarten und nationale Unsicherheit im Holland des 17. Jahrhunderts, in: Ulrich Bielefeld, Gisela Engel (Hgg.), Bilder der Nation. Kulturelle und politische Konstruktionen des Nationalen am Beginn der europäischen Moderne, Hamburg 1998, S. 123–153. 195 Büttner, ebd. 196 Rätselhaft und offenbar bisher unbemerkt, da nicht leicht zu entdecken, ist auch die Tatsache, dass der mittlere der S‑förmig geschwungenen Arme des Kronleuchters bedeutend kürzer als die übrigen ist. Seine Kurvierung reicht nach unten nicht annähernd so weit wie jene der ande‑ ren Arme, die z. T. ebenfalls ungleiche Längen haben. Der Doppeladler muss durchaus nicht mit einem Bekenntnis zum habsburgischen Kaisertum verstanden werden. Vergl. Sigurd Erixon, Mässing. Svenska manufakturer och konsthantverks produkter under 400 år, Lund 21978 (11943), S. 43; Erdmute Beate Mascher, Kronleuchter. „Lux ad illuminandas gentes“. Studien zu Schaftkronleuchtern aus Messing des 16. bis 18 Jahrhunderts in Norddeutschland, Diss. Kiel (Masch. Manuskr.), Bd. 1, S. 59–61, 147–149. 197 Jan van Eyck war bekanntlich vorübergehend unter Johann von Bayern an der Residenz der Grafen von Holland zu Den Haag tätig, stand aber nach dem Tod des Herzogs 1425 ganz in Diensten Philipps des Guten von Burgund in Brügge, für den er u. a. bei diplomatischen Mis‑ sionen im Ausland künstlerisch tätig war, so wie später z. B. auch Rubens. 198 Eine Ausnahme stellt der Feinmaler Gerrit Dou dar, den Charles II. von England als Hofmaler zu gewinnen suchte. Gesucht waren bei feinsinnigen europäischen Kennern auch die bezeich‑ nender Weise gänzlich unmonumentalen nordeuropäischen Trompe-l’œil Spezialisten, s. Ce‑ leste Brusati, „Honorable Deceptions and Dubious Distinctions. Self-Imagery in Trompel’œil“, in: Illusion, Gijsbrechts, Royal Master of Deception, hg. von Olaf Koester, Kopenhagen 1999, S. 61–69. 199 Büttner, wie Anm. 42, S. 105. 200 Joachim von Sandrart, Teutsche Academie, Nürnberg 1675 ff., II, Buch 3, S. 326. Vergl. auch Jan Ameling Emmens, Rembrandt en de Regels van de Kunst, Utrecht 1968. 201 Vergl. Simone Speth-Holterhoff, Les peintres flamands de cabinets d’amateurs au XVII Siècle. Brüssel 1957; ferner Alexandra Matzner, Die Gemäldegalerie des Erzherzogs Leopold Wilhelm von Österreich. Theatrum Pictorium Brüssel 1660, in: Ausst. Kat. Fürstenglanz. Die Macht der Pracht, hg. von A. Husslein-Arco und T. G. Natter, Wien 2016, S. 75–83; vergl. auch Renate Schreiber, „Ein Galeria nach meinem Humor“. Erzherzog Leopold Wilhelm, Wien 2004.
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Anmerkungen
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202 Luisa Stenkowsky, Jacobus Vrel. Studien zur Interieurmalerei, Wien 2014, S. 5–6. 203 S. Simone Speth-Holterhoff, Trois amateurs d’art flamande au XVIIe siècle, in: Revue belge d’archéologie et d’histoire de l’art 27, 1958, 1/4, S. 45–62; Julius S. Held, Rubens and his Circle. Studies, Princeton, NJ, 1982. 204 Schütz, wie Anm. 23, Quellen Nr. 17, S. 249. 205 S. unten Kap. Exkurs II. Die Allegorie des (katholischen) Glaubens. 206 Dass der Wohlstand im holländischen Goldenen Zeitalter auf merkantilistischen Prinzipien mit gnadenloser Ausbeutung der armen Bevölkerung als billige Arbeitskräfte, auf Sklaven‑ handel und Sklavenarbeit beruhte, wird nirgends in der Kunst thematisiert und darf vor der Verkündung der Menschenrechte auch nicht erwartet werden. 207 Epikur, Hauptlehrsätze § 23, 24; Lukrez, De rerum natura IV, 480–498. 208 Theophil Thoré (W. Buerger), Jan Vermeer van Delft, (1866), deutsch von Paul Prina, Leipzig 1906, S. 41. 209 Christiane Rambach, Vermeer und die Schärfung der Sinne, Weimar 2007, S. 80. 210 Zu Gassendis sinnenbasierter Argumentation gegen den Gottesbeweis von Descartes oben S. 39. Vergl. auch Jürgen Müller, So ist die Seele wie die Hand – Rembrandts ‚Aristoteles mit der Büste des Homer‘, in: Bild, Blick, Berührung. Optische und taktile Berührung in den Künsten, hg. von Tina Zürn, Steffen Haug, Thomas Helbig, München 2019, S. 73–88. 211 Vergl. dagegen Lawrence Gowing, Vermeer, London 1970, S. 21, 25. 212 Vergl. Hermann Bauer, Rembrandt vor der Staffelei, in: Festschrift für Wolfgang Braunfels, hg. von Friedrich Piel und Jörg Träger, Tübingen 1977, S. 1–11. 213 Hartmut Böhme, Das reflexive Bild: Licht, Evidenz und Reflexion in der Bildkunst, in: Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit, hg. von Gabriele Wim‑ böck, Karin Leonhard u. a., Münster/Hamburg/London 2007, S. 349. 214 So schon Thoré (W. Buerger), wie Anm. 206, S. 57, zustimmend zitiert von Büttner, wie Anm. 42, S. 79. 215 Antwerpen 1608, S. 3. Eddy de Jongh, Zinne- en minnebeelden in de schild erkunst van de zeventiende eeuw, Amsterdam 1967, S. 49 f. Vergl. auch Dieter Beaujean, Bilder in Bildern. Studien zur niederländischen M alerei des 17. Jahrhunderts, Weimar 2001, zu Vermeer allge‑ mein S. 147–175. 216 Es ist kaum vorstellbar, dass der Maler dieser Tatsache keine Bedeutung beigemessen hat, wie Eddy de Jongh, ebd., annimmt; und ders. wie Anm. 43, S. 26. Vergl. auch die seltsam abstrakte Interpretation von Ivan Gaskell, Vermeer‘s Wager. Speculations on Art History, Theory and Art Museums, London 2000, S. 83 f.; ders. Vermeer and the Limits of Interpretation, in: Ivan Gaskell (Hg.), Vermeer Studies, New Haven u. a., 1998, S. 230. 217 Lukrez, De rerum natura IV, (übers. von Knebel, wie Anm. 115), 1063–1067 und 1073–1078. 218 Ebd., 1063–1067. 219 Ebd., 1073–1076. Vergl. auch Arkins, wie Anm. 74. 220 Diogenes Laertios X, § 119, s. die Übersetzung von Otto Apelt, wie Anm. 99. Die in ihrer Aus‑ sage ganz entgegengesetzte Übersetzung der Stelle von Kochalsky, wie Anm. 71, S. 46, kann angesichts der eindringlichen Warnungen vor Liebe und Ehe bei Lukrez nicht zutreffen. 221 Diogenes Laertios X, § 118. Von Epikur selbst ist überliefert, dass er lebhaften Umgang und auch Briefverkehr mit Hetären pflegte und als Unverheirateter den Liebesfreuden durchaus zu‑ getan war. Vergl. auch oben Anm. 176. 222 Allenfalls erinnert diese Felsenlandschaft an einige Gemälde Joos van Mompers.
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Anmerkungen
223 Interessant ist, dass auch ein Theologe wie der in den Niederlanden vielgelesene Sebastian Franck, obgleich ein Gegner des Zölibats und selbst verheiratet, Vorbehalte gegen Ehe und Familie hatte. „Einerseits preist er die eheliche Liebe, andererseits hält er es für wünschenswert, ‚der Welt ab‑ zusterben‘, also auf weltliche Bindungen zu verzichten und dadurch Freiheit zu erlangen.“ S. den sehr fundierten Wikipedia-Beitrag: https://de.wikipedia.org/wiki/Sebastian_Franck (24.06.2021), insbesondere das Kapitel Freiheitsideal. Allerdings kann diese tief religiös fun‑ dierte Einstellung nicht ohne weiteres in die Interpretation von Vermeers Bild übertragen werden. 224 Vergl. hierzu generell: Jürgen Müller, Vom lauten und leisen Betrachten. Ironische Bildstrukturen in der holländischen Genremalerei des 17. Jahrhunderts, in: Wilhelm Kühlmann (Hg.), Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, Frankfurt a. M. u. a. 1994, S. 607–647. 225 Ovid, Remedia amoris, S. 15–22. 226 Ebd., S. 91. 227 Gregor J. M. Weber, Caritas Romana. Ein neu entdecktes Bild im Bild von Johannes Vermeer, in: Weltkunst, Jg. 70, Heft 2 (Februar 2000), S. 225–228, hier S. 227, Anm. 5; s. auch Jutta Sperling, Roman Charity. Queer Lactations in Early Modern Visual Culture, Bielefeld 2016. 228 Valerius Maximus, Factorum ac dictorum memorabilium, 5,4 De pietate in parentes. 229 S. oben S. 95, und Anm. 157. 230 Vergl. Ausst. Kat. Leselust, wie Anm. 43. 231 Schütz, wie Anm. 23, S. 240. 232 S. unten Kap. War Vermeer ein Nikodemit? 233 Arthur Wheelock, Jan Vermeer, New York 1981; Walter Liedke, in: Ausst. Kat. Vermeer and the Delft School, New York 2001, Kat. Nr. 77, S. 399. Eine positive Würdigung des Gemäldes auch von Christoph Wagner, Jan Vermeers „einziger Fehler“? Zum Verhältnis von Bild und Optik in der „Allegorie des Glaubens“, in: Lorenz Dittmann (Hg.), Sprachen der Kunst. Festschrift für Klaus Güthlein zum 65. Geburtstag, Worms 2007, S. 77–87. Die Vermutung, das Gemälde sei für eine von den Jesuiten unterhaltene versteckte Hauskirche in der Nachbar‑ schaft Vermeers bestimmt gewesen, ist durch nichts belegt. Die erste Besitzerschaft des Bildes ist unbekannt, der erste nachweisbare Eigentümer war ein protestantischer Postmeister in Amsterdam, aus dessen Nachlass es 1699 versteigert wurde. Vergl. auch Gregor J. M. Weber, Der katholische Vermeer, in: Art and Catholicism in the Dutch Republic, Frankfurt a. M. (noch unveröffentlichter Vortrag daselbst 2017); ferner Valerie Lind Hedquist, The Real Presence of Christ and the Pentent Mary Magdalen in the ‚Allegory of Faith‘ by Johannes Vermeer, in: Art History, Vol. 23, No. 3, September 2000, S. 333–364. Liess, wie Anm. 110, S. 40–43, mit durchaus nachvollziehbarer Kritik auch an der selbstrefe‑ rentiellen mystifizierenden Sicht auf die Rolle der Malerei im Spiegel der Glaskugel, wie sie bei Christoph Wagner, wie Anm. 233, zu lesen ist. Die blaue Farbe der Dornenkrone ist kaum das Resultat einer Pigmentveränderung. Sie wird wohl absichtlich als verblasst und von einem übermächtigen liturgischen Buch zur Marginali‑ tät zurückgedrängt gezeigt. Das lässt sich als Stillleben einer subtilen Form von Religionskri‑ tik verstehen: Eigentliches wird von Uneigentlichem verdrängt, das Leiden Christi von den Quisquilien seiner religiösen Verwaltung. Vergleichbare auf eine profane gegenständliche Ebene übertragene sakrale Auszeichnungen gibt es bekanntlich bereits in der altniederländischen Malerei wie in der Madonna mit Kind vor dem geflochtenen Ofenschirm von Robert Campin, London, National Gallery. Das Gemälde zitiert eine Komposition von Jacob Jordaens, die Vermeer allerdings durch Fort‑ lassung des Knechtes auf einer rückseitig ans Kreuz gelehnten Leiter verändert hat.
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Anmerkungen
238 Wie Anm. 230, dort Abb. 6. 239 Nach James A. Welu, Vermeer. His Cartographic Sources, in: Art Bulletin 57 (1975), S. 529– 547, hier. S. 541–143. Die Widmung lautet: „Illustrissimo / Principi Do Mauritio / a Nassau, Principi Au / riaco, comiti à Nassau, / etc. Gubernatori Pro / vinciarum Fœderatuaru / Sum‑ moque Praefecto / mari In / feriori Ger / maniae. Domino suo / colendissimo“. 240 Lukrez (von Knebel) wie Anm. 115, I, 84–102: „Solche Verbrechen rät dem Menschen die Re‑ ligion an!“ Zu den generellen Übeln der Religion s. ebd. I, 62–121. 241 Martin Pott, Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik, Berlin 2011, S. 58, mit Bezug auf Lukrez, De rerum natura I, 62–71. 242 Vergl. Johannes Mewaldt, Der Kampf des Dichters Lukrez gegen die Religion (Vortrag), Wien (bei O. Höfels) 1935. 243 Welu, wie Anm. 239, S. 543. 244 Philipp P. Fehl, Berninis ‚Triumph of Truth over England‘, in: Art Bulletin, LXVIII, 1966, S. 404–405, interpretiert diese Figur als christliche Veritas, die ihren rechten Fuß auf England setzt und dergestalt über dieses seinerzeit antikatholische Land triumphiert. Doch ist abgese‑ hen von der keineswegs triumphalen Haltung der Figur zu bedenken, dass England im Gegen‑ satz zu den meisten Ländern Asiens wenn auch nicht katholisch, so doch christlich war. 245 So war etwa Humilitas (Humilitas victrix invicta) der Wahlspruch Carlo Borromeos und sei‑ ner Familie. Zur Demutsrhetorik der berninischen Veritas-Allegorie vergl. Peter Stephan, Der Griff nach den Sternen. Die gentilizische Kodierung des römischen Stadtraumes durch Grabmäler unter Sixtus V. und Alexander VII., in: Festschrift Horst Bredekamp, Studien zur gesellschaftlichen Funktion von Erinnerung, hg. von Carolin Behrmann u. a., Köln/Weimar/ Wien 2007, S. 75–103. 246 Um die Symbolik der Glaskugel hat sich bemüht Daniel Arasse, Vermeers Ambition, Dresden 1996. 247 Gegenüber den bedenkenswerten Ausführungen von Ch. Wagner, wie Anm. 233, besonders im Hinblick auf seine These, die Kugel stünde für die Malerei als solche, ist insofern Skepsis geboten, als diese an dem Umstand kranken, dass sie Anschaulichkeit nicht vorfinden, son‑ dern erst konstruieren müssen, wodurch dieselbe sich wieder aufzulösen droht. Das gleiche ist auch zu sagen von Elfriede Knauer, Vermeers „Allegorie des Glaubens“ und „Genesis“ 24, 1–67, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 61, H. 1, 1988, S. 66–76, die sich in gelehrten Quisquilien verstrickt wie z. B. der Frage, ob die Glaskugel (nach Art einer Schusterkugel) mit Wasser gefüllt sei, was schon auf Grund des großen Gewichtes und des leichten blauen Bandes, an dem die Kugel hängt, kaum möglich wäre; und vieles dergl. mehr. 248 Der Hinweis auf Heda auch bei Liess, wie Anm. 110. 249 Lukrez, De rerum natura, wie Anm. 115, II, 402–403, 422–425; vergl. auch Eduard Müller, Geschichte der Theorie der Kunst bei den Alten, Breslau 1837, S. 196–197. 250 Summa theologiae, vol. 40, 2a2ae, 95,3. (92–100), hg. und übers. von T. F. Meara O. P. und M. J. Duffy O. P. Cambridge University Press 2006, S. 44; Thomas Linsenmann, Die Magie bei Thomas von Aquin, Berlin 2000, S. 286, Anm. 41. 251 Wolfgang Stechow, „Homo bulla“, in: Art Bulletin 20, 1938, S. 227–228; Ingvar Bergström, La boule transparente dans la peinture hollandaise à la fin du XVIe siècle et au XVIIe siècle, in: Alain Tapie u. a. (Hgg.), Les vanités dans la peinture au XVIIe siècle, Caen 1990, S. 49–54; Henri Dominique Saffrey, „Homo bulla“, une image épicurienne chez Grégoire de Nysse et une estampe médicale du XVe siècle, in: H. D. Saffrey, Humanisme et imagerie aux XVe et XVIe siècles, Paris 2003, S. 239–258. Vergl. auch Liess, wie Anm. 110. 252 Liess, ebd., S. 42.
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Anmerkungen
253 Ebd. In Samuel van Hoogstratens Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst (1678) fin‑ det sich die Abbildung der Thalia, der Muse der Komödie – bei Hoogstraten „Kluchtspeelster“ genannt – in einem Raum, von dessen Decke eine große Glaskugel hängt. Obwohl die Inleyding erst drei Jahre nach Vermeers Tod erschienen ist, erscheint die Assoziation der Glaubensallegorie mit der Komödie keineswegs zufällig. 254 Vergl. dazu Anm. 122; 123; 129. 255 S. oben S. 78 f. 256 (https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb11271100_00005.html), Em‑ blema XXVI, S. 88. 1648 wird das gedankenschwere Gedicht Bulla von Richard Crashaw ver‑ öffentlicht, in dem lauter Bilder beschrieben sind, die man in einer Seifenblase sieht, die aber letzt‑ lich „nichts“ sind (http://rupkatha.com/crashaws-bulla/; https://www.jstor.org/stable/40339614; https://en.wikipedia.org/wiki/Richard_Crashaw); 24.06.2021. Ich danke Karin Zeleny für die sen wertvollen Hinweis und die Feststellung, dass das Gedicht bereits von Daniel Heinsius 1646, also zwei Jahre bevor Crashew es drucken hat lassen, im Anschluss an seine Abhand‑ lung über die Religionen und ihrer aller Ursprung aus dem Orient publiziert wurde. 257 Vergl. oben S. 11. 258 Vergl. auch Jan Steens Bohnenfest (Kassel, Wilhelmshöhe, Gemäldegalerie Alte Meister). 259 Vergl. Ausst. Kat. Leselust, wie Anm. 43, Kat. Nr. 77, S. 296. 260 Vergl. etwa die fundamentale Kritik des Erasmus von Rotterdam, Das Lob der Torheit. Aus dem Lateinischen übers. u. hg. von Anton J. Gail, Stuttgart 2012 [11964], S: 124: „Dargestellt wird [in der Eucharistie] aber der Tod Christi, den die Menschen durch Bändigung, Tilgung und gleichsam durch das Begräbnis ihrer körperlichen Leidenschaften verwirklichen müssen, damit sie zu neuem Leben auferstehen und mit ihm und unter sich eins werden. Auf solches sinnt und richtet sich der Fromme ein. Das Volk glaubt aber, dass das Opfer nichts anderes sei als der Kirchenbesuch, und zwar ein möglichst häufiger Kirchenbesuch, das Anhören beliebi‑ gen Wortgeklingels und das Zuschauen bei dergleichen Zeremonien“. 261 Epikur (Mewaldt), wie Anm. 81, Brief an Menoikeus, 123, 124, S. 38. 262 Vergl. S. 57, 75 f., 80. 263 Lucius Annaeus Seneca, Briefe an Lucilius. Gesamtausgabe II (Briefe 81–124), Stoische Lebens‑ kunst, übersetzt von Ernst Glaser-Gerhard, hg. von Ernesto Grassi, Reinbek 1965, Brief 89, 11, S. 59. 264 Blom, wie Anm. 53, S. 140. 265 Dieses geräumige Möbel wäre für einen calvinistischen Abendmahlstisch wohl viel zu groß. 266 Gute Zusammenfassungen der biographischen Fakten finden sich bei Schütz, wie Anm. 23, und Büttner, wie Anm. 42. 267 Ausführlich wird die Frage von Vermeers Konfessionalität diskutiert von Rambach, wie Anm. 209, Kap. IV, 1, Familie und Konfession, S. 27–35. 268 Vergl. Paul A. H. M. Abels, Church and Religion in the Life of Vermeer, in: Donald Haks, Ma‑ rie Christine van der Samen (Hgg.), Dutch Sciety in the Age of Vermeer, Zwolle 1996, der mit guten Gründen betont, dass Vermeer zwar offensichtlich in einem katholischen Sozialmilieu lebte, es aber alles andere als sicher sei, wie weitreichend sein Leben tatsächlich davon beein‑ flusst wurde. 269 Manfred E. Welti, Kleine Geschichte der italienischen Reformation (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte), Gütersloh 1985, S. 85. S. auch oben Anm. 121, 121, 122. Zum Pro‑ blem des Nikodemismus s. auch Martin Skoeries, Für und wider Nikodemismus. Über eine europäische Debatte zwischen Exil und Scheiterhaufen, in: Eric Piltz, Gerd Schwerhoff (Hgg.), wie Anm. 122, S. 435–462, und Müller, ebd. S. 493–530, mit weiterer Literatur.
187
Anmerkungen
270 Gerhard Schneider, Untersuchungen zur Bedeutung von „Libertin“ und seinen Ableitungen im 16. und 17. Jahrhundert, Berlin 2017, S. 111; vergl. auch Pietsch, wie Anm. 52. 271 Plutarch, Moralia 1102 B (= Usener, wie Anm. 1, 31). 272 Büttner, wie Anm. 42, S. 86. 273 Diogenes Laertios X, § 26, berichtet von an die dreihundert Buchrollen. 274 In den für Vermeer freilich irrelevanten, da erst 1888 entdeckten Sententiae Vaticanae (Gnomologium Vaticanum), 41, empfiehlt Epikur, zu lachen und zugleich zu philosophieren. In der griechischen Kunst zur Zeit Epikurs kommt das Lachen allenfalls bei trunkenen Satyrn als Ausdruck ihrer animalischen Natur vor. Überhaupt ist bemerkenswert, wie spät erst sich in der Kunstgeschichte lachende Menschen finden, etwa bei Passerotti und im Hochbarock bei Frans Hals, Rembrandt und Velázquez. 275 Lukrez, II, 1–4. 276 Vergl. Dr. Aigremont (Pseudonym von Siegmar Schultze-Gallera), Fuß- und Schuh-Symbolik und -Erotik, Leipzig 1909; ferner: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 7, 1987,
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188
Sp. 1292–1354. Vergl. Auch Daniela Hammer-Tugendhat, Kunst der Imagination. Imagination der Kunst. Die Pantoffeln Samuels van Hoogstratens, in: Klaus Krüger, Alessandro Nova (Hgg.), Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, Mainz 2000, S. 140–153. Bezeichnend ist, dass Stürme und Schiffbrüche als Bilder im Bild bei Vermeer weder im Sinne des Erlebnisses erhabener Anblicke noch als Warnung vorkommen. S. Weber 1994, wie Anm. 31, S. 288, 310, Anm. 9; und Büttner, wie Anm. 42, S. 45 f., 97 ff.; vergl. auch Jitse H. F. Dijkstra, Mysteries of the Nile? Joseph Scaliger and Ancient Egypt, in: Aries (Journal for the Study of Western Esotericism), 9.1 (2009) 59–82, www.brill.nl/arie, S. 59–82, bes. Kap. 2, Scaliger on Ancient Egyptian Astronomy and Chronology, S. 63–65; S. oben S. 45, zu Vermeers Vermeidung jedweder dramatischer Helldunkeleffekte. Vorländer, wie Anm. 166, S. 150; Epikur (Mewaldt), wie Anm. 81, Brief an Herodotos, S. 86 f. Lukrez, De rerum natura, IV, 183–186: „Erstlich siehet man oft sehr leichte Dinge, von äußerst / Kleinem Bestande, begabt mit eilender, schneller Bewegung. / Unter diese gehöret das Licht und die Wärme der Sonne; / Denn sie beide bestehn aus den feinsten Arten der Stoffe.“ Lukrez (von Knebel), wie Anm. 115. Denkbar wäre, dass diese Vorstellung auch für die frei‑ lich unbewiesene Verwendung einer Camera obscura gelten könnte, die wie das Auge die klei‑ nen Bilder einfängt, welche die Dinge aussenden. Eduard Kolloff, Rembrandt’s Leben und Werke nach neuen Actenstücken und Gesichtspunkten geschildert (1854), hg. von Christian Tümpel, Hamburg 1971, S. 553 f., hat für die inhärenten Spannungen von Rembrandts Malweise und deren Wirkung eine eindrucksvolle, drastische Formulierung gefunden: „Seltsam und für Rembrandt’s Genie charakteristisch, diese Ausführung von unglaublicher Brutalität ist zugleich von äußerster Delicatesse; es ist eine Zartheit mit Fußtritten und Faustschlägen, aber so, wie sie die allersaubersten Feinmaler nie haben erreichen können.“ Vergl. Thierry Grueb, Überlegungen zu Vermeers Spätwerk, in: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, 2011, www.kunstgeschichte-ejournal.net Vergl. oben S. 74. John Michael Montias, Vermeer’s Clients and Patrons, in: The Art Bulletin 69, 1. März 1987, S. 68–76; ders., Vermeer and his Milieu, wie Anm. 44. Die Spekulationen, die zu diesen Fragen geäußert worden sind, haben in der Forschung keine Resonanz gefunden. Büttner, wie Anm. 42, besonders S. 71–77.
Anmerkungen
287 Ebd. S. 71. 288 Augustinus, Confessiones, X, 35; vergl. Metzler Lexikon Kunstwissenschaften, Ideen, Me‑ thoden, Begriffe, Heidelberg 2016, hg. von Ulrich Pfisterer, Stichwort: Neugierde und Staunen, S. 305–308 (U. Pfisterer). 289 Dies will John Evelin 1641 auf seiner Reise in die Niederlande beobachtet haben und hat es in seinem oft zitierten Diary ausführlich geschildert; vergl. Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 22017, S. 502–505. Vergl. dazu Michael North, Kunst und Kommerz in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln/Weimar 2001, S. 120. 290 Vergl. hierzu Müller (1994), wie Anm. 224. 291 Oben S. 41. 292 Zur Frage des Auftraggebers, Hendrik III. von Nassau, s. Hans Belting, Hieronymus Bosch. Garten der Lüste, München u. a. 2002, S. 71–84. Wohl irrtümlicherweise figuriert er hier als Hendrik II. Beltings Vermutungen hinsichtlich der Datierung des Gartens der Lüste bleiben freilich ohne konkrete Anhaltspunkte. Die Einschätzung des Prado „zwischen 1490 und 1500“ kann sich ebenfalls auf keine valide Stütze berufen. 293 Epikur verortete die unendliche Zahl von Göttern im Zustand ewiger Glückseligkeit in Zwi‑ schenwelten. Für eine solche möchte man den Garten der Lüste halten. Für ein Leben wie ein Gott unter Menschen finden sich am Schluss seines Briefes an Menoikeus Ratschlage; er selbst, so sagte Epikur, stünde mit Zeus im Wettstreit um die Glückseligkeit, wenn er nur Brot und Wasser habe (Fragment 156 (= Usener, wie Anm. 1, 602). Um wieviel mehr können sich die Bewohner im Garten der Lüste göttergleich fühlen! 294 Der Brief (ed. Hs. Riccardiana 749, Florenz 1436, im Druck zuerst 1510 erschienen: Poggii Florentini […] historiae convivales disceptativae orationes invectivae epistolae descriptiones quaedam: et faceciarum liber, hg. von Thomas Aucuparius, Argentinae (Straßburg, bei Johan‑ nes Knobloch) 1510, fol. LVIIIv–LXXr, als Poggii Florentini de balneis prope Thuregum sitis descriptio); die bibliographische Präzisierung verdanke ich Karin Zeleny, Wien. Eine Überset‑ zung findet sich in Welt der Renaissance, ausgewählt, übersetzt und erläutert von Tobias Roth, Berlin 2020, S. 86–89. Vergl. auch die sorgfältige und kundig kommentierte Übersetzung von Hans Jörg Schweizer, Über die Bäder zu Baden: ein Brief von Poggio Bracciolini aus Baden im Mai 1416, in: Badener Neujahrsblätter, Bd. 91, 2016, S. 118–131.
189
Namensregister (kursive Seitenangaben verweisen auf Endnoten) Alba, Herzog von (Fernando Álvarez de Toledo) 58 Alberti, Leon Battista 11, 14, 66, 67, 170, 171, 178 Alexander VII. 132, 133, 191 Amor 24, 100, 120, 121, 122, 123, 124, 126, 140, 192 Angel, Philips 101, 185 Anussim 150 Apelles 109 Aristippos 54, 177 Augustinus 164, 195 Baburen, Dirk van 86, 87, 88, 126 Beccadelli, Antonio 41, 175 Beekman, Isaak 37, 180 Berchem, Nicolaes 156 Bernini, Gianlorenzo 132, 133 Bleyswijck, Dirck van 78, 79, 138, 181 Blom, Phillipp 83, 147, 145, 182, 193 Boehme, Hartmut 116, 189 Bolnes, Catharina 149, 186 Bosch, Hieronymus 135, 167, 168, 169, 172, 159 Bracciolini, Poggio 38, 168, 169, 196 Brahe, Tycho 139 Bramer, Leonaert 46, 186 Bredius, Abraham 129 Brouwer, Adriaen 99 Bruegel, Pieter d. Ä. 37, 57, 92, 106, 177, 179, 180 Bruni, Leonardo 41 Bruno, Giordano 11, 58, 70, 170, 181 Bucer, Martin 41 Büttner, Nils 37, 94, 104, 151, 164, 173, 178, 183, 187, 188, 189, 193, 194, 195 Calvin Johannes (resp. Calvinismus und Calvi‑ nisten) 58, 59, 68, 77, 78, 92, 132, 138, 144, 145, 148, 150, 164, 177, 181, 193 Cantimori, Delio 150
190
Caravaggio 45, 46, 117, 173 Charleton, Walter 39, 174 Christus 70, 71, 75, 116, 131, 135, 136 Cicero 54, 153, 185 Cimon 126, 127 Claudius Civilis 108 Clio 102 Codde, Pieter 115 Conversos 150 Cupido 24, 120, 121, 123 De Gournay, Marie Le Jars 80, 182 Demokrit 39, 43, 72, 170 Descartes, René 36, 37, 39, 43, 45, 173 Diogenes Laertios 38, 39, 64, 100, 122, 123, 155, 167, 174, 176, 177, 178, 179, 184, 189, 194 Dissius, Jacob 78 Domenichino 110, 171 Dou, Gerrit 14, 83, 84, 187 Duck, Jacob 147, 148 Dujardin, Karel 156 Dürer, Albrecht 12, 141 Dyck, Antonis van 18, 106, 116, 171, 187 Eligius 116 40, 78, Erasmus von Rotterdam, Desiderius 100, 175, 193 Evelyn, John 38 Eyck, Jan u. Hubert van 36, 106, 116, 171, 187 Fragonard, Jean-Honoré 12 57, 75, 80, 85, 146, 151, Franck, Sebastian 177, 180, 182, 189 Francken, Frans II. 108 Friedrich Wilhelm I. (Kurfürst) 110, 111 Gaesbeeck, Adriaen van 23 Galilei, Galileo 722, 73, 180 Gassendi, Pierre 39, 113, 174, 175, 188
Haecht, Willem van 109, 110 Hals, Frans 156, 159, 172, 176, 194 Hammer-Tugendhat, Daniela 37, 69, 173, 179, 180, 194 Heda, Pieter Claesz. 134, 135, 192 Heinrich IV. von Frankreich 151 Heinsius, Daniel 39, 192 Heraklit 11 Hesius, Willem 138, 139, 140 Hippler, Thomas 75, 180 Hobbes, Thomas 39 Hondius, Jodocus 131 Hooch, Pieter de 62, 63, 153, 154, 155, 177 21, 30, 104, 170, Hoogstraten, Samuel van 171, 172, 192, 194 Horaz 40, 175 Huizinga, Johan 30, 172, 181 Ignatius 149 Iphigenie 132 Isaak 111 Israel, Jonathan I. 75, 76, 180, 181, 182 Johannes d. Täufer 70 Jordaens, Jacob 106, 191
Lukrez (Carus, Titus Lucretius) 38, 39, 44, 50, 58, 66, 72, 73, 79, 80, 82, 83, 88, 98, 121, 123, 132, 135, 153, 156, 170, 174, 175, 177, 178, 179, 181, 182, 185, 188, 189, 191, 192, 194 Luther, Martin 40, 175, 177 Mander, Karel van 104, 105 Maria 28, 30 Maria Magdalena 133, 134, 146 Marolles, Michel de 38 Marranen 150 Martha 28, 30 Menander 151 Menoikeus 56, 57, 72, 91, 98, 145, 175, 179, 183, 184, 193, 195 Metsu, Gabriel 88, 89, 99, 156, 157, 158, 161 54, 93, 177, 178, 179, Mewaldt, Johannes 182, 183, 184, 191, 193, 194 Michelangelo 140, 141 Mieris, Frans 94 Mohammed 40 Montaigne, Michel de 38, 80, 182 Montias, John Michael 162, 173, 295 Moritz von Oranien 131, 132 Morus, Margaret 80 Morus, Thomas 80 Moses 158 Müller, Jürgen 57, 172, 177, 180, 182, 188, 189, 192, 193, 195
Kalf, Willem 37
Netscher, Caspar 130, 131, 142 Niccoli, Niccolò 168 Nikodemus 7, 41, 78, 149, 150, 151, 174, 179, 181, 192
Koerbagh, Adriaan 74, 75, 76, 77, 138, 145, 180, 181 Koerbagh, Johannes 76, 77, 145, 180, 181
Oranier 59, 132, 186 Ovid 123, 124, 190
Jordaens, Johannes 110 Judas 45
Lairesse, Gerard de 104 Laktanz 71, 179 Leopold Wilhelm (Erzherzog) 107, 108, 188 Leukipp 72 Liess, Reinhard 92, 129, 137, 179 Lipsius, Justus 43, 176 Ludwig XIV. 90
Namensregister
Geest, Cornelis van der 109 Gheyn, Jacob II de. 134, 136 Giorgione 110 Greenblatt, Steven 73, 173, 179 Greuze, Jean-Baptiste 20
Palma, Jacopo 110 Pero 126, 127 Petrus Christus 116 Platon 43 Plutarch 54, 61, 150, 153, 177, 178, 193 Pordenone 110 Prokrustes 153
191
Namensregister
Raffael 41, 42, 110, 127, 133, 175 Raimondi, Cosma 41 Rambach, Christiane 113, 188 Rembrandt 12, 14, 22, 23, 45, 99, 108, 111, 115, 116, 159, 170, 171, 173, 176, 188, 194 Reni, Guido 110, 133 Ripa, Cesare 102, 131, 132, 140, 141, 186 Roemer Visscher 38 Roijen Snell, Willebrord van (Snellius) 76 Rollenhagen, Gabriel 32, 33, 172 Rubens, Peter Paul 33, 44, 46, 106, 109, 110, 176, 187, 188 Ruffo, Antonio 108 Ruijven, Pieter van 78, 162, 184 Saint-Évremont, Charles de 40, 175 Salvator 135, 136 Savery, Roeland 106 Schedel, Hartmann 136, 137 Schuurmans, Anna Maria 80 Seneca 40, 43, 146, 147, 153, 175, 176, 193 Servet, Michel 58, 181 Sibylle 12, 28, 171 Six, Jan 12, 170 Spinoza, Baruch de 36, 37, 43, 45, 48, 76, 173, 179, 181 Steen, Jan 11, 40, 51, 63, 83, 88, 142, 143, 144, 156, 183, 193 Stoiker 40, 43, 52, 55, 146, 155 Sweerts, Michiel 19, 20, 21
192
Teniers, David d. J. 107, 108, 109 Ter Borch, Gerard 108, 117, 118, 155, 161 Ter Brugghen, Hendrick 160 Thins, Maria 87, 149 Thomas von Aquin 136, 192 Thoré-Buerger, Etienne-Joseph Théophile 113, 188, 189 Thukydides 102 Tintoretto, Jacopo 133, 134 Tizian 110 Uylenburgh, Gerard 110 Valerius Maximus 126, 190 Valla, Lorenzo 41, 175 Vanini, Lucilio 58, 181 Veen, Otto van (Venius) 120, 121, 122, 123, 126 Venne, Adriaen van de 50, 51, 99 Von Sandrart, Joachim 108, 188 Vossius, Gerardus Jansz. 11, 142 Vrel, Jacobus 99, 109, 188 Wagner, Christoph 131, 190, 191 Weber, Gregor J. M. 32, 172, 176, 190 Wilhelm der Schweiger 132, 151 Woensam, Anton 55
Abbildungsnachweis © Amsterdam, Rijksmuseum: Cover, Abb. 23, Abb. 28, Abb. 32. – Antwerpen, Rubenshuis: Abb. 50. – Archiv Autor: Abb. 9, Abb. 38, Abb. 52, Abb. 55, Abb. 58, Abb. 59, Abb. 60, Abb. 63, Abb. 68, Abb. 69. – Ausst-Kat. Vermeer and the masters of genre painting, ed. by Adriaan E. Waiboer, Paris, Musée du Louvre, Dublin, National Gallery of Ireland, Washington, National Gallery of Art 2017, New Haven, London 2017: Abb. 4, Abb. 71; Abb. 3, Abb. 72. – Ausst.-Kat. Jung berühmt. Anthonis van Dycks frühestes Selbstbildnis und weitere Werke in Gemäldegalerie und Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste Wien, hrsg. von Julia M. Nauhaus, Wien, Akademie der bil‑ denden Künste, Gemäldegalerie, Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste 2019, Wien 2019, S. 114, Abb. 5. – Chicago, The Art Institut of Chicago, CC0 Public Domain: Abb. 35. – © Den Haag, Mauritshuis: Abb. 1, Abb. 10, Abb. 27, Abb. 30. – Dresden, Gemäldegalerie Alte Meis‑ ter, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische: Abb. 11. – Frankfurt, Städel Museum, CC BY‑SA 4.0: Abb. 40. – Hesius, Guilielmus S. J., Emblemata sacra de fide, spe, charitate, Plantin 1636, Emblema XXVI, S. 88: Abb. 64 . – Leiden, Museum Stedelijk De Lakenhal, Lei‑ den: Abb. 12, Abb. 42. – © London, The National Gallery: Abb. 31, Abb. 45. – München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Staatsgalerie im Neuen Schloss Schleißheim, URL: https://www. sammlung.pinakothek.de/de/artwork/01G13Q9xkE, CC BY‑SA 4.0: Abb. 49. – New York, The Metropolitan Museum of Art, Public Domain: Abb. 15, Abb. 33, Abb. 34, Abb. 57, Abb. 62, Abb. 67, Abb. 73. – © Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Foto: Dirk Meßberger: Abb. 61.– © Paris, Musée du Louvre, Département des Peintures: Abb. 39. – Prag, National Gallery Prague: Abb. 41. – Rotterdam, Museum Boijmans van Beunigen: Abb. 66. – Schütz, Karl, Vermeer. Das vollständige Werk, Köln 2017: S. 95, Abb. 2; S. 53, Abb. 7; S. 196, Abb. 13; Abb. 54 (Detail); S. 173, Abb. 14; S. 135, Abb. 22; S. 203, Abb. 24; S. 47, Abb. 25; S. 176, Abb. 39; S. 111, Abb. 43; S. 109, Abb. 46, Abb. 47 (De‑ tail); S. 191, Abb. 51; S. 177, Abb. 53. – Skinner, Auktionshaus, Lot. 1212: Abb. 18. – Wikimedia Commons, Public Domain: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/70/Jan_Vermeer_ wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a4/Jan_Vermeer_ van_Delft_013.jpg; Abb. 8; https://upload. van_Delft_-_The_Glass_of_Wine.jpg, Abb. 16; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gabriel_ E mblem_-_WGA19665.jpg; Abb. 17; https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Rollenhagen_-_ %22 T he_School_of_Athens%22_by_Raffaello_Sanzio_da_Urbino.jpg?uselang=de, Abb. 19, 20 118.jpg. Abb. 21; https:// (Detail); https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Peter_Paul_Rubens_ commons.wikimedia.org/wiki/File:Adriaen_van_de_Venne_-_ A rme_Weelde_-_1896_(OK)_-_Mu‑ 26; https://commons.wikimedia. seum_Boijmans_Van_Beuningen.jpg?uselang=de#filelinks, Abb. 37; https://de.wikipedia.org/wiki/Anton_Woensam#/media/ org/wiki/File:Assayertitle.png: Abb. 29; https://de.wikipedia. Datei:Koeln-1531-holzschnitt-anton-von-worms_2-1200x680.jpg, Abb. 44; https://en.wikipedia.org/wiki/David_Teniers_the_ org/wiki/Datei:The_Procuress.jpg, Abb. Younger#/media/File:El_archiduque_Leopoldo_Guillermo_en_su_galer%C3%ADa_de_pinturas_ 48; https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Vermeer_Girl_ en_Bruselas_(David_Teniers_II).jpg, Abb. 56; https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Pieter_de_Hooch_ Interrupted_at_Her_Music.jpg, Abb. 005.jpg, Abb. 70; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_Garden_of_earthly_delights.jpg, Abb. 74. – Washington, Courtesy National Gallery of Art: Abb. 3, Abb. 4, Abb. 6, Abb. 36. – Zöllner, Frank: Michelangelos Masken. Zur Geschichte eines grotesken Gesichts, in: Vivace con espressione, hg. von Marieke von Bernstorff, Susanne Kubersky, Maurizia Cicconi, München 2018, S. 34, Abb. 65.
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