Verlorenes Lachen: Blasphemisches Gelächter in der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart [Reprint 2012 ed.] 9783110915167, 9783484321182

In the wake of Enlightenment doubt and the theodicy problem, blasphemous laughter quickly developed into a literary moti

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German Pages 221 [224] Year 2003

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Table of contents :
I. Einleitung
II. Entstehungsbedingungen des Motivs
1. »Die Welt lacht / Jesus weint. Mit einem muß mans halten.« – Zur lachfeindlichen Tradition im Christentum
2. Der Geist, der lachend stets verneint – Zur Psychologie des verzweifelten Lachens
3. Irre, Tod und Teufel – Blasphemisches Lachen als Provokation der aufgeklärten Gesellschaft
III. Unter dem Einfluß Saturns – Wandlungen des Motivs von Klopstock bis Büchner
1. Das Lachen des Hohepriesters Philo in Klopstocks Messias
2. »Ich habe nie fürchterlicher fluchen hören« – Das Lachen des Melancholikers Teilheim
3. Klingers Die Zwillinge: Rollenspiel, Zitat und Selbstbeobachtung
4. Anton Reisers unterdrücktes Gelächter – Blasphemie hinter vorgehaltener Maske
5. Die Kunst, über »das tolle Spiel der Welt« zu lachen – Wezels Belphegor und die Nachtwachen des Bonaventura
6. Tiecks Der Aufruhr in den Cevennen und Büchners Lenz – Pathogener Glaube und Weltverlust
IV. »Jahrhundertealtes Gelächter« – Ausklänge im 20. Jahrhundert
1. Einmal lacht’ ich wie Götter – Gerhart Hauptmanns Konstruktion einer neuheidnischen Unschuld in Der Ketzer von Soana
2. Von Die Schlafwandler zu Der Tod des Vergil – Das leise Verklingen des blasphemischen Lachens bei Hermann Broch
3. Das unmögliche Lachen der Übertretung bei Georges Bataille
4. Nachleben im Zitat: Joseph Roths Hiob und Thomas Manns Doktor Faustus
V. Vom Nachleben eines Motivs in Zeiten seiner Obsoletheit
1. Einleitende Bemerkung zu einer motivgeschichtlichen Spätzeit
2. Der triviale Kontrast: Die Hohlheit des Pathos in Dürrenmatts Der Richter und sein Henker und Robert Schneiders Schlafes Bruder
3. »Höllengelächter« – Blasphemische Konnotationen als Störfaktor in von Düffels Vom Wasser und Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends
4. Vorläufiges Ende oder »Play it again, Sam«: Bodo Kirchhoff, Infanta
Literaturverzeichnis
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Verlorenes Lachen: Blasphemisches Gelächter in der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart [Reprint 2012 ed.]
 9783110915167, 9783484321182

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 118

Stefan Busch

Verlorenes Lachen Blasphemisches Gelächter in der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-32118-0

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Fanslau Communication/EDV, Düsseldorf Druck: Guide-Druck, Tübingen Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren

Vorwort

Beim Schreiben dieses Buches haben mir Freunde und Kollegen in England und Deutschland mit ihrem kritischen Interesse sehr geholfen. Ihre Anregungen fanden Eingang in die Untersuchung. Die notorisch schwierige Frage intellektuellen Eigentums findet eine eindeutige Antwort nur im Falle der Irrtümer: Schon Brechts Macheath berief sich auf den stolzen Brauch, daß Dozenten in Oxford - auch darin nicht untypisch - für diese selbst zeichnen. The Taylor Institution Library, Oxford, has been a wonderful place to do research. Without the unfailingly friendly support of Jill Hughes and Helen Buchanan this book would have been much more difficult to write. Pressed for shelf space, Jill asked for a slimmish volume. I hope she approves of this one. Herzlich danke ich meinen Eltern für ihre Hilfe in dürftigen Zeiten. Auch dem Queen's College weiß ich mich für großzügige finanzielle Unterstützung verpflichtet. Seit vielen Jahren ist Cornelia Schnelle meine wichtigste Gesprächspartnerin. Ihr möchte ich dieses Buch widmen. Oxford, im Juli 2003

S. B.

V

Inhalt

I.

Einleitung

II. Entstehungsbedingungen des Motivs

ι 8

ι. »Die Welt lacht / Jesus weint. Mit einem muß mans halten.« - Zur lachfeindlichen Tradition im Christentum

8

2. Der Geist, der lachend stets verneint - Zur Psychologie des verzweifelten Lachens

23

3. Irre, Tod und Teufel - Blasphemisches Lachen als Provokation der aufgeklärten Gesellschaft

27

III. Unter dem Einfluß Saturns - Wandlungen des Motivs von Klopstock bis Büchner

41

ι. Das Lachen des Hohepriesters Philo in Klopstocks Messias

41

2. »Ich habe nie fürchterlicher fluchen hören« - Das Lachen des Melancholikers Teilheim

52

3. Klingers Die Zwillinge: Rollenspiel, Zitat und Selbstbeobachtung 4. Anton Reisers unterdrücktes Gelächter - Blasphemie hinter vorgehaltener Maske

66 74

5. Die Kunst, über »das tolle Spiel der Welt« zu lachen Wezeis Belphegor und die Nachtwachen des Bonaventura... 5.1. Belphegor oder Von der wachsenden Schwierigkeit, eine Satire zu schreiben 5.2. Teuflisches Gelächter in den grotesken Nachtwachen ..

89 90 100

6. Tiecks Der Aufruhr in den Cevennen und Büchners Lenz Pathogener Glaube und Weltverlust

109

6. ι. Der Aufruhr in den Cevennen·. Gelächter auf den Höhen der Krise

112

6.2. Büchners Lenz: Die Religion als die Krankheit, die sie zu heilen vorgibt

128 VII

IV. »Jahrhundertealtes Gelächter« - Ausklänge im 20. Jahrhundert

141

ι. Einmal lacht' ich wie Götter - Gerhart Hauptmanns Konstruktion einer neuheidnischen Unschuld in Der Ketzer vonSoana

V.

141

2. Von Die Schlafwandler zu Der Tod des Vergil - Das leise Verklingen des blasphemischen Lachens bei Hermann Broch

154

3. Das unmögliche Lachen der Übertretung bei Georges Bataille

160

4. Nachleben im Zitat: Joseph Roths Hiob und Thomas Manns Doktor Faustas

168

Vom Nachleben eines Motivs in Zeiten seiner Obsoletheit

179

ι. Einleitende Bemerkung zu einer motivgeschichtlichen Spätzeit

179

2. Der triviale Kontrast: Die Hohlheit des Pathos in Dürrenmatts Der Richter und sein Henker und Robert Schneiders Schlafes Bruder

181

3. »Höllengelächter« - Blasphemische Konnotationen als Störfaktor in von Düffels Vom Wasser und Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends

184

4. Vorläufiges Ende oder »Play it again, Sam«: Bodo Kirchhoff, Infanta

190

Literaturverzeichnis

VIII

195

I. Einleitung

Den Besucher des Basler Münsters trifft vor dem Hauptportal, das von den Skulpturen Heinrichs II. und seiner Frau Kunigunde eingefaßt wird, der tiefernste Blick des Kaisers, dessen Heiliges Römisches Reich nicht nur von dieser Welt war. Fast wird es ihm wärmer ums Herz, wendet er sich den beiden Figuren am rechten Portal zu; auf ihren Gesichtern begrüßt ihn ein fröhliches, verlockendes Lachen. Es bedarf jedoch keiner profunden Kenntnisse christlicher Überlieferung und Ikonographie, um zu ahnen, daß an diesem Versprechen eines leichteren Lebens etwas faul sein muß. Bei den lachenden Figuren handelt es sich denn auch um die törichte Jungfrau und den Fürsten der Welt, auf dessen Rücken es wimmelt von Kröten, Schlangen und Ungeziefer: Wer mitlacht, ist des Teufels. Im christlichen Kulturkreis lassen sich hinsichtlich des menschlichen Lachens in Schriftexegese, kirchlicher Praxis und künstlerischer Gestaltung mehrere Uberlieferungsstränge identifizieren, die sich wohl oft verwickelten, aber nie vereinten. Ernst Robert Curtius, der die erste Skizze dieser widersprüchlichen Traditionen entwarf, Schloß seine Beobachtungen mit dem Fazit ab, »daß die theoretische Stellungnahme der Kirche von rigoristischer Ablehnung bis zu wohlwollender Duldung des Lachens alle Möglichkeiten offen ließ«.1 Wenn auch nie begrüßt oder gar ermutigt, hatte es doch seinen Sitz im kirchlichen Leben. Auf vielen Darstellungen der bildenden Kunst sieht man das fröhliche Lachen derer, die zur Rechten des Herrn dem Reich der Erlösten entgegengehen; selbst manche strenge Theologen, die zum Glaubensernst mahnten, erkannten den wahrhaft Gläubigen die hilaritas, eine spirituelle Heiterkeit, schon für diese Welt zu; manche Legende berichtet von Märtyrern, die im Wissen um das, was ihnen als Ubernächstes bevorstand, ihre Qualen lachend kommentierten; und schließlich existierte bis ins 19. Jahrhundert hinein der Brauch des Ostergelächters, mit dem die

1

Curtius: Europäische Literatur, S. 424.

Gemeinden die Befreiung der todunterworfenen Natur durch die Erlösungstat Christi feierten.2 Allerdings zeugt der vieldiskutierte risus paschalis auch von den Verboten des Lachens, insofern als es nur ausnahmsweise, im Ritus gebändigt und überformt, im Kirchenraum zugelassen war.3 Lachen erschien theologisch nur gerechtfertigt, wenn es von der Uberwindung dieser Welt sprach.4 Darin liegt denn auch das gemeinsame Merkmal der gerade angeführten Beispiele. Die andauernde Stärke dieser Tradition wird daran erkennbar, wie leicht sich auch heute noch Apologeten christlichen Lachens bei ihrer Argumentation in Widersprüchen verfangen oder zumindest im Kreise drehen. Das folgende Zitat aus einer neueren Publikation über Gegenwelten

Komische

vermag dies stellvertretend zu demonstrieren. »Trotz man-

cher theologischer Bedenken«, heißt es dort, hätten Lachen und Komik »in der christlichen Liturgie ihren Platz«, denn sie ermöglichten »ein eschatologisches Lachen, das im Glauben begründet und damit zugleich ein Stück Weltüberwindung ist«.5 Unauflösbar sind aber offensichtlich die Bedenken gegenüber einem Lachen, das nicht durch gläubige Weltüberwindung legitimiert ist. Immer stand den vorsichtig zustimmenden Bewertungen des Lachens mindestens gleichgewichtig eine theologische Tradition seiner Verurteilung gegenüber. Das Lachen, mit dem Abraham und Sara im Buch Genesis auf die Verkündigung reagierten, daß sie auch im hohen Alter noch ein Kind zu erwarten hätten, steht am Beginn einer Überlieferung, in der Lachen als ein signum infidelitatis galt, als ein Verhalten, an dem die Un- oder Schwach-

2

3

4

Vgl. Jacobeiii: Ostergelächter, S. 2 7 - 3 1 . Im Laufe der Jahrhunderte verschwanden zumindest die gröberen Obszönitäten aus den Späßen der Priester. In solchen »sittlicheren« Restformen scheint der Brauch in manchen Gegenden sogar bis ins 20. Jahrhundert überlebt zu haben (vgl. ebd., S. 34). Und auch dann nur gegen den Protest der Hüter der reinen Lehre, die aus guten Gründen pagane Klänge im Ostergelächter wahrnehmen wollten. Vgl. bes. Warning: Funktion; zur weiteren Diskussion u. a. Wehrli: Literatur, S. 1 j i f . , und Haug: Das Komische (jeweils mit weiterer Literatur). Bezeichnend sind die Einschränkungen, die auch Vertreter moderater, »lachfreundlicher« Positionen in der Debatte um Genesis und Funktion des Lachens im kirchlichen Raum vornehmen. So bedeutend die Rolle des Komischen in der mittelalterlichen Literatur auch sei, schrieb etwa Max Wehrli, »so unklar oder gar problematisch ist eine theologische und ästhetische Begründung, damals wie heute«. Aus theologischer Sicht ist Lachen nur durch den heilsgeschichtlichen Bezug gerechtfertigt: »Das Lachen ist nicht nur ein Akt natürlicher, profaner Entspannung und Befreiung (der ja auch nicht sinnlos und sündhaft zu sein braucht); die Vernichtung falscher Ansprüche, die es leistet, kann vielleicht auch einen Weg zum Heil freimachen.« Wehrli: Literatur, S. 176 u. 1 8 1 .

s Wolf: Komik, S. i é i .

2

gläubigen zu erkennen waren. Entscheidend für die Ausbildung dieser agelastischen Strömung in der christlichen Theologie war auch, daß im Neuen Testament zwar dreimal von Jesu Weinen, nie jedoch von seinem Lachen die Rede ist. Nachfolge des Herrn Schloß deshalb ein, das Lachen zu vermeiden. Auf der Basis dieser durch die Jahrhunderte starken, oft dominanten exegetischen Tradition (dazu Kap. II.i.) und ihrer kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Folgen (vgl. Kap. II.3) argumentiert die vorliegende Arbeit rein historisch; die prinzipielle Erörterung der Frage, ob ein guter Christ fröhlich lachen dürfe, liegt hingegen außerhalb ihres Interesses. Ebensowenig wie um eine Erörterung christlicher Fröhlichkeit und ihrer Formen geht es im folgenden um ein freies, befreites Lachen, um ein Gelächter des Volkes, das laut Bachtin bis in die frühe Neuzeit hinein in einem Raum erklungen sein soll, der von der repressiven Kultur der Oberschicht noch nicht durchdrungen gewesen sei. Das Lachen, das in dieser Arbeit untersucht wird, ist das Gegenteil eines freien Lachens. Es hat das christliche Lachverbot zur Voraussetzung und bleibt somit ausweglos dem Diskurs, gegen den es vom Rande her rebelliert, negativ verhaftet. In den Ohren orthodoxer Theologen, z.B. des Bibliothekswächters Jorge in Umberto Ecos Der Name der Rose, mag das Gelächter des Marktplatzes blasphemisch geklungen haben, es fehlt ihm jedoch die lästerliche Intention der Lachenden. Diese Absicht gehört wesentlich zu dem Phänomen, das hier betrachtet werden soll. Es geht um ein Gelächter, das ertönt, gerade weil es als Zeichen des Unglaubens oder gar als Blasphemie verurteilt ist. In diesem Lachen äußern sich Zweifel und Leiden in einer Weise, der die Ohnmacht, das Scheitern, möglicherweise der Untergang in Wahnsinn und Tod schon anzumerken ist. In literarischen Texten ertönt dieses Lachen zuerst um die Mitte des 18. Jahrhunderts, zu einer Zeit also, in der zum einen die Vereinbarkeit christlicher Glaubenslehren mit den Ansprüchen vorurteilsloser Vernunft als ein zunehmend schwieriges Projekt erschien, zum anderen der psychologische Realismus in der Literatur eine enorme Steigerung erfuhr. Eine Bedingung für das Anhalten des verzweifelt-blasphemischen Gelächters bis in die Gegenwartsliteratur besteht darin, daß Lachen in ausweglos desperaten Situationen psychologisch »realistisch«, also eine Verhaltensweise von »möglichen Menschen der wirklichen Welt«6 ist. Anderenfalls wäre solches Gelächter so schnell wie manche Exaltiertheiten der Sturm-und-Drang-

6

Blanckenburg: Versuch, S. 257. Zur anthropologischen Wende im Roman vgl. Engel: Roman der Goethezeit, S. 98-153; zu Blanckenburgs Poetik vgl. ebd., S. 91 bis 98, sowie Frick: Providenz, S. 343-364.

3

Jahre wieder aus der Literatur verschwunden. Diese psychologische Seite des verzweifelten Lachens wird im Anschluß an die Skizze der agelastischen Tradition im Christentum mit Bezug auf Helmuth Plessners Arbeit über Lachen und Weinen diskutiert (Kap. II.2). Die Terminologie der Motivforschung ist notorisch uneinheitlich. Im folgenden sei Motiv verstanden als »kleinste selbständige Inhalts-Einheit oder tradierbares intertextuelles Element eines literarischen Werks«.7 Das Thema, an welches das hier behandelte Motiv gebunden ist,8 ist das der Glaubenskrise, der aufbrechenden Zweifel wenn nicht an der Existenz, dann an der Güte Gottes und der Wohleingerichtetheit seiner Schöpfung. Bezeichnenderweise erscheint das Motiv zuerst fast gleichzeitig in einem religiösen Epos, nämlich Klopstocks Messias, und in Lessings Drama Minna von Barnhelm, in welchem es dem Autor um die Rettung der Vorsehung vor den gefährlich wachsenden Zweifeln an der guten und gütigen Einrichtung der Welt ging. Von diesen Anfängen bis hin zu Büchners Lenz stehen die blasphemisch Lachenden im Zeichen Saturas, des melancholischen Gestirns. Die Veränderungen der intellektuellen Landschaft in den sieben Jahrzehnten zwischen Lessings Stück und Büchners Erzählfragment werden durch das ins Gegenteil verkehrte Melancholieverständnis schlagend charakterisiert. Der Theologe Lessing pathologisierte den Major von Tellheim, weil nur der von schwarzer Galle beeinträchtigte Blick unfähig sein sollte, das Wirken der gütigen Vorsehung zu erkennen. Dagegen entdeckte der Mediziner Büchner in Jakob Michael Reinhold Lenz' Krankengeschichte die Symptome einer melancholischen Erkrankung, die durch christliche Vorstellungen von Sünde und Schuld ausgelöst worden war. Der Glaube war nun die Krankheit, die er einst zu heilen vorgegeben hatte. Mit einer Analyse der Erzählung Der Ketzer von Soana, in welcher Gerhart Hauptmann sich vergeblich bemühte, dem Lachen eine paradiesische Unschuld wiederzugeben, betritt die vorliegende Arbeit das 20. Jahrhundert. An dessen Ende war, wie die Untersuchungen des abschließenden Kapitels darlegen, blasphemisches Lachen in literarischen Texten, soweit diese nicht dem ästhetisch Belanglosen zuzurechnen sind, nur noch als Zitat 7

8

Drux: Motiv, S. 638. Über die grundsätzlichen Schwierigkeiten informieren immer noch am besten Andermatt: Verkümmertes Leben, S. 17-27, und Rickes: Führerin, bes. S. 1 5 - 4 1 . Beide Autoren sind sich einig, daß Elisabeth Frenzeis bejahrte Definition, bzw. Definitionen, weiterhin die beste Arbeitsgrundlage abgebe (vgl. Andermatt: Verkümmertes Leben, S. 20), was jeweils in beinahe komischem Kontrast zur angestrebten methodischen Strenge steht. Drux' Definition hat ebenfalls ihre Schwächen - so wäre m. E. das >oder< durch >und< zu ersetzen - , überzeugt aber in pragmatischer Hinsicht durch ihre Operationalisierbarkeit. Zum Verhältnis von Thema und Motiv vgl. Rickes: Führerin, S. 34-38. 4

möglich. Einen Balanceakt auf dem Grat zwischen Nicht-mehr und N o c h einmal vollführte Thomas Mann im Faustus-Roman.

Nach Ausweis der

Entstehung des Doktor Faustus war Thomas Mann stolz auf das Lachen als »eines der kleinen Motive«, 9 mit deren Hilfe Adrian Leverkühn früh mit der Aura des Unheimlich-Dämonischen umgeben wird. Doch war die Installation des philiströsen Erzählers Serenus Zeitblom ein notwendiger Griff, um das alte Motiv weiterverwenden zu können, ohne der Peinlichkeit zu verfallen. »Kann man mit mehr Genie das Hergebrachte benutzen, die Kniffe weihen?« 1 0 Eine Eigenart der vorliegenden motivgeschichtlichen Untersuchung liegt darin, daß sie in ihrem letzten Kapitel das Fortdauern des blasphemischen Gelächters in einer Zeit beschreibt, in der das Thema, an welches das Motiv gebunden ist," obsolet wird. Unter solchen Bedingungen wird die Intertextualität zum notwendigen Lebenselixier des Motivs. Lessings beinahe tragischer Held Teilheim, der an der Vorsehung zweifelt und verzweifelt, wäre gegen Ende des 20. Jahrhunderts nur noch in einer Farce denkbar gewesen. 12 Blasphemisches Lachen, weil Gott plötzlich unverständlich und seine Schöpfung chaotisch und grausam erscheint, war eine literarische Reminiszenz, ein Zitat geworden. Wo in der neueren Literatur noch auf solche Weise gelacht wird, läßt das Motiv an andere literarische Texte, aber nicht mehr an die »möglichen Menschen der wirklichen Welt« denken. Im 20. Jahrhundert wurde der Glaube an eine gütige Vorsehung bestenfalls zu einer persönlichen Schrulle, und aus dem gleichen Grund, aus dem lästerlichen Flüchen die schockierende Wirkung abhanden gekommen ist,' 3 hat jegliche Blasphemie Kraft und Sinn verloren. Wo die historische Distanz zu dem, was einst geglaubt wurde und möglich war, formal nicht reflektiert wird und die zur Reminiszenz gewordenen Themen samt der mit ihnen verbundenen Motive noch als Ernst des Lebens ausgegeben werden, schützt nicht einmal mehr die Form des historischen Romans vor Trivialität. Ein gutes Beispiel ist Robert Schneiders Erfolgsbuch Schlafes

Bruder,

dessen erzähltechnische Schlichtheit nicht mit kalkulierter Postmodernität verwechselt werden sollte. Es hat etwas Puppenspielhaftes, den Helden in 9

Mann: Entstehung, Werke XI, S. 191. Kursive im Orig. Mann: Doktor Faustus, Werke VI, S. 179. 11 Vgl. Kapitel III.j.i. 12 Bezeichnend die Ratlosigkeit des Theodizee-Artikels im Lexikon fiir Theologie und Kirche·. »So hat etwa H.Jonas, um an Gottes Güte angesichts des Grauens v. Auschwitz festhalten zu können, die (für die Hoffnung des Glaubens doch unverzichtbare) Allmachtsprädikation aufgegeben.« Pröpper / Striet: Art. >TheodizeeAntwort< seines Körpers« mit einbezieht (LuW 371), behält der verzweifelt Lachende Abstand zur Situation, der er ebenso hoffnungs- und ausweglos ausgeliefert 1st.60 Der solcherart Lachende demonstriert eine reservatio mentalis. Diesen Schluß zieht Plessner allerdings nicht. Das Fehlen des Verzweiflungslachens in der zusammenfassenden Aufzählung der Anlässe des Lachens (vgl. LuW 363) muß als Zugeständnis gelesen werden, daß die Bestimmung der differentia specifica dieser Tonart des Lachens gescheitert war. Dabei legte die Vorarbeit die Lösung durchaus nahe. Wenn etwa das Lachen als Reaktion bezeichnet wird, »die zugleich Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe verrät« (LuW 363) und sich somit von der völligen Selbstaufgabe des Weinenden unterscheidet, so blieb als Aufgabe die Bestimmung, in welcher Weise der Lachende im Unterschied zum Weinenden sein Selbst behauptet. Auch dazu hatte Plessner die Lösung vorbereitet. Zustimmend zitierte er die philosophische Tradition, die »die enge Verbindung des Lachens mit dem Verstände« (LuW 332) betont hatte, und führt aus: Setzt man - was nicht richtig ist - menschliche Distanz zum Anlaß und Kälte des G e f ü h l s einander gleich, dann stimmt die o f t geäußerte Ansicht von der Gefühlskälte des Lachens. Tatsächlich handelt es sich aber nicht um Qualität und Tiefe des G e f ü h l s , sondern um eine enge Verbundenheit des Lachens mit dem Bewußtsein, die ihrerseits den Anschein der Gefühlskälte hervorruft. ( L u W 3 3 1 )

Die Selbstbehauptung des verzweifelt Lachenden ist ein Akt des Bewußtseins, in dem das Subjekt einerseits sein ohnmächtiges Ausgeliefertsein an die Situation anerkennt, sich selbst jedoch andererseits aus einer Beobachterperspektive in dieser Situation sieht und bewertet. Bewerten heißt: Der radikal in seinen Erwartungen und Uberzeugungen Enttäuschte bezieht Position zwischen dem Wollen bzw. Sollen und den überwältigenden Fakten, und zwar so, daß die Faktizität anerkannt, die Ansprüche, Wünsche, Forderungen aber nicht - oder zumindest nicht gänzlich - aufgegeben werden. Prinzipiell berührt sich dieser Vorgang mit der Entstehung von Kontrastkomik: D a s Lachen und mit ihm das Komische entzieht sich eindeutiger Bestimmung gerade als zugleich intellektueller und physischer Vorgang. Z u m einen ist das Komische eine Angelegenheit des Intellekts, er muß beteiligt sein, das Komische muß durch den Verstand gehen (am einsichtigsten in der Kontrastkomik, die sich im Innewerden eines Mißverhältnisses manifestiert)/ 1 60

61

Vgl. auch die auf Plessner zurückgreifenden Ausführungen zur D i f f e r e n z zwischen Lachen und Weinen im allgemeinen bei Krüger: Zwischen Lachen und Weinen, S. 1 5 7 - 1 6 2 . Greiner: K o m ö d i e , S. 95.

25

Registriert der Verstand nicht eine aufgrund eines solchen MißVerhältnisses eintretende Entwertung von etwas - das durchaus etwas »am« Subjekt sein kann - , sondern eine Entwertung des Subjektes in seiner Würde, in seinem metaphysischen oder philosophischen Glauben und darauf errichteten Selbstverständnis, möglicherweise in seiner Existenzberechtigung, so ist das resultierende Lachen keines aus Komik, sondern eines aus Verzweiflung. In Tellheims von Minna von Barnhelm als »schrecklich« empfundenem Lachen zum Beispiel kommt die Verzweiflung des sich seiner Ehre und Gesellschaftsfähigkeit beraubt Sehenden zum Ausdruck. Ein ganzes Weltbild, der Glaube »an Tugend und Vorsicht«, steht, wie Minna weiß, auf dem Spiel. Dieses Weltbild erscheint einerseits auf der Basis des den Akteuren bis dahin Bekannten als naive Illusion und als von den Fakten grausam widerlegt; andererseits beansprucht Tellheim für das scheinbar Widerlegte als kontrastierenden Pol zur Faktizität ja weiterhin Geltung. Der Kontrast erzeugt nicht Komik, sondern Verzweiflung, weil sich Tellheim in dem, was er als seine Ehre und Identität verstand, vernichtet sieht. Die auch von Plessner betonte »enge Verbundenheit des Lachens mit dem Bewußtsein« ist hier deutlich. Tellheims Verzweiflungsausbruch ist das Ergebnis einer intellektuellen Operation, unternommen zur Widerlegung und Zurückweisung Minnas. Nicht zuletzt die Diskursivierung des Lachens im Dialog der beiden Figuren demonstriert, daß Tellheim sich der Situation nicht unterwirft. Sein Bewußtsein hält in der Verzweiflung einen kontrafaktischen Anspruch aufrecht. Es ist dieser Bewußtseinsakt, der die

differentia

specifica des verzweifelten Lachens vom verzweifelten Weinen ausmacht. Wohl aus Befürchtungen, dem Cartesianismus und einer Trennung von Geist und Physis auch nur nahe zu kommen, verfolgte Plessner seine Ansätze jedoch nicht bis zu dieser Schlußfolgerung. An entscheidender Stelle verläßt er die Bahn seiner Argumentation und wechselt, um Lachen und Weinen in verzweifelten Situationen in ihrer Verschiedenheit zu bestimmen, in die Rezeptionsperspektive: Zwar wirkt Weinen hier >natürlicherDicit insipiens in corde suo: non est deusIhre Tendenz zum Wahnsinns sagt er in seinem Vertheidigungsnachtrag vom 29. April 1818, >scheint durch die (in der) in ihrem Gefängnis ausgestoßenen Gotteslästerung klar vorliegend. Nur ein Wahnsinniger kann solche empörende Ausdrücke über das höchste Wesen ausstoßen [...].

70 71

72

Eco: Name der Rose, S. 170. Keimer: Nicht Mensch, S. 104Í. Vgl. auch die differenzierenden Ausführungen bei Velten: Komische Körper, bes. S. 29 5-300; zweifelhaft scheint mir allerdings die glatte Scheidung in einen alttestamentlichen insipiens, dessen Torheit Gottesleugnung umfaßt habe, und eine »gewandelte Narrenauffassung des Neuen Testaments, wo Torheit geradezu zum Signum der Auserwähltheit und Gottesnähe« (ebd., S. 299) geworden sei. Feuerbach: Merkwürdige Verbrechen, S. 313. Das folgende Zitat ebd., S. 315f.

29

Mit seinem Plädoyer stand der Verteidiger jedoch auf verlorenem Posten. Gegen Katharina Maier erging ein Todesurteil, welches der König, »aus Gnade, in Kettenstrafe zu mildern« geruhte. Ein theologisch argumentierender Jurist konnte im 19. Jahrhundert kein medizinisches Gutachten mehr widerlegen. Doch nicht auf die forensische Uberzeugungskraft kommt es hier an, sondern allein auf die Fortexistenz eines Denkschemas, in dem die Leugnung Gottes - oder deistisch »des höchsten Wesens« - als Beweis, zumindest Indiz, für Wahnsinn bzw. Narrheit galt. Der sich fraglos aufgeklärt glaubende Jurist stand weiterhin in einer mythischen Überlieferung, die seit jeher Lachen und dunkle, widergöttliche Mächte verbunden hatte. Eine Passage aus Augustinus' De civitate Dei demonstriert, wie christliche Theologen diesen Mythos tradierten. Zunächst wird das Weinen als die dem Leben im vallis lacrimarum angemessene Haltung geschildert: Wer aber würde nicht zurückschrecken und, vor die Wahl gestellt, entweder zu sterben oder noch einmal Kind zu werden, nicht lieber den Tod erwählen? Begrüßt doch das Kind nicht lachend, sondern weinend dies Tageslicht und weissagt damit unbewußt, welchen Übeln es entgegengeht. 73

Doch beläßt Augustinus es hier nicht wie anderswo74 bei der bloßen Verurteilung des Lachens als eines sündigen Fehlverhaltens, sondern verknüpft diese Verurteilung mit einem Hinweis auf heidnische Zauberei: N u r Zoroaster soll bei seiner Geburt gelacht haben, aber dies unheimliche Lachen kündete ihm nichts Gutes an. Man sagt nämlich von ihm, er habe die Zauberkünste erfunden [...].

Die Legende vom unheimlichen Lachen Zoroasters übernahm Augustinus aus der Naturgeschichte Plinius' d. A. 75 Bei beiden Autoren scheint etwas von dem Volksglauben wohl aller Kontinente durch, in dem Lachen und Magie, in christlicher Zeit Lachen und »Zauberei« verbunden waren bzw. in schwachem Abglanz noch sind. Immer wieder wurde Menschen, deren Fähigkeiten mit normalem menschlichen Maß nicht zu messen waren, unnatürlich frühes Lachen zugesprochen. In diesem Zusammenhang wird verständlich, warum Fischart in der Geschichtklitterung naheliegenden

73

74

75

Augustinus: Vom Gottesstaat, S. 7 1 2 (Buch 21, Kap. 14). Diese Stelle führt im Doktor Faustus (Kap. X ) Serenus Zeitblom an, um sein Unbehagen angesichts der »Lachtrunkenheit« Adrian Leverkühns zu begründen. »Et rident homines, et plorant homines: quod rident homines, plorandum est.« Augustinus: Sermo X X X I , Sp. 194. Vgl. Plinius: Naturalis Historia, liber VII, cap. 16, 72. Vgl. auch Norden: Geburt des Kindes, bes. S. 65-67. 3D

Erwartungen, daß ein Ausnahmekind wie Gargantua lachend auf die Welt gekommen sein müsse, mit der Feststellung »auch lachts nicht auff Zoroastrisch«7Guck übersehe und lach nit, wer lacht, der isch e Teufele, wer nit lacht, isch en EngeleLachenInquisitin zeigte im Allgemeinen großen Leichtsinn, indem sie ζ. B. bei dem Hersagen des Spruchs: Wer Menschenblut u. s. w. Thränen vergoß, aber bei dem Dictiren desselben über den nämlichen Spruch lächelte, ohne die Ursache ihres Lächelns angeben zu können«.92

In seiner Grundlosigkeit lag das Protokollierenswerte dieses Lächelns. Man verstand es als ein Indiz für die unheimliche, faszinierende Unberechenbarkeit des weiblichen Geschlechtscharakters, in welchem nicht zuletzt in der Tradition der /'¿tóìW-Erzahlungen der tückische Giftmord verankert sein sollte.93 Von einer weiteren solchen Giftmörderin, Anna Margaretha Zwanziger, deren Fall Feuerbach als den einer »deutschen Brinvillier« in seine Sammlung merkwürdiger

Verbrechen aufnahm, wird berichtet, daß sie sich

nach der Erfahrung tiefer sozialer Deklassierung »wie eine Irrsinnige betrug. Vom Weinen ging sie zum Lachen, von dem Lachen zum Beten über.«94 Feuerbachs Version stimmt hier nicht ganz mit jener der Herausgeber des Neuen Pitaval überein. Diese vermißten zwar bei der Zwanziger die diabolische Kälte der Brinvillier, aber mit ausreichend geschärfter Aufmerksamkeit vernahmen auch sie das nicht fortzudenkende Lachen: »Zum Hohngelächter der Hölle hat sie nicht Muth, nicht Elasticität der Seele genug; eine Schleicherin, die nur heiser, innerlich bei sich lachte.«95 Solches Lachen verlor nie seine Faszination. Wiederholt wurde aus dem umfangreichen Buch, das der Verteidiger der Seriengiftmörderin Gesche Gottfried nach ihrer Hinrichtung über ihren Fall schrieb, die einzige Passage zitiert, in der von ihrem Lachen berichtet wird. Ihrem Verteidiger erzählte die Gottfried über ein Erlebnis, das sie bei der Vorbereitung der Vergiftung ihrer Mutter hatte: >Ich darf es Ihnen sagendenken Sie: während ich das Gift einmache, giebt mir der liebe Gott ein herzliches lautes Lachen, daß

92 93 94 95

Feuerbach: Merkwürdige Verbrechen, S. 3 1 3 . Vgl. Weiler: Giftmordwissen. Feuerbach: Merkwürdige Verbrechen, S. 37. Zit. nach Weiler: Giftmordwissen, S. 33.

38

ich erst mich selbst davor erschrak. A b e r gleich besann ich mich, dies gäbe mir der liebe G o t t ein, zum Beweise, daß so Mutter nun bald im Himmel lachen werde.< >Als es getrunken war, flogen auf einmal drei Schwalben zur Stubenthür herein und setzten sich auf die K r o n e des Bettes. Ich erschrak davor, daß meine Knieen zitterten, und dachte: das bedeutet den erfolgenden Tod. Mutter sagte ganz ruhig: »Sieh' mal! drei kleine V ö g e l ! « (Süh mal! dre lütje Vageis!) N i e kamen sonst Schwalben in unser Haus, nie nisteten da welche.«

Diese Passage schrieb Eduard Mörike 1832, ein Jahr nach dem Erscheinen des Berichts, in voller Länge und mit geringen Abweichungen ab, um sie, als »Musterkärtchen« einem Brief angehängt, seinem Freund Friedrich Theodor Vischer mitzuteilen.96 Kommentierend fügte der Dichter, zu jener Zeit Vikar in Ochsenwang, die Bemerkung an, daß dies eines Shakespeare würdig gewesen wäre und daß so etwas zwar in der Wirklichkeit vorkomme, »in der Kunst, als Erfindung« jedoch übertrieben wirken müsse. Aus Mörikes knappen Bemerkungen wird nicht deutlich, was er aus dem Lachen der Mörderin heraushörte, doch darf man davon ausgehen, daß es ihm nicht nur als Autor und Literaturkenner, sondern auch als Theologen aufgefallen war. Dieselben Sätze, die Mörike für Vischer aus dem Bericht über das Leben der Gesche Gottfried abschrieb, zitierte auch Ernst Weiß in Der Fall Vukobrankovics.97 Dies ist um so bemerkenswerter, als von der Giftmörderin Milica Vukobrankovics ein entsprechendes Lachen nirgends berichtet wird. Weiß' Faszination ist also deutlich, doch zielt sein Interesse ausschließlich auf die psychische Seite des Phänomens. Er strebt nach einer psychologischen Erklärung für das Gelächter, indem er von »Doppelseele« und »parzellierte[m] Bewußtsein« spricht: Die verschiedenen Interessen sind so voneinander getrennt, widersprechen sich derart, daß manchmal ein geradezu erschütternd gespenstisches Lachen Zeichen dieser gräßlichen Entzweiung in einem gibt.

Das Unheimliche des törichten, närrischen oder irren Gelächters liegt nicht mehr in den religiösen Verirrungen verzweifelter Seelen, sondern in der Pathologie der Psyche. Die ausgedehnte religiöse Lektüre der Gottfried »Erbauungsbücher, Dräsekes Predigten und das Liederbuch, die ihr [...] in Fleisch und Blut übergegangen sind« - nimmt Weiß nur noch als Hinweis auf den »Hang zu ernster Lektüre«. Das Lachen der Mörder klingt nicht mehr nach Blasphemie, sondern nach Schizophrenie. Die Ambivalenz in

96 97

Mörike: Briefe 1 8 2 9 - 1 8 3 2 , S. 2 9 4 t Vgl. Weiß: D e r Fall Vukobrankovics, S. 105. Ebd. auch die folgenden Zitate. Z u Weiß' Darstellung des Falles vgl. Weiler: Giftmordwissen, S. 2 1 9 - 2 2 7 .

39

der Vorstellung des lachenden Toren ist hier aufgelöst, der Narr zum Irren »säkularisiert«. Bis heute jedoch, wie verzerrt auch immer, klingen in Berichten von Mordfällen gelegentlich alte theologische Untertöne durch. »Laughing as they killed« lautete die Uberschrift eines Zeitungsberichts, der das im April 1999 von zwei Schülern einer High School in Colorado unter Mitschülern und Lehrern angerichtete Massaker schilderte. Auffallend häufig werden Zeugenaussagen über das Gelächter der beiden Amokläufer angeführt: »They were laughing after they shot. It was like they were having the time of their life.« 98 Nicht nur das Vergnügen, das die Mörder beim Töten empfanden, hörten die Entkommenen in diesem Lachen. Die Dimension, die jenseits des Psychologischen in diesem Gelächter bzw. in der Erinnerung daran mitklang, streifte ein Artikel mit dem Ausdruck »satanic laughter«. Möglicherweise war dies kaum mehr als Journalistensprache, die sich einer abgegriffenen Wendung bediente. Doch gerade als Floskel verweist der Ausdruck auf das alte Denkmuster, in dem Mord und teuflisches, bedrohlich-unheimliches Lachen einmal eng zusammengehörten.

98

Dieses und die folgenden Zitate entstammen der jeweils ersten Seite des Guardian

und des Independent vom 22. April 1999. 40

III. U n t e r dem Einfluß Saturas - Wandlungen des M o t i v s v o n K l o p s t o c k bis B ü c h n e r

ι.

Das Lachen des Hohepriesters Philo in Klopstocks Messias

Helmuth Plessners Bemerkung, daß bei Verzweifelten »das hohle, harte, gequälte Lachen widernatürlich, höllisch«1 klinge, verweist zurecht, wenn im Rahmen seines theoretischen Ansatzes auch erratisch dastehend, auf die höllische Abkunft dieses Lachens als eines literarischen Motivs. In Klopstocks Messias vollzieht sich der Ubergang vom höhnischen Satansgelächter zum psychologisch motivierten Lachen menschlicher Charaktere, die sich, aufs äußerste verzweifelt, gegen Gott auflehnen. Der 13. Gesang, in welchem sich der Pharisäer Philo, dem der Dichter maßgebliche Verantwortung für die Hinrichtung Jesu zuspricht, nach dem Erhalt der Nachricht vom leeren Grab »mit fürchterlichlachender Ruhe« durch eigene Hand den Tod gibt, entstand um 1760, ohne daß die Uberlieferungslage eine exakte Datierung erlaubte.2 Philo handelt objektiv, doch unwissentlich im Sinne Satans, der ihm nur unhörbar, »bey sich selber«, seinen höllischen Segen erteilt: »Wie wir unten im Abgrund weihn, so weih' ich dich, Philo !« (IV, 285^).3 Mittels des Lachens ist Philo einerseits motivisch mit der höllischen Sphäre verbunden; andererseits bleibt es, aus tiefster Seele kommend, bevor diese der Verdammnis übergeben wird, das Verhalten eines menschlichen Subjekts in einer ausweglos desperaten Situation. Insofern ist es mißverständlich, vom »satanische[n] Philo« 4 zu sprechen.

1 2

3

4

Plessner: Lachen und Weinen, S. 327. Zu den Entstehungsdaten des 13. Gesangs vgl. Klopstock: Werke und Briefe, Abt. Werke IV/3, S. 231 u. 333. Ob die hier entscheidenden Schlußszenen dieses Gesangs, in welcher Form auch immer, zu Beginn der sechziger Jahre vorlagen oder ob sie zu den vor dem Druck der Gesänge X I - X V im Jahr 1768 zuletzt fertiggestellten Partien gehörten, ist unsicher. Doch würde eine Verschiebung in der Chronologie um einige Jahre weder für die literaturgeschichtliche Stellung noch für den gegebenen Zusammenhang Wesentliches ändern. Zitate aus dem Messias werden im folgenden im laufenden Text belegt. Die Gesänge I - X in Werke und Briefe, Abt. Werke IV/1, die Gesänge X I - X X in Werke IV/2. Grimm: Marginalien, S. 286.

41

Vor der Subjektivierung solchen Lachens gehörte es zu den Epitheta der höllischen Mächte. Um ein Beispiel aus der Entstehungszeit des Messias zu geben: In Salomon Geßners Prosagesängen Der Tod Abels (1759) etwa freuen sich Satan und Anamelech »laut lachend« oder »mit hönischem Lachen« über und auf den Erfolg ihrer Verführungskünste; wenn sie lächeln, dann »höllisch«, »hönisch« oder, beim Anblick des von ihnen angestifteten bethlehemitischen Kindermords, »mit höllischer Freude«. 5 Die Verzweiflung des Brudermörders Kain vermochte Geßner noch nicht anders als in allzu viele Worte zu fassen, wie auch die Heldin in Lessings frühem, 1755 geschriebenem Stück Miss Sara Sampson vor lauter »edelmütigem Perorieren fast das Sterben vergißt«.6 Gleich den tragischen Helden barocker Trauerspiele mußte auch noch Geßners Kain in extenso sagen, was er leidet, um sich und den Lesern dieses Leiden vorzustellen. Doch je mehr Worte gemacht wurden, desto mehr muß den späteren Leser das Gefühl beschlichen haben, daß nicht alles und nicht das Wesentliche gesagt ist. Klopstock vollzieht den Schritt, die Gestaltung verzweifelter Charaktere nicht mehr ausschließlich mittels wohlgesetzter Erklärungen vorzunehmen, sondern den Ausdruck der Verzweiflung über eine unerträgliche und rational nicht zu verarbeitende Situation in die körperliche Reaktion der Charaktere zu legen. Erkennbar war Klopstock bestrebt, sich streng an die aus Theologie und Volksglauben gespeiste literarische Tradition zu halten, daß Gott, die Engel und die Heiligen allenfalls lächeln dürfen und daß Lachen und Gelächter Attribute der höllischen Mächte sind.7 Gerhard Kaiser behauptete fälschlich, Klopstocks Epos habe diese Tradition wieder bekräftigt, nachdem Milton, der sich größere poetische Lizenzen gegenüber den biblischen Vorlagen und der theologischen Überlieferung erlaubte, in Paradise Lost mit ihr schon gebrochen hatte: »Miltons Gott lacht, Klopstocks Gottvater lächelt.«8 Doch hält diese griffige Formulierung der Überprüfung nicht stand. Auch bei Milton findet sich kein lachender Gott. Zur Stützung seiner

s 6 7

8

Geßner: Der Tod Abels, 8.95,96, 135, 137,92. v. Matt: Tongues of dying men, S. 21. Fast unverändert ließe sich noch über den Messias sagen, was Hans-Jürgen Diller mit Bezug auf die Towneley Plays, um 1500 entstandene geistliche Spiele, feststellte: »Schauen wir uns die Belege im einzelnen an, so finden wir Lachen vor allem bei den bösen Charakteren. Das Wort laugh erscheint in den Selbstbeschreibungen der Teufel und Tyrannen und bezeichnet durchweg den Triumph und die falsche Sicherheit des Verblendeten, in denen sich bereits sein Fall ankündigt.« Und: »Lachen ist [...] konsequent mit Bosheit, insbesondere mit der Ursünde der Superbia verbunden«. Diller: Lachen im geistlichen Schauspiel, S. 185 u. 187. Kaiser: Klopstock, S. 214.

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These berief sich Kaiser auf eine Passage, in welcher der Sohn dem Vater den göttlichen Triumph nach dem Opfertod schildert. Alle Feinde, die gefallenen Engel und schließlich auch der Tod, werden besiegt sein: Du wirst von dem Himmel hinunterschauen, und lachen, dieses Gesicht wird dich belustigen, wenn ich, durch dich ermuntert, alle meine Feinde zertrete, und zulezt auch den Tod selbst, und das Grab mit seiner Leiche sättige.9

Gegen die Behauptung, daß Gott hier als lachend geschildert werde, lassen sich verschiedene Einwände erheben. Verfehlt ist jedenfalls Kaisers als Paraphrase gemeinte Formulierung, Gott sehe »mit homerischem Gelächter« 10 vom Himmel herab. Homers Götter lachen wirklich, Miltons Gott aber lacht so wenig wie der Klopstocks. Dies schon deshalb, weil im englischen Original von >laughter< nicht die Rede war. Dort sagt Jesus zum Vater: »Thou at the sight / Pleased, out of heaven shalt look down and smile [.. J . « 1 1 In Paradise Lost lachen weder Gott noch die Engel. Wo Bodmer, wie Kaiser zitiert, in der zweiten Übersetzung Gabriel »halb lachend« Satan eine verachtungsvolle Antwort erteilen läßt, findet sich bei Milton »half smiling«, 12 was noch Bodmers erste Version mit »halb lächlend«' 3 originalgetreuer wiedergegeben hatte. Das Paradox, daß sich einerseits in den Übersetzungen »das Bemühen, dem Text Miltons möglichst nahe zu kommen«,' 4 von Ausgabe zu Ausgabe verstärkte, daß Bodmer sich aber anderseits vom Wortlaut des Originals hier entfernte, findet seine Auflösung in Bodmers Annahme, Milton habe sich bei der Gestaltung von Dialogen zwischen den göttlichen Personen engstens an biblische Formulierungen und allenfalls an solche aus über jeden Zweifel erhabenen theologischen Werken angelehnt. Bodmer opferte den Buchstaben dem von ihm angenommenen Geist des Werkes: Wenn Miltons Majestät an einigem Orte von ihm weicht, so geschichts in denen Stücken seines Gedichtes, w o die göttlichen Personen redend eingeführt werden. Es läßt sich meines Bedünckens wahrnehmen daß der Verfasser einigermassen mit Furcht und Zittern fortfährt, indem er die Gedancken des Allmächtigen beschrei-

9

Milton / Bodmer 1742, S. 119. Das hier Wesentliche ist sowohl in der ersten Übersetzung von 1732 (»Du wirst von dem Himmel hinunter schauen, und mit dem Anblick belustigt lachen [...]«; Milton / Bodmer 1732, S. 94) als auch in der späteren von 1769 (»Du wirst von dem Himmel hinunter sehen, und lachen, dieses Gesicht wird dich belustigen [...]«; Milton / Bodmer 1769, S. 1 1 4 ) unverändert.

10

Kaiser: Klopstock, S. 206; ebd. auch das folgende Zitat. Milton: Paradise Lost, III, 2 j6f. Milton: Paradise Lost, IV, 903. Milton / Bodmer 1732, S. 15 5. In der Übertragung von 1742 reagiert Gabriel »halb lachend mit Verachtung« (Milton / Bodmer 1742, S. 194) auf Satans Provolationen, in der Version von 1769 »halb lachend mit Hohne« (Milton / Bodmer 1769, S. 186). Bender: Bodmer und Breitinger, S. 46.

11 12 13

14

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bet. Er darf seiner Phantasie den vollen Lauf nicht verhängen, sondern behilft sich lieber mit solchen Begriffen, als in den Büchern der rechtgläubigen Schrift=Gelehrten zu finden sind, und mit solchen Ausdrücken, als man in der Bibel antreffen wird. 1 ' Bei seiner deutenden Übertragung muß Bodmer alttestamentarische Verse, in denen von Gottes verachtungsvollem Verlachen seiner Feinde die Rede ist, im Sinn gehabt haben. Solches Verlachen findet sich in verschiedenen Psalmen: »Aber der im Himmel wohnt, lachet ihrer, und der Herr spottet ihrer.« (Ps 2,4) Wie schon erwähnt, hat >lachen< in Verbindung mit dem Genitiv jedoch seine eigentliche Bedeutung verloren und »mehr den sinn höhnend verachten, verspotten entwickelt«.' 6 Aus dem Kontext ist klar, daß Bodmer in seiner Übersetzung diese Bedeutung intendierte, allerdings ließ er - immer noch kaum mißverständlich - das Genitivattribut weg. A n der diskutierten Stelle erklärt sich Bodmers Abweichung also durch die Unter- und deshalb Herstellung einer größeren Bibelnähe, als wohl im Original enthalten war. Doch es ist eindeutig, daß weder Milton noch sein Übersetzer von der Überlieferung abwichen, dergemäß im Himmel nicht gelacht, sondern allenfalls gelächelt wird. Den englischen Epiker unterscheidet von Klopstock, daß im Messias dem göttlichen Lächeln das Streben des Dichters nach Vermeidung von Anthropomorphismen deutlich anzumerken ist. Die Formulierung, daß solche generell »bei Klopstock notwendiges Übel geworden«' 7 seien, geht jedoch zu weit, da auf diese Weise die Anschaulichkeit als poetische conditio sine qua non der Theologie vollständig untergeordnet und durch diese verurteilt würde. Richtig ist aber daran, daß gerade dem göttlichen Lächeln ein Erdenrest anhaftet, dessen theologische Peinlichkeit der Dichter fast durchweg durch »transzendierende« Attribute zu mildern versuchte. Seinen orthodoxen Kritikern ging es jedoch ums Prinzip. In seinem satirisch-polemischen Neologischen

Wörter-

buch griff Schönaich »St. Klopstock« mit der Bemerkung an, daß man im Messias lerne, wie ein Lächeln eine Stime, die schon bey lebendigem Leibe selig ist, hellen oder erhellen könne; nämlich durch ein göttliches Lächeln, ob wir gleich nirgends finden, was das sey: wir auch in der Bibel umsonst ein göttliches Lächeln gesuchet haben; vielmehr ist bemerket worden, daß der Heyland nirgends gelachet, sondern oft geweinet. Wir wünschten nur Sehraff Klopstocken lächeln zu sehen, um ein kleines Bild davon zu bekommen.'8 15 16 17 18

Bodmer: Critische Abhandlung, S. 302. Grimm / Grimm: Art. >lachenlächeln< transiviert: Jesus »lächelte Gnade« (V, 763) und »lächelt die Gräber vorüber« (VI, 425), oder: »[...] Aber der Richter lächelt' ihm Gnade! / Allmacht war sein Lächeln, schuf um zu Wonne das Elend!« (XVI, 259^). Auch das Lächeln der himmlischen Heerscharen zeigt in der Regel diese ent-anthropomorphisierende Qualifizierung. Die Engel singen »mit himmlischem Lächeln« (XX, 843), die Stirn eines Seraphen ziert ein »göttliches Lächeln« (IV, 55$), doch ist unterhalb der Ebene des dreieinigen Gottes die Reglementierung etwas weniger streng. So ist schlicht von »der Engel / Lächeln« (XIX, 904^) die Rede, ein »jugendlich Lächeln« (III, 475) ist auf dem Antlitz des Seraphen Salem zu sehen, und Eloa gar, der Ersterschaffene der Engel, »freute sich laut« (XVIII, 494) beim Weltgericht - doch werden sich die Leser diese Freudensäußerung kaum als lautes Lachen, sondern als frohlockenden Lobpreis vorzustellen haben. Satan lächelt nur einmal, und dies bezeichnenderweise »mit bitterem Spott, und triumphirendem Lächeln« (III, 440). Häufig jedoch ertönt von dieser Seite »brüllendes Hohngelächter« (XIII, 473), das »Hohngelächter der Hölle« (XVI, 319). 20 Das Lachen, das Klopstock dem menschlichen Personal des Messias zuschreibt, weist dieses der Hölle zu, wenn auch ihren verschiedenen Kreisen. Ein gekaufter Zeuge sagt gegen Jesus aus, indem »die wilde Lache des Hohns« (VI, 406) in seiner Stimme durchschlägt. Der redliche König, der einst »in der Wuth der Verzweiflung« (XVI, 247) und »mit furchtbarer Lache« (XVI, 249) Hand an sich legte, findet beim großen 19 20

Grimm: Marginalien, S. 295. Ähnlich X V I , 452; X V I I I , 8o/f. 45

Gericht trotz der Zweifel der »Himmlischen alle« (XVI, 259) Gnade vor den Augen des Richters. Keine Gnade jedoch erwartet die Verführer der Seelen, die Lehrer des Zweifels und des Hochmuts. Sie haben »[...] Gifte, die Wollust kränzt', und die Lache des Hohnes / Unter die Leute getragen, noch öfter in die Pallaste / [...].« (XVIII, 339L) Blasphemie also und die der Selbsttötung vorangehende Verzweiflung sind die Bedeutungen, die mit dem menschlichen Lachen im Epos einhergehen. Beide Bedeutungen treffen zusammen im Lachen des Pharisäers Philo, des radikalsten Vertreters der Anklage im Synhedrion. Die Zugehörigkeit einer Figur zur antagonistischen, widergöttlichen Partei hat im Messias positive Konsequenzen für die Möglichkeiten des Dichters, sie dem Leser plastisch vor Augen stellen zu können. Die spätere Forschung bestätigte Reinhold Grimms Beobachtung, das Grundmuster der Messiade bestehe in einem »Geschehnis, das sich vor teilnehmenden Zeugen vollzieht«. 21 Teilnahme meint dabei alles andere als Partizipation, nämlich Anteilnahme, passives innerliches Nachvollziehen der Passionsgeschichte, von der dem Leser durch solche multiperspektivische Zeugenschaft erzählt wird. Die epische Handlung wird bei Klopstock vollständig verinnerlicht. Gerade darin sah der Dichter den Unterschied zum und die Überlegenheit des Messias über das Epos der Antike: Die Himmlischen, welche das Kreuz, und hernachmals das Grab umgaben, sind gewöhnlich zwar nur theilnehmende Zuschauer; sie tragen zu der Handlung nichts bey: aber sie können gleichwohl auf Christen mehr wirken, als die meisten handelnden Personen in der Ilias auf die Griechen konnten. Denn sie sind erhabner und nehmen an etwas viel Größerem Antheil, als das war, was jene Mithandelnden thaten.22

Konsequent werden Handlungen definitorisch abgewertet; diese seien »nur Begebenheiten«. 23 Die mit solcher Verinnerlichung einhergehende Handlungsarmut ist seit Herder immer wieder bemängelt worden und führte zur topischen Kritik des Messias als langweilig, gipfelnd in der Empfehlung des Teufels in Grabbes Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung, das Epos sei ein »unfehlbares Schlafmittelchen«. 24 Dieter Martins Feststellung, bei der Betrachtung des Nebenpersonals falle auf, »daß es sich weitestgehend

21

22 23 24

Grimm: Marginalien, S. 276. Vgl. zum folgenden bes. Martin: Klopstocks Messias, S. 100-107; Kaiser: Klopstock, S. 238-248. Weitere Literatur bei Kohl: Klopstock, S.77f. Klopstock: [Uber den »Messias«. 1797-1801]. Werke IV/3, S. 1 7 1 - 1 7 4 , hier 174. Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Werke V I I / i , S. 1 7 1 . Grabbe: Scherz, Satire, Ironie, S. 258.

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rezeptiv zum zentralen Geschehen verhält«, 2 ' läßt sich dahingehend differenzieren, daß tendenziell der Grad der Rezeptivität und Passivität mit der gläubigen Verehrung Jesu steigt, im Falle eines feindlichen Verhältnisses sinkt. Mit der Distanz zum Messias werden die Figuren aktiver und gewinnen an Kontur. Die Gläubigen hingegen sind von des bloßen Gedankens Blässe angekränkelt. Schon unter den Jüngern weist der Zweifler Thomas ein deutlicheres Charakterprofil auf als etwa Johannes, und Petrus rückt dem Leser erst durch seinen Verrat näher. Am deutlichsten sind die Feinde Jesu gezeichnet. Uber die erzähltechnische Funktion der Nebenpersonen im Messias - also alle um Jesus gruppierten Menschengestalten - wurde gesagt: »Ihre Passivität, positiv ausgedrückt: ihre ausgeprägte Fähigkeit zum seelischen Nachvollzug des Geschehens, bestimmt sie zu Identifikationsfiguren des Lesers.« 26 Es müßte wohl heißen: Als solche waren sie intendiert. Denn sie bieten gerade desto weniger Anknüpfungspunkte für eine solche Identifikation, je reinere Spiegel des Heilsgeschehens ihre Seelen sind und je vollständiger sie also in ihrer Funktion - »sehen, und feyren« (I, 335) - aufgehen. So trug das Grundmuster des Epos verstärkend zu der bekannten Tatsache bei, daß Dichtern wie Malern Darstellungen des Bösen und der Hölle immer schon eindrücklicher gelangen als solche des Guten und des Paradieses. Im Falle des Messias war es deshalb nur folgerichtig, daß Schiller zur Illustration der These, Klopstocks Charaktere seien wenn auch nicht für die Einbildungskraft, so doch für den Verstand »trefflich bestimmt und begrenzet«, aus dem Messias drei Vertreter der antagonistischen Partei hervorhob: »seinen Judas, seinen Pilatus, seinen Philo«. 27 Philo ist »als der wilde, bedingungslose Hasser« 28 Jesu eine der profiliertesten und beeindruckendsten Figuren des Epos. Er verkörpert das Gegenteil des quintilianischen Rhetorideals, er ist der alle rhetorische Manipulationstechniken beherrschende vir malus dicendiperitus.19

Im vier-

ten und sechsten Gesang ist es dieser homo politicus, der bebend »vor Wuth und grimmigem Zorne« (IV, 267) - also mit mitreißender actio - die rücksichtslose Verfolgung des angeblichen Messias und seiner Gefolgsleute als Unruhestifter und Zerstörer des ewigen Bundes mit Gott fordert; sein Fluch gilt allen, die sich als Freunde des Wundertäters oder auch nur als Befürworter einer abwartenden Haltung zu erkennen geben. Als nach Jesu Verhaftung dessen Verhör durch den Hohepriester Hannas, der den Gefan2

' Martin: Klopstocks Messias, S. 102. Martin: Klopstocks Messias, S. 103. 17 Schiller: Uber naive und sentimentalische Dichtung; Werke, Bd. 5, S. 736. 28 Kaiser: Klopstock, S. 237. 19 Vgl. Hilliard: Philosophy, bes. S. 102—104. 16

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genen bewundert, eine gefährliche Wendung zu nehmen droht, greift Philo ein: Er »gebot, den Empörer zu nehmen, / Und ihn entgegen zu führen dem Todesurtheil. Sie thatens.« (VI, i82f.) Zweimal ist im Text von der Melancholie die Rede. Das zweite Mal, im dreizehnten Gesang, werden die nach Jesu Hinrichtung versammelten Priester, in bedrückter Stimmung und möglicherweise ihr kommendes Unheil schon ahnend, verglichen mit »Denen, die in der Nacht des melancholischen Grübelns, / Weit verloren, umirren [...]« (XVIII, 926f.). Die Priester, deren Berufsstand noch Christian Thomasius als besonders melancholieanfällig ansah,30 werden vorgestellt als gelähmte, von dunklen Ahnungen geplagte Penserosi. Wenn Schings die breite Entwicklung der Temperamentenlehre im 18. Jahrhundert so zusammenfaßte, daß Melancholikern generell »die Funktion eines Gegenbildes« 31 übertragen wurde, so traf dies wohl kaum jemals genauer zu als im Messias bei den Mitgliedern des Hohen Rats und seiner Rolle als antagonistischer Partei in der Heilsgeschichte. Aus dieser düsteren Gruppe ragt Philo als einzelner heraus. Er wird eingeführt (IV, 1 0 4 - 1 1 1 ) als »ein gefürchteter Priester« und machtvoller Redner, der aber »zu stolz [ist], vor der Reife der Sachen, / Unentscheidend zu reden«. »Sein tiefes und melancholische Auge / funkelte«, bevor er »mit zorniggeflügelter Stimme« seine erste wilde Anklagerede gegen die sektiererischen Unruhestifter hält. Das sich hier kaum mehr als andeutende Melancholieverständnis gewann Klopstock aus der polemischen Diskussion, die Pietisten mit ihren orthodoxen und aufklärerischen Gegnern um Begriffe wie Enthusiasmus oder »Entzückung«, Melancholie und Fanatismus führten. 32 Klopstock, vom Pietismus beeinflußt, ihm aber keinesfalls zuzurechnen, muß im Elternhaus, während der Schulzeit in Schulpforta und im Theologiestudium, in dem er sowohl mit pietistischen Lehrern als auch mit deren Gegnern in Kontakt kam, Kenntnis von dieser Diskussion und entsprechenden Schriften erlangt haben, ohne daß dieses Wissen und seine Quellen im einzelnen nachgewiesen werden könnten. 33 Zur Charakterisierung Philos konnte Klopstock Ergebnisse der antipietistischen Kritik verwenden, die sowohl hinter dem Trauergebot wie auch hinter - angeblichen - Eingebungen, Visionen und Gotteserfahrungen »Milzsucht« entdeckte. Schings faßte diese Kritik so zusammen: »Melancholie, so darf man resümieren, brütet (womöglich unter Assistenz des Teu30 31 32 33

V g l . Schings: Melancholie, S. 42. Schings: Melancholie, S. 46. V g l . Schings: Melancholie, bes. S. 1 4 3 - 1 9 7 . Die ausführlichste A n a l y s e neologischer und pietistischer Einflüsse auf Klopstock bei Kaiser: Klopstock, S. 28-203. 48

fels) Enthusiasmus und Fanatismus aus.«34 Philo ist ein wortmächtiger Redner, der, berauscht von seinen Visionen und im blinden Eifer fortgetragen, unter Anrufungen Gottes, wilden Anklagen der Unruhestifter und Verfluchungen ihrer Anhänger andere auf der Bahn ewigen Verderbens mitreißt. »Fanaticismus« und Intoleranz sind es nicht zuletzt, die den Melancholiker »zum Verfolger aller derer [machen], die der Meynung sind, daß seine Phantasey ihn irre führe«. 35 Nach dem Anti-Pietisten Friedrich Christian Bücher zählen zu den Merkmalen des »Fanaticismus« u.a. »betrüglicher Vortrag« und »prächtige Redner=Kunst«, wobei der Teufel seine Hand im Spiel haben mag: Es kömmt aber die Fanatische Einbildung / entweder vom Teuffei / und dessen so innerlichem Eingeben / als äusserlicher Offenbahrung / oder von einer verderbten Fantasie / und melancholischen Trieb und Regung / oder Miltz = Beschwerden / und einem unordentlichem Temperament her [...]. j 6

Im Messias steht Satan unsichtbar hinter Philo, als dieser die erste seiner Hassreden hält (vgl. IV, 284-300). Doch flüstert Satan ihm die Worte nicht ein, wie er es dem Seinen etwa auf Dürers Stich Der Traum des Doktors durchs Ohr eingibt, 37 sondern spricht seinen teuflischen Segen nur »bey sich selber«, so daß allein der anwesende Seraph die Worte vernehmen kann. Philo handelt theologisch nach freier Wahl, wenn auch psychologisch aus einem »melancholischen Trieb« und in eigensinniger Verblendung. Daß Klopstock Büchers Schriften kannte, ist weder nachzuweisen noch wahrscheinlich und soll hier auch nicht behauptet werden. Doch aus der Flut der Polemiken für und wider den Pietismus muß ihm manches bekannt gewesen sein. Es hebt Philo schon vor der Schemenhaftigkeit der anderen Figuren hervor, daß hinter der Zeichnung seines Charakters entsprechende Einflüsse auch nur ahnbar werden. Der dreizehnte Gesang erzählt, wie die Nachricht vom leeren Grab der Versammlung der angespannt wartenden Hohepriester überbracht wird. Die Erfüllung auch dieser Prophezeiung macht für alle offenbar, daß der Hinge-

34 3!

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37

Schings: Melancholie, S. 15 5. Heinrich Wilhelm Lawätz: Versuch über die Temperamente. Hamburg 1777, S. 78; zit. nach Schings: Melancholie, S. 52. Friedrich Christian Bücher: Haupt=Gründe des Fanaticismi, So in der Verführung unserer ersten Eltern / und der Schwärmer / zu der Apostel und Lutheri Zeiten / Aus der H. Schrifft und der Christi. Antiquität eröffnet [...]. Danzig 1699, S. 19fr.; zit. nach Schings: Melancholie, S. 379, Anm. 69. Abgebildet z.B. Klibansky / Panofsky / Saxl: Saturn, Abb. 1 0 1 ; vgl. auch ebd. Abb. 98.

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richtete der Sohn Gottes war. Philo muß erkennen, daß er den Messias getötet hat: U n d sie taumelten auf von ihren Sitzen, und standen Starr, Denkmahle des Schreckens. Drey Römer folgten dem ersten, Eilten den offenen Saal hinein, und riefen zusammen: Seht ihr nun zu, weg stürzte der Fels ! was ihr thut! und die Erde H u b sich empor! Das Grab, ein Sturmwind wirbelt' und heulte, Sahen wir leer! Erst fielen wir hin, wie Todte, ja leer sahn Wir das Grab hernach. Gleich schnellherschmetternden Donnern War den Priestern ihr Zeugniß! D a traf sie der letzt', und der stärkste. Denn ein fürchterliches Gelächter erhub, in des Schreckens Unsinn, Philo. So schweigt der Tod, so schwiegen die Priester, U n d auch Philo wieder. (XIII, 932-942)

»Fürchterliches Gelächter [...] in des Schreckens Unsinn« - das ist nicht, wie Kindt die Szene verstand, »das irre Lachens des Wahnsinns«,38 sondern eine Reaktion, wie Plessner sie beschrieb: In einer Situation, die die Verstehens- und Verarbeitungskompetenz des Menschen übersteigt, übernimmt der Körper im Lachen - oder Weinen - die Antwort. Wo sich der Mensch unnachgiebig auch in der ausweglosen Situation zu beugen nicht willens ist, ist, wie bei Philo, Lachen die Reaktion. Von Wahnsinn kann bei ihm auch schon deshalb nicht die Rede sein, weil er bis zum Ende durch eigene Hand äußerst bewußt und seiner selbst mächtig bleibt. Die Fürchterlichkeit des Gelächters entspringt zum einen der Entdeckung, für den Tod des Messias maßgeblich verantwortlich zu sein, zum anderen klingt in ihm schon die folgende Blasphemie an. Nach dem Eintreten der tödlichen Stille läßt Klopstock den römischen Hauptmann Cneus, der als zuverlässiger Zeuge von den Ereignissen am Grab zu berichten weiß, in die Versammlung treten. Mit ihm erscheint Philos Todesengel, der ungesehen »siebenfältige Schrecken« (XIII, 974) verbreitet. Philo hat sich wieder in der Gewalt, doch die Anstrengung ist seiner Stimme und dem kaum zu unterdrückenden Gelächter anzumerken. Bevor er handelt, will Philo letzte Sicherheit gewinnen: Der ging, mit fürchterlichlachender Ruhe, Gegen Cneus, und fragte mit dumpfer langsamer Stimm' ihn: Offen das Grab ? und ohne den Todten ? C. Ohne den Todten ! (XIII, 975-977)

Die Aufforderung Philos, seine Aussage bei Jupiter zu beschwören, lehnt Cneus ab, weil er zum einen angesichts des Gesehenen für die Feinde des

38

Kindt: Klopstock, S. 402.



Gekreuzigten nur noch Verachtung hat und zum anderen nur noch bei Jehovah schwören will. Daraufhin ruft Philo, dies sei mehr als ein Schwur, R u f t es, und reißt dem Hauptmann sein Schwert von den Hüften, und stößt sichs Wüthend ins Eingeweide mit beyden A r m e n hinunter, Schleudert es weit von sich weg, und taumelt nieder zu sterben! A l s er sich w ä l z t ' in rauchendem Blute, riß er die W u n d ' auf, Spritzete Blut gen Himmel: H a Nazaräer! S o ruft' er, Starb ! U n d C n e u s ergriff sein liegendes Schwert, und nahte Sich dem todten, und ließ es auf ihn, w i e es blutete, fallen. (XIII, 984-990)

Sterbend noch bekräftigt Philo seine Feindschaft zum »Nazaräer«, die sich nun nicht mehr gegen einen Aufrührer, sondern gegen Gott richtet. Mit der blasphemischen Geste, dem Verspritzen des eigenen Blutes gen Himmel, zitiert Klopstock eine frühere Passage, in der ein Traum des Kaiphas erzählt wurde: Wie tief in der Feldschlacht Sterbend ein Gottesleugner sich wälzt; der kommende Sieger, U n d das bäumende Roß, der rauschenden Panzer Getöse, U n d das Geschrey, und der Tödtenden Wuth, und der donnernde Himmel stürmen auf ihn, er liegt, und sinkt mit gespaltenem Haupte D u m m und gedankenlos unter die Todten, und glaubt zu vergehen. Dann erhebt er sich wieder, und ist noch, denket noch, fluchet, D a ß er noch ist, und spritzt mit bleichen zuckenden Händen Himmelan Blut; G o t t fluchet er, wollt' ihn gerne noch leugnen. (IV, 4 - 1 2 )

Solche Szenen im Messias sind wortmächtige Illustrationen des Sachverhalts, daß »die Schmähung oder Verfluchung Gottes das Gegenüber eines >Du< voraussetzt«. 39 Dieser Logik entkommt keine Blasphemie. Doch während im Messias die Lästerungen Gottes nicht nur seine Existenz, sondern auch das in der Geschichte wirksame Heilsgeschehen noch bestätigen, stellt das in den bald darauf folgenden Dramen und Romanen ertönende Gelächter das gütige Wirken einer lenkenden Hand - bzw. die »durch providentielle Letztgarantien gestiftete teleologische Synthesis von Subjekt und Welt«40 - in aggressiver Weise in Frage.

39

Goldammer: Art. >Gotteslästerung 64 65

Gray: Ode on a Distant Prospect of Eton College, in Gray: Poetry & Prose, S. 3 5 bis 38, hier S. 38. Zu Becketts Zitieren dieser Zeilen im Endspiel ν gl. Pfister: Inszenierungen des Lachens, S. 224-226. Boswell's Life of Johnson, vol. 4, S. 304. Zitiert wird Vers IV, 37 zas Paradise Lost. Boston: Anatomy, S. 201. Art. Ris ou Rire, in: Encyclopédie, Tome 14, S. 298-300, hier S. 299, Sp. 1. Zit. nach Schings: Melancholie, S. 62. Vgl. ζ. Β. auch Lorry: Von der Melancholie, S. 406.

56

Hören Sie auf, Madame! Weinen wollte ich mit Ihnen gern; aber ich habe heute keine Tränen. Verschonen Sie mich! Sie finden mich in einer Stunde, wo ich leicht zu verleiten wäre, wider die Vorsicht zu murren. (I/6)66

Durch die folgenden Ereignisse wird Tellheim dazu gebracht werden, diese Kontrolle aufzugeben und seiner Anklage der Vorsehung Stimme zu verleihen. Damit droht auf der Bühne etwas zum Ausdruck zu gelangen, was Lessing, wie Gottsched den Hanswurst, von ihr verbannt wissen wollte. Das Werk des »sterblichen Schöpfers«67 habe sich, wie es im vielzitierten 79. Stück der Hamburgischen Dramaturgie heißt, zu einem Ganzen zu ründen, in welchem nicht durch isolierende Betrachtung von verhängnisvollen Ereignissen und menschlichem Leiden als »blindes Geschick und Grausamkeit« erscheine, was »in dem ewigen unendlichen Zusammenhange aller Dinge«, worin »Weisheit und Güte« herrsche, »seinen guten Grund« habe. Dem Dichter wird deshalb untersagt, »die unbegreiflichen Wege der Vorsicht« in ihrer planvollen Anlage in Frage zu stellen. Damit Teilheims düstere Erfahrung und seine Reflexion dieser Erfahrung nicht gegen das Gebot verstößt, daß »an die verwirrenden Beispiele solcher unverdienten schrecklichen Verhängnisse so wenig, als möglich, erinnert werden« solle, ist nicht nur ein harmonischer bzw. harmonisierender Ausgang des Stückes notwendig, sondern die Stimme, die Zweifel an der Vorsehung anzumelden wagt, muß auch von vornherein in ihrer Uberzeugungskraft deutlich eingeschränkt sein. Diese darf nicht vollständig fehlen, sonst erschiene Tellheim wie der junge Gelehrte im gleichnamigen Stück nur als ein für die wirklichen Verhältnisse blinder Tölpel, aber die Wertung der Erfahrungswirklichkeit durch den anklägerischen Zweifler muß für die Klarsichtigen als unzulänglich und deshalb unverbindlich erkennbar sein. Indem Lessing den Major als einen Melancholiker vor die Augen des Publikums stellt, wird dessen »Murren« als Produkt einer verzerrten Wahrnehmungs- und Empfindungsweise kenntlich gemacht: Nicht das Geschick ist blind, sondern der melancholische Protagonist. Bis zu dem Zeitpunkt, als Tellheim seine Disposition zu Zweifeln an der Vorsehung das erste Mal erwähnt, hat man über ihn erfahren, daß es erstens Schwierigkeiten mit dessen »Foderungen an die Generalkriegeskasse« (I/4) gibt, daß er zweitens deshalb - die Kausalität muß allerdings schon erschlossen werden - finanziell auf dem Trockenen sitzt (wenn er auch eine

66

67

Zitate aus Minna von Barnhelm nach dem Text der Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 6, S. 9 - 1 1 0 ; von hier an Nachweise im laufenden Text. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 79. Stück; Werke, Bd. 6, S. J77Í.; ebd. auch die folgenden Zitate. 57

große Summe, die er aus Prinzip und Ehrlichkeit nicht anzubrechen gedenkt, für einen anderen verwahrt) und daß er drittens, wiederum als Folge seiner momentanen Zahlungsunfähigkeit, von einem berechnenden Wirt in ein schäbiges Zimmer umquartiert wurde, woraufhin er das Gasthaus gänzlich zu verlassen vorzog und die vergangene Nacht wohl ohne jede Unterkunft verbrachte. Später, von Minna zur Erklärung gezwungen (IV/6), wird die Bedrohung - möglicher Ehrverlust, finanzieller Ruin und, in der Folge, Unmöglichkeit standesgemäßer Heirat - in ihrem ganzen Ausmaß erkennbar/ 8 Doch die Inbrunst, mit welcher Tellheim auf die düstere Aussicht, die ja nur eine mögliche ist, starrt und auf ihr beharrt, ist als Indiz für einen verzerrenden subjektiven Faktor zu lesen. Für ein angemessenes Verständnis des Stückes müssen die tatsächliche Lage der Dinge und Teilheims Perspektive unterschieden werden. Wie das folgende Beispiel zeigt, wurde diese entscheidende Differenz in älteren Arbeiten jedoch übersehen: Was Tellheim erlitten hat, seine Kränkung, der schmähliche Abschied nach gewissenhaftestem Dienst, das verstört ihn so wie etwa Voltaire das Erdbeben von Lissabon, als ein Ereignis, das allen Begriffen von weiser und gerechter F ü g u n g widerspricht. 6 '

Diese Gleichung Emil Staigers lag explizit oder implizit einem großen Teil der älteren Forschung zu Grunde und wurde als Grundlage für das Verständnis des Stückes als Ganzem und nicht allein von Teilheims Charakter verwendet. Formuliert man die Gleichung so umstandslos und offen, wird die Fragwürdigkeit des Ansatzes deutlich erkennbar. Tellheims Malheur taugt nicht als entscheidendes Beweisstück in einem Prozeß, in dem die Einrichtung der Welt und somit ihr Schöpfer zur Verantwortung gezogen werden soll. Im weiteren Verlauf des Dramas zeigt sich wiederholt, daß der Major zu Übertreibungen in eigener Sache neigt. Vergebens wird die Titelheldin später versuchen, ihm das Unangemessene der Rolle des tragischen Helden vor Augen zu führen. Liegt diese Verbohrtheit, das Beharren auf dem eigenen Unglück und dessen Nutzung als Beweise in einem metaphysischen Prozeß im Charakter Tellheims ? Hans-Jürgen Schings zeigte, wie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Überlagerung der Diskurse über die Theodizee und über die

68

D e n tatsächlichen Ernst der Lage Tellheims demonstrieren Fick: L e s s i n g - H a n d buch, S. 244Í., sowie Gaier: Lachen des Aufklärers. Beide Beiträge gehen jedoch auf die metaphysischen Aspekte nicht ein und übersehen, daß faktische Lage und deren Interpretation durch Tellheim nicht in eins zu setzen sind.

69

Staiger: Minna von Barnhelm, S. 87.

58

Melancholie die tradierte Vorstellung vom Melancholiker als einem metaphysischen Rebell, dem angesichts des Zustands der Welt die Galle übergeht oder dem, je nach Standpunkt des Beobachters, wegen seiner Galle die Welt aus den Angeln zu sein scheint, zu verstärkter Geltung kam. »Galle«, sagt auch Tellheim, »ist noch das beste, was wir haben« (V/i i), nämlich als einzig angemessenes Mittel, mit einer verstörend heillosen Welt fertig zu werden. Melancholie ist nun nicht mehr nur passive desperado, düster-versunkene acedia, sondern aktive Infragestellung der Einrichtung der Welt. Daß ein solcher Rebell geneigt sei, »seine Melancholie gegen die Grundfesten der Welt [zu] richten«,70 galt auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als gesichertes Wissen: Es ist leicht zu begreifen, wie es so weit mit diesem Temperamente kommen könne, daß Feindschaft gegen das ganze menschliche Geschlecht, Haß gegen die ganze Welt und die über sie waltende Vorsehung daher entstehen. Und wenn es beym Melancholischen so weit kömmt, daß er die Ursachen seiner Unzufriedenheit und der Hindernisse, die seinen Absichten widerstehen, in den höhern Verhängnissen suchet; so ist er nicht so geneigt, durch abergläubische Bemühungen die Gottheit zu versöhnen, als sie zu verleugnen oder zu lästern. 71

Die melancholische Seele beherrscht »ein nicht gemeines Gefühl für Ordnung, Uebereinstimmung und Vollkommenheit in der sichtbaren Welt«, und »jede Abweichung also von den Regeln der Ordnung und Harmonie« muß solchen sensiblen Gemütern »auffallender und kränkender sein, als andern«.72 Verstöße gegen die geforderte Weltordnung werden nicht beobachtend registriert, sondern persönlich genommen. Leicht bildet sich ein Melancholiker ein, »es sey ihm ein Schimpf wiederfahren«, und »dieses beißt ihn in der Seele«, bis er seine Wut schließlich gegen die vermeintlichen Verursacher seiner Leiden richtet: »Er beschwert sich über Gott und Menschen, als wären sie wider ihn in Zorn gebracht.«75 Entsprechend überkommt etwa auch die Titelheldin in Johann Karl Wezeis Roman 'Wilhelmine Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit (1782/83), den Gefahren ihrer schwärmerischen Anlage erliegend und »von schrecklichen schwarzen Vorstellungen gepeinigt«, die »Lust, die Vorsehung zu läugnen oder eine Barbarin zu nennen«.74

70 71 72 73 74

Schings: Melancholie, S. 48. Feder: Untersuchungen, S. 82. Kindervater: Ueber das Wohlgefallen, S. ioy{. Vgl. Schmidt: Melancholie, S. 427^ Lorry: Von der Melancholie, S. 1 2 1 . Wezel: Wilhelmine Arend, S. }o6f. Die einläßlichsten Analysen des Romans und seiner anthropologischen Fundierung bei Heinz: Wissen, S. 214-238, sowie Sauder: Wezeis >Wilhelmine ArendVernunftEhrestandesgemäß< und im Einklang mit dem gesellschaftlichen Ehrenkodex auf die schimpfliche Anklage, als höchst persönlich, impulsiv und irrational. 77

Teilheim will gar nicht erwägen, er will sich trotzig verstocken, es soll ihm ja schlecht gehen. Wenn seine misanthropische Bewertung menschlicher Güte auf jemanden zutrifft, dann auf ihn selbst, denn er hat begonnen, mit seiner fraglos häufig bewiesenen Güte seine Mitmenschen als Mittel und nicht als Zweck zu behandeln. Indem er die Rolle des mitleidigsten und besten Menschen spielt, verweist er die Vorsehung auf die Anklagebank: Wenn es ihm, dem Tadellosen, schlecht geht, so gewinnen seine Ansprüche, wider die Vorsehung murren zu dürfen, an Berechtigung. Je mehr er leidet, desto stärker ist seine Position in dem von ihm angestrengten »Privatprozeß wider die >VorsichtGlückseeligkeit< zu einem bloßen Spielball des Glücks ?8idealischen WeltenPosition< des Textes die der Negation ist«.208 Der Text »doth protest too much«, als daß er nicht durchgängig auf die Folie enttäuschter Heilserwartungen verwiese. Die sechzehn Nachtwachen sind eine düstere Tour de force durch eine Welt, deren Wesen es sein soll, verkehrt zu sein. Unter Verwendung einer Vielzahl von Genres und mit kunstvoller Unordnung, die den Zustand der Welt nachgestaltet, demonstriert der Erzähler, daß im Himmel wie auf Erden nichts ist, wie es sein soll. Wird der Maßstab der Vernunft an die sich zo6

107 208

Um nur einige Beispiel aus der neueren Literatur zu geben: Arendt: Nihilismus, Bd. 2, S. 527-534; Lindner: Lachen; Janz: Romantische Kritik; Brzovic: Nachtwachen, S. 109-122; Böning: Widersprüche, S. 4 1 5 - 4 5 1 ; in rhapsodischer Form auch bei Hillebrand: Ästhetik, S. 33 et passim. Fast schon wieder lohnend ist der »Exkurs zum Motiv des Lachens« in Braeuer-Ewers: Züge des Grotesken, S. 135 bis 147, w o die Formeln zur Lösung des Rätsels ausgerechnet bei Bergson gefunden werden. Lethen: Verhaltenslehren, S. 1 2 1 . Böning: Widersprüche, S. 537. ΙΟΙ

vernünftig dünkende Gesellschaft angelegt, erscheint diese als Tollhaus. Die gesellschaftlichen Institutionen beruhen, wie an Kirche, Rechtsprechung und an einem »Mann mit der Krone« (NW 54) gezeigt wird, auf Betrug und Selbstbetrug. Bliebe es dabei, so handelte es sich bei den Nachtwachen

um

eine für die Aufklärung typische politisch-moralische Satire. Darüber geht der Text jedoch hinaus, indem das irdische Durcheinander als unausbleibliche Folge einer fehlerhaften, ins Chaos abgeglittenen Schöpfungsordnung vorgestellt wird - das tatsächliche Schlußverfahren geht allerdings notwendig nicht von »oben nach unten«, sondern verläuft andersherum: Auf den Defekt von Schöpfung und Schöpfer wird aus der als Defizienz erfahrenen Unidealität der Welt geschlossen. Die Annahme eines Prinzips universaler Falschheit führt dazu, daß die Substanz der Welt begriffen wird als Schein, als »tückische Spiegelfechterei« des scheinbar »Etwas« hervorbringenden »Nichts«, und das Leben als ein »Schellenkleid das das Nichts umgehängt hat« (NW 75). Die Nachtwachen sind insofern ein herausragender Beleg für die Regel, »daß das Satanisch-Groteske nur dort anzutreffen ist, wo sich das Gebäude der Metaphysik zwar entleert hat, sein Grundriß aber noch vorhanden ist«.209 Nach Novalis' bekanntem Wort walten an solchen Orten Gespenster, im gegebenen Text Teufelsgestalten. Angesichts einer Welt, die jeglichen Erwartungen einer Ordnung, sei es der Vernunft, sei es eines göttlichen »Systems« (NW 48), widerspricht, findet der Nachtwächter allein noch im Lachen Zuflucht und Potential zum Widerstand: »Wo gibt es überhaupt ein wirksameres Mittel jedem Hohne der Welt und selbst dem Schicksale Trotz zu bieten, als das Lachen?« (NW 126). Es sind die den Erwartungshorizont des Subjekts aufspannenden Normen, gegen die die Welt ihren Hohn richtet. Der Konflikt zwischen der Welt und den subjektiven Idealen bleibt statisch, eine Annäherung oder Auflösung findet nicht statt. Gemessen an den Ordnungsvorstellungen des Subjekts bleibt die Welt ein Tollhaus; anderseits landet der Nachtwächter genau wegen seiner Vorstellungen im Tollhaus, das in der verkehrten Welt zum einzig verbliebenen Ort der Vernunft erklärt wird (9. u. 14. NW). Das bei Verstand und bei seinen Idealen bleibende Subjekt versucht, das Hohnlachen der Welt mit gleichen Waffen zu parieren: »Laßt mir nur das Lachen mein lebelang, und ich halte es hier unten aus ! « (NW 126). Dieses ist das für die Groteske bezeichnende Lachen: Es ist »ein Versuch des Ich, sich vor der Bedrohung und dem Grauen zu bewahren, und Distanz zu gewinnen. Es ist

209

Böning: Widersprüche, S. 5 37. Böning greift hier auf W. Kaysers Arbeit über Das Groteske zurück.

102

ein Selbstschutz, der das Grauen ertragen läßt.« 210 Den gleichen Mechanismus hatte Wezel im »bittren Lachen« seines Fromal gestaltet. Lachend und sich mit »Kälte« wappnend, ist Fromal um die Konservierung seiner Ideale in einer - immer gefährdeten - Distanz zur Welt bemüht. Der Zusammenbruch dieser Distanz wäre der Untergang des Subjekts, dessen Identität an die von der Welt fortwährend negierten Werte geknüpft ist. Wenn sich so leben läßt, dann bestenfalls zur Not. Der Nachtwächter findet jedoch einen Weg, sich sein Schicksal zu erleichtern, einen Weg, der für die Groteske wiederum charakteristisch ist. Es bleibt in den Nachtwachen

nicht beim gegenseitigen Verlachen von

Welt und idealistischem Subjekt. Im permanenten Kampf mit der Welt müßte dieses endlich unterliegen. Vom Nachtwächer erfahren wir, daß sein Abstieg, mit dem ein Zuwachs an Einsicht parallel geht, mit seiner Betätigung als Satiriker begann (7. NW). Mit seinen Versuchen, durch satirische Schriften bessernden Einfluß auf den Lauf der Dinge zu nehmen, scheiterte er mehrere Male, bis er schließlich resigniert. Die Einsicht, »daß verkehrt zu sein das Gesetz der Welt sei«/ 1 1 markiert den Ubergang von der Satire zur Groteske. En miniature entspricht also der intellektuelle und schriftstellerische Werdegang des traurigen Helden der Nachtwachen der literaturhistorischen Entwicklung des Genres Satire: Diese zeichnet verkehrtes Leben, aber in der Absicht, das Falsche in einen Verweis auf das richtige Leben umzugestalten. Die Groteske hat sich von der Sinnlosigkeit dieses Unterfangens überzeugt. Sie mag noch auf einen utopischen Horizont verweisen, der aber leer ist.

Im permanenten Konflikt mit der übermächtigen Empirie müßte der Widerspruch des Subjekts und dessen auf kontrafaktischen Idealen beruhende Identität früher oder später zusammenbrechen. Um ihn dieser zermürbenden Situation entkommen zu lassen, wurde Kreuzgang zum Advocatus Diaboli erhoben, ja zum teuflischen Wesen, bei dessen Zeugung Satan lachend Anteil nahm (16. N W ) bzw. - wie einmal mit einprägsamer Bildlichkeit formuliert wurde - »die Finger im Spiel« 212 hatte. Auch daß der Knabe lacht, als ihn sein Ziehvater, der Schuhmacher auf alchemistischmystischen Abwegen, an einem Kreuzweg als »lebendige[n] Schatz« in einer Truhe findet, läßt ihn nach populärem Aberglauben in teuflischem Licht erscheinen. Im Handwörterbuch

des deutschen Aberglaubens

findet

man: »Kinder, die frühe lachen, sind als Dämon verdächtig«, und: »Wun2,0 211 212

Pietzcker: Das Groteske, S. 209. Spies: Feuer, S. 306. Ebd. auch das folgende Zitat. Finke: Anonymität, S. 1 0 1 .

103

derkinder lachen schon am Tage der Geburt« 2 ' 3 - letzteres stimmt wohl nicht nur zufällig im Wortlaut mit dem Wissen des Schuhmachers überein, daß er ein »Wunderkind aus der Erde gehoben« (NW 28) habe. Durch die Identifikation mit dem Teufel vollzieht sich eine Ermächtigung des ohnmächtigen idealistischen Subjekts. »Der böse Feind schwebt hohnlachend über der Erde« (NW 117), und als Teufelssohn vermag Kreuzgang ein Gleiches zu tun, sich solcherart zu Omnipotenzphantasien aufschwingend. Nach einer erneuten Klage über die Falschheit der Welt, steigt er hoch empor und blickt auf die irdische Komödie hinab: Es war mir, wie wenn ich mich jetzt in der Nacht unter dem zugedeckten Monde, weit ausdehnte, und auf großen schwarzen Schwingen, wie der Teufel über dem Erdball schwebte. Ich schüttelte mich und lachte [...]. (NW 105)

Im Leserbewußtsein 214 vermag ein grotesker Effekt dadurch erzeugt werden, daß Satan zur Identifikationsfigur und zum geistigen Beistand im Kampf gegen eine chaotische und falsche Welt wird. Einerseits macht seine diabolische Erbanlage verständlicher, warum »der Papst selbst beim Beten nicht andächtiger sein kann, als ich beim Blasphemieren«, und weshalb Kreuzgang so oft aus Kirchen verjagt werden mußte, nämlich »weil ich dort lachte, und ebensooft aus Freudenhäusern, weil ich drin beten wollte« (NW 5 7); andererseits wirkt die Liaison von Teufel und Idealist verwirrend. Diese irritierende Verkehrung der Kategorien gehört zum Wesen des Grotesken, das fasziniert, weil es bestehende Werte und und die mit ihnen gegebenen Verbote angreift; es bewirkt das genaue Gegenteil von Erbauung: ein >satanisches< Einverständnis mit der Zerstörung [.. ,]. 21 '

Mit seinem Verhalten in Kirchen und Bordellen verkehrt Kreuzgang Erbauung in ihr exaktes Gegenteil. Wichtiger ist hier jedoch die Beobachtung, daß die Groteske im Gegensatz zur Satire, die die Welt ins Unrecht setzt, Lust aus dem Seitenwechsel zu gewinnen versucht. Gegen die Normen, die den Ausgangspunkt bilden und aufrecht erhalten werden, wird der Welt Recht gegeben, zumindest wird auch ihr zugestanden, nicht nur nichtig zu sein, sondern auf ihre Art ein Recht und ihre Richtigkeit zu haben. In der Groteske geraten die Gültigkeitsansprüche von Ideal und Realität in ein schwebendes Verfahren. Weil die Welt die Quelle der Leiden so sehr ist wie die sie verurteilenden Normen, kann sich die Polemik ebenso gegen die 213 214

215

Karle: Art. >LachenTrunkener< an der Natur, ihren Waldströmen, rauschenden Bäumen und

2

" Tieck: Willam Lovell; Werke, Bd. 1, S. 333; für Balders Phase der Hochstimmung vgl. dagegen ebd. S. 497-501. 260 Weigand: Tiecks »William Lovell«, S. 152. 261 Münz: Individuum, S. 116. 262 Vgl. Anz: Leiden, S. 166. 263 Tieck: Der Runenberg; Werke, Bd. 2, S. 61. 264 Vgl. Tieck: Der Runenberg; Werke, Bd. 2, S. 64; dazu Rath: Tieck, S. 349. 119

abenteuerlichen Abgründen berauschen kann.« 26 ' Verschlossen gegen den Strom des Lebens, begeben sich Tiecks Charaktere mit falschen Voraussetzungen auf die Jagd nach dem Glück und verfehlen es. Edmunds vermeintlichem Pfingsterlebnis folgen nun die »schwarzgalligen Symptome von Schwärmerei, Melancholie und Fanatismus als Landschaftserlebnis«. 266 Die Beschreibung der schrecklich-erhabenen Natur »im innern Gebirge« sei im Zusammenhang zitiert: Sie kennen, mein Vater, die hohe Lage der dortigen traurigen Landschaft, kein Baum, kein Strauch weit umher, kaum einzelne Grashalme auf dem dürren weißen Kalkboden, und so weit das Auge reicht, Blöcke, Gruppen, Massen von Kalksteinen in allen Formen, wie Menschen, Tiere, Häuser, blendend und ermüdend, umhergestreut, und dazwischen Kiesgerülle, und etwas tiefer das finstre, einsame Städtchen. Hier warf ich mich wieder nieder und schaute in die wüste Zerstörung hinaus, und über mir in den dunkelblauen Himmel hinein. Sonderbar, wie sich hier mein Gemüt verwirrte. (Cev 77)

Wie Büchners Lenz nach dem berühmten Wort Paul Celans »den Himmel als Abgrund unter sich«267 hat, so erscheint auch dem nach oben starrenden Edmund der weite Himmel als ein schwindelerregender Abgrund, in dem die Welt wie in einem kosmischen Maelstrom verschwindet. Dem Leser, der mehr über Edmund weiß als dieser über sich, erscheint die Verwirrung kaum sonderbar. Gleich zu Beginn schon hatte der Parlamentsrat Beauvais seinem Sohn den Fall nach dem Hochmut vorausgesagt: Wer das Menschenmaß nicht beachte, den locke »in geistiger Schwelgerei zu höherer Entzückung und Vision der Lügengeist hinüber«, und der Mensch, in dem die Liebe abgestorben sei, drohe »mit zertrümmertem leeren Herzen« (Cev 13) zu enden. In der aufklärerischen Schwärmerkritik des 17. und 18. Jahrhunderts war die Betonung der verwandtschaftlichen Nähe von Enthusiasmus und Atheismus ein Standardargument, mit dem sich nicht zuletzt die doppelte Frontstellung gegen Enthusiasmus bzw. Fanatismus auf der einen und radikaler Gottlosigkeit auf der anderen Seite halten ließ.268 Nach Hans-Jürgen 265 266 267 268

Denneler: Kehrseite der Vernunft, S. 146. Rath: Tieck, S, 349. Celan: Büchner-Preis-Rede 1960,5.95. In einer weiteren Episode der Dialektik der Aufklärung geriet allerdings die »>spottende< Schwärmerkritik in den Verdacht, nicht nur die schwärmerischen Exzesse, sondern alle ihr zugrunde liegenden Ideale und Werte überhaupt anzugreifen, ja durch ihre nihilistischen Tendenzen die Menschen geradezu in die Schwärmerei zu treiben«; aus diesem Grund führte Wieland die Unterscheidung ein zwischen der Schwärmerei als einer Krankheit und dem Enthusiasmus als einer Kapazität, mittels welcher der Mensch sich seiner hohen Bestimmung inne werden kann. Vgl. Engel: Rehabilitation des Schwärmers. Das Zitat und Darstellung von Wielands Unterscheidung ebd., S. 471 f.

120

Sellings' Befund war Henry Mores Enthusiamus triumphatus (1656) eine der Hauptquellen dieser Argumentation. Demnach sind Atheismus und Enthusiasmus formell völlig gleich, denn beide verlassen unter dem Diktat einer übermächtigen Einbildungskraft den Weg der gesunden Vernunft. So kommt es zur Affinität und Konföderation von Enthusiasmus und Atheismus in ein und derselben Person: beliebige Außeneinflüsse genügen, um der vagierenden Einbildungskraft eine ganz andere Richtung zu geben; ein Anfall von Melancholie (fuliginosae Melancholiae suffocatio) beispielsweise reicht aus, um den glühenden Enthusiasten in einen finsteren Atheisten zu verwandeln. 26 '

Bei Tiecks enthusiastischem Edmund reicht der Ortswechsel vom mit Leben erfüllten Wald zur »traurigen Landschaft« der karstigen Cevennenhöhen aus, um eine solche Verwandlung herbeizuführen. Das Gelächter, in das er auf diesem Tiefpunkt seiner Entwicklung ausbricht, kann, um Kants Definition des Lachens 270 zu modifizieren, als eine plötzliche Verwandlung einer gespannten falschen Erwartung ins Nichts charakterisiert werden. Wo ein Götze war, walten Gespenster: Ich kann es in keinen menschlichen Worten wiedergeben, wie mir plötzlich hier jedes glaubende Gefühl, jeder edle Gedanke untersank, wie mir die Schöpfung, die Natur, und das seltsamste Rätsel, der Mensch, mit seinen wunderbaren Kräften und seiner gemeinen Abhängigkeit vom Element, wie toll, widersinnig und lächerlich mir alles dies erschien. Ich konnte mich nicht zähmen, ich mußte unaufhaltsam dem Triebe folgen, und mich durch lautes Lachen erleichtern. Da war kein Gott, kein Geist mehr, da war nur Albernheit, Wahnwitz und Fratze [...]. (Cev 77)

Daß die Welt so kurz nach dem Erlebnis der unio mystica als grotesk, »widersinnig«, erscheint, decouvriert die Erfahrung der Fülle als hohlen Selbstbetrug. Dogmatisch wurde der Welt ein Sinn aufgezwungen, der deshalb, ohne reales Substrat, leicht in Unsinn umschlägt. Ein bloßer Stimmungswandel bedeutet dann schon den Zusammenbruch der Weltorientierung. Träfe diese Erklärung der Vorgänge im Roman zu, dann wäre zu erwarten, daß der Bildungsweg, von dem Tieck erzählt, auf einen Zustand hinausläuft, in dem Empirie und Religiosität zu einer Art Weltfrömmigkeit - einer »Weltweisheit«, die für einen undogmatischen Glauben offen ist - in ein Gleichgewicht treten. Tatsächlich geht Edmunds Lebensreise in diese Richtung. Völlig verfehlt ist es deshalb, von einer »theologischefn] Reaffirmation« und einer Rückkehr in die »Sekurität des wiedergewonne169

170

Schings: Melancholie, S. 157. Zum Fortleben dieser Argumentation vgl. ebd., S. 1 6 1 - 1 6 5 . Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, §53, S. 273 (B 226).

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nen Glaubens«27' zu sprechen. Mit einer solchen Interpretation bleibt man den Irrtümern verhaftet, von denen die Hauptfigur sich gerade zu befreien lernt. »Ganz zerstört« zwar, doch im Grunde unbelehrt, sucht Edmund zunächst den Weg aus der Tiefe der gottlosen Verzweiflung, indem er sich der konfessionellen Gegenseite anschließt. Er interpretiert das Erlebnis als seine »Versuchung in der Wüste«,272 die »der Erbarmende nach wenigen Stunden abgekürzt« (Cev 78) habe. In den Berichten des Neuen Testaments (Mt 4, 1 - 1 1 ; Lk 4,1-10), auf die Edmund hier anspielt, widersteht Jesus der teuflischen Versuchung; indem Edmund diese Erzählung zitiert, gibt er zu erkennen, daß er der Versuchung zum Hochmut gerade nicht widersteht. Nachdem er zunächst Gott im Rauschen des Windes und des Wassers vernommen haben wollte, glaubt er nun, auf den Felsen von Gott selbst geprüft worden zu sein. Nach dem scheinbaren Bestehen der Prüfung vermeint er nun, »ein neuer Mensch« (Cev 77) zu sein, doch tatsächlich ist er weiterhin der alte Adam. Nichts hat sich wirklich geändert. Der sich anschließende Wechsel zu den Kamisarden ist ein rein äußerliches Geschehen. Edmunds dogmatischer Radikalismus, zunächst auf der katholischen Seite, dann auf der Seite der Gegenpartei, bezeugt nur seinen Versuch, der inneren Haltlosigkeit mit einem starren Gerüst entgegenzuwirken. Der Vater hatte recht, wenn er in jeder Schwärmerei »nur die Zwillingsgeburt der scheinbar unähnlichsten und feindseligsten« (Cev 74) erblickte. Aus Wald und Felsen schallt es den Figuren zurück, wie sie hineingerufen haben; die Natur, weiß der Parlamentsrat in der Cevennen-Erzählung, »ant-

271 171

Schmidt: Melancholie, S. 438. Im Hochland der Cevennen verstanden sich die Hugenotten im doppelten Sinne als ein Gottesvolk in der Wüste. Ihre Situation erklärt, »warum sich Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts in Frankreich einer der wenigen Fälle ereignet, in denen sich der Prozeß der symbolischen Verinnerlichung der Wüstenmetaphorik noch einmal umkehren kann. Nach dem Widerruf des Edikts von Nantes [...] gewinnt die Flucht in die Wüste mit einem Mal eine reale Bedeutung. [...]. Man sieht sich in babylonischer Gefangenschaft und wird gezwungen, sich in Wäldern oder auf Bergen zum Gottesdienst zu versammeln, um den Verfolgungen der katholischen Kirche zu entgehen. Diese Versammlungen erhalten die Bezeichnung Assemblées bzw. Eglises du Désert und nehmen in dieser Weise nicht nur Bezug auf die von Luther bzw. Calvin initiierte reformatorische Wüstensymbolik, sondern verleihen dem alttestamentarischen Wüstenverständnis, einschließlich des Prophetentums, eine praktisch bedeutsame Wirklichkeit [...]. So weicht diese reformatorische Wüstensymbolik nicht allein von den traditionellen Formen der verinnerlichten Wüstensymbolik ab, sie wirkt ihr zumindest eine Zeitlang auch entgegen.« Lindemann: Die Wüste, S. 97. Tiecks Verwendung der Wüstensymbolik in der Erzählung verweist also auf die von ihm herangezogenen historischen und historiographischen Quellen, entspricht aber eindeutig auch der poetischen Praxis seiner eigenen Zeit.

122

wortet nur in der Weise, wie man sie fragt« (Cev 45). Erst durch die Lösung von der Ich-Befangenheit und Öffnung für die unbeherrschte und nicht beherrschbare Natur wird eine Natur- und Selbsterfahrung möglich, die Ruhe und Stetigkeit, auch und gerade der religiösen Erfahrungen, zu gewähren vermag. Auf Grund des fragmentarischen Charakters des Textes wissen wir nicht, ob Edmund Beauvais diesen anderen Zustand jenseits logo- und egozentrischer Befangenheiten schließlich erreichen sollte, doch läßt sich eine entsprechende Entwicklung deutlich erkennen. Einen großen Schritt in Richtung dieser Bildungsstufe macht Edmund, als er nach den herabstimmenden Erfahrungen bei den Kamisarden den weisen Priester Watelet kennenlernt. Dieser demonstriert ihm mit seinem Lebensbericht die Bedeutung vernünftiger Besonnenheit und einer toleranten Gelassenheit, die einerseits auf der Beschränktheit menschlicher Fähigkeiten und darauf gegründeter menschlicher Selbstbeschränkung beruht. Dogmatismus sei Hybris, und unnötige dazu, wenn man sich nämlich vor Augen halte, »daß viele Wege zum Herrn führen« (Cev 185). Dem nur negativen Prinzip eines schwer lebbaren Sich-in-die-Schranken-Weisens steht andererseits als Quelle heiterer Gelassenheit die Offenheit für den Strom des Lebens entgegen, das sich der Rationalisierung und Verbalisierung entziehe. In den alten ländlichen Riten, bei denen etwa im Frühjahr bekränzte Jungfrauen »ganz den Theorien der alten Griechen ähnlich« einer Prozession vorangehen und die »dem Vernünftigen nur kindisch erscheinen« mögen, erblickt er den Ausdruck naturreligiöser Empfindungen, die im Christentum ihren Platz haben müssen. 273 Die Prohibition des heidnischen Erbes im Namen einer aufgeklärten Religion beseitigt nicht die Bedürfnisse, die sich dann nur im Fanatismus gewaltsam Bahn zu brechen drohen. Solche gelassene Weisheit wirkt der dogmatischen Starre Edmunds entscheidend entgegen. O b dies als der Tieckschen Weisheit letzter Schluß zu gelten hat, muß nicht zuletzt angesichts des Fragmentcharakters des Textes offen bleiben. Für Edmund bieten die Darlegungen des Priesters A u f schlüsse nicht nur darüber, was ihn so gewaltsam von einem konfessionellen Extrem ins andere trieb, sondern auch über die Quellen der Schreckensvision eines chaotischen, gottlosen Universums, die ihn während seiner Glaubenskrise in der karstigen Gebirgswüste der Cevennen überfiel. Nicht Irrationalismus wird gepredigt, sondern ein Versuch zur Bewahrung des dem Verstand Inkommensurablen unternommen. Das Wort vermag nicht nur in dem Sinne zu töten, daß, wie Tiecks Priester sagt,

273

Für die Parallelen zum Runenberg vgl. Denneler: Kehrseite der Vernunft, S. 15 2Í.

123

in Religionssachen [...] so viele den ganzen Inhalt eines tiefsinnigen Geheimnisses auf ein Buch, eine Redensart, ein Wort oder gar eine arme Silbe stellen möchten, und die Unermeßlichkeit der Liebe nach Gran und Skrupeln abwägen, damit sie um so schneller wissen, wie ungesäumt der Bruder zu verdammen sei, der in anderer Gegend und mit anderen Gefäßen aus dem Meere der Gnaden schöpfen will. (Cev 162)

Auch bedeutet der Zwang zur Verbalisierung für die lebendige Erfahrung die Angleichung ans Tote, und der Anspruch, daß nur zugelassen werden darf, was sich auch in Worten vollständig ausdrücken läßt, kommt einer Selbstverstümmelung des Humanen gleich. »Des Lebens Uberfluß«, wie eine der bekanntesten unter den späten Novellen Tiecks heißt, entzieht sich dem Wort. Diese befreiende Entdeckung macht auch die Hauptgestalt der Novelle Der Gelehrte, die Tieck im Anschluß an Der Aufruhr in den Cevennen schrieb. Der Protagonist lernt, sich der Natur außer ihm zu öffnen und sie nicht mehr seinen Ordnungskategorien unterwerfen zu wollen. Vor seiner Wandlung machten ihm »Felsen, das Wasser, die weiten Aussichten über Flur und Wald [...] einen fürchterlichen Eindruck«,274 und die ganze Welt erschien ihm »wie eine Irrenanstalt oder alles Geschaffene wie Gespenst oder Narrenteidung«. Die Natur ist dem Altphilologen »widerwärtig«, weil er ihre Sprache »nicht versteh[t]«. Am Ende hat er jedoch gelernt, den toten Buchstaben als ein der Natur - einschließlich der eigenen - aufoktroyiertes Prinzip hinter sich zu lassen, und um ihn wogt das Leben - die Wassermetaphorik entspricht dem der Novelle.275 Daß auch und gerade im Alltäglichen »des Lebens Uberfluß« erfahrbar sein soll, verweist schon durch die Wortwahl auf mystische Wurzeln. »Abundantia«, das Uberströmen göttlicher Fülle, gehört zum Kernbestand mystischen Vokabulars.276 Biographisch liegt hier Tiecks »Harzerlebnis« aus dem Jahre 1792 zugrunde, »der höchste Moment [sjeines ganzen Lebens«.277 Erst kurz vor seinem Tod und lange nach seinem Verstummen als Schriftsteller vertraute er sein visionäres Erlebnis Freunden an. Nach zwei durchwachten Nächten stieg der junge Tieck damals auf eine Erhebung im Harz, und »unnennbares Entzücken ergriff [s]ein ganzes Wesen« beim Anblick des Sonnenaufgangs:

274 275 276 277

Dieses und die folgenden Zitate in Tieck: Der Gelehrte, S. 14. Vgl. Tieck: Der Gelehrte, S. 38-40. Vgl. Langen: Wortschatz des Pietismus, S. 330-333. Der Brief von 18 5 3 an Ida von Lüttichau in Tieck / Lüttichau, S. 4 1 - 4 3 . Dort die folgenden Zitate. Aus guten Gründen wertete die neuere Forschung das jugendliche Harzerlebnis zum Schlüssel für ein angemessenes Verständnis von Tiecks Leben und Schriften auf; vgl. Rath: Tieck, bes. S. 3 59-362. 124

Aber wo Worte hernehmen, um das nur matt zu schildern, das Wunder, die Erscheinung, welches mir begegnete, und meine Seele, meinen innern Menschen, alle meine Kräfte verwandelte und einem unsichtbaren, einem göttlich großen Unnennbaren entgegen riß und führte.

Die Erfahrung der Seinsfülle flöß in einem Tränenstrom über, und »mehrere Stunden währte das entzückte Ergießen« der Glückstränen. Doch dieses prägende Aurora-Erlebnis machte Tieck nicht zum Schwärmer. Mit wacher Selbstbeobachtung machte er sich die durchaus irdischen Umstände dieser Erfahrung klar. Nie habe er sich »verschwiegen, daß die beiden schlaflosen Nächte, die Musik, die Aufregung der Natur, alles dies zusammen jene große, übernatürliche Entzückung« vorbereiten halfen. In solcher »taghellen Mystik« behält der Verstand sein volles Recht und läßt gleichzeitig das ihm Unfaßliche zu. Daß dieses »unnennbar« bleibt, ist hier wesentlich mehr als nur routinierte Verwendung des Unsagbarkeitstopos. Wie der Wortreichtum und die Wortgewalt mystischer Schriften ihren Grund im notwendigen Scheitern der Sprache haben, so bestimmte die Unzulänglichkeit der Rede von Anfang an auch Tiecks Poetik. Für die frühromantische Theorie war alle Kunst allegorisch in dem Sinne, daß sie in immer neuen Annäherungen an das Unausprechliche ihrer Aufgabe nachzukommen hat. Kein Bild, kein Ausdruck trifft endgültig das zu Sagende, so daß die Aufgabe des Dichters »in einem Aneinanderreihen, Zusammenfügen, Immer-von-neuem-Sagen besteht, eben weil wir keinen anderen Zugang zur Wirklichkeit haben«.278 »Sukzessiv sammelt sich hier der Sinn«279 für den Leser, der die Bewegung des Autors mitvollziehen muß. Der Aufruhr in den Cevennen ist mit einem glücklichen Ausdruck als Tiecks »profanierte[s] Glaubensbekenntnis«2®0 bezeichnet worden. Zwischen den Parteien des Glaubenskrieges muß der Held lernen, sich selbst zu vertrauen und zu einem Gleichgewicht von skeptisch-maßhaltender Vernunft und einer Offenheit für die Epiphanien des Transzendenten zu finden. Diese können sich ereignen oder auch nicht, und Tieck selbst erfuhr, soweit wir wissen, die Fülle des Seins trotz allen Strebens nach Wiederholung28' nur in dem einen mystischen Augenblick seines Lebens. Der rechte Weg, die Wahrheit und das Leben waren für den Protagonisten der

Cevennen-Erzäh-

278

Behler: Symbol, S. 250. > Rath: Tieck, S. 347. 280 Rath: Tieck, S. 3 50. 281 »Mein Entzücken und wiederholtes Bestreben, einen Zustand wieder zu erleben, den ich den allerhöchsten Moment meines Daseins nennen muß, war in meinem langen Leben immer vergeblich und nur von bitterer Reue begleitet, soviel ich auch sonst gelesen, gedacht, und mich an Poesie und Kunst, Mystik und wunderbaren Gedanken und den sonderbarsten Erfahrungen entzückt habe. « Tieck / Lüttichau, S. 41. lr

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lung weder in der dogmatischen ecclesia militans der Katholiken noch bei der Partei der institutionalisierten Lévitation zu finden. Wenn es stimmt, daß es Tieck um die Erkundung von Wegen ging, auf denen das Ziel eines als erfüllt und sinnvoll erfahrenen Lebens nicht Entfernung von der Natur, der äußeren wie der inneren, bedeutet, so bietet sich die Weise, in der in seinen Schriften das Erhabene, bei dessen Erleben der Mensch seine Physis »übersteigt«,282 gestaltet ist, als Probe an. Es zeigt sich dann, daß der bei dem Vergleich der Apostasie-Szenen bei Tieck und Büchner formulierte Befund, erst bei letzterem gebe es eine Subversion und Destruktion des Erhabenen, 283 nur insofern zutrifft, als das Erhabene bei Tieck auf eine unauffälligere Weise verschwand. Im Frühwerk endet das Ersteigen der Berge nach der Mode der Zeit beinahe unweigerlich im glückshaften Uberwältigtwerden durch die Größe und Macht der Natur. Auf dem »Gipfel des Gebirges« glaubt Franz Sternbald - man ist versucht zu sagen: erwartungsgemäß - »vor dem plötzlichen Anblick der weiten, unendlichen, mannigfaltigen Natur zu vergehn«; indem ihm »die Natur die Ahndung der Gottheit gibt«, 284 ersteht das unterworfene Sinnenwesen als Geistwesen, der göttlichen Sphäre entscheidend nähergerückt, wieder auf. Wie sehr das Erhabene im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zu einem beinahe mechanischen Hilfsmittel geworden war, die Helden und die Leser das große Ganze erahnen zu lassen, vermag schon ein kurzer Blick auf einen Ausschnitt aus Carl Grosses Geheimbundthriller Der Genius ( 1791-9 $ ), der auch die jungen Romantiker fesselte,28 5 zu zeigen. Beinahe lückenlos fügt Grosse hier die Bausteine der schrecklicherhabenen Landschaften des Schauerromans 286 zusammen, allein die zum Standardrepertoire gehörenden sturmgepeitschten Wolken sind wegen der Schwärze der Nacht nur zu ahnen.

282

285 284 285

286

»Die mächtige Natur wird zum evozierenden Zeichen des mächtigeren Geistes, ihre für die Sinne bedrückenden Erscheinungen wecken im Menschen das Bewußtsein der Überlegenheit, des Enthobenseins und der Erhabenheit; ungefährdet vermag die Humanität sich über die Bedrohungen durch die Natur hinwegzusetzen und sich aufzuheben und zu bewahren in der tranzendentalen Idee.« Arendt: Nihilismus, Bd. ι , S. 137. Z u m »dialektischen Umschlag« von Vernichtung in Erhöhung vgl. ebd., S. i68f. Vgl. Schmidt: Melancholie, S. 442. Tieck:FranzSternbaldsWanderungen; Werke,Bd. i , S . 8 8 7 f . Vgl. Thalmann: Romantik des Trivialen, S. 46-57. Wie der im Text folgende A u s schnitt aus Der Genius belegt, ist die Naturszenerie eng auf ein erlebendes Ich bezogen. Grosse gilt deswegen als Autor des Ubergangs zwischen trivialer Schauerliteratur und frühromantischer Erzählkunst; vgl. Pikulik: Frühromantik, S. 262; Rath: Tieck, S. 273; Thalmann: Trivialroman, S. 3 2Í. A u c h die Elemente, die Tieck bei der Gestaltung von Gebirgslandschaften wie von Natur im allgemeinen verwandte, lassen sich sämtlich auf die Mittel des Schauerromans zurückführen. Vgl. Pikulik: Tieck, S. 263.

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Ich konnte mich hier nicht eines leisen Schauers erwehren. Der Weg schien in einen fremden Abgrund zu führen. Alles trug das Gepräge der wüsten Zerstörung und doch sah man allem die Größe an, mit der diese Zerstörung vollbracht seyn mußte. Die entsetzliche Hand der Natur schien hier eine Zeitlang gewühlt zu haben. Ungeheuere Felsstücke setzten sich, schon halbverwittert, einem stürmenden Wasserfalle entgegen, der die fessellose Wuth unter dem trüben Dunkel unabsehbarer Abgründe verbarg. 287

Daß das Nachtstück288 nun schaurig-schön mit der Beschreibung einer Felsentrümmerszenerie einschließlich Fackellicht und Schattenspiel fortgesetzt wird, hat nichts mehr mit Kant zu tun, doch bis dahin war der Autor, der 1788 selbst eine Schrift Uber das Erhabene publizierte, den Analysen des Philosophen genau gefolgt. Grosse reiht Phänomene aneinander, die sich in der Kritik der Urteilskraft als Beispiele für die den Menschen als sinnliches Wesen überwältigende Macht der Natur aufgeführt finden. Dazu gehören »kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, [...] Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, [...] ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. d. gl.«.289 Grosse folgt Kants Beispielen als einer Gebrauchsanweisung zur Erzeugung erhabener Empfindungen, die er dann noch, in der Weise des Trivialliteraten des Guten zuviel tuend, mit dem Schaurigen vermischt. Nicht nur aus ästhetischen Gründen mußte das allgegenwärtig und allzu leicht verfügbar gewordene Erhabene im Laufe der Zeit Tiecks Distanzierung auslösen. Auch philosophisch wurde unübersehbar, daß das Erhabene am Ende des Aufklärungsjahrhunderts die Funktion eines Notaggregats übernommen hatte, das allein noch die Energie erzeugte, mit deren Hilfe man hoffen durfte, der Schwerkraft des Irdischen auf rational legitimierbare Weise entkommen zu können. Nachdem der Wille zu solcher Selbstermächtigung aber einmal erkennbar geworden war, erwies sich auch diese Konstruktion als unhaltbar. Im Bericht von seinem jugendlichen Erlebnis der Fülle des Seins vermied Tieck deshalb die Sprache des Erhabenen, und wo sich in den späteren Dichtungen Figuren einmal an der Erfahrung des Erhabenen emporzuschwingen meinen, wird als der wahre Grund bald Schwärmerei erkennbar. Nicht Erhebung, sondern Uberhebung findet dann statt. Auf diese Weise vermied der Dichter Tieck nicht zuletzt die der philosophischen Theorie des Erhabenen inhärente Gefahr, als »ästhetische Fassung des neuzeitlichen Programms von Subjektermächtigung und Na-

287 288

289

Grosse: Der Genius, S. ioof. Zum »Nachtstück« der Malerei und dessen Einfluß auf die Literatur vgl. Leopoldseder: Groteske Welt, passim, sowie Schmidt: Melancholie, S. 4 3 1 - 4 3 8. Kant: Kritik der Urteilkraft, §28, S. 185 (B 105).

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turunterwerfung«29° die Angst vor den naturwüchsigen Mächten mehr zu kaschieren als zu besiegen. Die schon erwähnte Novelle Der Gelehrte erzählt von genau diesen Ängsten, die am Ende nicht durch weitere Steigerung der gegen die Natur gerichteten Rationalität, sondern durch Anerkennung der Grenzen der Vernunft und ihres »Anderen« beigelegt werden. Im Laufe der Entwicklung des Tieckschen Erzählwerks werden die erzählerischen Mittel zur Erzeugung des Schauers und des Erhabenen jedoch nicht ganz aufgegeben, sondern neuen Darstellungsabsichten dienstbar gemacht. Wenn in der Cevennen-Erzählung von der »wüsten Zerstörung« einer Landschaft, in der »Blöcke, Gruppen, Massen von Kalksteinen [...] umhergestreut« (Cev 77) sind, die Rede ist, so verweist diese konventionelle Redeweise allein auf den Wunsch der berichtenden Figur, die Wirkungen einer jenseitigen Macht vor sich zu sehen. Dem Leser ist deutlich, daß die Beschaffenheit dieser »traurigen Landschaft« auf nichts anderes als auf die düstere Gemütsbeschaffenheit der Figur verweist. Die Erzählformeln sind nicht die des Autors, sondern die der in Selbsttäuschung befangenen Charaktere. Auch kann bei Tieck, gerade wegen der Verspiegelung von innerer und äußerer Natur, keine Rede sein von einer Erhebung des Menschen als Vernunftwesen über die Natur nach dem Uberwältigtsein als sinnliches Wesen. In Der Aufruhr in den Cevennen wird das Erhabene eindeutig unter Schwärmereiverdacht gestellt. Wo der Mensch sich über seine sinnliche Natur erheben zu können meint, droht der Absturz in die Verzweiflung. Die Welt, über die man hinaus wollte, erscheint dann als groteskes Zerrbild hochfliegender Erwartungen.

6.2. Büchners Lenz: Die Religion als die Krankheit, die sie zu heilen vorgibt Die psychiatrische Diskussion wurde seit etwa 1800 zunehmend von solchen Stimmen dominiert, die der Religion eine zumindest potentiell pathogene Wirkung zusprachen.29' Die fortgeschrittensten Vertreter des Faches lehnten bei der Behandlung von Fällen, die als melancholische Erkrankungen diagnostiziert waren, die Einmischung von Theologen nicht nur unter Hinweis auf deren Unzuständigkeit ab, sondern geradezu mit der Begründung, daß solcher Beistand den Versuch der Vertreibung des Teufels mit Hilfe Beelzebubs bedeutet hätte. Gründe für den Ausbruch »religiöser 2,0 291

Böhme: Das Steinerne, S. 126. Vgl. Seling-Dietz: Büchners Lenz, bes. S. 225-236. Die wichtigsten der sich auf die medizinischen Aspekte des Lenz konzentrierenden Untersuchungen sind ebd., S. 189 aufgeführt. 128

Melancholie«, die als die häufigste Form melancholischer Erkrankungen galt, wurden in »irrigen Religionsbegriffen über die Ewigkeit der Höllenstrafen, die Prädestination, die Sünde wider den heiligen Geist und ähnliche theologische Thorheiten« 292 gesehen. Von eigenen Erfahrungen mit dem die seelische Gesundheit gefährdenden Potential christlicher Lehren hatte Goethe in Dichtung und Wahrheit in Worten berichtet, die sich wie eine Zusammenfassung des medizinischen Gehalts des Lenz lesen. Er erinnerte sich an das in jungen Jahren erlebte Übel, welches aus unserer durch mancherlei Dogmen komplizierten, auf Bibelsprüche, die mehrere Auslegungen zulassen, gegründeten Religion bedenkliche Menschen dergestalt anfällt, daß es hypochondrische Zustände nach sich zieht und diese, bis zu ihrem höchsten Gipfel, zu fixen Ideen steigert. Ich habe mehrere Menschen gekannt, die, bei einer ganz verständigen Sinnes- und Lebensweise, sich von dem Gedanken an die Sünde in den heiligen Geist und von der Angst, solche begangen zu haben, nicht losmachen konnten. 2 ' 3

Als Goethe dies schrieb, hatte er sich weit von diesem als pathogen erkannten sittlich-religiösen Weltbild entfernt. Genau solchen Glauben und solche Werte vertrat aber Johann Friedrich Oberlin, dessen Bericht über den Aufenthalt des erkrankten Sturm-und-Drang-Dichters in seiner Vogesengemeinde Büchner als Hauptquelle für Lenz diente. Der Mediziner entdeckte in diesem Bericht die Schilderung eines Falles religiöser Melancholie mit all den Symptomen, die in der Fachliteratur genannt wurden. Büchner konnte sich weitgehend an die von Oberlin berichteten Fakten halten, in seiner Interpretation der Ereignisse ist jedoch das Ursache-Wirkungs-Verhältnis, mit dem Oberlin Lenz' Krankheit erklärte, auf den Kopf gestellt. Wenn Oberlin »Melancholie«294 als die Wirkung »mir unbekannter Sünde« diagnostiziert und dem Kranken Einhaltung der göttlichen Gebote und Vertrauen auf Gottes Gnade empfohlen hatte, so sah Büchner im Sündenbewußtsein gerade die Ursache der Leiden. Für ihn war das theologische Erklärungsmodell das Gefängnis, dem Lenz nicht hatte entkommen können. Dieser ist das Opfer genau derjenigen »Normen, deren Mißachtung in der Perspektive des Oberlin-Berichtes krank macht und deren Einhaltung Gesundheit verspricht«.295 Johann Georg Schlosser, der Lenz nach dem 292 293 294

29!

Reil: Cur der Fieber, S. 383. Goethe: Dichtung und Wahrheit, S. 293f. Oberlin: Herr L. . . . , S. 21. Die folgenden Zitate ebd., S. 20 u. 16. Zur Frage der Gewichtung von »erotischer Melancholie« und »religiöser Melancholie« vgl. Wender: Was geschah im Steintal?, S. 120, sowie den Disput zwischen Burghard Dedner und Herbert Wender im Büchner-Jahrbuch 9, bes. S. 369, 3 7 j f . u. 380. Anz: Gesund oder krank?, S. 18. Im Orig. kursiv. Vgl. auch die detaillierten Belege bei Seling-Dietz, bes. S. 230-232.

129

Ausbruch der schweren seelischen Erkrankung für einige Zeit bei sich aufnahm, bestätigte in einem Brief an Oberlin dessen Auffassung des Falles. Es handele sich um »eine wahre Hypochondrie«, 296 und der an ihr Leidende zeige sich »ungläubig gegen Gott und Menschen«. Melancholiekomplex und Glaubensfragen werden hier gemäß dem vorherrschenden theologisch-medizinischen Verständnis der Zeit miteinander durch die Annahme verknüpft, daß eine Veranlagung zur Melancholie zu Glaubenszweifeln führe und diese wiederum eine weitere Verdüsterung in der Seele des an Gott und an ihrem Heil Zweifelnden verursachten. Die Behandlung mußte folgerichtig in einer Wiederherstellung des Gottvertrauens bestehen, und es liegt deshalb nahe anzunehmen, daß Schlosser bei der »Proposition«, die er Lenz machte und mittels welcher er »ihn gewiß curiren« wollte, dieses Ziel vor Augen hatte. In Büchners Augen war die Kur die Krankheit. In seiner Darstellung erscheint der von Schlosser konstatierte Unglaube des Kranken gegen Gott als verquälter »Atheismus«, in dessen widersinniger Logik Lenz als in einem wahren Teufelskreis gebannt blieb. Schlossers Formulierung, daß Lenz sich als »ungläubig gegen Gott und Menschen« erweise, erfaßte, wenn auch anders gemeint, die Tragik sehr genau. Das seelenzerstörende Verhältnis zu Gott trug entscheidend dazu bei, den Beziehungen zu den Menschen die Grundlage zu entziehen. In seiner Rekonstruktion der Textgenese des Lenz kam Burghard Dedner zu dem Ergebnis, daß auf der einen Seite Oberlin, der zunächst eher als Karikatur eines wohlmeinenden Pfarrers gezeichnet worden war, in den späteren Arbeitsstufen mit immer größerem Respekt dargestellt wird; auf der anderen Seite wurde Lenz von einem Kranken, »der sich - und zwar meist in närrischer Form - dezidiert religions- und kirchenkritisch äußert«, 297 zuletzt zum Opfer der von ihm internalisierten Religiosität, die man in diesem Fall mit besonderem Recht als »die Religion der Väter« bezeichnen kann: D e r Text zeigt jetzt, wie stark L e n z v o m pietistischen Glauben geprägt und wie stark auch seine Erkrankung davon beeinflußt war. Die vermuteten religionskritischen Absichten mußte Büchner deshalb nicht fallen lassen; im Gegenteil. 2 ' 8

Die Verschärfung der Religionskritik erreicht die uns vorliegende Fassung des Textes, indem dort verstärkt der »Eindruck des personenübergreifen296

297

298

Brief Schlossers an Oberlin v o m 2. M ä r z 1778, abgedruckt in: J a k o b M . R . L e n z im Urteil, Teil I, S. 3 1 2 ; ebd. auch die folgenden Zitate. Dedner: Büchners L e n z , S. 58. Z u r Diskussion der Ergebnisse Dedners vgl. die Kritik Herbert Wenders, Dedners Erwiderung und Wenders Replik auf diese Erwiderung im Büchner-Jahrbuch 9 , 8 . 3 5 0 - 3 81. Dedner: Büchners Lenz, S. 58. Ebd. auch das folgende Zitat. 130

den religiösen Machtsystems« hervorgehoben wird. Es machte gerade Lenz' Unglück aus, daß er sich nie von dem durch Oberlin repräsentierten christlich-moralischen Weltbild hatte lösen können, so daß sein Selbstverständnis, seine Selbstbe- und -Verurteilung, auf den Normen und Konventionen einer Welt beruhte, welcher er zu entkommen versucht hatte - ein Versuch, den auch der historische Lenz sich wiederum unaufhörlich als Schuld angerechnet hatte. Wegen dieses qualvollen Gespaltenseins sah Lenz sich in Klopstocks reuigem Teufel Abbadona, »dieser Musterfigur der Melancholie und Todessehnsucht«, 299 präfiguriert. In einem Brief »an eine adeliche Dame in W.. .r schien er sich mit Abbadona zu vergleichen, er redete vom >AbschiedAufrisse< und >Abstürze< einander bedingen,

und Beschreibungen solcher Phänomene habe Büchner Goethes Werther entnehmen können. Letzteres ist nicht zu bestreiten, nur konnte Büchner dies auch derTieckschen Schwärmerkritik in der Cevenwew-Erzählung entnehmen, deren Lektüre der Arbeit am Lenz ja nur kurze Zeit voranging. Der Behauptung der einen Inspirationsquelle nun eine andere entgegenzuhalten, bedeutete einen weiteren Tiefpunkt in der Geschichte der Einflußforschung. Es sei deshalb nur kurz darauf verwiesen, daß eine ganze Reihe von Formulierungen im Lenz als zumindest so »cevennendependent« wie »wertherabhängig«3'6 gelten können. Dies gilt etwa für den ekstatischen Moment, den Büchner seinen Lenz nach der Predigt erleben läßt. Der im Lied ausgedrückte Wunsch der Gemeinde, daß Gott »die heil'gen Schmerzen, / Tiefe Bronnen ganz aufbrechen« lassen möge, erfüllt sich für Lenz: Er war allein, allein ! Da rauschte die Quelle, Ströme brachen aus seinen Augen, er krümmte sich in sich, es zuckten sein Glieder, es war ihm als müsse er sich auflösen, er konnte kein Ende finden der Wollust [...]. (L 12).

Im Cevennen-Roman

erinnert sich der Priester Watelet an die Zeit seiner

jugendlichen Schwärmerei: In der einsamsten Gegend des Gartens warf ich mich nieder, um meinem stürzenden Tränen ihren Lauf zu lassen. Die ganze Welt erbarmte mich, ich empfand eine solche Uberfülle von Liebe in meinem Herzen, daß es fast in sich selbst aus Wonne zerbrach [...]. (Cev 177)

In dem Paragraphen, der Edmunds Absturz in den Abgrund eines grotesken Universums unmittelbar vorangeht, wird ein ekstatischer Aufschwung

3 !

'

316

Dedner: Büchners Lenz, S. 59. Ebd. auch das folgende Zitat. Dedner: Büchners Lenz, S. 62.

134

ebenfalls in Worten beschrieben, die dem Geist wie ζ. T. auch dem Buchstaben des Lenz entsprechen: Im tiefsten Walde warf ich mich hin, und ließ meinen fließenden Tränen ihren Lauf. [...]. In nächtlicher Einsamkeit ergoß sich mein ganzes Wesen in Gebet und Lobgesang, wundervoll fanden sich ohne alle Bemühung die seltensten Worte zusammen, wie die Träne ohne Vorsatz rinnt, wie Welle der Welle im Strom folgt [...]• (Cev 77)

Auch für Lenz »löste sich alles in eine harmonische Welle auf« (L 14). Wie dieser glaubt, »ein anderes Sein« (L 12) zu erfahren, so meint Edmund, »ein neuer Mensch« (Cev 77) zu sein. Doch der Gestalt, in welcher der sich physisch in sich zusammenkrümmende Lenz dargestellt wird, entspricht auch das innere Erleben beider Figuren, zu deren Charakterisierung Heinrich Anz Luthers Ausdruck vom »cor incorvatum in se« heranzog.3'7 Sie erleben nichts wirklich Neues, sondern nur ihre eigene Subjektivität, die, von der äußeren Realität sich immer sofort wieder zurückziehend, in einem »selbstinduzierten Zyklus« abwechselnd von ekstatischen Phasen zu Phasen bodenloser Verzweiflung sich fort- bzw. abwärts bewegt. Uber Tiecks Aufruhr in den Cevennen wirkte somit die Schwärmerkritik des 18. Jahrhunderts in Büchners Text fort. Die Apostasie-Szene des Lenz zeigt besonders deutlich, wie Büchner Tiecks Erzählung zur Gestaltung des von ihm geschilderten Falles religiöser Melancholie heranzog. Die Szene ist umrahmt von Elementen, die aus Oberlins Bericht entnommen sind. Am Eingang steht dessen eher beiläufige Erwähnung von Lenz' Versuch, das tote Kind in Fouday ins Leben zurückzubringen; einem vorläufigen Abschluß zugeführt wird die Episode mit Lenz' Selbstdeutung als eines zu ewiger Verdammnis verurteilten teuflischen Wesens. Was bei Oberlin jedoch relativ weit auseinanderliegende Textelemente darstellte, wurde von Büchner in eine direkte Verbindung gebracht, so daß sich die Einzelelemente zusammenfügten zu dem angestrebten Gesamtbild eines Falles religiöser Melancholie, bei der gemäß zeitgenössischen Lehren in fortgeschrittenen Stadien das verzweifelte Ringen um göttliche Gnade, zwanghafte Blasphemien und Höllenphantasien aufeinander zu folgen pflegen. Die frühen Zeugnisse zum Versuch des historischen Lenz, das tote Mädchen aufzuerwecken, wichen in dem entscheidenden Punkt voneinander ab, ob Lenz tatsächlich ein Wunder zu vollbringen unternommen hatte

' ' 7 Vgl. Anz: Leiden, S. 166.

135

oder ob er »wenige Augenblicke nach dem Hinschiede des Kindes« 3 ' 8 eingetroffen war und Lenz eine Wiederbelebung im eher medizinischen Sinne zu erreichen gehofft hatte. Oberlins eher beiläufiger Kommentar, der Versuch sei »aber fehl geschlagen«,3'9 verweist darauf, daß auch er keine blasphemische Handlung darin erkennen konnte. Bei Büchner wird aus der Episode bekanntlich der Versuch des an Gottes Erbarmen Zweifelnden, »daß Gott ein Zeichen an ihm tue« (L 22). In Der Aufruhr in den Cevennen hatte Büchner wiederum eine Anregung zur Gestaltung der Szene finden können. Dort berichtet der Priester Watelet, daß er als der Schwärmerei verfallener junger Mann einst »im Lukas noch einmal die Stelle, wie Christus der armen Witwe und der Leiche ihres Sohnes begegnet und mitleidig den Jüngling vom Tode erweckt« (Cev 177), gelesen hatte. Mit großer Gewalt hatte ihn die Empfindung überfallen, er sei »der Sohn, der Sohn vom Gott«, so daß er nur die »Worte des Lebens« hätte sprechen müssen, um die unbelebten Dinge um ihn herum zu verwandeln. Doch im letzten Augenblick hatte er seinen »teuflischen Hochmut« gesehen und erkannt, daß er im Begriff stand, den »fürchterlichsten Abfall von Gott« zu begehen: Dieser Moment, in welchem mein Geist an dem Abgrund des Wahnsinns und der Raserei schwindelte, ist mir seitdem immer als der gräßlichste meines Lebens erschienen. (Cev 177)

Nach seiner »Sünde Apocalipsis< bildet« (VI, 501). Aber dieser »aus Johlen, Kläffen, Kreischen, Meckern, Röhren, Heulen und Wiehern schauderhaft gemischten Salve von Hohn- und Triumphgelächter der Hölle« respondiert der Kinderchor, dessen Gesang, dem Gebot des »strengen Satzes« gehorchend, »nach seiner musikalischen Substanz das Teufelsgelächter noch einmal« ist. Dem »Gaudium Gehennas« folgt deshalb eine »Sphärenmusik«, in der eine »Sehnsucht ohne Hoffnung« (VI, 502) zum Ausdruck gelangt. Kein Licht leuchtet in dunkler Nacht, sondern allenfalls die Reflexion eines Glimmers in unendlicher Ferne. Der kompositorische Aufbau der Apocalipsis reflektiert die Spannung, die in der vom Erzähler von Anfang an immer wieder variierten Wendung vom »Tränen-Lachen« (VI, n j ) Leverkühns angelegt ist. Es ist dies ein Lachen, das über das Lachenmüssen bis zur Verzweiflung unglücklich ist und so am Verlachten, schließlich an der unmöglich erscheinenden Gnade, in negativer Dialektik festhält. Warum sollte dann aber im Kontext der vorliegenden Untersuchung vom Gelächter im Doktor Faustus die Rede sein, "

96

Vgl. Abschnitt II.3. Vgl. auch Roche: Laughter, S. 318f.

175

wenn diesem trotz aller teuflischen Präsenz das Attribut >blasphemisch< nicht gut zugeschrieben werden kann ? Der Grund liegt in der problematischen, auch problematisierenden Art und Weise, in der Thomas Mann das überkommene Motiv in seinem letzten Roman noch einmal verwandte. In einem Kunstwerk, in dem es um die Bedingungen und generelle Möglichkeit weiterer Kunstproduktion ging, konnte gerade ein jahrhundertealtes Motiv als tradiertes Material nur in hochreflektierter, artifizieller Weise verarbeitet werden. In dem verwickelten, Differenzen und Identitäten konstituierenden wie auch gleichzeitig verwischenden Beziehungsgeflecht zwischen Autor, Erzähler und Künstlerprotagonist ist Thomas Mann insofern Zeitblom, als nur in diesem Erzählermedium das Mannsche Erzählen überleben kann,97 hingegen teilt der Autor mit Leverkühn die »ästhetische Schamhaftigkeit«,98 die niedrige Peinlichkeitsschwelle, wenn es um die Wahl noch erlaubter, weil noch nicht vom Moloch des Banalen verschlungener ästhetischer Mittel geht. Kenntnis und virtuose Beherrschung überkommener Techniken charakterisieren sowohl Mann wie Leverkühn, nur hat letzterer keinen Zeitblom. Leverkühns kühl-analytischer Verstand durchschaut die Kunstgriffe sowie noch seine Reaktion darauf, sein Lachen. Lieber Freund, warum muß ich lachen? Kann man mit mehr Genie das Hergebrachte benutzen, die Kniffe weihen? Kann man mit gewiegterem Gefühl das Schöne erzielen ? Und ich Verworfener muß lachen, namentlich bei den grunzenden Stütztönen des Bombardons - Wum, wum, wum - Pang ! - , ich habe vielleicht zugleich Tränen in den Augen, aber der Lachreiz ist übermächtig, - ich habe verdammterweise von jeher bei den geheimnisvoll-eindrucksvollsten Erscheinungen lachen müssen und bin von diesem übertriebenen Sinn für das Komische in die Theologie geflohen [...]. (VI, 179L)

Im Tod in Venedig hatte Mann sich mindestens am Rande neuklassischer Peinlichkeit bewegt. Weil »die Psychologisierung von Mythologemen zur künstlichen Allegorisierung neigt«,99 kam dort nicht nur der Straßensänger mit seinem ominösen Gelächter allzu bedeutungsschwer daher. Noch vergleichsweise unaufdringlich klang das fortwährende Totentanzgelächter, unter dessen vielstimmiger Begleitung sich das Sterben im Zauberberg vollzieht.100 Hätten lachende »Stütztöne« ein Vierteljahrhundert später nicht einen zwar immer noch wirkungsvollen, aber auch alten und durchschauten, deshalb »erledigten« KnifFbedeutet ? War nicht der Verdacht übermächtig geworden, 97 98 99

100

Vgl. hierzu bes. Lange: Thomas Mann. Kurzke: Thomas Mann, S. 282. Heftrich: Verfall, S. 178; vgl. auch die entsprechende Diskussion bei Busch: Konjunktionen. Vgl. Heftrich: Totentanz.

176

daß, wie Mann Leverkühn sagen läßt, »alle Mittel und Konvenienzen der Kunst heute nur noch zur Parodie« (VI, 180; Kursive im Orig.) taugen ? In der Entstehung des Doktor Faustus berichtet Mann von der stolzen Freude, die er empfand, als sich nach einem Lesen aus dem Romanmanuskript Franz Werfel »kundig und divinatorisch« (XI, 191) von Leverkühns Gelächter beeindrucktund beunruhigt gezeigt hatte. Wie die in der Entstehung angestellten Überlegungen über den modernen Roman belegen, muß Mann in weniger von befriedigter Eitelkeit geprägten Momenten aber auch Zweifel über den Wert seiner bewunderten Virtuosität empfunden haben. Denn: »Kann man mit mehr Genie [...] die Kniffe weihen ?« Hier liegt ein Grund, aus dem Doktor Faustus als einziger von Manns Romanen eine textinterne Erzählerfigur aufweist. Zeitblom ist da zu sagen, wie er, Leverkühn, leidet, wofür dieser aber aus ästhetischer Sensibilität sowenig wie Mann mehr Worte hat. Der Autor war sich bewußt, daß sein Wortkunstwerk hinter dem ästhetischen Stand der darin beschriebenen Kompositionen Leverkühns zurückblieb. 101 Lachen als nonverbaler Ausdruck ist für Leverkühn charakteristisch. Damit stimmt das Höllengelächter der Apocalipsis, durch das erst »aus dem Motiv wirklich ein Leitmotiv« 102 wird, genauso zusammen wie die Unartikuliertheit des »sirrenden, sehrenden Sphären- und Engelsgetön[s]« (VI, 503). In Dr. Fausti Weheklag als Leverkühns letzter Komposition, die den Hoffnungsjubel in Beethovens letzter Symphonie zurücknimmt, ist die menschliche Stimme zum »Naturlaut« regrediert, das ureigen Menschliche ist unmöglich und sich selbst peinlich geworden. Dem Verstummten bleibt allein noch die »schmerzhafteste Ecce-homo-Gebärde« (VI, 644). Im arbeitsteiligen System des Doktor Faustus fällt deshalb dem »Musensohn« (VI, 1 o) Zeitblom die Aufgabe zu, die Wertlosigkeit Leverkühns in Worte zu fassen. Die Peinlichkeit, die schon darin liegt, greift auf sämtliche Mittel des Erzählens über. Traditionelle Motive wie das dunkle Gelächter und seine Verwendung als Leitmotiv werden zu »Kniffen«. Zeitbloms ästhetische Rückständigkeit ist nicht nur Ermöglichungsbedingung des Romans, seine ostentative Philistrosität erlaubt dem Autor, sich von seinem Medium zu distanzieren und sich selbst, insofern er Zeitblom ist, in ein selbstironisch-exkulpierendes Licht zu stellen.103 Die Verantwortung für das Obsolete wird zunächst an ein Medium delegiert, 101 102 103

Vgl. Heftrich: Verfall, S. n } { . Heftrich: Verfall, S. 2 5. Vgl. auch Kaiser: Ordnung, bes. 1 0 8 - 1 1 5 . Kaiser macht Ernst mit der in der jüngeren ííí«ít«5-Forschung wiederholt geäußerten Forderung, die Aufmerksamkeit stärker auf Zeitblom als narratives Medium und Quelle der den Roman auszeichnenden Ambivalenzen zu richten, aber der gelungenen Analyse der »vom Autor subtil arrangierten Unterminierung der Glaubwürdigkeit und Verläßlichkeit des Erzählten« (ebd, S. 141) folgt leider nur eine sehr zögerliche Kritik dieses Verfahrens. 177

sodann wird diese Maßnahme, weil allzu leicht durchschaubar, durch Überbetonung ironisiert. Nicht nur erwähnt Zeitblom das Lachen seines genialen Freundes immer wieder, dabei gelegentlich auch noch auf frühere Erwähnungen verweisend, er stellt die Bedeutsamkeit des Gelächters überdies in einer Weise heraus, die gerade deutlich genug nicht die Thomas Manns ist.104 Doktor Faustus demonstriert, wie das Motiv des verzweifelten Gelächters, wenn es mit den Sphären des Religiösen oder Satanischen in Verbindung gebracht wird, nur noch durch Kunstgriffe für den vollen Ernst gerettet werden konnte. Im übrigen kann man sich fragen, ob Manns Einwand, das Spiel mit dem Wunder in Werfeis Roman Das Lied von Bernadette sei »bedenklich« und »nicht ganz reinlich« (XI, 190), nicht auch für das Spiel mit dem Teuflischen im Faustus-Roman gilt. Jedenfalls aber ist nicht Leverkühns Lachzwang peinlich, sondern die durch Zeitblom hergestellte Verbindung dieses Lachens mit dem Diabolischen.10' Nicht die Gebärde, aber ihre verteufelnde Amplifikation mittels in nachmetaphysischen Zeiten notwendig entweder obsoleten oder allzu großen Worten ist ins Reich des Nicht-mehr-Sagbaren abgeglitten.

104 105

Vgl. ζ. Β. VI, 1 1 5 . Dazu der Überblick bei Heftrich: Verfall, S. 3 1 9 - 3 2 1 . Vgl. Friedrichsmeyer: Adrian Leverkiihn. 178

V. Vom Nachleben eines Motivs in Zeiten seiner Obsoletheit

ι.

Einleitende Bemerkung zu einer motivgeschichtlichen Spätzeit

In einem charakteristischen Passus gleich zu Beginn von Waiting for Godot finden sich theologische Reminiszenzen, Gelächterund Menschlich-Allzumenschliches kombiniert. Vladimirs kurzer Aufflug in Reflexionen über menschliche Sündhaftigkeit und himmlische Gnade endet mit der schmerzhaften Erkenntnis einer konstitutionellen Schwäche. Seine Blase stört den hoffnungsvollen Gedanken, daß immerhin einer der mit Christus gekreuzigten Gesetzesbrecher gerettet worden sei: VLADIMIR

[...] It's a reasonable percentage. Pause. Gogo. ESTRAGON

What? VLADIMIR

Suppose we repented ? ESTRAGON

Repented what? VLADIMIR

Oh . . . He reflects. We wouldn't have to go into the details. ESTRAGON

Our being born? Vladimir breaks into a hearty laugh which he immediately hand pressed to his stomach, his face contorted.

suppresses, his

VLADIMIR

One daren't even laugh any more. ESTRAGON

Dreadful privation. VLADIMIR

Merely smile. He smiles suddenly from ear to ear, keeps smiling, ceases as suddenly. It's not the same thing. Pause. Nothing to be done. Pause. Gogo. 1

Zu Recht wurde festgestellt, der Grund für den schnellen Abbruch des Gelächters sei hier »nicht das Bewußtsein seines blasphemischen Impetus', 1

Beckett: Dichtungen, S. ¡6/f. 179

sondern [...] die physiologische Nähe der Organe des Lachens und Mikturierens, des Zwerchfells und der Blase«.2 Beckett spielt mit Vorwissen und Erwartungen des Publikums: Wenn Vladimir im Kontext theologischer Fragestellungen zu lachen beginnt, löst dies, zumindest potentiell, die Assoziation >Blasphemie< aus; sofort darauf jedoch unterläuft das Stück die metaphysische Interpretation auf clownshaft-körperzentrierte Weise. Bekketts Texte sind immer insofern Endspiele, als sie aus der Negation von Sinnerwartungen leben, die sich sowohl unmittelbar aus der Tradition der Metaphysik speisen als auch an den literarischen Formenbestand geknüpft sind, welcher seinerseits die metaphysische Uberlieferung zur Grundlage hat. Die oben zitierte Passage ist charakteristisch für das Funktionieren von Waiting for Godot als Intertext: Jeder auch nur halbwegs ehrliche literarische Text spielt mit seinen Vorbildern. Tut er dies nicht oder vermeint er, dies nicht zu tun, ist Skepsis geboten. Intertextualität ist auch kein postmodernes und/oder modisches Credo, das man im Gefolge von Kristeva >nachbetetEin gewisses M a ß . . .Höllenlachen< [geistere] romantischer Weltschmerz durch das Werk«,29 ist zutreffend, übersehen wird aber die sich daraus ergebende Schwierigkeit, daß nur eine partielle Evokation dieses Ideenkomplexes beabsichtigt sein kann. Die Vorstellung vom »romantischen Höllengelächter« umschließt den Aspekt des »Teuflischen«, Blasphemischen dieses Gelächters. Diese Komponente spielt in Kein Ort. Nirgends aber auf keiner der Zeitebenen eine Rolle. Metaphysisches steht nicht zur Verhandlung. Die Welt mag schlecht eingerichtet sein, aber das ist bei Wolf schon im Kreis der Romantiker eine Frage menschlicher Institutionen, nicht göttlicher Baupläne. Sowohl auf der Ebene der erzählten Zeit als auch auf jener der Erzählerin geht es um politisch-gesellschaftliche Fragen sowie um die damit zusammenhängende Frage nach Aufgabe und Möglichkeit der Kunst. Die explizite, von der Handlungszeit nahegelegte Verwendung des Wortes »Höllengelächter« im Text ist zwar zunächst effektvoll, bringt aber eine Unstimmigkeit hinein. Dieser verunglückte Versuch der Dramatisierung ist einerseits nicht gedeckt durch das Gelächter der beiden Protagonisten, welches wie das Cottas in Die letzte Welt ein verzweifeltes Lachen ohne blasphemischen Beiklang ist, und mit Bezug auf die starke textliche Präsenz der Erzählerin und ihre Zeitebene erscheint andererseits der Ausdruck »Höllengelächter« anachronistisch, selbst als verblaßte Metapher.

4. Vorläufiges Ende oder »Play it again, Sam«: Bodo KirchhofF, Infanta Falsche Unschuld in der Literatur tritt auf, als würden die Dinge in ihr wenn nicht zum ersten, so doch auch nicht zum x-ten Mal benannt. Andererseits benötigt, wie Adrian Leverkühn, das »Zitat als Deckung« 30 nur, wer etwas schützen will. Indirektes Sprechen will das Schützenswerte vor der Kontamination mit den banalisierten Wörtern bewahren. Die Funktion des Zitats ändert sich grundsätzlich, wo die Unterscheidung zwischen einem möglichst zu isolierenden Substratum und der Zirkulationssphäre der Wörter hinfällig geworden ist. In solcher Weise wird das Lachmotiv in Bodo Kirchhoffs Roman Infanta (1990) verwendet, so wie dort alles Simulacrum, Realität aus zweiter Hand ist. 29 30

Brandes: Zitat, S. 88. Mann: Doktor Faustus; Werke VI, S. 194.

190

Wie beinahe alles und alle in Kirchhoffs Roman hat auch der abgefallene Priester, dessen Auftritte immer von Gelächter begleitet sind, seine literarischen Vorläufer. Er gehört zum gleichen Orden wie zum Beispiel der »whisky priest«, der in Graham Greenes The Power and the Glory in einer mittels Alkohol erträglicher gemachten Hölle aus Zweifeln, Angst und Märtyrerbereitschaft dahinlebt. Der stumme, ins Autodestruktive verwandelte Protest gegen Gott und seine institutionelle Vertretung auf Erden äußert sich in fortwährendem Kichern und halb unterdrücktem Lachen. Dem Orden derer, die im Zweifel katholisch sind, tritt auch der Priester in Gerd Ledigs Roman Vergeltung ( 1956) bei. Angesichts des unausweichlichen Feuertodes in den Trümmern einer bombardierten Stadt bricht dieser Priester in verzweifeltes Lachen aus. Noch kurz zuvor hatte er sich in der Phraseologie des routinierten Glaubens geübt, in seinen Predigten »auf die Gefahren des Unglaubens hingewiesen«31 und sich selbst von der Festigkeit seines Glaubens überzeugt: »Ich bete und glaube. Mich läßt er nicht fallen.« Unter einem Eisenträger eingeklemmt und die herannahenden Flammen vor Augen, weicht der Glaube dem Gelächter: Daß er jetzt betete, schien ihm sinnlos. Er dachte: Es hört mich doch keiner. Seine Sünden fielen ihm ein. Darüber mußte er lachen. Er lachte laut und verzweifelt. [·••] Er dachte: Wenn es einen Gott gibt, muß er sich jetzt melden. Vielleicht aus den Flammen heraus. Eine väterliche Stimme voller Liebe. Der Priester lauschte in das Feuer. Holz knatterte. Das war alles.

In einer gottverlassenen Welt sind die Abgefallenen die wahren Gläubigen, ihr Lachen wird zum signum fidelitatis. Dies gilt auch für den abtrünnigen Priester in Bodo Kirchhoffs Roman Infanta (1990), in dem das Motiv des blasphemischen Gelächters als eines der vielen Versatzstücke einer postmodernen Erzählstrategie weiterlebt. Auf diese Weise entgeht das Motiv dem peinlichen Pathos, das dem in der Trivialliteratur herrschenden Geist des Ernstes entspringt. Die Romanhandlung spielt Mitte der 80er Jahre auf den Philippinen, kurz vor der endgültigen Vertreibung des Diktators Marcos. Die politischen Vorgänge, in denen verschiedene Figuren des Romans z. T. unfreiwillig eine Rolle spielen, werden als ein reines Medienereignis geschildert. Der Protagonist, von Beruf Fotomodell, ist ein Mann ohne Eigenschaften, eine leere Fläche, auf welche die anderen ihre Vorstellungen und Wünsche projizieren, und die erste Regung eigener Identität fällt mit seinem Tod zusam31

Ledig: Vergeltung, S. 87. Die folgenden Zitate ebd. und S. 86. 191

men. D e m entscheidenden Kunstgriff des Autors, eine U n - P e r s o n ins Zentrum der Erzählung zu stellen, gingen nicht wenige Rezensenten mit ihrer Kritik, die Hauptfigur besitze kein Profil, auf den Leim. 3 2 D i e Präfabriziertheit aller Vorstellungen zeigt sich auch darin, daß O r t e der Handlung und Figuren an andere Fiktionen, R o m a n e wie Filme, erinnern. Charakteristisch für das Spiel mit Versatzstücken ist die Erinnerung einer Figur an eine unglückliche, doch folgenreiche Liebesepisode aus einer fernen Vergangenheit: Ich [...] forderte sie auf, mir in die Augen zu schauen; und in meiner Verwirrung fügte ich Kleines hinzu, worauf sich ein Herr am Nebentisch gegen die Stirn schlug und hastig etwas auf seine Serviette schrieb." Was folgte, ist Filmgeschichte. Wenn Kurt Lukas, die Hauptfigur, gelegentlich als »Mister Kurtz oder K u r t « 3 4 angeredet wird, so ist dies eine der vielen Anspielungen auf in den Tropen oder Subtropen spielende R o m a n e etwa J o s e p h Conrads, Graham Greenes und Garcia Marquez', oder auch auf die Verfilmungen dieser R o m a n e . In prominenter Nebenrolle agiert bei Kirchhoff ein vom Jesuitenorden abgefallener Priester, dessen Markenzeichen das Lachen ist, ein »whisky priest«, den es aber nicht nach Alkohol, sondern nach der Liebe einer Frau verlangt. Von ihr erhört, stirbt er schließlich erlöst. In einer Welt der Simulacra ist dieser Einsame und Verlorene der einzige authentische Charakter des Buches. Sein Gelächter verbreitet Schrecken: » E r hustet, lacht und lebt« 3 5 - mit diesem Satz faßt einer der ehemaligen Mitbrüder in der Mission den Stand der Dinge zusammen. Wie sehr das Lachen des Abtrünnigen die konventionellen Lebensgrundlagen der kleinen geistlichen Gemeinschaft bedroht, zeigt der Schrecken, den es bei einem anderen ihrer Mitglieder auszulösen vermag:

32 33

34

35

Vgl. Steinmann: Kirchhoff, S. 10. Kirchhoff: Infanta, S. 42of. Hervorhebung im Orig. Etwas beckmesserisch könnte man einwenden, daß der Roman wiederholt betont, die Konversationen würden in der Regel, wie auch in dieser Szene, auf Englisch geführt; diese Szene funktioniert aber mit der englischen Originalformulierung des Filmzitats nicht. Ahnliches gilt für den Dialog, in dem es heißt, daß man in den Tropen schnell einen Sonnenbrand, sie hingegen nun ein Kind bekommt (vgl. S. 327). Die Liste der Schönheitsfehler - darunter das »concilium abeundi« (S. 16}) und der eine »cherubim« (S. 496) - kann verlängert werden. Man kann sich daran stoßen . . . Kirchhoff: Infanta, S. 93. Wenn eine (mit dem Erzähler identische?) Romanfigur sich die Fragen »Was ist eine Geschichte? Wie erzählt man? Wer spricht?« (S. 367) stellen läßt, so erinnert die letzte Frage - zufällig ? absichtlich ? - an die Erzählerin in Kein Ort. Nirgends, die sich gleich eingangs ebenfalls mit der Frage »Wer spricht?« dem Leser präsentierte. Kirchhoff: Infanta, S. 3 1 1 . Vgl. auch ebd., S. 43f-, 68, 80, 322 et passim. 192

Sein pfeifender Atem drang durch die Dunkelheit, überschlug sich zu einer Hustenattacke und mündete in jenes Gelächter, das Dalla Rosa so entsetzt hatte, ein wieherndes Japsen. 36

Im Entsetzen der in ruhiger Glaubensroutine dahinlebenden Priester spiegelt sich noch einmal das Potential, das sich in Jahrhunderten unter dem Druck christlicher Verbote im Lachen als einem signum infidelitatis angesammelt hatte. Die Zurückgebliebenen sehen sich durch den Abgefallenen in Frage gestellt, und sein Lachen ist die Zuspitzung dieser Frage. Bei Graham Greene zeigte sich die Schwierigkeit, im 20. Jahrhundert noch an einen nicht böswilligen Gott zu glauben, in Umkehrung alter Verhältnisse gerade darin, daß sich in der Welt seiner Romane Gelächter zu einem signum fidelitatis verwandelte. Der trinkende Priester lebt seinen ihm selbst fragwüdigen Glauben und stirbt schließlich für ihn. Zweifel und Anklage werden zu Ausdrucksformen eines tieferen Glaubens, oder eines Glaubens, der allein noch den Namen verdient. Anders als Greene ging es Kirchhoff nicht um Glaubensfragen. Doch Infanta demonstriert, daß das Motiv des Gelächters auch nach der spielerischen Übernahme als ein Zitat unter vielen seine Eindrücklichkeit nicht verliert. Auf der Handlungsebene zeigt dies die empfindliche Reaktion der Priester; in welchem Maß dies auch für die Leser gilt, hängt wie bei jedem Motiv von ihrer Sensitivität und Belesenheit als ihrer »intertextuellen Kompetenz« ab. Ohne solches Wissen verliert Gelächter in literarischen Texten jegliches blasphemisches Potential und offenbart über die Lachenden nicht mehr als etwa die Erwähnung ihrer Sprechweise oder Kleidung.

36

Kirchhoff: Infanta, S. 66.

m

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