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German Pages 260 Year 2021
Letizia Dieckmann Vergessen erzählen
Gegenwartsliteratur | Band 8
Letizia Dieckmann, geb. 1988, lebt in Berlin. Die Literaturwissenschaftlerin promovierte an der Universität Freiburg, wo sie mit dem Alumni-Preis für ihre Forschung zu literarischen Demenzdarstellungen ausgezeichnet wurde. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen literarische Krankheitsdiskurse, Erzähltexte der Spätromantik sowie Texte der Klassischen Moderne.
Letizia Dieckmann
Vergessen erzählen Demenzdarstellungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. vorgelegt von Letizia Dieckmann aus Hannover, SS 2019 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
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Inhalt
Vorwort .................................................................................. 11 Einleitender Teil ..........................................................................13 1. Methodischer Zugriff und Aufbau der Untersuchung .................................. 16 2. Zusammensetzung des Textkorpus ...................................................18 3. Der Blick auf die Krankheit........................................................... 21 4. Was bisher geschah: Ein Forschungsüberblick....................................... 23 5. Terminologie, Klassifikation und Leitsymptomatik ................................... 28
Textanalysen 1. 1.1
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1.3
Das demente Ich .................................................................. 35 Innere und äußere Erosion – Der Mensch erscheint im Holozän........................ 36 1.1.1 Greisen-Avantgardismus? ................................................... 37 1.1.2 »Offenbar fallen Hirnzellen aus« – Verkalkung und Altersblödsinn ............ 39 1.1.3 Collagen, Lücken und Listen.................................................. 42 1.1.3.1 Das Druckbild ....................................................... 42 1.1.3.2 »Der Alte kann sich nicht selbst darstellen…«........................ 50 1.1.3.3 Tagebuch-Struktur .................................................. 52 1.1.4 Parallelisierung von Innen- und Außenwelt: Georg Büchners Lenz ............. 54 Die Brandung im Kopf – Hirngespinste ............................................... 58 1.2.1 »Etwas denkt in mir und hört mittendrin wieder auf«......................... 58 1.2.2 Demenz-Forschung und Problembewusstsein in den 1980er Jahren ........... 60 1.2.3 Typographische und inhaltliche Fragmetarisierung ........................... 63 1.2.3.1 Die Chronologie des Vergessens ..................................... 64 1.2.3.2 Eine Frage der Zuverlässigkeit: Die Erzählperspektive ................ 66 1.2.3.3 Versanden, wegspülen, einschneien: Demenz-Metaphern und Vergleiche .......................................................... 73 1.2.3 Die Krise des Erzählens ...................................................... 79 Gemeinsam einsam – Ichs Heimweg macht alles alleine ............................... 81
Nonsens und Metamorphosen: Draesners erste Erzählversion ................. 83 Textoberfläche und Klang-Dimension......................................... 84 Das lyrische Ich ............................................................. 86 Neologismen und Nonsens-Dichtung ......................................... 87 1.3.4.1 Humpyt-Dumpty und Alice ........................................... 89 1.3.5 Gefürchtet und geliebt – Ehemann- und Vater-Figur .......................... 90
1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4
Demente Eltern .................................................................... 93 Aufklärung, Verklärung, Vatermord? – Demenz. Abschied von meinem Vater ........... 95 2.1.1 Text, Buch oder Essay? Eine Gattungseinordnung ............................. 99 2.1.2 Schuld und Schweigen: Das Phänomen der politischen Demenz .............. 103 2.1.2.1 Handlungsebenen und Zeitstruktur.................................. 103 2.1.2.2 Das intertextuelle Gewebe .......................................... 105 2.1.3 Die Trauma-Theorie ......................................................... 112 2.1.4 Anklagend, verklärend, aufklärend ........................................... 114 2.2 Der Demente als Dichter – Der alte König in seinem Exil .............................. 116 2.2.1 »Zum Zeitpunkt, da ich diese Sätze schreibe…« .............................. 117 2.2.1.1 Ich, Arno Geiger ..................................................... 117 2.2.1.2 Chronologie und Textanordnung ..................................... 119 2.2.1.3 Roman, Pathographie oder Erfahrungsbericht? ....................... 121 2.2.2 Der König, die Insel und die Bestie – Demenz-Metaphern ..................... 124 2.2.3 Ein Leben in der Fiktion ..................................................... 131 2.2.3.1 August Geiger und die Weltliteratur .................................. 131 2.2.3.2 Expressionistische und romantische Einflüsse ...................... 133 2.3 Unsichtbare Väter, schmerzensreiche Mütter – Die Erdbeeren von Antons Mutter ..... 135 2.3.1 Räume und Stimmen........................................................ 138 2.3.2 Todesboten mitten im Leben ................................................ 140 2.3.2.1 Erwachsene Kinder, entschwindende Eltern ......................... 140 2.3.2.2 Das bucklige und schattenlose Männlein ............................ 143 2.3.2.3 Romantik als Referenzhorizont ..................................... 146 2.3.3 Unsichtbar, unverzichtbar, unheilbar ........................................ 148 2.3.3.1 Der unsichtbare Vater .............................................. 150 2.3.3.2 Mutter, Grundlage des Lebens ...................................... 152
2. 2.1
3. 3.1
Demente Partner...................................................................157 Klagelied und Heiligenverehrung – Elegy for Iris..................................... 158 3.1.1 Brüche, Übergänge, Kontinuitäten: Zeit- und Textstrukturen ................. 160 3.1.1.1 Now and Then ...................................................... 160 3.1.1.2 Der fließende Übergang ............................................. 161 3.1.2 Wissensgeschichtlicher Kontext............................................. 163 3.1.3 Erinnerungen zwischen Trauer und Überhöhung ............................. 166
3.1.3.1 Elegische Klage und Liebesbekundung .............................. 166 3.1.3.2 Memorieren, imaginieren, stilisieren ................................ 169 3.1.3.3 Entrückung und Verklärung ..........................................170 3.1.4 Veränderungen und Verwandlungen: Von Platon bis Peter Pan................ 173 3.2 Anziehung, Abstoßung und Ansteckung – Encore: Ichs Heimweg macht alles alleine ... 177 3.2.1 »…die Schlange kriecht mir in die eigenen Erinnerungen« ................... 177 3.2.1.1 Der Wechsel der Erzählstimmen .................................... 178 3.2.1.2 Erzählweise und Figurenzeichnung ................................. 180 3.2.2 Intertextuelle und paarsymbiotische Ansteckung ............................. 181 3.2.3 Wissensgeschichtliche Kontextualisierung .................................. 185 3.2.3.1 Spiegel-Metaphorik und -Neuronen ................................. 185 3.2.3.2 Primär und sekundär Betroffene .................................... 186 3.2.4 Zwei Fassungen, zwei Publikationskontexte ................................. 190 3.3 Wie der Sohn, so die Mutter? – Langsames Entschwinden............................ 194 3.3.1 Dem Entschwindenden literarisch habhaft werden........................... 198 3.3.1.1 Textgliederung und zeitliche Struktur ............................... 198 3.3.1.2 Immer wieder erzählen, was sich immer wieder ereignet ............ 201 3.3.2 Ein Bewusstsein schaffen................................................... 204 3.3.2.1 Gute Pflege, schlechte Pflege ....................................... 204 3.3.2.2 Noch-Wissen, Nicht-Wissen und Nicht-Wissen-Können .............. 206
Epilog Vergleichslinien ........................................................................ 213 1. Eine Frage der Perspektive ........................................................ 213 2. Ordnung und Mimesis ...............................................................215 3. Fester Kern, fließender Wandel, krasser Umbruch.................................... 217 4. Zwischen Pathologisierung und Sakralisierung ......................................219 Anhang ................................................................................. 223 1. Primärliteraturverzeichnis ........................................................ 223 2. Sekundärliteraturverzeichnis ...................................................... 227 3. Internet-Quellenverzeichnis........................................................ 245 4. Abbildungen ....................................................................... 251 5. Demenz in den Künsten: Ein (unvollständiger) Überblick ............................ 252
Für meine Eltern
Vorwort
Eine Dissertation gedeiht nur durch stetigen, fachlichen Austausch, prüfende Blicke und kritische Stimmen. Und ohne gutes Zureden von Kollegen, Freunden und Familie geht es gleich gar nicht. Deshalb möchte ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank zum Ausdruck bringen, der allen voran meinem Doktorvater gilt: Prof. Dr. Fabian Lampart hat mich über die verschiedenen Stadien meiner Arbeit hinweg begleitet, mir arbeitstechnische Freiheiten ermöglicht und mich menschlich wie fachlich geprägt. Hierfür bin ich ihm überaus dankbar. Ebenso herzlich verbunden bin ich meinem zweiten Betreuer, Prof. Dr. Werner Frick, vor allem für die bereichernden „Erntedankfeste“ – seine Freiburger Doktorandenkolloquien. Finanziell möglich gemacht wurde meine Promotion durch ein Stipendium des Evangelischen Studienwerks Villigst. Neben der großzügigen Förderung verdanke ich dem Studienwerk den wertvollen Kontakt mit Stipendiaten anderer Disziplinen. Mein Promotionsalltag in Freiburg wurde im besonderen Maße durch meine Freunde und Kommilitonen erhellt. In diesem Zusammenhang gilt mein Dank Fanny Opitz. Ihre fundierten Korrekturen und Ideen waren unverzichtbar. Ebenso danke ich Michael Navratil, der meinen Weg seit unserem gemeinsamen Studienbeginn begleitet. Für eine besondere Leidensgenossenschaft in Sachen Dissertation bin ich außerdem Antonia Schilling-Malottke und Elisabeth Tillmann verbunden. Meinem Bruder Nikolaus Malottke gilt mein Dank für sein stets offenes Ohr und seinen klugen Blick auf die Welt. Gleichermaßen enthusiastisch und geduldig hat mein fabelhafter Ehemann Julius Dieckmann meine Promotion mitgetragen und korrigiert, wofür ich ihm von Herzen danke. Meine frühesten und vehementesten Fürsprecher sind jedoch meine Eltern, Ruth und Klaus Malottke. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.
Einleitender Teil
Auf Buchumschlägen, Plakaten und Internetseiten findet sich das immer gleiche Bild: ein freistehender Baum, dessen Krone in Form eines menschlichen Kopfs gewachsen ist.1 Auf manchen Abbildungen richtet sich der Blick dieses beblätterten Kopfs nach rechts, auf anderen nach links. Mal setzt sich die kopfförmige Baumkrone aus grünen Blättern zusammen, mal sind die Blätter im Begriff, sich rötlich zu färben. Allen Abbildungen ist jedoch gemein, dass ein Teil der Blätter bereits davongeweht ist. Die Stelle der Baumkrone, die wie ein menschlicher Hinterkopf aussieht, besteht nur noch aus kahlen Zweigen – ein Bild, das die Tragweite von Demenz-Erkrankungen metaphorisch illustriert.2 Wie kontrovers diese Krankheit und der ästhetische sowie ethische Umgang damit ist, deutet sich bereits in dieser, auf den ersten Blick simplen Abbildung an: Der demenzkranke Mensch erscheint in Form eines alleinstehenden Baums, der als Teil der Natur Veränderungsprozessen unterliegt. Diese Umbrüche werden in den jeweiligen Illustrationen mit verschiedenen Ursachen in Verbindung gebracht. So stellen die Abbildungen, in denen die anthropomorphisierte Baumkrone eine rote Herbstlaubfärbung aufweist, einen Zusammenhang zwischen der Krankheit und der Allegorie des Herbstes her.3 Auf diese Weise wird Demenz als Teil eines erwartbaren Alterungsprozesses eingeordnet. Die Illustrationen, die den Baum wiederum
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Vgl. z.B. das Titelbild des Sammelbands Daniela Ringkamp / Sara Strauß / Leonie Süwolto (Hg.):Demenz und Subjektivität. Ästhetische, literarische und philosophische Perspektiven. Frankfurt a.M. et al. 2017. Oder aber das Plakat für den Infoabend Demenz des JohanniterKrankenhauses Rheinhausens. Vgl. Anhang, 4: Abb. 1. Bereits im Jahr 2011 findet sich eine vergleichbare Illustration, die den DemenzDarstellungen als prominentes Vorbild gedient haben mag: Das Plakat des, mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichneten Dramas Halt auf freier Strecke zeigt ebenfalls den Querschnitt eines menschlichen Schädels, der sich als Schattenriss vor einer Winterlandschaft abzeichnet. Das Bild eines kahlen Baums überlappt sich mit der Darstellung des Kopfes, der von dem Skelett aus Zweigen und Stamm erfüllt ist. Anders als bei den obengenannten Abbildungen handelt es sich hierbei um eine Illustration eines Hirntumorleidens, an dem die Hauptfigur des Films erkrankt ist. Vgl. Andreas Dresen (Reg.): Halt auf freier Strecke. Deutschland 2011. Vgl. Anhang, 4, Abb. 2
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Vergessen erzählen
in komplett grünem Blattwerk zeigen, stellen die Krankheit hingegen als pathologisches Phänomen dar, das auch jenseits des Alters auftreten kann.4 Ganz gleich, ob grünes oder rötliches Blattwerk, Alterserscheinung oder für sich genommene Krankheit, reduzieren alle Varianten der Illustration den Menschen allein auf seinen Kopf, wobei das Gehirn als Zentrum der Persönlichkeit erscheint. Sobald sich der Verstand verflüchtigt, so die unterschwellige Botschaft, bleibt vom Menschen nichts übrig, als dessen bloße Konturen. An dieser Abbildung lassen sich nicht nur in nuce die Komplexität und Kontroversität einer künstlerischen Demenz-Darstellung veranschaulichen, sondern auch das weitverbreitete Bedürfnis einer plastischen Krankheitsdarstellung, das sich in verschiedenen Kunstformen und Genres ausdrückt. Comics und Filme, Theaterstücke und Photographien, Gedichte und Performancekunstwerke bemühen sich gleichermaßen darum, das vielschichtige Phänomen Demenz auf ästhetischer Ebene fassbar zu machen.5 Obgleich sich ein Großteil dieser Demenzdarstellungen nur an Betroffene und deren Angehörige richtet, entstehen mittlerweile auch immer mehr künstlerische Beiträge, die ein breiteres Publikum erreichen. Vor allem prominent besetzte Verfilmungen von Buchvorlagen, wie Still Alice, Iris oder Small World, haben internationale Aufmerksamkeit auf das Thema lenken können.6 Neben diesen breit rezipierten Spielfilmen hat sich allen voran die Literatur dem Thema Demenz verschrieben. Diese Hinwendung überrascht zunächst nicht, haben sich literarische Texte doch seit jeher Krankheitsphänomenen angenommen.7 Was jedoch erstaunt, ist der späte Zeitpunkt des aufkeimenden Interesses: Während Krankheiten wie Tuberkulose, Pest, Wahnsinn, Neurasthenie und Krebs seit langem einen festen Platz in der Weltliteratur haben,8 wird das Thema Demenz erst in den 1980er Jahren von literarischen Texten aufgegriffen (vgl. Anhang, 5). Dieser Zeitpunkt kann zum einen mit dem aufkommenden, gesamtgesellschaftli-
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Vgl. Anhang, 4, Abb. 1. Einen – notwendiger Weise unvollständigen – Überblick über die wachsende künstlerische Auseinandersetzung bietet die, im Anhang dieser Arbeit angefügte Liste verschiedener Kunstformen und Genres, die sich dem Thema ›Demenz‹ widmen. Vgl. Anhang, 5. Richard Eyre (Reg.): Iris. GB / USA 2001; Sarah Polley (Reg.): Away From Her. Kanada 2006; Bruno Chiche (Reg.): Small World. Deutschland / Frankreich 2010 und Richard Glatzer / Wash Westmoreland (Reg.): Still Alice. USA 2012. Aus der Fülle literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen sei an dieser Stelle exemplarisch auf Nicolas Pethes’ und Sandra Richters Sammelband verwiesen, der den Transfer zwischen Medizin und Literatur über einen Zeitraum von 3000 beleuchtet: Vgl. Nicolas Pethes / Sandra Richter (Hg.): Medizinische Schreibweisen. Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur 1600-1900. Tübingen 2008. Vgl. Walter Erhart: »Medizin – Sozialgeschichte – Literatur«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Bd. 29, H. 1 (2004), S. 118-128, hier S. 119.
Einleitender Teil
chen Problembewusstsein gegenüber der Krankheit übereingebracht werden:9 Infolge des demografischen Wandels kommt es seit den ausgehenden 1970er Jahren zu mehr Neuerkrankungen als zu Sterbefällen unter den Demenzkranken, sodass die Zahl der Betroffenen insgesamt stetig zunimmt.10 Da bisher keine erfolgreichen Therapiemöglichkeiten entwickelt werden konnten,11 gilt Demenz heute mehr denn je als »Schreckgespenst« und »Menetekel« der alternden Industrienationen.12 Über die steigenden Diagnosezahlen und mangelnden Behandlungsmöglichkeiten hinaus wohnt Demenz-Erkrankungen jedoch ein nahezu skandalöses (und literarisches) Moment inne, das sie von anderen, weitverbreiteten Krankheiten unterscheidet:13 Während die Demenzpatienten in einem frühen Stadium noch dazu fähig sind, ihr Leiden selbst zu schildern,14 verhindert die Leitsymptomatik – die
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Die gesellschaftliche Tragweite von Demenz-Erkrankungen wird in den meisten literaturwissenschaftlichen Beiträgen erwähnt. Vgl. exemplarisch Verena Wetzstein: »Von Erdbeeren, Schnecken und Schildkröten. Alzheimer-Demenz und Angehörige bei Annette Pehnt und Katharina Hacker.«, in: Hg. Bettina von Jagow / Florian Steger: Jahrbuch Literatur und Medizin Bd. 5 (2010), S. 169-184, hier S. 169. Ebd. In Deutschland leben gegenwärtig etwa 1,7 Millionen Demenz-Kranke; zwei Drittel von ihnen leiden an der senilen Alzheimer-Krankheit. Vgl. Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V.: Die Häufigkeit von Demenzerkrankungen. München 2018, S. 1. Der Begriff des ›Schreckgespensts‹ geht in Bezug auf Demenz auf Klara Obermüller zurück. Vgl. Klara Obermüller: »Das schleichende Vergessen«, in: Dies. (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. München 2006, S. 5-13, hier S. 6. Ulrike Vedder bezeichnet die Krankheit als ›Menetekel‹. Ulrike Vedder: »Erzählen von Zerfall. Demenz und Alzheimer in der Gegenwartsliteratur«, in: Zeitschrift für Germanistik Bd. 22, H. 2 (2012), S. 274-289, hier S. 288. Auch Johanna Zeisberg verwendet den Begriff, um die Zeichenhaftigkeit der Krankheit zu illustrieren: Vgl. Johanna Zeisberg: »Demenz und Literatur zwischen Ethik und Ästhetik«, in Corinna Caduff / Ulrike Vedder (Hg.): Gegenwart schreiben. Zur deutschsprachigen Literatur 2000-2015. München 2017b, S. 105-113, hier S. 105. Diese These habe ich bereits in folgendem Artikel entwickelt: Letizia Malottke: »Die Brandung im Kopf eines Anderen. Eine Untersuchung der literarischen Demenzdarstellungen in Ulrike Draesners Erzählung ›Ichs Heimweg macht alles allein‹«, in: Heimo Stiemer / Dominic Büker / Esteban Sanchino Martinez (Hg.): Sozial Turn? Das Soziale in der gegenwärtigen Literatur(-wissenschaft). Weilerswist 2017b, S. 219-240, hier S. 220. Auf dem Buchmarkt finden sich mittlerweile zahlreiche autobiographische Demenz-Texte, in denen Erkrankte im frühen Stadium mithilfe eines Co-Autoren mehr oder weniger selbst das Wort ergreifen. (Als prominentes Beispiel sei an dieser Stelle auf Thomas DeBaggios Text verwiesen: Losing My Mind. An Intimate Look at Life with Alzheimer’s. New York 2003). Diese Texte werden einerseits wegen des unklaren Autorenstatus in der vorliegenden Arbeit außenvorgelassen, andererseits handelt es sich fast durchgehend um Gebrauchstexte aus der Ratgebersparte, die sich durch eine geringe literarische Überformung von den hier untersuchten Demenz-Narrativen unterscheiden. Eine ausführliche Analyse dieser Texte liefert Martina Zimmermann: The Poetics and Politics of Alzheimer’s Disease Life-Writing. London 2017, hier S. 75-116.
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Vergessen erzählen
Gedächtnis- und Sprachstörungen – bei fortschreitender Krankheit, das subjektive Erleben kohärent zu erzählen. Aufgrund dieses Krankheitsverlaufs stellen sich insbesondere im Medium Literatur Fragen nach der Darstellbarkeit der DemenzErkrankung, schließlich konterkarieren diese die Grundvoraussetzungen literarischen Erzählens. Eine erste Analyse der literarischen Darstellungsformen zeigt, dass diese Narrative vorwiegend darüber Auskunft geben, welche subjektiven Vorstellungen, Wünsche und Befürchtungen Autoren auf die von der Demenz-Erkrankung geschaffene Lücke – das Innenleben der Betroffenen – projizieren. Dieser projektive Gestus lässt sich bei einer Vielzahl der Texte nicht zuletzt auf die Verarbeitung persönlicher Erfahrungen zurückführen. Neben den subjektiven Erklärungsversuchen greifen Autoren ebenso (populär-)wissenschaftliche Theorien und kulturelle Deutungsmuster der Demenz auf, transformieren diese in die Textstruktur und machen sie zum Ausgangspunkt poetologischer Reflexionen. Ausgehend von der Krankheitssymptomatik kommt es in den Texten zu einer vielgestaltigen Auseinandersetzung mit der Identität, dem Alter und der Würde des Einzelnen. Gleichzeitig werden in den Narrativen Familien- und Beziehungsproblematiken behandelt, Überlegungen zu Pflegeformen, Sprache, dem Sterbeprozess und dem Bewusstsein des Menschen angestellt, aber auch übergreifende Themen, wie Gesellschaftsformen, Religion und Krieg in den Blickpunkt gerückt.15 Eine derartige inhaltliche Variationsbreite geht mit einem narrativen Formenreichtum einher, der sich durch unterschiedliche Traditionsbezüge, aber auch innovative Varianten ausdrückt.
1.
Methodischer Zugriff und Aufbau der Untersuchung
Diese verschiedenen, literarischen Gestaltungs- und Ausdrucksformen der Krankheit stehen im Fokus der vorliegenden Untersuchung: Anhand der von Gerard Genette entwickelten Intertextualitätstheorie sowie den Ausdifferenzierungen von Manfred Pfister sollen (1.) Traditions- und Konventionsbezüge, Varianten und innovative Erzählstrategien von literarischen Demenz-Darstellungen systematisch erfasst werden.16 Ein wissensgeschichtlicher Blickwinkel ergänzt (2.) diese struk15
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Zur thematischen Vielgestaltigkeit vgl. auch Holger Helbig: s.v. »Alzheimer-Krankheit«, in: Bettina v. Jagow, Florian Steger (Hg.): Literatur und Medizin: Ein Lexikon. Göttingen 2005, S. 4650, hier S. 47. Genette verwendet statt des Begriffs der ›Intertextualitätstheorie‹, den Ausdruck ›Transtexualität‹. Vgl. Gérard Genette : Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris 1982 [Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a.M. 1993]. Neben diesem entscheiden Prätext bezieht sich die vorliegende Arbeit auf Ulrich Broich / Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985; Manfred Pfister: »Intertextualität«
Einleitender Teil
turell geprägten Ansätze,17 indem epistemologische Konstellationen und deren ästhetische Artikulationsformen untersucht werden.18 Im Gegensatz zu wissenspoetologischen Arbeiten,19 wird dabei von fixierten und historisch gewachsenen Wissensbeständen – der Literatur auf der einen, der Medizin auf der anderen Seite – ausgegangen, die in einer Korrelation zueinanderstehen.20 Dieses Wissen ist ein wichtiger Ansatzpunkt für das Verständnis literarischer Demenz-Darstellungen, schließlich findet in nahezu allen Primärtexten ein Rückgriff auf (populär-) wissenschaftliche Meinungen und Positionen statt. Zwangsläufig kommt es dabei zu einer Vermengung von medizinischen Wissensinhalten, subjektiven Ansichten oder Projektionen, die der Demenz entgegengebracht werden. Mithilfe einer wissensgeschichtlichen Rekonstruktion soll eine Konturierung dieser, in den Texten zu beobachtenden Überlagerungen und Kollisionen medizinischen Wissens mit dem kulturellen Diskussionshintergrund ermöglicht werden.21 Für eine derartige Analyse bedarf es zunächst einer Klärung der medizinischen Schlüsselbegriffe und Krankheitszeichen (vgl. Einleitender Teil, Kapitel 1.5). In
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in: Dieter Borchmeyer / Viktor Žmegač (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Tübingen 1994, S. 215-218. Ein derartiges wissensgeschichtliches Vorgehen gründet vorrangig auf den Texten Michel Foucaults, der mit Le mots et les choses und L’Archéologie du savoir eine Geschichte des Wissens und der Wissenschaften von der Renaissance bis zur Moderne sowie eine historische Diskursanalyse entworfen hat. Michel Foucault : Le mots et les choses. Paris 1966; Ders. : L’Archéologie du savoir. Paris 1969. Einen vertiefenden Einblick in Foucaults Thesen und die Ausdifferenzierung der Wissensgeschichte bietet Philipp Sarasin: »Was ist Wissensgeschichte?«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Bd. 36, H. 1 (2011), S. 159-172. Den Unterschied zur Wissenschaftsgeschichte legt wiederum Ulrich Johannes Schneider dar: »Wissensgeschichte, nicht Wissenschaftsgeschichte«, in: Axel Honneth / Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurt a.M. 2003, S. 220-229. Eine konzise Definition sowie analytische Anwendung des Wissensgeschichtsbegriffs bietet Michael Dominik Hagel: Fiktion und Praxis. Eine Wissensgeschichte der Utopie (1500-1800). Göttingen 2016, S. 23. Die Wendung ›Poetologie des Wissens‹ geht auf Joseph Vogel zurück, der gemeinsam mit anderen Vertretern dieses Ansatzes postuliert, dass sich »Literatur und Wissenschaften in einem Raum des Wissens situieren beziehungsweise Teil einer Wissensordnung seien oder von demselben Wissen ›durchquert‹ werden.« Vgl. Olav Krämer: »Intention, Korrelation, Zirkulation. Zu verschiedenen Konzeptionen der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen« in: Tilmann Köppe (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Berlin / New York 2011, S. 77-115, hier S. 100. Diese These formuliert Vogel zum ersten Mal in folgendem Artikel: Joseph Vogel: »Für eine Poetologie des Wissens«, in: Karl Richter / Jörg Schönert / Michael Titzmann (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770-1930. Stuttgart 1997, S. 107– 127. Zum Begriff der ›Korrelation‹ vgl. Krämer (2011), S. 85-98. Einen ersten Einblick zu Wissensbeständen in Demenz-Narrativen eröffnet Lucy Burke: »The country of my disease: Genes and genealogy in Alzheimer’s life-writing«, in: The Journal of Literary Disability Studies Bd. 2, H. 1 (2008), S. 63-74.
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Vergessen erzählen
den einzelnen Analysekapiteln wird schließlich konkret herausgearbeitet, welche »Vermittlungsverfahren, Institutionen, Anwendungsformen, gesellschaftlichen Kontexte, Bedingungen und Folgen gelehrten Wissens« über Demenz in die Texte Eingang gefunden haben.22 Diesen Wissensbeständen steht auf der anderen Seite ein stark ausgeprägtes Nichtwissen über Demenz-Erkrankungen gegenüber. So bleiben Fragen nach Heilungsmöglichkeiten oder nach Ursachen vieler DemenzErkrankungen bis heute unbeantwortet. Über dieses medizinische Nichtwissen hinaus, leiden Angehörige und behandelnde Ärzte von Demenzpatienten unter der Unkenntnis der Bewusstseinszustände und Zustandswahrnehmungen der Kranken. Wie Demente sich fühlen, was sie sich wünschen, wovor sie sich fürchten, ja, was überhaupt in ihnen vorgeht, kann von ihnen ab einem bestimmten Krankheitsstadium aufgrund der zunehmenden kognitiven Einbußen nicht mehr klar artikuliert werden.23 Diese Unkenntnis ist für viele literarische Verarbeitungen der Krankheit auschlaggebend: Schließlich sehen sich Autoren mit der Notwendigkeit (und Möglichkeit) konfrontiert, das Nichtwissen um Bewusstseinszustände sowie konkreter Krankheitsursachen durch Imaginationen zu füllen. In den folgenden Analysekapiteln gilt es, herauszuarbeiten, inwiefern medizinisches Wissen auf der einen Seite und subjektive Deutungsmuster auf der anderen Seite Eingang in die jeweiligen Texte gefunden haben und welche literarischen Strategien genutzt werden, um diese Ebenen miteinander zu verweben.
2.
Zusammensetzung des Textkorpus
Untersucht werden insgesamt acht Erzählungen, Essays und Biographien, anhand derer sich schwerpunktartige Tendenzen des deutschsprachigen DemenzDiskurses aufzeigen lassen. Die ausgewählten Erzähltexte stellen ein Spektrum der Krankheitsdarstellungen dar, das aufgrund der unabgeschlossenen Menge an literarischen Demenz-Dokumenten jedoch ergänzungsoffen bleibt. Ein zentraler Bestandteil des literarischen Diskurses besteht in der autobiographischen Verarbeitung von Demenzerkrankungen. Aus diesen faktualen DemenzNarrativen stechen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt drei Texte heraus: Tilman Jens’ Essay Demenz. Abschied von meinem Vater aus dem Jahr 2009, Arno Geigers 2011 veröffentlichter Text Der alte König in seinem Exil sowie Inge Jens’ Langsames
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Vgl. Martin Kintzinger: Forschungs- und Interessenschwerpunkt ›Wissensgeschichte‹. InternetQuelle: https://www.uni-muenster.de/Geschichte/histsem/MA-G/L1/forschen/wissensgeschichte.html, abgerufen am 22. Februar 2019. Vgl. Malottke (2017b), S. 220.
Einleitender Teil
Entschwinden von 2013.24 Bei diesen drei Beispielen handelt es sich um prominente Krankheits-Narrative, die sowohl in den hiesigen Medien, als auch in den literaturwissenschaftlichen Forschungsbeiträgen verstärkt wahrgenommen worden sind und kontroverse Diskussionen über Demenz und ihre literarische Darstellung hervorgerufen haben. Obgleich sich die drei Textbeispiele dem Thema mit unterschiedlichen Schreibweisen und Textformen nähern, entsprechen sie sich alle in ihrem »Wirklichkeitsbedürfnis«,25 das sich beispielsweise in häufigen Verweisen auf historische Ereignisse und Figuren oder in der vermehrten Zitation wissenschaftlichen Textmaterials äußert. Ähnliche Verfahren und Schreibweisen lassen sich auch bei fiktionalen Demenz-Narrativen feststellen, die von der literaturwissenschaftlichen Forschung jedoch vergleichsweise wenig Beachtung erfahren haben (oder bislang überhaupt nicht zur Rubrik der Demenz-Narrative gezählt worden sind).26 Als Beispiele für rein fiktionale Demenz-Darstellungen dienen dieser Arbeit Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän aus dem Jahr 1979,27 Ulrike Draesners 2011 erschienene Erzählung Ichs Heimweg macht alles alleine und Katharina Hackers Text Die Erdbeeren von Antons Mutter von 2010.28 Darüber hinaus weist das Textkorpus zwei komparatistische Erweiterungen mit Beispielen aus der britischen sowie niederländischen Literatur auf. Wie in den jeweiligen Analysekapiteln näher ausgeführt wird, handelt es sich bei John Bayleys autobiographischem Text Elegy for Iris und J. Bernlefs fiktionaler Erzählung Hersenschimmen um Demenz-Narrative,29 die derart zentral 24
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Inge Jens: Langsames Entschwinden. Vom Leben mit einem Demenzkranken. Hamburg 2016. Im Folgenden wird der Text unter der Abkürzung »LE« und unter Angabe der Seitenzahlen im Fließtext zitiert. Brigitta Krumrey / Ingo Vogler / Katharina Derlin (Hg.): Realitätseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Heidelberg 2014, S. 9. Wie aus den einzelnen Forschungsabrissen hervorgeht, liegen – im Gegensatz zu den autobiographischen Texten von Bayley, Geiger und Tilman Jens – zu den fiktionalen Texten deutlich weniger literaturwissenschaftliche Analysen oder feuilletonistische Artikel vor. Einzige Ausnahme stellt die Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän dar, die in der Forschung jedoch nicht als Demenz-Narrativ, sondern als Altersdarstellung eingeordnet worden ist. Vgl. Textanalyse, Kapitel 1.1.1. Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän, in: Ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Bd. 7. Hg. von Hans Mayer. Frankfurt a.M. 1986, S. 205-300. Die Erzählung wird im Folgenden unter der Abkürzung »MH« im laufenden Text zitiert. Ulrike Draesner: Ichs Heimweg macht alles alleine, in: Klara Obermüller (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. München 2006, S. 59-81. Die Geschichte liegt in zwei Versionen vor: Ulrike Draesner: Ichs Heimweg macht alles allein, in: Dies.: Richtig liegen. Geschichten in Paaren. München 2011, S. 175-184. Während die erste Erzählversion im Folgenden mit der Abkürzung »IHM 1« abgekürzt und im laufenden Text zitiert wird, verwende ich für die zweite Version die Sigle »IHM 2«. John Bayley: Elegy for Iris. New York 1998. Diese Ausgabe wird unter der Abkürzung »EFI« im laufenden Text unter Angabe der Seitenzahl zitiert. Und: J. Bernlef: Hirngespinste. Zürich 1986
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sind, dass in späteren Texten immer wieder Bezug auf sie genommen wird und sie daher für den Problembereich unverzichtbar sind. Da der literarische Umgang gemäß der Krankheitsverbreitung ein internationales Phänomen ist und insbesondere europäische Literaturen im intertextuellen Kontext zueinanderstehen, handelt es sich um eine sinnvolle Erweiterung des Textkorpus. Neben der komparatistischen Öffnung muss weiterhin erläutert werden, inwiefern bei dieser Textzusammenstellung noch von ›Gegenwartsliteratur‹ gesprochen werden kann, schließlich stammt der älteste Text der Untersuchung von Max Frisch aus dem Jahr 1979. Mehr als 30 Jahre und somit zahlreiche historische Ereignisse und medizinische Entwicklungen trennen den Text von den mehrheitlich um die 2010er Jahre entstandenen, übrigen Demenz-Narrativen. Begreift man Gegenwartsliteratur jedoch nicht nur als ein Feld der Gleichzeitigkeit oder des Präsentischen,30 sondern legt dieser Arbeit einen breiten Gegenwartsbegriff zu Grunde,31 kann herausgearbeitet werden, ob sich das literarische Schreiben über Demenz in einem überschaubaren Zeitraum gewandelt hat oder ob kontinuierlich auf weitgehend idente literarische Verfahren und Deutungsmuster zurückgegriffen wird. Ein solcher breiter Gegenwartsbegriff bietet sich auch aus intertextuellen Gesichtspunkten an, da Der Mensch erscheint im Holozän, aber auch Bernlefs Hersenschimmen als zentrale Prätexte für jüngere Demenz-Narrative, wie beispielsweise Ulrike Draesners Erzählung Ichs Heimweg macht alles allein, dienen.
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[Hersenschimmen. Amsterdam 1984]. Der Text wird im Folgenden in der deutschen Übersetzung mit der Sigle HG zitiert. Bei längeren Zitaten kann der niederländische Originaltext in den Fußnoten nachvollzogen werden. Der Begriff der ›Gegenwartsliteratur‹ wird in der Forschung uneinheitlich gebraucht – mal an historischen Ereignissen, mal an verschiedenen Dekaden oder der Jahrtausendwende festgemacht. Einen Einstieg in die Diskussion um den Gegenwartsbegriff in der Literaturwissenschaft bieten Leonhard Herrmann / Silke Horstkotte (Hg.): Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Stuttgart 2016, S. 4-7. Weiterhin setzt sich mit Fragen nach Gegenwart und Gegenwärtigkeit in der Literatur unter anderem das DFG-Graduiertenkolleg 2291 an der Universität Bonn auseinander. Vgl. DFG-Graduiertenkolleg 2291 »Gegenwart / Literatur. Geschichte, Theorie und Praxeologie eines Verhältnisses«. Internet-Quelle: https://www.grk2291.unibonn.de/de, abgerufen am 2. März 2019. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf Michael Braun hingewiesen, der die Rezeptivität und Konstruktivität des Gegenwartsbegriffs herausarbeitet hat: So ließe sich der Begriff einerseits in der »Zeitgenossenschaft von Autor und Leser einmal als zeitlich verstandene Gegenwart – als Präsens – und ein anderes Mal als räumlich erfahrbare Gegenwart – als Präsenz« funktionalisieren. Michael Braun: »Autor und Leser als Zeitgenossen«, in: Wolfgang Braungart (Hg.): Gegenwart, Literatur, Geschichte: zur Literatur nach 1945. Heidelberg 2013, S. 225-242, hier S. 227. Hervorhebungen im Original.
Einleitender Teil
3.
Der Blick auf die Krankheit
Aus der Zusammenstellung dieser Primärtexte ergibt sich eine intuitive Ordnung: eine Kategorisierung nach den jeweiligen Perspektiven auf die Krankheit. Sofern es sich nicht um Selbsthilfeliteratur handelt, die aus der Feder von (populär-)wissenschaftlichen Experten stammt,32 sind die meisten Demenz-Texte entweder aus Sicht des Kranken selbst verfasst oder aber aus der Perspektive der pflegenden Söhne und Töchter, beziehungsweise der Ehefrauen und -männer von Demenzpatienten geschrieben. Diese drei unterschiedlichen Sichtweisen auf die Krankheit – die der Kranken, der Kinder oder der Partner – ziehen jeweils spezifische Problemkonstellationen, Schreibweisen und Bewertungen der Demenz nach sich, weshalb eine Dreiteilung des Textkorpus unter dem Aspekt der jeweiligen KrankheitsPerspektive äußerst ergiebig ist. Die Gruppierung der drei Blöcke – (1.) Das demente Ich, (2.) Demente Eltern und (3.) Demente Partner – erfolgt nach thematischen und nicht nach narratologischen Gesichtspunkten, werden doch nahezu alle Texte aus einer autodiegetischen Erzählposition geschildert, ganz gleich, ob es sich dabei um Erzählungen der Dementen selbst oder um Texte der Kinder oder Partner handelt.33 Wie Juli Zeh in ihrem Artikel »Sag nicht Er zu mir« bereits im Jahr 2004 bildhaft ausführt,34 hat der Gebrauch der Autodiegese in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur insgesamt Konjunktur. Im Fall von Demenz-Narrativen lässt sich die häufige Verwendung dieser speziellen Stimme und des intern fokalisierten Modus indes nicht mit einem literarischen ›Trend‹ begründen. Vielmehr liegt der Schluss nahe, dass die autodiegetische Erzählposition mit dem thematischen Schwerpunkt der DemenzTexte zusammenhängt: Gerade im Fall von Demenz-Erkrankungen, die den Betroffenen die Sprache sowie persönliche Fähigkeiten und Fertigkeiten rauben, spielt
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Selbsthilfetexte, wie die von Udo Baer / Gabi Schotte-Lange: Das Herz wird nicht dement: Rat für Pflegende und Angehörige. Weinheim 2017 oder Gerald Hüther: Raus aus der Demenzfalle! Wie es gelingen kann, die Selbstheilungskräfte des Gehirns rechtzeitig zu aktivieren. München 2017, werden in dieser Untersuchung außenvorgelassen. Da im Folgenden literarische DemenzDarstellungen insbesondere auf ihre ästhetische Gestaltung und Tradition untersucht werden, eignen sich diese Gebrauchstexte – anders als Biographien – aufgrund ihrer geringen Literarizität nicht für eine derartige Analyse. Allein Katharina Hackers Die Erdbeeren von Antons Mutter und Frischs Der Mensch erscheint im Holozän sind aus einer heterodiegetischen Erzählposition verfasst. Bei den sieben anderen Textbeispielen des Korpus handelt es sich durchweg um Ich-Erzählungen. Vgl. Katharina Hacker: Die Erdbeeren von Antons Mutter. Frankfurt a.M. 2010. Die Erzählung wird im Folgenden unter der Sigle EAM und Angabe der jeweiligen Seitenzahl im laufenden Text zitiert. Juli Zeh: »Sag nicht Er zu mir. Oder: Vom Verschwinden des Erzählers im Autor«, in: Literaturen Bd. 3 (2004), S. 30-33.
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der Themenkomplex von Krankheit und Subjektivität eine große Rolle.35 Um das individuelle Erleben der Demenz – ob als primär Betroffener oder dessen naher Angehöriger – von innen heraus zu erzählen und nachvollziehbar zu machen, bieten sich eine autodiegetische Erzählhaltung und interne Fokalisierung an. Für die Untergliederung der vorliegenden Arbeit sind jedoch weder die Art der Erzählerposition noch die Fokalisierung entscheidend, sondern der Grad der Betroffenheit. So wird unter thematischen Gesichtspunkten gemäß der unterschiedlichen Distanz der Protagonisten zur Krankheit zwischen primär Betroffenen und sekundär unter der Krankheit leidenden Kindern, bzw. Partnern unterschieden.36 Die drei Analyseblöcke sind intern wiederum gemäß der Chronologie ihrer Gegenstände strukturiert. Eine solche thematisch-chronologische Anordnung stellt nicht den einzig möglichen Zugriff auf das Korpus dar. So läge mit Blick auf die zahlreichen DemenzBiographien und -Erzählungen zunächst der Schluss nahe, die Krankheitsdarstellungen nach ihrem jeweiligen Wirklichkeitsanspruch voneinander zu unterscheiden. Eine Zweiteilung des Korpus in fiktionale Demenz-Texte auf der einen Seite und faktuale,37 autobiographische Texte auf der anderen Seite, ließe sich als eine weitere, mögliche Systematik benennen. Wie sich allerdings bei einem Studium der Primärtexte herauskristallisiert, arbeiten sowohl fiktionale als auch faktuale Demenz-Darstellung mit verblüffend ähnlichen Erzählerverfahren, Metaphern und wissenschaftlichem Hintergrundmaterial. Aus diesem Grund ist eine strikte Trennung zwischen fiktionalen und faktualen Texten nicht gewinnbringend. Statt sie separat voneinander zu untersuchen, werden die verschiedenen DemenzNarrative in der vorliegenden Arbeit nebeneinander gestellt, um durch diesen direkten Vergleich Überschneidungen, Unterschiede und Hybridformen unmittelbar sichtbar zu machen.
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Auf die Problemkonstellation von Demenz und Subjektivität weist bereits der gleichnamige Sammelband von Ringkamp / Strauß / Süwolto (2017) hin. Eine ähnliche Unterscheidung nimmt Martina Zimmermann in ihrer Monographie vor, indem sie zwischen ›patient-narratives‹ und ›caregiver-narratives‹ unterscheidet. Vgl. Zimmermann (2017), S. 6f. Gemäß Gérard Genette wird der Begriff ›fiktional‹ im Gegensatz zu ›faktual‹ verwendet, um den pragmatischen Status eines Texts es zu bezeichnen. Das Gegensatzpaar ›fiktiv‹ und ›real‹ zeigen hingegen den ontologischen Status einer Aussage an. Vgl. Gérard Genette: Fiction et Diction. Paris 1991 [Fiktion und Diktion. München 1992, speziell zum Begriffspaar: S. 65-94].
Einleitender Teil
4.
Was bisher geschah: Ein Forschungsüberblick
Forschungsgenese Ein Blick in die Regale literaturwissenschaftlicher Bibliotheken führt die Vielzahl und Variationsbreite an Forschungsarbeiten vor Augen, die sich dem Zusammenhang von Literatur und Krankheit widmen.38 Im Fokus des literaturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresses stehen dabei – spätestens seit Susan Sontags ausschlaggebendem Essay Illness as Metaphor – nicht allein die literarischen und pathografischen Schreibweisen,39 sondern ebenso die ideologischen Implikationen von Krankheitsdarstellungen und -zuschreibungen.40 Vor dem Hintergrund dieser regen Forschungstätigkeit verwundert es, dass die literaturwissenschaftlichen Beiträge zu fiktionalen und faktualen Demenz-Darstellungen lange Zeit rar gesät sind. Zu den verhältnismäßig frühen Überblicksartikeln zählt der Lexikonartikel von Holger Helbig aus dem Jahr 2005.41 Helbig wendet sich in dem von Bettina von Jagow und Florian Steger herausgegebenen Lexikon zu Literatur und Medizin literarischen Darstellungen der Alzheimer-Krankheit zu,42 wobei er keinen Unterschied zwischen der konkreten Krankheitsbezeichnung ›Morbus Alzheimer‹ und dem weitergefassten Demenzsyndrom macht (vgl. Einführender Teil, Kapitel 1.5). Abgesehen von dieser begrifflichen Ungenauigkeit, die sich immer wieder in literaturwissenschaftlichen Arbeiten findet,43 bietet Helbigs Artikel eine Zu-
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Aus der Fülle der Forschungsbeiträge sei exemplarisch auf folgende, zentrale Beiträge verwiesen, die den Zusammenhang zu Krankheit und Literatur beleuchten: Matthias Bormuth / Klaus Podoll / Carsten Spitzer (Hg.): Kunst und Krankheit. Studien zur Pathographie. Göttingen 2007; Maximilian Bergengruen / Klaus Müller-Wille / Caroline Pross (Hg.): Neurasthenie. Die Krankheit der Moderne und die moderne Literatur. Freiburg i.Brsg. 2010; Yvonne Wübben / Carsten Zelle (Hg.): Krankheit schreiben. Aufzeichnungsverfahren in Literatur und Medizin. Göttingen 2013; Carsten Zelle: s.v. »Medizin«, in: Roland Borgards et al. (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2013, S. 85-95. Susan Sontag: Illness as Metaphor. New York 1978 [Krankheit als Metapher. Frankfurt a.M. 1987]. Als Ausdruck dieser andauernden, wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Literatur und Krankheit kann das Jahrbuch Literatur und Medizin, das seit 2007 periodisch im Universitätsverlag Winter Heidelberg erscheint. Vgl. Helbig (2005). Bettina von Jagow / Florian Steger (Hg.): Literatur und Medizin: Ein Lexikon. Göttingen 2005. Auch Dirk Kretzschmar und Irmela Krüger-Fürhoff sprechen in ihren Artikeln von der Alzheimer-Krankheit, wo der weitergefasste Begriff der Demenz, bzw. des Demenzsyndroms angemessen wäre. Vgl. Dirk Kretzschmar: »Alzheimertexte der deutschen Gegenwartsliteratur«, in: Rudolf Freiburger / Dirk Kretzschmar (Hg.): Alter(n) in Literatur und Kultur der Gegenwart. Würzburg 2012, S. 117-145; Irmela Marei Krüger-Fürhoff: »Narrating the limits of narration. Alzheimer’s disease in contemporary literary texts«, in: Aagje Swinnen / Mark Schweda (Hgs.): Popularizing Dementia. Public Expressions and Representations of Forgetfulness. Bielefeld 2015, S. 89-108. Diese terminologische Ungenauigkeit findet sich ebenso bei Martina Zimmermann. Vgl. Zimmermann (2017a und 2017b).
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sammenschau der zentralen, auch internationalen Primärtexte, an denen er erste Krankheitsschreibweisen und intertextuelle Bezüge aufzeigt. Während dieser Lexikonartikel aus dem Jahr 2005 einen relativ frühen Abriss darstellt, setzt das Gros der deutschsprachigen Forschung zu Demenz-Narrativen erst nach 2010 ein. Um zunächst einmal auf die Vielzahl der Primärtexte aufmerksam zu machen, gehen die Verfasser überwiegend bibliographisch vor. Auf diese Überblicksartikel – von denen allen voran Ulrike Vedders und Hans-Ulrich Potts Beiträge hervorzuheben sind –44 folgen schließlich Einzelanalysen prominenter Demenz-Narrative, wie Martin Suters Small Word oder Arno Geigers Der alte König in seinem Exil.45 Mittlerweile liegen neben zahlreichen Artikeln, zwei Sammelbände sowie eine Monographie vor, die Demenzdarstellungen in den Künsten untersuchen.46 Aufgrund dieser gesteigerten, wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ästhetischen Demenzdarstellungen drängt sich die Frage auf, ob eine weitere Arbeit zu literarischen Demenz-Narrativen überhaupt noch Originelles zu Tage fördern kann, schließlich scheint das wissenschaftliche Feld bereits bestellt zu sein. Ein genauer Blick auf die zentralen Forschungstexte verdeutlich jedoch, wie uneinheitlich die jeweiligen Herangehensweisen, Erkenntnisziele und Forschungsstände sind: So stammen ein Teil der Publikationen aus dem Bereich thematisch-orientierter Ansätze, wie etwa der Genderforschung sowie den Care- oder Disability-Studies.47 Diese unterschiedlichen Schwerpunktlegungen – z.B. auf Darstellungen der Pflege oder der Geschlechterrollen – sind für die vorliegende Untersuchung insofern anschlussfähig, als hier Vorarbeiten zur Wechselwirkung medizinischen Wissens 44
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Hans-Georg Pott: »Altersdemenz als kulturelle Herausforderung«, in: Henriette Herwig (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s. Bielefeld 2014, S. 153-202. Sowie: Vedder (2012). Einen weitergefassten Überblick bietet auch Adelheid Kuhlemey: »Literatur und Medizin: Die Demenz«, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie Bd. 46 (2013), S. 270-276. Als einer der ersten Analysen zu Suters Roman kann Heike Hartungs Artikel aus dem Jahr 2005 genannt werden: Heike Hartung: »Zwischen Verfalls- und Erfolgsgeschichte. Zwiespältige Wahrnehmung des Alter(n)s«, in: Dies. (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s. Bielefeld 2005, S. 7-18. Ebenso: Heike Hartung: »Small World? Narrative Annäherungen an Alzheimer«, in: Cornelia Bogen / Madlen Domaschke / Sabine Pabst (Hg.): Alte Menschen und Medien. Alter im Spannungsfeld zwischen Kultur und Medien. Frankfurt a.M. 2008, S. 163-178. Vgl. Swinnen / Schweda (2015); Ringkamp / Strauß / Süwolto (2017) und Zimmermann (2017). Vgl. Miriam Seidler: »Zwischen Demenz und Freiheit. Überlegungen zum Verhältnis von Alter und Geschlecht in der Gegenwartsliteratur«, in: Heike Hartung (Hg.): Graue Theorie. Die Kategorien Alter und Geschlecht im kulturellen Diskurs. Böhlau / Köln 2007, S. 195-212, oder auch: Heike Hartung: »Fremde im Spiegel. Körperwahrnehmung und Demenz«, in: Sabine Mehlmann / Sigrid Ruby (Hg.): ›Für Dein Alter siehst du gut aus!‹ Von der Un-/Sichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels. Multidisziplinäre Perspektiven. Bielefeld 2010, S. 123-138.
Einleitender Teil
und gesellschaftlichen Sprechens über die Krankheit geleistet worden sind. Für sich genommen zeichnen sich diese Beiträge jedoch durch eine derartige thematische Zuspitzung aus, dass dabei zentrale Textebenen der Demenz-Narrative nur am Rande untersucht werden oder gar unerwähnt geblieben sind. Aus den Gender und Care Studies hat sich des Weiteren eine verstärkte literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Alters-Narrativen entwickelt.48 Dieser Forschungsschwerpunkt wird vor allem von zwei Akteurinnen, Heike Hartung und Henriette Herwig, geprägt: Während Hartung als Verfasserin und Herausgeberin zahlreicher Artikel und Sammelbände zu Alter und Geschlecht tätig ist,49 entsteht unter Herwigs Ägide ein interdisziplinäres Graduiertenkolleg, das sich von 2012 bis 2015 mit dem Thema Altern als kulturelle Konzeption und Praxis beschäftigt.50 Im Zuge dieses Kollegs und weiterführender Forscherverbände erscheinen unzählige Publikationen, in denen einzelne Beiträge auch literarische Demenz-Darstellungen als Altersphänomen in den Blick nehmen.51 Aus der Vielzahl an Sammelbänden sei an dieser Stelle auf den Text Alter(n) in Literatur und Kultur der Gegenwart aus dem Jahr 2014 hingewiesen. Hierin untersucht unter anderem Dirk Kretzschmar »Alzheimertexte der deutschen Gegenwartsliteratur« am Beispiel von Arno Geigers Der alte König in seinem Exil.52 Kretzschmar gelingt es in dieser maßgebenden Analyse, strukturelle und sprachliche Parallelen zwischen dem Demenz-Narrativ und romantischen Märchen, wie Ludwig Tiecks Der blonde
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Ein Artikel, der die Brücke zwischen den Themenfeldern Care, Gender und Alter schlägt stammt z.B. von Henriette Herwig: »Alte und junge Paare im Pflegeheimroman der Gegenwart«, in: Henriette Herwig (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s. Bielefeld 2014, S. 229-250. Um nur einige Publikationen Hartungs zu nennen, werden im Folgenden deren zentrale Herausgeberschaften in der literaturwissenschaftlichen Altersforschung aufgezählt: Heike Hartung: Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s. Bielefeld 2005; Dies. (Hg.): Graue Theorie. Die Kategorien Alter und Geschlecht im kulturellen Diskurs. Böhlau / Köln 2007; Dies. (Hg.): Narratives of life: mediating age. Wien / Berlin / Münster 2009; Dies. (Hg.): Embodied narration. Illness, Death and Dying in modern Culture. Bielefeld 2018. Das Graduiertenkolleg Altern als kulturelle Konzeption und Praxis existierte von 2012 bis 2015. Ebenso wie Herwig hat auch Miriam Seidler, zu literarischen Demenz-Texten geforscht und somit den Schwerpunkt des Graduiertenkollegs sowie die daraus hervorgehende Schriftenreihe im transcript Verlag geprägt. Vgl. z.B. Andrea von Hülsen-Esch / Miriam Seidler / Christian Tagsold (Hg.): Methoden der Alter(n)sforschung. Disziplinäre Positionen und transdisziplinäre Perspektiven. Bielefeld 2013. Vgl. z.B. Henriette Herwig: »Alte und junge Paare im Pflegeheimroman der Gegenwart«, in: Herwig (2014), S. 229-250. Kretzschmar (2012). Daneben finden sich zwei weitere Artikel, die Demenz-Texte beleuchten: Elmar Gräßel / Dirk Niefanger: »Angehörige erzählen vom Umgang mit Demenz: Einige sozialmedizinische narratologische Beobachtungen«, in: Freiburger / Kretzschmar (2012), S. 99-115; und Sabine Friedrich / Annette Keilhauer: »Erzählen im Zeichen des Verlustes«, in: Freiburger / Kretzschmar (2012), S. 218-248.
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Eckbert,53 aufzuzeigen und des Weiteren Gottfried Benns »Rönne«-Novellen als intertextuelle Bezugsfolie zu identifizieren.54 Diese Zusammenhänge sollen in den folgenden Kapitel nicht nur an Geigers Demenz-Text, sondern auch an anderen Demenz-Narrativen überprüft und (wo möglich) weiter ausgebaut werden. Eine Zusammenschau weiterer Sekundärtexte zeigt, dass Kretzschmars Fokus auf Der alte König in seinem Exil keine Ausnahme darstellt. So besteht ein Ungleichgewicht zwischen der verhältnismäßig hohen Zahl an literarischen DemenzPublikationen auf der einen Seite und der von der Forschung behandelten Beispiele auf der anderen Seite: Während jährlich neue Titel zum Thema Demenz auf dem Buchmarkt erscheinen,55 untersuchen die meisten deutschsprachigen Forschungsbeiträge Arno Geigers Text Der alte König in seinem Exil. Neben Kretzschmars Analyse muss in diesem Zusammenhang der Artikel von Meike Dackweiler hervorgehoben werden,56 der – ebenso wie Leonie Süwoltos Monographie Altern in einer alterslosen Gesellschaft – die narrative Faktur und Metaphorik von Geigers Text profunde herausarbeitet.57 Darüber hinaus finden sich in dem 2015 erschienenen, germanistischen Jahrbuch Limbus, das ebenfalls dem Thema Alter gewidmet ist, vorranging analytische Bezugnahmen auf Arno Geigers Text.58 Diese Dichte an Forschungsbeiträgen zu Der alte König in seinem Exil legt den Schluss nahe, dass es sich hierbei
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Vgl. Kretzschmar (2012), S. 131f. Als die sogenannten Rönne-Novellen werden die Texte von Gottfried Benn bezeichnet, deren Hauptfigur der Arzt Dr. Werff Rönne ist. Hierzu zählt z.B. Gottfried Benn: Gehirn, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 3: Prosa 1. Hg. von Gerhard Schuster. Stuttgart 1987, S. 35-41. Zum textnahen Vergleich zwischen Geigers Text und denen von Tieck und Benn vgl. Kretzschmar (2012), S. 131-134. Einen – notwendiger Weise unvollständigen – Überblick über die wachsende künstlerische Auseinandersetzung, bietet die im Anhang dieser Arbeit angefügte Liste an verschiedenen Kunstformen und Genres, die sich dem Thema ›Demenz‹ widmen. Vgl. Anhang, 5. Meike Dackweiler: »Die Alzheimer-Narration am Beispiel von Arno Geigers ›Der alte König in seinem Exil‹«, in: Herwig (2014), S. 251-276. Leonie Süwolto: Altern in einer alterslosen Gesellschaft. Literarische und Filmische Imaginationen. Paderborn 2016, S. 334-358. Nicolai Glasenapp: »Lebt man in Vergessenheit? Zum Konnex von Sterben, Tod und Demenz in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur«, in: Limbus. Australisches Jahrbuch für germanistische Literatur- und Kulturwissenschaft Bd. 8 (2015), S. 147-165. Für diese Untersuchung sind überdies drei Artikel entscheidend, die Frischs Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän wenn auch nicht als Demenztext, so doch als Alterstext beleuchten: Julia Röthinger: »›Erosion ist ein langsamer Vorgang.‹ Das Verschwinden in Max Frischs Erzählung ›Der Mensch erscheint im Holozän‹«, in: Limbus (2015), S. 125-146; Süwolto, Leonie: »Der Altern(d)e kann sprechen: Sprechen aus dem Exil in Arno Geigers autobiographischer Erzählung ›Der Alte König in seinem Exil‹«, in: Limbus (2015), S. 201-219 und Juliana Voorgang: »›Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses.‹ Anthropologische und archäologische Archivierungen in Max Frischs ›Der Mensch erscheint im Holozän‹«, in: Limbus (2015), S. 13-32.
Einleitender Teil
um einen Schlüsseltext handelt, der die Aufmerksamkeit der deutschsprachigen Forschung auf den literarischen Demenz-Diskurs insgesamt lenken konnte.59 Der zunächst von der Altersforschung dominierte Diskurs differenziert sich in den folgenden Jahren weiter aus, sodass schließlich zwei Tagungsbände erscheinen, die Demenz als Krankheits-Narrative losgelöst vom Thema Alter betrachten und die Analysen auf verschiedenartige Untersuchungsgegenstände ausweiten: Der 2015 veröffentlichte Sammelband Popularizing Dementia. Public Expressions and Representations of Forgetfulness und die Tagungsschrift Demenz und Subjektivität aus dem Jahr 2017 liefern jeweils eine Fülle wissenschaftlicher Beiträge zu internationalen literarischen, filmischen sowie philosophischen Demenz-Repräsentationen.60 Während sich diese beiden Bände dem Thema auf intermedialer Ebene nähern, nimmt Martina Zimmermanns Monographie aus dem Jahr 2017 schließlich allein Demenz-Texte in den Blick. Da es sich bislang um die einzige Monographie zu diesem Thema handelt, gibt im Folgenden ein komprimierter Abriss Aufschluss über Aufbau und Erkenntnisinteressen von Zimmermanns Untersuchung. Poetics and Politics In The Poetics and Politics of Alzheimer’s Disease Life-Writing nimmt sich die Pharmakologin Martina Zimmermann als Vertreterin der sogenannten ›Health Humanities‹61 insgesamt 28 internationaler Demenz-Narrative an.62 Dabei erfolgt der Zugriff auf das rein faktuale Korpus auf zwei verschiedenen Ebenen: Zunächst unterscheidet Zimmermann zwischen Texten, die aus der Perspektive der Pflegenden verfasst sind und als ›caregiver narratives‹ betitelt werden, von den Texten, die von Dementen selbst geschrieben sind, sogenannte ›patient narratives‹. Die ›caregiver narratives‹ werden wiederum nach Gender-Aspekten unterteilt, wobei sich Zimmermann in einem ersten Schritt den pflegenden Ehefrauen und Töchtern zuwendet und
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Hierfür spricht auch, dass sich auf das Datum der Erstveröffentlichung im Jahr 2011 hin, ein sprunghafter Anstieg der deutschsprachigen Forschungsliteratur zu Demenz-Narrativen überhaupt verzeichnen lässt. Vgl. dazu auch Textanalyse, Kapitel 2.2. Swinnen / Schweda (2015) und Ringkamp / Strauß / Süwolto (2017). Unter dem Stichwort ›Health Humanities‹ untersucht Zimmermann die »Dynamik zwischen der Darstellung neurodegenerativer Erkrankungen im medizinisch-wissenschaftlichen Bereich und ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Wahrnehmung.« Vgl. Martina Zimmermann auf der Webseite des Instituts für Pharmakologie und Klinische Pharmazie der Goethe-Universität Frankfurt: www.uni-frankfurt.de/53506260/Privatdozentin_Dr__Martina_Zimmermann, abgerufen am 6. März 2019. Das umfangreiche Textkorpus lässt sich weniger aus der Anlage der Arbeit ableiten, denn aus der finalen Bibliographie. Hier sind die Texte, auf die im Laufe der Monographie näher eingegangen wird, mit einem Asterisk gekennzeichnet. Vgl. Zimmermann (2017a), S. 133-139.
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schließlich die Demenz-Texte aus der Perspektive der Söhne beleuchtet.63 In den weiteren Kapiteln untersucht die Verfasserin autobiographische ›patient narratives‹, die sowohl von Männern als auch von Frauen stammen.64 Dabei werden auch digitale Textformen wie Demenz-Blogs als Beispiele herangezogen. Wie das umfangreiche Textkorpus bereits vermuten lässt, leistet Zimmermanns Arbeit weniger eine detaillierte, interpretatorische Analyse. Vielmehr gibt die Monographie einen kursorischen Überblick über das breite, internationale Phänomen der literarischen Demenz-Texte. Da die einzelnen Narrative nicht für sich genommen untersucht werden, sondern punktuell als Textbeispiele herangezogen werden, erscheint das untersuchte Korpus zuweilen uferlos. Zimmermanns Monographie kann als Pionierarbeit eingeordnet werden, die der vorliegenden Untersuchung als Grundlage und Kontrastfolie zugleich dient: Während die generelle Unterscheidung zwischen ›caregiver‹ und ›patient narrativs‹, aber auch schlüssige Analysepassagen zu einzelnen Texten Eingang in diese Arbeit gefunden haben, wird in Abgrenzung zu Zimmermann ein konzises Korpus als Grundlage entwickelt, an dem dezidiert literarische Demenz-Schreibweisen und wissensgeschichtliche Hintergründe textnah analysiert und interpretiert werden. Im Gegensatz zu Zimmermanns Monographie stehen dabei fiktionale und faktuale Demenz-Narrative nebeneinander (vgl. Einleitender Teil, Kapitel 1.1). Auf diese Weise rückt in dieser Studie explizit die Literarizität der jeweiligen Demenz-Texte in den Vordergrund.
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Terminologie, Klassifikation und Leitsymptomatik
Um eine Untersuchung der jeweiligen Darstellungen und literarischen Bewertungen der Krankheit leisten zu können, bedarf es vorab einer Definition der entscheidenden Begrifflichkeiten und Leitsymptomen. Dieser Abriss wird die Grundlage für die narratologisch fundierte sowie wissensgeschichtliche Untersuchung der Demenz-Narrative bereiten. Das Demenzsyndrom Klassifikation der Demenzen nach ihren Ursachen In der medizinischen Fachliteratur wird Demenz als ein ›klinisch definiertes Psychosyndrom‹ eingeordnet.65 Schon 63
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So unterscheidet Zimmermann zwischen den beiden Gender-Kategorien »Wifes and Daughters: Stereotype of the Caring Female?« und »From a ›Care-Free‹ Distance: Sons talking About Culltural Concepts«. Vgl. Zimmermann (2017a), S. vii. »About Tradition and Triumph: Patients Popularise Dementia Narrative«. Vgl. Zimmermann (2017a), S. viii. Vgl. Johannes Pantel / Julia Haberstroh: »Medizinische Grundlagen und Behandlungsmöglichkeiten der Demenz«, in: Gerd Hoffmann et al. (Hg.): Demenz – eine wachsende Herausforde-
Einleitender Teil
diese Minimaldefinition birgt terminologische Fallstricke: Es gilt zunächst, zu klären, warum in diesem Fall (in Abgrenzung zu den Termen ›Symptom‹ und ›Krankheit‹) der Begriff ›Syndrom‹ verwendet wird. Im medizinischen Kontext bezeichnet der Terminus eine Kombination von verschiedenen Krankheitszeichen, die typischerweise zusammen auftreten. Lassen sich diese verschiedenen Symptome in einem nächsten Schritt auf eine gemeinsame Ursache zurückführen, ist die Diagnose einer spezifischen Krankheit möglich.66 Sofern die Entwicklungsgeschichte oder die Ursachen der jeweiligen Symptome jedoch unklar oder uneinheitlich sind, wird weniger konkret von einem ›Symptomverband‹ oder von einem ›Syndrom‹ gesprochen.67 Da es unterschiedliche Demenz-Erkrankungen gibt, die eine ähnliche Symptomatik aufweisen, aber verschiedene Ursachen haben können, dient das ›Demenzsyndrom‹ als Oberkategorie, zu der rund 50 Krankheitsbilder gezählt werden.68 Diesen Krankheitsbildern ist gemein, dass sie mit einer organisch bedingten Störung der psychischen Funktionen einhergehen, weshalb Demenz als Psychosyndrom bezeichnet wird. Die Leitsymptomatik dieses Psychosyndroms besteht in der signifikanten Einbuße von Gedächtnisfunktionen und des Denkvermögens, was sich insbesondere in der Abnahme der Merkfähigkeit und des Ausdrucksvermögens, der Urteilsfähigkeit und der Orientierung bemerkbar macht. Neben diesen intellektuellen Einschränkungen kommt es ebenso zu Veränderungen der Gemütslage, des Antriebs und des Sozialverhaltens des Betroffenen.69 Diese Defizite sind in der überwiegenden Mehrzahl der Krankheitsfälle chronisch progredient, das heißt, sie verschlimmern sich kontinuierlich.70
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rung für die ärztliche Praxis. 6. Ärztetag am Dom des Arbeitskreises ›Ethik in der Medizin im RheinMain-Gebiet‹. Düsseldorf 2016, S. 5-10, hier S. 5. Vgl. Jürgen Spranger: »Disease, syndrome, sequence«, in: Kinderheilkunde Bd. 137, H. 1 (1989), S. 2-7, hier S. 2. Vgl. ebd., S. 4. Die Zahl geht auf einen, vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend herausgegebenen Online-Wegweiser zu Demenz zurück. Vgl. https://www.wegweiser-demenz.de/informationen/medizinischer-hintergrund-demenz/demenzerkrankung.html, abgerufen am 19. Februar 2019. Berenike Schröder spricht gar von 70 unterschiedlichen Demenzerkrankungen. Vgl. Berenike Schröder: »Den Tod überschreiben. Demenz in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart«, in: Roland Berbig / Richard Faber / Christof Müller-Busch (Hg.): Krankheit, Sterben und Tod im Leben und Schreiben europäischer Schriftsteller Bd. 2. Würzburg 2017, S. 287-301, hier S. 287. Vgl. Förstl / Lang (2011), S. 6. Die fortschreitende Verschlimmerung ist in 90 % der Demenz-Erkrankungen der Fall (nämlich bei primären Demenzformen). Vgl. https://www.demenz-sh.de/demenz/erscheinungsformen/, abgerufen am 21. Februar 2019.
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Grundsätzlich tritt das Demenzsyndrom in zwei verschiedenen Formen auf – in primären und sekundären Demenzformen:71 Während primäre Demenzen durch eine Erkrankung des Gehirns hervorgerufen werden und stetig voranschreiten, werden sekundäre Demenzen durch äußere Einflüsse oder andere, nicht-zerebrale Erkrankungen verursacht und können unter Umständen reversibel sein. In seltenen Fällen kommt es beispielsweise vor, dass ein Vitaminmangel, Vergiftungen oder auch gewisse Stoffwechselstörungen Demenzerkrankungen auslösen.72 Falls die Grunderkrankung nicht bereits durch eine längere Fehlbehandlung chronisch geworden ist, lassen sich sekundäre Demenzformen zuweilen umkehren.73 Bei rund 90 Prozent der Demenzerkrankungen handelt es sich allerdings um primäre Demenzformen, die irreversibel sind und auch durch Medikamente nicht wesentlich beeinflusst werden können.74 Gemäß ihrer jeweiligen Ursache (der sogenannten ›Ätiologie‹) werden die primären Demenzen in drei Kategorien unterteilt: in degenerative und vaskuläre Demenzen sowie Mischformen.75 Degenerative Demenzformen zeichnen sich durch einen fortschreitenden Abbau – einer Degeneration – von Nervenzellen im Hirn aus. Dadurch, dass im Laufe der Erkrankungen Nervenzellen schrumpfen oder ganz absterben, ist die Kommunikation zwischen den verbleibenden Hirnzellen gestört.76 Als häufigste degenerative Demenzform gilt die Alzheimer-Krankheit, bei der sogenannte senile Plaques und fibrilläre Ablagerungen schließlich zum Absterben
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Vgl. Hans-Christoph Diener et al. (Hg.): Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Herausgegeben von der Kommission ›Leitlinien‹ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Stuttgart 2008, S. 10. Vgl. Rupert Müller / Thomas Zilker: »Medikamenten-, Drogen- und Alkoholabhängigkeit«, in: Hans Förstl (Hg.): Demenz in Theorie und Praxis. Berlin / Heidelberg 2011, S. 211-232, hier S. 215. Vgl. z.B. Müller / Zilker (2011), S. 219 Vgl. Pantel / Haberstroh (2016), S. 5. Die Unterteilung in degenerative sowie vaskuläre Demenzen und Mischformen geht auf die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zurück, die sich – gemäß der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) – an den Ursachen der Erkrankungen orientieren. Vgl. Diener et al. (2008), S. 10ff. In der US-amerikanischen Forschung richtet sich die Einteilung der Demenz vorwiegend nach dem Ort der Schädigung im Gehirn (kortiale, bzw. subkortiale Demenzformen). Diese unterschiedliche Schwerpunktsetzung der Klassifikation und Terminologie, hat sich weiterhin vertieft. So ist im US-amerikanischen Krankheitsklassifikationssystem DCM-5 mittlerweile überhaupt nicht mehr von Demenz, sondern allgemeiner von ›neurokognitiven Störungen‹ die Rede. Vgl. Wolfgang Maier / Utako Birgit Barnikol: »Neurokognitive Störungen im DSM-5. Durchgreifende Änderungen in der Demenzdiagnostik«, in: Nervenarzt Bd. 85, H. 5 (2014), S. 564-570. Zur Degeneration der Hirnzellen im Zuge von Alzheimer-Demenz vgl. Förstl / Kurz / Hartmann (2011), S. 61: »Synapsen- und Neuronenfunktion sind unmittelbar entscheidend für die intellektuelle Leistung. Dementsprechend eng sind die Korrelationen zwischen reduzierter Synapsendichte und abnehmender Testleistung bzw. zunehmendem Demenzstadium.«
Einleitender Teil
und zur Auflösung von Gehirnzellen beitragen.77 Das Krankheitsbild ist erstmals 1906 durch den namensgebenden Psychiater und Neuropathologen Alois Alzheimer beschrieben worden.78 Dessen Erkenntnisse bezogen sich auf eine Patientin, die bereits mit 51 Jahren an dauerhaften kognitiven Einbußen litt.79 Aufgrund dieses ersten Befunds unterschied man lange Zeit zwischen präsenilen und senilen Alzheimer-Erkrankungen (in ihrer häufigsten Form tritt Alzheimer nicht bei jüngeren, sondern bei Patienten auf, die das 65. Lebensjahr überschritten haben).80 Mittlerweile werden die beiden Erscheinungsformen als zwei Prozesse derselben Krankheit gewertet, wobei das breite Spektrum unter dem Begriff ›Morbus Alzheimer‹ oder auch ›Alzheimer-Krankheit‹ gefasst wird.81 Da es sich bei der AlzheimerKrankheit um die bekannteste Form der Demenz handelt, wird die Krankheitsbezeichnung umgangssprachlich oft synonym für den Oberbegriff ›Demenz‹ verwendet. Aufgrund dieser terminologischen Unschärfe muss an dieser Stelle betont werden, dass in dieser Arbeit nicht allein Darstellungen der Alzheimer-Krankheit behandelt werden. Vielmehr basiert die Analyse auf dem weitergefassten Oberbegriff des Demenzsyndroms und behandelt literarische Darstellungen verschiedener Demenzformen.82 Diese weitergefasste Betrachtungsweise schließt auch vaskuläre (gefäßbedingte) Demenzformen ein. Solche Demenzleiden werden durch Durchblutungsstörungen im Hirn ausgelöst, die wiederum zum Abbau von Nervenzellen führen. Hierfür können zum Beispiel mehrere, kleine Hirninfarkte verantwortlich sein. Ähnlich 77
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Zur Verbreitung von Alzheimer-Demenz vgl. Bruno Dubois / Gaetane Picard / Mari Sarazin: »Early detection of Alzheimer’s disease: new diagnostic criteria«, in: Dialogues in Clinical Neuroscience Bd. 11 (2009), S. 135-139. Weitere neurodegenerative Demenzformen neben der Alzheimer-Krankheit sind u.a. die Lewy-Körperchen-Demenz, Chorea Huntington, die PickKrankheit und Morbus Parkinson. Vgl. Adolf Weindl: »Parkinson Plus / Demenz mit LewyKörperchen, Chorea Huntington und andere Demenzen bei Basalganglienerkrankungen«, in: Hans Förstl (Hg.): Demenz in Theorie und Praxis. Berlin / Heidelberg 2011, S. 113-144. Alois Alzheimer hatte seine Erkenntnisse zur Patientin ›Auguste D.‹ zunächst in einem Vortrag auf der Versammlung Südwestdeutscher Irrenärzte in Tübingen im November 1906 vorgetragen und schließlich in einem Artikel im Jahr 1907 veröffentlicht. Alois Alzheimer: »Über eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde«, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin (1907), S. 146-148. Einen komprimierten Überblick über Alois Alzheimer und dessen Erkenntnisse bietet Anne Eckert: »Alois Alzheimer und die Alzheimer Krankheit«, in: Pharmazie in unserer Zeit Bd. 31, H. 4 (2002), S. 356-360. Vgl. Förstl / Kurz / Hartmann (2011), S. 57. Die Veränderung der Krankheitskonzepte (z.B. das der ›präsenilen‹ und ›senilen AlzheimerDemenz‹) und die generellen Entwicklungen der Demenz-Forschung sind nachzulesen bei Axel Karenberger / Hans Förstl: »Geschichte der Demenz und der Antidementiva«, in: Hans Förstl (Hg.): Antidementiva. München 2003, S. 5-52. Vgl. Hans Förstl / Alexander Kurz / Tobias Hartmann: »Alzheimer-Demenz«, in: Hans Förstl (Hg.): Demenz in Theorie und Praxis. Berlin / Heidelberg 2011, S. 47-72, hier S. 48.
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wie im Fall von degenerativen Demenzerkrankungen sterben dabei Gehirnzellen ab, die aufgrund verengter oder gar verstopfter Gefäße nicht mehr ausreichend durchblutet werden.83 Weil sich die Symptome der vaskulären Demenz mit Krankheitszeichen von degenerativen Erkrankungen überlappen, gestaltet sich eine eindeutige Diagnostik oftmals schwierig. Hinzu kommt, dass bei den Betroffenen mit zunehmendem Alter Mischformen von degenerativen und vaskulären Demenzen auftreten.84 Obwohl die Alzheimer-Krankheit gemeinhin als häufigste Demenzform gilt, finden sich weitaus mehr Demenzen mit gemischten neurodegenerativen und vaskulären Hirnveränderungen, sodass eine strikte Abgrenzung zwischen den Krankheitsbildern kaum möglich ist.85
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Neben solchen Mikroinfarkten, zählt ferner die sogenannte Binswanger-Krankheit zu den vaskulären Demenzformen. Vgl. Dieter Volc: »Kennen Sie Binswanger?«, in: Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie Bd. 3, H. 2 (2002), S. 59-62. Vgl. Pantel / Haberstroh (2016), S. 5. Zu literarischen Selbstzeugnissen vgl. Zeisberg (2017b), S. 105. Vgl. Hans Förstl / Christoph Lang: »Was ist Demenz?«, in: Hans Förstl (Hg.): Demenz in Theorie und Praxis. Berlin / Heidelberg 2011, S. 8. Zur Vertiefung vgl. Carol Brayne / Paul Ince / Julia Zaccai: »Population-based neuropathological studies of dementia: design, methods and areas of investigation – a systematic review«, in: BMC Neurology Bd. 6, H. 1 (2006), S. 2.
Textanalysen
1. Das demente Ich
Mit dem Wissen um die Symptomatik und den Verlauf des Demenz-Syndroms, stellt sich die Frage, welches Selbstkonzept ein Demenzkranker für sich entwerfen kann,1 der das Wissen und die Wahrnehmung der eigenen Person, der persönlichen Eigenschaften, Fähigkeiten und üblichen Verhaltensweisen durch seine Erkrankung sukzessive einbüßt? In welcher Form nehmen Betroffene sich selbst und ihre Krankheit wahr, welche Wünsche und Bedürfnisse hegen sie? Diese offenen Fragen bezüglich des persönlichen Empfindens eines Demenzkranken haben eine vielfältige künstlerische Auseinandersetzung angeregt: Filme, Theaterstücke, Dramen, Gedichte und Comics behandeln den verlustreichen Krankheitsprozess und die damit einhergehende Krise des kranken Subjekts.2 Eine spezifisch literarische Form dieser Auseinandersetzung stellen fiktionale Innenschauen der Krankheit dar,3 die die vermeintliche Realität und das Selbstbild einer dementen Figur imaginieren. Im folgenden Kapitel werden diese hoch artifiziellen Demenz-Innenschauen hinsichtlich ihrer spezifischen Gestaltungsformen untersucht. Dabei stellt sich die Frage, auf welche Weise die Krankheit aus Sicht eines Betroffenen erzählt werden kann, wenn dieser bereits unter den Symptomen des Sprachverlusts und der -verwirrung leidet und dabei zu schwer verständlichen Sprachschöpfungen – »einer makabren Poesie von Ersatzwörtern« – greift.4
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Anders als der Begriff ›Identität‹, der eine völlige Übereinstimmung vom individuellen Selbstverständnis und der Außenwahrnehmung bedeutet, lassen die Ausdrücke ›Selbstkonzept‹ oder ›Selbstbild‹ offen, ob das eigene Bild mit der Realität übereinstimmt. Vgl. Nina Janich / Christiane Thim-Mabrey: Sprachidentität – Identität durch Sprache. Tübingen 2003, S. 1. Zur breiten künstlerischen Auseinandersetzung vgl. die im Anhang dieser Arbeit beigefügte Liste über Demenz in den Künsten. Vgl. Anhang, 5. Tatsächlich sind nur wenige Demenz-Texte aus Sicht der Kranken selbst geschildert. Wie Verena Wetzstein bemerkt, behandeln vor allem frühe Krankheitserzählungen aus den 1990er Jahren die Innensicht der Kranken. In der Folge entstehen hauptsächlich Generations-, bzw. Ehenarrative, die die Krankheit unter dem Aspekt der verschiedengearteten Beziehungen erzählen. Vgl. Wetzstein (2010), S. 173. Das Zitat geht auf die Autorin Katharina Hagena zurück, die sich in einem Interview mit dem Kiepenheuer und Witsch-Verlag zu ihrem Demenz-Text Der Geschmack von Apfelkernen
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Vergessen erzählen
1.1
Innere und äußere Erosion – Der Mensch erscheint im Holozän »Es müsste möglich sein, eine Pagode zu türmen aus Knäckebrot, nichts zu denken und keinen Donner zu hören, keinen Regen, kein Plätschern aus der Traufe, kein Gurgeln ums Haus. Vielleicht wird es nie eine Pagode, aber die Nacht vergeht.« (MH, S. 207)
Mit diesen recht kryptischen Zeilen beginnt Der Mensch erscheint im Holozän – ein Text, der zugleich als rezeptionsästhetische Zumutung und elaboriertes Spätwerk des Autors Max Frisch wahrgenommen worden ist.5 Diese widersprüchlich anmutende Einordnung lässt sich insbesondere auf die komplexen Gestaltungsformen zurückführen, die bereits beim flüchtigen Durchblättern zu Tage treten: Von einem Collageverfahren aufgebrochen und durch Einzel-sätze zergliedert, erweckt die Textstruktur einen vordergründig unzusammenhängenden Eindruck. Auch der grammatische Aufbau der Sätze erschwert – wie das obenstehende Zitat deutlich macht – durch unpersönliche Verben, Passivkonstruktionen und zahlreiche Negationen einen mühelosen Zugang zum Text.6 Auf diese Weise werden die letzten Wochen im Leben des dreiundsiebzigjährigen, verwitweten Herrn Geiser erzählt, der in einer kleinen Ortschaft im Tessin (vermutlich Ende der 1970er Jahre) lebt. Anhaltende Sommergewitter haben hier Überflutungen verursacht. Infolgedessen lösen sich Erdmassen und verschütten Zufahrtsstraßen, sodass kein Postauto mehr fahren kann. Auch haben Stromausfälle die Telefonverbindung unterbrochen. Von zunehmenden Gedächtnisverlusten beeinträchtigt, sieht Herr Geiser in dieser chaotischen Situation seinen Gesundheitszustand gespiegelt.7 Ähnlich
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äußert. Vgl. Katharina Hagena: www.kiwiverlag.de/magazin/interviews-und-portraets/iminterview-katharina-hagena/, abgerufen am 7. März 2019. Robert Cohen nennt die Erzählung – nicht ohne Anerkennung – eine »Zumutung der Spätmoderne«, die einen »veränderten Begriff von Belletristik« fordere. Robert Cohen: »Zumutung der Spätmoderne«, in: Weimarer Beiträge 54, H. 1 (2008), S. 541-556, hier S. 553. Ähnlich argumentiert Daniel Müller Nielaba, der die Erzählung als »rezeptionsästhetische Sackgasse« bezeichnet und moniert, dass die Qualität der Erzählung lange Zeit von »biographische[n] Fehllektüren« überlagert worden sei. Daniel Müller Nielaba et al.: »Es bleibt nichts als Lesen«, in: Ders. et al. (Hg.): ›Man will werden, nicht gewesen sein.‹ Zur Aktualität Max Frischs. Zürich 2012, S. 7-14, hier S. 13. Zum ungewöhnlichen Wortgebrauch und Satzstellungen in dieser Erzählung vgl. Karlheinz Rossbach: »Lesevorgänge: Zu Max Frischs Erzählung ›Der Mensch erscheint im Holozän‹«, in: Paul Michael Lützeler et al. (Hg.): Zeitgenossenschaft. Zur deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1987, S. 252-265. Diese Parallelisierung von Außen- und Innenwelt werden besonders dann sichtbar, wenn Geiser von der eingestürzten Trockenmauer und dem Geröll in seinem Gemüsebeet spricht. Dieser (kleine) Erosionsprozess wird von ihm in Verbindung mit seinen Gedächtnisverlusten gebracht und dementsprechend als beunruhigendes Vorzeichen empfunden. Vgl. MH, S. 232.
1. Das demente Ich
wie die von Schlammlawinen und Geröll bedeckte Landschaft scheint sein Gedächtnis gewissermaßen zu verstopfen und zu erodieren. Um dem äußeren wie inneren ›Erosionsprozess‹ entgegenzuwirken, sammelt Geiser Wissen über Vorgänge wie etwa Eiszeiten, Sintfluten oder Blitzschläge. Er heftet zunächst handgeschriebene Zettel, später Ausschnitte aus Lexika und Sachbüchern an seine Wohnzimmerwände, denn »Wissen beruhigt« (MH, S. 215). Als seine Hilflosigkeit gegenüber den Symptomen zunimmt, bricht er schließlich zu einer beschwerlichen (und gefährlichen) Wanderung nach Basel auf – ein Unterfangen, das missglückt. Nach Stunden kräftezehrenden Aufstiegs kehrt Geiser wieder um. Hatte er sich zunächst zweifelnd gefragt, »Was soll Herr Geiser in Basel?« (MH, S. 273), wiederholt er den Satz schließlich fast entrüstet: »Was soll Herr Geiser in Basel!« (S. 275). Der Ausbruch scheint ihm müßig. Wieder zu Hause angekommen, erleidet er – vermutlich in Folge seines beschwerlichen Fußmarsches – einen Schlaganfall. Als seine Tochter ihm aus Basel zur Hilfe kommt, ist Geiser schon stark beeinträchtigt und verstirbt offenbar nach kurzer Zeit an einem weiteren Hirnschlag.
1.1.1
Greisen-Avantgardismus?
Seitdem die Erzählung in ihrer endgültigen Form im Jahr 1979 erschienen ist, behauptet die literaturwissenschaftliche Forschung immer wieder, der Text sei von Kritikern, Wissenschaftlern wie Lesern stets geringschätzig beurteilt worden.8 Eine Untersuchung der Sekundärliteratur zeigt jedoch, dass es sich bei dieser Einordnung um eine Übertreibung handelt: Die Erzählung stößt schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung auf eine überwiegend positive Resonanz. Kritische Stimmen finden sich höchstens in den überregionalen Feuilletons. Diese bemängeln Frischs veränderte Schreibweise, die im Vergleich zu vorherigen Texten stark verknappt worden sei.9 Zu Beginn der 1980er Jahre erscheinen jedoch immer mehr wissenschaftliche Artikel, die die Erzählung als herausragendes Spätwerk des Autors einstufen. Zu diesen frühen Sekundärtexten zählen unter anderem die gewinnbringenden Untersuchungen von Michael Butler und Gertrude Bauer Pickar aus dem Jahr 1983.10 Neben diesen viel rezipierten Artikeln leistet
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Vgl. z.B. Rémy Charbon: »Zeit und Raum, Zeit-Raum in Max Frischs Erzählung ›Der Mensch erscheint im Holozän‹«, in: Dariusz Komorowski (Hg.): Jenseits von Frisch und Dürrenmatt. Raumgestaltung in der gegenwärtigen Deutschschweizer Literatur. Würzburg 2009, S. 15-24, hier S. 15. Insbesondere werden die vermeintlich reduktionistische Schreibweise und die stagnierende Handlung kritisiert. So bemängelt ein Rezensent, dass von der Erzählung eine »lähmende, künstliche Windstille« ausginge. Vgl. Benjamin Henrichs: »Die Zukunft gehört der Angst«, in: Die Zeit, 13.2.1981. Gertrud Bauer Pickar: »Es wird nie eine Pagode. Frischs ›Der Mensch erscheint im Holozän‹«, in: Seminar Bd. 19, H. 1 (1983), S. 33-56; Michael Butler: »Die Dämonen an die Wand malen«, in: Text und Kritik Bd. 47 / 48 (1983), S. 88-107. Diese Analysen beziehen sich auf kürzere, aber
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jedoch insbesondere Karlheinz Rossbachs Studie einen zentralen Forschungsbeitrag, indem eine detaillierte Analyse der Stilmerkmale und der Collagetechnik vorgenommen wird und die besondere Rolle des »Lesers als Mitschaffende[n]« Erwähnung findet.11 Diese Einzelstudien haben den Boden für weitere Reflexionen bereitet, die jedoch mit größerer Verzögerung erst nach der Jahrtausendwende entstehen. Während die Erzählung im Vergleich zu anderen Texten Frischs in den 1990er Jahre verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit erfährt (noch im Jahr 2002 gilt Der Mensch erscheint im Holozän deshalb als »unentdeckte Erzählung«),12 setzt seit Mitte der Nullerjahre eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung ein. Diese Forschungsbeiträge bewerten den Text überwiegend als spätmoderne Erzählung, deren Qualität in der komplexen Schreibweise und dem Collageverfahren begründet liegt. Eben diese Erzählstrategien, aber auch die vielschichtige Motivik zeugten vom »Greisen-Avantgardismus«13 des Autors, dessen Erzählverfahren in Der Mensch erscheint im Holozän den Übergang der literarischen Moderne zur Postmoderne markiere.14 Neben diesen positiven Resonanzen äußern Kritiker und Literaturwissenschaftler jedoch vereinzelt ihr Befremden gegenüber den narrativen Strategien, wobei sie sich häufig auf Marcel Reich-Ranickis Kritik berufen. Dieser bemängelt an der Erzählung: »Schon der Titel [Der Mensch erscheint im Holozän] mißfiel mir, ich war verwundert und verärgert. Mir war sofort klar, dass ich über dieses Buch nicht schreiben woll-
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ebenso stichhaltige Artikel, die bereits in den ausgehenden 1970er Jahren erschienen sind: Vgl. Jürgen Wallmann: »Max Frisch. ›Der Mensch erscheint im Holozän‹«, in: Literatur und Kritik Bd. 138 / 139 (1979), S. 504-505; Rainald Maria Goetz: »Alter ohne Revolte. Max Frischs neue Erzählung.«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken Bd. 374, H. 7 (1979), S. 914-918. Rossbach (1987), S. 254. Vgl. Gerhard Kaiser: »Endspiel im Tessin. Max Frischs unentdeckte Erzählung ›Der Mensch erscheint im Holozän‹«, in: Schweizer Monatshefte für Politik, Wirtschaft, Kultur Bd. 82 / 83 (2002 / 2003), S. 46-52. Sowohl Robert Cohen als auch Sabine Schneider berufen sich auf diesen von Thomas Mann geprägten Begriff. Vgl. Cohen (2008), S. 542. Sabine Schneider: »Stille Katastrophen«, in: Daniel Müller Nielaba et al. (Hg.): ›Man will werden nicht gewesen sein.‹ Zur Aktualität Max Frischs. Zürich 2012, S. 229-246, hier S. 233. Den postmodernen Charakter der Erzählung betonen u.a. folgende Beiträge: Tamara Evans: »Lurch und Maßliebchen. Moderne und postmoderne Bestandsaufnahmen in Max Frischs ›Der Mensch erscheint im Holozän‹ und Gerhart Meiers, Baur und Bindschädler‹«, in: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik Bd. 38 / 39 (1994), S. 353-368, hier S. 368; Cohen (2008), S. 552; Sophie Bunge: »›Der Mensch bleibt ein Laie.‹ (Post-)Kantische Auseinandersetzungen in Max Frischs ›Der Mensch erscheint im Holozän‹«, in: Text und Kritik Bd. 47 / 48 (2013), S. 162171, hier S. 164.
1. Das demente Ich
te. Sosehr mich sein Thema interessierte, so empfand ich es doch als fremd, als mühsam präpariert.«15 Auch wenn die Kritik überspitzt erscheinen mag (wie üblich sieht Reich-Ranicki die vermeintlichen Schwächen des Texts als persönlichen Affront an), ist der Einwand, die Erzählung wirke »mühsam präpariert«, nicht ganz von der Hand zu weisen. In uneinheitlich lange Passagen zergliedert, erscheint die Textoberfläche bereits zu Beginn der Erzählung gewissermaßen ›uneben‹. Zahlreiche Aufzählungen und durch Absätze isolierte Einzelsätze unterbrechen den Textfluss. Insbesondere sticht jedoch das eingefügte Material aus Lexika und Sachbüchern, Bibelzitaten und handschriftlichen Notizen heraus. Als zentraler Beitrag, der eine umfassende Analyse dieser typologischen Gestaltung leistet, gilt Robert Cohens Artikel aus dem Jahr 2008. Auch er nennt Frischs Erzählverfahren eine »Zumutung der Spätmoderne«, die der Leser, allerdings »wenn auch nicht ohne Anstrengungen«, ertragen müsse.16 Neben dieser Analyse muss schließlich das germanistische Jahrbuch Limbus erwähnt werden, dessen 2015 erschienene Ausgabe sich dem Thema ›Altern‹ zuwendet. Hierin behandeln gleich drei Artikel Frischs Erzählung, indem sie den Text unter den Aspekten der Bedeutsamkeit und Endlichkeit beleuchten oder die Archivierungs- und Erosionsprozesse innerhalb der Erzählung herausarbeiten.17 Obwohl diese Untersuchungen Der Mensch erscheint im Holozän als Altersdarstellung einordnen, bleiben dabei zentrale Themen wie Demenz und Krankheit unerwähnt. Die vorliegende Arbeit wird diese bisher ausgeblendete Perspektive auf die Erzählung offenlegen, indem sie die narrative Gestaltung der Erzählung im Kontext der Demenz beleuchten: Einerseits geht das anschließende Kapitel der Frage nach, auf welche Weise Frisch Themen wie Vergessen, Sprachlosigkeit und die Innensicht eines Demenz-Kranken literarisch umsetzt. Andererseits gilt es herauszuarbeiten, auf welche narrativen Traditionen der Text referiert und ob – und wenn ja, wie – er diese modifiziert.
1.1.2
»Offenbar fallen Hirnzellen aus« – Verkalkung und Altersblödsinn
In der Forschungsliteratur ist Geisers vergeblicher Kampf gegen den Verfall vorwiegend als »raffiniert ausgedehnte Metapher für das größere Schicksal der
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Marcel Reich-Ranicki: Max Frisch. Frankfurt a.M. 1994, S. 106. Eine eingehende Analyse liefern z.B. Bunge (2013), Cohen (2008) oder Barbara Schmenck: »Entropie der Archive«, in: Ralph Köhnen, Sebastian Scholz: Die Medialität des Traumas. Frankfurt a.M. 2006, S. 175-191. Juliana Voorgang: »›Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses.‹ Anthropologische und archäologische Archivierungen in Max Frischs ›Der Mensch erscheint im Holozän‹«, in: Limbus. Australisches Jahrbuch für germanistische Literatur und Kulturwissenschaften Bd. 8 (2015), S. 13-32.
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Vergessen erzählen
Menschheit« gedeutet worden.18 Nur wenige Aufsätze liegen vor, die Frischs Erzählung konsequent als tragisches Einzelschicksal oder gar als Krankheitsdarstellung lesen. Stattdessen wird der Gedächtnisverlust der Hauptfigur als die Folge eines normalen Alterungsprozesses verstanden, der jeden Menschen betrifft.19 Auch wenn der Begriff ›Demenz‹ nicht im Text fällt, sprechen jedoch mehrere Argumente dafür, dass es sich explizit um eine Krankheitsdarstellung handelt, die über die üblichen Begleiterscheinungen des Alters hinausgeht. Zunächst legen inhaltliche Aspekte nahe, dass der Protagonist an einem komplexen Störungsmuster leidet: Im Laufe der Erzählung büßt Herr Geiser sein zeitliches und räumliches Orientierungsvermögen ein, weist Gedächtnis- und Kognitionsstörungen auf und verhält sich auf eine für den Leser nicht nachvollziehbare Weise (wenn er beispielsweise seine Katze brät [vgl. MH, S. 287]). Beunruhigt stellt er selbst fest: »Offenbar fallen Hirnzellen aus.« (MH, S. 232) Diese drastische Verschlechterung seines Gesundheitszustands bis hin zur Pflegebedürftigkeit wird im Text in Zusammenhang mit mehreren Schlaganfällen gebracht, was mit dem Krankheitsbild einer vaskulären Demenzform übereingebracht werden könnte.20 Geiser selbst ordnet die Symptome jedoch schlicht als Prozess der »Verblödung« ein (vgl. MH, S. 224).21 Eine solche Bezeichnung wirkt aus heutiger Perspektive abwertend und ungenau, da der Begriff allein auf die Intelligenzminderung des Betroffenen abhebt und diese als altersbedingte Regression, nicht aber als Krankheitsfolge einzustufen scheint. Unser heutiges Verständnis des Begriffs ›Verblödung‹ weicht allerdings von früheren Bedeutungsinhalten ab. Ein Hinweis auf eine andere Terminologie und Kategorisierung von Gedächtnisschwäche lässt sich bereits innerhalb der Erzählung ausmachen: Geiser schneidet – von seinen zunehmenden Erinnerungseinbußen beunruhigt – einen Lexikonbeitrag aus der 1953 erschienenen Ausgabe des Großen Brockhaus aus. Dieser lautet:
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Butler (1983), S. 103. Juliane Voorgang spricht beispielsweise von »altersbedingte[r] Amnesie«; Voorgang (2015), S. 14. Rainald Maria Goetz bescheinigt Geiser eine »Altersatrophie des Hirns«, Goetz (1979) S. 916. Bei der vaskulären Demenz handelt es sich um eine gefäßbedingte Erkrankung des Gehirns, die durch mehrere kleine Schlaganfälle ausgelöst werden kann. Vgl. Olga Todica et al.: »Vaskuläre Demenz«, in: Dirk Hermann et al. (Hg.): Vaskuläre Neurologie. Stuttgart 2010, S. 269276, hier S. 269. Ähnliche Bezeichnungen für altersbedingte Gedächtniseinbußen finden sich auch in Frischs Tagebuch, das im Zeitraum von 1966 bis 1971 verfasst worden ist. Hierin setzt sich der Autor mit der Furcht vor dem Alter, insbesondere aber mit der Angst vor einem eingeschränkten Denkvermögen auseinander. Dabei fällt nie der Begriff Demenz, stattdessen ist von »Verkalkung«, »Vergreisung«, »Alterseigensinn«, »Senilität« oder eben von »Verblödung« die Rede. Diese Begrifflichkeiten fallen vor allem in den Passagen über die fiktive »Vereinigung Freitod«. Vgl. Max Frisch: Tagebuch 1966-1971. Frankfurt a.M. 1972, S. 101f. oder z.B. auch S. 115f.
1. Das demente Ich
»Gedächtnisschwäche ist die Abnahme der Fähigkeit, sich an frühere Erlebnisse zu erinnern (Erinnerungsschwäche). In der Psychopathologie unterscheidet man von der Gedächtnisschwäche die Merkschwäche, die Abnahme der Fähigkeit, neue Eindrücke dem Altbesitz des G. einzuverleiben. Gedächtnis- und Merkschwäche sind nur dem Grade nach verschieden. Bei den Alterskrankheiten des Gehirns (Altersblödsinn, Gehirn-Arterienverkalkung) und anderen Gehirnkrankheiten nimmt zuerst die Merkfähigkeit, dann das G. ab.« (MH, S. 237f.; Hervorhebungen im Original) Entgegen dem heutigen Verständnis dieser Begriffe benennt der Lexikonartikel ›Altersblödsinn‹ und ›Verkalkung‹ als zerebrale (Alters-)Krankheiten. Während der Ausdruck ›Altersblödsinn‹ heute als pejorativ empfunden wird, fungierte er bis in die späten 1980er Jahre als Synonym für senile Demenz und wurde lange Zeit in psychiatrischen Diagnosen verwendet.22 Wie die Bezeichnung ›Schwachsinn‹ gilt ›Altersblödsinn‹ mittlerweile als überholter, unpräziser Terminus. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff ›Verkalkung‹, der bis in die 1990er Jahre als medizinischer Fachausdruck verwendet worden ist.23 Hierunter versteht man die krankhafte Verengung von Blutgefäßen durch vermeintlich kalkhaltige Ablagerungen – sogenannte atherosklerotische Plaques –, die vor allem altersbedingt auftreten, zu Infarkten und infolgedessen auch zu vaskulärer Demenz führen können. Der Ausdruck ›Arterienverkalkung‹ gilt mittlerweile als veraltet, stattdessen hat sich für das Krankheitsbild der Terminus ›Arterioskleros‹ etabliert.24 Wie dieser etymologische Abriss zeigen konnte, handelt es sich bei den in Frischs Erzählung verwendeten Begriffen ›Altersblödsinn‹ und ›Verkalkung‹ durchaus um medizinhistorische Krankheitsbezeichnungen, die in den ausgehenden 1970er Jahren synonym für Demenz verwendet worden sind. Eine solche begriffliche Herleitung lässt erkennen, dass der Text als Krankheitsdarstellung angelegt worden ist. Eine ›Figurendiagnose‹ im engeren Sinne ermöglicht dieses Vorgehen freilich nicht. Für die vorliegende Untersuchung ist jedoch weniger von Interesse, ob Herr Geiser eindeutig als demenzkranke Figur angelegt ist, oder an einem vergleichbaren Störungsmuster leidet. Vielmehr ist entscheidend, auf welche Weise die Beeinträchtigungen der Figur auf die Textstruktur übertragen worden sind und wie sie inhaltlich begründet werden. 22 23
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Vgl. Alexander Pilcz: »Der Altersblödsinn«, in: Ders.: Die Anfangsstadien der wichtigsten Geisteskrankheiten. Wien 1928, S. 19-25. Noch Ende der 1990er Jahre wird der Begriff ›Verkalkung‹ in der medizinischen Forschung verwendet. Vgl. Peter Lanzer: »Gefäßverkalkung: Eine behandelbare genetische Krankheit?«, in: Deutsches Ärzteblatt Bd. 96 (1999), S. 34-35. Medizinische Forschungen haben gezeigt, dass atherosklerotische Plaques nicht wie ursprünglich angenommen Kalk (Calciumcarbonat), sondern Calciumphosphat enthalten, weshalb der Begriff Arterienverkalkung irreführend ist. Vgl. Herbert Renz-Polster / Steffen Krautzig (Hg.): Basislehrbuch Innere Medizin. Amsterdam 2008, S. 218.
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Vergessen erzählen
1.1.3
Collagen, Lücken und Listen
1.1.3.1
Das Druckbild
Da der Inhalt der Sätze in Der Mensch erscheint im Holozän (zumindest passagenweise) unzusammenhängend und verrätselt erscheint, rückt die Körperlichkeit des Druckbilds, der Wörter, Silben und Laute verstärkt in den Vordergrund. Schon beim ersten Durchblättern zeichnet sich ab, dass das zerklüftete Druckbild semantisch aufgeladen ist: Absätze, die sich als weiße Lücken auf nahezu jeder Seite manifestieren, unterteilen die Textoberfläche in Passagen, die en bloc verfasst sind, und freistehende, oft elliptische Einzelsätze, sodass der Satzspiegel zergliedert wirkt.25 Der daraus resultierende, sprunghafte Leseprozess wird zusätzlich durch einen inhaltlichen Mangel an Kohärenz erschwert: Weder die längeren Textstellen noch die isolierten Einzelsätze lassen eindeutige Rückschlüsse auf das Geschehen zu, sondern bringen meist assoziative Gedanken und Fragen des Protagonisten zum Ausdruck. Diese Gedankengänge müssen, wie das untenstehende Zitat zeigt, nicht unbedingt in einem erkennbaren Zusammenhang mit dem Vorhergesagten stehen: »Eine kleine Wohnung in Basel wäre bequemer. Nicht um Schnaps zu trinken, sondern um Streichhölzer zu kaufen, Streichhölzer auf Vorrat, ist Herr Geiser ins nächste Dorf gegangen und hat in der Pinte vergessen, Streichhölzer zu kaufen. Offenbar fallen Hirnzellen aus. Bedenklicher als der Einsturz der Trockenmauer wäre ein Riß durchs Gelände, ein vorerst schmaler Riß, handbreit, aber ein Riß.« (MH, S. 232) Diese Schreibweise hat einen nahezu performativen Charakter. Schließlich obliegt es dem Leser, aus den vereinzelten Informationen eine zusammenhängende Handlung zu konstruieren, was im Laufe der Erzählung durch die immer bruchstückhaftere Erzählweise zunehmend erschwert wird. Insbesondere nach dem Schlaganfall des Protagonisten mehren sich unzusammenhängende Einzelsätze; allein eine längere Passage über den tödlichen Kletterunfall von Geisers Bruder fällt aus diesem Muster heraus (vgl. MH, S. 289-294). Bei dieser Schilderung handelt es sich um eine Analepse, deren vollständige Überlieferung mit Geisers partiell intaktem
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Zur Zergliederung des Satzspiegels und Funktion der Liste innerhalb der Erzählung vgl. Letizia Malottke: »Lücken, Listen, Lexikonausschnitte. Die literarische Demenz-Darstellung in Max Frischs ›Der Mensch erscheint im Holozän‹«, in: Daniela Ringkamp / Sara Strauß / Leonie Süwolto (Hg.):Demenz und Subjektivität. Ästhetische, literarische und philosophische Perspektiven. Frankfurt a.M. et al. 2017, S. 137-156.
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Langzeitgedächtnis erklärt werden kann.26 Die Erinnerung scheint von der Krankheit unangetastet zu sein, weil sie tief im Gedächtnis verankert ist.27 Auf diese Analepse folgen die letzten Gedankenfetzen des Protagonisten, die durch größere Leerstellen im Druckbild auseinandergerückt sind. Eine derartige graphische Auflösung lässt darauf schließen, dass der Gedankenbericht nicht mehr kontinuierlich dargestellt werden kann. So gewährt das Druckbild dem Leser einen Einblick in unausgesprochene, mentale Vorgänge der Figur: Die zunehmende Zergliederung des Satzspiegels lässt den stockenden Denkprozess und die voranschreitende Krankheit, die Geiser zu ignorieren sucht, auf typographischer Ebene erkennen.28 Eine solche semantisch aufgeladene Schreibweise erinnert an lyrische Formsprachen, die sich in einem ähnlichen »Spannungsfeld zwischen dem Ausgesprochenen und dem Unausgesprochenen«29 befinden und deshalb eines vergleichbar hohen Interpretationsaufwands – auch hinsichtlich des Druckbilds – bedürfen.30 Die Nähe zur Lyrik drückt sich darüber hinaus in den zahlreichen Aufzählungen und durchnummerierten Listen aus, die entweder typographisch angepasst (also als Gedankenbericht) verfasst worden sind oder in Form von Faksimiles handschriftlicher Notizen Eingang in den Text gefunden haben und das Druckbild strukturieren.31 Solche Aufzählungen und Reihungen stehen in einer langen
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Zum Langzeitgedächtnis bei Demenz-Erkrankungen vgl. Pasquale Calabrese / Christoph Lang / Hans Förstl: »Gedächtnisfunktionen und Gedächtnisstrukturen«, in: Hans Förstl (Hg.): Demenz in Theorie und Praxis. Berlin / Heidelberg 2011, S. 11-24, hier S. 19ff. Vgl. Voorgang (2015), S. 22. Einige Passagen deuten darauf hin, dass Geiser versucht, seine Gedächtnisschwächen vor Außenstehenden zu verheimlichen. Als seine Nachbarn beispielsweise besorgt bei ihm klingeln, verscheucht er sie und schließt die Fensterläden, damit niemand seine Zettelwand sehen kann; vgl. MH, S. 288. Der Gedankenbericht zeigt außerdem, dass Geiser auch vor sich selbst kaum auszusprechen vermag, was er befürchtet. Nur einzelne Sätze lassen seine große Beunruhigung und das Wissen um seine Situation erkennen; vgl. MH, S. 232. Geert Crauwels: »Über die sprachlose Sprache. Modi memorandi und Collage als Kompositionstechnik in ›Der Mensch erscheint im Holozän‹«, in: Daniel de Vin (Hg.): Max Frisch. Citoyen und Poet. Göttingen 2011, 114-115. Der Unterschied zwischen lyrischer Formsprache und epischen, bzw. dramatischen Texten besteht (wenn auch graduell) in der sprachlichen Ökonomie und der semantischen Dichte von Lyrik. Vgl. Jürgen Brokoff: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde. Göttingen 2010, S. 27. Um den missverständlichen Term »Faksimile« zu vermeiden, verwendet Robert Cohen für die Collageelemente den aus der Filmtechnik stammenden Begriff »Inserts«. Vgl. Cohen (2008), S. 545. Dieser Ausdruck beschreibt zwar ein vergleichbares Phänomen, wirkt aber etwas bemüht und ist weniger geläufig. Sabine Schneider spricht in ihrem Artikel deshalb von »fiktiven Faksimiles«, um zu betonen, dass es sich keineswegs um Kopien echter Textausschnitte und Aufschriebe Geisers handelt. Vgl. Schneider (2012), S. 232. Diese Spezifizierung ist jedoch unnötig: Der Textlogik zufolge handelt es sich nicht etwa um eingefügte Kopien, sondern um tatsächliche Notizen und Ausschnitte des Protagonisten. Indem der Begriff »Faksimiles« ver-
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literarischen Tradition, die von lyrischen und epischen Texten der Antike über litaneienhafte Anrufungen in mittelalterlichen Schriften bis hin zu gegenwärtigen Texten reicht.32 Frisch greift auf diese Schreibweise zurück, indem er zahlreiche Reihungen, Abstufungen und durchnummerierte Listen in den Text einpasst und ihnen somit eine prominente Position innerhalb der Erzählung zukommen lässt. Bereits auf der zweiten Seite der Erzählung findet sich beispielsweise eine von Geiser erdachte Liste von insgesamt 16 unterschiedlich klingenden Donnerschlägen: »1. der einfache Knalldonner 2. der stotternde oder Koller-Donner, in der Regel nach einer längeren Stille, verteilt sich über das ganze Tal und kann Minuten lang dauern. 3. der Hall-Donner, schrill wie ein Hammerschlag auf ein loses Blech, das einen schwirrenden und flatternden Hall verbreitet, wobei der Hall lauter ist als der Schlag. […]« (MH, S. 208f.) Neben diesen vorgenommenen Klassifikationen, die durch Attribute und Kommentare ergänzt werden, erstellt Geiser weitere nummerierte Bestandsaufnahmen und Listen. Bei manchen Aufzählungen handelt es sich um Inventare, die beispielsweise einen Überblick über verbliebene Essensvorräte bieten. Andere Listen stellen Elemente zusammen, die von Geiser miteinander assoziiert werden oder ihm als (be-)merkenswert erscheinen. So reiht er folgende Erkenntnisse und Wissensfermente hintereinander auf: »Die Erde ist keine vollkommene Kugel Vulkane hat es im Tessin nie gegeben Die Fische schlafen nie Die Summe der Energie bleibt konstant Der Mensch gilt als das einzige Lebewesen mit einem gewissen Geschichtsbewusstsein Schlangen haben kein Gehör […] Seit wann gibt es Wörter? Das All weitet sich aus.« (MH, S. 238) Geiser notiert und gruppiert scheinbar zusammenhanglose Fakten und Gedanken, die er nicht vergessen möchte. Einzelne Sätze deuten sogar darauf hin, dass er im
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wendet wird, ordnet man diese Elemente bereits als vom Autor kopierte, arrangierte und zum Teil erfundene Dokumente ein. Poetische Listen sind seit der Antike fester Bestandteil der Rhetorik und wurden als literarisches Phänomen von der Forschung intensiv aufgearbeitet. Vgl. hierzu Sabine Mainberger: Die Kunst des Aufzählens: Elemente zu einer Poetik des Enumerativen. Berlin / New York 2003; Robert Belknap: The List. The Uses and Pleasures of Cataloguing. New Haven / London 2004; Umberto Eco: Vertigine della lista. Mailand 2009 [Die unendliche Liste. München 2009.]; Ilma Rakusa: Listen, Litaneien, Loops – zwischen poetischer Anrufung und Inventur. Tübingen 2016.
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Geiste permanent darüber Buch führt, was ihn umgibt, was vorhanden ist und was eben nicht mehr funktioniert oder verloren gegangen sein könnte. Vordergründig wenig bedeutsame Feststellungen wie, »Vergessen hat Herr Geiser die ThermosFlasche. […] Nicht vergessen hat Herr Geiser die Landkarte.« (MH, S. 268), lassen auf eine solche fortwährende Zustandsdokumentation schließen, die der Protagonist innerlich vornimmt.33 Die Aufzählungen und Kategorisierungen sind aber nicht nur eine bloße Marotte der Figur, sondern stehen in einem direkten Zusammenhang mit ihrer Demenz-Erkrankung.34 Zum einen dienen die Auflistungen als externer Wissensspeicher und erfüllen so eine mnemotechnische Funktion, denn: »Herr Geiser muss [.] eigenhändig auf einen Zettel schreiben, was er nicht vergessen will.« (MH, S. 221) Gleichzeitig vergewissert sich der Demente mithilfe der Aufzählungen seiner Selbst: Ähnlich dem lyrischen Ich in Günter Eichs Gedicht Inventur subsummiert Geiser mit seinen Listen, was ihm noch geblieben ist.35 Auf diese Weise verschafft sich die Figur Distanz sowie Überblick und erlangt – zumindest zeitweise – wieder Kontrolle über ihre Situation. Dabei dienen Listen als mögliche Hilfestellung, um »[…] die Welt – oder einen Ausschnitt davon – zu buchstabieren, gleichsam kompakte Schöpfungsmodelle zu erstellen; oder sie verstehen sich als Inventare, Resümees und Erinnerungsspeicher. Ihre Wirkung beruht darauf, dass sie rigorose Form (additive Aufzählung, klanglich-rhythmisches Wiederholungspattern) mit heterogenen Inhalten verbinden. Ordnung und Unordnung gehen hier eine aparte Synthese ein.« (Rakusa (2016), S. 13.) In Der Mensch erscheint im Holozän wird die Figur indirekt durch die zahlreichen Listen charakterisiert: So wirkt Geiser im Umgang mit seiner Krankheit buchhalterisch-sachlich, zugleich aber auch optimistisch. Schließlich scheint der Versuch, Informationen auszulagern, wo Wissen und Denkstrukturen verloren gehen,36 wie der sprichwörtliche Kampf gegen Windmühlen.37 Während die zahlreichen Listen 33 34 35 36
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Zu der ungewöhnlichen Wortstellung dieses Zitates vgl. Rossbach (1987), S. 256. Vgl. Malottke (2017a), S. 144. Vgl. Günter Eich: Inventur, in: Ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 1. Hg. von Axel Vieregg. Frankfurt a.M. 1991, S. 35-36. Zum Unterschied zwischen Information und Wissen vgl. z.B. Gideon Stiening: »Am ›Ungrund‹ oder: Was sind und zu welchem Ende studiert man ›Poetologien des Wissens‹?«, in: KulturPoetik Bd. 7, H. 2 (2007), S. 234-248. Oder Peter Burke: A Social History of Knowledge. Cambridge 2012. Auch lässt Geiser bei diesem Vorgehen außer Acht, dass nicht nur sein deklaratives Gedächtnis (also die Erinnerung an Fakten und Ereignisse) verloren geht, sondern ebenso sein prozedurales Gedächtnis, das Handlungsabläufe und Fertigkeiten umfasst, im Schwinden begriffen ist. Zur Unterscheidung von deklarativem und prozeduralem Gedächtnis vgl. Calabrese / Lang / Förstl (2011), S. 14
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zur Figurenzeichnung des Protagonisten beitragen, macht der zunehmend zergliederte Satzspiegel die voranschreitende Krankheit an der Textoberfläche sichtbar. Das Collageverfahren Geisers zähes Ringen mit der Krankheit wird nicht nur durch die typographische Gestaltung erkennbar. Vor allem das Collageverfahren führt die DemenzErkrankung vor Augen. Dieses narrative Verfahren ist zunächst inhaltlich motiviert: Um dem Gedächtnisverlust entgegenzuwirken, macht Geiser sich Notizen und schneidet Passagen, die ihm wichtig erscheinen, aus Sach- und Kinderbüchern, Lexika oder der Bibel aus: »Es genügt nicht, daß Herr Geiser in diesem oder jenem Buch mit seinem Kugelschreiber anstreicht, was wissenswert ist; schon eine Stunde später erinnert man sich nur noch ungenau; vor allem Namen und Daten prägen sich nicht ein; Herr Geiser muß es eigenhändig auf einen Zettel schreiben, was er nicht vergessen will, und die Zettel an die Wand heften, Reißnägel sind genug im Haus.« (MH, S. 221) Kurze Zeit später kommt er bereits zu der Einsicht: »Was schon gedruckt ist, nochmals abzuschreiben mit eigener Hand […], ist idiotisch. Warum nicht mit der Schere ausschneiden, was wissenswert ist und an die Wand gehört?« (MH, S. 234) Bei diesen Ausschnitten handelt es sich um authentische Buchzitate, die am Ende der Erzählung durch ein Quellenverzeichnis belegt werden (vgl. MH, S. 300). Die handschriftlichen Notizen sind fiktional und stammen aus der Feder des Autors, der sich überwiegend auf die zitierten Sachbücher bezieht. Eine Selektion dieser fiktionalen Notizen und Textausschnitte ist in Form von Collageelementen in die Erzählung eingepasst worden. Im Laufe des Texts finden sich über 70 Elemente, die teilweise thematisch aufeinander abgestimmt sind. Manche dieser zusammengestellten Informationen erwecken aber auch einen unsystematischen, zusammenhanglosen Eindruck (vgl. MH, S. 225). Im Gegensatz zu Montagetechniken, bei denen Zitate zwar wörtlich übernommen, aber an das übrige Druckbild angeglichen werden, sind die textfremden Elemente in Der Mensch erscheint im Holozän in ihrer scheinbar ursprünglichen Gestaltungsform eingearbeitet worden.38 Dabei sind nicht nur der exakte Wortlaut und Satzspiegel der Quellen übernommen worden, sondern auch die unterschiedliche Größe und Materialität der Ausschnitte markiert.39 Auf diese Weise heben sich die collagierten Elemente vom restlichen Druckbild aufgrund der unterschiedlich
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Vgl. Cohen (2008), S. 544. Zum Unterschied zwischen Collage und Montage vgl. Bettina Bannasch: Literatur und Collage – Literatur als Collage – Collagierte Literatur. Heidelberg 2018. Sabine Schneider spricht von einer »kruden Materialität« der Collageelemente, wobei das Zeigen dieser »Materialität, die Deixis, [.] an die Stelle der repräsentierenden Verarbeitung im Erzählen [tritt].« Schneider (2012), S. 232.
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gestalteten Typographie ab und zeichnen sich durch einen anders getönten – hellgrauen oder karierten – Hintergrund aus.40 Schnell wird deutlich, dass es sich bei dieser Art der deutlich kommunizierten Intertextualität nicht nur um eine überaus gründliche Zitierweise handelt, sondern die Neukontextualisierung und die Materialität der Faksimiles im Vordergrund stehen. Indem die Collageelemente in ihrer ursprünglichen Ikonizität belassen worden sind, stehen sie im Kontrast zum restlichen, artifiziell überformten Text und zersetzen ihn auf diese Weise wie Realitätssplitter.41 Demgemäß fungiert die Collage als Verfremdungseffekt, der die Geschlossenheit des Texts deutlich aufbricht und so nicht etwa den Realitätsgehalt, sondern die Künstlichkeit der Erzählung betont. Aufgrund dieses Erzählverfahrens erscheint der Text überaus elaboriert, wobei das aufwendige Collageverfahren den Erzählfortgang immer wieder unterbricht. Der Leser sieht sich aufgefordert, die verwirrenden, fragmentarischen Gedankengänge des Protagonisten durch den stockenden Leseprozess nachzuempfinden. Diese Fragmentierung, aber auch der Detailreichtum, die veralteten Schreibstile und überholten Wissensinhalte der Faksimiles setzen einen erhöhten Einsatz seitens des Lesers voraus: Selbst der beflissenste Rezipient wird sich schließlich im Laufe der Lektüre die Frage stellen, ob er jeden eng bedruckten Lexikonausschnitt, jeden Notizzettel en detail lesen muss, um der Erzählung folgen zu können. Unter dem Aspekt der Krankheitsdarstellung muss dieses Verfahren – wie mühsam seine Wirkung auch sein mag – als überzeugende narrative Strategie bewertet werden, mithilfe derer sich Frisch einer Wissenslücke, nämlich der Innenperspektive eines Demenz-Kranken, annähert. Im Gegensatz zu späteren Demenz-Narrativen bemüht sich Der Mensch erscheint im Holozän nicht um eine faktizistische Darstellung der Krankheit. Stattdessen stellt der Text den Versuch dar, das Thema Demenz ästhetisch zu wenden, indem Krankheitsfolgen, wie beispielsweise der Gedächtnisverlust und die daraus resultierende Identitätsproblematik des Betroffenen, in narrative Strukturen übersetzt werden. So illustriert die Collagetechnik auf erzähltechnischer Ebene die Fragmentierung des Gedächtnisses und die Zusammenhanglosigkeit einzelner Wissensfermente. Darüber hinaus ermöglichen sie eine Interpretation von Geisers eigentlich unausgesprochener Gefühlslage. Eine Zusammenschau aller Textausschnitte lässt den Verdacht aufkommen, dass es sich bei 40 41
Vgl. Malottke (2017a), S. 145. Der Begriff ›Realitätssplitter‹ steht in einer engen Beziehung zu dem Ausdruck ›Realitätseffekt‹, der auf den von Brigitta Krumrey herausgegebenen Sammelband zurückgeht. Vgl. Krumrey et al. (2014). Hierin wird zwischen Realitätseffekten und dem von Roland Barthes geprägten Begriff des L`effet de réel, zu Deutsch ›Wirklichkeitseffekt‹, unterschieden. Während Barthes davon ausgeht, dass Wirklichkeitseffekte eine Realitätsillusion schaffen, wohnen Realitätseffekten ein gewisses Stör-Potenzial inne, das eine augenfällige Heterogenität innerhalb des Texts bewirken kann. Vgl. Albert Meier: »Realitätsreferenz und Autorschaft«, in: Krumrey et al. (2014), S. 23-34, hier S. 30.
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den Zetteln und Aufschrieben nicht nur um eine bloße Merkhilfe handelt, die dem Kranken den Alltag erleichtert. Vielmehr dienen die Textfragmente Geiser für eine vermeintlich sachliche Betrachtungsweise, die einen Abstand zwischen ihn und den Inhalten schafft, denn »Wissen beruhigt.« (MH, S. 215) Da er sein Gedächtnis vor allem als Informationsspeicher begreift, der gewissermaßen ›undicht‹ ist, legt der Protagonist ein externes Depot an, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen, Sorgen auszulagern und wieder Kontrolle über sich selbst zu erlangen. Dabei hegt Geiser insgeheim die Hoffnung, dass das Wissen um die ihn betreffenden biologischen, geologischen oder medizinischen Fakten ihn vor eben diesen schützen könne. Ist die Zettelwand zunächst ein Bild für das Aufbegehren gegen den beginnenden Kontrollverlust, verkehrt sich die Wirkung jedoch bald in ihr Gegenteil. Verwirrt von der unübersichtlichen Zettelanordnung findet Herr Geiser die Informationen, die er sucht, nicht auf Anhieb (vgl. MH, S. 236f.). Bald muss er beide Hände benutzen, um Zettel, die sich aufgerollt haben, lesen zu können (ebd.). Außerdem erfordern die Prozesse des Ausschneidens und Aufklebens eine Auswahl, eine Beschränkung auf die wirklich bedeutenden Fakten, die Herrn Geiser schlichtweg überfordert. Durch sein System sieht er sich beispielsweise um die Informationen auf der Rückseite jedes Ausschnitts gebracht: »Was Herr Geiser nicht bedacht hat: Der Text auf der Rückseite, den Herrn Geiser erst bemerkt, nachdem er die Illustrationen auf der Vorderseite sorgsam ausgeschnitten hat, wäre vielleicht nicht minder aufschlußreich gewesen; nun ist dieser Text zerstückelt, unbrauchbar für die Zettelwand.« (MH, S. 280) Statt einer Gedächtnisstütze entsteht eine unüberschaubare Zettelwirtschaft. Ein bloßer Luftzug vermag, das fragile Gebilde zu zerstören, sodass sich die Merkhilfe zum Papierhaufen auf dem Teppichboden verwandelt. Diese inhaltliche »Zerstückelung der Zusammenhänge« wird durch das Collageverfahren auf der Textoberfläche wirkungsvoll abgebildet.42 Die Collageelemente zeugen jedoch nicht nur von Geisers Kontrollverlust, sondern lassen auf dessen Erklärungsansätze schließen.43 Im Laufe der Erzählung zeigt sich nämlich, dass es sich bei der Figur keineswegs um einen manischen Faktensammler handelt, der vollkommen willkürlich vorgeht.44 Vielmehr kristallisieren sich aus seiner Textauswahl zwei größere Themenbereiche heraus, die ihn
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Kaiser (2002 / 2003), S. 48. Vgl. Schneider (2012), S. 243f. In der Forschungsliteratur findet sich immer wieder die irrige Ansicht, Geiser sei ein verbissener Sammler, der kein Verständnis für das Wissen habe, was er zusammenträgt. Vgl. z.B. Vgl. Cohen (2008), S. 549; Sonja Arnold: Erzählte Erinnerung. Das autobiographische Gedächtnis im Prosawerk Max Frischs. Freiburg i.Br. 2012, S. 295.
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(neben verlustig gegangenem Schulwissen, wie etwa dem Goldenen Schnitt) interessieren. Die meisten Fragmente handeln von erdgeschichtlichen Vorgängen – geologischen und evolutionären Entwicklungen – sowie biblischen Katastrophendarstellungen (vgl. MH, S. 218f.). In der Zusammenschau dieser Collageelemente wird deutlich, was den Protagonisten tatsächlich umtreibt: Während Geiser die Sorge um sein schwindendes Gedächtnis nur vereinzelt verbalisiert,45 zeugen die Faksimiles von einer grundsätzlichen Beschäftigung mit dem Thema Vergänglichkeit. Die Auswahl der Textausschnitte führt dem Leser vor Augen, dass Geiser einen Zusammenhang zwischen der biblischen Sintflut, Naturkatastrophen und seinem geistigen Zustand konstruiert. Das Wissen um Erosionsprozesse und Krankheiten, die auch die Pflanzen- und Tierwelt betreffen, bestätigt ihn in der Sichtweise, dass der Mensch als Teil der Natur ebenso von Umbrüchen betroffen ist wie seine Umwelt. Diese »Ewigkeit des Naturzyklusses«,46 der bereits die Dinosaurier entstehen und vergehen ließ, fasziniert und beunruhigt den Protagonisten gleichermaßen. Schließlich zieht dieses Modell die Sonderstellung des Menschen in Frage. Im Kontext der erdgeschichtlichen Entwicklungen erkennt Geiser »eine ganz ungeheure Relativierung des Menschen und seiner Kultur«.47 Gleichzeitig realisiert er, dass das Wissen um die Naturgesetze und -phänomene ihn nicht vor denselben schützt: Wie die Flora und Fauna ist auch er seinem Körper unterworfen und muss letztlich vor der Krankheit kapitulieren. Das Collageverfahren versinnbildlicht auf formaler wie inhaltlicher Ebene das vergebliche Streben des Menschen, sich der Natur zu bemächtigen, indem man sie kategorisiert und beschreibt. Am Ende steht Geisers viel zitierte Erkenntnis: »All die Zettel, ob an der Wand oder auf dem Teppich, können verschwinden. Was heißt Holozän! Die Natur braucht keine Namen. Das weiß Herr Geiser. Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht.« (MH, S. 296) Bei diesen Sätzen handelt es sich um den letzten Gedankenbericht Geisers, an den sich kommentarlos sieben Lexikonausschnitte über Erosion, Edelkastanien, Eschatologie, Kohärenz, das Phänomen
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Zu Beginn der Erzählung künden drei Satzfragmente, die durch längere Passagen auseinandergerückt sind, von Geisers Beunruhigung: »Schlimm ist nicht das Unwetter – […]«, MH, S. 208. »Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses – […]«, MH, S. 210. »Ohne Gedächtnis kein Wissen.«, (ebd.). Régine Battiston: »Max Frischs Schreiben von Altern und Tod.«, in: Régine Battiston / Margit Unser (Hg.): Max Frisch. Sein Werk im Kontext der europäischen Literatur seiner Zeit. Würzburg 2012, S. 275-292, hier S. 288. Georg Braungart: »›Katastrophen kennt der Mensch allein, sofern er sie überlebt‹: Max Frisch, Peter Handke und die Geologie«, in: Carsten Dutt / Roman Luckscheiter (Hg.): Figurationen der literarischen Moderne. Heidelberg 2007, S. 23-41, hier S. 34. Diese Marginalisierung des Menschen wird in der Erzählung unter anderem durch eine Illustration veranschaulicht, die ein gigantisches Dinosaurierskelett neben einem winzig erscheinenden menschlichen Skelett zeigt. Vgl. MH, S. 282.
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des Kastanienkrebses, die Bodenbeschaffenheit des Ortes Locarno und den Schlaganfall anschließen (vgl. MH, S. 296-298). Auf diese Weise wird Geisers Schlaganfall und seine letzte Sicht auf die Dinge erzählt und auch wieder nicht erzählt – eine genaue Beschreibung der Situation bleibt aus. Durch »den Zwang der internen Fokalisierung«48 ist der Leser an Geisers Wahrnehmung, wie lückenhaft sie auch sein mag, gebunden. Die letzten Faksimiles lassen die vollkommene Sprachlosigkeit Geisers am Ende seiner Krankheit erkennen. Ebenso drücken sie dessen Vorstellung eines Allzusammenhangs von Tier-, Stein- und Pflanzenwelt aus, die gleichermaßen von Erosions- und Krankheitsprozessen betroffen sind. Nach den letzten Collageelementen ergreift die Erzählinstanz zwar erneut das Wort, von Herrn Geiser ist jedoch nicht mehr die Rede. Vielmehr wird davon berichtet, dass nach all den endzeitlichen Vorkommnissen das Dorf unversehrt steht (MH, S. 298f.), die Alltäglichkeit nimmt ungehindert ihren Lauf – zumindest vorerst. Wie bei einer Bestandsaufnahme wird erwähnt, was noch vorhanden ist. Die Zusammenstellung der letzten Faksimiles suggeriert jedoch, dass es sich bloß um einen vorläufigen status quo handelt, der sich – ähnlich wie Geisers Gesundheitszustand – langfristig durch Erosion oder eine plötzliche Katastrophe durchaus verändern könnte.
1.1.3.2
»Der Alte kann sich nicht selbst darstellen…«
Eine Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte von Der Mensch erscheint im Holozän zeigt, dass der endgültigen Erzählfassung bereits langwierige und umfassende Änderungen vorausgegangen sind:49 Sieben Jahre und insgesamt 12 Fassungen brauchte es,50 bis der Text in der letztgültigen Druckversion erscheinen konnte. Eine Zusammenschau aller Erzählfassungen verdeutlicht, dass Frisch insbesondere die Erzählperspektive Schwierigkeiten bereitet hatte.51 Eröffnet der Autor in der ersten Erzählfassung noch eine autodiegetische Innenperspektive, hält er diese bald für problematisch. Schließlich könne ein Demenzkranker im vorgerück48 49
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Crauwels (2001), S. 115. Zur Rekonstruktion der Textgenese vgl. Daniel De Vin: »›Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses‹: Zur Entstehung von Max Frischs Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän«, in: Eijiro Iwasaki (Hg.): Begegnungen mit dem ›Fremden‹. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. München 1991, S. 494-498. Oder: Claudia Müller: ›Ich habe viele Namen.‹ Polyphonie und Dialogizität im autobiographischen Spätwerk Max Frischs und Friedrich Dürrenmatts. München 2009, 63-106. Hierbei handelt es sich nicht zwangsläufig um unterschiedliche Fassungen, sondern oft auch um Varianten des Texts, die sich nur durch bestimmte Änderungen voneinander unterscheiden. Dass Frisch vor allem Probleme mit der Erzählperspektive hat, lässt sich auch an einer vielzitierten Aussage von ihm erkennen. In dem autobiographischen Text Montauk heißt es in Anspielung auf Der Mensch erscheint im Holozän: »Eine literarische Erzählung, die im Tessin spielt, ist zum vierten Mal mißraten; die Erzähler-Position überzeugt nicht.« Max Frisch: Montauk, in: Ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Bd. 6. Hg. von Hans Mayer. Frankfurt a.M. 1976, S. 617-754, hier S. 630.
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ten Stadium seinen Gedanken nicht mehr vollumfänglich Ausdruck verleihen und verdränge möglicherweise auch manche seiner Befürchtungen. Frisch ist aber der Meinung, dass »zu einer Figur [.] auch [gehört], was sie verhehlt, was sie selber im Augenblick nicht interessiert, was ihr nicht bewußt ist usw. … Im Sinne der Beicht-Literatur (maximale Aufrichtigkeit über sich selbst) vermag die ER-Form mehr.«52 Auch auf Anregung von Uwe Johnson wandelt Frisch deshalb die in der ersten Textfassung verwendete Autodiegese in eine heterodiegetische Erzählhaltung um, denn: »Johnson hat recht, es liegt an der Optik; der Alte kann sich nicht selber darstellen.«53 Geisers letzte Tage werden nun von einer distanzierten Erzählerfigur vermittelt, die im Verborgenen bleibt und keinerlei Persönlichkeitsprofil entwickelt. Um das Entgleiten des dementen Bewusstseins zu erzählen, wählt der Autor – nach einigen Änderungen54 – schließlich eine Innenperspektive, die mittels erlebter Rede und eines außenperspektivischen Gedankenberichts eröffnet wird.55 Auf diese Weise wird trotz des Sprach- und Gedächtnisverlusts des Protagonisten eine unverstellte Innensicht möglich. Durch die interne Fokalisierung an die Sichtweise der Figur gebunden, lässt sich die Stimme des Erzählers jedoch kaum von der des Protagonisten unterscheiden. Zeitweise scheint es, als ob Geiser – von seinem kranken Selbst entfremdet – über sich in der Er-Form spricht. Mehrere Aspekte weisen jedoch auf eine heterodiegetische Erzählerfigur hin, die trotz der mangelnden Vermittlungsfunktion in der Auswahl und Gestaltung des Texts zu Tage tritt. So lässt zum Beispiel die zeitliche Gestaltung der Erzählung auf eine übergeordnete Instanz schließen, die die Handlung auf bestimmte Momente hin verknappt und somit in den Gedankenbericht gestaltend eingreift: Während sich die erzählte Zeit über einen Zeitraum von mehreren Tagen – vielleicht ein, zwei Wochen im Spätsommer – erstreckt, beläuft sich der Text zwischen den Faksimiles insgesamt auf wenige Seiten. Die Handlung wird also meist zeitraffend widergegeben, wobei kurze Momente (wie den Bau der ›Knäckebrot-Pagode‹) in etwa zeitdeckend erzählt sind. Neben diesem Eingriff in die zeitliche Struktur der 52
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Max Frisch: Tagebuch 1966-1971, in: Ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Bd. 11. Hg. von Hans Mayer. Frankfurt a.M. 1976, S. 310. Im Folgenden wird der Text mit dem Signum TB und unter Angabe der Seitenzahl zitiert. Max Frisch: Aus dem Berliner Journal. Hg. von Thomas Strässle / Margit Unser. Berlin 2014, S. 105. Der letzten Version gingen noch weitere Perspektivwechsel voraus: Im Fragment aus einer Erzählung spricht eine namenlose Erzählerfigur den Protagonisten direkt an, indem sie dessen Tun und Denken kommentiert und den Protagonist Geiser dabei stets siezt. Mal mahnend, mal aufmunternd sagt der Erzähler Sätze wie, »Sie erinnern sich oft an dasselbe, Herr Geiser.« Vgl. Max Frisch: Fragment einer Erzählung, in: Ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Bd. 6. Hg. von Hans Mayer. Frankfurt a.M. 1976, S. 522-534, hier S. 529. Vgl. Kaiser (2002 / 2003), S. 47. Ähnliche Beschreibungen finden sich bereits in früheren Artikel, vgl. z.B. Dietmar Jakobsen: »Tod im Tessin«, in: Weimarer Beiträge Bd. 42, H. 3 (1996), S. 399-417; oder aber Butler (1983), S. 96f.
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Erzählung lässt vor allem die Selektion der einmontierten Faksimiles – ein recht kleines Sortiment der unzähligen Notizen und Ausschnitte Geisers – auf einen covert narrator schließen.
1.1.3.3
Tagebuch-Struktur
Max Frischs Tagebuch 1966-1971 Die episodenhafte und assoziative Erzählweise gleicht diaristischen Notaten und erinnert, auch aufgrund des Collageverfahrens, an das Genre des Tagebuchs, bzw. des Tagebuchromans.56 Dieser Eindruck entsteht, obwohl die Erzählung nicht als fiktives Selbstzeugnis angelegt ist: Schon die heterodiegetische Erzählhaltung scheint der Textsorte ›Tagebuch‹ zuwiderzulaufen (vor allem die fortwährende Namensnennung von ›Herrn Geiser‹ würde eine, für dieses Genre unübliche Distanzierung und Pathologisierung der eigenen Person bedeuten).57 Auch wenn diese Perspektivierung deutlich markiert, dass es sich bei dem Text nicht um Herrn Geisers Tagebuch handelt, lassen sich doch zahlreiche, an dieses Genre angelehnte Schreibweisen ausmachen. Die in der Erzählung verwendeten Schreibstrategien stehen augenscheinlich mit Frischs eigenem literarischem Selbstzeugnis in Zusammenhang, dem Tagebuch 1966-1971. Ähnlich wie in Der Mensch erscheint im Holozän reiht der Autor in diesem Tagebuch vordergründig unzusammenhängende Passagen hintereinander, wobei fiktionale und biographische Elemente miteinander verwoben werden.58 Die insgesamt 184 Einträge zeichnen sich durch unterschiedliche Längen, Schriftarten und Hervorhebungen aus. Dahinter verbirgt sich ein anachronisches Ordnungsprinzip, das sich der Leser – ähnlich wie bei der Rekonstruktion von Geisers Gedanken – selbst erschließen muss.59 Unter Frischs Tagebucheinträgen befinden sich auch authentische Zeitungs- und Textausschnitte, die mit Quellen belegt werden, und als Vorstufe des im Holozän-Text angewendeten Collageverfahrens eingeordnet werden können.60 Indem Frisch in seinem Tagebuch 1966-1971 ein Konglome56
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Es finden sich keine Hinweise darauf, dass Geiser – abgesehen von den Notizzetteln – seine Geschichte schriftlich festhält. Vgl. Pickar (1989), S. 36. Auch passt die schonungslose Erzählperspektive nicht damit zusammen, dass Geiser sich lang Zeit einredet, es sei gar nicht so schlecht um ihn bestellt. Die Folgen seines Schlaganfalls tut er z.B. – trotz eindeutiger Symptome – als Folge eines Sturzes ab. Vgl. MH, S. 283ff. Die Anrede ›Herr Geiser‹ erinnert an medizinische und pflegerische Sprachpraxen. Vgl. Meike Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität. Signalstrukturen des literarischen Tagebuchs am Beispiel der Tagebücher Max Frischs. St. Ingbert 2003, S. 105f. Vgl. außerdem Gerhard Knapp: »›Das Weiße zwischen den Worten.‹ Studien zu Entwicklung und zur Ästhetik des literarischen Tagebuchs der Moderne«, in: Sprachkunst Bd. 28 (1997), S. 291-319. Eine Aufschlüsselung aller Tagebuchpassagen samt Nennung der unterschiedlichen Schriftarten und Hervorhebungen findet sich bei Heinrich-Korpys (2003), S. 120-134. Zum Beispiel zitiert Frisch in seinem Tagebuch die im Auftrag des Schweizer Bundesrats herausgegebene Broschüre Zivilverteidigung mit Seitenangaben und exakter Titelangabe. Die-
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rat aus autobiographischen Notizen, zeitgeschichtlichen Zeugnissen, fiktionalen Texten und Fragebögen (die in durchnummerierten Listen getätigt sind) erstellt, entwirft er eine »fiktionsstiftende Wirkstruktur«,61 und bricht mit der Rezeptionserwartung des Lesers. Einen vergleichbaren Effekt erzeugen die unterschiedlichen Faksimiles in Der Mensch erscheint im Holozän, die einerseits als authentische Quellen belegt werden und andererseits als fiktional markiert sind. Über diese formalen Parallelen hinaus lässt sich eine Vielzahl inhaltlicher Überschneidungen zwischen den beiden Texten ausmachen. In der Forschung ist vor allem die inhaltliche Nähe zu den Textstellen der fiktiven ›Vereinigung Freitod‹ hingewiesen worden.62 Des Weiteren gleichen sich Orts- und Landschaftsbeschreibungen, fiktionale Skizzen und autobiographische Notate, wie beispielsweise folgende Bemerkung aus Frischs Tagebuch:63 »Zeitung gelesen, nachher das Gefühl: Es geschieht eigentlich nichts. […] Die TVNachrichten abends bestätigen, daß nichts geschehen ist: Am Suez ist wieder geschossen worden, Tote; die Vietnam-Konferenz in Genf. Das alles weiß man. Endlich der Wetterbericht, Hochdruck verschiebt sich wie üblich. Aussichten für Donnerstag und Freitag, nachher wieder das Gefühl: Es geschieht nichts, wenigstens nichts, wovon ich überhaupt keine Ahnung habe –« (TB, S. 257) Während ihn der Wetterbericht aufhorchen lässt, steht Frisch den andauernden Schreckensmeldungen und Berichten über den politischen Alltag gleichgültig gegenüber. Dieselbe resignative Haltung findet sich auch in Der Mensch erscheint im Holozän: »Natürlich fällt der Fernseher aus. Keine Ahnung, was in der Welt geschieht. Das Letzte, was Herr Geiser noch vernommen hat, sind schlimme Nachrichten gewesen, wie meistens, von Attentat bis Arbeitslosigkeit; dann und wann der Rück-
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ses Zitat erinnert nicht nur aufgrund der peniblen Quellenangabe an Der Mensch erscheint im Holozän. Die darin empfohlene Vorratshaltung entspricht nahezu wörtlich den von Geiser vorgenommenen Notfallmaßnahmen. Vgl. TB, S. 255: »In Rucksäcken, in der Wohnung griffbereit: Starke, warme, regensichere Bekleidung, Leibwäsche, Socken und Strümpfe zum Wechseln […]. Leichte konzentrierte Lebensmittel wie Knäckebrot, Zwieback, Suppenkonserven, Schachtelkäse, Trockenfleisch […].« Im Vergleich dazu MH, S. 217: »Der Rucksack steht in der Diele, ein Rucksack aus Leder […], wasserdicht, und Herr Geiser hat an alles gedacht: Paß, Verbandsstoff, Taschenlampe, Unterwäsche zum Wechseln, Ovomaltine, Socken zum Wechseln […].« Heinrich-Korpys (2003), S. 118. Vgl. Schneider (2012), S. 234f. Geisers Wohnort im Valle Onserone wird fast wortgetreu so beschrieben wie das Dorf Brenzona, das in demselben Tal liegt und von Frisch in seinem Tagebuch mehrmals erwähnt. Vgl. TB, S. 11 und MH, S. 298f.
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tritt eines Ministers, aber eine Hoffnung, daß es heute gute Nachrichten wären, besteht eigentlich nicht; trotzdem ist man beruhigter, wenn man von Tag zu Tag weiß, daß die Welt weitergeht.« (MH, S. 227) Das Zitat verdeutlicht die frappierende Ähnlichkeitsbeziehung, die zwischen beiden Texten besteht. Diese deutlich kommunizierte Intertextualität hat zur Folge, dass Der Mensch erscheint im Holozän häufig als autobiographischer Text eingeordnet worden ist (Gerhard Kaiser geht so weit und erkennt in Geisers Lurch-ähnlicher Physiognomie eine Selbstkarikatur Frischs).64 Eine solche autorbezogene Lesart der Erzählung leitet freilich fehl, lässt sie doch die künstlerische Überformung und die offen kommunizierte Fiktionalität des Texts außer Acht.65 Weitere intertextuelle Referenzen, die nicht nur punktuelle Zitate darstellen, sondern der Erzählung als strukturelle Folien gedient haben, verdeutlichen den literarischen Geltungsanspruch von Der Mensch erscheint im Holozän.
1.1.4
Parallelisierung von Innen- und Außenwelt: Georg Büchners Lenz
Zu diesen offen markierten Bezügen zählen unter anderem Verweise auf Georg Büchners Lenz.66 Als eine dieser Verweise lässt sich die bereits analysierte Erzählhaltung in Der Mensch erscheint im Holozän identifizieren, die der Perspektivierung in Büchners Erzählung entspricht:67 Lenz’ Aufenthalt bei Pfarrer Oberlin wird ebenfalls von einer heterodiegetischen Erzählinstanz widergegeben, die mittels interner Fokalisierung Einblicke in die inneren Vorgänge und das subjektive Erleben der Figur gewährt. Dabei lässt sich die Stimme des Erzählers oft nicht von Lenz’ eigener unterscheiden; die Vermittlungsinstanz ist – vergleichbar mit der von Frisch gestalteten Erzählerfigur – neutral, ja geradezu abwesend. Diese Perspektivierung ermöglicht eine unvermittelt wirkende Darstellung der Geisteskrankheit, die sich überwiegend aus sich selbst heraus zu erzählen scheint. Frisch
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Gerhard Kaiser tendiert zu einer betont biographischen Lesart, die er nur durch Geisers Tod relativiert sieht. Vgl. Kaiser (2002 / 2003), S. 50: »Jedenfalls ist es kein Zufall, dass Herr Geiser in Lebensumständen und Verhaltensweisen unverkennbare Ähnlichkeiten mit seinem Autor und dessen Schreiben aufweist, angefangen beim langjährigen Wohnen im Tessiner Bergtal. Wenn Herr Geiser feststellt, dass er einem Lurch ähnelt, ist die Selbstkarikatur von Frischs Physiognomie unverkennbar. Herr Geiser ist Herr Frisch und doch auch nicht Herr Frisch. Vielleicht Herr Frisch von innen, von aussen durch Herrn Frisch wahrgenommen? Also Herrn Frischs Ende, von Herrn Frisch erzählt? Nein, auch das nicht ganz […].« Selbst bei Frischs Tagebuch 1966-1971 steht der fiktionale und nicht der autobiographische Geltungsanspruch im Vordergrund. Vgl. Heinrich-Korpys (2003), S. 98. Auf diesen intertextuellen Bezug hat bereits Michael Butler im Jahr 1987 hingewiesen. Eine nähere Analyse dieser Referenzen ist jedoch ausgeblieben. Vgl. Butler (1987), S. 98. Vgl. Malottke (2017a), S. 151f.
1. Das demente Ich
lehnte sich mit der Gestaltung seiner Erzählung erkennbar an diese von Büchner erzeugte »Parallelisierung von Außen- und Innenweltdarstellung« an.68 Überdies deuten weitere Aspekte darauf hin, dass Büchners Lenz als intertextuelle Folie für Der Mensch erscheint im Holozän gedient hat. Gleich dem Prätext, der nahezu nüchtern von der täglichen Verzweiflung und den ebenso regelmäßigen Hochgefühlen des Protagonisten erzählt, wird in Frischs Erzählung wiederholt dargestellt, was sich täglich ereignet: Wieder und wieder wird dem Leser davon berichtet, dass Geiser weitere Artikel ausschneidet, das Wetter studiert und Listen führt. Eine solche repetitive Zustandsbeschreibung verdeutlicht das Ausmaß der jeweiligen Krankheit, die weder Lenz noch Geiser ruhen lassen und beide dazu treiben, in Ritualen Halt zu suchen.69 Der wohl deutlichste Bezug auf Büchners Text besteht jedoch in der Naturdarstellung:70 Ebenso wie Lenz, glaubt Geiser seinen Gemütszustand in der ihn umgebenden Natur gespiegelt zu sehen, wobei der Raum psychisch aufgeladen wird. So lässt sich aus der Schilderung der Umgebung und der Wetterlage die Stimmung der Figur ablesen. Insbesondere die Beschreibungen der schroffen Gebirgslandschaft ähneln sich in beiden Erzählungen auffallend.71 Frisch überträgt nicht nur Büchners eingängige Naturschilderungen, deren Eindruck ständig zwischen den Kontrasten hell und dunkel, hoch und tief changiert, auf seinen Text, sondern greift ein weiteres Kompositionsprinzip auf: Wie Yvonne Wübben in ihrer Arbeit zu Lenz zeigt, übersetzt Büchner die Vorstellung einer wirkenden Natur auf die grammatische Struktur der Erzählung.72 Diese These lässt sich beispielsweise an der häufigen Verwendung der Pronomen »er« und »es« festmachen. So heißt es zu Beginn des Texts: »Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte. Anfangs drängte es ihm in der Brust […]; es drängte ihn,
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Christian Neuhuber: »›Siehe die Briefe.‹ Büchners Lenz und der Verzicht auf die Brieffiktion«, in: Gideon Stiening, Robert Vellusig (Hg.): Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Studien. Berlin / Boston 2012, S. 317-337, S. 319. Im Gegensatz zu iterativem Erzählen, das summarisch oder exemplarisch von Geschehnissen berichtet, liegt hier singulatives Erzählen vor. Schließlich wird immer wieder berichtet, was sich immer wieder aufs Neue ereignet. Diese Naturdarstellungen erinnern auch an Goethes Die Leiden des jungen Werther – einem Text, der wiederum Büchner zur Vorlage gedient hatte. Diesen drei Texten ist zunächst gemein, dass es sich – wenn auch um andersgelagerte – Krankheitsdarstellung handelt. Ein Vergleich beider Natur-, insbesondere Bergschilderungen zeigt frappierende Ähnlichkeiten. Vgl. MH, S. 217 und Georg Büchner: Lenz, in: Ders.: Georg Büchners sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden, Bd. 1. Hg. von Henri Poschmann / Rosemarie Poschmann. Frankfurt a.M. 1992, 225-250. Vgl. Yvonne Wübben: Büchners ›Lenz‹: Geschichte eines Falls. Konstanz 2016, S. 84f.
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er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber fand nichts.« (Büchner (1992), S. 225) Indem das Personalpronomen ›er‹ und das neutrale ›es‹ innerhalb eines Satzes alternierend verwendet werden, wird ein »Gegensatz zwischen der Person [Lenz] und einem nicht näher bezeichneten ›es‹ etabliert.«73 Dieses ›es‹ scheint, von außen zu kommen und im Inneren von Lenz zu wirken, während er zwischen Wehrhaftigkeit und Passivität schwankt. Die sich ihn bemächtigende Instanz lässt sich nicht eindeutig identifizieren – mal scheint es sich um die Natur im speziellen, mal um ein vages Gefühl, mal um die Welt insgesamt zu handeln, die Lenz bedrängt und wahnsinnig werden lässt. Dieses grammatische Kompositionsprinzip findet sich auch in Frischs Erzählung wieder, wobei das Darstellungsverfahren noch weiter zugespitzt worden ist. Während in Büchners Erzähltext die Pronomina ›er‹ und ›es‹ zumeist abwechselnd fallen und so eine Verschränkung von Lenz mit seiner Umwelt nahelegen, sticht in Frischs Text der extensive Gebrauch unpersönlicher Verben hervor. Dabei handelt es sich zum Teil um Witterungsverben (ständig regnet und gießt und schüttet es, es donnert und es tröpfelt die Tannenzweige hinab, ganz selten steht da: »es scheint die Sonne« [vgl. MH, S. 295]). Neben diesen Witterungsverben werden zum Teil auch Verben, die eigentlich mit einem Subjekt verwendet werden könnten, unpersönlich gebraucht. Schaut man sich beispielsweise noch einmal den Beginn der Erzählung an, fällt der häufige Gebrauch des Pronomens ›es‹ verstärkt ins Auge. Vom Subjekt ›Herrn Geiser‹ ist zunächst nicht die Rede, wenn es heißt: »Es müßte möglich sein, eine Pagode zu türmen aus Knäckebrot, nichts zu denken und keinen Donner zu hören, kein Regen, kein Plätschern aus der Traufe, kein Gurgeln ums Haus. Vielleicht wird es nie eine Pagode, aber die Nacht vergeht. Irgendwo klöppelt es auf Blech. Wacklig wird es immer beim vierten Stockwerk […]« (MH, S. 207) Die von Frisch gewählten Formulierungen wirken hölzern und erzeugen eine distanzierte Wirkung auf den Leser, die auch dadurch verstärkt wird, dass Herr Geiser meistens beim vollen Namen genannt wird. Indem sein Name nur selten durch ein Personalpronomen ersetzt wird, scheint er, von der Außenwelt distanziert zu sein, wobei er gleichzeitig ihren Regeln unterliegt. Stärker noch als es bei Lenz der Fall ist, erzeugt der wiederholte Gebrauch des Pronomens ›es‹ den Eindruck, dass es sich bei dieser Instanz um die Natur handelt, die auf Geiser einwirkt und ihm die Kontrolle über seine Situation verwehrt. Obwohl sich die beiden Figuren aufgrund ihrer charakterlichen Gestaltung stark voneinander unterscheiden – der ruhelose Lenz scheint geradezu das Gegen-
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Wübben (2016), S. 84.
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teil des betont rational vorgehenden Geisers zu sein –,74 gleichen sich die Figuren doch aufgrund ihrer Krankheiten: Sowohl Geiser als auch Lenz sind trotz ihrer schwerwiegenden psychischen Leiden dazu in der Lage, (zumindest zeitweise) erstaunlich luzide Gedanken zu fassen. Lenz’ metaphysische und poetologische Ausführungen wirken mitnichten wahnhaft, sondern äußerst geistreich. Durch sein Leiden sensibilisiert, gerät er zum Wahrnehmungsorgan seiner Zeit, das sich gegen Harmonisierungstendenzen in der Kunsttheorie wendet.75 Ähnlich verhält es sich bei Geiser, dessen zerebrale Erkrankung nicht nur durch Verluste gekennzeichnet ist, sondern auch Erkenntnisse zu Tage fördert. Trotz seines schwindenden Gedächtnisses vermag Geiser, eine apokalyptische Zeitdiagnose zu erstellen, die durch den Erzähler am Ende des Texts bestätigt wird. Der Schluss der Erzählung entlarvt den Dorfalltag als vordergründiges Idyll, das durch andauernde Erosionsprozesse unterlaufen wird. Während die gesunden Figuren der Geschichte nichts von diesen weitreichenden Umbrüchen ahnen, ist allein der Demente zu dieser Beobachtung befähigt. Hieran zeigt sich, dass Geiser (ähnlich wie Lenz) aufgrund seiner Krankheit die Funktion eines Mediums zukommt, das die Oberfläche seiner Umwelt durchdringt und einen Blick auf die Vergänglichkeit erhaschen kann. Die Bezugnahme auf Büchners Lenz, aber auch intertextuelle Verweise auf Shakespeares Hamlet und Goethes Werther weisen darauf hin, dass die Erzählung in der Tradition literarischer Wahnsinns- und Innerlichkeitsdarstellungen steht. Bei diesen Bezügen handelt es sich nicht nur um punktuelle Zitate, sondern um eine strukturelle Referenzialität: So ist die narrative Gestaltung von Der Mensch erscheint im Holozän als Umsetzung des von Lenz (und auch Büchner) geforderten Fundamentalrealismus angelegt.76 Dieser Zusammenhang mag auf den ersten Blick paradox scheinen, handelt es sich doch bei Frischs Erzählung um einen hochartifiziellen Text, der seine künstlerische Überformung offen zur Schau stellt. Diese Umsetzung scheint Darstellungsverfahren des Realismus zuwiderzulaufen, und doch ist Frischs Schreibweise Ausdruck eines gesteigerten
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Diese Unterschiede treten in der unterschiedlichen Sprech- und Denkweise der Figuren deutlich zu Tage: Während Lenz emphatisch zwischen Gottesanbetung und -lästerung schwankt und seinen Gefühlen pathetisch Ausdruck verleiht, ist Geisers Sprache »aufs Allernotwendigste an Mitteilung beschränkt, nicht referierend und wertend, sondern fraglos darbietend, manchmal verstörend redundant, dann wieder übergenau im Aufzählen […] und Klassifizieren.« Jakobsen (1996), S. 405. An dieser Stelle sei auf das berühmte Streitgespräch zwischen Lenz und Kaufmann hingewiesen, in dem Büchners Fundamentalrealismus zum Ausdruck kommt. Vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedanken in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, Bd. 2. Darmstadt 1985, S. 49. Vgl. Malottke (2017a), S. 152.
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Mimesis-Verständnisses: Erzählverfahren, die auf Kohärenz und Ordnung abzielen, gehen schließlich an der Realität vorbei, wenn sie zur Darstellung eines disparaten und zersetzenden Phänomens wie Demenz genutzt werden. Indem Frisch die Grenzen diegetisch-narrativer Ordnungen aufbricht, kommt er Büchners Forderung nach, selbst den Wirklichkeitszerfall erzählbar zu machen. Dabei gelingt es ihm, anhand der formalen wie inhaltlichen Fragmentierung der Erzählung die vermeintliche Innensicht eines Demenz-Kranken zu entwerfen und dem Leser gleichzeitig vor Augen zu führen, dass es sich hierbei um ein Kunstprodukt handelt, das notwendiger Weise unvollständig bleiben muss.
1.2 1.2.1
Die Brandung im Kopf – Hirngespinste »Etwas denkt in mir und hört mittendrin wieder auf«
Eines der ersten expliziten Demenz-Narrative stammt vom niederländischen Autor Hendrik Jan Marsman, dessen Texte unter dem Pseudonym ›J. Bernlef‹ veröffentlicht werden.77 Seine literarische Krankheitsdarstellung Hersenschimmen erscheint zunächst 1984 in den Niederlanden. Zwei Jahre später folgt die deutsche Übersetzung unter dem Titel Hirngespinste.78 In dieser Erzählung wird eine DemenzErkrankung aus Sicht der Figur Maarten Klein geschildert, der mit seiner Frau Vera in der Nähe von Boston wohnt. Das Ehepaar stammt ursprünglich aus den Niederlanden. Von dort emigriert es in den 1960er Jahren in die USA, um Arbeit zu finden und schließlich den gemeinsamen Lebensabend zu verbringen. Die Handlung setzt Anfang der 1980er Jahre ein,79 als Maarten mit 71 Jahren die ersten Anzeichen einer – wie sich zeigen wird – rasch voranschreitenden Demenz-Erkrankung wahrnimmt. Das Geschehen erstreckt sich über einen Zeitraum von wenigen Wintermo77
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Mit dem Namen »J. Bernlef« lehnt Marsman sich an einen Dichter des 8. Jahrhunderts an, der in der Vita des heiligen Liudger Erwähnung findet. Die Legende besagt, dass Liudger durch seine heilenden Hände einen blinden, friesischen Dichter mit Namen Bernlef wieder sehend gemacht haben soll. Vgl. Arnold Angenendt: Liudger: Missionar – Abt – Bischof im frühen Mittelalter. Münster 2005, S. 146. Zum niederländischen Autor J. Bernlef vgl. Graa Boomsma: »J. Bernlef«, in: Kritisch lexicon van de Nederlandstalige literatuur na 1945 Bd. 13 (1984), S. 1-13. Der Roman wurde im Jahr 2007 im Verlag Nagel & Kimche unter dem Titel Bis es wieder hell wird neu aufgelegt, wobei der Text nach wie vor der Übersetzung aus dem Jahr 1986 entspricht. Die Änderung des Titels könnte damit zusammenhängen, dass der Begriff ›Hirngespinst‹ in Zusammenhang mit Demenz mittlerweile als abwertend empfunden wird. Vgl. J. Bernlef: Bis es wieder hell wird. München 2007. Zu welcher Zeit die Handlung spielt, lässt sich nur aus wenigen Erzählerkommentaren schließen: Maarten spricht beispielsweise von seiner Hochzeit gegen Ende des zweiten Weltkriegs. Da Vera und er zum Zeitpunkt seiner Erkrankung über 40 Jahre verheiratet sind, muss die Handlung in den 1980er Jahren spielen. (Vgl. HG, S. 136).
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naten, in denen Maarten zunehmend vergesslich und orientierungslos wird. Dieser Prozess bleibt auch dem Kranken selbst nicht verborgen. Verzweifelt stellt er fest: »Etwas denkt in mir und hört mittendrin wieder auf. Fängt etwas völlig anderes an, das ebenfalls ins Stocken gerät. Wie ein Auto, dessen Motor ständig aussetzt.« (HG, S. 138f.) Da der Protagonist im Zuge seiner Erkrankung einen ausgeprägten Bewegungsdrang entwickelt, sich und andere bei seinen plötzlichen Ausbrüchen gefährdet, wird er schließlich durch Injektionen ruhiggestellt und mit Gurten an sein Bett fixiert. Ist es seiner Frau zu Beginn der Erkrankung noch möglich, Maarten mithilfe einer Pflegerin und ihrem Hausarzt zu betreuen, muss sie ihn gegen Ende des Texts in ein Pflegeheim bringen (vgl. HG, S. 197). Ab diesem Zeitpunkt lässt sich das Geschehen nicht mehr detailliert nachvollziehen, da das Druckbild in einzelne Passagen zerfällt, die aus elliptischen Sätzen bestehen. Aufgrund der außergewöhnlichen Erzählperspektive – einem sich zunehmend zersetzenden, inneren Monolog – dient der Text späteren Demenz-Narrativen als intertextuelle Vorlage.80 Trotz der vielfachen intertextuellen Bezugnahmen, einer verstärkten feuilletonistischen Rezeption und hoher Auflagen von Hirngespinste,81 liegen nur wenige – überwiegend niederländische und angloamerikanische – Forschungsbeiträge zu der Erzählung vor.82 Innerhalb der deutschsprachigen Forschungsliteratur verweisen lediglich bibliographisch angelegte Beiträge auf die Vorreiterfunktion des Texts, die sie mit der vermeintlich autodiegetischen Erzählhaltung begründen.83 Diese umstrittene Erzählperspektive wird im folgenden Kapitel näher untersucht. Neben der Analyse der Textstruktur und Demenz-Schreibweisen soll der 80
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In der deutschsprachigen Literatur finden sich beispielsweise bei Ulrike Draesners Erzählung Ichs Heimweg macht alles allein explizite Verweise. Vgl. IMH 1, S. 75. An einer Stelle markiert Draesner sowohl Frischs Der Mensch erscheint im Holozän, als auch Bernlefs Hirngespinste als intertextuelle Vorlagen, wenn es heißt: »Die Station war hässlich. Drehstühle aus dem Holozän, abgetretenes Linoleum. Ich solle mich nicht aufregen, sondern nach Haus fahren! Hirngespinst, Entsetzung mit 16 Buchstaben: ›Phantasiegebilde‹.« Hervorhebungen durch L.D. So wurde das Buch bereits 1988 in den Niederlanden verfilmt. Im Jahr 2007 gab der QueridoVerlag eine Neuauflage in Höhe von 500.000 Exemplaren heraus, der eine DVD der Verfilmung beilag. Vgl. Klaas Reenders: »Wat gaat er om in iemand met Alzheimer?«, in: Tijdschrift voor praktijkondersteuning 02 (2007), S. 147-148, hier S. 147. Zentrale Forschungsbeiträge zu Hirngespinste sind u.a.: Alexander Zweers: »The narrator’s position in selected novels by J. Bernlef«, in: Canadian Journal of Netherlandic Studies Bd. 19, H. 2 (1998), 35-40; Els Bruynooghe: »De ›verteller‹ en de auteur. Over Bernlefs problematische onbetrouwbare verteller in Hersenschimmen«, in: Nederlandse Letterkunde Bd. 12, H. 1 (2007), S. 22-33; Rebecca Anna Bitenc: »Representations of Dementia in Narrative Fiction«, in: Esther Cohen / Leona Toker / Manuela Consonni / Otniel E. Dror (Hg.): Knowledge and Pain. New York 2012, S. 305-329. So ordnen u.a. Holger Helbig und Christopher Vassilas den Roman als zentrales Beispiel literarischer Demenz-Darstellungen ein. Vgl. Helbig (2005), S. 46-50; Christopher Vassilas: »Dementia and literature«, in: Advances in Psychiatric Treatment Bd. 9 (2003), S. 439-445.
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kontextuelle Bezugsrahmen der 1980er Jahre – insbesondere die zeitgenössische Demenz-Forschung, die auf die Erzählung Einfluss hatte – beleuchtet werden. Bei dieser Analyse wird immer wieder der Vergleich zur vorher untersuchten Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän gezogen, um Parallelen und Unterschiede zwischen den beiden Innenperspektiven aufzuzeigen.
1.2.2
Demenz-Forschung und Problembewusstsein in den 1980er Jahren
Auch wenn es keine Belege dafür gibt, dass Bernlef Kenntnis von Max Frischs fünf Jahr zuvor erschienenem Text Der Mensch erscheint im Holozän hatte oder sich gar konkret darauf bezieht, besteht eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den beiden Demenz-Darstellungen. Während sich anhand der Textstruktur oder den Tropen zentrale Parallelen herausarbeiten lassen (vgl. Textanalyse, Kapitel A.II.3.3), sei an dieser Stelle aber auf einen zentralen Unterschied zwischen den beiden Erzählungen hingewiesen: Im Gegensatz zu Der Mensch erscheint im Holozän handelt es sich bei Hirngespinste um eine dezidierte Demenz-Darstellung. Genau wie Herr Geiser, vermutet der Protagonist Maarten, dass eine altersbedingte »Verkalkung« (HG, S. 37) oder ein kleinerer Schlaganfall die Ursachen für seinen Gedächtnisverlust sein könnten (vgl. HG, S. 95). Im Laufe des Texts wird diese Annahme durch das Auftreten weiterer Symptome konkretisiert, die auf eine rasch fortschreitende Demenzerkrankung hindeuten.84 Eine konkrete Diagnose wird dem Erkrankten gegenüber jedoch nicht explizit gemacht – weder Maartens Frau Vera noch der behandelnde Arzt konfrontieren Maarten mit dessen Krankheitsbild.85 Der rasante Krankheitsverlauf, aber auch heimlich belauschte Unterhaltungen zwischen seiner Frau und der Pflegerin führen dem Protagonisten jedoch die Endgültigkeit und Drastik seiner Erkrankung vor Augen. Diese weitreichenden Folgen drücken sich nicht nur im Sprachverlust, sondern auch in umfassenden kognitiven Einbußen aus: Während der kranke Herr Geiser auch am Ende seines Leidenswegs zu philosophischen Erkenntnissen in der Lage ist, gelingt es Bernlefs Hauptfigur immer weniger, das Geschehen um ihn herum zu verstehen. Dass es sich (anders als bei
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Auch wenn der Begriff ›Alzheimer-Krankheit‹ nicht in Bernlefs Text vorkommt, so handelt es sich bei der Erkrankung der Hauptfigur doch um eine senile Demenz-Form, deren Symptomatik der Alzheimer-Krankheit entspricht. Bei schwerwiegenden Erkrankungen, wie Krebs oder auch Demenz, kommt es häufig dazu, dass Ärzte und Angehörige dem Erkrankten seine tatsächliche Diagnose verschweigen. Dies bemängelt auch Susan Sontag in ihrem berühmten Essay Krankheit als Metapher: »In Frankreich und Italien folgen die Ärzte noch immer der Regel, der Familie des Patienten eine Krebsdiagnose mitzuteilen, dem Patienten selber jedoch nicht. Die Ärzte meinen, daß nur außergewöhnlich reife und intelligente Patienten imstanden seien, die Wahrheit zu er ertragen.« Sontag (1987), S. 9f.
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Der Mensch erscheint im Holozän) nicht um eine Parabel für das Schicksal aller Menschen handelt, sondern tatsächlich um das Einzelschicksal eines Dementen, wird in der detailgetreuen Krankheitsdarstellung deutlich, die allein das Leiden des Betroffenen in den Fokus rückt. Dessen Krankheitszeichen werden detailliert geschildert, wenn von Phasen der Ruhe- und Schlaflosigkeit, plötzlichen Angstzuständen, aber auch Phasen der Euphorie berichtet wird. Von einem plötzlichen Bewegungsdrang erfasst, irrt Maarten umher und bricht immer wieder aus dem Haus aus. Neben dieser genauen Symptombeschreibung behandelt der Text ebenso tabuisierte Themen wie Aggressionen, Inkontinenz und Alterssexualität bei Demenzkranken. Eine solch ausführliche Darstellungsweise steht in Zusammenhang mit dem Wissensstand der zeitgenössischen Demenz-Forschung, der in den vorangegangenen Dekaden (also den späten 1960er und 1970er Jahren) durch Wissenschaftler, wie Ralph Terry und Robert Katzman, große Fortschritte gelingt:86 Mithilfe eines Elektronenmikroskops findet Terry im Jahr 1963 heraus, dass sich im Gehirn eines Alzheimer-Dementen sogenannte senile Plaques bilden, die wiederum aus Neurofibrillenbündeln bestehen – eine Erkenntnis, die unter anderem für die Diagnostik der Krankheit entscheidend sein wird.87 Robert Katzman gelangt schließlich zur Erkenntnis, dass die Krankheitsfälle, die bisher dem Krankheitsbild der ›senilen Demenz‹ zugeordnet worden sind, zum Großteil der Alzheimer-Krankheit entsprechen und deshalb unter diesem diagnostischen Term zu fassen sind.88 Zählt man die betreffenden Fälle von seniler Demenz und der Alzheimer-Krankheit zusammen, so kommt Katzman zum Ergebnis, dass Morbus Alzheimer die vierthäufigste Todesursache in den USA sei und somit als großes soziales Problem angesehen werden müsse.89 Terry und Katzman plädieren infolgedessen für die Gründung eines Forschungszentrums, das sich allein mit der Alzheimer-Krankheit beschäftigt. Auf ihr Drängen hin wird 1979 die Alzheimer’s Disease and Related Disorders Association gegründet, die heute unter dem Namen Alzheimer’s Association firmiert.90 Dieser 86 87 88
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Vgl. Patrick Fox: »From Senility to Alzheimer’s Disease: The Rise of the Alzheimer’s Disease Movement«, in: Millbank Quarterly Bd. 67, H. 1 (1989), S. 58-102, hier S. 66ff. Vgl. Ralph Terry: »The Fine Structure of Neurofibrillary Tangles in Alzheimer’s Disease«, in: Journal of Neuropathology and Experimental Neurology Bd. 22 (1963), S. 629-642. Die Alzheimer-Krankheit wurde bis dato nur dann diagnostiziert, wenn einschlägige Symptome bei unter 65jährigen Patienten auftraten. Katzman gelangt jedoch zur Erkenntnis, dass in etwa 58 % der unter ›senilen Demenz‹ leidenden Patienten, tatsächlich unter Morbus Alzheimer leiden. Seitdem unterscheidet man zwischen präseniler und seniler Alzheimer-Demenz, die als zwei Formen derselben Krankheit gelten. Vgl. Robert Katzman / Toksoz Karasu: »Differential Diagnosis of Dementia«, in: William Fields (Hg.): Neurological and Sensory Disorders in the Elderly. New York 1975, S. 103-134, hier S. 106. Ebd. Zur Entwicklung und Geschichte der Alzheimer’s Association vgl. die Webseite: https://www. alz.org/about/our-impact, abgerufen am 26. Februar 2019.
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Gesellschaft gelingt es, innerhalb von zehn Jahren das vom National Institute on Aging (NIA) bereitgestellte Budget zur Erforschung von Alzheimer-Demenz beinahe zu verdoppeln.91 Indem sich kleinere, zum Teil verstreute Organisationen der Alzheimer’s Association anschließen, entsteht eine übergreifende Infrastruktur, was wiederum das Interesse der Medien und des amerikanischen Kongresses weckt.92 Auf diese Weise kommt in den USA (und in der Nachfolge auch in anderen westlichen Ländern) in den 1980er Jahren ein verstärktes wissenschaftliches sowie gesamtgesellschaftliches Problembewusstsein für Alzheimer-Demenz auf. Dieses gesteigerte Interesse lässt sich auch an der sprunghaft wachsenden Zahl wissenschaftlicher Publikationen ablesen: Wie einer Statistik aus dem Jahr 2000 darlegt, erscheinen im Jahr 1966 international gesehen nur zehn Forschungsbeiträge über Alzheimer-Demenz. Im Jahr 1976 hatte sich die Zahl der wissenschaftlichen Artikel auf nur 52 erhöht. Im folgenden Jahrzehnt steigert sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Krankheit: So erscheinen im Jahr 1986 bereits 826 Forschungsbeiträge speziell über die Alzheimer-Krankheit, zehn Jahre später, also 1996, sind es bereits 2372 wissenschaftliche Artikel.93 Diese intensivierte Auseinandersetzung beschränkt sich nicht nur auf die medizinische Forschung. Das Thema Demenz findet seit den 1980er Jahren auch zunehmend Eingang in öffentliche Debatten.94 Vor diesen Diskussionshintergründen stellt Bernlefs Hirngespinste einen frühen literarischen Reflex auf DemenzErkrankungen dar.95 Schließlich rückt die Erzählung erstmals ein Krankheitsbild in den Fokus, das bis dato weniger präzise unter den Begrifflichkeiten ›Senilität‹ oder ›Verkalkung‹ firmiert und literarisch kaum Beachtung erfahren hat. In Hirngespinste kommt es – auch im Gegensatz zu Frischs Erzählung – zu einer überaus detaillierten und unumwundenen Schilderung der Krankheitssymptomatik sowie der Therapie- und Pflegepraxen. Der Text beleuchtet den zeitgenössischen Umgang
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Wie aus einer Tabelle des National Institute on Aging hervorgeht, wurde vom NIA im Jahr 1976 ein Budget von 800.000 US-Dollar zur Erforschung der Alzheimer-Krankheit zur Verfügung gestellt. 1989 waren es bereits 80.000.000 US-Dollar. Vgl. Fox (1989), S. 96: »Table 1. Total NIA Budget and Percentage Allocated for Research on Alzheimer’s Disease and Related Disorders: 1976-1989.« Vgl. Fox (1989), S. 97. Vgl. Robert Katzman / Katherine L. Bick: »The Rediscovery of Alzheimer Disease During the 1960s and 1970s«, in: Peter Whitehouse / Konrad Maurer / Jesse F. Ballenger (Hg.): Concepts of Alzheimer Disease. Baltimore 2000, S. 104-114, hier S. 110. Ein tabellarischer Überblick über den sprunghaften Fortschritt und die Erkenntnisse der nunmehr hundertjährigen AlzheimerForschung findet sich in John Hardy: »A Hundred Years of Alzheimer’s Disease Research«, in: Neuron Bd. 52, H. 1 (2006), S. 3-13, hier S. 8. Beispielsweise erregte Rita Hayworths Demenz-Erkrankung in den 1970er Jahren größere Aufmerksamkeit. Vgl. Tabea Stoffers: Demenz erleben. Innen- und Außensichten einer vielschichtigen Krankheit. Berlin 2016, S. 108. Vgl. Zimmermann (2017a), S. 5.
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mit der Krankheit und problematisiert bisherige Verfahrensweisen, wie beispielsweise die übermäßige Fixierung und Sedierung von Dementen im fortgeschrittenen Krankheitsstadium. Neben der Darstellung dieser Behandlungs- und Pflegemethoden gibt J. Bernlefs Hirngespinste Einblicke in das Umfeld eines Pflegeheims, in dem Maarten durch das teilweise befremdliche Benehmen anderer Kranker zusätzlich verwirrt und verängstigt wird.
1.2.3
Typographische und inhaltliche Fragmetarisierung
Wurde im vorangegangenen Kapitel der kontextuelle Bezugsrahmen der Erzählung herausgearbeitet, beleuchtet die folgende Analyse Textstrukturen und Darstellungsverfahren der Demenz-Erkrankung. Ein erster Blick auf die Textoberfläche zeigt, dass Hirngespinste – ähnlich wie in Der Mensch erscheint im Holozän – nicht etwa in durchnummerierte Kapitel unterteilt ist, sondern sich in einzelne Passagen gliedert, die aus der Sicht der Erzählerfigur Maarten wiedergegeben werden. Dessen mentale Vorgänge und Wahrnehmungen sind in Form von autonomen Gedankenzitaten als innerer Monolog verfasst. Sofern es zur Figurenrede kommt, ist diese überwiegend als autonome direkte Rede in den Text eingepasst; manchmal wird sie auch durch eine inquit-Formel eingeleitet. Die zusammenhängenden Passagen umfassen zunächst mehrere Seiten und werden durch Absätze voneinander abgerückt. Auf den letzten 30 Seiten der Erzählung verkürzen sich die Textblöcke jedoch immer weiter, bis sie aus nur noch wenigen Sätzen oder gar Satzfragmenten bestehen (vgl. HG, S. 207).96 Diese immer brüchiger werdende Erzählweise fällt inhaltlich mit der zunehmenden Medikation und dem Umzug des Ich-Erzählers ins Pflegeheim zusammen. Auf diese Weise legt die Fragmentarisierung des Druckbilds den Schluss nahe, dass die gesundheitliche Verschlechterung nicht nur auf den chronischen Charakter der Erkrankung zurückzuführen ist, sondern zum Teil aus der medizinischen und pflegerischen Behandlung resultiert. Die voranschreitende Erkrankung wird im weiteren Verlauf des Texts formal kenntlich gemacht, indem einzelne Sätze durch Auslassungspunkte voneinander abgerückt werden. Solche, durch Satzzeichen realisierten Ellipsen deuten darauf hin, dass der Erzähler zum Zeitpunkt des Geschehens nicht mehr dazu in der Lage ist, fließend zu formulieren und immer mehr Zeit benötigt, um das Geschehen um ihn herum einordnen zu können. So schildert Maarten eine – für den Leser schwierig nachzuvollziehende – Situation im Pflegeheim folgendermaßen: »Hier raus … weiß nicht, von welcher Seite die Welt auf mich eindringt … es muß doch eine Richtung geben? … jeder Raum hat doch einen Eingang und einen Aus96
Vgl. Irmela Marei Krüger-Fürhoff: »Narrating the limits of narration. Alzheimer’s disease in contemporary literary texts«, in: Aagje Swinnen / Mark Schweda (Hg.): Popularizing Dementia. Public Expressions and Representations of Forgetfulness. Bielefeld 2015, S. 89-108, hier S. 103.
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gang? Hände … Füße … Scharren von abgestoßenen Stuhlbeinen auf Beton … wollen, daß irgendein Mister Klein »Vera« sagt, sag doch, sag VeraVeraVeraVeraVeraVera, bis ich es höre … höre, wie meine Stimme wegtrudelt … weg ist weg.« (HG, S. 202)97 Wiederholungen, Auslassungen und scheinbar unzusammenhängende Kommentare ›verrätseln‹ die Erzählweise und lassen Maartens Gedankengänge verworren erscheinen. Diese nun mehr assoziative Darstellung lässt jedoch aufgrund der korrekten Syntax eine ungefähre Rekonstruktion des Geschehens zu und ermöglicht überdies durch die schlaglichtartige Situationsbeschreibung, die Absurdität des Pflegeheimalltags pointiert einzufangen.
1.2.3.1
Die Chronologie des Vergessens
Scheint sich die Handlung zunächst an nur wenigen aufeinander folgenden Tagen zu ereignen, deutet im Laufe des Texts einiges darauf hin, dass der innere Monolog des Erzählers von Ellipsen durchsetzt sein muss und dem Leser nur auszugsweise vorliegt. Schließlich ist es unmöglich, dass sich eine primäre Demenz-Erkrankung in nur wenigen Tagen derart drastisch entwickelt.98 Eine Analyse der Textstruktur zeigt, dass die sich mehrenden Absätze nicht nur Gedanken-, sondern häufig auch Zeitsprünge bedeuten, wobei größere Ellipsen typographisch hervorgehoben sind. Kursivierte Satzanfänge markieren den Beginn eines neuen Tages, der nicht zwangsläufig in direkter zeitlicher Abfolge zum Vorhergesagten stehen muss.99 Aufgrund dieser Signalstruktur ergibt sich folgender Zeitablauf: Die Erkrankung schreitet innerhalb weniger Wintermonate rasch voran, wobei insgesamt sieben 97
98
99
Hersenschimmen (1984), S. 155: »Hier uit … weet niet van welken kant de wereld op mij aankomt … er moet toch een richting zijn? … iederer ruimte heeft toch een ingang en een uitgang? / Handen … voeten … geschraap van afgetrapte stoelpoten over beton … willen dat ene mister Klein ›Vera‹ zegt, zeg het, VeraVeraVeraVeraVeraVera, tok ik het hoor … hoor hoe mijn stem wegdobbert … weg is weg.« Die Zäsur wurde durch L.D. eingefügt. Im Gegensatz zu primären Demenz-Erkrankungen können bestimmte sekundäre Demenzleiden, die beispielsweise durch ein Schädelhirn-Trauma hervorgerufen werden, plötzlich auftreten. Vgl. Diener et al. (2008), S. 10. Die Handlung von Hirngespinste deutet jedoch auf eine primäre Demenz-Erkrankung hin, die sich fortschreitend entwickelt und die Folge einer zerebralen, irreversiblen Erkrankung ist. Die ersten beiden Tage folgen offenbar direkt aufeinander. Der dritte Tag muss sich hingegen nicht unmittelbar an die ersten beiden Tage anschließen, es könnte etwas Zeit vergangen sein (allerdings nicht allzu viel, schließlich ist noch von der kaputten Tür die Rede, die Maarten am zweiten Tag aufgebrochen hat). Der vierte Tag folgt vermutlich direkt auf den vorherigen, woraufhin bis zur nächsten Schilderung einige Zeit vergangen zu sein scheint. Ob und wenn ja, wieviel Zeit zwischen dem fünften, sechsten und siebten Tag vergangen ist, lässt sich nicht mit Bestimmtheit rekonstruieren. Der zeitliche Rahmen des Romans legt jedoch nahe, dass höchstens wenige Tage und Wochen zwischen den übermittelten Tagen verstrichen sein können.
1. Das demente Ich
Tage eingehend geschildert werden. Die letzten Textpassagen können nicht mehr einzelnen Tagen zugeordnet werden, sondern scheinen, sich über mehrere Wochen zu erstrecken. Vergleicht man die letzten Seiten der Krankheitsdarstellung mit dem Anfang der Erzählung, so wird deutlich, dass sich das Verhältnis zwischen der erzählten Zeit und der Erzählzeit im Laufe der Handlung ändert. Während die ersten Passagen überwiegend zeitdeckend wiedergeben werden (die Gedankenzitate des ersten und zweiten Tages umfassen jeweils ca. 24 Seiten),100 setzt sich die Schilderung des dritten Tages aus 47 Seiten zusammen und ist somit zeitlich ausgedehnt worden. Aufgrund dieses detaillierten und ereignisreichen inneren Monologs, der von Analepsen durchsetzt ist, wird nicht immer deutlich, ob sich die Ereignisse immer noch am selben (nämlich dem dritten) Tag zutragen.101 Erst die Kursivierung zu Beginn des vierten Tages markiert das Ende dieser Ausführungen. Die Schilderungen des vierten und sechsten Tages erstrecken sich jeweils über 25 Seiten,102 wohingegen der Tag dazwischen wieder zeitdehnend erzählt wird.103 Die Schilderungen des siebten Tags umfassen schließlich nur 12 Seiten, woraufhin ganze Wochen in nur 18 Seiten zeitraffend wiedergegen werden.104 Die Geschehnisse werden folglich wechselweise zeitdeckend und -dehnend erzählt. Das Textende erfährt eine extreme Raffung, bei der große Teile des Geschehens ausgespart werden. Folglich liegt dem Leser eine überschaubare Selektion der Gedankenzitate vor. Die zunehmende Zeitraffung, die sich inhaltlich vollzieht, drückt sich auch an der Textoberfläche aus: Ab dem siebten Tag gliedert sich das Druckbild in immer kürzere Passagen, die nur wenige, überwiegend elliptische Sätze umfassen (vgl. HG, S. 161). Auslassungspunkte zwischen den Satzfragmenten deuten auf einen schwindenden Zusammenhang hin. Neben dieser grammatischen Fragmentarisierung kommt es zu einer weiteren Veränderung der Darstellungsformen: Wurde die direkte Figurenrede im vorangegangenen Text durch Anführungszeichen eingeleitet, wird sie nun allein durch Kursivierung kenntlich gemacht. Diese kursivierten Sätze und Ausrufe sind – im Gegensatz zum übrigen Text – auf Englisch verfasst. Sie vermitteln den Eindruck von plötzlich ertönenden Stimmen, die von Maarten nicht verstanden werden können und sich auch nicht bestimmten Personen zuordnen lassen (vgl. HG, S. 201). Weiterhin heben im letzten Textabschnitt Majuskeln die Reaktionen oder Erkenntnisse hervor, die den Dementen offenbar schockieren. Beispielsweise beobachtet der Protagonist im Pflegeheim folgende beunruhigende Situation:
100 101 102 103 104
Vgl. HG, S. 5-29 und 29-53. Vgl. HG, S. 53-100. Vgl. HG, S. 100-125 und 161-186. Vgl. HG, S. 125-161. Vgl. HG, S. 186-198 und 198-216.
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»Eine Frau läßt sich an einer Wand zu Boden sinken … langsam wie Sirup an der Wand hinunter … sie klatscht in die Hände und weint … Tränen strömen, während sie hart … steinhart lacht, und der Tränenstrom über ihre Wangen, und immer lauter klatscht sie in die Hände, und dann PLÖTZLICH wie auf ein Zeichen VERSTEINERT SIE mit einem lila Gesicht, das langsam aschgrau wird …« (HG, S. 209)105 Die durchgängig in Großbuchstaben gedruckten Worte bringen den plötzlichen Schrecken zum Ausdruck, den der kranke Protagonist in dieser Situation empfindet. Mit unvermittelter Klarheit vermag Maarten, in diesem Moment zu formulieren, was ihn beunruhigt.
1.2.3.2
Eine Frage der Zuverlässigkeit: Die Erzählperspektive
Ein verborgener Erzähler hinter dem dementen Ich? Eben diese sprachliche Klarheit und elliptische Zeitgestaltung werden in literaturwissenschaftlichen Beiträgen kritisch bewertet: So moniert beispielsweise Ben Van Melick, dass ein Demenz-Kranker nicht mehr derart kohärent formulieren könne, wie Maarten es tut.106 Weiterhin zeigt Alexander Zweers logische Inkonsistenzen innerhalb der Erzählung auf: Ihm erscheint es beispielsweise widersprüchlich, dass Maarten beklagt, er könne Englisch nur noch bruchstückhaft verstehen. Gleichwohl sei es dem Kranken aber möglich, Dialoge, die seine Frau mit der Pflegerin auf Englisch führt, in Gänze wiederzugeben.107 Sowohl Van Melick als auch Zweers halten die Erzählperspektive aus diesen Gründen für unglaubwürdig und missglückt. Van Melick führt dabei das fragwürdige Argument an, dass der ›normale‹ Leser, den er als »fauteuil-lezer«,108 also als Sessel-Leser bezeichnen, sich aber im Gegensatz
105 Hersenschimmen (1984), S. 161: »Een vrouw zakt tegen een muur naa beneden…langzaam als stroop langs de muur omlaag…ze klapt en ze huilt…stromen tranen terwijl ze hard…keihard lacht en een stroom tranen over haar wangen en steeds harder klapt ze i haar handen en dan / OPEENS / als op een teken / VERSTEENT ZE / met een paars gezicht dat langzaam asgrauw wordt …« Die Zäsuren wurden von L.D. eingefügt. Sie markieren die Absätze, die die Majuskelschrift vom restlichen Text abrücken. 106 Vgl. Ben Van Melick: »De waarnemer beschrijft, de verteller betekent«, in: De Gids Bd. 149, H. 5 (1986), S. 376-386, hier S. 377. 107 Vgl. Zweers (1998), S. 37. 108 Van Melick (1986), S. 385.
1. Das demente Ich
zum berufsmäßigen Leser, dem »bureau-lezer«,109 nicht an diesen Diskrepanzen störe. Diesen Positionen widerspricht die niederländische Literaturwissenschaftlerin Els Bruynooghe mit der Begründung, dass Maartens Krankheitsgeschichte in erster Instanz nicht von ihm selbst wiedergegeben wird.110 Der Protagonist Maarten müsse nicht als Erzähler, sondern als Fokalisator, als wahrnehmende Figur, eingeordnet werden, so Bruynooghe.111 Um das schwindende Ausdrucksvermögen des Protagonisten zu überbrücken und dessen Innenperspektive unmittelbar wiedergeben zu können, stehe ihm ein verborgener Erzähler zur Seite. Dieser Erzähler ließe sich, Bruynooghe zufolge, wiederum als der implizite Autor identifizieren, der – gemäß Wayne C. Booth – hinter dem Rücken der dementen Figur Signale an den Leser sende.112 Indem Bruynooghe vom »impliziten Autor Bernlef« spricht,113 nimmt sie jedoch (entgegen ihrer Ankündigungen) den realen Autor und dessen Intention in den Blick.114 Eine solche Verwechslung der verschiedenen Instanzen lässt sich durch eine trennscharfe Terminologie vermeiden, schließlich bedarf es nicht der (aus narratologischer Sicht problematischen) Konstruktion des impliziten Autors,115 um die editorischen Eingriffe und die starke zeitliche Raffung der Handlung zu erklären. Hierbei handelt es sich um Hinweise auf eine souverän selektierende, verborgene Erzählerfigur. Dieser covert narrator ist nahezu unsichtbar,
109 Van Melick meint, dass vor den kritischen Augen eines Literaturwissenschaftlers die Wirklichkeitsdarstellung in Hirngespinste nicht bestehen könne. Vgl. Van Melick (1986), S. 385. Zweers verweist lediglich darauf, dass die Demenz-Darstellung trotz erzähltechnischer Ungereimtheiten für den Leser aufgehe. Vgl. Zweller (1986), S. 40. 110 Vgl. Bruynooghe (2007), S. 28. 111 Vgl. Bruynooghe (2007), S. 24. 112 Zum impliziten Autor vgl. Wayne C. Booth: Die Rhetorik der Erzählkunst. Heidelberg 1974, S. 74. [The Rhetoric of Fiction. Chicago / London 1961]. 113 Vgl. Bruynooghe (2007), S. 28: »Op dezelfde manier meen ik dat Hersenschimmen de impliciete auteuer Bernlef aanwezig is. Ik beschouw de signale van onbetrouwbaarheid hier niet als louter tekstuele elemente, maar, zoals gezegd, als knipogen van de auteur achter Maartens rug.« 114 So erklärt Bruynooghe an einer Stelle, dass sie unter dem impliziten Autor den Erzähler-Autor und nicht etwa ›den Menschen Bernlef‹ verstehe. Vgl. Bruynooghe (2007), S. 33, Fn. 5. 115 Zur Kontroverse über den impliziten Autor vgl. Ansgar Nünning: »›Unreliable Narration‹ zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens«, in: Ders. (Hg.): Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier 1998, 3-39; Tom Kindt / Hans-Harald Müller: »Der ›implizite Autor‹. Zur Explikation und Verwendung eines umstrittenen Begriffs«, in: Fotis Jannidis et al. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999, 273-288; Gérard Genette: »Impliziter Autor, impliziter Leser?«, in: Fotis Jannidis et al. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2003, S. 233-246; Tom Kindt / Hans-Harald Müller: The Implied Author. Concepts and Controversy. Berlin 2006.
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da er – noch mehr als die Erzählerfigur in Der Mensch erscheint im Holozän – im Hintergrund des Geschehens agiert: Während Frischs Erzählerfigur durch die heterodiegetische Erzählhaltung zu Tage tritt, wird der verborgene Erzähler in Bernlefs Text allein durch die elliptische Textstruktur offenbar, bei der Zeitsprünge durch typographische Signale kenntlich gemacht werden. Abgesehen von dieser selektierenden Funktion, die einer besseren Lesbarkeit dient, bleibt der Erzähler im Verborgenen. So wird die Demenz-Erkrankung ausschließlich aus der Ich-Perspektive des Fokalisators Maarten erzählt, dem die narrativen Fäden zusehends entgleiten. Dies wird in den immer kürzer werdenden Gedankenzitaten offenbar, die der brüchigen Wahrnehmung des Protagonisten entsprechen. Während zusammenhängende Passagen als Momente geistiger Klarheit gedeutet werden können, weisen Auslassungen innerhalb eines Gedankenzitats auf das schwindende Erinnerungsund Kommunikationsvermögen des dementen Fokalisators hin. Vergessen, verdrängen, verwechseln: Der demente Fokalisator Diese Demenzsymptome, die sich inhaltlich wie formal an den Gedankenzitaten des Fokalisators ausdrücken, haben unweigerlich Auswirkungen auf dessen erzählerisches Vermögen und Zuverlässigkeit. Neben Erinnerungsverlusten kommt es bei Maarten zu Beeinträchtigungen der zeitlichen und räumlichen Wahrnehmung und einer Minderung der Sprach- und Ausdrucksfähigkeit. Diese Krankheitsfolgen machen sich bemerkbar, wenn Maarten immer wieder – wenn auch ungewollt – die Chronologie des Erzählens verändert und Irrtümer begeht. Da der Leser an die Sichtweise des Fokalisators gebunden ist, muss er den gebotenen Informationen zunächst Glauben schenken. Doch schon auf den ersten Seiten wird deutlich, dass unter anderem die Angaben von Tageszeiten und Wochentagen nicht mit den Gegebenheiten der erzählten Welt übereinstimmen. Als Maarten bewusst wird, dass ihn seine eigene Wahrnehmung zeitweise täuscht, sucht er verzweifelt nach einer einfachen Erklärung für diesen Zustand: »Ich könnte schwören, es sei Morgen. Nun da ich durchs andere Fenster aufs Meer blicke, sehe ich, daß es wohl später sein muß. Hinter den grauen Schwaden versteckt sich eine bleiche Sonne. Der Nebel wird schuld sein, daß ich mich geirrt habe. Nebel hält das Licht zurück. Bevor ich mich hinsetze, werfe ich schnell einen Blick auf die Wanduhr. Kurz nach drei Uhr.« (HG, S. 9)116
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Hersenschimmen (1984), S. 10: »Dat ik dat vergeten was. En thee? Ik zou toch zweren dat het ochtend was. Maar nu ik door het andere raam in de richting wan de zee kijk zie ik wel dat het later moet zijn. Achter de grijze damp schuilt een beek zonnetje. Het moet door die mist komen dat ik me heb vergist. Mist houdt licht tegen. Voor ik ga zitten sla vlug een blik op de wandklok. Drie uur geweest.«
1. Das demente Ich
Der Leser ahnt an dieser Stelle bereits, was auch die Figur nicht mehr lange vor sich selbst und seiner Umwelt verbergen kann: Die sich häufenden Irrtümer sind nicht etwa die Folge einer kurzfristigen Wetterfühligkeit, sondern Symptom einer gravierenden Krankheit. Lässt sich die Ungewissheit über die Uhrzeit oder den konkreten Wochentag noch als harmlose Alterserscheinung abtun, wird der Protagonist bald durch vermeintliche Zeitsprünge und Situationswechsel, aber auch durch scheinbar unbekannte Gesichter in seinem Umfeld beunruhigt (vgl. HG, S. 202). Ohne Überleitung kommt es in seiner Wahrnehmung zu Rückblenden und Einbildungen, bei denen sich Maarten plötzlich in seiner Kindheit oder an seinem alten Arbeitsplatz wähnt. Der Leser muss diese spontanen Verwirrtheitszustände miterleben, in denen sich die erzählte Welt übergangslos in einen anderen, vordergründig ebenfalls schlüssigen Kosmos verwandelt. Die von Maarten imaginierten Situationen scheinen nicht vollkommen aus der Luft gegriffen zu sein, sondern entsprechen einer Mischung aus Traum, Vergangenheit und Realität der Figur. So kommt es zum Beispiel dazu, dass Maarten – eigentlich in seinem Haus in Gloucester – plötzlich glaubt, wieder ein kleiner Junge zu sein, der unter Anleitung seiner Kindergärtnerin bastelt. Als seine Ehefrau Vera ihn unvermittelt anspricht, bricht diese Phantasie in sich zusammen, wobei Maarten die Irrealität des vorangegangenen Moments bewusst wird (vgl. HG, S. 13). Solche plötzlichen Analepsen, die sich im Rückblick als Metalepsen herausstellen, sind Ausdruck einer erzählerischen Unzuverlässigkeit und können auf die kognitive Beeinträchtigung des Fokalisators zurückgeführt werden. An dieser Stelle muss betont werden, dass es sich bei Maarten um eine eigentlich ›ehrliche‹ Instanz handelt, die jedoch zunehmend nicht mehr dazu in der Lage ist, die Realität der erzählten Welt mit ihrer eigenen Wahrnehmung übereinzubringen.117 Während ihm manche Verwechselung und Verfehlung im Nachhinein bewusst werden, weisen verschiedene Textsignale darauf hin, dass viele seiner Irrtümer von Maarten unbemerkt bleiben. Diese Signale ermöglichen dem Leser, mehr zu wissen, als der Protagonist über sich selbst zu sagen vermag. Als ein solcher Hinweis fungiert beispielsweise der intertextuelle Bezug auf den Roman Unser Mann in Havanna, der Maarten immer wieder im Laufe der Handlung in die Hände fällt. Obwohl er sich das Buch selbst gekauft und auch schon darin gelesen hat, glaubt er jedes Mal aufs Neue, einen ihm unbekannten Text vor sich zu haben. Dieses Motiv zeugt von Maartens nachlassender erzählerische Zuverlässigkeit und lässt überdies die singulative Erzählweise erkennen, die dem Text zu Grunde liegt. Die demente Hauptfigur berichtet immer wieder davon, was sich immer wieder ereignet – eine Zustandsbeschreibung, die sich auch in Max Frischs
117
Vgl. Bruynooghe (2007), S. 28: »Maar Maarten Klein is niet moreel onbetrouwbaar (hij probeert niet om afwijkende morele opvatting als normaal voor te stellen), het gaat hier veeleer om epistemologische onbetrouwbaarheid […].«
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Der Mensch erscheint im Holozän findet und auf den sich perpetuierenden Gedächtnisverlust schließen lässt (vgl. Textanalyse, Kapitel 1.1.2) Jenseits dieser erzählerischen Funktion stellt das Buch-Motiv einen offenen intertexuellen Bezug zu Graham Greens Roman her, der sich weiterhin in der Figurenzeichnung vertieft: Ähnlich wie Maarten sieht sich Greens Protagonist James Wormold in Unser Mann in Havanna dazu gezwungen, Informationen und Vorgänge zu erfinden, um sein Gesicht als Spion während der Kubakrise zu wahren. Dabei kommt es zu bizarren Verwicklungen und Missverständnissen, die schließlich seitens der amerikanischen Regierung unter den Teppich gekehrt werden, damit kein größerer Skandal entsteht. Das Netz aus Lügen und Erfindungen, das Wormold in Unser Mann in Havanna spinnt, ähnelt Maartens Vorgehensweise, der von sich sagt: »Notfalls – wenn es unbedingt sein muß – werde ich mir von Minute zu Minute ein Leben ausdenken und daran glauben […].« (HG, S. 102) Selbstreflexion und Sprachvermögen Während im Laufe von Maartens Erkrankung immer mehr Textsignale darauf hindeuten, dass die Wahrnehmung des Kranken zuweilen nicht mit den Fakten der erzählten Welt übereinstimmt, finden sich ebenso Hinweise dafür, dass Maarten gar nicht so fehlerhaft erzählt, wie man es bei einer dementen Figur annehmen könnte. Schließlich lässt sich die Handlung trotz vieler Ungereimtheiten im Großen und Ganzen nachvollziehen.118 Diese Verständlichkeit steht in Zusammenhang mit einer Art doppelten Kommunikationsstrategie, zu der Maarten auch im fortgeschrittenen Stadium seiner Krankheit in der Lage ist: In Phasen zunehmender Verwirrung vermag er, sich zeitweise von außen zu beobachten und seinem kranken Selbst Ratschläge zu erteilen oder sein Handeln zu kommentieren. Diese Anmerkungen sind in Klammern gefasst und kommen ab einem bestimmten Zeitpunkt immer häufiger vor. Meistens handelt es sich dabei um Gedankengänge, die um das krankheitsbedingte Unvermögen des Fokalisators kreisen. Auch wenn Maarten nicht mehr dazu fähig ist, seinen Ängsten und Vorstellungen gegenüber anderen Ausdruck zu verleihen, scheint seine innere Stimme jedoch vergleichsweise orientiert und wortgewandt. Es kommt zu einer Diskrepanz zwischen dem erzählenden und dem erlebenden Ich, die zwar zur selben Zeit agieren, aber sich in ihren sprachlichen und manchmal auch rationalen Fähigkeiten voneinander unterscheiden.119 Dieser Zwiespalt, der durch den dialogisierenden Monolog zum Ausdruck gebracht wird, hat zum Teil eine befremdliche Wirkung: Maartens Selbstgespräch erweckt an manchen Stellen den Eindruck einer Leseransprache, mit der er sein Verhalten erklärt. Diese Erzählsituation steht dem eigentlichen inneren Monolog gegenüber und bewirkt zeitweise einen Bruch der Erzählillusion. Schließlich ahnt 118 119
Vgl. Zweers (1998), S. 38. Vgl. Bitenc (2012), S. 308f.
1. Das demente Ich
Maarten nichts von seiner erzählerischen Funktion und verhält sich doch so, als ob er seine Gefühlswelt gegenüber einem Adressanten darlege.120 Während diese innere Zwiesprache an manchen Textstellen der Erzählillusion zuwiderläuft, stützt sie jedoch einen inhaltlichen Aspekt: Die eingeklammerten Gedankengänge verdeutlichen, dass sich Maarten von seinem kranken Selbst zu distanzieren versucht und unter dieser Zerrissenheit leidet. Beispielsweise kann er Vera erklären, wie sich die Krankheit anfühlt: »Alles geht ruckartig. Es ist keine fließende Bewegung mehr drin wie früher. In nichts mehr. Der Tag ist voller Risse und Löcher. Sage und schreibe. Nein, wirklich nicht, leider. Es geht nicht mehr.« (Wer oder was bildet diese knirschenden Sätze, die ich durch Einfügungen und Füllwörter möglichst nachlässig hervorzubringen versuche?) (HG, S. 154f.)121 Frustriert schaut Maarten sich selbst dabei zu, wie er sich benimmt und ausdrückt. Seine beeinträchtigte Kommunikationsfähigkeit steht dabei in Kontrast zum hohen Niveau an Selbstreflexion, zu der er immer noch in der Lage ist. Dadurch, dass der Protagonist zwar zur Erkenntnis, nicht aber zur sprachlichen Umsetzung fähig ist, wird er sich selbst fremd. Nicht er, sondern jemand anderes scheint aus ihm zu sprechen und ihn zu lähmen. Dieser Prozess gleicht dem Vorgang der IchAufspaltung und -Verdopplung, der in der Literatur der Décadence als dédoublement bezeichnet wird: Das Ich teil sich dabei »in zwei Instanzen auf, von denen die eine lebt und handelt, die zweite aber gerade die erste beim Leben und Handeln beobachtet.«122 Indem die Figur sich fortwährend selbst bespiegelt, macht sie sich ihrer Unzulänglichkeiten bewusst, entfremdet sich schrittweise von ihrem einstigen Selbstkonzept und wird dadurch immer gehemmter.123 Das ursprünglich in Texten von Hugo von Hofmannsthal oder Oscar Wild auftretende Phänomen des dédoublement kommt immer in literarischen Krisensituationen zum Tragen und lähmt die Handlungen der Figur, die sich zeitweise nur noch von außen zu betrach-
120 Diese Gestaltung veranlasst Krüger-Fürhoff dazu, die Glaubwürdigkeit der Darstellung zu hinterfragen. Vgl. Krüger-Fürhoff (2015), S. 14: »Are the aesthetic strategies that Bernlef applies in order to narrate the limits of narration convincing, both on an ontological level (Is this really how Alzheimer’s patients talk and think) and on an aesthetic level […]?" 121 Hersenschimmen (1984), S. 119: »›Alles gaat met horten en stoten. Er is geen vloiende beweging meer in, zoals vroeger. Nergens meer. De dag zit vol scheuren en gaten. Zeggen en schrijven. Nee echt, heus niet. Het gaat niet meer.‹ (Wie of wat vormt deze knarsende zinnen, die ik er door tussenvoegsels en -werpsels nog zo’n beetje achteloos probeer uit te brengen?)« 122 Alexander Michael Fischer: Dédoublement. Wahrnehmungsstruktur und ironische Erzählverfahren der Décadence. Würzburg 2010, S. 16. 123 Zur Unterscheidung der Begriffe Ich und Selbst, Selbstkonzept und Identität vgl. Janich / Thim-Mabrey (2003) oder auch Thomas Metzinger: »Selbst, Selbstmodell, Subjekt«, in: Achim Stefan / Sven Walter (Hg.): Handbuch Kognitionswissenschaft. Stuttgart 2012, S. 420-427.
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ten vermag.124 Maartens fortlaufende Selbstbeobachtungen stellen einen Rückgriff auf dieses Erzählverfahren dar. Doch im Gegensatz zum dekadenten dédoublementPhänomen kommt es in Bernlefs Hirngespinste nicht nur zu einer einfachen IchDissoziation,125 sondern zu einer Multiplizierung der Perspektiven: Der Protagonist beobachtet nicht nur sein eines alter Ego, sondern schwankt zwischen unterschiedlich stark distanzierten Außensichten. So blickt Maarten zeitweise auf sein dementes Selbst, wie auf einen vertrauten Menschen, den er mit ›Du‹ anspricht, dann wieder beobachtet er sich wie einen außenstehenden Dritten (vgl. HG, S. 212), in den er sich nicht mehr einfühlen kann. Diese Selbstentfremdung steigert sich, als der Protagonist in ein Pflegeheim gebracht wird. Hier verängstigen ihn die ungewohnte Umgebung und die anderen, überwiegend dementen Bewohner, was sich auch auf seine Erzählweise auswirkt: »Weglaufen also … weg von hier, und dir einen Weg tasten durch die dicken Falten einer Übergardine […] klammerst dich weiter der Gardine entlang, bis du den Ausgang gefunden hast und keuchend im Dunkel stehen bleibst, wo du das Klavier zwar noch hörst, aber gedämpfter, und auch das Singen wird matter und dürftiger … er ist auf der Suche nach dem Ausgang … so sehe ich das … und ladet wieder bei einem Treppchen, auf dem man rückwärts auf Händen und Füßen herunterklettert oder stolpert […]« (HG, S. 213f.)126 Innerhalb dieser kurzen Passage kommt es gleich zu mehreren Perspektivwechseln, die die innerliche Zerrissenheit des Fokalisators verdeutlichen. So redet er zu Anfang des Zitats von sich selbst, als beobachtete er einen Freund, den er mit ›Du‹ anspricht. Mit dieser Facette seines Selbst tritt Maarten in eine Art dialogisierenden Monolog.127 Dann wiederum erscheinen ihm die Handlungen des alter Ego wie
124 Vgl. Fischer (2010), S. 154. 125 Der Begriff ›Dissoziation‹ stammt aus der Psychologie und Psychiatrie und bezeichnet das Auseinanderfallen psychischer Funktionen. Häufig betroffen sind die Bereiche der Motorik, des Gedächtnisses und Bewusstseins sowie der Wahrnehmung. Während diese Phänomene häufig durch psychische Traumata ausgelöst werden und in vielen Fällen therapierbar sind, ist die demenzbedingte Dissoziation unumkehrbar. Eine Einführung in die Thematik bietet z.B. Peter Fiedler: Dissoziative Störungen. Göttingen 2013. 126 Hersenschimmen (1984), S. 164: »Weglopen dus … hier vandaan en je tast je een weg tussen de dikke plooien van een achtergordijn … […] klauwt verder langs het gordijn tot je de uitgang hebt en hijgend in het donker blijft staan waar je de piano nog wel hoort maar gedempter en ook het zingen steeds flauwer en gebrekkiger…op zoek is hij naar de uitgang…zo mag ik het zien…en belandt hij weer bij een trappetje dat je omgekeerd op handen en voeten afklimt of struikelt […].« 127 Zu Dialogstrukturen in inneren Monologen vgl. Barbara Korte: »Das Du im Erzähltext. Kommunikationsorientierte Beobachtungen zu einer vielgebrauchten Form«, in: Poetica Bd. 19 (1987), S. 169-194. Oder: Silke Cathrin Zimmermann: Das Ich und sein Gegenüber. Spielarten des Anderen im monologischen Erzählen. Trier 1995. Zimmermann behandelt hierin unterschiedli-
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die rätselhaften Vorgehensweisen eines Unbekannten, der von ihm in der dritten Person Singular beschrieben wird. Schließlich verwendet Maarten nur noch das Indefinitpronomen ›man‹ – ein Zeichen dafür, dass er das Geschehen um ihn herum nicht mehr mit einer konkreten Person, geschweige denn mit sich selbst in Verbindung bringt.128 Diese sprachliche Heterodiegese verdeutlicht die Unfähigkeit der dementen Figur, sich mit ihren eigenen Handlungen zu identifizieren. Gleichzeitig ermöglicht diese Distanzierung des erzählenden Ichs, eine unverstellte Sicht auf die Handlungen des erlebenden Ichs, dessen Irrtümer nicht länger verschleiert werden.129
1.2.3.3
Versanden, wegspülen, einschneien: Demenz-Metaphern und -Vergleiche
Es schneit in mir Der von der Krankheit bewirkte Selbstentfremdungsprozess veranlasst Maarten dazu, immer wieder Bilder und Vergleiche für die beunruhigenden inneren Vorgänge zu finden. Dabei sind auffallend viele semantische Figuren der Meteorologie entlehnt. Schon im ersten Satz stellt der Protagonist einen Zusammenhang zwischen seinen Krankheitssymptomen und dem Wetter her. Fast hoffnungsvoll wirft er die Frage auf: »Vielleicht kommt es vom Schnee, daß ich mich morgens schon so müde fühle?« (HG, S. 5) Im Verlauf des Texts erkennt er jedoch, dass die Vorgänge in seinem Inneren unaufhaltsam fortschreiten, ohne dass äußere Faktoren darauf Einfluss haben. Auch wenn das Wetter nicht die tatsächliche Ursache seines Leidens ist, fallen ihm immer mehr Parallelen zwischen den Witterungsphänomenen und seinen Gedächtnisverlusten auf. Wie Nebel, Schnee und Eis die Sicht verschlechtern, den Boden gefrieren lassen und der gewohnten Umgebung eine andere Erscheinung geben, führt die Demenz-Erkrankung bei Maarten zu Verwirrung und Isolation.130 Auf die Frage seiner Frau, was mit ihm los sei, antwortet er deshalb: »Nichts [ist los], sagte ich, mir sei nur als sei mein Kopf durchsichtig; aus Glas oder Eis, ganz hell, ganz hell, obwohl ich an nichts dächte.« (HG, S. 30) Während der Fokalisator die Krankheit an dieser Stelle als blendende Helligkeit
che Texte des 20. Jahrhunderts, in denen – ähnlich wie in Hirngespinste – »das Problem von Ich und alter ego mehr und mehr in die Gedankenwelt des Monologisten verlegt [werden]. […] Mit der Fokussierung pathologischer Geisteszustände und dem inneren Monolog als ihrem zentralen Darstellungsmittel weicht die rationalisierende Selbstreflexion der Darstellung von Gespaltenheit und Flüchtigkeit des Ichs.« Zimmermann (1995), S. 18. 128 Vgl. Bitenc (2012), S. 311. 129 Vgl. John Kirby: »Toward a Rhetoric of Poetics: Rhetor as Author and Narrator«, in: The Journal of Narrative Technique Bd. 22 (1992), S. 1-22, hier S. 10: »[…] while, in first-person narration, the narrator would occupy a particular subjectivity, however indistinct or covert, this disappears, or rather, is handed over to the narratee – when the narrative is spun out in second person.« 130 Vgl. Bitenc (2012), S. 313.
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empfindet, greift er in anderen Momenten zu Schnee- und Nebel-Metaphern, die getrübte Sicht, ja Dunkelheit bedeuten. Im Laufe des Texts verlagert sich der lange Winter sprachlich mehr und mehr in die Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten, der resigniert feststellt: »Immer tiefer fällt der Winter (immer weniger kann man selbst dagegen tun).« (HG, S. 193) Dieser Satz verdeutlicht Maartens Ohnmachtsgefühl, denn ähnlich wie er keinen Einfluss auf das Wetter hat, empfindet er seine Krankheit als etwas, das mit ihm geschieht. Mit der zunehmenden gesundheitlichen Verschlechterung verstärkt sich auch die allegorische Verschränkung von Krankheit und Winter.131 So denkt Maarten schließlich: »Doch es schneit weiter. Es schneit sogar in mir. Kein Widerstand mehr.« (HG, S. 197) Eine solche meteorologische Bildlichkeit, die sich auch im häufigen Gebrauch von Witterungsverben ausdrückt, weist große Überschneidungen mit Der Mensch erscheint im Holozän auf. Ähnlich wie Maarten erkennt auch Frischs Protagonist einen Zusammenhang zwischen seinen Gedächtnisverlusten und den reißenden Wasserströmen,132 die Wege unbefahrbar machen, die Umgebung verwüsten und Telefonleitungen kappen. Beunruhigt bemerkt Geiser die Folge des Gewitters und scheint dabei eine Parallele zu seinem Geisteszustand zu ziehen, wenn er sagt: »Geröll im Salat, Fladen von Lehm unter den Tomaten. Vielleicht ist es schon vor Tagen geschehen.« (MH, S. 210) Doch mehr als die katastrophalen Folgen der Regenfälle fürchtet Geiser den Stillstand und die Erstarrung, die durch den Schneefall hervorgerufen werden. Dass gerade diese Art des Niederschlags als ein gebräuchliches Bild für Demenz dient,133 lässt sich auf die geläufige Analogie der Jahreszeiten mit den Lebensaltern des Menschen zurückführen. Darüber hinaus geht starker Schneefall – ähnlich wie Demenz – mit Sichtverschlechterungen und einer Verän-
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133
Zur verbreiteten Analogie von Herbst, Winter, Schnee und einem sich verschlechternden Krankheitsverlauf vgl. Kretzschmar (2012), S. 139. Neben Schneefall sind Wassermassen – seien es Regenfälle, Sturzbäche oder Meeresfluten – ein gebräuchliches Bild für Demenz. So umschreibt Katharina Hagena in ihrem Roman Der Geschmack von Apfelkernen die Alzheimer-Demenz einer Figur wie folgt: »Das Gehirn versandet wie ein Flussbett. Erst bröckelt es nur ein bisschen vom Rand, dann klatschen große Stücke des Ufers ins Wasser. Der Fluss verlor seine Form und Strömung, seine Selbstverständlichkeit. Schließlich floss gar nichts mehr, sondern schwappte nur hilflos nach allen Seiten. Weiße Ablagerungen im Gehirn ließen die elektrischen Ladungen nicht durch, alle Enden wurden isoliert, und am Ende auch der Mensch: Isolation, Insel, Gerinnsel […]«. Katharina Hagena: Der Geschmack von Apfelkernen. Köln 2008, S. 81. So trägt beispielsweise eine bekannte Anthologie literarischer Demenz-Darstellungen den (vermutlich an Bernlefs Roman angelehnten) Titel Es schneit in meinem Kopf. Vgl. Klara Obermüller (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. München / Wien 2006. Hierzu vgl. Glasenapp (2015), S. 154.
1. Das demente Ich
derung der Umgebung einher.134 Die übliche Assoziation von Schnee mit Reinheit und Perfektion findet sich weder in Der Mensch erscheint im Holozän noch in Hirngespinste. Stattdessen wird das unter der Schneedecke brachliegende Land in beiden Texten als trist und konturenlos beschrieben.135 Indem beide Figuren ihre Krankheiten in einen Bedeutungszusammenhang mit dem Wetter stellen, bringen sie aber nicht nur ihre Machtlosigkeit gegenüber beiden Phänomenen zum Ausdruck. Die Schnee- und Regen-Metaphorik lässt auch auf die Hoffnung der Figuren schließen, dass es sich bei ihren Krankheiten nur um eine vorrübergehende Symptomatik handeln könnte. Während Geiser stets darauf hofft, dass sich die Wetterlage spontan bessern könnte, rechnet Maarten mit einem langfristigen Wandel: Immer wieder betont er, dass der Winter nicht ewig dauern kann und spricht bis zuletzt davon, dass der Frühling anbrechen muss, und »vielleicht wird man dann wieder, wie man früher war?« (HG, S. 190) Schwer und leicht zu gleich: Kontrastierende Tropen Ähnlich wie die meteorologische Bildlichkeit im Laufe des Texts eine Intensivierung erfährt – sich von Vergleichen hin zu Metaphern wandelt, die schließlich nicht mehr außerhalb der Figur angesiedelt sind, sondern sich in ihrem Inneren zu ereignen scheinen – kommt es zu einer sukzessiven Steigerung des Meeres-Tropus: Zu Beginn der Erzählung vergleicht Maarten sein Haus mit einem knarrenden Kutter, dem er selbst wie ein Kapitän vorsteht (vgl. HG, S. 6). Als sich bei ihm mehr und mehr ein Gefühl der Unsicherheit einstellt, empfindet der Ich-Erzähler »als wäre eine Seekrankheit in meinem Denken ausgebrochen.« (HG, S. 92) Während er in dieser Passage die Phasen der Verwirrung mit einer plötzlichen Übelkeit vergleicht, die von starkem Wellengang ausgelöst worden ist, fühlt er sich kurze Zeit später wie »ein Schiff, das in eine Windstille geraten ist. Plötzlich kommt ein kleiner Wind auf, und ich fahre wieder. Dann hat mich die Welt wieder im Griff, und ich kann mich weiter bewegen.« (HG, S. 93) Beide Vergleiche stellen eine Beziehung zwischen den Krankheitssymptomen und der nautischen Sphäre her. Dabei entwerfen sie eine beinahe paradoxe Bildlichkeit: Während Maarten sich beim ersten Vergleich als Passagier auf einem Schiff wähnt, der vom heftigen Wellengang betroffen ist, identifiziert er sich beim zweiten Beispiel gleich mit einem ganzen Schiff. Doch anders als der von Seekrankheit betroffene Passagier ist dieses Schiff nicht der starken Flut ausgesetzt, sondern kann aufgrund einer Flaute nicht weiterfahren. Auf diese Weise vergleicht Maarten seine Krankheit als unüberschaubares 134
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Vgl. Nicolai Glasenapp: »Lebt man in Vergessenheit? Zum Konnex von Sterben, Tod und Demenz in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur«, in: Limbus. Australisches Jahrbuch für germanistische Literatur- und Kulturwissenschaft Bd. 8 (2015), S. 147-165, hier S. 154. Die negative Wertung des Schnees steht hier Martin Suters Roman Small World entgegen, in dem die Schnee-Metaphorik in Bezug auf die Demenz-Erkrankung des Protagonisten positiv gewendet wird. Vgl. Martin Suter: Small World. Zürich 1997, S. 177.
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Chaos und Stillstand zugleich. Wie widersprüchlich diese beiden Vergleiche auch sein mögen, zeugen sie beide gleichermaßen vom Gefühl der Ohnmacht, das die Demenz in Maarten auslöst. Dieser ist allerdings nicht gewillt, sich der Krankheit widerstandslos auszuliefern: »Bei Gott, ich werde weiterkämpfen gegen die Wellen, die Brandung in meinem Kopf […]« (HG, S. 135). Vermittelten die Meeres- und Schiffs-Vergleiche zuvor den Eindruck einer äußeren Bedrohung, zeugt die Metapher der Brandung im Kopf davon, dass Maarten nunmehr von einem inneren Kampf ausgeht, den er gegen sein krankes Selbst führt. Diese Auseinandersetzung stellt sich ihm jedoch bald als unaufhaltsamer Aufspaltungsprozess dar, bei dem der gesunde Teil seiner Persönlichkeit einer stärkeren Kraft unterliegt: »Ich spalte mich von innen her auf. Es ist ein Prozeß, den ich nicht aufhalten kann, denn ich selber bin dieser Prozeß. Man denkt »ich«, »mein Körper«, »mein Geist«, aber das sind nur Worte. Früher haben sie mich beschützt. Als ich das noch nicht hatte. Jetzt gibt es eine stärkere Kraft, die mich beherrscht und gegen die ich mich nicht wehren kann.« (HG, S. 136)136 Maarten geht – ähnlich wie Lenz oder Geiser – von einer externen Kraft aus, die sich ihm zu eigen gemacht hat. Die Vorstellung, dass ein anderer Mensch aus ihm spreche, wird nach und nach von dem Gefühl abgelöst, dass ein nicht näher zu definierendes ›Etwas‹ in ihm denkt (vgl. HG, S. 138). Dieses Es schöpft »den Maarten von damals« leer (HG, S. 203), gleichzeitig hat er den Eindruck, ›löchrig‹ zu sein und seine eigentliche Form zu verlieren. Es scheint ihm, als habe er ›Leck geschlagen‹ (vgl. HG, S. 142), sodass er nach und nach Gedanken und Fähigkeiten verliere. Weiß er zunächst noch um die Bildhaftigkeit seiner Sprache, entspricht die Metapher des Leck-geschlagenen Schiffes schließlich seiner tatsächlichen Körperwahrnehmung, wenn er beklagt, »voller Löcher« zu sein (HG, S. 192). Der zunehmende Erinnerungsverlust löst bei Maarten weitere, oftmals widersprüchliche Assoziationen aus: Hatte er zu Anfang noch vom »Gefühl einer plötzlichen Schwere« gesprochen, »als würde ich durch alles hindurchfallen und könnte mich nirgends festhalten« (HG, S. 93), glaubt er schließlich, aufzuquellen und »zur Oberfläche aufzusteigen« (HG, S. 194). Maarten schwankt nicht nur in der Beschreibung seines ›Aggregatzustands‹ (mal glaubt er eingefroren, mal ganz flüssig zu sein, kurz darauf empfindet er sich so leicht wie Luft), er ist sich auch seiner Proportionen nicht mehr sicher. So fragt er sich: »Vielleicht bin ich nicht groß,
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Hersenschimmen (1984), S. 106: »Ik word van binnenuit opgesplitst. Het is een proces dat ik niet tegen kan houden omdat ik zelf dat proces ben. Je denkt ›ik‹, ›mijn lichaam‹, ›mijn geest‹, maar dat zijn maar woorden. Vroeger beschermden die me. Toen ik dit nog nied had. Maar er is een grotere kracht die het nu in mij voor het zeggen heeft en die niet valt tegen te spreken.«
1. Das demente Ich
sondern klein […]«? (HG, S. 190) Diese paradoxe Körperwahrnehmung ist Teil einer regressiven Entwicklung, die Maarten während seiner Krankheit durchläuft. Je schneller die Demenz voranschreitet, desto mehr fühlt er sich in seine Kindheit zurückversetzt. Hilflos und verwundert nimmt er seine Umgebung, aber auch sich selbst als verändert wahr. Diese paradoxe Empfindung erinnert an Lewis Carrolls Erzählung Alice im Wunderland, in der die Hauptfigur Alice ihre Körpergröße zunächst willentlich verändert. Im Laufe der Handlung schrumpft und wächst sie jedoch immer wieder unkontrolliert, woraus bei ihr – wie in Maartens Fall – ein Gefühl der Beklemmung erwächst.137 Traumhafte Wachwelten Neben dieser metamorphischen Körperwahrnehmung weisen Maarten und Lewis Carrolls Protagonisten Alice weitere Überschneidungen auf. Ähnlich wie Letztere, die in eine absurde Parallelwelt geraten ist, befindet Maartens sein Umfeld im fortgeschrittenen Krankheitsstadium für absonderlich. Die Kommunikation zwischen den Patienten und den Pflegern, aber auch die beschäftigungstherapeutischen Maßnahmen scheinen einer zum Teil skurrilen Ordnung zu folgen, die Maarten nicht länger versteht. Genau wie Alice, die hilflos nach den Spielregeln ihrer offenbar unsinnigen Umwelt fragt, glaubt auch Maarten, der eigentlich Normale in einer verrücktgewordenen Gesellschaft zu sein.138 Die Schilderungen des bizarren Pflegeheim-Kosmos erinnern aber nicht nur an Carrolls populären Nonsens-Text, sondern verweisen auch auf Bildwelten romantischer Märchen und die darauf referierenden Erzähltexte der klassischen Moderne. Bernlefs Text umfasst (ähnlich wie beispielsweise Kafkas Romanfragmente) traumtypische Aspekte, die »– wenn sich im Text nur ein Hinweis fände – sogleich einleuchtend als Traum aufgelöst und verstanden werden könnten.«139 Vieles deutet jedoch daraufhin, dass es sich um eine irritierend traumähnliche Wachwelt handelt,140 zu der Maarten keinen richtigen Zugang findet. Wie an einer anderen alptraumhaften Situation deutlich wird, bleibt ihm jedoch nicht nur die Kommunikation mit seinem Umfeld versagt; die Krankheit beeinträchtigt auch seine Eigenwahrnehmung. Von seinem dementen Selbst entfremdet, ist es Maarten nicht länger möglich, sein eigenes Spiegelbild zu erkennen. Diese Metapher wiederholt sich in der Erzählung in verschiedenen Spielarten. So zeigt Maarten der Blick in den Spiegel anstelle seines Gesichts nur eine blanke, 137
Zum Kontrollverlust bei Alice im Wunderland vgl. Christian Enzensberger: »Der Aufruhr der Regeln«, in: Lewis Carroll: Alice im Wunderland. Frankfurt a.M. 2008. S 129-138. 138 Maarten ist die Absurdität des Pflegeheimalltags bewusst, der von kindlichen Spielen, Singund Malübungen, vor allem aber von dem seltsamen Verhalten der anderen Kranken geprägt ist. Vgl. HG, S. 209. 139 Stefanie Kreuzer: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn 2014, S. 523. 140 Ebd.
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weiße Fläche (HG, S. 133).141 Wie Heike Hartung in ihrem Aufsatz zeigt, kommt die Metapher des leeren Spiegels häufig in Zusammenhang mit literarischen AltersDarstellungen vor und lässt auf die physische und psychische Aufspaltung der alternden Figur schließen.142 Maartens schwindende Reflexionsfähigkeit drückt sich jedoch nicht nur im weißen Spiegel aus. An einer anderen Stelle erschreckt sich der kranke Protagonist beispielsweise vor seiner Spiegelung in einem Fenster. »Ein alter Mann im Schlafanzug schaut mich an, imitiert einen Lebenden mit seinen hohlen schwarzen Augen und den langen, weißen mageren Händen, die er jetzt abwehrend, die Handflächen nach außen gekehrt, vor die Brust hebt. […] Herrgott noch mal. Draußen schwebt ein Mann über dem Schnee! Ein Mann, ein Klavier, ein Schreibtisch, ein ganzes Zimmer schwebt draußen in der Nacht über dem Schnee.« (HG, S. 152) Da Maarten nicht länger zur Selbsterkenntnis fähig ist, glaubt er, in der Spiegelung eine unheilvolle, fremde Gestalt zu erkennen, die wie ein Geist samt Mobiliar aus dem nächtlichen Garten auf ihn zu schwebt. Diese bizarre Szene erinnert an die von Carroll geschaffene Parallelwelt in Alice hinter den Spiegel, aber auch an romantische und moderne Doppelgängermotive.143 Wie bereits beim dédoublement-Phänomen gezeigt, steht eine derartige Ich-Aufspaltung in Zusammenhang mit Maartens krankheitsbedingtem Sprach- und Identitätsverlust. Denn »dort, wo Sprache versagt, wo das ›Sich-selber-lesen‹ ins Stocken gerät, kommt der Doppelgänger als magisches Muster früherer Lesarten zurück ins Gesichtsfeld des modernen Menschen.«144 Dementsprechend beobachtet Maarten sein äußeres Erscheinungsbild wie einen Fremden, der bereits tot zu sein scheint. Eine solche Darstellungsweise ist, wie Alexander Schwieren detailliert darlegt, bei Demenz-Narrativen üblich. So treten demente Figuren häufig »auf dem Schauplatz der Literatur als
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Das Bild des leeren Spiegels findet sich auch in einem Demenz-Gedicht von Viktor Fritz’. Vgl. Viktor Fritz: Leerer Spiegel, in: Felix Mitterer (Hg.): Texte aus der Innenwelt. Wien 2001, S. 16. Auf diesen Zusammenhang hat bereits Gerd Schneider verwiesen: Vgl. Gerd Schneider: »›Ich verstehe die Welt nicht mehr. Sie ist mir abhandengekommen.‹ Zur Krankheit des Vergessens und ihrer Darstellung in der deutschen und österreichischen Literatur«, in: Journal of Austrian Studies Bd. 50, H. 1 / 2 (2017), S. 1-32, hier S. 11. 142 Vgl. Krüger-Fürhoff (2015), S. 103. Im Zusammenhang mit der Spiegelthematik vgl. auch Hartung (2010), S. 123-138. 143 Aus der Fülle an Forschungsbeiträgen über das literarische Motiv des Doppelgängers sei exemplarisch auf die folgenden Beiträge hingewiesen: Ingrid Fichtner (Hg.): Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Wien 1999. Oder aber: Gerald Bär: Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm. Amsterdam / New York 2005 sowie Thomas Bilda: Figurationen des ›ganzen Menschen‹ in der erzählenden Literatur der Moderne. Würzburg 2014. 144 Bär (2005), S. 451.
1. Das demente Ich
Grenzgänger [in Erscheinung], wobei die Grenzen ihre eigene Existenz durchzieh[en]: Einerseits ein schwindender Lebenszusammenhang, verblassende Erinnerungen, abreißende Beziehungen, andererseits eine Dunkelheit, die sich allen Worten entzieht.«145 Indem Bernlef das Motiv des geisterhaften Doppelgängers wählt, der aus dem Dunkel auf Maarten zu schwebt, stellt auch er den Dementen als Grenzgänger dar, der zwar noch nicht tot, aber auch nicht mehr lebendig ist.
1.2.3
Die Krise des Erzählens
Neben den intertextuellen Anleihen an die viktorianische Unsinns-Dichtung und die romantische Doppelgänger-Motivik, weist Hirngespinste thematische wie narrative Parallelen zu Texten der Klassischen Moderne auf. Diese Nähe drückt sich nicht nur in der paradoxen Bildwelt aus, sondern auch in der Problematisierung des Persönlichkeitsbegriffs und der Frage nach angemessenen Erzähl- und Darstellungsformen. Hatte die urbanisierte Lebens- und Erfahrungswelt des beginnenden 20. Jahrhunderts dazu geführt,146 das Walter Benjamin eine »Krise der Wahrnehmung«147 und daraus resultierend, auch eine Krise des Erzählens ausrief, beleuchtet Hirngespinste eine krankheitsbedingte Wahrnehmungskrise, die ebenso nach angemessenen Darstellungsformen verlangt.148 Um der Sprachlosigkeit und dem Gedächtnisverlust erzählerisch Rechnung zu tragen, bedient sich Bernlef deshalb modernistischen (und überaus etablierten) Erzählverfahren: So nähert sich der Text gegen Ende immer mehr einem Bewusstseinsstrom an, bei dem die
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Alexander Schwieren: »Lebendige Tote: Zum Status der Dementen in der Gegenwartsliteratur«, in: Daniela Ringkamp / Sara Strauß / Leonie Süwolto (Hg.): Demenz und Subjektivität. Ästhetische, literarische und philosophische Perspektiven. Frankfurt a.M. et al. 2017, S. 121-136, hier S. 132. Zu einer ähnlichen Diagnose kommt in der englischsprachigen Forschung zu DemenzNarrativen Susan Behuniak: »The living dead? The construction of people with Alzheimer’s disease as zombies«, in: Ageing & Society Bd. 31 (2011), S. 70-92. 146 Zum Prozess der Urbanisierung und den damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Veränderungen im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert vgl. Friedrich Lenger: Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850. München 2013. Oder aber Sabina Becker: Urbanität und Moderne. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900-1930. St. Ingbert 1993. 147 Walter Benjamin: Krisis des Romans. Zu Alfred Döblins ›Berlin Alexanderplatz‹, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3. Hg. von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a.M. 1972, S. 230-236, hier S. 231. 148 Vgl. hierzu Kretzschmar (2012), S. 125: »Literatur hatte in erheblichem Ausmaß an der Basiserzählung moderner Subjektgenese mitgeschrieben. Die Prominenz der Alzheimer-Thematik in der Gegenwartsliteratur ist mithin ein Indiz dafür, dass sie nun ebenso nachhaltig an den Beschreibungen und deutenden Reflexionen der durch Alzheimer ausgelösten Prozesse der Subjektdissoziation partizipiert.«
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Vergessen erzählen
erzählerische Einbettung sukzessive einer direkteren und assoziativeren Erzählweise weicht. Aber anders als bei einem konsequent durchgehaltenen Stream of Consciousness mangelt es der Erzähltechnik in Hirngespinste an sprachlicher Radikalität. Die fragmentarischer werdenden Gedankenzitate erscheinen wie die abgeschwächte Version eines Bewusstseinsstroms, die den letzten Schritt – nämlich die Sprachlosigkeit und die Wahrnehmungsveränderungen – syntaktisch nicht vollends realisiert. Die Fragmentarisierung des Druckbilds auf der einen Seite und die grammatisch überwiegend korrekte Ausdrucksweise auf der anderen Seite lassen folglich auf eine semi-mimetische Erzählweise schließen, die den demenzbedingten Gedächtnis- und Sprachverlust zu Gunsten einer besseren Lesbarkeit teilweise narrativ überbrückt. Diese Überbrückung wird etwa durch die markierten Zeitsprünge geleistet oder aber durch Maartens erläuternden Kommentare, zu denen er trotz seiner schwerwiegenden Erkrankung in der Lage ist. Wie Van Melick und auch Zweers in ihren Forschungsbeiträgen zeigen, kommunizieren diese editorischen Eingriffe die künstlerische Überformung des Texts.149 Auch wenn sich die interne Fokalisierung im Fall eines dementen Protagonisten nicht vom Anfangs- bis Endstadium der Krankheit überzeugend durchhalten lässt, bringt die Innenperspektive eine unmittelbare Rezeption der erzählten Krankheit mit sich. Aufgrund der analeptischen Erzählweise muss der Leser alle verwirrenden Situationswechsel und vermeintlichen Zeitsprünge nachvollziehen, die der demente Protagonist zu durchleben glaubt. Dessen Erklärungsversuche, aber auch Ängste und Hoffnungen werden insbesondere durch die Tropen glaubhaft illustriert. So zeichnen die oftmals paradoxen Metaphern und Vergleiche ein plastisches Bild der sich im Laufe der Erkrankung steigernden Machtlosigkeit und Selbstentfremdung. Am Ende scheint Maarten eine Rückentwicklung zum Kleinkind durchmacht zu haben, wähnt er sich doch in den Armen seiner Mutter (vgl. HG, S. 215). Diese Figurenzeichnung steht im Gegensatz zu Frischs Protagonisten, der aufgrund seiner Krankheit einen unverstellten Blick auf die Vergänglichkeit der Welt bekommt. Wie ein Medium vermag Geiser – anders als im gesunden Zustand – den gnadenlosen Wandel zu sehen, dem alle Menschen, Tiere, Pflanzen, ja Gesteine unterliegen. Während Frischs Protagonist aufgrund der Erkrankung zu geradezu philosophischen Erkenntnissen gelangt, durchläuft Maarten eine regressive Entwicklung. Dabei ist es ihm immer weniger möglich, Situationen richtig einzuschätzen und mit seinem Umfeld zu kommunizieren. Der Demente stellt in diesem Fall keine Seher-Figur dar, sondern wird als eine im übertragenden Sinne erblindende Gestalt geschildert, die im Laufe der Erkrankung den Zugriff auf ihre Umwelt und sich selbst verliert.
149 Vgl. Van Melick (1986), S. 377; vgl. Zweers (1998), S. 37.
1. Das demente Ich
1.3
Gemeinsam einsam – Ichs Heimweg macht alles alleine
Im Vergleich zu den Erzählungen von Frisch und Bernlef aus den 1970er und 80er Jahren handelt es sich bei Draesners Ichs Heimweg macht alles alleine um einen aktuelleren Text: Die Erzählung erscheint zunächst im Jahr 2006 in der DemenzAnthologie Es schneit in meinem Kopf.150 Diese Anthologie stellt innerhalb des literarischen Demenz-Diskurs eine vielbeachtete Textsammlung dar, die neben Ichs Heimweg macht alles alleine auch Erzähltexte von Arno Geiger, Peter Stamm, Judith Kuckart und weiteren Gegenwartsautoren umfasst. Von der Literaturkritik positiv aufgenommen, wird Es schneit in meinem Kopf in der Forschungsliteratur stets als Beispiel für das erstarkende literarische Interesse an Demenz aufgeführt.151 Nahezu unerwähnt sind jedoch die ungewöhnliche Projektfinanzierung und Initiierung der Textsammlung geblieben:152 Bei Es schneit in meinem Kopf handelt es sich um ein Projekt, das von der geriatrischen Einrichtung Sonnweid ins Leben gerufen worden ist. Diese Schweizer Stiftung hat es sich zum Ziel gesetzt, »das Problembewusstsein für den Umgang mit Alzheimer und Demenz in der Öffentlichkeit zu schärfen.«153 Darüber hinaus dient die Anthologie aber auch als öffentlichkeitswirksames Aushängeschild für das gleichnamige Demenz-Pflegeheim Sonnweid. Dementsprechend liest sich das Vorwort der Herausgeberin Klara Obermüller stellenweise wie ein Werbeprospekt des Wohnheims,154 in dem »die Verwirrten verwirrt und die Rastlosen rastlos sein dürfen.«155 Obermüller preist das dort praktizierte Therapiekonzept an, das »dem natürlichen Verlauf der Krankheit [folgt] und [.] für jeden Menschen sein individuelles Modell« entwickelt.156 Diese einleitenden Worte verleihen den darauffolgenden Erzählungen einen Beigeschmack von 150 Obermüller (2006). 151 Vgl. u.a. Glasenapp (2015); Leonie Süwolto: »Der Altern(d)e kann sprechen: Sprechen aus dem Exil in Arno Geigers autobiographischer Erzählung ›Der Alte König in seinem Exil‹«, in: Limbus (2015), S. 201-219; Herwig (2014), S. 229-249; Martina Kumlehn: »›Wut des Nicht-Verstehens‹ – Anmerkungen zur Hermeneutik der Gefühle bei Demenz«, in: Lars Charbonnier (Hg.): Religion und Gefühl: Praktisch-theologische Perspektiven einer Theorie der Emotion. Göttingen 2013, S. 267-382; Kretzschmar (2012) oder Vedder (2012). 152 Der Publikationshintergrund der Anthologie wird erstmals im Artikel »Die Brandung in meinem Kopf« thematisiert. Vgl. Malottke (2017), S. 221. Das vorliegende Kapitel basiert auf den Erkenntnissen, die ich bereits in diesem Artikel gewonnen habe, und entwickelt diese weiter. 153 Obermüller (2006), S. 12. 154 Bei Klara Obermüller handelt es sich um eine Schweizer Germanistin, Publizistin und Journalistin, die u.a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung gearbeitet hat. Im Jahr 2011 geriet sie in den Fokus der Öffentlichkeit, weil Karl-Theodor zu Guttenberg Teile eines von ihr verfassten Leitartikels in seiner Doktorarbeit plagiiert hatte. Vgl. Eintrag im Online-Autoren-Verzeichnis der Stiftung Bibliomedia: www.bibliomedia.ch/de/autoren/Obermueller_Klara/24.html, abgerufen am 1. Juni 2017. 155 Obermüller (2006), S. 12. 156 Obermüller (2006), S. 12.
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Vergessen erzählen
Werbezwecken dienenden Auftragsarbeiten – ein Eindruck, den es in der nachfolgenden Textanalyse mit zu reflektieren gilt.157 Während Es schneit in meinem Kopf als literarisches Demenzprojekt feuilletonistische und auch literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit erlangen konnte, liegen nur wenige Forschungsbeiträge vor, die sich konkret mit Draesners Erzählungen Ichs Heimweg macht alles alleine auseinandersetzen. Zu diesen Einzelanalysen zählt Heike Hartungs Artikel »Fremde im Spiegel: Körperwahrnehmung und Demenz«.158 Hierin arbeitet Hartung Demenz-Schreibweisen und -Körperbilder am Beispiel von Draesners Text und Alice Munros The bear came over the mountain heraus. Diese Analyse aus dem Jahr 2010 berücksichtigt naturgemäß nicht, dass Draesner ein Jahr später eine drastisch veränderte Version von Ichs Heimweg macht alles allein in ihrem Erzählband Richtig liegen. Geschichten in Paaren heraus veröffentlicht (vgl. IHM 2). Obwohl der nahezu deckungsgleiche Titel der Erzählung eine Identität beider Texte suggeriert,159 handelt es sich bei dem 2011 erschienenen Text (nicht zuletzt aufgrund des unterschiedlichen Publikationshintergrundes) um eine inhaltlich vollkommen veränderte Version. Diesen Überarbeitungen trägt der Forschungsbeitrag »Die Brandung im Kopf eines Anderen« Rechnung, in dem die beiden Fassungen miteinander verglichen werden und so die unterschiedlich akzentuierten Demenz-Darstellung hervortreten.160 Neben diesen Analysen widmet sich Johanna Zeisberg in ihrem Beitrag »Verortung des Selbst in Demenznarrationen der Gegenwart« unter anderem Draesners Erzählung, indem sie die Identitätskonzeption der Figur Sarah beleuchtet.161 Ausgehend von diesen Erkenntnissen, wird im Folgenden eine Untersuchung der ersten Erzählversion von Ichs Heimweg macht alles alleine vorgenommen, wobei die intertextuelle Referenzen auf Lewis Carrolls Alice-Erzählungen sowie die Prätexte Der Mensch erscheint im Holozän und Hirngespinste sichtbar gemacht werden. Im Vergleich zu den letztgenannten Demenz-Narrativen ist es Draesner im Jahr 2008 möglich, auf ein weiterverbreitetes, popularisiertes Wissen über Demenz zurückzugreifen. In der Analyse des zweiten Erzählteils von Ichs Heimweg macht alles alleine (Textanalyse, Kapitel 3.2) werden deshalb neben den literarischen Prätexten, wissensgeschichtliche Kontexte der 2000er Jahre aus der Erzählung synthetisiert.
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Vgl. Malottke (2017b), S. 221f. Vgl. Hartung (2010). Erst bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass der Titel der zweiten Textversion eine kleine Änderung erfahren hat: Lautet der erste Titel aus dem Jahr 2006 noch »Ichs Heimweg macht alles alleine«, so ist in der zweiten Version das Wort »allein« um das ›e‹ gekürzt worden. 160 Vgl. Malottke (2017b), S. 222. 161 Johanna Zeisberg: »Verortung des Selbst in Demenznarrationen der Gegenwart«, in: Daniela Ringkamp/Sara Strauß/Leonie Süwolto (Hg.): Demenz und Subjektivität. Ästhetische, literarische und philosophische Perspektiven. Frankfurt a.M. et al. 2017a, S. 41-55.
1. Das demente Ich
1.3.1
Nonsens und Metamorphosen: Draesners erste Erzählversion
Als einziger Text der Anthologie Es schneit in meinem Kopf eröffnet Draesners Erzählung eine mimetische Innenperspektive auf die Krankheit, die in einem zweiten Teil der Erzählung durch eine Außenperspektive auf die Krankheit ergänzt wird.162 Während es sich beim ersten Teil der Erzählung um eine autodiegetische Bewusstseinsdarstellung handelt, ist der zweite Erzählteil als Brief realisiert, in dem sich der Protagonist Hans an seine Tochter Karolin wendet und den Krankheitsverlauf seiner Frau Sarah rekonstruiert. Erst aufgrund dieses fiktiven Briefs lassen sich längere Passagen des vorangegangenen inneren Monologs, der durchgängig als Bewusstseinsstrom umgesetzt ist, nachvollziehen.163 Es wird deutlich, dass sich der erste Teil der Erzählung an einem Sommertag Anfang der 2000er Jahre ereignet. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich die schwerkrankte Sarah und ihr Mann Hans im gemeinsamen Ferienhaus in Südfrankreich. Die Handlung setzt ein, als Sarah morgens allein im Haus umherirrt. Durch verschiedene Stockwerke und Zimmer gerät sie schließlich auf den Dachboden und klettert durch ein Fenster auf das Hausdach. Auf dem First angekommen, rutscht sie ihrem besorgten Mann entgegen, der sie auffängt und so Schlimmeres verhindern kann (vgl. IHM 1, S. 80) Diese Geschehnisse werden in Sarahs Bewusstseinsstrom zeitdeckend erzählt (die erzählte Zeit umfasst eine kurze Zeitspanne von etwa fünfzehn Minuten, wobei sich die Erzählzeit auf zehn Seiten beschränkt). Im Anschluss daran folgt eine Immobilienanzeige, in der ein Ferienhaus zum Verkauf angeboten wird. Gleich darauf kommt es zu einem Perspektivenwechsel: Statt Sarah ergreift im zweiten Teil der Erzählung nun Hans das Wort. In einem Brief berichtet er seiner Tochter von Sarahs Sturz und dem anstehenden Hausverkauf. Auf diesem Wege führt er auch aus, wie sich die Krankheit seiner Frau zum ersten Mal bemerkbar gemacht und weiterhin entwickelt hat. Hans tritt – ebenso wie Sarah – als autodiegetischer Ich-Erzähler in Erscheinung, dessen Schilderungen aus autonomen Gedankenzitaten und erzählter Gedankenrede bestehen. Diese sind jedoch nicht als innerer Monolog, sondern in Form eines Briefs realisiert. Da es sich bei diesem Brief um eine Demenz-Darstellung aus Sicht eines Ehegatten handelt, wird die Analyse von Draesners Erzählung in zwei Teile gesplittet: Das folgende Kapitel 162
163
Im Laufe der Lektüre zeigt sich jedoch, dass der zweite Erzählteil nicht nur eine Außenperspektive auf die kranke Erzählerin des ersten Teils eröffnet. Da der zweite Erzähler offenbar auch an Demenz erkrankt ist, handelt es sich um eine zusätzliche Demenz-Innensicht, die während eines früheren Krankheitsstadiums verfasst worden ist. Vgl. Textanalyse, Kapitel 3.2.2. Wie Leonie Süwolto in ihrem Forschungsbeitrag am Rande bemerkt, handelt es sich bei der Figur des Ehemanns um eine Übersetzerfigur, die die rätselhaften Gedanken der kranken Protagonistin für den Leser (zumindest zum Teil) kontextualisiert und verständlich macht. Vgl. Süwolto (2015), S. 215, Fn. 13.
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Vergessen erzählen
beleuchtet zunächst die Demenz-Innenperspektive von Sarah. Dabei werden die literarischen Demenz-Schreibweisen und intertextuellen Bezüge der Innenschau herausgearbeitet. Im Analyseblock 3 dieser Arbeit zu Demenz-Narrativen aus der Partnerperspektive folgt schließlich die Analyse von Hans’ Brief, wobei der wissensgeschichtliche Hintergrund der gesamten Erzählung herausgearbeitet wird. Eine solche separate Untersuchung der beiden Erzählabschnitte entspricht nicht nur der zweigeteilten Textanlage von Ichs Heimweg macht alles alleine, sondern bietet sich auch aus intertextuellen Gründen an: In der direkten Gegenüberstellung – von Sarahs Bewusstseinsstrom und den zuvor untersuchten Innenperspektiven auf der einen Seite, und Hans’ Brief und John Bayleys Elegy for Iris auf der anderen Seite – treten intertextuelle Verflechtungen sowie Abwandlungen kontrastreich hervor.
1.3.2
Textoberfläche und Klang-Dimension
Wie Heike Hartung treffend bemerkt, lässt sich Draesners Erzählung nicht chronologisch lesen, stattdessen erfordert die Textstruktur »ein Querlesen, ein Hinund Herlesen, eine Konzentration auf einzelne Momente, Bilder und Motive«.164 Dieser diskontinuierliche Leseprozess resultiert aus dem Erzählverfahren des Bewusstseinsstroms: In der kommentarlos präsentierten Gedankenwelt der dementen Protagonistin verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit der erzählten Welt zu einer schwierig nachvollziehbaren Realität. Immer wieder lösen sich neue, scheinbar zusammenhanglose Assoziationen und Gedankenfragmente miteinander ab, wobei kein Gedankengang zu Ende geführt wird. So heißt es an einer Stelle: »[…] die Schlange, wellige Schlange, das Schlagen der Schwelle, es war leicht einzutreten, kein Fallen, tauchen, alles was ich isst, taucht ich in Tee, Ichintee, und die Großen stehen darum, die Großen Grünen, Büsche, Tiere, das Wasser fließt, und ich steht am Fenster […]« (IHM 1, S. 60)165 Sarahs beeinträchtigte Wahrnehmung und Sprachfähigkeit drücken sich durch überwiegend elliptische, auf den ersten Blick unzusammenhängende Sätze aus, die wiederum von Kinderliedern und Merksprüchen durchsetzt sind.166 Auch
164 Hartung (2010), S. 127. 165 Dirk Kretzschmar vergleicht diese Passage mit E.T.A. Hoffmanns Der goldene Topf und zeigt weitere Parallelen des Demenz-Narrativs zu romantischen Texten auf. Vgl. Kretzschmar (2012), S. 135. 166 Vgl. Zeisberg (2017a), S. 51.
1. Das demente Ich
wenn kürzere Passagen Rückschlüsse auf das Geschehen zulassen,167 verhindert diese Schreibweise ein umfassendes Textverständnis. Wie sich anhand der folgenden Textstelle zeigen lässt, rückt anstelle der inhaltlichen Kohärenz die Klang-Dimension der Sätze in den Vordergrund, wenn Sarah beispielsweise denkt: »[…] Lampenlicht, Kerzenlicht, sagt ich, die Namen, Samen, Essen, sagt ich, morgens, mittags, abends, sagt ich, Boote, Brote, die nach Mandeln schmecken […]« (IHM 1, S. 60) Diese Passage scheint überaus rätselhaft – auch im Kontext der vorangegangenen und anschließenden Sätze, ergibt die Wortreihung keinen Sinn. Vielmehr scheint es sich hierbei um einzelne Wortfelder zu handeln, die die Protagonistin mal auf klanglicher, mal auf inhaltlicher Ebene assoziativ miteinander verknüpft. Diese Sätze sind charakteristisch für den gesamten Bewusstseinsstrom, bei dem assonante Wortketten und Enjambements Verbindungen zwischen eigentlich unzusammenhängenden Begriffen und Begebenheiten schaffen.168 Aus solchen Lautmalereien, Kofferworten und Assoziationen ergibt sich schließlich eine lyrische, geradezu rhythmische Textstruktur, die bereits zu Beginn der Erzählung typographisch zum Ausdruck kommt: »Die Sonne im Winter. Die sich biegenden Straßen. Das Gemachte. Wir. Das weiß ich noch. Und weiß, dass ich es weiß.« (IHM 1, S. 59) Die graphische Struktur des Satzspiegels erinnert an lyrische Textformen.169 Während diese einleitenden kurzen Sätze durch Absätze voneinander getrennt sind und deshalb wie Verse wirken, wandelt sich das Druckbild im Anschluss daran zu einer zusammenhängenden Textfläche, die nur an wenigen Stellen der anfänglich graphischen Struktur gleicht. Diese gestalterische Überformung des Texts lässt wiederum Rückschlüsse auf die krankheitsbedingte Denkweise der Protagonistin zu: Indem Vers-ähnliche Passagen auf zusammenhängende Textstellen folgen, tritt Sarahs gedanklicher Rhythmus zu Tage, der von stockenden, aber auch schnell dahinrauschenden Gedankengängen geprägt ist. Während die Textoberfläche auf diese Weise – ähnlich wie bei Bernlef – die Wahrnehmung der Erzählinstanz illustriert, entzieht sich dem Leser zunächst der Inhalt des Bewusstseinsstroms. So geht aus 167
Manche Passagen sind verständlicher als andere. So wird zu Anfang der Erzählung deutlich, dass die Ich-Erzählerin durch verschiedene Räume geht und immer wieder aus dem Fenster schaut. Vgl. IHM 1, S. 59f. 168 Kretzschmar weist in diesem Zusammenhang auf den »massiven Einsatz von Stilmitteln wie Alliterationen, Assonanzen und Reimen« hin, die »über eine autonome, ästhetische Eigenqualität« verfügen. Vgl. Kretzschmar (2014), S. 136. 169 Vgl. Malottke (2017b), S. 224.
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Vergessen erzählen
Sarahs Gedanken weder hervor, wer spricht, noch wann die Handlung zeitlich angesiedelt ist oder was sich tatsächlich ereignet. Auch wenn diese zentralen Informationen zunächst im Dunkel bleiben, lassen sich jedoch anhand der rhetorischen und formalen Ausdrucksformen sowie anhand der Klang-Dimension die semantische Dichte des Bewusstseinsstroms aufschlüsseln und so zentrale Textaussagen herausarbeiten.
1.3.3
Das lyrische Ich
Die Erzählung setzt in medias res mit dem Bewusstseinsstrom der dementen Hauptfigur ein, die – gleich einem lyrischen Ich – zunächst namenlos bleibt.170 Schlaglichtartig wenden sich die Gedankengänge der Figur folgender Szene zu: »Die Sonne im Winter. Die sich biegenden Straßen. / Das Gemachte. / Wir. / Das weiß ich noch. / Und weiß, dass ich es weiß.«171 (IHM 1, S. 59). Durch den Nachsatz »Das weiß ich noch« wird deutlich, dass es sich bei diesen ersten Satzfragmenten um eine Erinnerung handelt, die die autodiegetische Erzählerinstanz gedanklich rekapituliert. Dabei betont sie, dass sie zu dieser Erinnerungsleistung immer noch in der Lage ist – eine Behauptung, die sich im Laufe der Erzählung bestätigen soll.172 Während es sich bei diesen ersten Begriffen um Erinnerungen handelt, wenden sich die Gedanken des Ich-Erzählers im Anschluss daran offenbar der Gegenwart zu: »Es war leicht hereinzukommen, keine Schwelle oder – doch eine Tür, aber erst als ich sich umdreht, da war ich schon drin, […].« (IHM 1, S. 59) Aufmerksam, ja staunend wandelt das namenlose Ich, bei dem es sich – wie später in Hans’ Brief deutlich wird – um Sarah handelt, durch verschiedene Stockwerke ihres Hauses. Dabei bleibt ihr Blick immer wieder an verschiedenen Fenstern hängen, aus denen sie den Garten, aber auch die am Himmel vorbeiziehenden Wolken betrachtet. Diese Situationsschilderungen erscheinen nicht nur aufgrund der elliptischen Struktur bemerkenswert. Vielmehr fällt auf, dass Sarah stets von sich 170 Vgl. Malottke (2017b), S. 227. 171 Um die Versstruktur der Satzfragmente kenntlich zu machen, werden im Folgenden Absätze durch Zäsuren markiert. 172 An dieser Stelle muss Johanna Zeisberg widersprochen werden, die konstatiert, Draesner würde nicht den Eindruck einer »gleichbleibenden Konstante der Persönlichkeit trotz der Krankheit« vermitteln. Zeisberg (2017a), S. 50. Tatsächlich zeugt Sarahs Innenperspektive davon, dass sie zentrale Eigenschaften beibehalten hat und auch Zugang zu gewissen Erinnerungen findet. Trotz der Krankheit hält sie beispielsweise an ihrer Vorliebe für Natur und Gärten fest. Außerdem beschäftigt sich Sarah – entgegen der Befürchtungen ihres Ehmanns – intensiv mit Hans, den sie zugleich fürchtet und liebt. Bei ihren Gedankengängen handelt es sich nicht, wie Zeisberg schreibt, um »apathische Bedeutungsfetzen« (Zeisberg [2017a], S. 52), sondern um eine aufmerksame, wenn auch zersplitterte Wahrnehmung der Umgebung. Vgl. Malottke (2017b), S. 226.
1. Das demente Ich
selbst als ›Ich‹ spricht, die Verben aber in die dritte Person Singular setzt. Eine solche fehlerhafte Kongruenz lässt sich durch das geminderte Sprach- und Denkvermögen der Protagonistin erklären und deutet auf eine krankheitsbedingte Regression hin.173 Darüber hinaus erweckt die Verschmelzung von autodiegetischem und heterodiegetischem Erzählen den Eindruck, dass Sarah sich von außen beobachtet.174 Diese Wahrnehmungsstruktur lässt sich als intertextuellen Rückgriff auf Bernlefs Erzählweise identifizieren: Ähnlich wie dessen Protagonist Maarten sich innerlich aufspaltet und selbst beobachtet, um Abstand von seiner Krankheit zu gewinnen (vgl. Textanalyse, Kapitel 1.2.3.2), empfindet Sarah ihr Handeln wie das einer, wenn auch vertrauten, so doch außenstehenden Person. Während es in Bernlefs Hirngespinste erst sukzessive zur Ich-Dissoziation des Protagonisten kommt, ist Sarahs Gedankenwelt von einer durchgehenden sprachlichen Heterodiegese geprägt. Dieses genuin literarische Verfahren lässt auf die kindliche Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit der Figur schließen, gleichermaßen zeugt es aber auch von der Selbst-Entfremdung und -Distanzierung der Kranken.
1.3.4
Neologismen und Nonsens-Dichtung
Neben der fehlerhaften Kongruenz stechen im Bewusstseinsstrom insbesondere Neologismen und ungewöhnliche Komposita hervor,175 die mal mehr und mal weniger verständlich sind. Manche Wortamalgamierungen (wie etwa der Begriff »Wintertonne« [IHM 1, S. 60] – ein Kofferwort aus Regentonne und Wintersonne –)176 scheinen zufällige, rein lautliche Verschmelzungen zu sein. Auf der anderen Seite kommt es aber auch zu sinnhaften Wortbildungen, wenn Sarah beispielsweise den eingängigen Begriff »Vergessensgefühl« kreiert (IHM 1, S. 62), um ihre Krankheitswahrnehmung zu beschreiben. In solchen lyrisch anmutenden Sprach-
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Vgl. Malottke (2017b), S. 225: »Schließlich müssen auch Kinder lernen, dass ihr Name und gewisse Pronomen denselben Referenten haben.« Vgl. Malottke (2017b), S. 225. Der Begriff ›Neologismus‹ wird hier nicht als ›Neuschöpfung‹ verstanden, sondern im Sinne von ›Wortbildung‹ verwendet. Bei diesem sprachlichen Verfahren werden neue komplexe Wörter auf der Grundlage bereits vorhandener sprachlicher Mittel erzeugt. Vgl. Paul Gévaudan: Typologie des lexikalischen Wandels. Bedeutungswandel, Wortbildung und Entlehnung am Beispiel der romanischen Sprachen. Tübingen 2007, S. 117. Der Term ›Kofferwort‹ ist gleichbedeutend mit dem Begriff ›Schachtelwort‹ und geht auf Lewis Carrolls Geschichte Alice hinter den Spiegel zurück. Vgl. Lewis Carroll: Alice im Wunderland. Alice hinter den Spiegeln. Hg. von Christian Enzensberger. Frankfurt a.M. 1963, S. 200. In der englischsprachigen Version lautet der Begriff ›Portmanteau‹. Vgl. Lewis Carroll: Alice Adventures in Wonderland and Through the Looking Glass. Hg. von James Kinsley. New York / Toronto 1971, S. 192.
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Vergessen erzählen
variationen drückt sich die intertextuelle Nähe zur Nonsens-Dichtung aus.177 Allen voran muss hier Lewis Carrolls Einfluss hervorgehoben werden, dessen Kinderbücher Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln Ulrike Draesner als Vorlage gedient haben. Dass eine solche intertextuelle Nähe zwischen Draesners Erzählungen und Carrolls Texten besteht, hat bereits Monika Schmitz-Emans in ihrem Forschungsbeitrag »Was wird denn hier gespielt?« aufzeigen können.178 Während sich Schmitz-Emans Untersuchung nur auf Draesners Erzählungen Spiele, Mitgift und Lichtpause bezieht,179 finden sich aber auch in Ichs Heimweg macht alles alleine Referenzen auf Alice im Wunderland. So stellt der rätselhafte Sprachgebrauch der Protagonistin einen intertextuellen Rückgriff auf Carrolls Texte dar, wobei insbesondere das berühmte Jabberwocky-Gedicht Ähnlichkeit mit Draesner Erzählung aufweist.180 Mithilfe von Neologismen und Wortneuschöpfungen zeigt Carroll hierin Grenzen, aber auch Spielräume von Sprache auf. Das Unsinns-Gedicht besteht aus überwiegend frei erfundenen Begriffen und kreist um die fantastische Drachengestalt des Jabberwock, die in der zweiten Strophe wie folgt eingeführt wird: »Beware the Jabberwock, my son! The jaws that bite, the claws that catch! Beware the Jubjub bird, and shun The frumious Bandersnatch! […]« (Carroll (1971), S. 134)181 177
Ebenso wie die deutsche Übersetzung ›Unsinnspoesie‹ birgt der englische Gattungsbegriff ›Nonsense‹ Missverständnisse. Der im alltäglichen Sprachgebrauch abwertend verwendete Begriff wird in der vorliegenden Arbeit gemäß Dieter Baackes Definition verwendet, in der es heißt: »Nonsense, als eine besondere Spielart der Phantasie, ist nicht sachunangemessenes Reden aus Leichtfertigkeit, pueriler Albernheit oder mangelnder Information, sondern schafft einen Spielraum an der Grenze möglicher Vorstellungen und ihrer sprachlichen, künstlerischen oder realen Darstellung, der nicht nur von üblichen Vorstellungs- und Verhaltenszwängen entlastet, sondern eine distanzierende Heiterkeit und eine neue Optik für Menschen, Gegenstände und deren Konstellationen auf die Räume gestattet, in denen wir leben müssen.« Dieter Baacke: »Spiele jenseits der Grenzen. Zur Phänomenologie und Theorie des Nonsense«, in: Klaus Peter Dencker (Hg.): Deutsche Unsinnspoesie. Stuttgart 1978, S. 355-388, hier S. 356. 178 Vgl. Monika Schmitz-Emans »Was wird denn hier gespielt? Zum Konzept des Spiels bei Ulrike Draesner«, in: Stephanie Catani / Friedhelm Marx (Hg.): Familie, Geschlecht, Macht. Beziehungen im Werk Ulrike Draesners. Göttingen 2008, S. 127-151. 179 Vgl. ebd. 180 Vgl. Carroll (1971), S. 134f. 181 Unter anderem hat Christian Enzensberger den Versuch einer Übersetzung, bzw. Nachdichtung unternommen. Er nennt den Jabberwock im Deutschen ›Zipferlake‹ (andere Übersetzungen bezeichnen den Drachen als ›Jammerwoch‹ oder ›Brabbelback‹). Enzensberger übersetzt die zweite Strophe wie folgt: »›Hab acht vorm Zipferlak, mein Kind! / Sein Maul ist beiß, sein Griff ist bohr! / Vorm Fliegelflagel sieh dich vor, / Dem mampfen Schnatterrind!‹« Vgl. Carroll (1963), S. 144.
1. Das demente Ich
Auch wenn sich an Draesners Text keine expliziten, zitatförmigen Verweise auf eben jenes Gedicht ausmachen lassen, besteht dennoch ein struktureller Zusammenhang mit Carrolls Wortneuschöpfungen, »deren Sinn wir nur durch den Klang des Ganzen und durch die klare Syntax hindurch vermuten können.«182 Diese Gestaltungsweise entspricht dem Bewusstseinsstrom in Ichs Heimweg macht alles alleine, bei dem die Erzählinstanz und das Geschehen zunächst im Dunkeln bleiben, der Leser aber trotzdem einen Sinnzusammenhang hinter den zum Teil erfundenen Worten vermutet. Diese Vermutung lässt sich an der verhältnismäßig systematischen Schreibweise festmachen, die ihren eigenen sprachlichen Regeln zu folgen scheint.
1.3.4.1
Humpyt-Dumpty und Alice
Diese Regeln lassen sich ebenso mit Carrolls Texten übereinbringen, die die sogenannte ›Humpty-Dumpty-Semantik‹ geprägt haben.183 Die in der englischen Kinderbuchdichtung etablierte Figur Humpty Dumpty – ein übergroßes Ei, das menschliche Züge trägt – hat durch Carrolls Texte internationale Bekanntheit erlangt.184 In Alice hinter den Spiegeln stellt das sprechende Ei die Theorie auf, dass die Zuweisung und Bedeutung eines Wortes in der Macht des jeweiligen Sprechers liegen.185 Diesem stünde es frei, jenseits von sozialen Konventionen ein Wort mit einem völlig anderen Inhalt zu belegen. »When I use a word«, Humpty Dumpty said, in rather a scornful tone, »it means just what I choose it to mean – neither more nor less.« »The question is«, said Alice, »whether you can make words mean so many different things.« »The question is«, said Humpty Dumpty, »which is to be master – that’s all.« (Carroll (1971), S. 190. Hervorhebung im Original.)186 Laut Humpty Dumpty ist jeder Sprecher dazu ermächtigt, seine eigenen Regeln für den Sprachgebrauch aufzustellen – auch wenn eine Verständigung dann nicht mehr ohne weiteres möglich ist. Ein solcher idiosynkratische Wortgebrauch liegt Alfred Liede: Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache Bd. 1. Berlin 1963, S. 188. Zur Humpty-Dumpty-Semantik vgl. Wilhelm Köller: Narrative Formen der Sprachreflexion. Berlin / New York 2006, S. 315-348. 184 Die Figur findet sich schon lange vor Carrolls Adaption in der englischen Kinderbuchdichtung. Vgl. Joseph Ritson: Gammer Gurton’s garland: or, the nursery Parnassus. London 1810, S. 36 185 Vgl. Carroll (1971), S. 190. Diese Theorie ähnelt der ungleich komplexen »Phänomenologie der Erkenntnis« Edmund Husserls, die von manchen Kritikern abwertend mit Humpty Dumpty in Verbindung gebracht worden ist. Zu Husserls Verständnis von Zeichen und Bedeutung, bzw. Bedeutungszuweisung vgl. Edmund Husserl: Husserliana XIX. Logische Untersuchungen, Bd. 2.1. Hg. von Ursula Panzer. The Hague / Boston / Lancaster 1984, hier § 7, S. 39f. Zum Vorwurf der Humpty-Dumpty-Theorie an Husserl vgl. Michael Dummett: Ursprünge der analytischen Philosophie. Frankfurt a.M. 1988, S. 45f. 186 Hervorhebungen im Original.
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Vergessen erzählen
auch bei Sarah vor, die Bäume als »Große Grüne« (IHM 1, S. 60) bezeichnet und Kofferworte, wie »Wintertonne« (ebd.) und »Berstenteuer« (ebd., S. 61), bildet. Während diese Idiosynkrasien eine Verständigung mit ihrer Umwelt verhindern (und auch den Lesefluss hemmen), zeugen sie doch von der noch vorhandenen, eigenständigen Logik der Ich-Erzählerin. Der Einfluss der viktorianischen Unsinns-Dichtung auf Draesners Erzählung zeigt sich überdies in inhaltlichen Überschneidungen: Ähnlich wie in Carrolls literarischem Kosmos sind in Ichs Heimweg macht alles alleine Fixpunkte wie Zeit, Raum, Sprache und die Namen der Dinge als Mittel der Ordnung verloren gegangen.187 Die Protagonistin Sarah fühlt sich in eine ambivalent andersartige Welt versetzt, deren Beschaffenheit ihr Schwierigkeiten, zugleich aber auch Vergnügen bereitet. Diese zwiespältige Haltung gegenüber der dementen Lebenswelt drückt sich in einem weiteren, wenn auch dezenten intertextuellen Verweis auf Carrolls Texte aus: Alices Erlebnisse werden im ersten Buch nicht etwa in Kapitel, sondern in zahlreiche Abenteuer unterteil. Dieses Wort taucht in verschiedenen Spielarten mehrfach in dem von Draesner geschaffenen Bewusstseinsstrom auf (vgl. IHM 1, S. 60, 61 und 62). Bei der Bewältigung dieser Abenteuer entwickelt die demente Erzählinstanz ähnliche Gefühle wie die Hauptfigur des Prätexts. Sie empfindet Verwunderung und Ohnmacht gegenüber dem veränderten Selbst, aber auch Neugierde und Freude an ihrer Umgebung. Diese Parallelen in der Figurenzeichnung lassen Sarahs Krankheit in einem anderen Licht erscheinen. Die Demente wirkt nicht so sehr wie eine alternde, kranke Figur, sondern eher wie ein verängstigtes, aber auch fröhlich staunendes Kind, das im Verlauf der Erzählung den Dachfirst erklimmt und schließlich hinunterrutscht. Eben dieser willentliche Sturz markiert eine Wende innerhalb des Texts und erinnert an Carrolls erste Erzählung, bei der Alices Sturz in den Kaninchenbau ebenfalls eine Peripetie bedeutet. Der Unterschied zwischen Alice und Sarah besteht jedoch darin, dass Alices Aufenthalt im Wunderland temporär begrenzt ist. Während sie am Ende wieder in die ›normale‹ Welt heimfindet, gibt es für Sarah (und auch Hans) kein Zurück aus der Demenz. Die Krankheit bestimmt bis zuletzt die Lebenswelt der dementen Figur und ihrer Angehörigen.
1.3.5
Gefürchtet und geliebt – Ehemann- und Vater-Figur
Der intertextuelle Bezug auf die viktorianische Nonsens-Dichtung stellt in Demenz-Narrativen kein Novum dar. Bereits J. Bernlefs 1984 erschienene Erzählung weist Anklänge an Alice im Wunderland auf: Wie in Kapitel 1.2.3.3 dieser Arbeit ausgeführt worden ist, fühlt sich der Protagonist Maarten aufgrund seiner Krankheit in eine bizarre Welt versetzt, deren Regeln er nicht mehr kennt. Doch 187
Vgl. Liede (1963), S. 190.
1. Das demente Ich
nicht nur sein Umfeld ändert sich, auch sein Körper scheint unkontrollierbaren Veränderungen zu unterliegen: Maarten ist sich nicht sicher, ob er ganz klein oder riesengroß ist. Gleichzeit fühlt er sich von einer bleiernen Schwere erfasst, während er kurz darauf den Eindruck gewinnt, davon zu schweben (vgl. HG, S. 190). Der Verlust der Köperkontrolle und -wahrnehmung, aber auch die Auflösung von Zeit und Ort lassen sich als Zitate an Alice im Wunderland identifizieren. Draesner, die Hirngespinste in ihrer Erzählung offen als Prätext markiert,188 greift die darin enthaltenen, dezenten Anklänge an Carrolls Alice-Texte auf und verstärkt diese, indem sie ihre Protagonistin weitaus kindlicher als Bernlefs Hauptfigur gestaltet. Diese gesteigerte Regression drückt sich zum einen in dem naiven Sprachgebrauch aus, aber auch in der wankelmütigen Wahrnehmung der Figur: Sarahs Erzählstimme schwankt zwischen fröhlich-staunenden Tönen und plötzlichen, diffusen Angstgefühlen gegenüber ihrem Mann, den sie zeitweise für ihren strengen Vater hält (vgl. IHM 1, S. 63). Auch diese ambivalente Sichtweise erinnert an Bernlefs Protagonisten Maarten, der seine Frau immer wieder mit seiner Mutter verwechselt und sich vor deren unerbittlichen Blick fürchtet (vgl. HG, S. 151). Doch genau wie Maarten, der sich trotz allem nach Veras Gesellschaft sehnt, ist auch Sarahs Einstellung gegenüber ihrem Mann zwiegespalten, wenn sie sagt: »[…] ich hat Angst, ich ist froh, ich hat Angst vor Hans […].« (IHM 1, S. 66) Ihr Mann erscheint als zentrale Bezugsperson, um die ein Großteil ihrer Gedanken kreist. Trotz seiner Wutausbrücke identifiziert sich Sarah derart mit ihm, dass sie sogar von »Hans-Ich« spricht (IHM 1, S. 67).189 Diese Bezeichnung drückt ein Gefühl der Symbiose aus, das – wie sich in Kapitel C.II. der Textanalyse zeigen wird – auf verhängnisvolle Weise auf Gegenseitigkeit beruht.
188 Vgl. Draesner markiert die intertextuellen Bezüge zu Bernlefs Hirngespinste, aber auch zu Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän deutlich, wenn es in Hans’ Brief an einer Stelle heißt: »Die Station war hässlich. Drehstühle aus dem Holozän, abgetretenes Linoleum. Ich soll mich nicht aufregen, sondern nach Hause fahren. Hirngespinst, Entsetzung mit 16 Buchstaben: ›Phantasiegebilde‹.« Hervorhebung durch L.D. Vgl. hierzu auch Hartung (2010), S. 126, FN. 8; oder Malottke (2017b), S. 227. 189 Vgl. Malottke (2017b), S. 226.
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2. Demente Eltern
Wie aus der vorangegangenen Analyse der Innenperspektiven hervorgeht, ergibt sich aus der Krankheit der Hauptfiguren allen voran ein diegetisches Problem: So kann ein dementer Protagonist ab einem bestimmten Stadium seine Sicht auf die Krankheit nicht mehr selbst artikulieren. Eine rein autodiegetische Erzählposition erscheint, sofern die Krankheitsgeschichte nachvollziehbar organisiert sein soll, vor dem Hintergrund der Symptomatik nahezu unmöglich.1 Frisch und Bernlef lösen dieses Problem durch die Instanz des covert narrator, der keinerlei Persönlichkeitsprofil entwickelt und fast untrennbar mit der Stimme des dementen Protagonisten verschmilzt. Um eine verständliche Innenschau zu entwerfen, kompensiert der verborgene Erzähler stellenweise den Sprachverlust der kranken Figur, indem er die Handlung zeitlich rafft und gleichzeitig den inneren Monolog der Figuren pointiert zuspitzt (vgl. Textanalyse, Kapitel 1.1.3.2 und 1.2.3.2). Dieser Strategie steht Draesners Erzählung gegenüber: Hierin wird die überwiegend kryptische Autodiegese der dementen Figur Sarah in einem zweiten Teil durch einen Brief ergänzt, der als nachgelieferter Kommentar fungiert und somit zur Entschlüsselung des ersten Erzählteils beiträgt (vgl. Textanalyse, Kapitel 3.2.1.1). Schon an diesen ersten Beispielen zeichnet sich die zentrale Rolle der Erzählinstanzen in Demenz-Narrativen ab. Wenn dem Demenzkranken die eigene Stimme versagt, stellt sich schließlich die Frage: Wer spricht stattdessen?2 Eine Sichtung zahlreicher Primärtexte zeigt, dass die Mehrzahl der Demenz-Narrativen – ob fiktional oder faktual – nicht aus Sicht einer heterodiegetischen Erzählinstanz, sondern aus der Homodiegese naher Angehöriger verfasst ist,3 wobei insbesondere
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Vgl. Vedder (2012), S. 276. Neben Vedder geht auch Heike Hartung davon aus, dass »es nicht möglich [ist], eine Innensicht fortgeschrittener Demenz zu erzählen.« Hartung (2008), S. 165. Die Frage, »Wer spricht für wen?«, wird vor allem in den Gender und Postcolonial Studies behandelt. Vgl. exemplarisch: Lisa Merriweather Hunn / Talmadge Guy / Elaine Mangliitz: »Who Can Speak for Whom? Using Counter Storytelling to Challenge Racial Hegemony«, in: Adult Education Research Conference – Papers. Minneapolis 2006, S. 244-250. Internet-Quelle: http:// newprairiepress.org/aerc/2006/papers/32, abgerufen am 3. März 2019. Verena Wetzstein bestätigt diesen Perspektivwandel: »Nicht mehr die individualethische Frage nach dem Status der Person mit Demenz steht in Fokus, sondern die sozialethische
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Vergessen erzählen
die Kinder der Erkrankten das Wort ergreifen.4 Diese Konstellation bringt jedoch ethische Probleme mit sich: Wie Leonie Süwolto am Beispiel von Arno Geigers Der alte König in seinem Exil herausarbeitet, zeichnen sich Texte aus Sicht der Kinder über ihre dementen Eltern durch ein offenkundiges Hierarchiegefälle aus: Der Unfähigkeit des kranken Elternteils, seine eigene Geschichte zu erzählen, steht die souveräne Sicht und Interpretation des wortgewandten Kinds gegenüber.5 Am Beispiel von Geigers Text arbeitet Süwolto heraus, dass die Deutungshoheit des Sohns über die Krankheitsgeschichte des Vaters Parallelen zur Situation der sogenannten ›Subalternen‹ (Marginalisierten) aufweist, die sich gegenüber übermächtigen Herrschaftssystemen kein Gehör verschaffen können und demzufolge ungehört bleiben.6 Der Begriff der ›Subalternität‹ stammt ursprünglich aus den Postcolonial Studies und bezieht sich auf die Folgen hegemonialer Herrschaft.7 Süwolto stellt die These auf, dass die soziale Ausgrenzung und Sprachlosigkeit dieser subalternen Gesellschaftsschichten der Stigmatisierung sowie dem krankheitsbedingtem Sprachverlust von Demenzkranken entspricht.8 Dieser These kann entgegengehalten werden, dass die sogenannten Subalternen sehr wohl über eine Stimme verfügen, mit der sie sich allerdings kein Gehör verschaffen können. Dahingegen verlieren Demenzerkrankte ihre Sprachfähigkeit in einem unmittelbaren, physiologischen Sinne.9 Vor dem Hintergrund die-
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Frage nach der lebensweltlichen Ausgestaltung der Relationalität, dem Beziehungsleben der Personen.« Wetzstein (2010), S. 173. Unter der Vielzahl von Primärtexten aus Sicht der Kinder sei exemplarisch auf folgende, zentrale Demenz-Texte verwiesen: Michael Ignatieff: Scar Tissue. London 1993; Tahar Ben Jelloun: Sur ma mère. Paris 2005; Alex Witchel: All gone. A Memoir of My Mother’s Dementia. New York 2012; Rachel Khong: Goodbye, Vitamin. New York 2017. Wie Thomas Couser treffend bemerkt, fällt im internationalen Vergleich auf, dass die meisten dieser Demenz-Narrativ aus Sicht der Töchter verfasst sind. Vgl. Thomas Couser: »Memoir and (Lack of) Memory: Filial Narratives of Paternal Dementia«, in: Christopher Stuart / Stephanie Todd / Timothy Dow Adams (Hg.): New Essays on Life Writing and the Body. Newcastle u.T. 2009, S. 223-240, hier S. 227. Während diese Beobachtung vor allem auf die englischsprachige Literatur zutrifft, kann auf dem deutschen Buchmarkt ein solches Ungleichgewicht nicht festgestellt werden. Süwolto (2015), S. 207. Süwolto bezieht sich in ihrem Artikel explizit auf Gayatri Chakravorty Spivak: »Can the Subaltern Speak?« in: Cary Nelson / Lawrence Grossberg (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Chicago 1988, S. 66-111. Spivak ist die Begründerin der sogenannten ›Subaltern Studies‹, in denen sie Subalternität als Ergebnis hegemonialer Diskurse und sozialer Ausgrenzungen beschreibt. Einen Überblick über den ursprünglich von Antonio Gramsci geprägten Begriff der ›Subalternität‹ und die daraus erwachsenen Theorien bietet Partha Chatterjee: »A Brief History of Subaltern Studies«, in: Gunilla Budde / Sebastian Conrad / Oliver Janz (Hg.): Transnationale Geschichte: Themen, Tendenzen und Theorien. Göttingen 2006, S. 94-101. Vgl. Süwolto (2015), S. 204. Zum Symptom der Sprachstörung, der sogenannten Aphasie, bei Demenzerkrankungen vgl. Pantel / Haberstroh (2016), S. 5.
2. Demente Eltern
ser krankheitsbedingten Einbußen sind die Demenzdarstellungen durch das gesunde Umfeld, beispielsweise durch deren Kinder, nicht im gleichen Maße als Gestus der Anmaßung und der sozialen Unterdrückung zu verstehen. Vielmehr scheint die Deutungshoheit der Außenstehenden, ein inhärentes Problem von DemenzNarrativen zu sein, das aufgezeigt werden muss, aber – im Gegensatz zu Subalternitätsproblematik – im Kern nicht verhindert werden kann. Der folgende Analyseblock zu Texten, die aus Sicht der Kinder von Demenzkranken verfasst sind, reflektiert die Problematik der Deutungshoheit und zeigt gleichzeitig auf, wie die elterliche Krankheit jeweils literarisch konstruiert wird. Neben der Frage nach der Literarizität der Demenz-Narrative werden ebenso wie im vorangegangenen Analyseblock – wo es möglich ist – wissensgeschichtliche Hintergründe herausgearbeitet, die für die jeweiligen Demenz-Darstellungen entscheidend gewesen sind. Überdies gilt es, es zu klären, welchen Wirklichkeitsanspruch die jeweiligen Texte für sich erheben. Während diese Frage bei den rein fiktionalen Innenperspektiven unerheblich ist, lassen sich an den folgenden Texten unterschiedlich geartete Verflechtungen von fiktionalen Schreibweisen und faktualen Hintergründen beobachten.
2.1
Aufklärung, Verklärung, Vatermord? – Demenz. Abschied von meinem Vater
Der Skandal hätte kaum größere Wellen im Feuilleton schlagen können, als Tilman Jens im Jahr 2009 seinen Text Demenz. Abschied von meinem Vater veröffentlicht: Literaturkritiker, Schriftsteller und Wissenschaftler empören sich gleichermaßen über die vermeintlich hämischen Schilderungen der väterlichen Krankheit. Der Autor trage mit seinem Text, wie Franz Moor,10 den noch lebenden Walter Jens zu Grabe und mache intime »Details aus dem Windeleimer seines kranken Vaters« bekannt.11 Die mediale Ereiferung nimmt schon vor Veröffentlichung des Buchs ihren Anfang, als Jens im Jahr 2008 in einem längeren Artikel in der Frankfurter
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Gert Ueding vergleicht Tilman Jens mit Friedrich Schillers berühmtem Protagonisten Franz Moor aus dessen Stück Die Räuber: »›Aber ist Euch auch wohl, Vater? Ihr seht so blass.‹ Wer seine Klassiker kennt (und Walter Jens kannte sie besser als seine germanistischen Kollegen von nebenan), der weiß, dass Schiller so die Räuber beginnen lässt, dass hier Franz zu seinem Vater, dem alten Moor, spricht und dass die Fürsorge des Sohnes nicht nur reine Heuchelei ist, sondern zugleich Eröffnung einer genau kalkulierten Intrige. Das Modell, die Methode Franz, seither in der Väter-und-Söhne-Literatur immer wieder erprobt, hat längst nicht ausgedient.« Vgl. Gert Ueding: »Tilman Jens begräbt den lebenden Vater«, in: Die Welt, 18.02.2009, o.S. Iris Radisch: »Der Mann seines Lebens. Tilman Jens verklärt und denunziert seinen an Demenz erkrankten wehrlosen Vater Walter Jens«, in: Die Zeit, 19.02.2009.
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Allgemeinen von der Krankheit seines Vaters berichtet und sich schließlich für einen medienwirksamen, mehrteiligen Vorabdruck des Texts in der Bild-Zeitung entscheidet.12 Die Reaktionen auf die verschiedenen Artikel und das im Frühjahr 2009 veröffentlichte Demenz. Abschied von meinem Vater lassen nicht lange auf sich warten: Von Geschmacklosigkeit, Verleumdung, ja »literarischem Vatermord«13 ist die Rede – schwerwiegende Vorwürfe, auf die wiederum Tilman Jens im Jahr 2010 mit Vatermord. Wider einen Generalverdacht reagiert.14 In diesem Text setzt sich Jens nach einer Schilderung der überwiegend negativen Reaktionen, ja Anfeindungen, mit denen er sich nach Veröffentlichung seines Buchs Demenz konfrontiert sieht, anhand von verschiedenen Beispielen »mit all [den] vertrackten Ödipus-Dramen im Leben wie auf der Bühne« auseinander. Dabei kommen allen voran die Vorwürfe gegen seine Person zur Sprache.15 Die kontroverse Debatte über Demenz. Abschied von meinem Vater reicht schließlich weit über die damals aktuellen Feuilletonartikel hinaus und wird auch im Kontext später veröffentlichter Demenz-Texte, wie Arno Geigers Der alte König in seinem Exil, immer wieder angefacht.16 Während andere biographische DemenzDarstellungen, wie etwa John Bayleys Elegy for Iris oder Jonathan Franzens My father’s brain, trotz der darin enthaltenen Schilderungen der krankheitsbedingten Verfallserscheinungen überwiegend als liebevolle und literarisch gelungene Berichte aufgefasst worden sind,17 dient Jens’ Text meist als Beispiel für einen unethischen, missglückten Umgang mit eben diesem Thema.18 Gerade im Vergleich mit anderen Demenz-Biographien und -Narrativen stellt sich deshalb die Frage, worin die gesellschaftliche Sprengkraft dieser (auto-)biographischen Schilderung begründet liegt.19 12 13
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Tilman Jens: »Vaters Vergessen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.03.2008; Tilman Jens: »Abschied von meinem Vater, dem Philosophen Walter Jens«, in: BILD, 09.02.2009. In einem Fernsehinterview des 3sat-Magazins Kulturzeit bezichtigte die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich – ebenso wie Gert Ueding in seinem Artikel – Tilman Jens des »literarischen Vatermords«. Vgl. die dpa-Nachricht im Hamburger Abendblatt, 04.03.2009. Tilman Jens: Vatermord. Wider einen Generalverdacht. Gütersloh 2010. Ebd., S. 171. Vgl. z.B. Kumlehn (2013), S. 374f. oder Dackweiler (2014), S. 251-276; Christopher Schmidt: »Arno Geigers ›Der alte König in seinem Exil‹ – Falsche Idylle«, in: Süddeutsche Zeitung, 14.02.2011. Eine Zusammenfassung der überwiegend positiven Rezensionen und Artikel zu Elegy for Iris bietet Anne Rowe: »Critical Reception in England of ›Iris: A Memoir of Iris Murdoch‹ by John Bayley,« in: Iris Murdoch Newsletter Bd. 13 (1999), S. 9-10. Zu Franzen vgl. u.a. Bennett Kravitz: Representations of Illness in Literature and Film. Newcastle u.T. 2010, S. 103-119. Vgl. z.B. Ueding (2009) oder Zimmermann (2017a), S. 55. Dass es sich tatsächlich um einen autobiographischen Text handelt, wird nicht etwa durch den Peritext evident (eine Unterschrift, die den Text [auto-]biographisch nennt, bleibt aus. Auch finden sich weder Vor- noch Nachwort, das den Essay mit diesem Genre in Verbindung bringen könnte). Der biographische Anspruch wird vielmehr durch die intertextuellen Referenzen auf ähnliche Texte deutlich (vgl. Textanalyse, Kapitel 2.1.1) sowie durch den Epitext:
2. Demente Eltern
Einen Hinweis darauf geben die vielfältigen Rezensionen, die Jens’ Text behandeln. Diese Auseinandersetzungen führen das Provokationspotential der DemenzDarstellung zum einen darauf zurück, dass es nicht im Sinn des erkrankten Walter Jens gewesen sei, dessen krankheitsbedingte Veränderungen an die Öffentlichkeit zu tragen. Schließlich hatte der bekannte Rhetoriker stets für einen menschenwürdigen Umgang mit Kranken und vor allem deren selbstbestimmtes Ende plädiert.20 Iris Radisch zufolge unterläuft der Sohn diese Forderung nicht etwa, indem er dem Vater die Sterbehilfe verweigert, sondern indem er dessen Krankheitsweg öffentlich mache und Walter Jens als »ein stammelndes Menschenkind mit dem Babyphon am Bett« (DAV, S. 49) darstelle: »Woher weiß der Sohn, was er zu wissen vorgibt: dass sein berühmter Vater mit dieser investigativen Homestory über die väterliche Spielknete und die väterlichen Babypuppen im höchsten Maße einverstanden wäre? Und wem außer dem voyeuristischen Boulevard nutzt dieser Report aus der Krabbelgruppe des gelehrten Mannes?« (Radisch (2009), o.S) Dieser Einwand kommt nicht überraschend, wird doch nahezu jeder DemenzBiographie vorgehalten, dass sie voyeuristische Bedürfnisse befriedige und den Willen sowie die Rechte der Erkrankten untergrabe.21 Im Falle von Walter Jens verweisen die Rezenten jedoch auf aussagekräftige Texte des Betroffenen selbst, der in Menschenwürdig sterben seiner Angst, »ein dem Gespött preisgegebenes Etwas« zu sein, »das nur von fernher an mich erinnert«, Ausdruck verliehen hatte.22 Vor dem
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Schließlich nimmt Jens in zahlreichen Interviews und Artikeln zum Wahrheitsgehalt und seiner Argumentation in Demenz. Abschied von meinem Vater Stellung. Vgl. z.B. Tilman Jens: »Nachruf. Mein Vater Walter Jens«, in: Der Spiegel, 17.06.2013, S. 122-125. So stellt Walter Jens die Frage, ob »Außenstehende das Recht [haben], den Sterbenden zu entmündigen und ihm ein ›bis hierhin und nicht weiter‹ zuzudiktieren, weil der Moribunde als Objekt betrachtet wird, dem keine persönliche Entscheidungsfähigkeit mehr zugebilligt wird.« Walter Jens et al.: »Podiumsdiskussion«, in: Walter Jens / Hans Küng: Menschenwürdig sterben. Ein Plädoyer für Selbstverantwortung. München 1995, S. 173. Arno Geiger ist beispielsweise der Vorwurf gemacht worden, in seinem Text Der alte König in seinem Exil den eigenen »Vater einfach an die Rampe [zu schieben]« und auf diese Weise »den ästhetischen Mehrwert ab[zuschöpfen], der sich von selbst ergibt.« Vgl. Schmidt (2011), o.S. Auch John Bayley sieht sich mit der Kritik konfrontiert, er hätte mit der Krankheitsdarstellung Elegy for Iris das Bild seiner Frau nachhaltig negativ geprägt: »The privacy that Murdoch cherished at the best of times (the words ›private‹, ›reserve‹, ›solitude‹, ›separate‹, ›apart‹ recur throughout the book) has been violated by showing her at the worst of times, suffering all the indignities that come with that degrading disease. The image we now have of her will inevitably overshadow the figure of the person we once knew and admired.« Gertrude Himmelfarb: »A man’s own household his enemies«, in: Commentary Magazine Bd. 108 (1999), S. 34-38, hier S. 35. Walter Jens (1995), S. 173f.
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Vergessen erzählen
Hintergrund, dass sich Walter Jens um eben »dieses letzte Bild« gesorgt habe, laufe der Text Demenz. Abschied von meinem Vater dessen Wunsch eindeutig zuwider.23 Doch nicht allein die vermeintlich pietätlose Darstellung des kranken Vaters erhitzt die Gemüter. Die eigentliche Sprengkraft des Textes liegt vielmehr darin begründet, dass Jens die Demenz-Erkrankung als eine Flucht beschreibt, die der Vater aus Scham vor seiner eigenen Vergangenheit ergriffen habe. Als im November 2003 dessen Mitgliedschaft in der NSDAP bekannt wird, behauptet Walter Jens, sich nicht an den Beitritt erinnern zu können und äußert die These, dass er ohne sein Wissen durch einen Automatismus in die Partei aufgenommen worden sein könnte.24 Der Sohn zweifelt diese Argumentation an: Sein Vater, »der GedächtnisVirtuose« (DAV, S. 66), habe sich im Jahr 2003 gegen das Erinnern und für das »Beschweigen« entschieden, um sich einer öffentlichen Auseinandersetzung zu entziehen (DAV, S. 71). In Folge dieses Beschlusses habe er sich lieber dem Vergessen anheimgegeben und »weiß heute nicht mehr, wer er ist.« (DAV, S. 99) Tilman Jens versteht die Demenz-Erkrankung seines Vaters als ein Akt der Selbstaufgabe und stellt dem Kranken die rhetorische Frage: »War es wirklich ein Zufall – an den Du, der Kenner, Interpret und Übersetzer antiker Tragödien ohnehin nie geglaubt hast –, dass Dich das große Vergessen, die Demenz, der heimtückische Nebel, so hat es John Bayley gesagt, just in dem Augenblick überkam, als ein philologisches Fachlexikon die Existenz der NSDAPMitgliedskarte 9265911 offenbarte?« (DAV, S. 135. Hervorhebungen im Original) Wie dieses Zitat verdeutlicht, ordnet der Ich-Erzähler die väterliche Demenz als dessen »Verteidigungslinie«, als »fatale Schweige-Krankheit« (DAV, S. 99) ein, an der nicht nur er, sondern eine ganze Generation erkrankt sei. Eben diese These ruft in der Folge eine kontroverse Diskussion hervor, bei der medizinische Theorien und emotionalisierte Argumente in den Feuilletons, aber auch in wissenschaftlichen Beiträgen ins Feld geführt werden.25 Dabei stehen vor allem Tilman Jens’ Motive im Fokus der Betrachtung, wobei der Blick auf die Struktur, die Schreibweisen und wissensgeschichtlichen Hintergründe des Texts
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Vgl. Radisch (2009), S. 1 oder auch Friedrich Schorlemmer: Wenn ein Sohn sich vergisst. o.O. 2008. Internet-Quelle: http://friedrich-schorlemmer.de/docs/Jens-Wenn %20ein %20Sohn %20sich %20vergisst.pdf, abgerufen am 16. November 2017. Schorlemmer bezieht sich mit seiner Kritik auf die vorabgedruckten Passagen des Texts in der Bild und Frankfurter Allgemeine Zeitung. Zu Walter Jens’ Verteidigung vgl. Willi Winklers Interview mit Walter Jens: »Ich war lange Jahre angepasst«, in: Süddeutsche Zeitung, 08.12.2003. Vgl. Ulrich Seidler: »Die Nebelmaschine: Tilman Jens schreibt über den Vater Walter Jens«, in: Berliner Zeitung, 10.06.2013. Tabea Stoffers wiederum springt Tilman Jens argumentativ zur Seite. Vgl. Tabea Stoffers: Demenz erleben. Innen- und Außensicht einer vielschichtigen Erkrankung. Wiesbaden 2016, S. 112ff.
2. Demente Eltern
verstellt worden ist.26 Dies wird anhand zahlreicher literaturwissenschaftlicher Beiträge zu Demenz-Narrativen deutlich, die zwar auf Jens’ Demenz. Abschied von meinem Vater hinweisen,27 eine Untersuchung unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten jedoch unterlassen. Das folgende Kapitel geht zum einen der Frage nach, warum eine solche Analyse ausgeblieben ist, um dann im nächsten Schritt die genuin literarischen Verfahren und Motive herauszuarbeiten, auf die Jens’ Demenz-Darstellung zurückgreift. Bei dieser Untersuchung sollen insbesondere Fragen nach Textgattung, literarischen Traditionslinien und zeitgenössischen Kontexten geklärt werden.
2.1.1
Text, Buch oder Essay? Eine Gattungseinordnung
»Demenz kaum mehr als ein Mittel zum Zweck« Wie lässt sich nun der Umstand erklären, dass Tilman Jens’ Demenz. Abschied von meinem Vater in den überregionalen Feuilletons verhältnismäßig große Aufmerksamkeit zugekommen ist, während er in den literaturwissenschaftlichen Studien zu Demenz-Narrativen höchstens als thematischer Aufhänger dient oder bloß in Fußnoten Erwähnung findet?28 Diese fehlende Auseinandersetzung erstaunt besonders in Hinsicht auf die wachsende Forschung zu literarischen DemenzRepräsentationen, die seit 2011 sprunghaft angestiegen ist und seitdem beständig neue literarische oder auch filmische Untersuchungsgegenstände beleuchtet (vgl. Anhang, 5.). Vor dem Hintergrund dieser regen Forschung liegt der Schluss nahe, dass Tilman Jens’ Essay offenbar nicht als eine solche literarische Krankheitsdarstellung eingestuft wird. Diese Einordnung hängt einerseits damit zusammen, dass Jens – anders als es die Überschrift seines Texts verheißt – nicht so sehr die Krankheit des Vaters in den Blick nimmt, als dessen NSDAP-Mitgliedschaft: Schließlich beleuchten von den sechs Kapiteln die drei mittleren und längsten Abschnitte das vom Autor diagnostizierte Phänomen »der politischen Demenz« (vgl. DAV, S. 97). Hierbei handelt es sich nicht um ein Krankheitsphänomen im medizinischen Sinne, sondern um die von Jens aufgestellte These einer metaphorischen »SchweigeKrankheit« (DAV, S. 99), an der seiner Meinung nach große Teil der Kriegsgeneration nach 1945 erkrankt seien (vgl. DAV, S. 96f.). Der Autor macht diese Diagnose 26
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Um Missverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle gesagt, dass es sich bei den meisten Artikel, die den ethischen Gehalt von Tilman Jens’ Text beleuchten, um gewinnbringende, pointiert argumentierende Beiträge handelt, die jedoch den literarischen Gehalt des Texts weitestgehend außeracht lassen. Vgl. z.B. Kumlehn (2013), Zeisberg (2017a) oder aber Zimmermann (2017a). Vgl. z.B. Dackweiler (2014), Zeisberg (2017a) oder aber Franz Joseph Deiters et al.: »Ageing / Altern«, in: Limbus Bd. 8 (2015), S. 9. Vgl. z.B. Zeisberg (2017a) oder Schwieren (2017), S. 132, Fn. 27.
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an verschiedenen Figuren der Zeitgeschichte fest, wobei er sich vor allem auf Intellektuelle, Schriftsteller und Geisteswissenschaftler konzentriert, die sich wie sein Vater lieber der »deutschen Schönfärberei« gewidmet hätten, als eine Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit zu betreiben (vgl. DAV, S. 97). Indem Jens den thematischen Fokus hauptsächlich auf diese »Krankengeschichte einer ganzen Generation« legt (DAV, S. 98), scheint der Text weniger als Demenzdarstellung angelegt zu sein, als in der Traditionslinie literarischer Väterbücher und -auseinandersetzungen zu stehen.29 Diese inhaltliche Schwerpunktsetzung trägt dazu bei, dass die literaturwissenschaftliche Forschung zu Demenz-Narrativen den Text bislang nicht zum Untersuchungsgegenstand erhoben hat. Schließlich sei »Tilman Jens’ Buch über seinen Vater Walter Jens [.] in erster Linie eine Auseinandersetzung mit der moralischen Integrität des Vaters« und »die Demenz kaum mehr als ein Mittel zum Zweck.«30 Wirklichkeit und Dichtung Doch auch jenseits der strittigen Einordnung als Krankheitsdarstellung, finden sich keine literaturwissenschaftlichen Analysen des Texts, was damit zusammenhängen könnte, dass er nicht als Literatur im engeren Sinne eingestuft wird. Dieser Umstand lässt sich daran erkennen, dass die meisten feuilletonistischen und wissenschaftlichen Beiträge eine eindeutige Gattungszuweisung vermeiden, indem sie nur von Jens’ ›Buch‹ sprechen oder dessen Titel statt einer Gattungsbezeichnung verwenden.31 Diese uneindeutige Zuordnung lässt sich unter anderem mit dem (auto-)biographischen Anspruch von Demenz. Abschied von meinem Vater begründen – ein Anspruch, der zum Teil immer noch zur Annahme führt, dass literarische Schreibweisen und fiktionale Elemente darin keine oder zumindest keine bedeutende Rolle spielen.32 Nina Jessica Schmidt weist auf diese Problematik in ihrer Monographie zur Konstruktion literarischer Authentizität in autobiographischen Erzähltexten wie folgt hin: 29
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In Textanalyse, Kapitel 2.1.2.2 dieser Arbeit wird die intertextuelle Nähe des Texts zur sogenannten ›Väterliteratur‹ untersucht, wobei der aktuelle Forschungsstand bezüglich dieses heterogenen Genres diskutiert wird. Schwieren (2017), S. 132, Fn. 27. Vgl. z.B. Radisch (2008), o.S.; Zeisberg (2017a), S. 41 oder Schwieren (2017), S. 132, Fn. 27. Vereinzelt wird der Text auch als »Essay« eingeordnet, wobei dessen journalistische Ausprägung betont wird. Vgl. z.B. Dachweiler (2014), S. 251. Wie Nadine Schmidt in ihrer Arbeit Konstruktion literarischer Authentizität in autobiographischen Erzähltexten zeigt, findet sich in einschlägigen Lexika und Monographien bis heute die Forschungsposition, dass eine »Fiktionalisierung der Autobiographie unüblich sei, weil sie das Grundprinzip der Authentizität verletzen würde.« Dieses Zitat geht zurück auf Thomas Fabian: Neue Leben, neues Schreiben? München 2009, S. 29. Hervorhebungen im Original. Zu ähnlichen Forschungspositionen vgl. Nadine Jessica Schmidt: Konstruktion literarischer Authentizität in autobiographischen Erzähltexten. Göttingen 2014, S. 15f.
2. Demente Eltern
»In der Forschung zu Autobiographik ist die Debatte um die vermeintlichen Pole Faktualität versus Fiktionalität bis heute das zentrale Diskussionsthema; dabei ging es immer auch schon um die Gattungsdiskussion der Autobiographie. Die Autobiographie gehört einerseits ohne Zweifel zur Kunst und Literatur, andererseits erhebt sie aber auch wie kaum eine andere Gattung den Anspruch auf Wahrheit und Lebensnähe.« (Schmidt (2014), S. 14) Diese hybride Stellung autobiographischer Texte lässt sich auch auf Tilman Jens’ Essay übertragen,33 der die faktuale Geschichte seines kranken Vaters erzählt, dabei aber literarische Erzähltechniken, wie die Wiedergabe von nicht dokumentierten Gesprächen in wörtlicher Rede oder detaillierte Analepsen in die Zeit vor der Geburt des Ich-Erzählers, verwendet. Solche Verfahren setzen strenggenommen eine allwissende Erzählinstanz voraus und können demzufolge als literarische Überformung eingeordnet werden.34 Aufgrund des diffusen Modus der erzählten Rede lässt sich Jens’ Text als Wirklichkeitserzählung einstufen, die einerseits von sich behauptet, »auf reale, räumlich und zeitlich konkrete Sachverhalte und Ereignisse zu referieren« und dabei andererseits auf fiktionale Erzählformen zurückgreift.35 Der Begriff der Wirklichkeitserzählung geht auf den gleichnamigen, von Christian Klein und Matías Martínez herausgegebenen Sammelband zurück. Er bezieht sich auf Texte, »die nicht literarisch in einem engeren Verständnis sind, weil sie eben (a) einen Anspruch auf unmittelbare Verankerbarkeit in der außersprachlichen Wirklichkeit erheben, sich also im Zweifelsfall auf reale Sachverhalte oder Begebenheiten beziehen, und/oder (b) keinen hohen Grad an Poetizität aufweisen.« (Klein/Martínez (2009), S. 6) Als eine solche faktuale Erzählung mit fiktionalisierenden Erzählverfahren kann beispielsweise Arno Geigers Demenz-Biographie identifiziert werden,36 deren Literarizität weitgehend anerkannt und analysiert worden ist.37 In Tilman Jens’ Fall
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Zur Hybridität der Autobiographie vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart / Weimar 2005, S. 49ff. oder auch: Ansgar Nünning: »Fiktionalität, Faktizität, Metafiktion«, in: Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart 2009, S. 21-27, hier S. 21. Vgl. Christian Klein / Matías Martínez (Hg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart 2009, S. 6. Ebd. Ebd., S. 4. Im Gegensatz zu Demenz. Abschied von meinem Vater finden sich zu Der alte König in seinem Exil zahlreiche literaturwissenschaftliche Beiträge. Tatsächlich scheint Arno Geigers Text, den Ausschlag für die Hochkonjunktur der deutschen Demenz-Narrativ-Forschung gegeben zu haben. Zur Forschungslage vgl. Textanalyse, Kapitel 2.2 dieser Arbeit.
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haben die strittige biographische Darstellung des Vaters, aber auch die zahlreichen, im Text erwähnten Personen des Zeitgeschehens sowie der journalistische Hintergrund des Autors eine literaturwissenschaftliche Perspektive auf den Text jedoch weitestgehend verstellt. So diskutieren die verschiedenen Forschungsbeiträge zwar den ethischen Gehalt der Demenz-Darstellung, nicht aber die literarischen Strategien, die hinter dieser Argumentation stehen. Nimmt man aber eben diese Strukturen in den Blick, lässt sich auch eine Genrezuweisung des Texts vornehmen: Demenz. Abschied von meinem Vater kann als autobiographischer Essay eingeordnet werden, der sich erzählstrategisch und kompositorisch zwischen journalistischen und literarischen Schreibweisen bewegt.38 Diese Erzählstrategie drückt sich unter anderem durch literaturkritische Passagen und verschiedene Interview-Formen aus, die in den Text eingepasst sind (vgl. DAV, S. 74ff.). Gleichzeitig findet eine Literarisierung von Teilen der Handlung statt.39 Dies geschieht zum Beispiel, wenn der Ich-Erzähler, der sich als Walter Jens’ Sohn bezeichnet, zeitweise zu einer auktorialen Erzählperspektive wechselt und so historische Begebenheiten unmittelbar wiederzugegeben vermag.40 Neben dieser allwissenden Perspektive kommt es zwischenzeitlich auch zu einer personalen Erzählsituation, die allein an die Sicht des kranken Vaters gebunden ist (vgl. DAV, S. 11f.). Diese Indizien fiktionalen Erzählens führen die Notwendigkeit vor Augen, auch im Falle einer faktualen Erzählung mit fiktionalisierenden Elementen auf narratologischer Ebene die Dichotomie von Autor und Erzähler zu postulieren.41 Auf Grundlage dieser Einstufung werden im Folgenden Wirklichkeitserzählungen, wie etwa Demenz. Abschied von meinem Vater oder Der alte König in seinem Exil von einer literaturwissenschaftlichen Warte aus untersucht, schließlich reflektieren die Erzählinstanzen dieser Texte die Autorfigur und den Akt des Schreibens gleichermaßen.42 Aus einer solchen Betrachtungsweise ergibt sich auch, dass nicht
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Einen Einblick in die äußerst ähnlichen Systeme Literatur und Journalismus sowie deren unterschiedliche Rollen und Programme bieten u.a. Bernd Blöbaum / Stefan Neuhaus (Hg.): Literatur und Journalismus. Theorie, Kontexte, Fallstudien. Wiesbaden 2003. Freilich finden sich auch in journalistischen Texten literarisierte Handlungsstränge, weshalb sich an dieser Stelle nicht eindeutig zwischen den Einflüssen der jeweiligen Schreibsysteme unterscheiden lässt. Eine solche fiktionale Überformung findet beispielsweise in Kapitel 5 statt: Die Binnenerzählung über den Nachbarn Schaich ist im historischen Präsens verfasst und gibt Einblicke in die Witterungsverhältnisse sowie die Gedankenwelt der verschiedenen Personen, die der Erzähler, der sich als Walter Jens’ erstgeborener Sohn bezeichnet, so nicht wissen kann. Vgl. DAV, S. 116. Vgl. Kretzschmar (2012), S. 121. Vgl. Julia Kerscher: »Selbstentwurf durch Figurenentwurf? Oder: Erzähler seiner selbst und Biograph eines anderen zugleich sein«, in: Sonja Arnold et al. (Hg.): Sich selbst erzählen. Autobiographie – Autofiktion – Autorschaft. Kiel 2018, S. 173-190.
2. Demente Eltern
von einer vollkommenen Identität der realen Person Walter Jens und der namensgleichen, textinternen Figur ausgegangen werden kann, weshalb eine literaturwissenschaftliche Untersuchung nicht »ausschließlich nach der Realitätsadäquatheit und/oder moralischen Rechtfertigung seiner literarischen Gestaltung« fragen sollte, sondern nach literarischen Darstellungsformen und Semantiken.43
2.1.2
Schuld und Schweigen: Das Phänomen der politischen Demenz
2.1.2.1
Handlungsebenen und Zeitstruktur
Ein erster Blick auf die Struktur des Texts zeigt, dass der Essay (anders als die drei Demenz-Innenperspektiven von Frisch, Bernlef und Draesner) in Kapitel untergliedert ist, wobei jedem dieser sechs Kapitel ein Zitat vorausgeht, das die darauffolgenden Textpassagen inhaltlich einleitet. Während eine solche Unterteilung im Vergleich zu den fragmentarischen Innenperspektiven einen besseren Überblick verspricht,44 erschweren in diesem Fall jedoch unterschiedlich weit zurückreichende Analepsen innerhalt der Kapitel die Orientierung. Eine Aufschlüsselung der sprunghaften, chronologischen Ordnung und Handlung zeigt, wie eng Tilman Jens die Darstellung der Demenz-Krankheit seines Vaters mit der von ihm entworfenen Metapher der politischen Demenz verknüpft:45 Das erste Kapitel »Ich geh dann mal nach oben« setzt mit der Rahmenerzählung im Jahr 2008 ein (vgl. DAV, S. 10). Ausgehend vom Status Quo der väterlichen Erkrankung konstruiert Tilman Jens im zweiten Kapitel einen Zusammenhang zu den Geschehnissen des Jahrs 2003 – das Jahr, in dem Walter Jens’ NSDAP-Mitgliedschaft publik wird. Im Lichte dieser beiden Jahre 2003 und 2008 entwirft der Autor in den folgenden Kapiteln mithilfe von unterschiedlich weit zurückreichenden Analepsen das Bild einer nahezu unausweichlichen Krankheitsentwicklung. Dies geschieht anhand von Passagen aus Fernsehinterviews, Reden, Essays und Briefen, aber auch mündlichen Zitaten, die über das Persönlichkeitsprofil des Vaters Aufschluss geben. Hatte dieser bereits in den 1980er Jahren an »tiefer Schwermut« gelitten und diese schließlich überwinden können (DAV, S. 32), ist es ihm nach dem Skandal um seine NSDAP-Mitgliedschaft jedoch nicht mehr möglich, in den Alltag zurückzufinden. Seit November 2003 schwankt Walter Jens zwischen Aggressionen und Apathie, durchlebt Phasen der Unruhe 43 44
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Kretzschmar (2012), S. 121. Wie ich in der Textanalyse der Kapitel 1.1.3, 1.2.3 und 1.3.2 zeigen konnte, zeichnen sich die drei von mir untersuchten Innenperspektiven alle durch Fragmentarisierungen aus, die sich sowohl auf inhaltlicher wie auf formaler Ebene vollziehen. Jens konstruiert, wie in Kapitel 2.1.2 gezeigt worden ist, eine Parallele zur väterlichen Erkrankung und dessen angeblichem Wunsch, seinen Beitritt in die NSDAP zu vergessen. Diese unterlassene Aufarbeitung sei im Nachkriegsdeutschland üblich und könne als »politische Demenz« verstanden werden. Vgl. DAV, S. 96f.
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und des Wankelmuts, sodass er sich 2005 schließlich in psychiatrische Behandlung begibt (vgl. DAV, S. 45). In kurzen Rückblenden skizziert der Autor immer wieder Episoden der Studienzeit und der Kriegserlebnisse seines Vaters, erinnert sich an dessen Reden in den 1960er Jahren oder an literaturkritische Artikel des 19jährigen Walter Jens’, um kurz darauf Geschehnisse aus den Jahren 2005 und 2003 zu schildern.46 Indem die Handlung beständig vor- und zurückgespult wird, verdichtet sich das Geschehen, das sich (obwohl oft Jahre dazwischenliegen) in kurzer zeitlicher Abfolge ereignet zu haben scheint. Auf diese Weise werden dem Leser Walter Jens’ Krankheitsentwicklungen zeitraffend vor Augen geführt und gleichzeitig Erklärungen für das Verhalten und Erkranken des Vaters geliefert: Mithilfe von Analepsen in die 1940er und 1980er Jahre verdeutlicht der Ich-Erzähler, dass sein Vater von Kindheit an mit einem Asthmaleiden und später mit Depressionen kämpft, sich in Folge des Skandals um seinen Parteibeitritt jedoch gesundheitlich aufgibt: »Die Offenlegung der NSDAP-Episode aber, die hochnotpeinlichen Fragen zum jahrzehntelangen Schweigen eines nicht immer leisen Moralisten, entreißen ihm den Boden unter den Füßen.« (DAV, S. 99) Im Gegensatz zu anderen Dementen, die versuchen, ihr Leiden zu kaschieren oder mithilfe von Merkzetteln zu überbrücken, unternimmt Walter Jens keine derartigen Anstrengungen. »Warum auch? Wer vergessen will, wer sich nicht mehr erinnern mag, die Verbindung zur Vergangenheit kappt, der braucht keine Gedächtnisstützen.« (DAV, S. 102) Der homodiegetische Erzähler sieht in diesem Verhalten eine Parallele zu vielen anderen Intellektuellen, die sich seiner Meinung nach gar nicht, oder wenigstens nicht intensiv genug, mit ihrer eigenen Vergangenheit während der Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt haben. Anhand der von Alfred Neven DuMont herausgegebenen Anthologie Jahrgang 1926 / 27 – Erinnerungen an die Jahre unter dem Hakenkreuz werden schließlich in nahezu feuilletonistischer Weise »die Facetten deutscher Schönfärberei, die Symptome politischer Demenz« (DAV, S. 97) vom Ich-Erzähler herausgearbeitet. Texte Dieter Hildebrands, Siegfried Lenz’, Hans-Dietrich Genschers, Otto Graf Lambsdorffs und Günther de Bruyns dienen als Beispiele für den vermeintlich unkritischen und zum Teil verklärten Umgang zahlreicher Schriftsteller mit ihrer Jugend in der NS-Zeit. Aufgrund dieser Beispiele verkörpere DuMonts Anthologie Tilman Jens zufolge »die Krankengeschichte einer ganzen Generation«.47
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Als Beispiel für derartig häufige Zeitsprünge lässt sich das zweite Kapitel anführen, in dem in kurzer Abfolge Erlebnisse aus den Jahren 1987, 2003, 2005, 1963, 2001, 1944 und 1994 miteinander verknüpft werden. Vgl. DAV, S. 31-44. Alfred Neven DuMont (Hg.): Jahrgang 1926 / 27 – Erinnerungen an die Jahre unter dem Hakenkreuz. Köln 2007.
2. Demente Eltern
Dieses Argument wird im fünften Kapitel durch eine Binnenerzählung über Tilman Jens’ »Wahlgroßvater« Albert Schaich erläutert (vgl. DAV, S. 108).48 In einem ausführlichen Exkurs beschreibt der Erzähler die Familie Schaich, die sich ihm als Kind weitaus fürsorglicher und liebevoller annimmt, als es seinen Eltern zuweilen möglich ist. Erscheint der Nachbar Albert Schaich in dieser Darstellung zunächst als zugewandter, friedfertiger Mann, wird diese Darstellung im Folgenden durch eine Rückblende in die 1930er und 40er Jahre kontrastiert. Im historischen Präsens berichtet der nunmehr auktoriale Ich-Erzähler davon, wie Schaich, der schon seit 1933 Mitglied der NSDAP ist, in der Funktion eines Staffelunterscharführers im April 1945 ein Tötungsdelikt begeht. Die Tat scheint vergessen, bis 1995 ein Artikel über das Vergehen veröffentlicht wird. In diesem ambivalenten Schicksal des »doppelten Schaichs« erkennt der Ich-Erzähler (wenn auch graduell unterschiedliche) Parallelen zum Schuldempfinden seines Vaters, der Teile seiner Vergangenheit von sich gewiesen habe und ebenso wie der einstige Nachbar schließlich an Demenz erkrankt ist. (vgl. DAV, S. 123) Auf diese Binnenerzählung folgt das letzte Kapitel, das dem Leser zeitraffend Walter Jens’ Demenz-Diagnose im Jahr 2006 und die darauffolgenden Behandlungen und unterschiedlichen Betreuungssituationen vor Augen führt, die er bis ins Jahr 2008 durchlebt. Analysiert man anhand dieser Textpassagen das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit, so wird deutlich, dass die Passagen, die die NSDAP-Mitgliedschaft und die Metapher der politischen Demenz behandeln, zeitdehnend erzählt werden. Demgegenüber steht die meist zeitraffende Erzählweise der Textstellen, die das psychiatrische Syndrom Demenz beleuchten. Anhand dieser Zeitgestaltung lässt sich der inhaltliche Schwerpunkt des Essays erkennen, der eindeutig auf der NSDAP-Mitgliedschaft des Vaters und dem Phänomen der »politischen Demenz« liegt (DAV, S. 97), wohingegen die tatsächliche Demenz-Erkrankung des Vaters als dessen Folgeerscheinung dargestellt wird.
2.1.2.2
Das intertextuelle Gewebe
Wie die obenstehende Aufschlüsselung zeigen konnte, handelt es sich bei Demenz. Abschied von meinem Vater um einen chronologisch wie inhaltlich sprunghaften Text, der zusätzlich von offen markierten, intertextuellen und intermedialen Bezügen 48
Im Gegensatz zu den vielen fragmentarischen Analepsen scheint die Binnenerzählung, in sich abgeschlossen zu sein. Teile der Handlung werden überdies aus einer unmittelbaren Perspektive im dramatischen Präsens erzählt. Der Erzähler, der vorgibt, in den 1950er Jahren geboren zu sein, kann diese nicht selbst miterleben haben. Es findet ein Wechsel von einer personalen Perspektive des Sohns Tilman zu einer auktorialen Schilderung statt, die vom Gefangenenzug am 21. April 1945 handelt und romanhafte Züge trägt: »Nebel steigen auf über den Erlen und Weiden. Bis zur Donau sind es keine 200 Meter. Es ist noch kühl auf der Alb an diesem Morgen. Sie sprechen kein Wort. Zu hören ist einzig das Scharren der eisernen Fesseln.« DAV, S. 116.
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Vergessen erzählen
durchsetzt ist. Hierzu zählen Zitate aus Schriften, Interviews und Reden von Walter Jens sowie mündlich überlieferte Aussprüche des Kranken. Hinzukommt ein umfangreiches Zitatkonvolut, das die NSDAP-Mitgliedschaft des Vaters betrifft: Beispielsweise greift der Erzähler auf einen Brief des Herausgebers des Germanistenlexikons zurück und zitiert Walter Jens’ Antwortschreiben sowie weitere Briefe, die im Zusammenhang mit dem Parteibeitritt im Umlauf gewesen sind.49 Weiterhin finden sich Ausschnitte aus Artikeln und Stellungnahmen bekannter Persönlichkeiten zu eben diesem Thema, wie z.B. Kommentare von Günter Grass oder Marcel Reich-Ranicki, die in Zeitungen veröffentlicht worden sind (vgl. DAV, S. 85). Die große Fülle an unterschiedlichen Namen der Zeitgeschichte, diversen Zitaten und Daten wird aus der Sicht des Ich-Erzählers geschildert, der die Handlungsfäden mit eben jenen intertextuellen Verweisen zusammenführt und auf diese Weise die Ereignisse der Jahre 2008 und 2003 miteinander verknüpft. Dabei zitiert er neben Zeitdokumenten (also den Briefen, Interviews und Artikel zu und von Walter Jens) auch literarische Texte: Passagen aus Romanen Thomas Manns oder Theodor Fontanes, aber auch Gedichtzeilen von Ludwig Uhland sind in den Essay unter Angabe der jeweiligen Quellen eingepasst. Bei diesen intertextuellen Bezügen handelt es sich um Texte, die Walter Jens Zeit seines Lebens geschätzt und vielfach zitiert hat und nun vom Sohn aufgegriffen werden, um dessen umfassende Bildung zu illustrieren. Neben solchen vereinzelten Textreferenzen finden sich längere Passagen aus Gabriele von Arnims Das große Schweigen und Stella Braams Ich habe Alzheimer sowie aus John Bayleys Elegie für Iris.50 Eine solche hohe Zitatdichte legt ein postmodernes Textverständnis nahe, erinnert aber auch an populärwissenschaftliche oder journalistische Texte, die im Fließtext auf ihre Recherchequellen hinweisen und Zitate kenntlich machen, dabei aber überwiegend ohne Fußnoten oder Quellenverzeichnisse auskommen. Im Folgenden werden die drei umfangreicheren Referenzen auf Braam, Bayley und von Arnim näher untersucht, da sie Aufschluss über die Konzeption und Gattung von Demenz. Abschied von meinem Vater geben.
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Vgl. Bevor Tilman Jens die Korrespondenz mit Christoph König, dem Herausgeber des Germanistenlexikons, im fünften Kapitel (DAV, S. 91f.) zitiert, greift er zunächst Passagen aus dem Brief »eines freundliche[n] Herre[n] aus Hamburg Bramfeld« auf, der Walter Jens im Zuge des Skandals um dessen Parteimitgliedschaft auf einen von ihm im Januar 1943 verfassten Artikel mit dem Titel »Die Epik der Gegenwart« hinweist. Im besagten Artikel fordert der 19jährige Jens »Die Hinwendung zum ewigen Deutschtum« und bezeichnet die Schriften von Döblin und Mann als »Verfallsdichtung«. Vgl. DAV, S. 68ff. Gabriele von Arnim: Das große Schweigen. Von der Schwierigkeit, mit den Schatten der Vergangenheit zu leben. München 1999; Stella Braam: Ich habe Alzheimer. Wie sich die Krankheit anfühlt. Weinheim / Basel 2007 [Ik heb alzheimer. Het verhaal van mijn vader. Amsterdam 2005]; Bayley (2000).
2. Demente Eltern
Von heimtückischem Nebel und klemmenden Türen Statt von Anführungszeichen durch Kursivierung vom restlichen Text enthoben, durchsetzen Interviewpassage, Artikelausschnitte und Aussprüche des Vaters die Ausführungen des Ich-Erzählers. Diese Textstruktur kommt einer Montage gleich, die offen ihre dichte, intertextuelle Struktur kommuniziert.51 Die erste Referenz, die nicht auf den erkrankten Rhetoriker zurückgeht, stammt von John Bayley, dem Ehemann der britischen Philosophin Iris Murdoch.52 Dessen Text Elegy for Iris zählt zu einer der meistbeachtesten Demenz-Biographien, die durch ihre Verfilmung im Jahr 2001 ein noch größeres Publikum erreichen konnte (vgl. Textanalyse, Kapitel 3.1).53 Jens bezieht sich auf eben diesen prominenten Text, indem er eine Formulierung daraus aufgreift und diese auf seinen Vater wendet. Genau wie die demente Iris Murdoch, gelinge es Walter Jens im Jahr 2008 nur noch gelegentlich, einen sinnvollen Satz zu bilden, der den Eindruck vermittelt, als habe »[…] sich irgendwo im Hirn ein Überbleibsel der einstigen Sprechkunst, ein vage erinnerter Konjunktiv, eine syntaktische Hohlform gelöst, so wie es John Bayley in seiner Elegie für Iris, dem Erinnerungsbuch an seine Frau, die alzheimerkranke Schriftstellerin Iris Murdoch, frei von Illusion beschreibt. Die klar verständlichen Sätze wirken wie letzte Worte, gesprochen, bevor alle Lichter ausgehen.« (DAV, S. 13f. Hervorhebungen im Original) Mit diesem Zitat referiert Jens unter Angabe und Einordnung der Quelle auf Bayleys Text und stellt damit seinem Essay einen zentralen Demenz-Prätext zur Seite, der in gewisser Weise seiner Perspektive auf die Krankheit entspricht. Schließlich teilt Jens’ Erzählinstanz mit John Bayley den Blick eines nahen Angehörigen auf einen Erkrankten, der sich einst als etablierte intellektuelle Stimme Gehör verschaffen konnte. Ähnlich wie im Falle Iris Murdochs, die bei Ludwig Wittgenstein promiviert hat, zahlreiche Romane sowie Sachtexte verfasst und in Oxford gelehrt hat, stehen die einstigen Fähigkeiten des rhetorisch geschulten Altphilologen und Schriftstellers Walter Jens in einem erheblichen Kontrast zu dessen, von der
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Während Frisch in seiner Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän eine Collagetechnik anwendet, die nicht nur Textpassagen zitiert, sondern Faksimiles von Lexikonartikeln und handschriftlichen Notizen einbezieht, muss im Falle von Tilman Jens’ Essay von einer MontageStruktur gesprochen werden. Zum Unterschied zwischen Collage und Montage kann der frühe Grundlagentext von Manfred Durzak herangezogen werden: »Zitat und Montage im deutschen Roman der Gegenwart«, in: Ders. (Hg.): Die deutsche Literatur der Gegenwart. Aspekte und Tendenzen. Stuttgart 1971, S. 216-234. Iris Murdoch – geboren am 15. Juli 1919 in Dublin, verstorben am 8. Februar 1999 in Oxford – ist die Autorin zahlreicher Romane und philosophischer Schriften. Sie gilt als eine Vordenkerin der Gender-Diskussion. Vgl. u.a. Peter J. Conradi: Iris Murdoch. A Life. London 2001. Richard Eyer (Reg.): Iris. GB / USA 2001.
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Vergessen erzählen
Demenz-Erkrankung eingeschränktem Kommunikations- und Denkvermögen.54 Um diese Veränderung metaphorisch zu übersetzen, greift Bayley – und in der Folge auch Tilman Jens – zum gängigen Bild von Hell und Dunkel, was den Kontrast zwischen dem wachen und erlöschenden Geist illustriert.55 Diese Metapher der Dämmerung und der getrübten Sicht durch die Demenz verwendet Jens ein weiteres Mal unter Bezugnahme auf Bayleys Text, wenn der Ich-Erzähler seinem Vater die rhetorische Frage stellt: »War es wirklich ein Zufall – an den Du, der Kenner, Interpret und Übersetzer antiker Tragödien ohnehin nie geglaubt hast –, dass Dich das große Vergessen, die Demenz, der heimtückische Nebel, so hat es John Bayley gesagt, just in dem Augenblick überkam, als ein philologisches Fachlexikon die Existenz der NSDAPMitgliedskarte 9265911 offenbarte?« (DAV, S. 135. Hervorhebungen im Original.) Indem Bayley die Demenz-Erkrankung als heimtückischen Nebel beschreibt, kommt sie einer anthropomorphisierten, nahezu böswilligen Naturgewalt gleich, gegen die der Betroffene nichts ausrichten kann. Jens verändert diese WitterungsMetaphorik jedoch, wenn er dem Vater abspricht, ›nur zufällig‹ erkrankt zu sein. Statt einer Laune der Natur aufgesessen zu sein, hätte Walter Jens das Vergessen herbeigesehnt und auf diese Weise auch herbeigeführt. Bei dieser Passage handelt es sich um ein zentrales Argument, das sich – wie bereits eine Textstelle im dritten Kapitel – durch die rhetorische Ansprache des Vaters auszeichnet (vgl. DAV, S. 76f). Berichtet der Ich-Erzähler von Walter Jens im restlichen Text in der dritten Person Singular, wird der Demente an dieser Stelle direkt adressiert. Diese Ansprache in der zweiten Person Singular erweckt den Eindruck, eines an Walter Jens adressierten Schreibens und erinnert entfernt, auch aufgrund des vorwurfsvollen Tonfalls, an Kafkas Brief an den Vater.56 In dieser Sichtweise des Sohns auf den Vater unterscheidet sich Jens’ Text von Bayleys, der aus dem Blickwinkel des Ehemanns der dementen Iris Murdoch verfasst ist. Die Perspektive eines Kindes auf den erkrankten Vater hat Tilman Jens wiederum mit der niederländischen Journalistin Stella Braam gemein, die mit Ich habe Alzheimer das literarische Porträt ihres dementen Vaters zeichnet. Dieser AlzheimerText erscheint zunächst 2005 in den Niederlanden unter dem Titel Ik heb alzheimer. Het verhaal van mijn vader, 2007 folgt die deutsche Übersetzung. Im Gegensatz zu 54
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Vgl. Dackweiler (2014), S. 257: »[…] die Alzheimer-Narrationen von Tilman Jens und John Bayley [erzeugen] Spannung durch die große Fallhöhe [.], die der schleichende Gedächtnisverlust ihrer intellektuellen Angehörigen bedeutet […].« Diese Metaphorik ist bei Demenz-Darstellungen überaus etabliert und findet sich in vergleichbarer Form z.B. bei Frisch und Bernlef. Vgl. Textanalysen, Kapitel 1.1.4 und 1.2.3.3 dieser Arbeit. Franz Kafka: Brief an den Vater, in: Ders.: Schriften, Tagebücher, Briefe: Nachgelassene Schriften und Fragmente, Bd. 2. Hg. von Jost Schillemeit. Frankfurt a.M. 1999, S. 143-217.
2. Demente Eltern
Tilman Jens’ Text handelt es sich bei Braams Buch um ein Gemeinschaftsprojekt, das die Tochter Stella mit Einverständnis ihres an Demenz erkrankten Vaters zu Beginn der Krankheit aufnimmt.57 In elf Kapiteln schildert die Ich-Erzählerin den sich wandelnden Alltag des dementen Vaters. Der Text endet schließlich mit einem Forderungskatalog, in dem der erkrankte René in elf Punkten selbst zum Ausdruck bringt, was er sich für Demenzkranke wünscht.58 Diese Liste, aber auch die im Präsens verfassten Schilderungen der Tochter weisen den Text als autobiographische Selbsthilfeliteratur aus, die vielfach gekauft und in den Medien wahrgenommen worden ist.59 Auch Tilman Jens verweist auf Braams prominenten Text, indem er zunächst eine treffende Formulierung daraus aufgreift und kontextualisiert: »Die Tür zum Wortschatz im Gehirn klemmt, schreibt Stella Braam in ihrem ergreifenden Bericht über ihren alzheimerkranken Vater, den niederländischen Psychiater René van Neer.« (DAV, S. 101. Hervorhebungen im Original.) Ich habe Alzheimer dient Jens – mehr noch als Bayleys Text – als kontrastreiche Vergleichsfolie, vor deren Hintergrund sich der familiäre Umgang, aber auch das Verhalten des Erkrankten abhebt. So schildert Jens, warum sich seine Familie (im Gegensatz zu Stella Braam) dagegen entschieden habe, dem Kranken die Demenz-Diagnose mitzuteilen. Neben diesem unterschiedlichen, familiären Umgang legen auch die beiden Kranken ein anderes Verhalten an den Tag: Während van Neer sich verzweifelt gegen die Krankheitssymptome zu wehren versucht, kappe Walter Jens – laut dessen Sohn – willentlich die Verbindungen zur Vergangenheit und gebe sich dem Vergessen hin (vgl. DAV, S. 102). Diese vermeintliche Selbstaufgabe bringt Tilman Jens wiederum damit in Verbindung, dass sein Vater im Gegensatz zu van Neer nicht an einer ›gängigen‹ Demenz-Form leide, sondern an einem (wie Iris Radisch treffend bemerkt) weitaus schwerwiegenderen Syndrom erkrankt zu sein scheint: »Der große Vater – Tilman Jens nennt ihn »die Portalfigur seines Lebens« – ist in der romantisierenden Lesart des Sohnes nicht einfach nur krank, er ist mehr als krank, er ist bedeutsam krank. Der kleine Voltaire der alten Bundesrepublik stirbt in seiner Tübinger Dachstube an nichts Geringerem als einer hochbrisanten politischen Infektion.« (Radisch (2008), o.S.)
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Braam nennt den Text im Vorwort das »erste Buch in Deutschland, in dem die Erlebenswelt eines Menschen mit Demenz – der meines Vaters – von innen heraus beschrieben wird.« Vgl. Braam (2007), S. 7. Vgl. Braam (2007), S. 180. Stella Braams Ich habe Alzheimer liegt in Deutschland mittlerweile in der fünften Auflage vor. Er gilt als zentraler Demenz-Selbsthilfetext, der in Fernseh- und Radiobeiträgen, Zeitungsartikeln und Ratgeberseiten im Internet empfohlen wird. Vgl. z.B. Kim Kindermann: »Ein Kopf wie aus Styropor«, in: Deutschlandfunk Kultur, 18.09.2007.
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Vergessen erzählen
Walter Jens – durch zahlreiche nominale Attribute zum »Anwalt für Klarheit und Wahrheit« (S. 55) und »Redner der Republik« (S. 49) aufgewertet – flüchtet sich in den Augen seines Sohns vor Scham in die Krankheit, um seiner eigenen Vergangenheit und dem unterlassenen Bekenntnis zu entkommen. Indem Jens die Demenz des Vaters auf diese Weise zu einem Nachkriegsphänomen erklärt, weist er dem Betroffenen nicht nur eine gewisse Schuld an seinem eigenen Erkranken zu, sondern verklärt dessen Leiden zu einer bedeutsamen Geisteskrankheit.60 Auf diese Weise wird der Demenz eine Sinnhaftigkeit zugesprochen, das Vergessen zu einem Vergessen-Wollen und der Kranke zum Entscheidungsträger erklärt,61 der es als »der Standfeste, der Feind billiger Ausreden« eigentlich hätte besser wissen müssen (DAV, S. 76). Die große Schweige-Krankheit Die Metapher der politischen Demenz stützt Jens mit der intertextuellen Referenz auf Gabriele von Arnims Das große Schweigen.62 Bei diesem Text handelt es sich um einen 1989 erschienenen Essay, der die unterlassene Aufarbeitung der Kriegsgeschehnisse als »kollektive Gedächtnisstörung« einordnet.63 Formal verbindet die Autorin – in Anlehnung an literarische Tagebuchformate – von ihr geführte Interviews sowie Gesprächsfragmente und Notate, die sie von Januar bis Dezember 1988 festgehalten hat, zu einer essayistischen Collage.64 Tilman Jens lehnt sich nicht nur in der hybriden Textgestaltung an Das große Schweigen an, sondern schließt sich in seinen Zitaten dezidiert von Arnims These an, dass sich die Kriegsgeneration seit 1945 konsequent dem Gefühl der Scham verweigere und auf diese Weise »aus der jüngsten Vergangenheit [.] ein Vakuum« gemacht habe.65 Indem Jens seinen autobiographischen Essay mit dieser These untermauert, bezieht er sich nicht nur auf den konkreten Text Das große Schweigen, sondern verweist darüber hinaus auf die literarische Tradition der sogenannten ›Väterliteratur‹.66 Unter diesem Genrebegriff werden heterogene Texte subsumiert, die aus 60 61 62 63
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Zur Metaphorisierung von Krankheiten und der daraus folgenden Dämonisierung, Stigmatisierung oder Verklärung von Krankheiten und Betroffenen vgl. Sontag (1977). Vgl. Vedder (2012), S. 274. Vgl. Textanalyse, Kapitel 2.1, Fn. 50 Arnim (1989), Klappentext. Von Arnims Forderung, das Schweigen der Elterngeneration nach 1945 zu beenden, wendet sie jedoch nicht auf ihre eigene Familie an. Über die Eltern und Großeltern der Ich-Erzählerin erfährt der Leser nichts. Der Essay richtet den Blick auf eine generelle Zeitdiagnose und gilt deshalb nicht als Vater-Text. Vgl. Susanne Mayer: »Und käme Schreckliches heraus«, in: Die Zeit, 29.12.1989. InternetQuelle: www.zeit.de/1990/01/und-kaeme-schreckliches-heraus, abgerufen am 16. Januar 2018. Von Arnim (1989), S. 13. Vgl. hierzu auch DAV, S. 86. Zu den zentralen Publikationen über das heterogene Genre der ›Väterliteratur‹ zählen u.a. Wolfgang Türkis: Beschädigtes Leben: autobiographische Texte der Gegenwart. Stuttgart 1990;
2. Demente Eltern
Sicht der Kinder und Kindeskinder der Kriegsgeneration verfasst sind und die NSVergangenheit und -Verbrechen der Vorfahren behandeln.67 Um einen Text dieser mehrheitlich deutschsprachigen Strömung zuordnen zu können, genügt folglich nicht »die bloße Existenz einer mehr oder weniger repressiven Vaterfigur« (so gilt beispielsweise Kafkas Brief an den Vater als entscheidender Prätext für das Genre, zählt aber nicht zur Väterliteratur).68 Vielmehr steht bei dieser Strömung ein speziell deutscher Generationendiskurs im Vordergrund, bei dem die Autoren die väterliche Persönlichkeit und Biographie in Bezug auf die NS-Zeit kritisch beleuchten, was meist eine Identitätskrise des erzählenden (und erzählten) Subjekts zur Folge hat.69 Wie Mathias Brandstädter in seiner Monographie Folgeschäden präzise nachzeichnet, erscheinen – mit gewissen Konjunkturphasen – seit den 1960er Jahren bis heute Texte, die diesem Genre zugeordnet werden können.70 Auch wenn Tilman Jens’ Essay sicher »nicht in die Reihe der großen literarischen Auseinandersetzungen mit den nationalsozialistischen Übervätern wie Bernward Vespers Reise, Ute Scheubs Vatersuche oder Christoph Meckels Suchbild. Über meinen Vater« gehört,71 variiert der Essay das Thema der Vater-Suche unter besonderer Berücksichtigung von Walter Jens’ NSDAP-Mitgliedschaft.72 Neben diesen Parallelen finden sich weiterhin Überschneidungen mit Jonathan Franzens My father’s brain aus dem Jahr 2002 und mit Lars Brandts 2006 erschienenem Text Andenken.73 Hierbei handelt es sich ebenfalls um essayistische Wirklichkeits-
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Ralph Gehrke: Literarische Spurensuch. Elternbilder im Schatten der NS-Vergangenheit. Opladen 1992; Claudia Mauelshagen: Der Schatten des Vaters. Deutschsprachige Väterliteratur der siebziger und achtziger Jahre. Frankfurt a.M. 1995; Željko Uvanović: Söhne vermissen ihre Väter: misslungene, ambivalente und erfolgreiche Vatersuche in der deutschsprachigen Erzählprosa nach 1945. Marburg 2001; Marina Karlheim: Schreiben über die Väter: Erinnerungstopografien – eine Analyse. Marburg 2010 und Mathias Brandstädter: Folgeschäden. Kontext, narrative Strukturen und Verlaufsformen der Väterliteratur 1960 bis 2008. Bestimmung eines Genres. Würzburg 2010. Vgl. Karlheim (2010), S. 8. Brandstädter (2010), S. 14. Zur Konzeption von paternaler Herrschaft und väterlicher Emotion in der deutschen Literatur vor dem Zweiten Weltkrieg vgl. Claudia Nitschke: Der öffentliche Vater. Konzeptionen Paternaler Souveränität in der Deutschen Literatur (1755-1921). Berlin / Boston 2012. Vgl. Brandstädter (2010), S. 30. Brandstädter (2010), S. 103ff. Radisch (2008), o.S. Gleichwohl handelt es sich bei Das große Schweigen nicht um einen solchen autobiographischen Vater-Text, schließlich lässt die Autorin in ihrem Essay die Geschichte ihrer eigenen Familie außen vor. Auf den Zusammenhang zwischen eben diesen drei Texten hat bereits Iris Radisch hingewiesen, vgl. Radisch (2008), o.S. Vgl. Jonathan Franzen: My father’s brain, in: Ders.: How to be alone. London 2002, S. 7-38; sowie Lars Brandt: Andenken. München 2006.
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Vergessen erzählen
erzählungen,74 die aus Sicht der Söhne auf ihre Väter verfasst sind. Während in Franzens Fall die väterliche Demenz-Erkrankung im Zentrum des Texts steht, lotet Brandt sein Verhältnis zum prominenten Vater aus. Diese beiden Texte zählen im engeren Sinne nicht zur Väterliteratur, weil sie die väterliche Biographie nicht unter dem Aspekt des Zweiten Weltkriegs verhandeln. Vielmehr setzen sich die beiden Autoren essayistisch mit der Persönlichkeit des jeweiligen Vaters auseinander und beleuchten dabei ihre Vater-Sohn-Beziehung. Auch wenn sich kein direkter intertextueller Bezug zu diesen Texten herausarbeiten lässt, liegen in der inhaltlichen Ausgestaltung und formalen Knappheit dieser Texte die Parallelen zu Tilman Jens Demenz. Abschied von meinem Vater begründet.
2.1.3
Die Trauma-Theorie
Ebenso wie Ulrike Draesners These einer partnerschaftlichen Demenz-Ansteckung in Zusammenhang mit Forschungsarbeiten der 2000 Jahre steht, geht auch Tilman Jens’ Essay auf wissenschaftliche Debatten zu psychosozialen Demenz-Ursachen zurück. So betont der Autor in einem Nachruf auf den Vater im Jahr 2013 noch einmal die Validität seiner Argumentation und untermauert diese mit wissenschaftlichen Quellen:75 »Niemand hat je behauptet, mein Vater habe bewusst einen Schalter umgelegt. Aber, nachzulesen etwa bei dem amerikanischen Psychiater Leon Eisenberg oder bei dem Neurobiologen Joachim Bauer, einen Zusammenhang zwischen dementiellen Erkrankungen und lebensgeschichtlichen Traumata gibt es eben doch. Bei dem einen befördert der Verlust eines Lebenspartners den Ausbruch, bei einem anderen der erzwungene Auszug aus der vertrauten Wohnung. Und bei einem Dritten genügt ein winzig kleiner brauner Fleck auf einer weißen Weste.« (Jens (2013), S. 125) Tatsächlich liegen seit Mitte der 1990er Jahre epidemiologische Forschungsarbeiten dazu vor, dass Alzheimer-Demenz-Erkrankungen auch psychosoziale Ursachen, wie Angst, Stress und Überforderung zu Grunde liegen können.76 Der von Tilman Jens angeführte Neurobiologe Joachim Bauer argumentiert beispielsweise, dass es bei Menschen, die traumatisiert seien oder sich im Dauerstress befänden, zu ei-
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Zum Begriff der Wirklichkeitserzählung vgl. Textanalyse, Kapitel 2.1.1. dieser Arbeit und Klein / Martínez (2009). Auf eben diese Quellen verweist Jens auch in seinem Buch Vatermord, in dessen Nachwort er dem Neurobiologen Bauer dankt. Vgl. Jens (2010), S. 186. Ulrich Kropiunigg et al.: »Psychosoziale Risikofaktoren für die Alzheimer-Krankheit«, in: Psychotherapie, Psychosomatik und medizinische Psychologie Bd. 49 (1999), S. 153-159.
2. Demente Eltern
ner »meßbare[n] Verminderung der Hirnsubstanz« kommen kann.77 Dabei sei besonders die für das Gedächtnis entscheidende Region des Hippocampus betroffen – »jene Hirnregion, die bei der Alzheimer-Krankheit eine besonders ausgeprägte Volumenminderung zeigt.«78 Bauer stützt diese These u.a. durch den Befund des amerikanischen Psychiaters Leon Eisenberg, der besagt, dass nur die Grundstruktur des Gehirns durch Gene vorbestimmt sei. Die Feinstruktur des Gehirns könne im Laufe der Jahre durch Signale aus der sozialen Umwelt reorganisiert werden.79 Aus diesen Erkenntnissen folgert Bauer die Notwendigkeit einer biographischen Untersuchung der Alzheimer-Krankheit. In den meisten Fällen zeige eine solche biographische Anamnese, dass dem Krankheitsausbruch etwa anderthalb Jahre vorher »ein schweres Belastungsereignis« vorausgegangen sei.80 »Die später Erkrankten waren durch diese Belastungsereignisse in eine von ihnen als ausweglos erlebte Situation geraten. In dieser Situation wurde eine resignative Reaktion der kurze Zeit später Erkrankten beschrieben.« (Bauer (2018))81 Jens sieht in diesen Studien seine Theorie eines traumabedingten DemenzAusbruchs begründet. Tatsächlich legen eine Vielzahl von Forschungsarbeiten nahe, dass soziale Faktoren positive wie negative Effekte auf eine DemenzErkrankung haben können.82 Auffällig ist jedoch, dass Jens gewisse Erkenntnisse dieser Studien außenvorlässt: So kommt Bauers Untersuchung zu dem Schluss, dass die Mehrzahl der von ihm untersuchten, dementen Probanden keiner geistig herausfordernden Arbeit oder aber intensiven Hobbies nachgegangen sei.83 Außerdem scheint die Art der Partnerschaftsbeziehung und des sozialen Netzwerks großen Einfluss auf einen Krankheitsausbruch zu haben. In Übereinstimmung mit früheren epidemiologischen Studien generiert Bauer die Erkenntnis, dass die Mehrheit der dementen Probanden zeitlebens von ihrem Partner dominiert worden sein und nur über ein beschränktes soziales Umfeld verfügt habe (wobei nicht die Anzahl der sozialen Kontakte, sondern die Intensität und Zugewandtheit
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Joachim Bauer: Die Alzheimer-Demenz: Keine Krankheit, die durch eine Einzelursache zu erklären ist. o.O. 2003. Internet-Quelle: http://demenzrisiko.de/joachim-bauer-neue-aspekte-deralzheimer-krankheit/, abgerufen am 22. Januar 2018. Ebd. Leon Eisenberg: »The social construction of the human brain«, in: The American Journal of Psychiatry Bd. 152 (1995), S. 1563-1575, hier S. 1570. Vgl. Joachim Bauer: Die Alzheimer-Krankheit. Erst eine seelische Situation, dann eine neurobiologische Erkrankung. o.O. / o.J.; Internet-Quelle: www.psychotherapie-prof-bauer.de/, abgerufen am 23. Januar 2018. Ebd. Vgl. Michael Renner / Marc Rosenzweig: Enriched and impoverished environments. Effects on brain and behavior. New York 1987; Kropiunigg et al. (1999). Vgl. Bauer (2003), o.S.
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Vergessen erzählen
entscheidende Faktoren zu seien scheinen).84 Laut Bauers Studie zeigt sich, dass – schon Jahrzehnte bevor eine medizinische Diagnose getroffen wird – eine Tendenz zu sozialem Rückzug, geringer sportlicher sowie kultureller Aktivitäten Ausdruck einer Erkrankung sein kann. Es sei jedoch möglich, einen Krankheitsausbruch mitunter durch ein intaktes soziales Umfeld und einen regen Austausch hinauszuzögern.85 Vor dem Hintergrund dieser Studien wird deutlich, dass der von Tilman Jens argumentativ aufgegriffene, psychosoziale Ansatz dessen Theorie eines krankheitsauslösenden Belastungserlebnisses zum Teil unterstützt. Gleichzeitig stehen die von Bauer gewonnenen Erkenntnisse zu typischen Verhaltens- und Beziehungsmustern von Demenz-Kranken Walter Jens’ Biographie konträr gegenüber. Schließlich lassen sich dessen rege, geistige Tätigkeit und starke Persönlichkeit sowie das breite, soziale Netzwerk nicht mit den typischen Alzheimer-Biographien übereinbringen. Auch wenn an dieser Stelle kaum entschieden werden kann, ob psychosoziale Faktoren ausschlaggebend für Walter Jens’ Erkrankung gewesen sind oder nicht, lässt sich mithilfe des wissensgeschichtlichen Kontexts aufzeigen, dass Tilman Jens die von ihm zitierten, epidemiologischen Studien nur selektiv für seine Argumentation heranzieht, um die Metapher der traumabedingten, politischen Demenz zu stützen.
2.1.4
Anklagend, verklärend, aufklärend
Eine Analyse der literarischen Strukturen von Demenz. Abschied von meinem Vater führt vor Augen, auf welche Weise Jens das Bild einer nahezu unausweichlichen Krankheitsentwicklung entwirft und dabei die väterliche Demenz-Erkrankung als eine, in der Nachkriegsgesellschaft verbreitete, metaphorische SchweigeKrankheit einordnet. Diese Argumentation, aber auch die Darstellung des »vertrottelten« Vaters, der mit Knete und Puppen spielt (vgl. DAV, S. 49 und S. 153) haben Journalisten, Literaturkritiker und Bekannte des dementen Walter Jens dazu bewegt, den Essay seines Sohns als »literarischen Vatermord« einzuordnen.86 Die Anschuldigung, es handele sich um einen ödipalen Text, wird weiterhin mit der positive Darstellung von Inge Jens begründet, der das Buch mit den Worten 84
85 86
Vgl. Andreas Seidler: »Können psychosoziale Faktoren vor der späteren Entwicklung einer Demenzerkrankung schützen?«, in: Jahrbuch für kritische Medizin Bd. 40 (2004), S. 40-48: »Allein lebende Personen und Personen ohne enge soziale Bindungen zeigen in dieser prospektiven Kohortenstudie [dem schwedischem ›Kungsholmen-Projekt‹ aus dem Jahr 2000] ein erhöhtes Risiko, an einer Demenz zu erkranken. Unregelmäßige Sozialkontakte steigern das Erkrankungsrisiko allerdings dann nicht, wenn diese Kontakte als befriedigend erlebt werden.« Vgl. Seidler (2004), S. 47. Vgl. z.B. Radisch (2009), Ueding (2009), Schorlemmer (2008) oder auch Mitscherlich (2009).
2. Demente Eltern
»Für Mami« gewidmet ist.87 Auch wenn Tilman Jens den Vorwurf entschieden von sich weist, finden sich in Demenz. Abschied von meinem Vater Passagen, in denen der Ich-Erzähler der Anklage des literarischen Vatermords Vorschub leistet. Beispielsweise erklärt er: »Ich ertappe mich immer wieder, wie ich beim Nachdenken über meinen Vater, statt ihn im Präsens leben zu lassen, ihn im Präteritum, der ewigen Vergangenheitsform, einsarge. Ich weiß, er atmet, er ist bei Bewusstsein […], aber er wird nie wieder sein, der er einst war. Er lebt weiter als Schatten. Als Erinnerung.« (DAV, S. 30) Vor dem Hintergrund dieses Zitats überrascht es nicht, dass ein Vergleich zwischen Tilman Jens und Schillers Protagonisten Franz Moor gezogen worden ist. Wie Iris Radisch jedoch überzeugend ausführt, liegt in dieser Darstellungsweise weniger ein symbolischer Vatermord, denn einen ›Denkmalsturz‹ begründet.88 Der als bedeutender Intellektueller der Nachkriegszeit, zugleich aber auch als asketischer Arbeitsmensch charakterisierte Vater, verliert durch die Krankheit zwar einstige Fähigkeiten und Eigenschaften. Gleichzeitig entwickelt er sich aber zu einem »kreatürlichen Vater – einem Vater, der einfach nur lacht, wenn er mich sieht, der sehr viel weint und sich Minuten später über ein Stück Kuchen, ein Glas Kirschsaft freuen kann.« (DAV, S. 152). Diesem Gestus des ›Denkmalsturzes‹ und der gleichzeitigen Zurückeroberung schwingen verklärende, anklagende und versöhnliche Töne mit. Neben dem sehr persönlich gefärbten, vielschichtigen Vater-Bild und der Diagnose einer »Krankengeschichte einer ganzen Generation«, die sich einer Aufarbeitung der NS-Diktatur entzieht, zeugen andere Passagen von den aufklärerischen Bestrebungen des Texts. So heißt es an einer Stelle: »Aber keiner hat sich getraut, die Diagnose ohne Hoffnung zu stellen, das Tabu aus sechs Lettern klar zu benennen: DEMENZ, die Krankheit, derer man sich noch immer schämt, erst recht, wenn – wie bei meinem Vater – zur vaskulären Demenz […] auch noch ein Anteil Alzheimer kommt. Alzheimer – das Stigma schlechthin.« (DAV, S. 48) Dieser gesellschaftlichen Stigmatisierung und Tabuisierung der DemenzKrankheit will der Autor mit der schonungslosen Darstellung der demenzbedingten, »unfreiwillige[n] Rückkehr« des Vaters »ins Stadium eines Kleinkindes« entgegenwirken (DAV, S. 48) Indem Jens’ Demenz-Darstellung die Krankheit mit moralischen Verfehlungen und persönlichem Schuldempfinden in Zusammenhang bringt, unterläuft der Text jedoch seinen eigenen Anspruch.
87 88
Vgl. hierzu Zimmermann (2017a), S. 58 und Radisch (2009), o.S. Vgl. Radisch (2009), o.S.
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116
Vergessen erzählen
2.2
Der Demente als Dichter – Der alte König in seinem Exil
Während Tilman Jens’ Essay im Jahr 2009 die Gemüter der Journalisten und Literaturwissenschaftler erregt, ruft Arno Geigers Der alte König in seinem Exil zwei Jahre später eine gänzlich andere Reaktion in der deutschsprachigen Medienlandschaft hervor: Die vereinzelt kritischen Stimmen, die Geiger vorwerfen, er habe den Vater »ausgeplündert« und als Material genutzt,89 werden im Feuilleton von der Vielzahl an positiven Rezensionen übertönt.90 Die Qualität des Texts wird dabei vor allem nach ethischen (und subjektiven) Kriterien, wie Einfühlungsvermögen, Pietät und Tiefgründigkeit, bemessen.91 Das positive Medienecho beschränkt sich nicht nur auf das deutschsprachige Feuilleton: Über die vielfachen Rezensionen in den verschiedensten Printmedien hinaus, weisen Fernseh- und Radiobeiträge auf Geigers Text hin.92 Bis heute empfehlen zahlreiche Demenz-Ratgeber und Webseiten einschlägiger Verbände Der alte König in seinem Exil als lohnenswerte Lektüre.93 2014 erscheint sogar eine von der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) herausgegebene, staatlich subventionierte Taschenbuchversion des Texts, die auf der Internetseite der BPB als »überaus warmherzige und poetische Auseinandersetzung mit der Krankheit« angepriesen wird.94 Auch auf literaturwissenschaftlicher Seite findet eine intensive Auseinandersetzung mit dem Text statt. Tatsächlich hat Der alte König in seinem Exil, wie bereits in der Einleitung dieser Arbeit angedeutet (Einleitender Teil, Kapitel 1.4), die umfangreiche, literaturwissenschaftliche Forschung zu Demenz-Narrativen insgesamt befördert. Seit 2012 erscheinen immer mehr Forschungsbeiträge, die speziell 89
90
91
92 93 94
Christoph Schmidt hält den Text beispielsweise für geschmacklos und »pseudoempfindsam«. Weiterhin wirft er Geiger vor, dass er »windelweiche poetologische Rechtfertigungspirouetten« drehe, um das Ausschlachten der väterlichen Erkrankung und Biographie zu begründen. Schmidt (2011), o.S. Ähnlich Töne finden sich auch bei Ulrich Stock: »Alzheimer. Material Vater«, in: Süddeutsche Zeitung, 17.02.2011. An dieser Stelle muss sowohl Gräßel / Niefanger (2014), Dackweiler (2014) als auch Süwolto (2015) widersprochen werden, die eine kontroverse Diskussion in den Medien beobachtet haben wollen. Die m.E. einzigen, wenn auch heftigen und wirkmächtigen Kritiken stammen von Schmidt (2011) und Stock (2011). Vgl. z.B. Elmar Gräßel / Dirk Niefanger: »Angehörige erzählen vom Umgang mit Demenz: Einige sozialmedizinische narratologische Beobachtungen«, in: Rudolf Freiburger / Dirk Kretzschmar (Hg.): Alter(n) in Literatur und Kultur der Gegenwart. Würzburg 2012, S. 99-115, hier S. 117. Vgl. Felicitas von Lovenberg: »Wenn einer nichts weiß und doch alles versteht«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.02.2011. Oder zum Beispiel Franz Haas: »Monument für einen Lebenden«, in: Neue Zürcher Zeitung, 09.02.2011. Vgl. u.a. Eva Pfister: »Die fremde Welt des Vaters«, in: Deutschlandfunk, 09.05.2011. Vgl. u.a. Julia Haberstroh / Katharina Neumeyer / Johannes Pantel: Kommunikation bei Demenz: Ein Ratgeber für Angehörige und Pflegende. Berlin / Heidelberg 2016, S. 94. Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 10114. Bonn 2014.
2. Demente Eltern
Geigers Text beleuchten – zu keinem Demenz-Narrativ liegen in der deutschsprachigen Forschung mehr Arbeiten vor.95 Anders als bei den wenigen Beiträgen zu Tilman Jens’ Essay werden dabei die genuin literarischen Verfahren und Semantiken herausgearbeitet. Diese literaturwissenschaftliche Perspektive auf den Text wird – trotz des faktualen, biographischen Hintergrunds – mit der literarischen Überformung und dem offen kommunizierten, nahezu poetologischen Anspruch des Texts begründet. Eine solche Literarisierung der Krankheit erfolgt (wie die anschließende Untersuchung zeigen wird) durch narrative Strategien, wie beispielsweise Analepsen, auktoriale Erzählerkommentare oder aber durch intertextuelle Rückgriffe auf literarische Formen und Semantiken.96 Auf diese Weise entwirft der Text eine »ästhetisch verfremdete Version der Krankheit«.97 Wie bereits im Kapitel 2.1.1 zu Tilman Jens dargelegt worden ist, muss auch im Fall von Geigers Text noch einmal betont werden, dass er »keine reale Krankheit und [.] keine realen Kranken lebensweltlich nachprüfbar (re-)präsentiert, sondern ästhetisch konstruiert.«98 Eben diese ästhetische Konstruktion soll im Folgenden unter Berücksichtigung intertextueller Bezüge und wissensgeschichtlicher Hintergründe Gegenstand der Untersuchung sein.
2.2.1
»Zum Zeitpunkt, da ich diese Sätze schreibe…«
2.2.1.1
Ich, Arno Geiger
Wie alle bisherigen Textbeispiele setzt auch Der alte König in seinem Exil in medias res mit den Ausführungen eines zunächst namenlosen Ich-Erzählers ein, indem es heißt: »Als ich sechs Jahre alt war, hörte mein Großvater auf, mich zu erkennen.« (AKE, S. 7) Von diesem Beispiel der ersten Demenzerfahrung leitet der Erzähler zu seinem Vater August Geiger über, der nunmehr seit zehn Jahren an AlzheimerDemenz leidet (vgl. AKE, S. 129). Im Zentrum des Texts stehen die ambivalenten Krankheitsfolgen, die sich einerseits in Erinnerungsverlusten, Verzweiflung und 95
96 97 98
Um nur eine kleine Auswahl der mannigfaltigen Forschung zu Geigers Demenz-Darstellung zu geben, vgl. Vedder (2012); Kretzschmar (2012); Gräßel / Niefanger (2014); Kumlehn (2013); Kuhlmey (2013); Christina Dehler: Vergessene Erinnerungen. Alzheimer-Demenz in Martin Suters ›Small World‹ und Arno Geigers ›Der alte König in seinem Exil‹. Bamberg 2013; Dackweiler (2014); Süwolto (2015); Krüger-Fürhoff (2015); Glasenapp (2015); Toni Tholen: »Zum Wandel von Väterlichkeit und Care / Sorge in der Literatur«, in: Andreas Heilmann et al. (Hg.): Männlichkeit und Reproduktion. Zum gesellschaftlichen Ort historischer und aktueller Männlichkeitsproduktionen. Wiesbaden 2015, S. 117-134; Zimmermann (2017a); Zeisberg (2017a); Süwolto (2017); Bettina Rabelhofer: »Ich – das sind die Anderen. Erzählen von Demenz, Alter und Tod«, in: Daniela Ringkamp / Sara Strauß / Leonie Süwolto (Hg.): Demenz und Subjektivität. Ästhetische, literarische und philosophische Perspektiven. Frankfurt a.M. et al. 2017, S. 57-70. Vgl. Kretzschmar (2012), S. 121 und Süwolto (2015), S. 203. Kretzschmar (2012), S. 130. Ebd., S. 121.
117
118
Vergessen erzählen
Einsamkeit des Betroffenen manifestieren (vgl. AKE, S. 26f.). Andererseits verringert sich aufgrund der Krankheit die einstige Distanz zwischen dem Ich-Erzähler, seiner Familie und dem dementen Vater. Darüber hinaus verändert die Krankheitserfahrung den Blick des Erzählers auf Themen wie Alter, Charakter und Sprache, sodass er meint: »Für den Vater ist die Alzheimererkrankung bestimmt kein Gewinn, aber für seine Kinder und Enkel ist noch manches Lehrstück dabei.« (AKE, S. 136) Tritt der homodiegetische Ich-Erzähler zu Beginn des Texts noch namenlos in Erscheinung, kristallisiert sich im Laufe der Handlung heraus, dass es sich bei ihm um August Geigers jüngsten Sohn Arno handelt, der sich gemeinsam mit seinen Geschwistern Helga, Werner und Peter die Pflege des Vaters teilt. Diese Figurenkonstellation wirft Fragen nach Realität und Fiktivität auf der einen Seite und Fiktionalität und Faktualität auf der anderen Seite auf, schließlich trägt der Ich-Erzähler denselben Namen wie der Autor auf dem Buchdeckel und hat »in der Diegese auch die gleichen Bücher wie dieser[r] Autor[]« verfasst (vgl. AKE, S. 144).99 Während sich der ontologische Status des Texts wegen des realen Hintergrunds rasch klären lässt, bereitet die Frage nach Fiktionalität und Faktualität größeres Kopfzerbrechen: Zunächst gilt es zu klären, ob der Text beansprucht, wahr zu sein – wie es beispielsweise Lehrbücher oder Ratgeber tun – oder ob er diesen Wahrheitsanspruch zugunsten einer ästhetischen Schwerpunktlegung aufgibt, wie es bei vielen Spielfilmen oder Romanen der Fall ist. Wie sich zeigt, lässt sich diese Frage nach dem pragmatischen Geltungsanspruch von Der alte König in seinem Exil nicht zweifelsohne klären: Indem die autobiographische Krankheitsgeschichte Elemente der Ratgeberliteratur (wie die Problemdefinition und -lösung eines Angehörigen, der sich mit Handlungsanweisungen an Betroffene wendet)100 mit literarischen Schreibweisen verquickt, scheint der Text einen hybriden Status für sich zu proklamieren.101 So deuten etwa die zahlreichen Demenzmetaphern oder auch die zunehmend zergliederte Typographie auf eine ästhetische Überformung hin. Aufgrund dieser Hybridität des Texts gilt es, – trotz der großen Schnittmengen
Innokentij Kreknin: Poetiken des Selbst. Identität, Autorschaft und Autofiktion am Beispiel von Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst. Berlin et al. 2014, S. 1. 100 Diese Ratschläge und Handlungsanweisungen sind überwiegend im Präsens verfasst und scheinen, einen allgemeingültigen Anspruch zu erheben. Vgl. z.B. AKE, S. 134f.: »Die Konvention verlangt, dass man ein schlechtes Gewissen bekommt, wenn man beschließt, ein enges Familienmitglied ins Heim zu geben. Und natürlich verunsichert eine solche Entscheidung. Gleichzeitig schadet es nicht, Konventionen in Frage zu stellen. […] Auch das Eingestehen einer Niederlange kann ein Erfolg sein. 101 An dieser Stelle muss den literaturkritischen Stimmen widersprochen werden, die den Text als autobiographisches Sachbuch einordnen, das »ohne Fiktionen« auskommt. Vgl. Haas (2011) oder Stock (2011). 99
2. Demente Eltern
zwischen dem real existierenden Autor und dessen Ich-Erzähler – auf dem narratologischen Unterschied zwischen diesen beiden Instanzen zu bestehen. Diese notwendige Trennung lässt sich auch mit der variablen Fokalisierung begründen. Schließlich ist es dem Erzähler zeitweise möglich, seine interne Fokalisierung zugunsten einer Nullfokalisierung abzulegen und auf diese Weise souverän von Geschehnissen zu berichten, die sich vor der Geburt des empirischen Autors oder während dessen Abwesenheit zugetragen haben (vgl. AKE, S. 80).102 Aufgrund dieser Fokalisierung, aber auch wegen der »poetischen, stark fiktionalisierten Darstellung der Krankheit«103 muss der Erzähler vom realen Autor unterschieden werden. Diese Trennung wird dem Leser, wie das nächste Kapitel zeigt, jedoch durch die starke Selbstreferenzialität des Texts erschwert.
2.2.1.2
Chronologie und Textanordnung
Aus den im Text verstreuten Zeitangaben lässt sich nachvollziehen, dass die Erzählgegenwart von Der alte König in seinem Exil um das Jahr 2009 herum angesiedelt ist (vgl. AKE, S. 135). Von diesem Zeitpunkt aus rekonstruiert der Ich-Erzähler mittels einer eingeschobenen Erzählweise, die retrospektive und gleichzeitige Aspekte achronisch miteinander verquickt, die Biographie und den Krankheitsverlauf des Vaters. Der Handlungsstrang, der den Krankheitsverlauf beleuchtet, erstreckt sich über eine erzählte Zeit von etwa 15 Jahren.104 Weitere Analepsen reichen jedoch bis in die Jugend der Großeltern zurück und zeichnen August Geigers familiären Hintergrund sowie dessen biographische Entwicklungen nach (vgl. AKE, S. 33).105 Der Erzähler markiert den Wechsel zwischen diesen unterschiedlichen Zeitebenen unter anderem durch den grammatischen Tempusgebrauch. Die unterschiedlichen Funktionen des jeweiligen Tempus lassen sich besonders eindrücklich am letzten Erzählabschnitt illustrieren, wenn der Erzähler zwischen Erinnerungen, gegenwärtigen Beobachtungen und allgemeinen Erkenntnissen wechselt (vgl. AKE, S. 175-189). Während er weiter zurückliegende Ereignisse im epischen Präteritum
102 Auch wenn der Erzähler einräumt, dieses Wissen von Dritten überliefert bekommen zu haben, zeugen seine Schilderungen von einer breiten Einsicht in die Gedankenwelt des Vaters und wirken derart unmittelbar, dass sich stellenweise von einem auktorialen Erzählgestus sprechen lässt. Vgl. z.B. AKE, S. 80. 103 Vgl. Süwolto (2015), S. 202f. Oder auch Dehler (2013), S. 45f. 104 Meike Dackweiler bemisst die erzählte Zeit auf ca. 10 Jahren. Vgl. Dackweiler (2014), S. 257. Sie lässt dabei aber die anfänglichen Symptome Anfang der 1990er Jahre außeracht, die von den Kindern nicht für Krankheitsanzeichen, sondern für Provokationen des Vaters gehalten werden. Vgl. AKE, S. 19f. 105 Christina Dehler spricht von einer zeitlichen Unterteilung, wobei sie unterscheidet zwischen »der Gegenwart, aus der erzählt wird, der Vergangenheit, in der das Leben mit AlzheimerDemenz thematisiert und der ›Vorvergangenheit‹, in der die Lebensgeschichte August Geigers wiedergegeben wird.« Dehler (2013), S. 47.
119
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Vergessen erzählen
verfasst, werden die Erzählgegenwart oder allgemeingültige Überlegungen im Präsens ausgedrückt.106 Zwar erschwert diese eingeschobene Erzählweise die zeitliche Orientierung innerhalb des Texts, die Textanordnung bietet jedoch eine übergreifende Struktur. Obwohl die Erzählung weder durch Überschriften, noch durch nummerierte Kapitel untergliedert ist, lassen sich zwölf kapitelähnliche, zusammenhängende Textblöcke identifizieren, die jeweils durch Gelenkstücke (meist Gesprächssequenzen) voneinander getrennt werden. Stets auf einer neuen Seite beginnend, weichen diese knappen Passagen vom Druckbild des übrigen Texts ab. Es handelt sich meist um nur wenige, stets kursivierte Zeilen, die mittig auf der jeweiligen Seite positioniert sind und durch Zeilenumbrüche in Satzblöcke unterteilt werden. Die überwiegende Mehrzahl dieser Passagen stellen Unterhaltungsfragmente zweier Gesprächspartner dar,107 bei denen es sich, wenn auch nicht namentlich konkretisiert, um Arno und August Geiger handelt. Wie die unten zitierte, erste Gesprächssequenz verdeutlicht, sind die ausschnitthaften Wortwechsel in autonomer direkter Rede verfasst, wobei der Wechsel zwischen den Redepartnern typographisch durch Absätze realisiert ist: »Wie geht es dir, Papa? Also ich muss sagen, es geht mir gut. Allerdings unter Anführungszeichen, denn ich bin nicht imstande, es zu beurteilen. Was denkst du über das Vergehen der Zeit? Das Vergehen der Zeit? Ob sie schnell vergeht oder langsam, ist mir eigentlich egal. Ich bin in diesen Dingen nicht anspruchsvoll.« (AKE, S. 17. Hervorhebung im Original) Dieser unvermittelte Wechsel des Erzählduktus – weg von der homodiegetischen Sicht des Sohns, hin zu einer unkommentierten Unterhaltung zweier Redepartner – unterbricht die Handlung, wobei gleichzeitig die Hintergründe der Textproduktion zu Tage treten: Um August Geigers Leben möglichst präzise zu rekonstruieren, befragt der Ich-Erzähler die Geschwister und Kollegen des Kranken (vgl. AKE, S. 145). Die Sichtweise des Vaters eruiert er ebenfalls in interviewähnlichen Gesprächen, die ausschnitthaft zwischen die Kapitel montiert sind.108 106 Vgl. Dackweiler (2014), S. 257. 107 Die einzige Ausnahme stellt die neunte Sequenz dar, die nicht nur über eine Seite, sondern über drei Seiten geht und sich aus längeren, ebenfalls kursivierten Textblöcken zusammensetzt. Hierbei handelt es sich um neun tragikomische Anekdoten, in denen – durch die nullfokalisierte Sicht des Erzählers – nicht näher charakterisierte Personen von ihren Erlebnissen mit ihren dementen Großeltern, Eltern oder Bekannten berichten. Vgl. AKE, S. 137-139. 108 Diese Entstehungsgeschichte wird an einer Stelle des Texts explizit gemacht, wenn es heißt: »Ich rief die Geschwister und ehemaligen Arbeitskollegen des Vaters an und sagte, ich wollte mit ihnen reden für ein Buch, das ich schreiben werde. Die Gespräche fanden meist am
2. Demente Eltern
Eben diese Gesprächssequenzen dienen auch der Figurenzeichnung und Krankheitsdarstellung: So geht aus dem obenstehenden Zitat hervor, dass der Vater trotz seiner Erkrankung über ein hohes Maß an Selbstreflexivität verfügt und treffende, wenn auch ungewöhnliche Formulierungen wählt, um seine Sichtweise zu erklären. Die demente Figur wird durch diese Gesprächssequenz als verhältnismäßig souverän und eloquent charakterisiert – eine Figurenzeichnung, die im Laufe des Texts noch deutlicher akzentuiert wird.109
2.2.1.3
Roman, Pathographie oder Erfahrungsbericht?
Die chronologische Verlaufsstruktur des Texts zeigt, dass das Geschehen – die Krankheitsgeschichte der Figur August Geiger – noch nicht abgeschlossen ist,110 sondern sich auch noch über das Ende der Handlung hinaus weiterentwickelt.111 Der Erzähler bezieht zum noch offenen Geschehen Stellung, wenn er sagt: »Ich wollte mir mit diesem Buch Zeit lassen, ich habe sechs Jahre darauf gespart. Gleichzeitig hatte ich gehofft, es schreiben zu können, bevor der Vater stirbt. Ich wollte nicht nach seinem Tod von ihm erzählen, ich wollte über einen Lebenden schreiben, ich fand, dass der Vater, wie jeder Mensch, ein Schicksal verdient, das offenbleibt.« (AKE, S. 188f.) Dieses Zitat verdeutlicht nicht nur, dass das Geschehen unabgeschlossen bleibt. Der Ich-Erzähler gibt sich an dieser Stelle auch eindeutig als Verfasser des Texts aus und kommentiert den Schreibvorgang. Diese Passage ist beispielhaft für die starke Selbstreferenzialität des Texts, der beständig seine Produktionsbedingungen offenlegt und diskutiert (vgl. z.B. AKE, S. 144f.). Auf diese Weise wird einer Identifikation des Erzählers mit dem realen Autor Vorschub geleistet, was wiederum einen illusionshemmenden Effekt auf den Leser hat. Schließlich erscheint das literarisch überformte Geschehen durch die häufigen Reflexionen des Ich-Erzählers als dessen faktuales Selbstzeugnis.
Abend statt. Tagsüber besuchte ich ein- oder zweimal den Vater. Vom ersten Tag [der Buchproduktion] an war er ausgeglichen, entspannt und aufmerksam.« AKE, S. 145. 109 Bereits auf den ersten Seiten der Erzählung betont der Ich-Erzähler, dass sein Vater trotz der Demenz ein »beachtlicher Mensch« sei und im Rahmen seiner Möglichkeit sogar brillante Fähigkeiten an den Tag lege. Vgl. AKE, S. 11. 110 Zur ›Figur August Geiger‹ vgl. Kretzschmar (2012), S. 121: »Denn die genannten narrativen Strategien [Analepsen, auktorialer Erzählerkommentar etc.] verweisen eben auch darauf, dass es sich bei Geigers Text um Literatur, also um ein ästhetisch durchkonstruiertes Artefakt handelt. Insofern ist es allzu kurzschlüssig, die reale Person August Geiger mit der gleichnamigen textinternen Figur ›August Geiger‹ vollkommen ineins zu setzen […].« 111 Vgl. Dackweiler (2014), S. 257.
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Vergessen erzählen
Der autobiographische Anspruch auf der einen Seite und die literarische Gestaltung auf der anderen Seite bewirken,112 dass sich Der Alte König in seinem Exil einer eindeutigen Genrezuordnung entzieht. Auf diese Problematik ist in der Forschungsliteratur vermehrt hingewiesen worden,113 wobei die jeweiligen Beiträge zu verschiedenen Ergebnissen kommen: Während Elmar Gräßel und Dirk Niefanger, aber auch Meike Dackweiler Geigers Text als Erzählung einstufen, nennen Dirk Kretzschmar und Irmela Krüger-Fürhoff ihn einen Roman.114 Christina Dehler sowie Nicolai Glasenapp bedienen sich der etwas umständlichen Einordnung eines »biographisch und autobiographisch geprägten literarischen Erfahrungsberichts«, wohingegen Leonie Süwolto von einer »autobiographisch inspirierten Pathographie« spricht.115 Auch wenn die hybride Textform von Der alte König in seinem Exil eine eindeutige Genrezuordnung erschwert, überzeugen einige dieser Einordnungsversuche nicht: So berührt Dehlers (und in der Folge auch Glasenapps) Definition eines »biographisch und autobiographisch geprägten literarischen Erfahrungsberichts« zwar viele Elemente des Texts. Der Terminus ›Erfahrungsbericht‹ erweckt jedoch den Eindruck eines überwiegend funktionalen Sachtexts – eine Einordnung, die den poetischen und poetologischen Anspruch des Texts nicht genügend akzentuiert.116 Die von Dehler hervorgehobene, autobiographische Erfahrungsebene des Texts liest sich jedoch stellenweise tatsächlich wie ein Ratgeber für Angehörige von Demenz-Patienten und steht wiederum dem Genre des Romans konträr gegenüber (vgl. AKE, S. 96). Trotz der unbestritten romanhaften Züge leitet deshalb auch diese Einordnung von Der alte König in seinem Exil fehl. Zwischen den weit voneinander entfernten Genres ›Roman‹ und ›Ratgeber‹ changierend, handelt es sich um einen faktualen Text, der reale Sachverhalte mit fiktionalisierenden Erzählverfahren illustriert, weshalb er im Folgenden (gemäß Christian Klein und Matías Martínez) als autopoietische Wirklichkeitserzählung eingeordnet wird.117
112
113 114 115 116 117
Ebenso wie im Falle von Tilman Jens’ Text wird der autobiographische Anspruch des Texts nicht durch den Peritext deutlich gemacht (auch hier fehlt eine Unterschrift, die den Text [auto-]biographisch nennt). Hinweise auf den ontologischen und pragmatischen Status des Texts finden sich vor allem im Epitext: Ähnlich wie Jens bezieht auch Geiger in zahlreichen Interviews und Artikeln zum Wahrheitsgehalt und seiner Argumentation Stellung. Vgl. z.B. Sebastian Hammelehle / Hans-Jost Weyandt: »Bestseller-Autor Arno Geiger: ›Das Ende des Lebens ist auch Leben‹«, in: Spiegel Online, 04.03.2011. Vgl. z.B. Krüger-Fürhoff (2015), S. 99: »[…] I will refer to it [Geiger’s book] as a novel although there is no definition of genre in the book itself […].« Gräßel / Niefanger (2012), S. 99; Dackweiler (2014), S. 251; Kretzschmar (2012), S. 117 und Krüger-Fürhoff (2015), S. 99. Dehler (2013), S. 44; Glasenapp (2015), S. 150 und Süwolto (2015), S. 202. Zum poetologischen Anspruch vgl. I. Einleitender Teil dieser Arbeit. Vgl. Klein / Martínez (2009) und Textanalyse, Kapitel 2.1.1. dieser Arbeit.
2. Demente Eltern
Zielt diese Genrebestimmung auf den hybriden Geltungsanspruch des Texts ab, bezieht sich der von Leonie Süwolto verwendete Pathographiebegriff auf den inhaltlichen Schwerpunkt des Texts:118 Der von der englischen Literaturwissenschaftlerin Anne Hunsaker Hawkins in den 1990er Jahren geprägt Terminus ›Pathographie‹ bezeichnet das Subgenre der (sowohl faktualen als auch fiktionalen) Krankheitserzählung.119 Hawkins führt den Begriff erstmals in ihrem prominenten Text Reconstructing Illness ein, der von der anglo-amerikanischen Forschung rasch rezipiert worden ist120 und mittlerweile ebenso häufig in deutschsprachigen Analysen Erwähnung findet.121 Bezieht sich der Begriff ursprünglich auf Texte, die von Hawkins als »book-length personal account« umschrieben werden,122 mehren sich in der neueren Forschung Stimmen, die dafür plädieren, den Terminus nicht nur auf das Medium Buch einzuengen. Vielmehr sollten alle Medien, die das Thema Krankheit reflektieren, (zum Beispiel Videos, Gemälde, Skulpturen und Theaterstücke, Ratgeber und Patientenakten) als Pathographien gelten.123 Im Gegensatz zu Hawkins’ Definition werden durch diese Erweiterung auch Krankheitsverarbeitungen eingeschlossen, die nicht zwangsläufig aus Sicht des Kranken, sondern auch aus der Perspektive eines »Angehörigen, der Ärzteschaft, weiterer Zeitgenossen – wie des Kammerdieners – oder von weiteren direkt oder indirekt unterrichteten Personen der Zeitgeschichte« stammen könnten.124 Eine solche, breite Pathographiedefinition erscheint in Hinsicht auf die vielfältigen Krankheitszeugnisse durchaus plausibel,125 entfernt sich jedoch von dem ursprünglich literarisch
118
Neben Süwolto (2015) und (2017), verwenden beispielsweise auch Dackweiler (2014), S. 252, oder Kretzschmar (2012), S. 124, den Begriff ›Pathographie‹. 119 Anne Hunsaker Hawkins: Reconstructing Illness: Studies in Pathography. West Lafayette 1993. 120 In der Folge von Hawkins entwickeln Arthur Frank und Thomas Couser den Begriff der Pathographie weiter. Vgl. Arthur Frank: The Wounded Storyteller: Body, Illness, and Ethics. Chicago 1995; Thomas Couser: Recovering Bodies: Illness, Disability, and Life Writing. Madison 1997. Zu den neueren Arbeiten, die auf den Begriff referieren, zählen z.B.: Nina Schmidt: The Wounded Self: Writing Illness in Twenty-First-Century German Literature. Rochester 2018 oder Zimmermann (2017a). 121 Mehr und mehr deutschsprachige Publikationen, die den Term verwenden, zeugen davon, dass der Pathographiebegriff auch in der hiesigen literaturwissenschaftlichen Forschung etabliert ist. Vgl. z.B. Bormuth (2007); oder Stephan Besser: Pathographie der Tropen. Literatur, Medizin und Kolonialismus um 1900. Würzburg 2013. 122 Hawkings (1993), S. 3. 123 Christoph auf der Horst: »Historizität der Diagnosestellung am Beispiel der SyphilisDiagnosen Heinrich Heines«, in: Alfons Labisch / Norbert Paul (Hg.): Historizität: Erfahrung und Handeln – Geschichte und Medizin. Stuttgart 2004, S. 121-151, hier S. 125. 124 Ebd. S. 126. 125 Eine interdisziplinäre und gewinnbringende Perspektive auf unterschiedliche Pathographien nehmen z.B. Gräßel / Niefanger (2012) ein, die literarische Demenz-Erzählungen und Angehörigenberichten auf Krankheitsdarstellungen und -wertungen untersuchen. Vgl. Gräßel / Niefanger (2012), S. 100.
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Vergessen erzählen
geprägten Subgenrebegriff. Aufgrund seiner relativen Unschärfe dient der Terminus deshalb nicht für eine präzise Kategorisierung und wird im Folgenden nur als genreübergreifende Bezeichnung äquivalent zum Begriff ›Krankheitsdarstellung‹ verwendet.
2.2.2
Der König, die Insel und die Bestie – Demenz-Metaphern
Verbannung und Heimweh Wie im vorangegangenen Kapitel angedeutet, unterscheidet sich Der alte König in seinem Exil von rein faktualer Ratgeberliteratur allen voran durch seine ästhetisch überformte Demenz-Darstellung. Diese drückt sich unter anderem in anschaulichen Vergleichen und Metaphern aus, wobei das zentrale Demenz-Bild bereits im Titel anklingt: Geiger zieht einen Vergleich zwischen seinem dementen Vater und einem exilierten König – ein Vergleich, der negative Assoziationen mit Macht- und Heimatverlust, Fremdheit, Ausweglosigkeit und Bestrafung weckt (man denke nur an die Sagengestalt des exilierten König Thebens, Ödipus).126 Im Laufe des Texts intensiviert sich das Bild des Exils in zahlreichen, anschlussfähigen Metaphern, die Demenz als Insel, als fremde Welt illustrieren, aus der es für den Kranken kein Entrinnen mehr gibt. Während der Demente in seinem Zustand gefangen sei, könnten jedoch gesunde Angehörige und Pfleger dessen Isolation durchbrechen, indem sie sich auf die Sichtweise des Kranken einließen: »Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm. Dort drüben, innerhalb der Grenzen seiner geistigen Verfassung, jenseits unserer auf Sachlichkeit und Zielstrebigkeit ausgerichteten Gesellschaft, ist er immer noch ein beachtlicher Mensch, und wenn auch nach allgemeinen Maßstäben nicht immer ganz vernünftig, so doch irgendwie brillant.« (AKE, S. 11) Wie Leonie Süwolto in ihren beiden Aufsätzen zu Geiger überzeugend darlegt, betont diese Metapher die Dichotomie von ›gesund‹ und ›krank‹, die sich zunächst in einer räumlichen Trennung zwischen der Welt des Sohns und der des Dementen ausdrückt.127 In sich abgeschlossen und an der Peripherie, »dort drüben« liegend, steht die Insel der Dementen, dem ›hier‹ der Gesunden gegenüber, die sich frei in beiden Sphären bewegen können. Die Welten unterscheiden sich jedoch
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Zur Verbannung von Ödipus vgl. Helmut Hühn / Martin Vöhler: s.v. »Oidipus« in: Maria MoogGrünewald (Hg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart (= Der Neue Pauly. Supplemente, Bd. 5). Stuttgart / Weimar 2008, S. 500-511. Vgl. Süwolto (2015), S. 204 und Süwolto (2017), S. 71f.
2. Demente Eltern
nicht nur in ihrer Lage oder Zugänglichkeit, sondern auch im Verhalten der jeweiligen Vertreter: So zeichnen sich die Gesunden durch Zielstrebigkeit und Sachlichkeit aus, wohingegen dem Dementen zugesprochen wird, frei von jedweden gesellschaftlichen Zwängen zu sein und trotzdem über eine, wenn auch irrationale Brillanz zu verfügen. In dieser Einschätzung kommt Geigers ambivalente DemenzDarstellung zum Ausdruck, die nicht nur die krankheitsbedingten Verluste betont, sondern Demenz auch als einen Ausweg aus der Leistungsgesellschaft benennt.128 Diese Einordnung erinnert an Ulrike Draesners Ichs Heimweg macht alles allein. Wie in Kapitel 1.3 dieser Arbeit nachzulesen, konstruiert jene Erzählung mittels ihrer Textstruktur und Figurenzeichnung ein ambivalentes Krankheitsbild, das negative Krankheitsfolgen mit positiven Aspekten, wie einem kreativen Sprachgebrauch oder einer kindlich-neugierigen Weltsicht vereint. Ebenso wie Draesner, die ihrer dementen Figur durch den Namen ›Sophie‹ Weisheit zuspricht (vgl. Textanalyse, Kapitel 3.2.4), postuliert auch Geiger ein antirationalistisches Verständnis von (kreativer) Leistung und Würde und sieht in der Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen eine Utopie verwirklicht.129 Tatsächlich lassen sich Parallelen zwischen Geigers Demenz-Darstellung und Karl Mannheims Utopie-Definition ziehen, die besagt: »Utopisch ist ein Bewußtsein, das sich mit dem es umgebenden ›Sein‹ nicht in Deckung befindet.«130 Da in August Geigers Wahrnehmung die Grenzen zwischen Realität und Phantasie verschwimmen, verfügt er Mannheims Definition zufolge über ein utopisches Bewusstsein – ein Bewusstsein, das ihn an einem ›οὐ τόπος‹, einem Nicht-Ort festhält. Neben den entgrenzenden Effekten der Demenz, wie der Befreiung von wirtschaftlichen und sprachlichen Normvorstellungen, zielt die Exil- und UtopieMetapher jedoch überwiegend auf negative Krankheitsfolgen ab. Schließlich kommt in dem Bild der Sprach- und Machtverlust des Betroffenen zum Ausdruck, der durch die Krankheit sukzessive um vertraute Gesichter und ein souveränes Kommunikationsvermögen gebracht wird. Durch die Erkrankung von seinem Umfeld abgesondert, empfindet August Geiger Heimweh nach einer vertrauten Umgebung. Diese Sehnsucht ist, dem Ich-Erzähler zufolge, in allen Menschen verankert: »Und erst Jahre später begriff ich, dass der Wunsch, nach Hause zu gehen, etwas zutiefst Menschliches enthält. Spontan vollzog der Vater, was die Menschheit vollzogen hatte: Als Heilmittel gegen ein erschreckendes, nicht zu enträtselndes 128 129
Vgl. Dackweiler (2014), S. 265. Die »Insel Demenz« erscheint unter dem Gesichtspunkt der Freiheit von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zwängen als ein Gegenentwurf zur heutigen Gesellschaft. Aufgrund dieses kritischen Potenzials erinnert die Metapher an Thomas Morus’ Utopia, auch wenn der Prätext eine deutlich positiver ausgearbeitete Sozialutopie entwirft. 130 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. Frankfurt a.M. 2015, S. 31. Hervorhebung im Original.
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Leben hatte er einen Ort bezeichnet, an dem Geborgenheit möglich sein würde, wenn er ihn erreichte. Diesen Ort des Trosts nannte der Vater Zuhause, der Gläubige nennt ihn Himmelreich. Wo man zu Hause ist, leben Menschen, die einem vertraut sind und die in einer verständlichen Sprache sprechen. Was Ovid in der Verbannung geschrieben hat – dass Heimat dort ist, wo man deine Sprache versteht –, galt für den Vater in einem nicht weniger existenziellen Sinn. Weil seine Versuche, Gesprächen zu folgen, immer öfters scheiterten, und auch das Entziffern von Gesichtern immer öfter misslang, fühlte er sich wie im Exil.« (AKE, S. 57) Wie Dirk Kretzschmar überzeugend darlegt, ordnet Geiger die DemenzErkrankung an dieser Stelle in umfassende anthropologisch-philosophische Kontexte ein und führt dem Leser vor Augen, dass die Krankheit ein »Fundamentaleinbruch in eben diese Kontexte« bedeutet.131 Weder Literatur, noch Religion oder Sprache böten dem Kranken eine Möglichkeit zur Welterschließung. Die menschlichen Suchbewegungen nach Trost und Geborgenheit bleiben bei August Geiger zwangsläufig unerfüllt und münden in dem permanenten Wunsch, nach Hause kehren zu dürfen. Das einst Vertraute wird (gemäß Freuds Definition des Unheimlichen)132 als beängstigend verändert empfunden und erscheint dem Kranken nicht länger als Heimat denn als Ort der Verbannung.133 Im Lichte dieser Exil-Metapher wird die Demenz-Erkrankung nicht nur mit Fremdheit, Einsamkeit und Sprachverlust assoziiert, sondern wird auch mit einer Form von Fehltritt (der in der Regel einer Verbannung vorausgegangen sein muss) und verdrängten Ängsten verbunden.134 Diese Bildlichkeit unterscheidet den Text deutlich von Ratgebern oder medizinischen Fallschilderungen. Schließlich zielt Der alte König in seinem Exil auch durch seine intertextuellen Bezüge (zum Beispiel auf Ovid und Freud) auf eine sinnstiftende Deutung der Krankheit ab.135 »Wer lange genug wartet, kann König werden« Diese sinnstiftende Deutung drückt sich auch in der Metapher des rat- und rastlos umherirrenden Königs aus (vgl. AKE, S. 12). Wie Arno Geiger in einem Interview mit der Internetplattform Spiegel Online betont, verweist dieses Bild zum einen auf Virginia Woolfs Erzählung To the Lighthouse.136 Hierin wird die Beziehung eines al131 132 133 134 135 136
Kretzschmar (2012), S. 125. Vgl. Sigmund Freud: Das Unheimliche, in: Ders.: Studienausgabe, Bd. IV. Hg. von Alexander Mitscherlich / Angela Richards / James Strachey. Frankfurt a.M. 1982, S. 241-274. Auf den Zusammenhang zu Freuds Definition des Unheimlichen weist als erster Kretzschmar (2012), S. 125, hin. Vgl. Freud (1982), S. 271. Vgl. Kretzschmar (2012), S. 127. In einem ausführlichen Interview mit der Internetplattform Spiegel Online erklärt Geiger: »Der Titel bezieht sich auf eine Stelle in Virginia Woolfs Fahrt zum Leuchtturm, in dem Virginia Woolf über eine Figur schreibt, die ihrem eigenen Vater nachgebildet ist. Mich hat die
2. Demente Eltern
ternden Vaters und seiner erwachsenen Kinder ausgelotet, wobei es an einer Stelle heißt: »Had they [Mr. Ramsay’s children] dared say no (he had some reason wanting it) he would have flung himself tragically backwards into the bitter waters of despair. Such a gift he had for gesture. He looked like a king in exile.« (Woolf (2007), S. 533) Woolf stellt Mr. Ramsay als durchsetzungsstarkes und theatralisches Familienoberhaupt dar, das – wenn auch aus anderen Gründen als August Geiger – zuweilen an Selbstzweifeln und Todesängsten leidet und sich von seiner Familie unverstanden fühlt. Das von Woolf verwendete Bild des entmachteten Königs lässt sich, ebenso wie in Geigers Text, zum einen mit dem ins Exil verbannten, leidenden Ödipus, aber auch mit Shakespeares Tragödien in einen intertextuellen Zusammenhang bringen: Der im Halbdunkeln umherwandelnde und vor sich hin murmelnde August Geiger erinnert (wie in der Forschungsliteratur bereits vielfach festgestellt)137 an King Lear, der nach seiner Abdankung durch die Nacht irrt und schließlich wahnsinnig wird.138 Dieser Bezug auf kanonisierte, literarische Alters- und Wahnsinnsdarstellungen wird weiterhin durch ein Zitat aus King Richard the Second verstärkt, wenn es im letzten Abschnitt des Buchs heißt: »Let us sit upon the ground and tell sad stories of the death of kings.«139 (AKE, S. 176) Aufgrund dieses Zitats erscheint der, von der Demenz gezeichnete August Geiger nicht nur als exilierter König, sondern bereits als toter König. Wie Ruth Klüger in ihrem vielbeachteten Vortrag Ein alter Mann ist stets King Lear zeigt,140 ist der Bezug auf Shakespeare in literarischen Altersdarstellungen weitverbreitet (so zitiert beispielsweise auch Max Frischs Protagonist Shakespeares Hamlet;141 ebenso finden sich bei Michael Ignatieffs Demenz-Narrativ Scar Tissue
Stelle sehr berührt. Das ist ein sehr zärtliches Buch über Eltern-Kind-Beziehungen.« Hammelehle / Weyandt (2011). 137 Vgl. z.B. Dackweiler (2014), S. 262f. oder Kretzschmar (2012), S. 138. 138 Vgl. William Shakespeare: The Tragedy of King Lear, in: Ders.: The complete Works. Hg. von Jonathan Bate / Eric Rasmussen. Basingstoke / Hampshire 2007, S. 2009-2080, hier S. 2063. 139 Das Zitat stammt ursprünglich aus William Shakespeare: The Life and Death of King Richard the Second, in: Ders.: The complete Works. Hg. von Jonathan Bate / Eric Rasmussen. Basingstoke / Hampshire 2007, S. 829-891, hier S. 831. 140 Ruth Klüger: ›Ein alter Mann ist stets King Lear‹: Alte Menschen in der Dichtung. Wien 2004. Klügers Titel bezieht sich wiederum auf einen Vers aus Goethes Zahmen Xenien. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Zahme Xenien I, in: Ders: Sämtliche Werke: Gedichte 1800-1832, I. Abt., Bd. 2. Hg. von Karl Eibl. Frankfurt a.M. 1988, S. 623. 141 In der zweiten Szene des fünften Aufzugs, sagt Hamlet: »Geschieht es jetzt, so geschieht es nicht in Zukunft; geschieht es nicht in Zukunft, so geschieht es jetzt; geschieht es jetzt nicht, so geschieht es doch einmal in Zukunft. In Bereitschaft sein ist alles.« Vgl. William Shakespeare: The Tragedy of Hamlet, Prince of Denmarke, in: Ders.: The complete Works. Hg. von Jonathan Bate / Eric Rasmussen. Basingstoke / Hampshire 2007, S. 1918-2003, hier S. 1976. Auf
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Anleihen an King Lear).142 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass auch Geiger seinen Text in diese Tradition stellt. Beachtlich ist jedoch, dass die negativen Aspekte der intertextuellen Vorlage – König Lears gekränkter Stolz und seine mangelnde Urteilskraft auf der einen Seite, und die Gier der Kinder, die nach dem Erbe trachten auf der anderen Seite – außen vor gelassen werden.143 Im Gegensatz zu den Prätexten King Lear, King Richard the Second, Ödipus und To the Lighthouse stehen bei Geigers Erzählung weder Machtansprüche, noch ein ausgeprägter Generationskonflikt im Zentrum des Geschehens. Stattdessen wird das König-Dasein als erstrebenswerter Zustand beschrieben, der Erfahrung und Reife bedarf. So schließt das Buch mit dem Satz: »Es heißt: Wer lange genug wartet, kann König werden.« (AKE, S. 189) Von der Krankheit in ein metaphorisches Exil verbannt, scheint der Vater trotz allen Widrigkeiten weder seinen Charakter, noch Autorität oder Würde eingebüßt zu haben. Aus diesem Grund erklärt der Ich-Erzähler den Dementen zu seinem Vorbild.144 Diese positive Sicht auf den Kranken wird jedoch durch die facettenreiche Königs- und Exil-Metaphorik zum Teil untergraben: Indem Geiger seiner dementen Figur den Dichter Ovid, die mythologische Gestalt Ödipus sowie Shakespeares Figuren König Lear und König Richard II als intertextuelle Folien zu Grunde legt, zieht er Parallelen zu Figuren, die an ihrer Misere (partiell) selbst Schuld tragen.145 Schließlich fungieren Ovids und Ödipus’ Verbannung und Lears Wahnsinn als Bestrafungsmechanismen – ein Zusammenhang, der sich schwerlich auf Demenz übertragen lässt und auch, wie sich in den nächsten Kapiteln zeigen wird, der restlichen Krankheits-Metaphorik in Der alte König in seinem Exil zuwiderläuft. Die Bestie Über das Bild des Exils hinaus schildern verschiedene Metaphern die DemenzErkrankung als bestialisches Wesen, das sich dem Vater böswillig bemächtigt habe. Diese Bildlichkeit kommt bereits auf den ersten Seiten des Texts zum Ausdruck, wenn der Ich-Erzähler sagt, dass »ein jahrelanges Katz-und-Maus-Spiel statt[fand], mit dem Vater als Maus, mit uns als Mäusen und der Krankheit als Katze.« (AKE, S. 8) Wird die Krankheit durch die Exil- und Königs-Metaphorik vorwiegend als metaphorischer Ort oder Fremdheitsgefühl eingeordnet, erscheint die Demenz in diesem Vergleich als handlungsbestimmender und übermächtiger
dieses Zitat spielt Frisch an, wenn er seinen fatalistischen Protagonisten Geiser schreiben lässt: »Bereit sein ist alles.« Vgl. MH, S. 251. 142 In Ignatieffs Scar Tissue kümmert sich ein Philosophie- und Literatur-Dozent um seine demente Mutter, während er im Unterricht King Lear behandelt. Vgl. Igantieff (1993), S. 164. 143 Klüger (2004), S. 30. 144 Vgl. Süwolto (2017), S. 86. 145 Vgl. Dackweiler (2014), S. 263.
2. Demente Eltern
Akteur, dessen Launen alle Beteiligten unterworfen sind. Dieses Bild des noch verhältnismäßig harmlos klingenden Katz-und-Maus-Spiels wird schließlich intensiviert und mit anderen, räuberischen Tierarten in Verbindung gebracht: Gleich einer Spinne verstricke die Krankheit August Geiger im Laufe der Zeit in ein Netz und fresse sich in dessen Hirn (AKE, S. 20 und 23). Der Demente erscheint in diesem Fall als wehrloses Opfer, wohingegen die Erkrankung als planvoll vorgehender, bestialischer Organismus gezeichnet wird. Eine kurzfristige Erleichterung ist für den Betroffenen nicht aus eigener Kraft möglich, sondern tritt nur dann ein, wenn die Krankheit »ihre Krallen einzieht« (AKE, S. 141). Ebenso wie die Exil- und Königs-Metaphorik dient die animalisierte DemenzDarstellung einer Krankheitsdeutung. Schließlich erscheint die DemenzErkrankung weniger als undurchschaubarer, zerebraler Prozess, denn als Parasit oder Raubtier, das sich am Körper des Betroffenen labt. Eine derartige Tier-Metaphorik findet sich in den unterschiedlichsten literarischen Krankheitsdarstellungen; gerade in Bezug auf Krebs-Erkrankungen setzen viele Texte das Leiden mit einem gierigen Parasiten gleich.146 Wie sich anhand der vorangegangenen exemplarischen Analysen gezeigt hat, ist eine solche Bildlichkeit jedoch bei Demenz-Narrativen eher unüblich.147 Der Gedächtnisverlust und die damit einhergehende persönliche Veränderungen werden in den meisten Texten weniger als Folge einer kämpferischen Auseinandersetzung geschildert, bei der sich ein (bestialischer) Feind dem Kranken bemächtigt. Vielmehr finden sich Krankheitsmetaphern, die auf Witterung und Gezeiten anspielen (vgl. z.B. Textanalyse, Kapitel 1.2.3.3). Während diese Bildlichkeit eine Passivität des Betroffenen gegenüber unabänderlichen Phänomenen beschreibt, betont die Raubtierund Parasiten-Metaphorik die Brutalität der Krankheit, die geradezu böswillig vorzugehen scheint. »Ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft« Lassen die Königs-, Exil- und Tier-Metaphern zunächst darauf schließen, dass es sich bei August Geigers Krankheitsgeschichte um ein tragisches Einzelschicksal handelt, erkennt der Ich-Erzähler in der Symptomatik auch eine gesellschaftliche Dimension: »Gleichzeitig ist Alzheimer ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft. Der Überblick ist verlorengegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, 146 Vgl. Marion Moamai: Krebs schreiben: deutschsprachige Literatur der siebziger und achtziger Jahre. St. Ingbert 1997, S. 156ff. 147 Nur Draesner wählt mit der Schlange, die sich in den Gedanken eingenistet hat, ein vergleichbares Bild. Diese Metapher spielt jedoch nicht auf eine feindliche Übernahme, sondern auf den Sündenfall und das Schuldempfinden der Erkrankten an. Vgl. Textanalyse, Kapitel 3.2.1 dieser Arbeit.
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pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts reden. Durch Zufall ist das Leben des Vaters symptomatisch für diese Entwicklung. Sein Leben begann in einer Zeit, in der es zahlreiche feste Pfeiler gab (Familie, Religion, Geschlechterrollen, Vaterland) und mündet in die Krankheit, als sich die westliche Gesellschaft in einem Trümmerfeld solcher Stützen befand.« (AKE, S. 58. Hervorhebungen im Original.) Dieser Argumentation zufolge leidet die moderne Gesellschaft unter den Folgen eines Orientierungs- und Werteverlusts und immer unüberblickbarer Wissensbestände – eine Klage, die Dirk Kretzschmar als »alte[n] Wein in neuen Schläuchen« bezeichnet und auf gesellschaftstheoretische Schriften der Romantik und Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung zurückführt.148 Tatsächlich wirkt das Lamento über die gegenwärtige Gesellschaft abgegriffen; auch ließe sich in Zweifel ziehen, ob die von Geiger benannten Wertepfeiler auch in dessen erzählter Welt in Trümmern liegen: Die weiterführende Darstellung von August Geigers Krankheitsgeschichte steht dem Bild entgegen, schließlich zeugt sie von Familienzusammenhalt und einer intakten Dorfgemeinschaft sowie von Fürsorge und Wertschätzung von Kranken. Jenseits der argumentativen Stringenz dieser Passage lässt sich daran jedoch der Anspruch des Texts erkennen, eine allgemeingültige Aussage zu liefern, die über das persönliche Demenz-Schicksal des Kranken hinausgeht. Dieser Anspruch erinnert in gewisser Weise an Tilman Jens’ Text, der die Krankheit des Vaters als ein verbreitetes Nachkriegsphänomen einordnet. Benennt Jens Schuldgefühle und Verdrängung als Auslöser, hält sich Geiger bezüglich der Krankheitsursachen jedoch weitestgehend bedeckt. Statt Ursachenforschung zu betreiben, beleuchtet der Ich-Erzähler die Krankheitssymptome – allen voran die Orientierungsschwierigkeiten –, die in der modernen Gesellschaft auch jenseits der Krankheit weit verbreitet seien. Die Vielzahl der tatsächlichen Demenz-Erkrankungen auf der einen Seite und die Überforderung des Individuums in Zeiten der Globalisierung und Technisierung auf der anderen Seite machten Demenz in vielerlei Hinsicht zur »Krankheit des Jahrhunderts« (AKE, S. 58). In diesem Zusammenhang erklärt sich auch, warum der Ich-Erzähler stets von »dem Vater« und nie von »seinem Vater« spricht. Gemäß dem vorangestellten Zitat des japanischen Dichters Hokusai, »Man muss auch das Allgemeinste persönlich darstellen«, soll August Geigers Krankheitsgeschichte beispielhaft für ein gesamtgesellschaftliches Phänomen stehen (AKE, S. 5).149 Auf diesen Anspruch lässt auch das neunte Gelenkstück schließen, das zwischen zwei
148 Kretzschmar (2012), S. 137. 149 Vgl. Dackweiler (2014), S. 258.
2. Demente Eltern
kapitelähnliche Passagen geschaltet ist (AKE, S. 137-139). Anders als bei den übrigen Zwischenstücken, handelt es sich dabei um keine Gesprächssequenz. Vielmehr reihen sich neun unterschiedliche Beispiele tragikomischen Verhaltens von Demenz-Kranken und deren Angehörigen hintereinander, die aus Sicht eines allwissenden Erzählers wiedergegeben werden. Bei den Betroffenen handelt es sich überwiegend um Figuren, die im restlichen Text nicht vorkommen. Ihre Erlebnisse stehen exemplarisch für unzählige Krankheitsfälle, die den Vorgängen in der Familie Geiger ähneln.
2.2.3 2.2.3.1
Ein Leben in der Fiktion August Geiger und die Weltliteratur
Wie schon die Untersuchung der Demenz-Metaphorik zeigen konnte, zeichnet sich Der alte König in seinem Exil durch eine starke Bezugnahme auf literarische Texte und hergebrachte Techniken aus. Dies geschieht zum einen durch explizite Zitate von kanonisierter Literatur, wie Shakespeare, Joyce, Kafka oder Tolstoi. Die Verweise auf eben diese normsetzenden und zeitüberdauernden Texte stellt einen Zusammenhang zwischen dem Krankheitsphänomen und künstlerischen Wahrnehmungsformen her, was eine bessere Vorstellung von Demenz ermöglichen soll. Gleichzeitig dienen die Verweise auf kanonisierte, literarische Texte der Aufwertung des Demenz-Narrativs, das bewusst in die Tradition weltbekannter Texte gestellt wird und gleichzeitig Literatur als anerkanntes Deutungsmedium benennt.150 Die starke Intertextualität scheint überdies mit dem inhaltlichen Fokus auf demenzbedingte Sprachstörung zusammenzuhängen. So vergleicht der Ich-Erzähler den krankheitsbedingten Sprachverlust, aber auch die Wortneuschöpfungen oder ungewöhnliche Satzbauformen des Kranken mit künstlerisch-poetischen Ausdrucksformen, wenn er über die Wortwahl des kranken Vaters sagt: »Diese Ausdrucksweise beeindruckt mich, ich fühle mich in Berührung mit dem magischen Potenzial der Wörter. James Joyce hat von sich gesagt, er habe keine Phantasie, überlasse sich aber einfach den Offerten der Sprache. So kam es mir auch beim Vater vor.« (AKE, S. 101) Dieses Zitat verdeutlicht die doppelte Aufwertungsstrategie, mit der Geiger einerseits Literatur als nahezu magisches Medium beschreibt und andererseits den Kranken als Poeten nobilitiert.151 August Geiger, der zur Berufswahl seines schriftstellernden Sohns halb scherzend gesagt hatte, »der Finger in der Nase dichtet auch« (AKE, S. 65), wird mit keinem geringeren als James Joyce verglichen. Auf diese Weise erscheint der Kranke als modernistischer Künstler, zugleich wird er 150 Vgl. Kretzschmar (2012), S. 131. 151 Vgl. Dackweiler (2014), S. 259.
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aber auch als tragischer Held beschrieben, der an Figuren von Franz Kafka, Thomas Bernhard, Lew Tolstoi oder Daniel Defoe erinnert.152 Der tägliche Umgang mit dem Kranken – dem Poeten und Protagonisten – gleiche infolgedessen einem »Leben in der Fiktion«, bei dem die objektive Wahrheit zugunsten der gelebten Wirklichkeit des Vaters weichen müsse (AKE, S. 117).153 So reagiere der Vater auf die, für ihn unverständlichen Krankheitsfolgen mit Erfindungsreichtum, Erinnerungslücken und der Verschmelzung von Realität und Traum. In diesem Verhalten erkennt der Ich-Erzähler eine Engführung seiner eigenen Fähigkeiten mit denen seines Vaters, der sich nach jahrelangem Desinteresse endlich dem Beruf seines Sohns anzunähern scheint (vgl. AKE, S. 178).154 Ebenso wie sich der Vater auf den Sohn zubewegt und dessen Arbeit als Schriftsteller indirekt unterstützt, nähert sich der Sohn an die Wahrnehmung und Ausdrucksweise des Kranken an, und beschreibt diese mit kunstaffinen Verfahren.155 Diese mimetische Annäherung kommt vor allem am Ende des Texts zum Ausdruck: Nach der letzten Gesprächssequenz zersetzt sich der zuvor zusammenhängende Fließtext in einzelne Blöcke und freistehende Sätze, die inhaltlich nicht zwangsläufig miteinander verbunden sind (vgl. AKE, S. 175-189). Obwohl sich keine konkreten, zitatförmigen Bezüge auf die Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän nachweisen lassen, erinnert nicht nur das fragmentarische Druckbild, sondern auch die schnörkellosen Formulierungen und zum Teil elliptischen Sätze an Frischs Text: Scheinbar zusammenhanglose Bemerkungen, wie »In der Zeitung steht, schwarze Schafe werden wegen der Erderwärmung seltener«, und elliptische Kommentare entsprechen Frischs Notat-Stil und deuten darauf hin, dass der Ich-Erzähler seinen Schreibstil der Sprechweise des kranken Protagonisten angleicht (AKE, S. 188). Indem die mimetischen Verfahren die krankheitsbedingte Ich-Dissoziation, aber auch den gewandelten Sprachgebrauch des dementen Vaters auf die Struktur der Erzählung übersetzt und so die Entstehung des Texts reflektiert, kommt es zu einer semantischen Aufladung der Form. Wie Meike Dackweiler schlüssig darlegt, lässt sich daran auch ein Perspektivwandel auf die Krankheit und das hohe Alter erkennen: Die sich sukzessive steigernde, mimetische Darstellungsweise führt dem Leser vor Augen, dass die Leidesgeschichte des Vaters im Laufe des Texts eine Umwertung erfährt. Das zu Anfang stark verlustbetonte Krankheits- und Altersbild wandelt sich in eine zunehmend positiv besetzte Darstellung, die den unversehrten 152
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Vgl. AKE, S. 114: »Es waren Sätze wie dieser, die auch ein Held von Franz Kafka oder Thomas Bernhard gesagt haben könnte, ich dachte mir, da haben sich zwei gefunden, ein an Alzheimer erkrankter Mann und ein Schriftsteller.« Zum objektiven Wahrheitsanspruch bei Geiger vgl. Rabelhofer (2017), S. 62. Vgl. Krüger-Fürhoff (2015), S. 101: »In a strange turn of poetic – and rather belated family – justice, Geiger projects his authorship as finally harmonizing with his father’s own poetic skills and revels in the old man’s support of his son’s work as a writer.« Vgl. Kretzschmar (2012), S. 134.
2. Demente Eltern
Charakter und die Würde des Vaters betont und gleichzeitig dessen neuentdeckten, nahezu literarischen Qualitäten herausstreicht.156 Diese positive Umdeutung der Krankheit lässt sich auch anhand der intertextuellen Verweise auf Figuren erkennen, die schwerwiegende Sinnkrisen aus eigener Kraft bewältigen, wie etwa Robinson Crusoe oder der Gutsbesitzer Ljewin aus Anna Karenina (vgl. AKE, S. 89 und 177).
2.2.3.2
Expressionistische und romantische Einflüsse
Konnte im vorangegangenen Abschnitt die explizite Bezugnahme von Der alte König in seinem Exil auf Texte der Weltliteratur gezeigt werden, lassen sich ebenso indirekte, vorwiegend strukturelle Referenzen auf literarische Strömungen herausarbeiten. Wie in der Forschungsliteratur bereits eingehend beleuchtet worden ist, zeichnet sich Geigers Text durch eine Nähe zur expressionistischen Literatur (wie zu Gottfried Benns avantgardistischen Novellensammlung Gehirne) aus.157 Diese intertextuelle Bezugnahme kommt unter anderem in der bildhaften Schreibweise zum Ausdruck, die gegen Ende des Texts weiter an Expressivität zunimmt: »Schuldig, weil man noch lebt! – Noch immer! Es trifft mich immer unvorbereitet, wenn mir der Vater mit einer Sanftheit, die mir früher nicht an ihm aufgefallen ist, seine Hand an die Wange legt, manchmal die Handfläche, sehr oft die Rückseite der Hand. Dann erfasse ich, dass ich nie enger mit ihm zusammensein werde als in diesem Augenblick. Ich werde mich immer daran erinnern. Immer. Immer! Oder wenigstens, solange ich kann.« (AKE, S. 183) Das fragmentierte Druckbild und die inhaltlich nicht immer zusammenhängenden Textabschnitte lassen sich als Auflösung von Bewusstseinszusammenhängen deuten.158 Während die handlungstragenden Abschnitte immer weniger werden, vollzieht sich eine sprachliche Dynamisierung, die einerseits durch verknappte, ausdrucksstarke Formulierungen vorangetrieben wird. Andererseits beschleunigen ekstatische Ausrufe und pathetisch klingende Sentenzen den Lesefluss (vgl. AKE, S. 179). Diese Sentenzen scheinen über das Einzelschicksal von August Geiger hinauszuweisen und einen allgemeingültigen Anspruch zu erheben. So lautet ein freistehender, durch Kursivierung hervorgehobener Satz: »Als das vereitelt wurde, was wir uns erhofften, da erst lebten wir.« (AKE, S. 179) Einem Sinnspruch gleich, vermittelt der Satz eine vom Ich-Erzähler gewonnene, stilistisch überformte
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Vgl. Dackweiler (2014), S. 264. Vgl. Kretzschmar (2012), S. 131ff. Vgl. Süwolto (2015), S. 212.
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Erkenntnis aus dem Krankheits- und Pflegeprozess, die wiederum von der Rat gebenden, nahezu seelsorgerischen Absicht des Texts zeugt.159 Indem philosophisch anmutende Sentenzen, Elemente der Ratgeberliteratur, Interviewsequenzen und romanhafte Passagen sowie autopoetische Kommentare miteinander verbunden werden, entsteht eine synästhetische Mischform, die mit dem romantischen Konzept der ›progressiven Universalpoetik‹ – vor allem Schlegels Forderung nach einer Aufhebung der Gattungsgrenzen und Vermischung von Literatur mit Philosophie, Naturwissenschaft und Rhetorik – in Verbindung gebracht werden kann.160 Der Bezug auf romantische Ideen und Texte drückt sich auch in der Darstellung des Unheimlichen aus, das sich dem Vater in Form der Krankheit bemächtigt habe und ihn in ein kognitiv-emotionales Exil banne (vgl. AKE, S. 55f.). Diese Verbannung führt bei dem Kranken einerseits zu geistiger Umnachtung und Halluzinationen (Zustände, die auch in romantischen Texten beleuchtet werden),161 aber auch zu Momenten unvermittelter Klarheit und Sprachgewandtheit. In solchen Augenblicken vermag August Geiger, aus der Krankheit herauszutreten, und seinen Zustand mit einer nahezu romantischen Ironie zu kommentieren, wenn er zum Beispiel über sich sagt: »Also, ich muss sagen, es geht mir gut. Allerdings unter Anführungszeichen, denn ich bin nicht imstande es zu beurteilen.« (AKE, S. 17) In diesen Äußerungen erkennt der Ich-Erzähler Anzeichen einer antirationalistischen Genialität, die er schließlich auf seine eigene Wahrnehmung und Ausdrucksweise zu übertragen sucht. Die Aufwertung von Krankheitserfahrungen lässt sich ebenfalls auf Texte der Romantik zurückführen, »die sich vom psychischen Erleben des Menschen, seinen Imaginationen und Träumen, seinen Stimmungen und Ängsten, seinen Ahnungen und Erinnerungen höchst fasziniert gezeigt hatte. Die Spätromantik weitet dieses generelle 159 Zum allgemeingültigen Anspruch des Texts vgl. Textanalyse, Kapitel 2.2.2. 160 Die Forderung nach einer »progressiven Universalpoetik« geht hauptsächlich auf Friedrich Schlegel und Novalis zurück. Das Konzept ist in verschiedenen Essays, Briefen, Romanen und Textfragmenten in der Zeitschrift Athenäum formuliert worden. Als zentraler Text gilt das Athenäums-Fragment 116, in dem Friedrich Schlegel fordert, »alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie [die progressive Universalpoetik] will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen.« Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 2. Hg. von Ernst Behler. Paderborn et al. 1967, S. 182f. 161 Die geistige Umnachtung des Vaters kommt besonders deutlich zum Ausdruck, wenn er sich im Badezimmer einschließt und sich gegen Feinde, die nur er wahrnimmt, mit Rückenbürste und Nagelpfeile bewaffnet. Der Ich-Erzähler meint hierzu: »Er sah jetzt tatsächlich wie ein König aus – mit Zepter und Schwert. Doch im Gesicht trug er den Stempel des Irrsinns.« AKE, S. 105.
2. Demente Eltern
Interesse an mentalen Dispositionen des Subjekts exzessiv auf die Bereiche des Psychopathographischen, auf Wahnvorstellungen, Prozesse der Ich-Spaltung oder Bewusstseinsverluste etc. aus.« (Kretzschmar (2012), S. 135) Diese romantischen Kernthemen dienen Geigers Der alte König in seinem Exil – ebenso wie den zuerst untersuchten Textbeispielen von Draesner und Bernlef – als eindeutiger Referenzhorizont.162 Insbesondere die Spiegel- und Doppelgängermotivik stellt einen beliegten intertextuellen Rückgriff auf die romantische Literatur dar, die im Zusammenhang mit Demenz neu kontextualisiert wird.
2.3
Unsichtbare Väter, schmerzensreiche Mütter – Die Erdbeeren von Antons Mutter
Den beiden faktualen Texten von Jens und Geiger steht Katharina Hackers Erzählung Die Erdbeeren von Antons Mutter gegenüber, handelt es sich dabei doch um ein explizit fiktionales Demenz-Narrativ, in dem die Krankheit der Mutter überwiegend aus Sicht des Sohns beschrieben wird. Die Erzählung erscheint 2010 und erregt nicht so sehr aufgrund des thematischen Schwerpunkts, sondern wegen des Publikationshintergrunds die Aufmerksamkeit des Feuilletons: Nach Erscheinen ihres letzten Romans Alix, Anton und die anderen im Jahr 2009 überwirft sich Hacker nach langjähriger Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp-Verlag.163 Die Auseinandersetzung zwischen Autorin und Verlag gründet hauptsächlich auf der typographischen Umsetzung ihres Romans, der als erster Part einer geplanten Trilogie angelegt ist. Hacker hatte den Text in zwei nebeneinander liegende Spalten aufgeteilt, wobei sich in der einen Spalte das Geschehen entwickelt, während in der anderen Begebenheiten zu den Figuren aufgeführt werden.164 Der Suhrkamp-Verlag ändert das ursprüngliche Druckbild jedoch und komprimiert den ehemals 200 Seiten umfassenden Text auf 126 Seiten durch folgende Maßnahmen: In Katharina Hackers eigener Fassung sind beide Spalten gleich breit und in gleich großer Schrift gesetzt; überdies steht die eine Spalte immer rechts und die andere links. Suhrkamp hingegen hat eine Art Marginalspalte jeweils nach außen gesetzt, so dass beim Lesen nicht der Eindruck eines parallelen Erzählens, sondern von Anmerkungen an die Haupthandlung entsteht.165
162 163
Vgl. ebd., S. 134. Katharina Hacker: Alix, Anton und die anderen. Berlin 2009. Zum Konflikt zwischen Hacker und dem Suhrkamp-Verlag vgl. Felicitas von Lovenberg: »Chronik einer Zerrüttung. Katharina Hacker und Suhrkamp«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.2009. 164 Vgl. ebd. Oder auch Friedmar Apel: »Mit den Erdbeeren wachsen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.06.2010. 165 Ebd.
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Um einen solchen massiven Eingriff des Verlags bei ihren folgenden Büchern zu vermeiden, wechselt Hacker in der Folge zum S. Fischer-Verlag, der bereits im Jahr 2010 den zweiten Teil des als Trilogie angelegten Gesellschaftspanoramas, Die Erdbeeren von Antons Mutter, herausbringt.166 Bei diesem Text handelt es sich um eine in sich geschlossene Erzählung, die separat vom ersten Teil der geplanten Trilogie gelesen werden kann. Auch wenn sich Alix, Anton und die anderen und Die Erdbeeren von Antons Mutter formal stark voneinander unterscheiden (der letztgenannte Text spaltet sich nicht in simultan erzählende Spalten, sondern zeichnet sich durch lineares Druckbild aus), knüpft der zweite Erzählteil inhaltlich an das zuvor etablierte Figurenensemble an: Im Zentrum beider Texte steht derselbe Freundeskreis von Berliner Mittvierzigern, die ein bürgerliches und offenbar finanziell abgesichertes Leben führen, bislang jedoch kinderlos geblieben sind. Sowohl im ersten, als auch im zweiten Teil setzen sich die Hauptfiguren mit eben dieser Kinderlosigkeit, aber auch mit vermehrten Todes- und Krankheitsfällen in ihrem familiären und beruflichen Umfeld auseinander. Wie sich in der folgenden Analyse zeigen wird, erscheint Vergänglichkeit als zentrales Motiv beider Erzählteile, wobei im zweiten Text (der für die vorliegende Arbeit von Bedeutung ist) vor allem die Elterngeneration der Figuren in den Fokus rückt. In Die Erdbeeren von Antons Mutter stehen, neben dem Handlungsstrang, der Antons Arbeits- und Liebesleben in Berlin beleuchtet, hauptsächlich dessen demenzkranke Eltern im Zentrum. Trotz der Erkrankung beider Elternteile handelt der Text nicht so sehr vom dementen Vater Wilhelm, sondern vor allem von dessen ebenfalls erkrankter Frau Hilde – eine Schwerpunktlegung, auf die im folgenden Kapitel näher eingegangen wird. Die Handlung setzt Mitte der 2000er Jahre ein und wird vorwiegend aus der Perspektive von Anton Weber, einem Arzt aus Berlin, geschildert. Dieser kümmert sich von Zeit zu Zeit um seine Eltern, die im nahe bei Wolfsburg gelegenen Ort Calberlah leben. Den Erzählanlass bildet der Umstand, dass Antons Mutter Hilde aufgrund ihrer Krankheit vergessen hat, wie jedes Jahr Erdbeeren zu pflanzen. In der Hoffnung, dass die Pflanzen noch rechtzeitig angehen und seine Mutter ihr Versäumnis wieder vergisst, setzt Anton mit Hilfe eines Bauern neue Erdbeerpflanzen in den heimischen Acker (vgl. EAM, S. 5).167 Auf diese Weise versucht er, sich und seine Mutter davon zu überzeugen, »daß es nicht zu spät ist.« (EAM, S. 6) Doch schon zu Beginn des Texts zeichnet sich ab, dass die Krankheit einen unaufhaltsamen Entfremdungsprozess zur Folge hat. So scheint Hilde, sich und ihrem Umfeld zusehends abhanden zu kommen und in »eine andrängende Dunkelheit« zu entgleiten (EAM, S. 15). Da auch zu Wilhelm kein Durchdringen mehr 166 Der dritte Teil der Reihe scheint zwar geplant zu sein, bislang liegen jedoch keine weiteren Informationen dazu vor. 167 Vgl. Schwieren (2017), S. 129.
2. Demente Eltern
möglich ist und Antons Schwester Caroline in den USA lebt, fühlt sich der Sohn auf sich selbst zurückgeworfen. Dieses Gefühl der Einsamkeit ändert sich auch nicht, als er Lydia kennenlernt und sich in sie verliebt (EAM, S. 13). Die alleinerziehende Mutter Lydia hat vor der Geburt ihres Kindes eine Phase der Obdachlosigkeit und des Alkoholismus durchmacht. War sie in dieser Zeit abhängig von dem ehemaligen Fremdenlegionär Rüdiger, schafft sie es, mit der Geburt ihres Kindes Rachel Fuß zu fassen und ihr ehemals bürgerliches Leben wieder aufzunehmen.168 Ihre einstige Haltlosigkeit und die Wegbegleiter dieser vergangenen Phase verfolgen sie jedoch weiterhin in ihren Gedanken und, wie sich zeigt, auch in Wirklichkeit: Der Vater des Kindes, Rüdiger, und dessen ehemaliger Kollege Martin lassen Lydia und Rachel nicht aus dem Blick und setzen wiederum Anton unter Druck, Mutter und Kind in Ruhe zu lassen. Die beiden Handlungsstränge – Lydias komplizierte Liebes- und Familienkonstellation auf der einen und Antons kranke Eltern in Calberlah auf der anderen Seite – werden schließlich in einer Schlussszene zusammengeführt. Hier kommen nahezu alle Figuren aus unterschiedlichen Beweggründen bei der geplanten Erdbeerernte auf dem Acker in Calberlah zusammen (vgl. EAM, S. 163). Die durch Schnecken und Fäulnis verdorbenen Früchte führen jedoch zu einer allseitigen Enttäuschung: Die herbeigesehnten Erdbeeren können weder Hildes krankheitsbedingten Einbußen überdecken, noch das Familienidyll kitten. Keine der Protagonisten, ob Familienangehöriger oder Außenseiter, vermag es, am Ende seine Wünsche zu realisieren. Es bleibt allein die vage Hoffnung auf einen Neuanfang (vgl. EAM, S. 174f.). Die spärliche Forschungslage Wie diese Zusammenfassung deutlich macht, zeichnet sich Hackers Erzählung durch zwei komplexe, ineinander verwobene Handlungsstränge aus, bei denen (anders als in den bisher analysierten Texten) nicht nur die dementen Figuren, sondern auch andere Protagonisten im Zentrum des Geschehens stehen. Dieses literarisch konstruierte Beziehungsgeflecht ist bereits in dem 2010 erschienenen Artikel »Von Erdbeeren, Schnecken und Schildkröten« untersucht worden. Hierin beleuchtet Verena Wetzstein das soziale Gefüge innerhalb Hackers Erzählung und stellt dabei einen Zusammenhang zu Annette Pehnts Roman Haus der Schildkröten aus dem Jahr 2008 her.169 Über diese Synopse hinaus ordnet die Verfasserin Hackers Text als Novelle ein und benennt – pflichtschuldig, aber wenig einleuchtend – Hildes krankheitsbedingtes Versäumnis, die Erdbeeren einzupflanzen, als unerhörte
168 Die alttestamentarische Namensgebung der Figuren Lydia und Rachel lässt sich innerhalb der Erzählung mit weiteren Motiven und Anspielungen auf den christlichen Kulturkreis im Allgemeinen und die Bibel im speziellen in Zusammenhang bringen. Vgl. Textanalyse, Kapitel 2.3.3.2. 169 Vgl. Wetzstein (2010), S. 169-184.
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Vergessen erzählen
Begebenheit.170 Während diese Untersuchung grundlegende Erkenntnisse liefert, die jedoch nicht über eine figurenpsychologische Deutung hinausgehen, verknüpft Alexander Schwieren in einem Forschungsbeitrag aus dem Jahr 2017 Hackers Text, neben zahlreichen anderen Demenz-Narrativen, mit vormodernen Todes- und Totendarstellungen und weist auf einen größeren Referenzrahmen hin.171 Im selben Jahr erscheint schließlich ein Beitrag von Berenike Schröder,172 die Hackers Text neben Arno Geigers und Tilman Jens’ Demenz-Narrative stellt – eine Konstellation, die der Anlage der vorliegenden Arbeit entspricht; in der Komplexität der Analyse bleibt Schröders Artikel jedoch hinter Schwieren und Wetzstein zurück. Hatte die Forschung Katharina Hackers andere Romane, wie beispielsweise Die Habenichtse aus dem Jahr 2006 oder Der Bademeister von 2010, eingehend untersucht,173 handelt es sich bei den obengenannten Beiträgen um die bisher einzigen literaturwissenschaftlichen Untersuchungen von Die Erdbeeren von Antons Mutter.174 Ziel des folgenden Kapitels ist es, diese spärliche Forschungslage durch eine strukturelle und inhaltliche Untersuchung der Demenz-Darstellung auszubauen und dabei intertextuelle Zusammenhänge zu Prätexten, ebenso wie zu gesamtgesellschaftlichen Diskussionen sichtbar zu machen.
2.3.1
Räume und Stimmen
Viele Perspektiven auf ein Geschehen Im Gegensatz zu Geigers und Jens’ Wirklichkeitserzählungen, aber auch zu den bisher untersuchten Innenperspektiven von Frisch, Bernlef und Draesner, wird Hackers Erzählung nicht aus der Sicht von einem oder zwei Protagonisten wiedergegeben, sondern zeichnet sich durch eine, sich gegen Ende des Texts vervielfachende Multiperspektive aus. Während diese Perspektivierung im Kontrast zu den bisher untersuchten Texten steht, gleicht die Erzählung jedoch den übrigen Demenz-Narrativen darin, dass sie nicht durch Kapitel unterteilt ist, sondern sich ebenfalls in unterschiedlich lange Passagen gliedert. Die Absätze zwischen den jeweiligen Textblöcken markieren zuweilen Perspektivwechsel, die von einem covert
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Vgl. ebd., S. 178. Vgl. Schwieren (2017), S. 129f. Oder auch Behuniak (2011), S. 71. Vgl. Schröder (2017), S. 287-301. Vgl. z.B. das Kapitel zu Hackers Roman Die Habenichtse bei Jesko Bender: 9/11 erzählen. Terror als Diskurs- und Textphänomen. Frankfurt a.M. 2017, S. 137-188. Überdies finden sich zahlreiche, in Fachzeitschriften oder Sammelbänden veröffentlichte Artikel zu eben diesem Roman. Vgl. z.B. Monika Shafi: »›New concept – new life‹: Bodies and Buildings in Katharina Hacker’s novel ›Die Habenichtse‹«, in: Seminar. A Journal of Germanic Studies Bd. 47, H. 4 (2011), S. 434-446. Neben den obengenannten, ausführlichen Beiträgen zu Hackers Erzählung verweist auch Ulrike Vedder auf den Text. Vgl. Vedder (2012), S. 279ff.
2. Demente Eltern
narrator, einem im Verborgenen bleibenden Erzähler, vorgenommen werden. Diese verdeckte Erzählinstanz ermöglicht eine variable interne Fokalisierung, die zunächst an die Sicht der Hauptfigur Anton gebunden zu sein scheint. Im Laufe des Texts wechselt die Fokalisierung jedoch unvermittelt, wenn zum Beispiel plötzlich aus Lydias Perspektive berichtet wird (vgl. EAK, S. 37). Diese abrupten Wechsel nehmen im weiteren Verlauf des Texts stetig zu, wobei immer mehr Figuren hinzukommen, aus deren Perspektive erzählt wird. Als gegen Ende der Erzählung alle Figuren nach Calberlah fahren, alterniert die interne Fokalisierung schließlich absatzweise zwischen Rüdiger, Martin, Lydia, Hilde, dem Bauer Helmer, Caroline und Anton. Vereinzelt wandelt sich die figurengebundene Mitsicht in eine Nullfokalisierung, wenn beispielsweise der zunehmende Schneckenbefall auf dem Acker beschrieben wird, ohne dass eine der Figuren dabei anwesend ist (vgl. EAM, S. 159). Die permanenten Perspektivwechsel führen schließlich zu einer Dynamisierung des Geschehens, das auf einen Punkt – die vermaledeite Erdbeerernte – hinstrebt. Dabei scheint sich, ähnlich wie im Fall von Der Mensch erscheint im Holozän, die Erzählung selbst zu erzählen. Die Erzählinstanz tritt nur durch indirekte Vermittlungsfunktionen zu Tage, beispielsweise beim Wechsel der Perspektivierungen und der Übermittlung der wenigen, nullfokalisierten Passagen (vgl. EAK, S. 161). Sonst bleibt der verborgene Erzähler nah an den Figuren, deren mentale Prozesse in autonomer, indirekter Gedankenrede wiedergegeben werden, wohingegen Gespräche in direkter Figurenrede verfasst sind. Diese zitierte Figurenrede wird nicht durch Anführungszeichen gekennzeichnet und steht somit unterschiedslos neben Situationsschilderungen und Gedankenrede. Eine solche einheitliche Präsentation von Äußerungen und Gedanken erschwert den Leseprozess, der zusätzlich von der abrupt wechselnden Fokalisierung beeinträchtigt wird. Semantische Orte zwischen Kind- und Krankheit Die Erzählung bietet einen verhältnismäßig kurzen Einblick in das Leben der Figuren. So setzt die Handlung in dem Moment ein, als Hildes Demenz-Erkrankung mittlerweile unübersehbare Folgen nach sich zieht. Das daran anknüpfende Geschehen erstreckt sich über eine erzählte Zeit von ungefähr anderthalb Sommermonaten – die Zeit, die es von der späten Pflanzung der Erdbeeren bis zu deren Ernte dauert. Während dieses Geschehen chronologisch erzählt wird, liefern über den Text verteilte Analepsen (zum Beispiel in die Zeit von Hildes Jugend) Informationen nach, die der Figurenzeichnung dienen. Auf diese Weise werden sukzessive die Hintergründe der Protagonisten und die Motivationen für deren Handeln enthüllt. Neben dem sich chronologisch entwickelnden Geschehen und den eingeschobenen Analepsen, steht die Figurenzeichnung auch eng mit den semantisch aufgeladenen Orten Berlin und Calberlah in Verbindung, die als zwei konträre
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Sphären konstruiert werden.175 Dieser Zusammenhang wird auch von den Figuren explizit gemacht, wenn Anton beispielsweise denkt: »Zu den Menschen gehörten die Orte, an denen sie lebten, mit der Zeit war schwer zu entscheiden, was einem mehr ans Herz gewachsen war, der Ort, die Menschen, oder sie waren so miteinander verwoben, daß sich beides nicht mehr unterscheiden ließ.« (EAM, S. 31) Indem die Figuren- und Ortskonstellationen auf diese Weise miteinander verschränkt werden, kommt die Zerrissenheit der Figuren zum Ausdruck, die zwischen Calberlah und Berlin oszillieren. Calberlah wird dabei als Ort des Familienidylls und der kindlichen Sorglosigkeit, aber auch der pubertären Frustration und der Angst um die dementen Eltern dargestellt. Vor allem letztere Sorge überschattet den Ort von Antons und Carolines Kindheit, der auch auf lautmalerischer Ebene mit dem kindlichen Ausdruck für verrückt, »ballaballa«, assoziiert wird, wenn Anton über seine Mutter sagt, sie sei »nicht bekloppt. [.] Aber Calberlah, sage ich dir!« (EAM, S. 40). Berlin hingegen wird mit dem Berufsleben der jüngeren Figuren und deren Freundeskreis, aber auch mit Beziehungsproblemen und Einsamkeit in Verbindung gebracht. Aufgrund dieser semantischen Verschränkung kommen die Reisen der jüngeren Figuren nach Calberlah stets einer Konfrontation mit Erinnerungen, der zwiespältigen Rolle von erwachsenen Kindern und dem gegenwärtigen Zustand der Eltern gleich. Diese Beschäftigung mit den eigenen Wurzeln bedeuten für Anton und Caroline auch immer eine Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Lebenssituationen: Beide Geschwister sind bis dato unverheiratet und kinderlos. In den beiden Räumen Calberlah und Berlin stehen sich aufgrund dieser kontrastreichen Konstellationen Vergangenheit und Gegenwart, Wunsch und Wirklichkeit gegenüber.
2.3.2 2.3.2.1
Todesboten mitten im Leben Erwachsene Kinder, entschwindende Eltern
Bereits in der räumlichen Konstellation zeigt sich, dass in Hackers Erzählung vor allem die Kindergeneration und deren Gefühle gegenüber den kranken Eltern im 175
Im Zusammenhang mit semantischen, bzw. semantisierten Räumen muss allen voran der russische Literaturwissenschaftler und Semiotiker Juri M. Lotmann erwähnt werden, der in seinem Text zu literarischen Strukturen auch topographische Ordnungen untersucht und zwischen verschiedenen Arten von Räumen unterscheidet. Vgl. Juri M. Lotmann: Die Struktur literarischer Texte. München 1972, S. 311ff. Die Forschung zu literarischen Räumen hat seitdem stetig zugenommen. An dieser Stelle wird exemplarisch auf zwei umfangreiche Sammelbände hingewiesen, die auch abstrakte, semantische Räume beleuchten: Vgl. Inka Mülder-Bach (Hg.): Räume der Romantik. Würzburg 2007 und Paul Michael Lützeler (Hg.): Räume der literarischen Postmoderne: Gender, Performativität, Globalisierung. Tübingen 2001.
2. Demente Eltern
Fokus stehen. Auffällig ist, dass die nunmehr erwachsenen Kinder Anton und Caroline die Demenz-Erkrankung ihrer Mutter als substanzielle Bedrohung für ihr Selbstbild empfinden. So glaubt Anton, dass ihm durch Hildes Krankheit »der Grund seines Lebens«, »die Grundlage von allem« entzogen würde (EAM, S. 23). Der besondere Schrecken der Demenz-Erkrankung bestehe vornehmlich in der Vorstellung, »die Mutter [zu] verlieren, bei Lebzeiten.« (EAM, S. 74) In diesen Formulierungen kommt zum Ausdruck, dass Hildes Krankheit sowohl bei Anton als auch bei Caroline eine existenzielle Krise auslöst, sehen sich die Kinder doch sukzessive um eine zentrale Identifikationsfigur, ja um einen Teil ihrer Selbst beraubt. Diese selbstbezogene Haltung der Kinder schlägt sich auch in der weiteren Demenz-Darstellung nieder: Anders als bei den bisher untersuchten Texten werden nicht die Wortfindungsstörungen oder Verwirrtheitszustände als zentrale Krankheitsproblematiken benannt, sondern die krankheitsbedingt veränderte Rolle der Mutter. Damit zusammenhängend werden auch die verblassenden Familienrituale betrauert, wobei insbesondere die Erdbeerernte als identifikationsstiftendes Moment verloren zu gehen droht. Beide Kinder fürchten sich infolgedessen vor der Konfrontation mit den Krankheitsfolgen, wie etwa der Persönlichkeitsveränderung der Betroffenen, deren Hilfsbedürftigkeit und der daraus resultierenden, vermutlich langjährigen Pflegesituation (vgl. EAM, S. 88). Hildes Veränderungen manifestieren sich, in den Augen ihrer Kinder, vor allem in Phasen vorher nicht gekannter Freud- und Hilflosigkeit, die zeitweise auch optisch greifbar werden. In Momenten plötzlicher Verwirrung wirkt die Mutter auf Anton und Caroline herb, kantig, ja männlich, ihre Stimme klingt rau und alt (EAM, S. 8 oder 15). In Momenten geistiger Klarheit hingegen tritt sie wie ein junges Mädchen in Erscheinung, das lacht, singt und leidenschaftlich gerne kocht (EAM, S. 10).176 Dieser Analogieschluss von Gesundheit, Jugendlichkeit und Femininität auf der einen Seite, Krankheit, Alter und Männlichkeit auf der anderen legt die Vorstellung nahe, dass der Krankheitsprozess einer Aufhebung des gesamten weiblichen Geschlechterhabitus gleichkommt.177 Dass Hildes Mutterrolle in der Erzählung deutlich über deren Weiblichkeit definiert wird, drückt sich auch in der Bildlichkeit, allen voran in der Erdbeer176 177
Zur Darstellung alternder Frauenfiguren in Demenz-Narrativen vgl. Seidler (2007), S. 195-212. Der Begriff ›Geschlechterhabitus‹ stammt aus der Soziologie und wird als Deutungsmuster definiert, das Geschlechtszugehörigkeiten und -verhältnisse als untrennbares Produkt von Kultur und Natur einordnet. Der Term stellt eine terminologische Weiterentwicklung dar, die sich von den Kategorien ›Gender‹ und ›Geschlechterrolle‹ vor allem dadurch unterscheidet, dass Geschlecht nicht als eine einzige Rolle definiert wird, sondern als situationsbedingter und sozialer Habitus verstanden wird. Vgl. Steffani Engler: »Habitus und sozialer Raum: Zur Nutzung der Konzepte Pierre Bourdieus in der Frauen- und Geschlechterforschung«, in: Ruth Becker / Beate Kortendiek (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung: Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden 2008, S. 250-261.
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Metaphorik, aus: Das bereits im Titel anklingende Bild der Erdbeere wird in der christlichen Symbollehre mit Bescheidenheit, Fruchtbarkeit und Vitalität, aber auch mit Verlockung und Sexualität in Verbindung gebracht.178 Im speziellen Fall von Hilde stehen die Erdbeeren darüber hinaus für Jugendlichkeit, mütterliche Fürsorge und familiären Zusammenhalt. Wie bereits bei der versäumten Pflanzung der Erdbeeren zum Ausdruck kommt, stellt die Demenz-Erkrankung eine essentielle Bedrohung dieser Eigenschaften und sozialen Bindungen dar und lässt sich auch nicht durch Antons verspätete Rettungsaktion aufhalten.179 Die von Schnecken und infolgedessen von Fäulnis verdorbenen Früchte lassen wie ein barockes Stillleben auf den unaufhaltsam fortschreitenden Krankheitsprozess schließen, der den Tod vorwegzunehmen scheint (vgl. EAM, S. 161). Wie Alexander Schwieren in seinem gewinnbringenden Beitrag herausarbeitet, wirken die dementen Figuren in Hackers Erzählung nicht so sehr wie Kranke, denn wie lebendige Tote, die der Sphäre der Lebenden schrittweise entschwinden.180 Dieses Paradoxon der lebendigen Toten, der Absenz in der Präsenz, wird an verschiedenen Stellen deutlich. Beispielsweise denkt Anton: »[…] er wußte, daß die Krankheit seiner Mutter ihm das Herz brechen würde. Sie entfernte sich ja schon, ihr Gesicht hatte schon zwei Teile, er wußte plötzlich, daß sie bald nicht mehr seine Mutter sein würde, daß die eine Hälfte des Gesichts nicht mehr zu seiner Mutter gehörte und er nicht mehr zu ihr […].« (EAM, S. 23) Der Sohn glaubt, im Gesicht der kranken Hilde bereits eine Zweiteilung zu erkennen. Während die eine Hälfte noch vom vertrauten und innigen Bündnis zwischen Mutter und Kind zeugt, bringt die zweite Gesichtshälfte Fremdheit, Absenz und Tod zum Ausdruck. Diesen Eindruck gewinnen nicht allein die eigenen Kinder, sondern auch Außenstehende, wie beispielsweise der Fremdenlegionär Martin. Dieser meint, wenn man in Hildes Augen schaue, sei es, »als würde man in einen sehr dunklen Schacht schauen, unter die Erde, am Ende sah man trotzdem etwas […]. Das ist die Seele!« (S. 150) In diesem Bild drückt sich die widersprüchliche Empfindung aus, dass Demente – obwohl noch physisch anwesend – bereits ihre eigene Vergänglichkeit verkörpern. Nicht nur Hilde wirkt wie ihre eigene Wiedergängerin, auch ihr kranker Mann Wilhelm wird von Caroline als lebendiger Toter beschrieben, dessen Arm sie beim Unterhaken nicht mehr spüren kann (EAM, S. 171). Aufgrund dieser krankheitsbedingten Veränderungen kommt 178
Zur christlichen Symbolik vgl. Wolfgang Schiedermair: »Die Erdbeere – Waldfrucht, Teedroge und Symbol in der Kunst«, in: Zeitschrift für Phytotherapie Bd. 28, H. 6 (2007), S. 304-310. 179 Vgl. Wetzstein (2010), S. 179. 180 Schwieren (2017), S. 132. Zur weitverbreiteten Darstellung von Demenzkranken als lebendige Tote vgl. weiterhin Behuniak (2014) und Carmelo Aquilina / Julian Hughes: »The return of the living dead: agency lost and found?«, in: Julian Hughes / Stephen Louw / Steven Sabat (Hg.): Dementia: Mind, Meaning, and the Person. Oxford 2006, S. 143-61.
2. Demente Eltern
der Kontakt mit den Dementen einem »Anhauch des Todes« gleich,181 vor dem auch die Jungen und vermeintlich Gesunden nicht verschont bleiben:182 So versucht Anton beispielsweise zu intervenieren, als eine Krähe einen Eichelhäher angreift und schließlich tötet. Ähnlich wie bei der Erdbeer-Bepflanzung erweist sich auch in diesem Fall Antons Rettungsaktion als hoffnungsloses Unterfangen, das auf ihn wie ein schlechtes Omen wirkt (EAM, S. 108f.). Caroline wiederum beschreibt bei ihrer Anreise den eigenen Koffer im Gegensatz zum erdbeerroten Gepäck einer fröhlichen Familie als schwarz und über alle Maße schwer, was von ihr als Mahnung an die eigene Sterblichkeit, als memento mori, wahrgenommen wird (EAM, S. 129). Doch nicht allein die Figuren der Familie Weber sind von diesen Todesbotschaften umgeben. Vielmehr berichten alle Protagonisten von Mord und Vergänglichkeit, Einsamkeit und Verlust.183 Die zahllosen, im Text verstreuten Vanitas-Motive lassen den Tod als omnipräsentes Phänomen erscheinen, das trotz der Allgegenwart nichts von seinem Schrecken einbüßt.
2.3.2.2
Das bucklige und schattenlose Männlein
Eine solche, zentrale Vanitas-Figur stellt das sogenannte Bucklicht Männlein dar, das Hilde im Berufssoldaten Martin zu erkennen glaubt: Die Demente hält den Fremden, der Anton auf Schritt und Tritt folgt, aufgrund seiner kleinen Statur für eben dieses Bucklicht Männlein – einen koboldartigen Störenfried, der erstmals in einem romantischen Volkslied in Brentanos Textsammlung Des Knaben Wunderhorn schriftlich erwähnt wird.184 In diesem Volkslied beschreibt ein junges Mädchen seine Alltagsverrichtungen, die ständig durch einen Plagegeist in Gestalt eines buckligen, schadenfrohen Männleins erschwert werden: »Will ich in mein Gärtlein gehn, will mein Zwiebeln gießen,
Zum »Anhauch des Todes« vgl. Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München 1999, S. 216f. oder auch Schwieren (2017), S. 134. 182 In Hackers Erzählung gewinnt Anton den Eindruck, ebenfalls von der Krankheit seiner Mutter betroffen zu sein, sodass »er mit seiner Mutter in einer Dunkelheit lief, in der sie beide einander verloren gingen, es war ein Raum der Leere, ohne ein Licht, ohne einen Halt, ausgefüllt von Verwunderung und Entsetzen, so daß er sich fragte, was sie jemals miteinander verbunden hatte.« EAM, S. 15f. 183 Die Fremdenlegionäre Rüdiger und Martin erzählen beispielsweise von der Brutalität und zahlreichen Tötungsdelikten während ihrer Auslandseinsätze. Vgl. EAM, S. 59. Die betuchte und bürgerliche Familie Barnow ist wiederum vom Mord an einer ihr bekannten, vietnamesischen Familie betroffen. Vgl. EAM, S. 28. Lydia hingegen fürchtet sich, dass ihr Exfreund die gemeinsame Tochter Rachel vor Wut töten könnte. Vgl. EAM, S. 64. Anton leidet schließlich unter einem Tinnitus, der auf ihn wirke, »als klopft der Tod an«. EAM, S. 115. 184 Achim von Arnim / Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn: alte deutsche Lieder gesammelt von Achim von Arnim und Clemens Brentano, Bd. 1. Hg. von Heinz Rölleke. Stuttgart 2011, S. 342. 181
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Vergessen erzählen
steht ein bucklig Männlein da, fängt gleich an zu niesen. Will ich in mein Küchel gehn, will mein Süpplein kochen, steht ein bucklig Männlein da, hat mein Töpflein brochen. […] Wenn ich an mein Bänklein knie, will ein bißlein beten, steht ein bucklig Männlein da, fängt gleich an zu reden: »Liebes Kindlein, ach, ich bitt, Bet für’s bucklig Männlein mit!« (von Arnim/Brentano (2011), S. 342) Das von Brentano nach mündlichen Überlieferungen 1808 verschriftlichte Gedicht gilt als Kinderlied, dessen heute bekannte Melodie im Jahr 1810 Johann Nikolaus Böhl zugewiesen worden ist und dem Fronleichnamslied Kommt zum großen Abendmahl entspricht.185 Neben einer breiten musikalischen Rezeption hat das Volkslied auch Eingang in literarische Texte gefunden: So lassen sich intertextuelle Bezüge auf das bucklige Männlein in Thomas Manns Die Buddenbrooks von 1901 oder auch in Ernst Wiechers Kurzgeschichte Das Männlein aus dem Jahr 1933 ausmachen.186 Eine zentrale Funktion kommt dem Bucklicht Männlein weiterhin in Walter Benjamins autobiographischem Text Berliner Kindheit um neunzehnhundert zu,187 in dessen letztem Abschnitt das Männlein als Allegorie der verzerrten Erinnerung auftritt.188 Die Figur des buckligen Männleins ist auf verschiedene Weise interpretatorisch ausgelegt worden, zum Beispiel als schadenfroher Kobold oder auch als aufdringlicher Liebhaber.189 Psychoanalytisch geprägte Ansätze erkennen in der Figur hingegen eine Verkörperung verdrängter »Ich-Anteile«, womit unliebsame Facetten des eigenen Charakters oder auch Missgeschicke gemeint sind. Diese persönVgl. Tobias Widmaier: »Will ich in mein Gärtlein gehen«, in: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. o.O. 2008. Internet-Quelle: www.liederlexikon.de/lieder/will_ich_in_mein_ gaertlein_gehn, abgerufen am 08. Mai 2018. 186 Thomas Mann arbeitet die Figur in einen von Hannos Alpträumen ein. Vgl. Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke, Briefe, Tagebücher, Bd. 1. Hg. von Eckhard Heftrich / Stephan Stachorski. Frankfurt a.M. 2002, S. 432. Zu Wicherts Erzählung vgl. Ernst Wiechert: »Das Männlein«, in: Ders.: Erzählungen. Hg. von Ruth Böhner. Berlin 1969, o.S. 187 Vgl. Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert, in: Ders.: Werke und Nachlaß: kritische Gesamtausgabe, Bd. 11. Hg. von Burkhardt Lindner und Nadine Werner. Berlin 2019. Eine stichhaltige Analyse dieses Texts bietet Henriette Herwig: »Zeitspuren in erinnerten Kindheitsorten: Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert«, in: Bernd Witte (Hg.): Benjamin und das Exil. Würzburg 2006, S. 44-73; oder Widmaier (2008), o.S. 188 Zum Bucklicht Männlein bei Benjamin und Hacker vgl. Vedder (2012), S. 280. 189 Vgl. Widmaier (2008), o.S. 185
2. Demente Eltern
lichen Fehler würden von Brentanos lyrischem Ich auf die imaginierte Figur des buckligen Männleins projiziert, um Schuld von sich zu weisen.190 In Katharina Hackers Erzählung lassen sich Brentanos buckliges Männlein und Walter Benjamins Weiterentwicklung als Hauptreferenzen identifizieren.191 Der Bezug auf die romantische Märchenfigur wird zunächst von Hilde selbst konstruiert, die mit dem Kinderlied vertraut ist und in dem kleinwüchsigen Martin eben jenen besungenen Plagegeist zu erkennen glaubt, wenn sie sagt: »[…] da ist ein kleiner Mann. […] ein kleiner Mann, wie das Bucklicht Männlein« (EAM, S. 92). Tatsächlich weist Martin, der ehemalige Fremdenlegionär, Parallelen zu Brentanos Figur auf: Aufdringlich und scheinbar omnipräsent bedroht er Anton und folgt ihm stets schadenfroh lächelnd.192 Gleichzeitig ist er auf seine Weise zugewandt und möchte Hildes Sympathie erlangen, die ihn schließlich pflichtschuldig in ihre Gebete einschließt (EAM, S. 175). Vergleichbar mit Walter Benjamins Bucklicht Männlein, wirkt Martin auf Hilde überdies wie eine verzerrte Erinnerung eines ehemaligen Geliebten, der denselben Namen wie der Fremdenlegionär getragen hatte. Aufgrund dieser Namensidentität erscheint Martin ihr als eine Art mystische Gestalt, die sie als vertraut und fremd zugleich empfindet (vgl. EAM, S. 175). Neben der offenen Referenz auf das bucklige Männlein, trägt Martin ebenfalls Züge von Adelbert von Chamissos Figur Peter Schlemihl, der durch den Verkauf seines Schattens für seine Umgebung unsichtbar geworden ist.193 Auch Martin ist aufgrund seines unscheinbaren Äußeren für die meisten Mitmenschen unsichtbar, was ihm in zwischenmenschlichen Beziehungen zum Nachteil gereicht, in brenzlichen Situationen aber einen unbemerkten Abgang ermöglicht (vgl. EAM, S. 169). Bereits in den romantischen Vorbildfiguren kommt zum Ausdruck, dass es sich bei Martin um eine schillernde Figur handelt, die von den meisten Protagonisten als unheimlich empfunden wird; selbst der riesenhafte Rüdiger fürchtet sich zeitweise vor seinem kleinwüchsigen Freund und nennt ihn einen Todesengel (EAM, S. 120). Martins unheimliche Wirkung lässt sich darauf zurückführen, dass er auf die anderen Figuren (gemäß Freuds Definition des Unheimlichen) vertraut und befremdlich zugleich wirkt.194 Seine Beschreibung kommt einer irritierenden Mischform verschiedener, realer und fantastischer Figuren gleich: Er vereint Eigenschaf-
190 Frithjof Haider: Verkörperungen des Selbst. Das bucklige Männlein als Übergangsphänomen bei Clemens Brentano, Thomas Mann, Walter Benjamin. Frankfurt a.M. 2003, S. 77-83; oder auch Widmaier (2008), o.S. 191 Vgl. Vedder (2012), S. 280. 192 Der Umstand, dass das Bucklicht Männlein gerade Anton folgt, erscheint als Erfüllung einer von Hilde unabsichtlich getroffenen Prophezeiung, hatte sie doch Anton speziell dieses Kinderlied vorgesungen. Auch in Carolines Lieblingskinderlied Es zogen fünf wilde Schwäne, deutet sich bereits an, dass sie kinder- und ehelos bleiben wird. EAM, S. 94. 193 Vgl. Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Stuttgart 2003. 194 Zum Unheimlichen bei Freud vgl. Textanalyse, Kapitel 2.2.2 dieser Arbeit.
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ten des Bucklicht Männleins, Peter Schlemihls, eines »Zwergleins« und Hildes ehemaligen Geliebten Martin (EAM, S. 84), gleichzeitig wird er als verfressene Motte und leblose Vogelscheuche beschrieben (EAM, S. 118 und 175). Auch wenn Martin eine in der Diegese reale Person darstellt, erscheint er im Lichte dieser Assoziationen als märchenhafter Todesbote, als Grenzgänger, der durch seine Kindheitsund Kriegserfahrungen seelisch gebrochen und gleichzeitig sensibilisiert worden ist. Während seine Handlungen in der Alltagswelt zuweilen verrückt, ja besessen wirken, kann er jedoch in der Funktion des Bucklicht Männleins als einzige Figur eine Verbindung zur dementen Hilde aufbauen, die er am Schluss, »jetzt, da alles entschieden war«, auf dem Acker erwartet und mit sich zu nehmen scheint (EAM, S. 175). In dieser Schlussszene verwischen die Grenzen zwischen Traum und Alltagswirklichkeit, Märchen und vermeintlich realistischer Krankheitsdarstellung.
2.3.2.3
Romantik als Referenzhorizont
Hackers Die Erdbeeren von Antons Mutter zeichnet sich, wie schon in konkreten Zitaten aus dem Bucklicht Männlein und Peter Schlemihls wundersame Geschichte zum Ausdruck kommt, durch eine ausgeprägte Bezugnahme auf Prätexte der deutschen Hoch- und Spätromantik aus, insbesondere auf Kunstmärchen und Motive der schwarzen Romantik. So wird Hildes Demenz-Erkrankung beispielsweise immer wieder als eine »Fahrt ins Dunkle« oder als »aufdrängende Dunkelheit« beschrieben, die ebenso ihr Umfeld zu betreffen scheint (EAM, S. 15 und 138). Auch Hilde greift zu diesem Bild, wenn sie denkt: »Wie sollte sie beschreiben, was sie selber nicht sehen noch begreifen konnte, wie sollte sie erklären, daß nichts so intim war wie die Leere, dies Handausstrecken in die Dunkelheit, eine Dunkelheit, die nicht nur die Sicht auslöschte, sondern die Hand selber, auf schmerzloseste Weise.« (EAM, S. 65f.) Die demente Protagonistin ordnet ihre Krankheit als allumfassende Umnachtung ein, die sich nicht nur auf geistiger Ebene vollzieht, sondern einer gänzlichen Auslöschung ihrer Person gleichkommt. Eine derartige Bildlichkeit entspricht Darstellungsformen romantischer Kernthemen, wie des Wahnsinns oder auch der Todessehnsucht.195 Neben diesen Parallelen lassen sich Bezugnahmen auf die romantische Doppel- und Wiedergängermotivik ausmachen, die sich in der demenzbedingten Ich-Spaltung der Kranken ausdrückt: Wie bereits in Kapitel 2.3.2.1 erwähnt, stellt Anton fest, dass sich das Gesicht seiner Mutter in zwei Hälften zu
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Zu Wahnsinn und Todessehnsucht in der Romantik vgl. Frank Bruno Wild: Suizidäre Metaphern. Transzendente Melancholien im Zeitalter der Schwarzen Romantik. Hamburg 2012 oder auch André Vieregge: Nachtseiten. Die Literatur der Schwarzen Romantik. Frankfurt a.M. et al. 2008.
2. Demente Eltern
teilen scheint, wobei die auf ihn befremdlich wirkende Gesichtshälfte die vertraute Seite zunehmend verdrängt (vgl. EAM, S. 23). Auch glaubt er in der davon taumelden Figur einer fremden Frau eine Doppelgängerin seiner Mutter zu erkennen (EAM, S. 23). Dieses Phänomen der (Ich-)Dissoziation findet sich vermehrt in Texten der Spätromantik,196 als bekanntestes Beispiel gilt E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels.197 Der darin beleuchtete und dämonisierte Prozess der Persönlichkeitsspaltung lässt sich ebenfalls auf Hilde übertragen, die von den restlichen Figuren als Wiedergängerin empfunden wird und ›mehr drüben als hüben‹ zu verorten sei (vgl. EAM, S. 150).198 Diese Doppelgängermotivik überrascht nicht, können doch deutliche Überschneidungen zu den Demenz-Darstellungen von Draesner, Bernlef, Jens und Geiger identifiziert werden, deren demente Hauptfiguren ebenfalls geisterhafte Züge tragen. Über diese Motivik hinaus ähnelt die Erzählung romantischen Prätexten auch darin, dass die getrübte Wahrnehmung der Figur als alptraumartiger Zustand dargestellt wird,199 bei dem »man flog und fiel, während man gleichzeitig ahnungslos war und die Gewissheit hatte, wie der Sturz enden müße, auf erbarmungslose Weise« (EAM, S. 89f.). Die Demente ist ihrer Krankheit hilflos ausgeliefert und scheint von dem Zustand tief verunsichert, zuweilen aber auch völlig darin aufzugehen. Traum- und Alltagswelten gehen in ihrer Wahrnehmung nahezu ununterscheidbar ineinander über (vgl. EAM, S. 110f.). Diese ambivalente Haltung gegenüber Traumwelten und getrübten Bewusstseinszuständen kann – wie Dirk Kretzschmar hervorhebt – auf einen romantischen Referenzhorizont zurückgeführt werden, der von der Mehrzahl der Demenz-Narrative aufgerufen wird.200 Zwischen realistischer und phantastischer Lesart changierend, kommt es in Hackers Erzählung zu verschiedenartigen Ambivalenzen und Unentscheidbarkeiten, die die Figuren und den Leser gleichermaßen ratlos zurücklassen.201 So 196 Zu literarischen Doppelgängerfiguren vgl. Kapitel 1.2.3.3; oder auch Christof Forderer: IchEklipsen. Doppelgänger in der Literatur seit 1800. Stuttgart / Weimar 1999. Eine neue Aufsatzsammlung aus dem Jahr 2016 beleuchtet das verbreitete Phänomen auch auf intermediale Ebene. Vgl. Deborah Ascher Barnstone (Hg.): The Doppelgänger. Oxford / Bern et al. 2016. 197 E.T.A Hoffmann: Die Elixiere des Teufels, in: Ders.: Sämtliche Poetische Werke, Bd. 1. Hg. von Hannsludwig Geiger. Berlin 1963, S. 9-352. 198 Susan Behuniak sieht eine solche Darstellung von Dementen als lebendige Tote kritisch, wenn sie sagt: »The biomedical model alone cannot account for the degree of terror that surrounds AD [Alzheimer’s disease]. Although a terminal disease can invoke a dread of death, it is not so much death by AD that terrifies but the proposition that patients will be dehumanised through social construction as the ›living dead‹.« Behuniak (2014), S. 77. 199 Zu romantischen Traum-Darstellungen vgl. Detlef Kremer: »Traum als Präfiguration, topologische Schwelle und Verdichtung des romantischen Textes«, in: Peter-André Alt (Hg.): TraumDiskurse der Romantik. Berlin 2005, S. 113-128. 200 Kretzschmar (2012), S. 134. 201 Zu Ununterscheidbarkeiten – auch in Bezug auf Traum und Wirklichkeit – vgl. Kremer (2005), S. 114. Speziell zu Doppelgängerfiguren und phantastischen Elementen in der Romantik vgl. Nicole Sütterlin: »›Phantom unseres eigenen Ichs‹ oder ›verfluchter Doppeltgänger‹? Über
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Vergessen erzählen
handelt es sich bei allen Protagonisten der Erzählung (ganz gleich, ob jung oder alt, gesund oder krank) einhellig um Figuren, »denen es eigentlich gutgeht und die trotzdem eigentümlich heikel und gefährdet sind.«202 Ähnlich wie in einem romantischen Kunstmärchen verschwimmen bei der Figurenzeichnung die Grenzen zwischen gut und schlecht, lebendig und tot, krank und gesund, glücklich und unglücklich, real und phantastisch. Auch das Ende der Erzählung löst diese Zerrissenheit nicht auf und lässt das Schicksal aller Figuren in der Schwebe.
2.3.3
Unsichtbar, unverzichtbar, unheilbar
Demente Ehepartner Zieht man einen Vergleich zwischen Hackers Die Erdbeeren von Antons Mutter und den zuvor analysierten Demenz-Erzählungen, treten vor allem Überschneidungen mit Ulrike Draesners erster Erzählversion von Ichs Heimweg macht alles alleine zu Tage: In beiden Fällen liegen, trotz unterschiedlicher Perspektivierung und Textstruktur, eine vergleichbare Figuren- und Krankheitskonstellation vor.203 Schließlich leiden in den Erzählungen nicht nur die weiblichen Hauptfiguren, sondern auch deren Männer offenbar an Demenz. Wie in Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit erörtert, zeichnet Draesner das Bild einer symbiotischen Paarbeziehung, die die Erkrankung beider Partner begünstigt habe. Diese Krankheitsdarstellung lässt sich, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, ebenso im Fall von Hackers Erzählung mit medizinischen Studien zum gesteigerten Demenz-Risiko bei Ehegatten in Verbindung bringen.204 Denn ähnlich wie Draesner beleuchtet auch Hacker das Verhältnis von Partnerschaft und Demenz und wirft dabei Fragen nach einem etwaigen kausalen Zusammenhang auf. Im Zentrum der Erzählung steht jedoch nicht eine Ansteckungstheorie, sondern die Beziehungsgeflechte zerstörenden Krankheitsfolgen, die Hilde und ihren Mann Wilhelm voneinander separieren. So meint die kranke Hilde: »Wilhelm verstummte. […] Seine Fremdheit war aber nicht die ihre. Das wollte sie ihrer Tochter sagen, daß sie beide Fremde wurden, aber in einer je eigenen Fremdheit; sie hatte Angst, daß Caroline nicht begreifen würde, daß sie allein war, die Unentscheidbarkeit von Hoffmanns ›Der Sandmann‹«, in: Oliver Jahraus (Hg.): Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E.T.A. Hoffmanns ›Der Sandmann‹. Stuttgart 2016, S. 84100. 202 Friedmar Apel: »Mit den Erdbeeren wachsen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.06.2010, o.S. 203 Eine, wenn auch kleine Parallele zwischen den beiden Erzählungen lässt sich bereits in der Namensgebung der Töchter ausmachen, die beide Karolin bzw. Caroline heißen. 204 Zu den Studien, die das gesteigerte Demenz-Risiko bei pflegenden Ehegatten diskutieren, zählen z.B. Schulz / Beach (1999), Sörensen / Pinquart (2003) oder auch Norton et al. (2010). Zur Diskussion des medizinischen Forschungsstands vgl. Textanalyse Kapitel 3.2.3.
2. Demente Eltern
sie konnte Wilhelm nichts erklären, nichts konnte sie mit ihm teilen, darüber war sie verzweifelt, er ließ auch nach, das merkte sie fast täglich, vergaß, worum sie bat, geriet in Unordnung, er hatte auch begonnen, laut zu sich zu sprechen, er redete sich Mut ein […].« (EAM, S. 111) Trotz ihres ähnlichen Schicksals vermögen die Ehepartner, nicht miteinander über ihre Krankheiten zu sprechen. Dieses Kommunikationsproblem führt zur Vereinzelung beider Figuren, die sich ratlos, ja handlungsunfähig gegenüber ihrer Krankheit und ihrer Beziehung zeigen. Eine solche Form der zwischenmenschlichen Sprachlosigkeit tritt am deutlichsten bei Wilhelm und Hilde zu Tage, sie lässt sich jedoch in unterschiedlicher Ausprägung auch bei allen anderen Figuren ausmachen, die sich zunehmend voneinander separieren und sich vertrauten Personen – der eigenen Schwester, dem Bruder oder der Freundin – gegenüber nicht öffnen können. Aufgrund dieser Darstellung erscheint die Demenz-Krankheit in Hackers Erzählung gewissermaßen als Vergrößerungsglas, in dem sich verbreitete, soziale Probleme deutlicher abzeichnen.205 Diese Wertung entspricht Geigers Krankheitsdarstellung, in der Demenz als »Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft« bezeichnet wird (AKE, S. 58). Während Hacker auf die Beziehungsunfähigkeit und Sprachlosigkeit aller Figuren abzielt, erkennt Geigers Ich-Erzähler in der Überforderung des Individuums durch die Globalisierung und Technisierung Demenz-Symptome auf gesellschaftlicher Ebene widergespiegelt. Aufgrund dieses gesellschaftlichen Zustands kommt Geigers Erzähler zu dem Schluss, dass, »der Unterschied zwischen einem Gesunden und einem Kranken vor allem im Ausmaß der Fähigkeit [besteht], das Verwirrende an der Oberfläche zu kaschieren. Darunter tobt das Chaos.« (AKE, S. 58) Eine solche graduelle Auflösung der Kategorien ›gesund‹ und ›krank‹ vollzieht sich auch in Ulrike Draesners erster Erzählversion von Ichs Heimweg macht alles alleine, bei der der Grat zwischen den dementen und scheinbar gesunden Figuren so schmal erscheint, dass er für den Leser letztlich nicht mehr auszumachen ist (vgl. Kapitel 3.2.2).
205 Der Begriff ›Vergrößerungsglas‹ stammt in diesem Zusammenhang von Geiger. Dieser kommt – ähnlich wie Hacker – zu dem Schluss, dass Demenz eine Krankheit sei, »die, wie jeder bedeutende Gegenstand, auch Aussagen über anderes als nur über sich selbst macht. Menschliche Eigenschaften und gesellschaftliche Befindlichkeiten spiegeln sich in dieser Krankheit wie in einem Vergrößerungsglas.« AKE, S. 57. Abgesehen von Geiger bezeichnet auch Martina Zimmermann literarische Demenz-Darstellungen metaphorisch als Spiegel und Linse, bzw. Vergrößerungsglas, das Rückschlüsse auf die Gesellschaft ermögliche. Vgl. Zimmermann (2017b), S. 73.
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2.3.3.1
Der unsichtbare Vater
Ähneln sich Draesners und Hackers Erzählung in der kategorialen Aufweichung von Gesund- und Krankheit, besteht der zentrale Unterschied zwischen den beiden Demenz-Narrativen jedoch darin, dass in Ichs Heimweg macht alles alleine beide Partner zu Wort kommen, während in Hackers Erzählung Wilhelm zu einer der wenigen Figuren zählt, durch die nicht fokalisiert wird.206 Seine Sicht auf die eigene Erkrankung und das Leiden seiner Frau wird außer Acht gelassen oder nur am Rande erwähnt. Dieses frappierende Ungleichgewicht bleibt auch in der Diegese nicht unbemerkt, wenn Anton sich beiläufig eingesteht, dass er »an seinen Vater und seines Vaters Krankheit […] allerdings nur selten« dachte (EAM, S. 35). Eine solche asymmetrische Darstellungsweise der beiden Elternteile und Krankheitserfahrungen ist nicht zufällig gewählt worden, sondern lässt sich als bewusste Schwerpunktlegung identifizieren, die mit familiensoziologischen Theorien in Verbindung steht. Schließlich weist die unsichtbare Vaterfigur Wilhelm Entsprechungen mit der vielbeachteten Theorie des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich auf.207 Dieser konstatiert in den 1960er Jahren, dass sich Deutschland »auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft« befinde.208 Die bereits von Horkheimer diagnostizierte Krise der Autorität in Familie und Staat habe sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs verschärft,209 sodass einst etablierte Familienstrukturen im Wandel begriffen seien. Wie Rolf Stein in seinem Überblicksartikel zur ›vaterlosen Gesellschaft‹ darlegt, lässt sich dieser Wandel als direkte Kriegsfolge erklären:210 Nach 1945 wachsen viele Kinder ohne ihre Väter auf oder erleben die zurückgekehrten Väter als gealtert, ermüdet, ja fremd.211 Überdies hätten Kinder in den Kriegsjahren für ihre Geschwister und ihre Mutter vermehrt Verantwortung
206 Obwohl der erzählerische Fokus auf Calberlah liegt, wird Wilhelms Sicht auf die Dinge außenvorgelassen. Zu den anderen Figuren, die ebenfalls keine Fokalisatoren sind, zählen Antons Berliner Freunde Bernd, Jan und Alix sowie Lydias zweijährige Tochter Rachel. 207 Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. Weinheim / Basel / Berlin 2003. Mitscherlichs entwickelt seine These zum unsichtbaren Vater bereits 1955 in einem Artikel. Vgl. Alexander Mitscherlich: Der unsichtbare Vater, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie Bd. 7 (1955), S. 188-201. 208 Bei diesem Zitat handelt es sich um den Titel des von Mitscherlich erstmals 1964 herausgegebenen Texts, vgl. Mitscherlich (2003). Zur Aktualität der Studie vgl. Rolf Stein: »Familiensoziologische Skizzen über die ›vaterlose Gesellschaft‹: eine Untersuchung über die Standortbestimmung der derzeitigen Gesellschaft«, in: Zeitschrift für Familienforschung Bd. 12, H. 1 (2000), S. 49-71. 209 Max Horkheimer: Theoretische Entwürfe über Autorität und Familie. Allgemeiner Teil, in: Ders.: Studien über Autorität und Familie. Paris 1936, S. 11-76. 210 Stein (2000), S. 53. 211 Vgl. Adolf Köberle: »Vatergott, Väterlichkeit und Vaterkomplex im christlichen Glauben«, in: Wilhelm Bitter (Hg.): Vorträge über das Vaterproblem in Psychotherapie, Religion und Gesellschaft. Stuttgart 1954, S. 26.
2. Demente Eltern
getragen und seien dementsprechend gereift.212 Diese Prozesse führen zu einer Schwächung der Vaterrolle,213 was wiederum weitreichende Folgen für das Vaterbild der später geborenen, sogenannten Baby-Boomer habe.214 Ferner brächten veränderte Arbeitsbedingungen und Berufsformen mit sich, dass das Arbeitsbild des Vaters nicht mehr transparent sei. Mit dem Verlust dieser Anschaulichkeit schlage auch die Wertung des Vaters um, der durch seine Berufstätigkeit nur zu einer verhältnismäßig kurzen Anwesenheit in der Familie imstande sei.215 Der Vater würde durch diese Veränderungen für seine Familie sukzessive unsichtbar. Mitscherlich bezeichnet dieses Phänomen als »Vaterlosigkeit ersten Grades«.216 Diese psycho-sozialen Beobachtungen der ausgehenden 1960er Jahre lassen sich zum Teil mit der Darstellung von Wilhelm übereinbringen, der als schweigsamer und zurückhaltender, ja unsichtbarer Vater beschrieben wird. Während seiner Berufstätigkeit habe er sich der Familie gegenüber abwesend, jähzornig, zuweilen auch argwöhnisch verhalten (vgl. EAM, S. 124f.). Insbesondere die lachlustige und phantasievolle Mutter habe sein Misstrauen geweckt, »es war ein Mißtrauen, das sie als Kinder nicht zu deuten gewußt hatten; jetzt verstand Anton, es war ein erotisches Mißtrauen.« (EAM, S. 94) Von seinen Kindern distanziert, scheint sich Wilhelm aus dem Familienleben und auch seiner Ehe ausgegrenzt zu fühlen, ist ihm die Affäre seiner Frau mit einem Bauern doch nicht verborgen geblieben.217 Allein auf dem kleinen Acker, auf dem Jahr für Jahr die Erdbeeren gepflanzt worden sind, habe die Familie zusammenfinden können, auch wenn der Vater stets abgewandt von allen auf den Goldfischteich geblickt habe (vgl. EAM, S. 126). Dieser Blick in den Goldfischteich entspricht, wenn auch karikiert, dem romantischen Fenstermotiv als Sehnsuchtsperspektive: Der abgewandte Blick auf die friedvolle, aber auch dunkel spiegelnde Wasseroberfläche deutet den Wunsch nach Frieden und
Vgl. Horst Petri: Guter Vater – Böser Vater. Psychologie der männlichen Identität. Bern / München / Wien 1997, S. 24-33. 213 Vgl. u.a. Helmut Schelsky: Wandlungen der Deutschen Familie in Gegenwart. Stuttgart 1955, S. 75ff. 214 Vgl. Stein (2000), S. 52. Während Stein Mitscherlichs Theorie untermauert, dass auch die Babyboomer-Generation unter den kriegsbedingten Folgen der veränderten Vaterrolle gelitten habe, zeigt er wiederum auf, dass die heute geborene Generation ganz andere Konfigurationen von Vaterschaft erlebt. 215 Mitscherlich (2003), S. 220. 216 Mitscherlich (2003), S. 421. 217 Da keine Szene aus Wilhelms Perspektive berichtet wird, können auch keine verlässlichen Aussagen über dessen Gefühlsleben getroffen werden. Jedoch lässt sich aus seinem Verhalten ableiten, dass er Kenntnis von der Affäre seiner Frau hatte. Schließlich hat er den Schuppen, in dem sich Hilde mit ihrem Freund Martin getroffen hat, gegen den Protest aller Familienmitglieder abreißen lassen. Nach dem Abriss des Schuppens beendet Hilde ihre Beziehung zu Martin. Vgl. EAM, S. 126.
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Vergessen erzählen
Naturverbundenheit an und ist Ausdruck von Introspektion und Einsamkeit.218 Dieser identifikationsstiftende Sehnsuchtsort ist in den 2000er Jahren durch Hildes Krankheit für alle Familienmitglieder bedroht. Denn dadurch dass der Ritus der gemeinsamen Erdbeerernte im Schwinden begriffen ist, kommt es schließlich zu einer Auflösung der letzten familiären Bindungen.
2.3.3.2
Mutter, Grundlage des Lebens
Während die Vaterfigur nur durch ihre Unsichtbarkeit auffällt, bekleidet die Mutterfigur in der Erzählung eine zentrale Rolle. Hierin unterscheidet sich der Text von den beiden zuvor analysierten Wirklichkeitserzählungen von Jens und Geiger, in denen (auch jenseits der Demenz-Krankheit) die Rolle der Väter als ausschlaggebend definiert wird (vgl. Textanalyse, Kapitel 2.1.4 und 2.2.3). Die jüngeren Protagonisten von Die Erdbeeren von Antons Mutter beschreiben hingegen jeweils ihre Mütter als hauptsächlich prägende Figur. Dies trifft nicht nur auf Hilde, sondern auch auf Rüdigers und Martins Mütter zu; die Väter der beiden Fremdenlegionäre bleiben nahezu unerwähnt. Im zweiten Handlungsstrang wird überdies Lydias Mutterdasein beleuchtet, die sich mit der Geburt von Rachel, deren Namen auf Hebräisch ›Mutterschaft‹ bedeutet, vor dem endgültigen sozialen Abstieg retten kann. Schnell wird deutlich, dass Hackers Erzählung das Mutter-Kind-Verhältnis als unumstößliche Grundordnung benennt (vgl. EAM, S. 90), wobei der drohende Tod der Mutter deren Kinder in existenzielle Krisen treibt. Anton fürchtet sich beispielsweise davor, dass er Hilde »[…] auch nicht mehr sagen hören [werde], was lange der Grund seines Lebens gewesen war, das ist mein Sohn und mehr noch: das ist mein Kind, und seine Replik – meine Mutter – war wie die Nachahmung einfachster Laute gewesen, fast etwas wie Gezwitscher, eine Amsel in diesem, eine in jenem Geräusch, Ruf und Antwortruf, das war, dachte Anton, die Grundlage von allem, danach kamen erst Frage und Antwort.« (EAM, S. 23) In diesem Zitat wird die Beziehung zwischen Mutter und Sohn als biologisches Urmuster beschrieben, dass sich genauso im Tierreich wiederfindet. Diese Einschätzung teilt Anton mit seiner Schwester, die über Hilde und ihre Beziehung zueinander denkt: »dieser Mensch war ihre Mutter, in einer Ordnung, in die sie beide eingefügt waren, solange überhaupt […] irgendeine Ordnung einen Sinn hatte.« (EAM, S. 90) Die These, dass es sich bei der Mutter stets um die primäre Bezugsperson handele, wird in zahlreichen sozio-anthropologischen, psychologischen oder auch psychoanalytischen Arbeiten verhandelt (an dieser Stelle sei nur auf Sigmund 218
Zum romantischen Fenster-Motiv vor allem in der Malerei vgl. Erik Forssman: »Fensterbilder von der Romantik bis zur Moderne«, in: Erik Forssman / Sten Karling (Hg.): Konsthistoriska studier. Stockholm 1966, S. 289-320.
2. Demente Eltern
Freud, Carl Gustav Jung und Julia Kristeva verwiesen),219 wobei die starke Gefühlsbindung hauptsächlich auf Schwangerschaft und Geburt zurückgeführt wird.220 Das daraus resultierende Zweierbündnis firmiert unter dem Begriff der ›MutterKind-Dyade‹ – ein Bündnis, das der Sozialisationstheoretiker Alfred Lorenzer als die erste Schnittstelle zwischen Kind und Gesellschaft benennt.221 Dieses Bündnis spielt nicht nur in den Natur- und Sozialwissenschaften eine große Rolle. Auch im christlichen Kulturkreis ist das Thema Mutterschaft, vor allem die Mutterrolle der jungfräulichen Maria, von großer Bedeutung. Dass Hackers Erzählung auf eben diese christlichen Vorstellungen von Mutterschaft referiert, drückt sich auch im obenstehenden Zitat von Anton aus: Neben dem Verweis auf das Tierreich bezieht sich die Textstelle auf eine Formulierung im neuen Testament, in der Jesus am Kreuz kurz vor seinem Ableben Maria und seinen Lieblingsjünger Johannes zu Mutter und Sohn erklärt.222 Durch die intertextuelle Referenz auf eben diese Szene wird die Mutter-Kind-Beziehung in Hackers Erzählung als gottgegebene, ja heilige Verbindung benannt,223 wobei Hildes Figurenzeichnung mit der Darstellung der ›Mater Dolorosa‹, der Schmerzensmutter, übereingebracht werden kann. Scheint dieser Bezug auf den ersten Blick nicht überzeugend (schließlich erfreuen sich Hildes Kinder bester Gesundheit), finden sich jedoch zahlreiche Hinweise, dass Hildes Mutterschaft von der stetigen Sorge um das Wohl und Überleben ihrer Kinder gekennzeichnet ist. Von der DemenzErkrankung gezeichnet und um die zeitliche Orientierung gebracht, sorgt sie sich beispielsweise auch noch im hohen Alter darum, dass ihre Tochter einen plötzlichen Kindstod sterben könne und ihr Sohn für immer alleine bleibe (vgl. EAM, Carl Gustav Jung: Die psychologischen Aspekte des Mutter-Archetyps, in: Ders.: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste. Gesammelte Werke, Bd. 9.1. Hg. von Lilly Jung-Merker / Elisabeth Rüf. Zürich 1954, S. 89-123. 220 Das Forschungsfeld zur Rolle der Mutter ist schier unüberblickbar. Allerdings liegen nur wenige, aktuelle Monographien oder Sammelbände zu diesem Thema vor. Als ersten, wenn auch zuweilen unstrukturierten Einstieg in die zentralen Ansätze Sigmund Freuds, Carl Gustav Jungs und Julia Kristevas vgl. Mary Jacobus: First Things. The maternal Imaginary in Literature, Art and Psychoanalysis. New York / London 1995. Facettenreiche Untersuchungen ästhetischer Mutter-Darstellungen finden sich im Sammelband von Renate Möhrmann (Hg.): Verklärt, verkitscht, vergessen: die Mutter als ästhetische Figur. Stuttgart / Weimar 1996. 221 Vgl. Alfred Lorenzer: Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie. Frankfurt a.M. 1972, S. 40. 222 Vgl. Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Stuttgart 2016: Joh 19, 26-27: »Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: Frau, siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.« Auf diesen Zusammenhang hat bereits Wetzstein (2010), S. 181, hingewiesen. 223 Zur christlichen Mutter-Kind-Darstellungen vgl. Helga Möbius: »Mutter-Bilder. Die Gottesmutter und ihr Sohn«, in: Renate Möhrmann (Hg.): Verklärt, verkitscht, vergessen: die Mutter als ästhetische Figur. Stuttgart / Weimar 1996, S. 71-90.
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S. 8). Im halbdunklen Schlafzimmer ringt sie um Fassung und weint aus Sorge um ihre Kinder. Die Darstellung von Hilde als sorgenvolle, ja schmerzensreiche Mutter steht in der Tradition christlicher Mariendarstellungen, die – abgesehen von der Geburt Christi – stets ohne ihren Ehemann abgebildet wird. Über diesen zentralen Bezug lässt sich auch ein Zusammenhang mit Julia Kristevas wirkmächtigem Essay Stabat Mater herstellen, der auf das gleichnamige, mittelalterliche Gedicht referiert.224 Kristeva setzt sich in diesem Essay mit dem Thema Mutterschaft auseinander und bemängelt die unterbliebene Reflexion in Philosophie und Feminismus.225 Der Essay gliedert sich stellenweise in zwei parallele Spalten, wobei in der rechten Spalte philosophische, psychoanalytische und christliche Ansätze zum Mutter-Dasein diskutiert werden, während in der linken Spalte Kristevas eigenen Erfahrungen als Mutter, vor allem in Bezug auf Schwangerschaft und Geburt, ästhetisch gewendet werden.226 Die Zweiteilung des Druckbilds erinnert an Hackers Text Alix, Anton und die anderen (der erste Teil der geplanten Erzähltrilogie), der ebenfalls in zwei, nebeneinanderstehende Spalten unterteilt ist und das Thema Elternschaft beleuchtet. Dabei entwickelt sich, ähnlich wie bei Kristeva, in der einen Spalte das Geschehen, während in der anderen Spalte Kommentare und Informationen zu den Figuren nachgeliefert werden.227 In Die Erdbeeren von Antons Mutter leistet Hacker wiederum Kristevas Forderung Folge, Mutterschaftsdiskurse neu zu führen,228 in diesem Fall auch im Zusammenhang mit dem demographischen Wandel und Alterserkrankungen wie Demenz. Dabei greift sie auch auf christliche Mutterschaftskonstruktionen zurück und wertet die Mutter-Kind-Dyade als sinnhafte und einzig beständige Ordnung auf. Entfällt diese Ordnung durch den Tod der Mutter (oder deren Demenz-Erkrankung), stürzen deren Kinder in schwerwiegende Sinnkrisen; allen
224 Julia Kristeva: Stabat Mater, in: Poetics Today. The Female Body in Western Culture: Semiotic Perspectives Bd. 6, H. 1 / 2 (1985), S. 133-152. Zur mittelalterlichen Gedichtfassung und deren Editionsgeschichte vgl. Andreas Kraß: Stabat mater dolorosa. Lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter. München 1998. 225 Vgl. Kristeva (1985), S. 133. 226 Zum Druckbild und der stilistischen Untergliederung von Kristevas Essay vgl. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: »Verlorene Mütterlichkeit – Über einen blinden Fleck von Gender«, in: Akzente für Theologie und Dienst Bd. 1 (2016), S. 11-16, S. 13. 227 Vgl. Hacker (2009), S. 7ff. 228 Vgl. Kristeva (1985), S. 150: »Still, it is not enough to ›denounce‹ the reactionary role that mothers have played in the service of ›dominant male power.‹ It is necessary to ask how this role relates to the bio-symbolic latencies implicit in maternity; and having done that, to ask further how, now that the myth of the Virgin is no longer capable of subsuming those latencies, their surfacing may leave women vulnerable to the most frightful forms of manipulation, to say nothing of the blindness, the pure and simple contempt, of progressive activists who refuse to take a closer look at the question.«
2. Demente Eltern
voran, wenn diese selbst keine Nachkommen haben. Anton und Caroline, die beide ehe- und kinderlos geblieben sind und sich als Geschwister nicht nur räumlich voneinander entfernt haben, droht mit Hildes Tod die komplette Vereinzelung. Vor diesem Hintergrund scheint, die Kinderlosigkeit das ausschlaggebende Problem zu sein, heißt es doch an einer Stelle in der Erzählung: »Man hat das Leben doch, damit man es weitergibt« (EAM, S. 36). Dieser »Art Staffellauf« ist weder Anton noch Caroline geglückt (ebd.), was nicht nur Auswirkungen auf ihr eigens Befinden, sondern auf die gesamte Familienstruktur hat. Hacker beschreibt Nachkommen als zentrale Bindeglieder zwischen den Generationen. Fehlt eine (Enkel-)Kindergeneration, lösen sich familiäre Bande und ehemalige Rollen auf, was schließlich – wie der Bauer Helmer in der Erzählung konstatiert – auch zur geistigen Schwächung der Älteren führen kann (vgl. EAM, S. 141). Aufgrund dieser Schlussfolgerung erscheint Demenz als Symptom der sich wandelnden Familienstrukturen.
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3. Demente Partner
Wie der vorangegangene Analyseblock vor Augen führt, behandeln literarische Demenz-Narrative aus Sicht der Kinder schwerpunktmäßig die gravierenden Verschiebungen innerhalb des generationsbedingten Hierarchieverhältnisses: Die zum Teil autobiographischen Ich-Erzähler und Hauptfiguren von Jens, Geiger und Hacker stellen jeweils fest, dass sich im Laufe des elterlichen Demenzleidens die Eltern-Kind-Beziehung umkehrt. Der einstige Schutzbefohlene übernimmt dabei sukzessive Verantwortung für das kranke Elternteil und spricht schließlich an dessen statt. Diese Umkehr der familiären Rollen ist für Demenz-Texte, die aus der Perspektive der Kinder verfasst sind, charakteristisch und unterscheidet sie (zumindest graduell) von den Krankheitsschilderungen der Ehepartner. Während Kinder sich mit dem alten und neuen Rollenverhältnis des betroffenen Elternteils beschäftigen und – aufgrund der krankheitsbedingt verschobenen Parameter – ihre eigene Position innerhalb der Familie neu ausloten, wenden sich Ehegatten von Demenzkranken anderen Problemfeldern zu:1 Sie stellen Fragen nach Pflichten und Rechten der Kranken und deren Angehörigen, Fragen nach der Würde und etwaigen Wünschen des Dementen, aber auch Fragen nach der eigenen geistigen Gesundheit. Darüber hinaus geraten Themenkomplexe wie Partnerschaft und Liebe sowie Zweisamkeit und Einsamkeit in den Fokus. Aufgrund dieser thematischen Schwerpunktlegung wird der Sprechakt des gesunden Partners über dessen kranken Gatten in literaturkritischen und -wissenschaftlichen Auseinandersetzungen weniger als Anmaßung eingeordnet als es bei Kindern von Demenzkranken der Fall ist (vgl. Textanalyse, Kapitel 3.3). Diese unterschiedliche Einschätzung liegt vor allem in der – zumindest potentiell – ebenbürtigen Beziehung zwischen Ehegatten begründet, die zwar ebenfalls von der Krankheit beeinflusst wird, aber nicht im selben Maße eine Umkehr der Verhältnisse erfährt, wie es bei Kinder-Narrativen der Fall ist. Im Wissen um diese unterschiedliche Bewertung werden im folgenden Analyseblock Ehe-Narrative auf ihre Darstellungsformen von Demenz-Erkrankungen untersucht.
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Zum unterschiedlichen Hierarchiegefälle und dessen Bewertung vgl. Vedder (2012), S. 279.
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Vergessen erzählen
3.1
Klagelied und Heiligenverehrung – Elegy for Iris
Innerhalb des Textkorpus dieser Arbeit sticht John Bayleys 1998 veröffentlichtes Narrativ Elegy for Iris hervor, handelt es sich dabei doch um einen Demenz-Text, der eine Vorreiterrolle innerhalb des gesamten Diskurses einnimmt:2 International betrachtet gilt Bayleys Text als prominentestes Beispiel eines Alzheimer-Narratives.3 Die Popularität dieses Texts lässt sich vor allem mit dem Bekanntheitsgrad der dementen Hauptfigur in Zusammenhang bringen – der Schriftstellerin und Philosophin Iris Murdoch. Noch zu Lebzeiten wird Murdoch als zentrale Vertreterin der englischen Gegenwartsliteratur eingeordnet; neben ihren philosophischen Schriften verfasst sie bis zu ihrem Tod insgesamt 27 Romane, aber auch Theaterstücke und Gedichtbände.4 Vor dem Hintergrund dieser literarischen Produktivität und Murdochs akademischem Werdegang – sie promoviert bei Ludwig Wittgenstein und lehrt in Oxford am St. Anne’s College – werden die Folgen der AlzheimerKrankheit, an der Murdoch seit Mitte der 1990er Jahre leidet, als besonders drastisch wahrgenommen.5 Murdochs kontrastreichem Leben zwischen Gesund- und Krankheit, zwischen Schaffen und Vergehen widmet sich ihr Ehemann, der Dozent, Literaturkritiker und Schriftsteller John Bayley, in seinem Text Elegy for Iris. Als Murdoch schließlich im Jahr 1999 verstirbt, veröffentlicht Bayley einen weiteren, autobiographischen Band, Iris and her Friends, der als Fortsetzung von Elegy for Iris angelegt ist und das letzte gemeinsame Jahr des Paars beleuchtet. Beide Texte erreichen nicht zuletzt durch Richard Eyres Verfilmung Iris, der sie als Drehbuchvorlage gedient haben, im Jahr 2001 eine breite Öffentlichkeit.6 Im selben Jahr, in dem Eyres prominent besetzte Verfilmung mit Kate Winslet, Judi Dench und Hugh
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Etliche Demenz-Narrative und Sekundärtexte beziehen sich auf Bayleys Elegy for Iris. Bei den in dieser Arbeit untersuchten Texten lassen sich beispielsweise offen markierte Referenzen auf Bayley in Ulrike Draesners und Tilman Jens’ Demenz-Texten ausmachen. Vgl. Textanalyse, Kapitel 2.1.2.2 und 3.2.1 dieser Arbeit. Vgl. Helbig (2005), S. 49. Ähnliche Einordnungen nehmen auch Zimmermann (2017a), S. 51, und Vedder (2012), S. 277, vor. Einen Überblick über die britischen Reaktionen in Feuilleton und Wissenschaft gibt Rowe (1999). Über diese Rezeption hinaus finden sich zahlreiche internationale Beiträge, wie z.B. Roberto Gilardi: »Iris Murdoch e il Romanzo Filosofico: la Testimonianza di John Bayley«, in: Rivista di Filosofia Neo-Scolastica Bd. 94, H. 2 (2002), S. 315-345. Die biographischen Angaben gehen auf folgenden umfangreichen Lexikonartikel des Munzinger Archivs zurück: »Dame Iris Murdoch«, in: Internationales Biographisches Archiv Bd. 22 (1999). Martina Zimmermann betont, dass besonders bei intellektuellen Größen wie Walter Jens oder Iris Murdoch die Unterschiede zwischen dem gesunden und dementen Geisteszustand in den Blick rückten. Demenz würde in diesen Fällen nicht so sehr als Alterskrankheit, denn als schicksalshafte Auslöschung eines großen Geistes eingeordnet. Vgl. Zimmermann (2017a), S. 69. Richard Eyre (Reg.): Iris. GB / USA 2001.
3. Demente Partner
Bonneville in die Kinos kommt, veröffentlicht Bayley schließlich den letzten Band der Trilogie, Widower’s House, der Bayleys Witwer-Dasein zum Gegenstand hat.7 Für den englischsprachigen Markt in Großbritannien und den USA erscheint die Trilogie bei zwei Verlagshäusern, die die ersten beiden Texte allerdings unter verschiedenen Titeln führen: So gibt der britische Gerald Duckworth-Verlag Bayleys ersten Band im Jahr 1998 unter dem Titel Iris: A Memoir of Iris Murdoch heraus, während der Text beim amerikanischen Verlag St. Martins Press unter dem Titel Elegy for Iris geführt wird.8 1999 veröffentlicht Duckworth Bayleys zweiten Band unter dem Titel Iris and the Friends. A Year of Memories. Ein Jahr später erscheint derselbe Text bei St. Martins Press unter der Überschrift Iris and her Friends. A Memoir of Memory and Desire.9 Da die Ausgaben des amerikanischen Verlags der internationalen Presse und Forschung hauptsächlich als Textgrundlage dienen, greift auch die vorliegende Arbeit darauf zurück. Dementsprechend firmieren Bayleys DemenzTexte im Folgenden unter den Titeln Elegy for Iris und Iris and her Friends. Der dritte Band, Widower’s House, der das Witwerdasein zum Gegenstand hat, wird für diese Untersuchung außer Acht gelassen, da es sich dabei nicht um ein Demenz-Narrativ handelt. Bekenntnisliteratur oder Liebeszeugnis? Die internationalen Reaktionen auf Bayleys Elegy for Iris fallen in Presse und Forschung, ähnlich wie bei den meisten autobiographischen Demenz-Texten, zunächst gemischt aus: Auf der einen Seite werten Rezensenten Bayleys Elegy for Iris als Ehe-Bericht und wichtiges Krankheitszeugnis.10 Auf der anderen Seite wird der Text (wenn auch weniger stark als Tilman Jens’ Demenz. Abschied von meinem Vater) beim Erscheinen als Tabubruch wahrgenommen. So wird der Autor und Ehegatte Bayley mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe voyeuristische, ja herabwürdigende Bekenntnisliteratur verfasst,11 die nicht im Sinne von Iris Murdoch gewesen sei. In der Folge sieht sich der britische Schriftsteller A. N. Wilson, der mit Murdoch befreundet gewesen ist, sogar dazu veranlasst, eine literarische Gegendarstellung zu entwerfen: In Iris as I knew her zeichnet er ein gänzlich anderes Bild von Mur-
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10 11
John Bayley: Widower’s House. London 2001. Die britische Ausgabe des Texts lautet John Bayley: Iris: A Memoir of Iris Murdoch. London 1998. Vgl. John Bayley: Iris and the Friends. A Year of Memories. London 1999 und John Bayley: Iris and her Friends. A Memoir of Memory and Desire. New York 2000. Letztgenannter Text wird im Folgenden unter der Abkürzung »IHF« unter Angabe der Seitenzahl im laufenden Text zitiert. Vgl. z.B. Rowe (1999), S. Vgl. Himmelfarb (1999), S. 35. Eine umfassende Definition des Begriffs ›Bekenntnisliteratur‹ bietet Sebastian Meixner: s.v. »Bekenntnisliteratur«, in: Frauke Berndt / Eckart Goebel (Hg.):Handbuch Literatur & Psychoanalyse. Berlin 2017, S. 424-444.
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doch, indem er sie jenseits der Krankheit charakterisiert und deren zahlreiche Affären beleuchtet.12 Die deutschsprachige Literaturwissenschaft hat sich Elegy for Iris nur bedingt zugewendet: Neben den zahlreichen Erwähnungen als frühes Beispiel eines Demenz-Narrativs,13 bleibt eine konkrete Analyse und Interpretation des Textes weitestgehend aus. Präzise, wenn auch meist nur punktuelle Untersuchungen von Bayleys Krankheitsdarstellung finden sich hingegen in internationalen Forschungsbeiträgen. In diesem Zusammenhang sei allen voran auf Martina Zimmermanns Arbeit The Poetics and Politics of Alzheimer’s Disease Life-Writing hingewiesen, in der Bayleys Text in enger Anbindung an weitere Demenz-Narrative analysiert und interpretiert wird.14 Ausgehend von Zimmermanns bisherigen Forschungserkenntnissen wird im Folgenden der kontextuelle Bezugsrahmen der ausgehenden 1990er Jahre herausgearbeitet sowie textnah auf die DemenzSchreibweisen eingegangen.
3.1.1
Brüche, Übergänge, Kontinuitäten: Zeit- und Textstrukturen
3.1.1.1
Now and Then
Wie die vorangegangene Untersuchung der Textbeispiele von Frisch, Bernlef, Draesner, Jens, Geiger und Hacker zeigen konnte, zeichnen sich diese Demenz-Texte mehrheitlich durch eine Zersetzung der Textoberflächen aus: Fehlende Kapitelunterteilungen, der häufige Verzicht auf Anführungszeichen, unregelmäßige Collageeinschübe, eine Vielzahl literarischer Zitate und eine Zergliederung der Satzspiegel erschweren in den jeweiligen Texten häufig den Lesefluss. Eine solche Überformung der Textstruktur soll (wie in den Textanalysen, Kapitel 1.1.3, 1.2.3 oder 1.3.2, dieser Arbeit gezeigt worden ist) den krankheitsbedingten Verlust von Zusammenhang und Sprache sowie die aufkommende Verwirrung der Figuren vermitteln. Die Struktur von Elegy for Iris steht diesen mimetischen Gestaltungsweisen konträr gegenüber. So zeichnet sich Bayleys autobiographische Demenz-Erzählung durch eine klare Zweiteilung aus, die den Text in die beiden großen Blöcke »Then« and »Now« spaltet.15 Diese zwei übergreifenden Abschnitte sind wiederum unterschiedlich gegliedert: Auf die einleitende Überschrift »Then« folgt zunächst ein Foto der jungen Iris (EFI, S. 1). Daran schließen sich acht, in etwa gleichlange Kapitel an, die überwiegend im Präteritum verfasst sind und von Iris’ Vergangenheit handeln.16 Auf diese acht Kapitel folgt der zweite, deutlich schmalere Block »Now«, 12 13 14 15 16
A. N. Wilson: Iris as I knew her. London 2003. Vgl. Z.B. Helbig (2005), S. 49 oder auch Kuhlmey (2013), S. 271. Vgl. Zimmermann (2017a), S. 53ff. Zur Zweiteilung des Texts vgl. u.a. Madeline Merlini: »Review: ›Iris: A Memoire of Iris Murdoch‹«, in: Iris Murdoch Newsletter Bd. 13 (1999), S. 8-9, hier S. 8. Zum unterschiedlichen Gebrauch der Tempora in Elegy for Iris vgl. Zimmermann (2017a), S. 53.
3. Demente Partner
dem ein Foto der gealterten, mittlerweile dementen Iris vorangestellt wird (EFI, S. 223). Anders als »Then«, ist dieser Abschnitt hauptsächlich im Präsens verfasst und stellt das letzte Kapitel des gesamten Buchs dar, das wiederum von elf tagebuchartigen Einträgen untergliedert wird.17 Während die vorangegangenen Kapitel vom Werdegang der gemeinsamen Beziehung und auch von Iris’ Kindheit handeln, gibt der Abschnitt »Now« Einblicke in den intensiven Pflegealltag des Ich-Erzählers. Die tagebuchartige Notatstruktur sowie der Gebrauch des Präsens vermitteln in diesem Zusammenhang den Eindruck, dass die Handlung (und somit auch Iris’ Lebensgeschichte) noch nicht abgeschlossen ist. Gleichzeitig wird die Erzählgegenwart dabei nicht so sehr als einheitliche Lebensphase dargestellt, sondern scheint sich, aufgrund von Iris’ voranschreitender Krankheit von Tag zu Tag unterschiedlich zu gestalten.
3.1.1.2
Der fließende Übergang
Legt die strukturelle Trennung zwischen »Then« und »Now«, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, auch eine strikte Abgrenzung von Gesundheit und Krankheit nahe, kommt es auf inhaltlicher Ebene jedoch zu einer Engführung dieser Kategorien, die auf diese Weise ihre Trennschärfe verlieren.18 Dies geschieht beispielsweise, wenn im Abschnitt »Then« die Vergangenheit der gesunden, jungen Iris immer wieder mit deren aktuellem Gesundheitszustand verknüpft wird, wobei sowohl Unterschiede als auch Parallelen zwischen den beiden Zuständen zu Tage treten. So berichtet der Ich-Erzähler von der gemeinsamen, kindlichen Sprache – voller privater Wortwitze und Verniedlichungen –, die Iris und er seit ihrem ersten Kennenlernen miteinander pflegen und auch in Zeiten der Krankheit als Medium der emotionalen Verständigung weiterführen können: »In any case, she has forgotten public language, although not our private one […].« (EFI, S. 127f.) Wie Martina Zimmermann aufzeigt, lässt sich an den Verknüpfungen zwischen vergangenem und gegenwärtigem Gesundheitszustand erkennen, dass der Text darauf abzielt, neben den demenzbedingten Umbrüchen auch Kontinuitäten und Sinnzusammenhänge herzustellen.19 Diese Theorie lässt sich an zahlreichen Textstellen in Elegy for Iris festmachen. Beispielsweise betont der Ich-Erzähler, dass ihm Iris trotz ihrer Erkrankung unverändert vorkommt: »[…] her presence as she is seems as it always was, and as it always should be. I know she must once have been different, but I 17
18
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Die Tagebucheinträge beginnen am 1. Januar 1997, darauf folgen Einträge desselben Jahres vom 20. Februar, 1. und 30. März, 15. April, 10. Mai, 4. Juni, 20. und 30. November sowie 14. und 25. Dezember 1997. Vgl. EFI, S. 255-275. Zur Dichotomie von Gesundheit und Krankheit in der Moderne seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert vgl. vor allem die Einleitung der Habilitationsschrift von Thomas Anz: Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart 1989, insbesondere S. 1-52. Vgl. Zimmermann (2017a), S. 56.
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have no true memory of a different person.« (EFI, S. 73). Auch wenn sich der Erzähler sicher ist, dass er sich täuschen muss, scheint Iris, immer noch dieselbe Person zu sein.20 Ihre Erkrankung habe nur dazu geführt, dass bereits vorhandene Charakterzüge, wie ihre Gutmütigkeit und Neugierde, pointierter zu Tage träten (vgl. EFI, S. 76). Eine solche, auf Kohärenz abzielende Sichtweise findet sich häufig in literarischen Krankheitserzählungen, die darauf ausgelegt sind, das jeweilige Leiden durch eine erzählerische Einbettung greifbar, ja beherrschbar zu machen.21 Auch literarische Demenz-Darstellungen, wie die in dieser Arbeit untersuchten Textbeispiele, können als Versuch verstanden werden, sich der unheilbaren Krankheit im Medium Literatur anzunähern. Anders als bei vielen physischen Leiden stehen bei den meisten Demenz-Erzählungen jedoch die krankheitsbedingten geistigen Einbußen und die Frage nach der eigenen Identität im Vordergrund. Um diesen fundamentalen Prozess literarisch zum Ausdruck zu bringen, tendieren viele Autoren dazu, den Verlust geistiger Fähigkeiten und charakterlicher Eigenschaften auf die Erzählstruktur zu übertragen.22 Diese Beobachtungen lassen sich mit den Thesen der viel rezipierten Arbeit The Wounded Storyteller des amerikanischen Soziologen Arthur W. Frank in Zusammenhang bringen.23 Frank unterscheidet hierin zwischen drei Kategorien von Krankheitserzählungen: den ›Restitution Narratives‹, den ›Chaos Narratives‹ und den ›Quest Narratives‹, wobei seiner Einteilung zufolge die meisten Demenz-Texte unter die zweite Kategorie fallen:24 »Chaos is the opposite of restitution: Its plot imagines life never getting better. Stories are chaotic in their absence of narrative order. Events are told as the storyteller experiences life: without sequence or discernable [sic!] causality.« (Frank (1995), S. 97) Franks Kategorie des ›Chaos-Narratives‹ trifft insbesondere auf die untersuchten Demenz-Innenperspektiven von Frisch, Bernlef und Draesner, aber auch auf die Texte von Jens und Hacker zu, die den Sprach- und Orientierungsverlust der dementen Protagonisten auch durch die Semantik der Form zum Ausdruck bringen. 20 21
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23 24
Zur unveränderten Persönlichkeit von Iris vgl. Joe Moran: »Aging and Identity in Dementia Narratives«, in: Cultural Values Bd. 5, H. 2 (2001), S. 245-260. Einen Überblick über die Funktion verschiedener Krankheitserzählungen bieten Jagow / Steger (2009). Zu den vielfältigen literarischen und medizinischen Krankheitsschreibweisen vgl. den Sammelband von Yvonne Wübben (Hg.): Krankheit schreiben. Aufzeichnungsverfahren in Medizin und Literatur. Göttingen 2013. Speziell zu Demenz-Narrativen vgl. Vedder (2012). Vgl. Daniela Ringkamp / Sara Strauß / Leonie Süwolto (Hg.): »Introduction / Einleitung«, in: Diess. (Hg.): Demenz und Subjektivität. Ästhetische, literarische und philosophische Perspektiven. Frankfurt a.M. et al. 2017, S. 9-24, hier S. 14. Vgl. Frank (1995), S. 115. Auch Martina Zimmermann bezieht sich auf Franks Begrifflichkeiten, indem sie gewisse Demenz-Texte als Chaos-Narratives einordnet. Vgl. Zimmermann (2017a), S. 25.
3. Demente Partner
Die jeweilige Gestaltung der Textoberfläche zeugt jedoch nicht allein von blankem Chaos, sondern zeichnet sich vorwiegend durch elliptische, meist anachronische Strukturen aus, die nur scheinbar ohne Ordnung sind (vgl. Vergleichslinien, Kapitel 2). John Bayley hingegen beschreitet mit Elegy for Iris einen anderen Weg: Von vornherein nähert sich der Text mittels einer klaren Kapitel-Einteilung und chronologischen Tagebuchstruktur der Krankheit auf einer zusammenhängenden Weise. Aus diesem Grund lässt bereits die Textoberfläche auf eine kohärente, auf Kontinuitäten abzielende Krankheitsdarstellung schließen, bei der die demenzbedingten Veränderungen weniger als krasse Umbrüche, denn als Übergänge geschildert werden. Diese Wertung lässt sich auch am Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit erkennen: Im Gegensatz zur Mehrzahl der bisher untersuchten Texte erstreckt sich die Handlung von Elegy for Iris über einen verhältnismäßig langen Zeitraum, wobei die Krankheitsgeschichte narrativ in Iris Murdochs gesamte Biographie eingebettet ist:25 In chronologisch aufeinanderfolgenden Analepsen zeichnet der IchErzähler zunächst im Abschnitt »Then« den Anfang seiner Beziehung zu Iris nach. Im gleichen Zuge gibt er Aufschluss über das damalige akademische und gesellschaftliche Leben in Oxford und Iris’ Kindheit. Gemeinsame Freunde, Kollegen, Bekannte, Familienmitglieder und auch Liebschaften werden erwähnt, sodass vor dem Auge des Lesers die gesellschaftlichen Kreise der erzählten Welt entstehen.26 Während die ersten Beschreibungen bis zu Iris’ Kindheit in die 1920er Jahre zurückgehen, reichen die Schilderungen ihres aktuellen, gesundheitlichen Zustands in die erzählte Gegenwart des Jahres 1997. Tatsächlich nimmt die Darstellung des pflegerischen Alltags im neunten Kapitel »Now« nur ein Viertel der gesamten Erzählzeit ein, nämlich 50 Seiten (vgl. EFI, 255-275) – eine erzählerische Gewichtung, die Iris’ Demenzerkrankung als letztes, aber nicht als allesbestimmendes Kapitel ihrer Vita einordnet.
3.1.2
Wissensgeschichtlicher Kontext
»Iris’s mother, herself a victim of Alzheimer’s…« In den bisher untersuchten Textbeispielen kursieren unterschiedliche Erklärungsansätze für das ursächliche Aufkommen von Demenz-Erkrankungen: Während 25
26
Während sich die meisten Demenz-Erzählungen auf einen kurzen Zeitraum (ein Tag, wenige Wochen oder Monate) beschränken, um die akuten Krankheitsentwicklungen aufzuzeigen, weisen Tilman Jens’ und Arno Geigers Texte eine vergleichbare Zeitgestaltung mit weitzurückreichenden Analepsen auf. Bei Elegy for Iris handelt es sich allerdings mit knapp 270 Seiten um den umfangreichsten Demenz-Text des Korpus. Auch in diesem Punkt ähnelt Demenz. Abschied von meinem Vater dem Prätext Elegy for Iris, schließlich zeichnet Jens in seiner Wirklichkeitserzählung ebenfalls die gesellschaftlichen und beruflichen Kontexte seines Vaters nach. Vgl. Kapitel 2.1.2.1 dieser Arbeit.
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Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän einen allumfassenden Erosionsprozess als Ursache benennt, führt Jens’ Essay Demenz. Abschied von meinem Vater psychosoziale Ursachen als mögliche Auslöser der Demenz-Erkrankung an (vgl. Textanalyse, Kapitel 1.1.4 und 2.1.3). John Bayley wiederum bringt die AlzheimerDemenz seiner Frau mit einer anderen Ursache in Verbindung. So erklärt er, dass bereits Iris’ Mutter an der häufigsten Form der Demenz, der Alzheimer-Krankheit gelitten habe. Zum damaligen Zeitpunkt wären weder das Krankheitsbild noch die Behandlungen besonders ausdifferenziert gewesen. Auch hätten die zuständigen Ärzte nichts von einer möglichen Vererbbarkeit erwähnt: »By then, Iris’s mother, herself a victim of Alzheimer’s, had died. It had never for a moment occurred to us that the disease, or the gene for it, could be hereditary. Indeed, apart from the blanket term ›senile dementia‹, the condition had then no specific name, nor did the specialists we consulted about her mother’s case prove in the least helpful, beyond suggesting various physiological explanations and attempting to treat them.« (EFI, S. 91) Wie aus dem Zitat hervorgeht, stellt Bayley einen Zusammenhang zwischen der Alzheimer-Erkrankung seiner Frau auf der einen Seite und der Erkrankung deren Mutter auf der anderen Seite her, wobei er ein spezielles Gen als Ursache für die Vererbbarkeit der Krankheit benennt. Tatsächlich wird schon seit Beginn der Alzheimer-Forschung diskutiert, welchen Einfluss genetische Faktoren auf den Ausbruch seniler und präseniler Alzheimer-Demenz haben.27 Wie der spätere Mitbegründer der deutschen Alzheimer Gesellschaft, der Psychiater Hans Lauter, in einer Studie aus dem Jahr 1961 festhält, haben bereits vereinzelte, genealogische Studien aus den 1930er, 40er und 50er Jahren nahegelegt, »dass bei der Entstehung der Alzheimerschen Krankheit wenigstens in einem Teil der [betroffenen] Familie hereditäre Momente eine Rolle spielen.«28 Auch Lauter kommt in seiner Erhebungen am Bespiel einer Familie, in der 13 Mitglieder in fünf Generationen an der Alzheimer-Krankheit gelitten haben, zum Ergebnis, dass die hereditäre (erbliche) Form der Alzheimer-Krankheit durch eine Genkonstellation dominant übertragen werde.29 Der aktuelle Stand der Forschung zeigt, dass »Personen mit einem Elternteil, der an der AlzheimerDemenz erkrankt ist, [.] ein etwa doppelt so hohes Risiko [haben], selbst an der 27
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Frühe Beispiele dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung stellen beispielsweise dar Josef Berze: Die hereditären Beziehungen der Dementia praecox. Leipzig / Wien 1910; oder der rund 15 Jahre später erschiene Artikel vom Hanns Ludwig Weinberger: »Über die hereditären Beziehungen der senilen Demenz«, in: Zeitschrift für die Gesamte Neurologie und Psychiatrie Bd. 106, H. 1 (1926), S. 666-701. Hans Lauter: »Genealogische Erhebungen in einer Familie mit Alzheimerscher Krankheit«, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten Bd. 202, H. 2 (1961), S. 126-139, hier S. 126. Vgl. ebd., S. 138.
3. Demente Partner
Alzheimer-Demenz zu erkranken, wie Personen, deren Eltern nicht betroffen sind.«30 John wird diesen, in den ausgehenden 1990er Jahren manifester werdenden Erkenntnissen erst nach Iris’ Krankheitsausbruch gewahr und lässt sie – auch als Erklärung für die späte Diagnose – in Elegy for Iris einfließen.31 Diagnose und Therapie Im achten Kapitel zeichnet Bayley schließlich nach, wie es zu Iris’ DemenzDiagnose gekommen ist: Nachdem Murdoch auf einer Veranstaltung an der Universität von Negev im Jahr 1994 erste Ausfallerscheinungen gezeigt hat und auch über eine Schreibblockade klagt, verbalisiert schließlich der Schriftsteller Amos Oz seine Sorge um ihren Gesundheitszustand (vgl. EFI, S. 212). Diese Situation wird von Bayley mit der biblischen Szene verglichen, in der Jakob – vor seiner Aussöhnung mit Esau und dessen Umbenennung in Israel – mit einem Engel kämpft (vgl. EFI, S. 215). Durch den Vergleich erscheint Amos Oz als himmlischer, ja göttlicher Bote, der John die Krankheitsnachricht, vor der er bislang die Augen verschlossen hatte, überbringt. Wie sich im folgenden Kapitel zeigen wird, ist dieser religiös aufgeladene Vergleich Ausdruck einer weitreichenden Ikonisierung, beziehungsweise Mythologisierung von Iris und der Figur ihres Ehemanns. An die Beschreibung der ersten Krankheitserkenntnis schließt sich wiederum die vergleichsweise nüchterne Schilderung der darauffolgenden ärztlichen Untersuchungen und der Diagnose an: Nach der Rückkehr aus Israel wird Iris zunächst von einem Allgemeinmediziner untersucht, der sie nach einer ersten Befragung wiederum auf einen geriatrischen Spezialisten verweist (EFI, S. 218). Als Murdochs Erkrankung in der Folge publik wird, nimmt sich ihrer ein Forscherverbund aus Cambridge an, der nicht nur die üblichen Hirn-Scans durchführt, sondern ausführliche Sprach- und Wissenstests vornimmt (EFI, S. 218). Eine anschließende medikamentöse Behandlung mit experimentellen Präparaten lehnt Bayley jedoch ab: »The new experimental drugs were not recommended, and no doubt wisely, for they have since been shown to be all too temporary in their effect, and apt, during a brief period of possible effectiveness, to confuse and even horrify the recipient.
30 31
Janine Diehl-Schmid / Konrad Oexle: »Genetik der Demenzen«, in: Der Nervenarzt Bd. 86, H. 7 (2015), S. 891-902, hier S. 893. Zur Erblichkeit der Alzheimer-Demenz heißt es bei Diehl-Schmidt / Konrad Oexle, S. 899: »Ein monogener Erbgang liegt bei vergleichsweise seltenen, familiären Formen der AlzheimerDemenz und der frontotemporalen Lobärdegenerationen vor. Insbesondere bei Patienten, bei denen die Symptomatik schon vor dem 65. Lebensjahr auftritt und bei denen die Familienanamnese positiv ist, sollte das Vorliegen einer monogen vererbten Demenzerkrankung in Erwägung gezogen werden.«
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The friendly fog suddenly disperses, revealing a precipice before the feet.« (EFI, S. 219) In dieser Passage eröffnet der Autor einen, wenn auch kurzen Einblick in eine jahrzehntealte Diskussion: Seit etwa 50 Jahren werden Medikamente zur Behandlung von Demenz, sogenannte Antidementiva, angeboten; ihre Wirkung ist in etwa ebenso lange umstritten.32 Während Tilman Jens in seiner 2009 erschienenen Wirklichkeitserzählung von der, zumindest übergangsweise lindernden Wirkung eines Antidementivums berichtet (vgl. DAV, S. 132), steht Bayley einer Behandlung kritisch gegenüber. Dies mag einerseits den pharmakologischen Entwicklungen geschuldet sein, die sich nach dem Erscheinen von Elegy for Iris ergeben haben (im Jahr 2003 ist mit dem Präparat Mematin die bisher letzte Innovation mit Zulassung für die Behandlung der mittel-schweren bis schweren Alzheimer-Demenz auf den Markt gekommen).33 Auch wenn Bayley einräumt, dass Antidementiva eine etwaige Besserung der geistigen Zustände hervorrufen könnten, sieht er darin jedoch keinen wünschenswerten Zustand: Der »freundliche Nebel« der Krankheit würde dadurch gelüftet und der Patient merke, dass er am »Abgrund« stünde (EFI, S. 219). Die Behandlung der Symptome erscheint Bayley weniger sinnvoll, als mithilfe eines persönlichen Umgangs den veränderten Bedürfnissen der Kranken gerecht zu werden.
3.1.3 3.1.3.1
Erinnerungen zwischen Trauer und Überhöhung Elegische Klage und Liebesbekundung
Ähnlich wie im Fall der autobiographischen Wirklichkeitserzählungen von Jens und Geiger stellt sich auch bei Elegy for Iris die Frage, welches Genre und welchen Wahrheitsanspruch der Text für sich reklamiert. Wie bereits in der Überschrift zum Ausdruck gebracht wird, weist der Autor seinen Text zuvorderst als Elegie aus und stellt sich damit bewusst in eine antike Tradition: Der Begriff ›Elegie‹ geht auf den altgriechischen Ausdruck ›έλεγος‹ zurück, der ›Trauergesang mit Aulosbegleitung‹ bedeutet.34 Wie Burghard Meyer-Sickendiek zeigt, kommen solche, durch Flötenmusik begleitete Klagelieder zunächst in Kleinasien auf und verbreiteten sich in der Folge auch im griechischen Kulturraum.35 Das Hauptmotiv dieser Elegien ist die trauernde Klage über einen schweren Verlust. In Euripides’ Tragödie Iphigenie
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Vgl. Volker Schulz: »Risiken und Kostenbei der Therapie mit Antidementiva«, in: Zeitschrift für Phytotherapie Bd. 28 (2007), S. 17-20. Vgl. Christian Lange-Asschenfeldt: »Antidementiva – Aktueller Stand der Therapieforschung bei der Alzheimer-Demenz«, in: Kompendium psychiatrische Pharmakotherapie, 02.08.2018. Vgl. Burghard Meyer-Sickendiek: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen. Würzburg 2005, S. 115. Vgl. ebd., S. 116.
3. Demente Partner
auf Aulis wird die Elegie als »barbarischer Jammerruf asiatischer Melodien« umschrieben.36 Im fünften und vierten Jahrhundert v. Chr. macht die Textform einen strukturellen Wandel vom formlosen ›Jammerruf‹ hin zum Lied durch, das im festen Metrum des elegischen Distichons verfasst ist. In der römischen Dichtung erfährt die Textsorte schließlich auch eine inhaltliche Umwertung: Die elegische Lyrik, beispielsweise von Tibull oder Ovid, hat nicht mehr die Totenklage, sondern das zentrale Motiv des Liebesleids zum Gegenstand. Dabei stehen jedoch nicht nur die Verlusterfahrung und der Liebesschmerz im Zentrum, sondern auch komplementäre Themen- und Motivkomplexe, wie »Trennung und Wiedersehen, Nähe und Ferne, Ertappen und Ertapptwerden, Traum und Erwachen, Bruch und Werbung, Glück und Unglück, Armut und Reichtum, Tod und Liebe« stellen Strukturmerkmale der römischen Liebeselegie dar.37 Auch in der britischen Literatur hat die elegische Dichtung eine lange Tradition. So erfreut sich die Gedichtform besonders im England des 18. Jahrhunderts großer Beliebtheit: Die vorromantische Strömung der sogenannten ›Graveyard School‹, zu der Autoren wie Robert Blair, Edward Young oder auch Thomas Gray zählen,38 produziert eine Vielzahl an lyrisch-elegischen Texten.39 Das Themenspektrum dieser Elegien umfasst, gemäß der griechischen Tradition, überwiegend die Totenklage und Trauer, die in Form einer melancholischen Kontemplation zum Ausdruck gebracht werden.40 Indem Bayley auf diesen, in der englischen Literaturgeschichte präsenten Referenzrahmen zurückgreift,41 bringt er seinen Kummer über den Verlust seiner Frau zum Ausdruck, noch bevor diese überhaupt verstorben ist. Eine solche Vorwegnahme der Trauer und Klage findet sich häufig in Demenz-Narrativen, in denen die Kranken als Totgeweihte oder gar Wiedergänger aus dem Totenreich dargestellt und betrauert werden.42 Im Fall von Elegy for Iris lässt sich der Text jedoch auch als Liebeserklärung im Sinne der römischen Tradition lesen. Ein Hauptstrukturmerkmal des Texts stellt schließlich die Genese der gemeinsamen Liebesbeziehung dar – von der Liebe auf den ersten Blick, über 36 37 38
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Vgl. Denys Page: »Die elegischen Distichen in Euripides’ Andromache«, in: Gerhard Pohl (Hg.): Die griechische Elegie. Darmstadt 1972, S. S. 393-421, 394f. Meyer-Sickendiek (2005), S. 117. Zu den Autoren und ihren Texten vgl. Jack Vollers Anthologie, die Gedichte von 33 Vertretern der englischen Gräberpoesie umfasst. Vgl. Jack Voller (Hg.): The Graveyard School: An Anthology. Richmond 2015; oder auch Schuster (2002), S. 53-58. Zur Definition der sogenannten ›Graveyard School‹ und ihrem Einfluss auf die deutsche Dichtung vgl. überdies: Volker Meid: s.v. »Gräberpoesie«, in: Ders.: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur. Stuttgart 2001, S. 213-214, hier S. 213f. Vgl. Schuster (2002), S. 53. Die englische Friedhofsdichtung spielte auch in der deutschen Strömung der Empfindsamkeit, also bei Kloppstock oder Hölty, eine Rolle und hatte darüber hinaus auch Einfluss auf Goethes Werther. Vgl. Meyer-Sickendiek (2005), S. 132. Vgl. Behuniak (2011) oder Schwieren (2017).
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erotische Verwicklungen und Wünsche bis hin zur innigen Beziehung der gealterten Partner. Vor diesem Hintergrund erscheinen Liebe und auch Kunst in Bayleys Demenz-Memoiren, ähnlich wie in römischen Liebeselegien,43 als Gegenentwurf zu gesellschaftlichen Zwängen und dem Streben nach beruflicher oder familiärer Verwirklichung. Diese gesellschaftlich etablierten Ziele seien unvereinbar mit Iris’ künstlerischem Schaffen gewesen: »[…] [Iris] could have become a doctor, an archaeologist, a motor mechanic. […] A really great artist can concentrate and succeed at almost anything, and Iris would have been no exception. If she had born a child, she would have looked after it better and more conscientiously than most mothers, and no doubt would have brought it up better, too. But in that case, she would not have written the books that she did write.« (EFI, S. 142) Bayley betont, dass bürgerliche Konzepte, wie Familienplanung, das Streben nach finanzieller Absicherung, Anerkennung und Ordnung, weder für ihn noch für Iris eine Rolle gespielt hätten. Aus dieser gedanklichen Verwandtschaft habe sich von Anfang an eine Nähe zwischen den beiden entwickelt, die sich vor allem in vertrauter Distanz und Eigenständigkeit beider Partner gezeigt habe (vgl. EFI, S. 126). Diese »closeness of apartness«, wie Bayley sie nennt (ebd., S. 127), habe sich im Zuge der Erkrankung jedoch zu einer symbiotischen Zweisamkeit entwickelt: »We have actually become, as is often said of a happy married couple, inseparable – in a way, Ovid’s Baucis and Philemon, whom the gods gave the gift of growing old together as trees.« (EFI, S. 127) Indem der Ich-Erzähler seine Beziehung zu Iris mit den mythologischen Figuren Baucis und Philemon vergleicht, verdeutlicht er den Bezug auf die antike Dichtung.44 Gleichzeitig mythologisiert er seine eigene Liebesbeziehung, die unter dem Eindruck der Demenz im Wandel begriffen ist (vgl. Textanalyse, Kapitel 3.1.4). Diese Entwicklungen werden durchaus ambivalent dargestellt: Der Ich-Erzähler leidet offenkundig an den unberechenbaren
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Meyer-Sickendiek betont, »daß in der römischen Liebeselegie mit ihren primär hedonistischen Wertsetzungen die altrömische Lebensordnung nunmehr negativ empfundenes Gegenbild gegenwärtig bleibt. Der elegische Liebesschmerz steht also stets in Opposition etwa zur Lebensform des römischen Offiziers, man kann deshalb von einer Umkodierung der »weibischen Trauer« sprechen: Im Zug der affirmativen Besetzung des Elegischen vollzieht sich auch eine charakteristische Umdeutung antiker Männlichkeit. Durch die Gegenüberstellung von Kriegs- und Liebesdienst leistet die römische Liebeselegie also zugleich eine subversive Relativierung der althergebrachten ›mores maiorum‹.« Meyer-Sickendiek (2005), S. 117. Eine ausführliche Rekonstruktion der Stoffgeschichte von Philemon und Baucis lässt sich nachlesen bei Manfred Beller: Philemon und Baucis in der europäischen Literatur. Stoffgeschichte und Analyse. Heidelberg 1967.
3. Demente Partner
Stimmungsschwankungen, der Verzweiflung und Hilflosigkeit seiner Ehefrau.45 Zugleich wirkt Iris aber auch wie ein engelsgleiches Wesen auf ihn, mit dem sich der Ich-Erzähler John enger denn je verbunden fühlt, ja glaubt, mit ihr wie die mythologischen Gestalten Philemon und Baucis zusammengewachsen zu sein (vgl. EFI, S. 76f.). Diese Überhöhung der eigenen Beziehung und der Kranken als Engel und antike Sagengestalt hat zur Folge, dass der pragmatische Wahrheitsanspruch des Texts vom Leser in Zweifel gezogen wird: Schließlich zeugt die schwärmerische Erzählweise von einer mythologisierenden, verklärten Darstellung, die im Folgenden näher untersucht wird.
3.1.3.2
Memorieren, imaginieren, stilisieren
Eine solche subjektive gefärbte Darstellung von Erinnerungen steht in der literarischen Tradition der ›Memoiren‹.46 Dieser Genre-Begriff wird heutzutage, im Gegensatz zum Terminus der ›Autobiographie‹, nur selten von Autoren für sich reklamiert oder von der Forschung verwendet. Als Memoiren werden gemeinhin literarische Mischformen bezeichnet, die autobiographische Elemente mit »Aspekten historischer Betrachtung und der Darstellung Dritter verknüpft.«47 Dabei stehen vorrangig die zwischenmenschliche Stellung und gesellschaftliche Funktion des Verfassers (beispielsweise dessen Beruf) während eines bestimmten Zeitraums im Zentrum des Texts.48 Diese Vergangenheit wird, wie der Literaturwissenschaftler Marcus Billson betont, ausschnitthaft vom Memoirenschreiber in Erinnerung gerufen, für die Nachwelt konserviert und interpretiert: »Der Memoirenschreiber beabsichtigt nicht, Menschen und Ereignisse der Vergangenheit so zu zeigen, wie sie waren (obwohl er fortwährend glaubt, dies zu tun), sondern er stellt sie dar, wie sie ihm erschienen, wie er sie erlebt und in Erinnerung behalten hat.« (Billson (2016), S. 146)49
45
46
47 48
49
Im letzten Kapitel »Now« werden beispielsweise eindrücklich die Strapazen kleinerer Reisen und gesellschaftlicher Anlässe geschildert, genauso wie der alltägliche Kampf beim An- und Auskleiden. Vgl. EFI, S. 239 und 242ff. So trägt beispielsweise die britische Ausgabe des Texts den Untertitel »A Memoir of Iris Murdoch« Der Begriff ›Memoiren‹ wird auch im Peritext der amerikanischen Ausgabe aufgegriffen, wenn es im Klappentext heißt: »John Bayley […] has written one of the most extraordinary memoirs of recent years.« Vgl. ELI, Klappentext auf der Rückseite des Buchs. Anja Tippner / Christopher F. Laferl: »Einleitung zu Marcus Billson«, in: Diess. (Hg.): Texte zur Theorie der Biographie und Autobiographie. Stuttgart 2016, S. 138-140, hier S. 138. Vgl. Marcus Billson: »Memoiren: Perspektiven auf ein vergessenes Genre«, in: Anja Tippner / Christopher F. Laferl: Texte zur Theorie der Biographie und Autobiographie. Stuttgart 2016, S. 141-162. [»The memoir: New Perspectives on a Forgotten Genre«, in: Genre Bd. 10, H. 2 (1977), S. 259-282]. Ergänzend zu Billsons Text, der erstmals in den späten 1970er Jahren erscheint, bieten z.B. Julie Rak: »Are Memoirs Autobiography? A Consideration of Genre and Public Identity«, in:
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Vergessen erzählen
Da die Textsorte der Memoiren noch mehr als die Autobiographie in den Verdacht der Selbststilisierung geraten ist, beanspruchen sie mittlerweile weniger Autoren für sich.50 Diesem, auch dem in der englischsprachigen Literatur verbreiteten ›Trend‹ zum Trotz,51 wird Bayleys Elegy for Iris im Peritext als Memoiren eingeordnet. Eine solche Genrezugehörigkeit lässt sich an verschiedenen Textmerkmalen begründen: Bei Elegy for Iris handelt es sich um autobiographische Erinnerungen, die zwischen unterschiedlichen Situationen und Personen mäandern und auf diese Weise das Leben des Ich-Erzählers und seiner Frau (überwiegend im Oxford der 1960er und 70er Jahre) anekdotisch und szenenhaft umschreiben – eine Erzählweise, die als typisch für Memoiren gilt.52 Marcus Billson zufolge, ist überdies ein krisenhafter Erzählanlass kennzeichnend für das Genre der Memoiren, die sich vornehmlich auf persönliche Lebensdramen fokussieren, um die »Bedeutsamkeit und Einzigartigkeit« des schreibenden (oder beschriebenen) Subjekts zu betonen.53 Im Falle von Elegy for Iris stellt Murdochs voranschreitende Demenz-Erkrankung den Erzählanlass dar, von dem ausgehend die konstant erscheinende, besondere Persönlichkeit der Kranken und deren nuancenreiche Beziehung zu Bayley skizziert wird. Im Zusammenhang des autobiographischen Memorierens muss auch die Erzählperspektive genauer beleuchtet werden, schließlich fungiert der homodiegetische Ich-Erzähler zugleich als Augenzeuge, Beteiligter und Geschichtsschreiber,54 der sowohl Iris’ als auch seine Lebensgeschichte mit bekannten Personen und Geschehnissen in Verbindung bringt. Als maßgeblicher Teil der erzählten Welt beleuchtet der Erzähler folglich nicht nur das Leben der kranken Iris, die im Zentrum des Texts steht, sondern formt auch sein eigenes Bild. Aus diesem Grund wird auch dieser Text als autobiographische Wirklichkeitserzählung eingeordnet, die faktuale Inhalte mit fiktionalisierenden Erzählverfahren beschreibt.
3.1.3.3
Entrückung und Verklärung
›Übernatürlich‹, ›engelhaft‹, ›pazifistisch‹, ›unschuldig‹ und ›bescheiden‹ –55 schon die von Bayley gewählten Adjektive lassen keinen Zweifel daran, dass Iris Murdoch
50 51 52 53
54 55
Genre Bd. 37, H. 3 / 4 (2004), S. 483-504 oder Thomas Couser: Memoir. An Introduction. Oxford 2012, eine aktuelle Perspektive auf das Genre. Vgl. Billson (2016), S. 141f. Vgl. Rak (2004), S. 487. Vgl. Billson (2016), S. 143. Vgl. ebd., S. 160. Den vielfältigen Distinktionsmerkmalen zum Trotz, bestehen zwischen Autobiographien und Memoiren viele Ähnlichkeiten, sodass nicht immer zweifelsfrei zwischen dem einen oder anderen Genre unterschieden werden kann. Vgl. ebd., S. 154-160. In der Reihenfolge der oben zitierten Adjektive vgl. EFI, S. 53, S. 76, S. 148, S. 247 und S. 161.
3. Demente Partner
in den Augen des Erzählers ungebrochen positiv erscheint.56 Vergleiche zwischen der zeitgenössischen Schriftstellerin und Shakespeare oder Dostojewski ordnen sie als literarisches Ausnahmetalent ein (vgl. EFI, S. 142 und 190). Über ihr literarisches Schaffen hinaus, wird Murdoch gar als Heilige dargestellt, die mit Jesus Christus Qualitäten wie Toleranz, Heiterkeit, Gutmütigkeit und die Fähigkeit zur Vergebung gemein habe (vgl. EFI, S. 148). Obwohl sie nie gläubig gewesen sei, gehe eine nahezu sakrale Aura von ihr aus: »Religious people, like her pupils, took to her immediately and instinctively. But she never seemed to discuss religion or belief with them, nor they with her. In some way, the ›spiritual‹, as I suppose it has to be called, seemed to hover in the air, its presence taken for granted. […] Iris is and was anima naturaliter Christiana – religious without religion.« (EFI S. 169ff.) Indem Bayley seiner Frau zuspricht, eine »anima naturaliter christiana« inne zu haben,57 bescheinigt er ihr eine natürliche Verbundenheit zum christlichen Glauben, und dass obwohl sie keiner Religionsgemeinschaft angehöre. Iris’ angeborene, christliche Ausprägung komme, laut Bayley, nicht etwa durch ihre Gläubigkeit oder einer Kirchenzugehörigkeit zum Ausdruck, sondern in ihrem übernatürlichen, ikonenhaften Wesen (vgl. EFI, S. 53). Aufgrund dieser Qualitäten überstrahle Murdoch alle ihre Kollegen und Mitmenschen nicht nur in künstlerischer Hinsicht, sondern vor allem durch ihre Eigenschaften, wie durch ihre Bescheidenheit und Unvoreingenommenheit (vgl. EFI, S. 169). Eine solche Darstellung rückt den Lebensweg der Schriftstellerin in die Nähe einer Heiligen-Vita und steht deshalb in der Tradition
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An einer Stelle heißt es über die Freundlichkeit von Iris: »Iris is just as nice as she looks; indeed, in her case, the feeble though necessary little word acquires an almost transcendental meaning, a different and higher meaning than any of its common and more or less ambiguous ones.« EFI, S. 247. Die Wendung »anima naturaliter christian« geht auf den Kirchenschriftsteller Tertullian zurück, der darunter versteht, dass jedem Menschen die Fähigkeit zur Erkenntnis Gottes innewohnt. Zu Tertullians Seelenlehre vgl. Holger Strutwolf: »Anima naturaliter Christiana – Beobachtungen zum philosophischen und theologischen Hintergrund der Seelenlehre Tertullians«, in: Daniel Gurtner / Juan Hernández Jr. / Paul Foster (Hg.): Studies on the Text of the New Testament and Early Christianity. Leiden / Boston 2015, S. 594-614.
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hagiographischer Textformen.58 Unter dem Begriffen ›Hagiographie‹ werden vorwiegend Texte verstanden, die Aufschluss über das irdische Leben von Heiligen, deren angeblich bewirkte Wunder und den daraus folgenden Kult geben.59 Elemente dieser oftmals verklärenden und mythologisierenden Texte lassen sich auch an Elegy for Iris festmachen, schließlich wird Murdochs berufliches und persönliches Wirken als exzeptionell, sogar als »übernatürlich« (EFI, S. 53) dargestellt. Diese Wertung bezieht sich nicht nur auf das Schaffen der gesunden Iris, auch in der Demenz-Erkrankung seiner Frau erkennt der Ich-Erzähler ein Zeichen für deren Bedeutsamkeit: So glaubt die Erzählinstanz, in gewissen Krankheitssymptomen nicht etwa den Verlust geistiger Fähigkeiten bestätigt zu sehen, sondern beschreibt diese als eine Art Entrückung oder transzendentalen Zustand. In diesen Momenten sei es Murdoch zeitweise möglich, trotz der Erkrankung sinnhafte Sätze zu sprechen und ihr Umfeld damit in Verblüffung zu versetzen: »Twice, Iris has said to Peter Conradi [a friend and the author of her autobiography] that she now feels that she is ›sailing into the darkness‹. […] It seems to convey a terrible lucidity about what is going on. But can one be lucid in such a way without possessing the consciousness that can produce such language? And if consciousness can go on producing such words, why not many more, equally lucid?« (EFI, S. 259) Ob es sich bei Iris’ Ausdrucksweise um Momente plötzlicher Klarheit oder einfach um einen Zufall handelt, lässt der Erzähler an dieser Stelle offen. Er scheint hinund hergerissen, zwischen dem Wissen um die zerebralen Zerstörungen, die eine Computertomographien-Aufnahme offenbart, und dem Eindruck, dass Iris um ihren Zustand wisse. Da er zunehmend den Eindruck gewinnt, dass Murdochs ›eigentliches‹, ikonenhaftes Wesen von der Krankheit unberührt sei, kommt er letztlich aber zum paradoxen Schluss, dass sich alles verändert habe und doch auf wundersame Weise gleich geblieben zu sein scheint.60
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59 60
Zum Genre der Hagiographie vgl. Gereon Becht-Jördens: »Biographie als Heilsgeschichte. Ein Paradigmenwechsel in der Gattungsentwicklung«, in: Andrea Jördens et al. (Hg.): Quaerite faciem eius semper. Studien zu den geistesgeschichtlichen Beziehungen zwischen Antike und Christentum. Hamburg 2008, S. 1-21. Zur literarischen Form der ›Vita‹ vgl. Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart 2009, S. 4: »Vita war überwiegend auf das Leben von Menschen mit besonderen Begabungen und exzeptionellem Schicksal, auf Könige, Fürsten, Politiker festgelegt. Im Mittelalter nimmt daneben die tausendfache […] hagiographische Thematisierung von Bischöfen, Äbten und Heiligen einen großen Stellenwert ein.« Einen konzisen Überblick zu dem Thema bietet Claudio Leonardi et al.: s.v. »Hagiographie«, in: Robert Auty et al. (Hg.): Lexikon des Mittelalters Bd. 4. München 1989, S. 1840-1862. Diese Darstellung erinnert an Arno Geigers Text, in dem es über die demente Hauptfigur heißt: »Er hatte seine Erinnerungen in Charakter umgemünzt, und der Charakter war ihm
3. Demente Partner
3.1.4
Veränderungen und Verwandlungen: Von Platon bis Peter Pan
Panta Rhei Dass Iris trotz massiver, krankheitsbedingter Einschränkungen im Kern unverändert ist, wird vom Ich-Erzähler durch die zentrale Metapher des Wassers illustriert. Wasser – vor allem das Baden und Schwimmen darin – spielt im Text eine übergeordnete Rolle: Die beiden Hauptfiguren John und Iris schwimmen im Mittelmeer und in Bergseen, schnorcheln in Irland, baden in Flüssen und legen sich zu Hause einen Teich an. Wasser scheint, das verbindende Element der beiden Ehegatten zu sein, die auch während der Krankheit noch in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren wie zwei Taucher (EFI, S. 53). John konstatiert, dass Iris sich beim Schwimmen nicht etwa elegant wie eine Nixe oder ein Fisch gebärde, sondern das Nass stoisch und gründlich wie ein Wasserbüffel durchpflüge (EFI, S. 38). Deutet dieser Vergleich auf einen angstfreien Umgang mit dem Element hin, ist an anderer Stelle jedoch von der Übermacht des Wassers die Rede: So droht die bereits erkrankte Iris, in einem Fluss zu ertrinken oder in einer anderen Situation von der Strömung hinfort gerissen zu werden (vgl. EFI, S. 39). Solche Momente der Ohnmacht werden in Demenz-Narrativen häufig metaphorisch mit der Krankheit verknüpft: Wie bereits an Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän, aber auch J. Bernlefs Hirngespinste gezeigt werden konnte, wird Wasser in Demenz-Narrativen als unberechenbares Medium beschrieben, dem man zuweilen hilflos ausgesetzt ist (vgl. Textanalyse, Kapitel 1.2.3.3). Ob reißende Gebirgsbäche, starker Regen oder Schneefall – Wasser dient häufig als Metapher für die Übermacht der Natur, der der einzelne Mensch ohnmächtig gegenübersteht. Die von Bayley gewählte Wassermetaphorik ruft jedoch auch einen anderen Kontext auf: So bezieht sich der Text auf den altgriechischen Aphorismus ›Panta Rhei‹, der im Ursprung auf die sogenannten Fluss-Fragmente des griechischen Philosophen Heraklit zurückgeht.61 Der darin gezogene Vergleich zwischen dem irdischen Sein und einem reißenden Fluss wird in der Folge von Platon aufgegriffen,62 der die bekannte Wendung ,Πάντα χωρεῖ καὶ οὐδὲν μένει‹, ›alles bewegt sich fort und nichts bleibt‹, prägt.63 Laut Platon ist das irdische Sein, wie das Wasser eines Flusses, dem stetigen Werden und Wandeln unterworfen. Aus diesem Grund
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geblieben. Die Erfahrungen, die ihn geprägt hatten, taten weiterhin ihre Wirkung.« AKE, S. 73. So heißt es in einem der sogenannten Flussfragmente: »Wer in denselben Fluss steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu.« Heraklit: Fragment 12, in: Walther Kranz (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Berlin 1993, S. 132. Zu unterschiedlichen Akzentuierung des Aphorismus von Heraklit einerseits und Platon andererseits vgl. Christof Rapp: Vorsokratiker. München 2007, S. 67-72; oder auch Wilhelm Capelle: Die Vorsokratiker. Stuttgart 2008, S. 93-121. Platon: Kratylos. Hg. von Gernot Krapinger. Stuttgart 2014, S. 71.
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Vergessen erzählen
scheint der ewige Wandel, paradoxerweise das einzige Kontinuum auf Erden zu sein.64 Bayleys Demenz-Darstellung fußt auf dieser Erkenntnis der platonischen Lehre: In Elegy for Iris wird Demenz als Teil eines unabdingbaren Wandels beschrieben, der die alte mit der jungen Iris verbindet. Dieser stetige Wandel drückt sich schon in Iris’ indefinitem Identitätsbegriff aus. So behauptet bereits die junge Iris, keine beständige Identität inne zu haben, vielmehr sei ihr Wesen ein Fließendes: »Iris once told me that the question of identity had always puzzled her. She thought she herself hardly possessed such a thing, whatever it was. […] Conceivably, it is the person who hug their identity most closely to themselves for whom the condition of Alzheimer’s is most dreadful. Iris’s own lack of sense of identity seemed to float her more gently into its world of preoccupied emptiness.« (EFI, S. 64-65) Durch ihr indefinites Identitätsverständnis falle es Iris leichter als anderen, sich der Demenz zu stellen und der daraus resultierenden »Welt der geschäftigen Leere« entgegenzugleiten, so der Ich-Erzähler John (EFI, S. 65). Wie diese Passage verdeutlicht, wird Demenz als Teil der Prozessualität des Seins geschildert, wodurch die Krankheit weniger als Ausnahmezustand, denn als natürliche Entwicklung gewertet wird. Philemon und Baucis Neben den Referenzen auf Heraklit und Platon dienen Ovids Metamorphosen als intertextuelle Vorlage für Bayleys Demenz-Narrativ. Diese antike Textsammlung geht im Ursprung ebenfalls auf die Formel »Πάντα χωρεῖ« zurück: Das Bild des ewigen Flusses bildet das naturphilosophische Fundament der Metamorphosen.65 Hierbei handelt es sich größtenteils um Verwandlungsgeschichten aus der römischen und griechischen Mythologie, die in 15 Bücher gruppiert sind und sich von der Erschaffung der Welt bis hin zu Augustus Regentschaft erstrecken. In Elegy for Iris wird der Bezug auf Ovid explizit, wenn Bayley über sich selbst und Iris schreibt: »We have actually become, as is often said of a happy married couple, inseparable – in a way, Ovid’s Baucis and Philemon, whom the gods gave the gift of growing old together as trees.« (EFI, S. 127) Bei den bereits in Kapitel 3.1.3.1 erwähnten Figuren Baucis und Philemon handelt es sich um griechische Sagengestalten, die in Ovids Text auf die römische Mythologie übertragen worden sind. Die Sage ist schnell umrissen: Während eines Besuchs von Jupiter und Merkur auf der Erde bewirtet das alte
64 65
Vgl. Gunter Scholz: Philosophie des Meeres. Hamburg 2016, S. 13-34 sowie 101-121. Die Formel »Panta Rhei« kommt in lateinischer Übersetzung wörtlich im 15. Buch von Ovids Metamorphosen vor, wenn es heißt: »Nihil est toto, quod perstet in orbe, / cuncta fluunt.« (Nichts gibt es auf der Welt, das Bestand hätte. Alles fließt.«. Vgl. Ovidius Naso: Metamorphoses. Hg. von Michael von Albrecht. Stuttgart 2010, hier: Buch XV., S. 177.
3. Demente Partner
Ehepaar Philemon und Baucis die beiden Gottheiten in ihrem Haus, nachdem ihnen alle anderen Dorfbewohner den Einlass verwehrt hatten. Zur Strafe für das Verhalten der übrigen Dorfbewohner lassen die Götter die Stadt im Sumpf versinken, während sie Baucis und Philemon aus Dank für Ihre Gastfreundschaft einen Wunsch erfüllen. Die beiden äußern daraufhin die Bitte, in einem Tempel so lange gemeinsam den Priesterdienst nachgehen zu dürfen, bis es ihnen vergönnt sei, zur selben Stunde zu sterben. Jupiter erfüllt den Wunsch, indem er das Paar im hohen Altern in eine Eiche und eine Linde verwandelt, die mit den Ästen ineinander verwachsen sind.66 Indem der Ich-Erzähler John seine Paarbeziehung zu Iris mit dieser Sage verknüpft, stilisiert er seine Beziehung zu einer mythologischen Verbindung. Gleichzeitig schreibt sich Bayley durch die intertextuelle Bezüglichkeit – auch auf die literarische Form der Elegie – in antike Erzähltraditionen ein, wodurch er die Elaboriertheit seines Texts auf inhaltlicher, wie auf formaler Ebene unterstreicht. Darüber hinaus dient der Vergleich mit den antiken Sagengestalten Philemon und Baucis zur Illustration der durch die Demenz-Erkrankung veränderten Paarbeziehung: Seine Ehe habe sich zunächst durch die Unabhängigkeit beider Partner und deren distanzierter Nähe (einer »closeness in apartness« [EFI, S. 127]) ausgezeichnet. Im Zuge von Iris’ Erkrankung sei dieses Verhältnis im Wandel begriffen. So gewinnt John vermehrt den Eindruck, dass er Iris’ Krankheitssymptome imitiere: »Alzheimer’s obviously has me in its grip […]. Does the care-giver involuntary mimic the Alzheimer’s condition? I’m sure I do.« (EFI, S. 241) Auch wenn er nicht glaubt, tatsächlich selbst erkrankt zu sein, folgt aus dem Umgang mit der Dementen gewissermaßen eine Krankheitsimitation, die laut John auch Einfluss auf seine Textproduktion hat: »When writing about the onset of Alzheimer’s, it is difficult to remember a sequence of events – what happened when, in what order. The condition seems to get into the narrative, producing repetition a preoccupied query, miming its own state.« (EFI, S. 219) Als pflegender Angehöriger erlebt John die Erkrankung seiner Frau nicht nur passiv, sondern macht auch am eigenen Leib (und Geist) Veränderungen durch; ebenso wie Iris tendiere er mittlerweile dazu, vergesslich, leicht reizbar, liebebedürftig und hilflos zu sein (vgl. EFI, S. 239f). Diese Paarsymbiose hin zu einer, sich ergänzenden Einheit, wie Philemon und Baucis sie durchlaufen haben, steht für die generelle Prozessualität des Seins, die sich auch in der Entwicklung einer Beziehung ausdrückt. Der Gedanke des stetigen Wandels (unter Bezugnahme auf Platon und Ovid) ist auch für nachfolgende Demenz-Narrative zentral. Wie sich beispielsweise an Ulrike Draesners Kurzgeschichte Ichs Heimweg macht alles alleine zeigen lässt 66
Ebd., Buch VIII., S. 92-98.
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(vgl. Textanalyse, Kapitel 3.2.2), greifen spätere Demenz-Erzählungen auf dieselben Prätexte, wie etwa Ovids Metamorphosen zurück, und entwickeln dabei das von Bayley geschilderte Phänomen der Paarsymbiose vor dem Hintergrund (oder auch in Abgrenzung) von wissenschaftlichen Erkenntnissen weiter. Das ewige Kind Neben der paarsymbiotischen Metamorphose durchläuft Iris aufgrund ihrer Erkrankung eine regressive Entwicklung, die sich beispielsweise in störrischen Verhaltensmustern und im Konsum von Kindersendungen, wie den Teletubbies,67 manifestiert (vgl. EFI, S. 228 oder 242).68 Diese britische Kinderserie wird innerhalb des Texts zum Indikator, an dem Bayley die veränderte ›Weltsicht‹ seiner Frau bemisst. So leitet er aus deren positiver Reaktion auf die Teletubbies ab, dass die Serie aufgrund der Synthese aus realen und fiktiven, infantilen und phantastischen Elementen, aber auch aufgrund ihrer repetitiven Struktur der Auffassungsgabe seiner Frau entgegenkomme und deren verschobener Wahrnehmung entspreche: »One of the charms of this extraordinary programme [Teletubbies] is the virtualreality landscape supplied: an area of sunlit grass – natural – dotted with artificial flowers, beside which the real rabbits hop about. The sky looks authentic as well, just the right sort of blue, with small clouds. […] A real baby’s face appears in the sky, at which I make a face myself, but Iris always returns its beaming smile.« (EFI, S. 226f.) Während diese Darstellung deutlich mit Iris’ krankheitsbedingter Veränderung assoziiert ist, schildert Bayley das regressive Verhalten seiner Frau zugleich als Phä-
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Bei den Teletubbies handelt es sich um eine Fernsehsendung für Kleinkinder, die zwischen 1997 und 2001 in Großbritannien produziert worden ist und auch im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wird. Seit 2015 erscheinen neue Folgen mit einem veränderten Figurenensemble. Mittelpunkt der ursprünglichen Serie sind vier, unterschiedlich farbige Phantasiewesen. Die Darstellung und Wirkung der, in einer künstlichen Sprache kommunizierenden Wesen ist in der pädagogischen Forschung durchaus umstritten, vgl. Agatha Cowart: Time for Teletubbies. Childhood, child participation, and the struggle for meaning. o.O. 2003. Internet-Quelle: https://digital.library.unt.edu/ark:/67531/metadc4227/m2/1/high_ res_d/thesis.pdf, abgerufen am 12. November 2018. Die Darstellung dieser krankheitsbedingten Regression hat Bayley zuweilen den Vorwurf der Verunglimpfung eingebracht. So moniert beispielsweise die amerikanische Historikerin Gertrude Himmelfarb: »The privacy that Murdoch cherished at the best of times […] has been violated by showing her at the worst of times, suffering all the indignities that come with that degrading disease. The image we now have of her will inevitably overshadow the figure of the person we once knew and admired. No one will ever be able to remember her or write about her as she would have liked, and deserved, to be remembered or written about —not as the pathetic soul who resisted having her socks removed when she was coaxed into the water or who spent the mornings watching Teletubbies on television […].« Himmelfarb (1998), S. 35.
3. Demente Partner
nomen, das über die Krankheit hinaus in deren Persönlichkeitsstruktur angelegt sei. Neben ihrer professionellen, akademischen Seite sei Iris immer schon eine »happy childlike women« gewesen (EFI, S. 46), die sich durch Neugierde und einer Freude an Scherzen ausgezeichnet habe, aber auch aufgrund ihrer Eigenschaften, wie ihrer Unvoreingenommenheit und Unschuld sowie aufgrund des nachlässiggepflegten Äußeren an ein Kind erinnert habe (vgl. EFI, S. 160, 88 und 15). Ähnlich wie Peter Pan – »the boy who wouldn’t grow up« –69 und Lewis Carrolls Alice,70 hätte Iris von Beginn an eskapistische und geradezu magische Züge getragen. So habe sie auf John stets »fundamentally unreal« gewirkt, »like the girl in the fairy story.« (EFI, S. 46) Wie bereits im Zusammenhang mit hagiographischen Textstrategien in Kapitel 3.1.3.3 gezeigt werden konnte, erfolgt durch die intertextuellen Bezüge auf Peter Pan und Alice in Wonderland ebenso eine Mythologisierung der Person Iris Murdoch, der ein nahezu magisches Wesen attestiert wird (vgl. EFI, S. 46). Im Gegensatz zu den Bezügen auf christliche Ikonen und antike Sagengestalten, heben die intertextuellen Referenzen auf Figuren der Kinderliteratur zusätzlich infantile Charaktereigenschaften der Schriftstellerin hervor. Diese Darstellung steht in einem gewissen Kontrast zu den von Bayley geschilderten, geniehaften Zügen und der ikonenhaften Erhöhung der Kranken, weshalb ein schillerndes Bild der dementen Protagonistin entsteht: Von der Krankheit verändert und doch gleichgeblieben, erscheint Iris Murdoch in Bayleys Text als areligiöse Heilige und infantile Intellektuelle.
3.2 3.2.1
Anziehung, Abstoßung und Ansteckung – Encore: Ichs Heimweg macht alles alleine »…die Schlange kriecht mir in die eigenen Erinnerungen«
Wurde in Kapitel 1.3. des Textanalyseteils zunächst die Demenz-Innenperspektive der Figur Sarah untersucht, beleuchtet das folgende Kapitel den Brief ihres Ehemanns Hans. Eine solche separate Untersuchung der beiden Abschnitte ist gemäß der thematischen Unterteilung der vorliegenden Arbeit geboten. Schließlich umfasst Draesners Erzählung sowohl eine Innenperspektive als auch eine Krankheits69
70
Der Untertitel »the boy who wouldn’t grow up« geht auf das erstmals 1904 aufgeführte Bühnenstück von James Matthew Barrie zurück, das als dramatische Adaption der populären Erzählung Peter Pan and Wendy angelegt ist. Barries Erzählung wird heute mehrheitlich unter dem gekürzten Titel Peter Pan geführt. Vgl. James Matthew Barrie: Peter Pan. London 2008. Schon auf den ersten Seiten wird die junge, noch gesunde Iris folgendermaßen beschrieben: »[…] she gazed delightedly round the dark and, as it seemed, rather mysteriously grand flat, as if she were Alice in Wonderland on the threshold of a new series of adventures.« EFI, S. 6f., Hervorhebungen durch L.D.
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Vergessen erzählen
darstellung aus Sicht ihres Ehegatten Hans. Neben dieser doppelten Perspektive auf die Krankheit, bietet sich eine isolierte Untersuchung der beiden Erzählteile auch aus intertextuellen Gründen an: Wie in der Zusammenschau der ersten drei Kapitel aufgezeigt werden konnte, dienen Sarahs Bewusstseinsstrom unter anderem die Demenz-Narrative von Frisch und Bernlef als intertextuellen Vorlagen. Im Lichte des vorangegangenen Kapitels zeigt sich hingegen, dass Hans’ Brief grundlegende intertextuellen Bezüge zu Elegy for Iris aufweist. Insbesondere die Darstellung der Paarsymbiose, die Draesner von Bayley übernimmt und modifiziert, werden im Folgenden hinsichtlich der narrativen Strategien und wissensgeschichtlichen Hintergründe untersucht. Zunächst gilt es jedoch, die generelle Struktur und Bildlichkeit dieses zweiten Erzählabschnitts zu analysieren.
3.2.1.1
Der Wechsel der Erzählstimmen
Dar Ichs Heimweg macht alles alleine nicht in Kapitel untergliedert ist, ereignet sich der Wechsel der Erzählstimmen abrupt: Auf Sarahs letzte bruchstückhafte Worte, deren Bedeutung sich dem Leser entziehen,71 folgt übergangslos eine Zeitungsannonce, in der ein Haus zum Verkauf angeboten wird: »Liebhaberobjekt! Zentral, doch ruhig gelegen. Verwunschener Garten am Fluss. Fünf Stockwerke, Sonnenterrasse inkl., historische Bausubstanz, bestens erhalten. Wirtschaftsräume im EG, Küche 1. Stock. 3 Bäder. Ein Haus für Freunde und Feste. Ideal für Untervermietung. Einmalige Gelegenheit. Für Höchstgebot umständehalber sofort abzugeben.« (IHM 1, S. 69. Hervorhebung im Original) Diese Annonce hebt sich nicht nur durch den offensichtlichen Bruch in der Erzählstimme vom vorangegangenen Bewusstseinsstrom ab, sondern unterscheidet sich zusätzlich durch eine graue Rahmung vom restlichen Druckbild. Auf diese Weise nimmt die Gestaltung – wenn auch nur vage – Bezug auf Max Frischs Erzählung, in der ebenfalls zum Teil fiktives Material in den Erzähltext collagiert worden ist.72 Da die Annonce ohne narrative Überleitung auf den Stream of Consciousness folgt, bleibt der Zusammenhang zwischen den Erzählteilen zunächst im Verborgenen. Allein die Formulierung »verwunschener Garten am Fluss« deutet darauf hin, dass es sich bei der zu veräußernden Immobilie um das Haus handelt, das die IchErzählerin zu Beginn durchstreift.73 Der sich daran anschließende zweite Teil der Erzählung setzt ebenso in medias res ein, wie Sarahs Bewusstseinsstrom. Ein zweiter Ich-Erzähler, der sich schon aufgrund der flüssigen Formulierungen stark von
71 72 73
Der Bewusstseinsstrom endet mit den Worten: »[…] muss durch das Fenster die Fotografie Himmel Winterhimmel / kriecht mühselig hin / hin / hin«. IHM 1, S. 69. Vgl. Malottke (2017b), S. 227. Zur Collage-Technik in Der Mensch erscheint im Holozän vgl. Textanalyse, Kapitel 1.1.3. Vgl. Malottke (2017b), S. 228.
3. Demente Partner
Sarah unterscheidet, nimmt Bezug auf die vorangegangene Zeitungsanzeige (vgl. IHM 1, S. 70), die offenbar aus seiner Feder stammt.74 Ähnlich wie beim Bewusstseinsstrom ist auch beim zweiten Erzählteil zunächst unklar, wer spricht oder was für eine Erzählsituation vorliegt. Erst im zweiten Absatz kristallisiert sich heraus, dass es sich um einen Brief handelt, den Hans an seine Tochter Karolin schreibt. Wie sich zeigt, trennen dessen erlebendes und erzählendes Ich nur wenige Tage, da der Brief kurz nach Sarahs Sturz, der den Erzählanlass markiert, abgefasst ist. Noch während Hans die Zeilen niederschreibt, befindet er sich in seinem zum Verkauf stehenden Ferienhaus in Frankreich und hat dabei immer wieder ein Auge auf Sarah, die an einen Stuhl gebunden ist und fernsieht (IMH 1, S. 72). Auch wenn Hans von dem vorangegangenen Erzählteil nichts zu ahnen scheint (und folglich die Gedankengänge seiner Frau unkommentiert lässt), erfüllt sein Brief doch die Funktion eines im Nachwort geleisteten Herausgeberkommentars: Als sekundärer Ich-Erzähler kompensiert er Sarahs bruchstückhafte Homodiegese, indem er Informationen nachliefert, die sie nicht mehr geben kann. So klären sich im Laufe seines Berichts zentrale Fragen nach Ort, Zeit und Geschehen des vorangegangenen Bewusstseinsstroms. Darüber hinaus liefert Hans einen Ausblick auf die gemeinsame Zukunft. Auf diese Weise kann der Leser den Anfang-, aber auch den Endzustand von Sarahs Krankheitsverlauf nachvollziehen. Im Gegensatz zu gängigen Herausgeberfiktionen liefert Hans’ Bericht jedoch keine editoriale Rahmung der Erzählung.75 Anstatt den vorangegangenen Bewusstseinsstrom auktorial zu organisieren oder zu authentifizieren, vermag Hans, nur seine eigene, zum Teil befremdliche Sicht auf die Krankheit zu eröffnen. Dabei beseitigt er – scheinbar zufällig – Unklarheiten in Bezug auf Sarahs Gedankengänge. Hans’ Kommentare lassen aber auch Zweifel an seiner eigenen geistigen Gesundheit und demzufolge an seiner erzählerischen Zuverlässigkeit aufkommen. Diese Unzuverlässigkeit tritt zum Beispiel in einer anachronischen, ja chaotischen Erzählweise zu Tage, die gleichzeitig Rückschlüsse auf die Figurenzeichnung zulässt.
74
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Im Laufe des zweiten Erzählteils zeigt sich, dass Hans der Verfasser der Immobilienanzeige ist. Zunächst deuten jedoch nur offene Formulierungen, die in der neutralen Man-Form verfasst sind, darauf hin, dass er die Anzeige verfasst haben könnte. Vgl. IHM 1, S. 70: »Man muss etwas ausführlicher sein in den Anzeigen hier, das machen alle so, schön ist nur, was sich erzählt.« Man denke an Goethes Die Leiden des jungen Werther oder aber E.T.A. Hoffmanns Lebensansichten des Kater Murr, um nur zwei zentrale Beispiele für Herausgeberfiktion in Texten des 18. Jahrhunderts zu nennen. Eine stichhaltige Analyse dieser und vergleichbarer editorialer Rahmungen liefert Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion: Editoriale Rahmung im Roman um 1800. Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffman. München / Paderborn 2008. In diesem Zusammenhang muss ebenso auf folgende Monographie verwiesen werden: Arata Tekeda: Die Erfindung des Anderen. Zur Genese des fiktionalen Herausgebers im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Würzburg 2008.
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Vergessen erzählen
3.2.1.2
Erzählweise und Figurenzeichnung
Für einen Brief beginnt der zweite Erzählteil höchst ungewöhnlich ohne Grußformel oder Angabe eines Datums. Stattdessen knüpft der Ich-Erzähler nahtlos an die vorangegangene Immobilienanzeige an: »Man muss etwas ausführlicher sein in den Anzeigen hier, das machen alle so, schön ist nur, was sich erzählt.« (IHM 1, S. 70) Dieser unvermittelte Beginn scheint der Textsorte ›Brief‹ entgegenzustehen. Vor allem der Nachsatz klingt weniger nach einer privaten Korrespondenz, denn wie der reflektierende Kommentar einer Schriftstellerfigur. Erst die im Fließtext eingebaute Anrede der fiktiven Adressatin Karolin lässt darauf schließen, dass es sich bei Hans’ Schilderungen um einen verschriftlichten Bericht handelt (vgl. IHM 1, S. 71). Wie sich im Laufe des Texts zeigt, richtet sich der Verfasser jedoch nicht nur an seine Tochter, sondern auch an eine unkonkret bleibende, vermeintliche Kontrollinstanz. Vor dieser Instanz glaubt sich Hans, rechtfertigen zu müssen, wenn er sagt: »Ich behandele sie [Sarah] gut. Daraufhin werden Sie diesen Bericht doch lesen. Ich nehme an, dass Karolin ihn weitergibt. Auf nichts kann man sich verlassen. Sie brauchen nicht zu glauben, dass ich etwas zu verbergen hätte. Sarah wäre, was ich zu verbergen hätte.« (IHM 1, S. 73) Die Passage zeugt davon, dass es sich bei Hans’ Erzählteil tatsächlich um einen als Brief verfassten Krankheitsbericht handelt. Über die Einordnung der Textsorte hinaus, lässt die Leseransprache aber auch Rückschlüsse auf die Figurenzeichnung zu. Wirkt Hans schon zu Beginn des Briefs fahrig und aufgelöst, lässt ihn diese Passage geradezu paranoid erscheinen, was auch seine Fähigkeit als Erzählinstanz beeinträchtigt. So muss der Leser Hans’ Zuverlässigkeit in Zweifel ziehen – ganz gleich, ob dieser nur auf kauzige Weise von der Krankheit seiner Frau erzählt oder in seinem Bericht tatsächlich ein etwaiges Fehlverhalten seinerseits verschleiern möchte. Die Zweifel an Hans’ erzählerischen Fähigkeiten werden weiterhin dadurch bekräftigt, dass es ihm nicht möglich ist, Sarahs Krankheitsverlauf chronologisch wiederzugeben. Immer wieder unterbricht sich der Ich-Erzähler selbst und springt zwischen den Schilderungen verschiedener Ereignisse. Besonders augenfällig wird diese anachronische Erzählweise, wenn Hans davon berichtet, wie sich Sarahs Krankheit das erste Mal bemerkbar gemacht hat. Nur mit großen Unterbrechungen gelingt es ihm, davon zu erzählen, dass er eines Abends von seiner Frau nicht vom Flughafen abgeholt worden ist. Es stellte sich heraus, dass Sarah auf dem Weg dorthin vergessen hatte, was sie dort eigentlich erledigen wollte (vgl. IHM 1, S. 76). Während Hans in der Rückschau von diesen ersten Krankheitsanzeichen erzählt, merkt er immer wieder an, wie schwer es ihm fällt, seine Gedanken und Erinnerungen in einer chronologischen Reihenfolge niederzuschreiben (vgl. IHM 1, S. 70f.). Aufgrund dieser konfusen Erzählstruktur gleicht Hans’ Brief eher einem
3. Demente Partner
inneren Monolog oder einem assoziativen Tagebucheintrag als einem geordneten Bericht.76 Doch nicht nur die Reihenfolge der Ereignisse bereiten dem offenbar emotional aufgewühlten Erzähler Probleme, sondern auch Rechtschreibung und Ausdrucksweise, weshalb er zur Sicherheit ein Wörterbuch bereitgelegt hat (vgl. IMH 1, S. 73). Diese Indizien untermauern zunehmend der Eindruck, dass auch Hans krank sein könnte. Er selbst führt die Schwierigkeiten zunächst auf sein von jeher mangelndes Erzählvermögen zurück. So wiederholt er immer wieder: »Ich kann es nicht erzählen. Ich bin Physiker, ich muss es nicht erzählen.« (IHM 1, S. 70)
3.2.2
Intertextuelle und paarsymbiotische Ansteckung
Der Archivar, der Buchhalter und der Physiker Während sich Hans offenbar mit einer bildhaften Erzählweise schwertut (vgl. IHM 1, S. 71), fällt ihm – ähnlich wie Frischs Protagonist Geiser – der Umgang mit Zahlen und Fakten leichter.77 Dieses naturwissenschaftliche Interesse stellt nicht die einzige Parallele zwischen den beiden Figuren dar. Ein Vergleich der Protagonisten, der wegen des offen markierten intertextuellen Bezugs naheliegt,78 zeigt, dass sich Draesner unter anderem in der charakterlichen Ausgestaltung deutlich an Frischs Text angelehnt hat, aber auch Bernlefs Figur Maarten zum Vorbild genommen hat. So gleichen sich Geiser, Maarten und Hans zum Beispiel in ihrer prosaischen, knappen Ausdrucksweise und der Zurückgezogenheit, in der sie leben.79 Überdies zeichnen sich die drei Figuren, die als Archivar, Buchhalter und Physiker tätig gewesen sind, als analytische Charaktere aus, die vor ihrer Demenzerkrankung eher emotional zurückgenommen agiert haben. Im Zuge ihrer Erkrankung entwickeln die eigentlich nüchternen Protagonisten Herr Geiser, Maarten und Hans Misstrauen und Unmut gegenüber ihrem Umfeld, wobei sie zeitweise paranoide Züge annehmen (vgl. z.B. HG, S. 166). Über diese ähnlich geartete Figurenzeichnung hinaus finden sich ebenso strukturelle und bildhafte Entsprechungen, wie beispielsweise die in den Text collagierte Zeitungsannonce oder aber die Motive des Spiegels und der Metamorphose.80
76
77 78 79 80
Wie Renate Kellner richtig bemerkt, sind die Grenzen zwischen Brief- und Tagebuchroman fließend: »Das Wissen des Erzählers um einen (fiktiven) Leser kann sowohl Inhalt als auch Form des Erzählens bestimmen. […] Je stärker der fiktive Leser als abwesend gekennzeichnet ist, desto mehr nähert sich ein Briefroman einem Tagebuchroman an.« Renate Kellner: Der Tagebuchroman als literarische Gattung. Berlin / Boston 2015, S. 20. Vgl. Zeisberg (2017a), S. 51. Zu den intertextuellen Bezügen in Draesners Erzählung vgl. Malottke (2017), S. 227. Vgl. Malottke (2017b), S. 230. Vgl. Malottke (2017b), S. 227 und Textanalyse, Kapitel 1.2.3.3.
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Anhand dieser Motive lässt sich die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Draesners Erzählung und den beiden Prätexten aufzeigen, aber auch entscheidende Umakzentuierungen sichtbar machen. Legt man beispielsweise die drei Spiegel-Motive nebeneinander, tritt zu Tage, dass sich jede Figur im Spiegel mit anderen Ängsten konfrontiert sieht: So überprüft Geiser im fortgeschrittenen Krankheitsstadium sein Spiegelbild daraufhin, ob er einem Lurch ähnelt (vgl. MH, S. 124). Im Gegensatz dazu vermag Bernlefs Protagonist Maarten, im Spiegel nicht länger sein eigenes Bild zu erkennen, sondern sieht nur noch eine weiße Fläche (vgl. HG, S. 133). Während Geisers Befürchtung, einem Lurch zu ähneln, auf seine Angst vor einer kognitiven Rückentwicklung hindeutet, zeugt der blanke Spiegel in Maartens Fall vom Verlust der Selbstwahrnehmung und -reflexion. Anders als die Figuren der Prätexte befürchtet Hans wiederum, dass sich seine Ohren grotesk veränderten. Dieser Effekt rühre vom angestrengten Lauschen her, ob Sarah bei ihren Streifzügen durch das große Haus etwas zustoßen könnte. Seine Ohren wüchsen deshalb langsam und – so fürchtet Hans – würden sich auch bald zuspitzen (vgl. IHM 1, S. 72). Beunruhigt wirft er immer wieder einen Blick in den Spiegel, um diese Entwicklung zu überprüfen. Aus Angst vor seinem veränderten Anblick dreht er schließlich den Spiegel um. Diese Reaktion stuft Heike Hartung als Reflexionsverweigerung ein, schließlich weigert sich Hans, sich seiner Furcht vor einer krankheitsbedingten Veränderung zu stellen.81 Metamorphe Verwandlung Im Gegensatz zu Geiser, der glaubt, einem rückwärts gerichteten Evolutionsprozess unterworfen zu sein, zeugt Hans’ vermeintliche Metamorphose von dessen Furcht vor einer verhängnisvoll symbiotischen Paarbeziehung,82 die in letzter Instanz auch bei ihm zu einer Erkrankung führen könne. So äußert er die Theorie, aufgrund seiner Spiegelneuronen Sarahs Verhalten adaptiert zu haben: »Manchmal habe ich Angst, Sie werden lachen, dass sie mich angesteckt hat.« (IHM 1, S. 74) Die sich langsam zuspitzenden Ohren seien ebenfalls Ausdruck dieses Prozesses. So geht er davon aus, dass Sarah aufgrund ihrer Erkrankung Zugang zu einer Parallelwelt der Flora und Fauna habe, die ihm bis dato verschlossen war.83 Seine sich angeblich zuspitzenden Ohren hängen mit der Befürchtung zusammen, aufgrund einer Ansteckung ebenfalls Teil dieses kreatürlichen ›Demenz-Kosmos‹ zu werden – ein Bild, das wiederum auf Lewis Carrolls Text Through the Looking-Glas und der 81 82 83
Hartung (2010), S. 131. Zur Paarbeziehung der beiden Figuren vgl. Hartung (2010), S. 132. An einer Stelle spricht Hans davon, dass ihn im Garten verstreute Kerne an »Schrittsteine für Vögelfüße« erinnern, »Einladungen in eine andere Welt, denen ich nicht folgen kann.« (IHM 1, S. 70) Sarah wiederum scheint Teil dieses Kosmos zu sein. Ihr Körper sei ähnlich zerbrechlich wie der eines Vogels, ja am Ende scheint sie sogar fliegen zu können und Hans meint: »[…] Sarah zwitschert, ein Vogel, der alles ist und nichts […].« (IHM 1, S. 80)
3. Demente Partner
darin erwähnten Parallelwelt hinter den Spiegel verweist, aber auch einen Rückgriff auf Ovids Metamorphosen darstellt.84 (Schließlich erinnert Hans’ Furcht vor vergrößerten und zugespitzten Ohren an Ovids Geschichte des Königs Midas’, dem zur Strafe für seine Dummheit Eselsohren wachsen.)85 Neben der Verwandlungsgeschichte von König Midas hat auch der Mythos von Baucis und Philemon Eingang in den Text gefunden: Wie bereits in Kapitel 3.1.4 geschildert, ist es diesen antiken Sagengestalten aus Ovids Metamorphosen am Ende ihres gemeinsamen Lebens vergönnt, in zwei Bäume verwandelt zu werden, deren Äste untrennbar miteinander verwachsen.86 Hans’ Befürchtung, eine vergleichbar symbiotische Verbindung mit seiner Frau einzugehen, stellt nicht nur ein Rückgriff auf den antiken Prätext dar, sondern entspricht zugleich dem prominenten Demenz-Narrativ Elegy for Iris: Hierin schildert der Ich-Erzähler John das Verhältnis zu seiner demenzkranken Gattin ebenfalls als Paarsymbiose, die durch die tägliche Pflege hervorgegangen sei und sich ähnlich wie Philemons und Baucis’ Verhältnis gestalte.87 Diese intensive Nähebeziehung zu seiner Frau führt laut Bayley dazu, dass er (ebenso wie Draesners Figur Hans) glaubt, mit der Zeit sukzessive deren Demenz-Symptome zu adaptieren (vgl. Kapitel 3.1.3.1).88 Draesner greift diese Vorstellung und die damit verbundene Bildlichkeit auf und verstärkt sie: Im Gegensatz zum Prätext Elegy for Iris, glaubt Hans nicht nur, das Verhalten seiner Frau zu imitieren, sondern fürchtet sich vor einer faktischen ›Ansteckung‹. Tatsächlich finden sich im Text auch mehrere Hinweise, die diese These untermauern. Zum einen ist Hans’ Figurenzeichnung an die Charakterisierungen der dementen Protagonisten der Prätexte (an Herrn Geiser und Maarten) angelehnt. Den drei Figuren ist gemein, dass sie alle – wenn auch in unterschiedlich starker Ausprägung – unter Orientierungslosigkeit und Sprachverlust leiden. Hierauf reagieren sie teils fatalistisch, teils mit Wutausbrüchen. Diese Wut richtet sich vor allem gegen ihr jeweiliges Umfeld, das ihnen mit Unverständnis begegnet (vgl. Textanalyse, Kapitel 1.2.2). Ebenso ähneln sich die drei Figuren in ihrer Furcht vor einer äußerlichen wie innerlichen Veränderung durch die Krankheit. Diese Parallelen auf Ebene der Figurenzeichnung legen den Schluss nahe, dass Hans, wie Geiser und Maarten, ebenfalls als dementer Protagonist angelegt worden ist.89 Es 84 85 86 87 88
89
Im zweiten Band der Alice-Reihe entdeckt Alice hinter einem Spiegel eine weitere Parallelwelt, vgl. Carroll (1971), S. 192. Vgl. Ovidius (2010), Buch XI, S. 194201. Vgl. ebd., Buch VIII., S. 92-98. Vgl. EFI, S. 127. Vgl. EFI, S. 275: »And I have the illusion, which fortunate Alzheimer’s partners must feel at such times, that life is just the same, has never changed. I cannot imagine Iris any different. Her loss of memory becomes, in a sense, my own.« An dieser Stelle muss Heike Hartung widersprochen werden. Sie geht nicht davon aus, dass Hans tatsächlich erkrankt sei, sondern spricht nur von einem »physischen Einfühlen oder Mitfühlen« mit seiner kranken Frau. Hartung (2010), S. 133.
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ließe sich sogar von einer Art intertextuellen Ansteckung bei den Figuren des Prätexts sprechen, deren anachronische Erzählweisen und Überwachungsängste auf Hans übergegangen zu sein scheinen.90 Neben den intertextuellen Bezügen auf die dementen Figuren, zeichnen sich weitere Anhaltspunkte einer partnerschaftlichen Erkrankung ab: So finden sich mehrere Textsignale in Sarahs Bewusstseinsstrom, die darauf hindeuten, dass zwischen ihr und Hans ein nahezu symbiotisches Verhältnis besteht, das eine ›Krankheitsübertragung‹ begünstigt haben könnte. Beispielsweise sprechen beide Eheleute von der Krankheit als »der Schliche, der Schlange« (vgl. IHM 1, S. 74), die sich in ihren Köpfen eingenistet habe – ein Gedanken, der metaphorisch auf den Sündenfall anspielt und vom Schuldempfinden der Figuren zeugt.91 Die SchlangenMetaphorik beinhaltet darüber hinaus ein metamorphes Element: Genau wie Hans glaubt, sich optisch grotesk zu verwandeln, denkt Sarah, dass sie sich aufgrund der Krankheit zunehmend verändert, ja körperlich auflöst. Dieser Prozess wird mit der Schlangen-Metapher verknüpft, wenn sie fragt: »Ein Tier frisst sein Haus, welches? […] die Schlange […]« (IHM 1, S. 60). Dieses Bild der Schlange, die ihre eigene, zuvor abgestreifte Haut auffrisst, bringt in kindlichen Worten die eignen krankheitsbedingten Veränderungs- und Zerstörungsprozesse zum Ausdruck. Hans übernimmt und bestätigt diese Vorstellung, wenn er Sarahs Wortspiel aufgreift und sagt: »[…] die Schlange kriecht mir in die eigenen Erinnerungen und verändert, was war, durch das, was heute ist.« (IHM 1, S. 78) An dieser Stelle wird deutlich, dass die Krankheit nicht allein mit zerebralen Vorgängen in Verbindung gebracht wird, sondern als planvoll vorgehendes, manipulatives Wesen erscheint. Diese zoomorphe Darstellung der Demenz lässt einerseits auf das Gefühl der Ohnmacht schließen, das die Figuren gegenüber der Krankheit empfinden. Gleichzeitig zeugt die Schlangenmetaphorik im biblischen Sinne von einem Sündenfall: Die Figuren Hans und Sarah glauben, Schuld an ihrer (vermeintlichen) Erkrankung zu tragen. Auf diese Weise wird die DemenzKrankheit als Strafe ausgelegt, die einer Vertreibung aus dem Paradies der Gesundheit gleichkommt.
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Während die anachronische Erzählweise an Bernlefs Hirngespinste erinnert, entsprechen die paranoiden Züge der Figur Geiser aus Der Mensch erscheint im Holozän: Hierin misstraut der Protagonist zunehmend seinem Umfeld und schließlich auch der eigenen Tochter, die als Kritikerin und Erzieherin wahrgenommen wird. Vgl. Textanalyse, Kapitel 1.1. Vgl. Malottke (2017), S. 229.
3. Demente Partner
3.2.3 3.2.3.1
Wissensgeschichtliche Kontextualisierung Spiegel-Metaphorik und -Neuronen
Mithilfe der zugleich theologisch und biologisch aufgeladenen SchlangenMetaphorik, aber auch anhand des Konstrukts der intertextuellen DemenzÜbertragung versucht Draesner, ein genuin literarisches Krankheitsbild zu entwerfen, das auf verschiedene Prätexte sowie Textgattungen referiert.92 Vor diesem Hintergrund scheint Hans’ Theorie einer Ansteckung als provokativer Gegenentwurf zu medizinischen Demenz-Konzepten angelegt zu sein und jeglicher wissenschaftlicher Grundlage zu entbehren. Eine Untersuchung der wissensgeschichtlichen Kontexte zeigt jedoch, dass Draesners Text sehr wohl auf aktuelle medizinische Debatten und Erkenntnisse der 2000er Jahre zurückgreift, indem beispielsweise der Begriff der ›Spiegelneuronen‹ verwendet wird. Während der Ausdruck heutzutage geläufig und lange etabliert erscheint, liegt die Entdeckung dieser speziellen Nervenzellen nicht weit zurück. Erst 1992 weisen Wissenschaftler die sogenannte Spiegelneuronen im Gehirn von Makaken-Affen nach.93 Diese Nervenzellen befinden sich im Gehirn der Primaten und zeichnen sich dadurch aus, dass sie bei der Beobachtung von Situationen dasselbe Aktivitätsmuster zeigen wie bei einer eigenen Ausführung dieses Vorgangs.94 Aus diesem Grund wird seit ihrer erstmaligen Beschreibung im Jahr 1992 diskutiert, ob Spiegelneuronen die Basis für Imitation, Lerneffekte und sogar Mitgefühl sein könnten.95 Ließen sich diese Zellen zunächst nur bei Affen nachweisen, verdichten sich im Jahr 2002 schließlich die Hinweise, dass Spiegelneuronen auch im menschlichen Hirn vorhanden seien könnten. Im Jahr 2010 – also zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Ichs Heimweg macht alles alleine – wird schließlich der direkte Nachweis beim Menschen erbracht.96
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Vgl. Anna Alissa Ertel: Körper, Gehirne, Gene. Lyrik und Naturwissenschaft bei Ulrike Draesner und Durs Grünbein. Berlin / New York 2011, S. 41: »Dabei interessiert Draesner nicht nur, was beispielsweise die Neurowissenschaft über Gedächtnisprozesse herausfindet, sondern auch […] was dem wissenschaftlichen Zugriff [.] verborgen bleibt und Raum für Spekulationen und Phantasie lässt.« Giacomo Rizzolatti et al.: »Understanding motor events: a neurophysiological study,« in: Experimental brain research Bd. 91, H. 1 (1992), S. S. 176-180 Vgl. Rizzolatti et al. (1992), S. 179 Vgl. Rizzolatti et al. (1992), S. 177. Während Rizzolatti in den Spiegelneuronen auch den Ausgang empathischen Denkens und Handels sieht, widersprechen ihm eine Vielzahl von neurowissenschaftlichen Studien. Bislang ist kein Beweis erbracht, dass ein Zusammenhang zwischen den besagten Nervenzellen und Empathie bestünde. Empathisches Verhalten dürfe nicht mit Imitation verwechselt werden, so die Gegenargumentation. Vgl. z.B. Ilan Dinstein et al.:"A mirror up to nature«, in: Current biology Bd. 18, H. 1 (2008), S. R13–R18. Roy Mukamel et al.: »Single-neuron responses in humans during execution and observation of actions«, in: Current biology Bd. 20, H. 8 (2010), S. 750-756.
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Der Begriff der Spiegelneuronen steht beim Erscheinen der Erzählung folglich mit einer aktuellen neurologischen Diskussion in Zusammenhang, die auch Eingang in die Literatur findet: So greift beispielsweise der deutsche Lyriker Durs Grünbein seit Anfang der 1990er Jahre neurologische Fragestellungen in seinen Texten auf,97 um diese »für die eigene Auffassung von Dichten auch theoretisch fruchtbar zu machen.«98 Im Gegensatz zu Grünbeins Bestrebungen, eine gewissermaßen naturwissenschaftlich fundierte Poetologie zu entwerfen,99 scheint Draesners Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Themen jedoch vor allem auf Fragen nach »gesellschaftlichen und kulturellen Funktionen von Literatur in der Gegenwart«100 abzuzielen. Dabei kommt es ihr offenbar weniger auf eine exakte Darstellung medizinischer Krankheitskonzeptionen an, als diese auf ihre Unumstößlichkeit hin zu überprüfen oder literarisch zu wenden. Dementsprechend führt die Autorin in ihrer Erzählung die Spiegelneuronen als Ursache dafür an, dass Hans Sarahs Verhalten adaptiert und sich auf diese Weise bei ihr angesteckt habe – eine Schlussfolgerung, die wissenschaftlich nicht haltbar ist.101
3.2.3.2
Primär und sekundär Betroffene
Während bislang kein Nachweis erbracht worden ist, dass Spiegelneuronen bei der Verbreitung von Demenz beteiligt sein könnten, mehren sich seit der Jahrtausendwende jedoch wissenschaftliche Studien, die das erhöhte Demenz-Risiko bei Partnern von Demenzkranken anderweitig begründen.102 Dieser Befund steht 97
Zur engen Verschränkung von Literatur, Theorie, Poesie und Neurophysik bei Durs Grünbeins vgl. den umfassenden Sammelband von Kai Brenner / Fabian Lampart / Jörg Wesche (Hg.): Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Freiburg / Berlin / Wien 2007. 98 Ertel (2011), S. 207. 99 Vgl. Ertel (2011), S. 26. 100 Ertel (2011), S. 37. Während Anna Ertels Arbeit zu Draesners und Grünbeins lyrischen Texten eine Fülle von gewinnbringenden Analysen liefert, überzeugt ihre Einschränkung, Draesner ginge es im Gegensatz zu Grünbein nicht so sehr um die Selbstverortung als Autorin in einer bestimmten Literaturtradition, im Hinblick auf Ichs Heimweg macht alles alleine nicht. Schließlich versucht Draesner, die Erzählung dezidiert in die literarische Tradition der UnsinnsDichtung und der Moderne einzuschreiben und stellt sich damit bewusst in eine Reihe früherer Demenz-Narrative. 101 Ulrike Vedder spricht von einer »Krankheitsübertragung qua Nachahmung«. Vgl. Vedder (2012), S. 278. 102 Eine Vielzahl an Studien belegt, dass die psychische Belastung von pflegenden Angehörigen zu Stress und Depressionen führen kann – Faktoren, die Demenz-Erkrankungen begünstigen. Zentrale Beiträge hierzu finden sich vor allem in der anglo-amerikanischen Forschung. Vgl. u.a. Pauline Boss et al.: »Predictors of Depression in Caregivers of Dementia Patients: Boundary Ambiguity and Mastery«, in: Family Process Bd. 29, H. 3 (1990), S. 245-254; Richard Schulz / Scott Beach: »Caregiving as a risk factor for mortality: the Caregiver Health Effects Study«, in: JAMA Bd. 282, H. 23 (1999), S. 2215-2219; Silvia Sörensen / Martin Pinquart: »Differences between caregivers and noncaregivers in psychological health and physical health: A
3. Demente Partner
nicht mit einer Infektion im klassischen Sinne oder – wie im Fall von Draesners Erzählung – mit den Aktivitäten von Spiegelneuronen in Verbindung.103 Dagegen spricht, dass weder Ärzte noch Pflegepersonal früher oder häufiger als der Bevölkerungsdurchschnitt an Demenz erkranken.104 Im Jahr 2010 bestätigt indes eine umfassende Studie den Befund, dass das Risiko an Demenz zu erkranken, bei Lebensgefährten, die sich um ihre dementen Partner kümmern, um das sechsfache steigt.105 Dieser Risikowert bei Ehegatten wird mit der psychosozialen Belastung, die aus einer Pflege des Partners resultiert, begründet. Schließlich leiden Partner von Demenz-Kranken häufig an Angstzuständen, Stress und Depressionen, die wiederum ein Demenz-Risiko deutlich erhöhen.106 Überdies führe das Zusammenleben mit einem Dementen zu einer zunehmend verflachten Kommunikation und einer an Anreizen armen Umgebung – Faktoren, die ebenfalls eine DemenzErkrankung begünstigen können.107 Auch wenn die bislang umfassendste Studie zum gesteigerten Demenz-Risiko bei Ehegatten erst zwei Jahre nach dem Erscheinen von Ichs Heimweg macht alles alleine herausgekommen ist, liegen bereits seit etwa 1990 Artikel vor, die diese These untermauern.108 Während es sich schwerlich beweisen lässt, dass solche Studien den konkreten Hintergrund für Draesners Demenz-Darstellung bilden, ist jedoch offenkundig, dass Ichs Heimweg macht alles alleine das Thema Partnerschaft und Demenz auf vielfältige Weise reflektiert. Dabei stehen insbesondere Konflikte, die
103
104 105 106 107 108
meta-analysis«, in: Psychology and Aging Bd. 18, H. 2 (2003), S. 250-267; Silvia Sörensen et al.: »Dementia care: mental health effects, intervention strategies, and clinical implications«, in: The Lancet Neurology Bd. 5, H. 11 (2006), S. 961-973. Eine Ansteckung wurde in der Forschung beispielsweise in Zusammenhang mit dem Erreger ›Chlamydia pneumoniae‹ diskutiert, konnte aber bislang nicht eindeutig erwiesen werden. Vgl. Andreas Essig: s.v. »Chlamydia pneumoniae«, in: Gholamreza Darai (Hg.) et al.: Lexikon der Infektionskrankheiten des Menschen: Erreger, Symptome, Diagnose, Therapie und Prophylaxe. Berlin / Heidelberg 2012, S. 157. Im Rahmen weiterer Studien wurde im Jahr 2012 belegt, dass Demenz von Tier zu Tier übertragen werden kann, wenn das Alzheimer auslösende AmyloidBeta-Protein direkt in das Gehirn einer gesunden Maus injizierter wird. Eine derartige Übertragung ist jedoch nur auf künstlichem Wege beobachtet worden und stellt bislang keinen Nachweis für eine mögliche Ansteckung beim Menschen dar. Vgl. Sarah K. Fritschi et al.: »Highly potent soluble amyloid-b seeds in human Alzheimer brain but not cerebrospinal fluid«, in: Brain. A Journal of Neurology Bd. 137 (2014), S. 2909-2915. Vgl. Richard Friebe: »Demenzforschung: Ist Alzheimer ansteckend?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.05.2010. Maria Norton et al.: »Increased Risk of Dementia when Spouse has Dementia? The Cache County Study«, in: Journal of the American Geriatrics Society Bd. 58, H. 5 (2010), S. 895-900. Ebd., S. 898. Vgl. Robert Perneczky: »Ist die Alzheimer-Krankheit ansteckend?«, in: Alzheimer Info H. 2 (2012). Vgl. Pauline Boss et al. (1990) oder auch Richard Schulz / Scott Beach (1999).
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Vergessen erzählen
aus einer partnerschaftlichen Pflegesituation hervorgehen, im Fokus der Erzählung: So wird durch die Zweiteilung der Erzählung – in Sarahs Bewusstseinsstrom auf der einen Seite und den Brief des Ehemanns auf der anderen Seite – betont, wie schmal der Grat zwischen den Lebenswelten der primär und sekundär von Demenz betroffenen Figuren ist. Draesner geht sogar so weit, dass sie die Grenzen zwischen der kranken Figur und dem vermeintlich gesunden Gatten gänzlich auflöst.109 Schließlich erlebt Hans die Krankheit nicht nur aus Sicht eines Außenstehenden, sondern ist offenbar selbst davon betroffen. Bei den beiden Erzählteilen handelt es sich folglich um zwei Innenperspektiven auf die Krankheit, wobei unterschiedliche Krankheitsstadien und -wahrnehmungen reflektiert werden. Auf diese Weise beschreibt die Autorin Demenz als eine Krankheit, die durch die Beeinträchtigung von Kommunikations-, Sprech- und Denkfähigkeit immer auch Beziehungsgeflechte zerstört. Damit nicht du/den weg zum haus/allein zurückgehn musst Draesner benennt in ihrer Erzählung das Gefühl der Einsamkeit als zentrale Krankheitsfolge, die alle Beteiligten betrifft. Dies klingt bereits in der Überschrift an, deren Syntax auf die Gedankenwelt der dementen Protagonistin schließen lässt. Und tatsächlich findet sich der Satz in Sarahs Bewusstseinsstroms, als diese umherirrt und dabei denkt: »[…] ichs Heimweg macht heute wieder alles alleine […].« (IHM 1, S. 67) Diese Formulierung lässt auf die Einsamkeit und den Sprachverlust der Protagonistin schließen, gleichzeitig stellt der Satz aber auch eine intertextuelle Referenz auf Reiner Kunzes Bittgedanke, Dir zu Füßen dar. Kunzes Gedicht aus dem Jahr 1986 lautet wie folgt: »Stirb früher als ich, um ein weniges früher Damit nicht du den weg zum haus allein zurückgehn musst.« (Kunze (2002), S. 215. Groß- und Kleinschreibung im Original)
109 Leonie Süwolto macht auf die Gegensätzlichkeit zwischen dem verkopften Naturwissenschaftler Hans und der träumerischen Sarah aufmerksam. »Tatsächlich wird aber die Diskrepanz der Perspektiven über eine leitmotivische Spiegelmetaphorik zunehmend dekonstruiert und die Binarismen von Gesundheit und Krankheit, Rationalität und Irrationalität lösen sich sukzessive auf.« Dies.: »›Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm.‹ Zum Verhältnis von Subjektivität und Sprache in Arno Geigers ›Der alte König in seinem Exil‹«, in: Daniela Ringkamp / Sara Strauß / Leonie Süwolto (Hg.):Demenz und Subjektivität. Ästhetische, literarische und philosophische Perspektiven. Frankfurt a.M. et al. 2017, S. 71-88, hier S. 74, Fn. 7.
3. Demente Partner
Draesner greift das zentrale Bild des einsamen Heimwegs auf, wandelt es jedoch in Bezug auf die Demenz-Erkrankungen ihrer Protagonisten ab. Während das lyrische Ich in Kunzes Gedicht die Bitte äußert, dass seinem Partner die Phase der Trauer und der Einsamkeit eines Hinterbliebenen erspart bliebe, sind die Figuren in Ichs Heimweg macht alles alleine von der Demenz-Krankheit bereits derart separiert, dass sich beide – noch vor dem Ableben des Partners – vom anderen alleine gelassen fühlen. So spielt die Überschrift nicht nur auf Sarahs Einsamkeit an, sondern lässt sich auch auf Hans’ Situation beziehen: Seitdem sich die ersten Krankheitssymptome bei seiner Frau bemerkbar gemacht haben, sei »Sarah, meine Liebe, [.] verschwunden« (IHM 1, S. 81). Offenbar ohne die Unterstützung der gemeinsamen Tochter kümmert sich Hans allein um seine kranke Frau, die ihn zeitweise nicht zu erkennen scheint und spöttisch »Augustin« nennt (IHM 1, S. 77).110 Aus dieser Situation heraus entwickelt Hans Wut und Frustration gegenüber Sarah. Zugleich fühlt er sich von seinem Umfeld unverstanden und ausgeschlossen. Nachbarn und Freunde distanzierten sich, weil sie die krankheitsbedingten Veränderungen nicht ertrügen: »Menschen, die keine Erfahrung haben, mit – Hirngespinsten, schauen so. Sie schämen sich. Wie Menschen werden können.« (IHM 1, S. 77). Eine Auseinandersetzung mit der Demenz-Erkrankung seiner Frau und der eigenen Krankheit bleibt ihm deshalb allein überlassen. Am Ende der Erzählung gelingt es jedoch beiden Figuren, für einen kurzen Moment das Gefühl der Einsamkeit zu überwinden: Sarahs Sturz löst ein beidseitiges Wiedererkennen aus. Damit geht eine scheinbare Verjüngung der Kranken einher.111 So wirkt sie auf Hans nicht länger, als wäre »mit den Gedanken und dem Sprechen auch [ihre] Seele weg[getrocknet].« (IHM 1, S. 81) Stattdessen kommt sie wie ein zerbrechlicher Vogel mit strahlenden Augen »zärtlich, leuchtend« auf Hans zugeflogen (ebd.). Diese abschließende Passage markiert einen Bruch in der Figurenzeichnung. Hans’ Erzählduktus ändert sich – zuvor fahrig und übellaunig – zu einem zusammenhängenden, liebevollen Bericht. Durch Sarahs Sturz vom Hausdach vermag er plötzlich, wieder Zuneigung für seine kranke Frau zu empfinden, ja er fühlt sich sogar »lebendig [.] wie vielleicht nie zuvor« (IHM 1, S. 81).112 Dieser unvermittelte Wandel läuft der bisherigen Charakterisierung zuwider und erscheint
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Der Name ›Augustin‹ ist eine Anlehnung an das Volkslied »Oh du lieber Augustin, alles ist hin«, das auf humorige Weise negative Entwicklungen und Vergänglichkeit besingt. Dieser intertexuelle Bezug deutet ebenfalls auf Hans’ Demenz-Erkrankung hin, lautet doch die letzte Strophe des Lieds wie folgt: »Augustin, Augustin, / Leg‹ nur ins Grab dich hin! / O du lieber Augustin, / Alles ist hin!« Vgl. www.lieder-archiv.de/o_du_lieber_augustin-notenblatt_100091.html, abgerufen am 28. Februar 2019. Vgl. Malottke (2017b), S. 231: »In Anlehnung an die englische oder auch französische Redewendung ›to fall in love‹ oder ›tomber amoureuse‹ vereint Sarahs Sturz das Ehepaar, das wieder verliebt und jugendlich erscheint.« Zur jugendlichen Wirkung der Kranken vgl. Hartung (2010), S. 134ff.
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Vergessen erzählen
wenig glaubwürdig,113 was auch ein Grund für die Abänderungen in der zweiten Erzählfassung gewesen sein könnte.
3.2.4
Zwei Fassungen, zwei Publikationskontexte
Soffi statt Sarah – der Bewusstseinsstrom Diese zweite Version veröffentlichte Draesner im Jahr 2011 in ihrem Erzählband Richtig liegen. Geschichten in Paaren (vgl. Textanalyse, Kapitel 1.3). Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Erzählung nur kaum von dem 2008 erschienenen Text: Der Titel scheint unverändert; nur das Wort ›alleine‹ ist in ›allein‹ abgewandelt worden.114 Auch die generelle Struktur von Bewusstseinsstrom und dem sich anschließenden Brief entspricht der ersten Erzählversion. Legt man beide Texte nebeneinander, tritt jedoch zu Tage, dass die zweite Version deutliche Kürzungen und Umarbeitungen aufweist. So ist die Erzählung beinahe um die Hälfte der Seiten gekürzt worden. Diese Straffungen betreffen vor allem den Bewusstseinsstrom, der statt elf nur noch viereinhalb Seiten umfasst. Überdies fehlt die Zeitungsannonce, die in der ersten Version beide Erzählteile miteinander verbindet.115 Neben den umfangreichen Kürzungen fällt auf, dass die demente Protagonistin nicht länger den biblischen Namen Sarah trägt,116 sondern Soffi heißt. Diese scheinbar kleine Abwandlung stellt eine Aufwertung der Figur dar: Trotz ihrer Erkrankung, die mit dem Verlust kognitiver Fähigkeiten einhergeht, wird die Protagonistin mit dem griechischen Weisheitsbegriff in Verbindung gebracht.117 Dass die Figur über eine, wenn auch antirationale Weisheit verfügt, wird auch durch die 113 114
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Vgl. Malottke (2017b), S. 232. Diese Abänderung verdeutlicht noch einmal den Bezug zu Kunzes Gedicht, in dem es heißt: »Damit nicht du / den weg zum haus / allein zurückgehn musst.« Vgl. Reich-Ranicki (2002), S. 215. Hervorhebung durch L.D. Vgl. Malottke (2017b), S. 232: »Ein Vergleich der beiden Fassungen zeigt, dass über den quasiidentischen Titel hinaus Ähnlichkeiten im narrativen Grundgerüst beider Erzählungen bestehen, der ursprüngliche Text jedoch inhaltlich entkernt wurde.« Der Zusammenhang zwischen der biblischen Figur Sarah und Draesners Protagonistin besteht allein darin, dass beide Figuren ein hohes Alter erreichen und durch ihren Namen, der übersetzt ›Fürstin‹ bedeutet, als wirkmächtig beschrieben werden. Während für die biblische Gestalt vor allem die Frage der Nachkommenschaft zentral ist, stehen bei Draesners Figur jedoch Krankheit und Identitätskonflikte im Fokus. Der biblische Bezug wird jedoch durch die Schlangen-Metaphorik verstärkt, die auf einen Zusammenhang zwischen der Protagonistin mit dem von Eva begangenen Sündenfall hinweist. Zur biblischen Figur Sarah vgl. Anke Mühling: s.v. »Sarai / Sara«, in: Michaela Bauks / Klaus Koenen / Stefan Alkier (Hg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet. Stuttgart 2006. Internet-Quelle: https://www. bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/saraisara/ch/f69aa20daca0cef7e0db8beafe77425d/, abgerufen am 28. Februar 2019. Vgl. Malottke (2017b), S. 232.
3. Demente Partner
strukturellen Überarbeitungen des ersten Erzählteils bestätigt: So ist der Bewusstseinsstrom nicht nur eingangs, sondern durchgängig in elliptische, Vers-ähnliche Sätze untergliedert. Diese konsequente Rhythmisierung macht deutlich, dass es sich bei Soffis Gedanken noch weniger um »apathische Bedeutungsfetzen« handelt als es schon bei Sarah der Fall war.118 Vielmehr scheint den Gedankengängen ein Muster zu Grunde zu liegen, das nicht nur die Sprachstörung der Protagonistin mimetisch abzubilden vermag, sondern auch auf eine strukturierte, innere Logik der Protagonistin schließen lässt. Zugleich wird auf diese Weise die artifizielle Überformung des Bewusstseinsstroms kommuniziert und noch deutlicher auf lyrische Schreibweisen referiert, bei denen im Vergleich zu Prosatexten das Druckbild, aber auch die Klangebene semantisch stärker aufgeladen sind. Diesen graphischen und lautlichen Formelementen kommt in Draesners zweiter Erzählfassung auch deshalb eine größere Bedeutung zu, weil der Wegfall der Interpunktion und die Kürzung weiterer Zusammenhänge eine Entschlüsselung des offenbar logisch konsistenten Bewusstseinsstroms zusätzlich erschweren.119 Ein Verständnis der Textbedeutung wird folglich erst durch eine Untersuchung der klanglichen und graphischen Formelemente möglich. Auf diese Weise wird der Leser in die Rolle eines Dementen versetzt, dem sich Sprache und Schrift zunehmend entziehen, Stimmintonationen und Bilder jedoch zugänglich sind.120 Dieser performative Charakter der Erzählung erinnert wiederum an Max Frischs Demenz-Narrativ, das ebenfalls mit lyrischer Formsprache arbeitet und eine aktive Rekonstruktion der immer brüchiger werdenden Handlung erfordert (Textanalyse, Kapitel 1.1.3.1). Intertextuelle Akzentverschiebung – der Brief des Ehemanns Während Soffis Bewusstseinsstrom zwar komprimiert worden ist, aber zu großen Teilen wortwörtlich der ersten Fassung entspricht, erscheint Hans’ Brief vollkommen verändert. Diese Änderungen beziehen sich zunächst auf die Figurenkonstellationen: Wie sich schon zu Beginn zeigt, richtet sich Hans’ Schreiben an dessen Tochter aus erster Ehe, die Marlene und, nicht mehr wie in der ersten Version, Karolin heißt. Es stellt sich heraus, dass sich Hans von seiner ersten Frau Annika – Marlenes Mutter – vor Jahren hat scheiden lassen, um mit Soffi zusammenzuleben (vgl. IHM 2, S. 180). Als diese an Demenz erkrankt, fasst er den »sturen Beschluss«, sie selbst zu pflegen, »als könne ich damit mein schlechtes Gewissen bekämpfen, so
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Zeisberg verwendete diese Wendung um den Bewusstseinsstrom der ersten Erzählversion zu umschreiben. Ebd. (2017a), S. 52. 119 Vgl. Malottke (2017b), S. 244. 120 Zur affektiv-emotionalen Ebene des menschlichen Gedächtnisses vgl. Calabrese / Lang / Förstl (2011), S. 18f.
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lange nichts bemerkt zu haben, was mich beschämte, so dass ich dir nie erzählte, wie Soffis Krankheit aufkam […].« (IHM 2, S. 180) Schon anhand dieser Zeilen wird ein Unterschied zur Figurenzeichnung der ersten Version deutlich: Hans tritt nicht länger als egozentrischer, misstrauischer Wissenschaftler in Erscheinung (tatsächlich wird ihm in der zweiten Fassung kein Beruf zugeordnet). Auch glaubt er nicht, selbst an Demenz erkrankt zu sein. Statt von Überwachungsängsten und einer vermeintlichen Ansteckung spricht Hans in der zweiten Erzählfassung von seinen Schuldgefühlen, die er gegenüber Soffi empfindet: »[…] ich setzte sie vor den Fernseher und band sie an den Stuhl, damit sie nicht herunterfiel, dann, damit sie nicht weglief, dann, um sie zu bestrafen, dann, um mich zu rächen […] und je vergesslicher Soffi wurde, umso habhafter, ja zugreifender wurden meine Träume und bald auch – ja Malla [Marlene], meine Taten.« (IHM 2, S. 182) Wie diese Passage deutlich macht, ist anstelle des Versuchs, medizinische DemenzKonzepte in Frage zu stellen, der Fokus der zweiten Erzählfassung vollends auf den krankheitsbedingten Partnerschaftskonflikt gerückt worden. Dabei erscheint Hans’ Situation als sekundär Betroffener ungleich leidvoller: Er steht den krankheitsbedingten Veränderungen seiner Frau hilflos gegenüber – weder Gewalt noch gutes Zureden fruchten im Zusammenleben mit der kranken Soffi. Immer öfters gewinnt Hans den Eindruck, sie sei »nur schmerzliches Erinnerungsbild in meinem Kopf, das verwirrenderweise als wirklicher Körper, sich selbst immer noch ähnlich, vor mir steht und mich ansieht und doch fehlt […].« (IHM 2, S. 181) Soffi erscheint ihm wie eine lebendige Tote, ja eine bloße Hülle ohne Bewusstsein und Seele.121 Auf diese Weise führt die Kranke ihrem Mann täglich vor Augen, was er verloren zu haben glaubt.122 Im Gegensatz zur ersten Erzählfassung bleibt Hans bis zuletzt im Unklaren darüber, was Soffi ihm gegenüber noch zu empfinden vermag (vgl. IHM 2, S. 184). Auch ihr Sturz ändert daran nichts: Der Moment des gegenseitigen Wiedererkennens, des ›tomber amoureux‹, bleibt aus. Statt eines willentlichen Rutschs vom Dachfirst, der einen Wendepunkt in der ersten Erzählfassung markiert (vgl. IHM 1, S. 80), tut Soffi in der zweiten Version einen Schritt zu viel, stürzt vom Dach und 121 122
Zu der weitverbreitenden Darstellung von Demenz-Kranken als lebendige Tote vgl. Schwieren (2017), S. 132 oder auch Aquilina / Hughes (2006), S. 143-161. Vgl. Glasenapp (2015), S. 148: »Gerade für die Angehörigen Dementer betrifft die Krankheit einhergehende Verluste nicht allein einzelne Fähigkeiten einer Person, sondern […] den Menschen als Ganzes. Daraus ergibt sich das Paradox, dass gerade das erkennbare, da gegenwärtige Leben einer Person mit Demenz die Differenz zum vorherigen Leben offenkundig werden lässt und ihr aktueller Zustand ein Verlustempfinden begünstigt – eine lebende Person wird betrauert, gerade weil sie noch lebt.«
3. Demente Partner
erliegt ihren Verletzungen. Wie ein fallengelassenes Objekt wird sie anschließend von den Rettungskräften »aus dem Garten gesammelt« (IHM 2, S. 183). Dieses Ende steht dem Schluss der ersten Fassung konträr gegenüber: Dem Ehepaar gelingt es bis zuletzt nicht, zueinander durchzudringen. Trotz des beschwerlichen Krankheitsverlaufs bedeutet Soffis Tod keine Erlösung für Hans: Er bleibt verzagt zurück und fühlt sich immer noch so, als sei er »am Flughafen und warte auf Soffi, ich freue mich auf den gemeinsamen Heimweg, und sie kommt nicht, sie holt mich nicht ab.« (IHM 2, S. 184) Eine ›Geschichte in Paaren‹ Wie das obenstehende Zitat verdeutlicht, weist die zweite Erzählfassung noch stärker auf die demenzbedingte Vereinsamung beider Partner hin. Doch im Vergleich zu Soffi, die zeitweise vergnügt klingt und kindliches Staunen gegenüber ihrer Umgebung empfindet, wirkt Hans als der eigentlich Leidtragende. Diese Umakzentuierung der Handlung und der Charakterisierung geht auch mit einer Abnahme der ursprünglichen intertextuellen Bezüge einher: Hans ähnelt weder in seiner Figurenzeichnung noch in seinen Formulierungen Frischs oder Bernlefs Protagonisten. Auch entfällt mit der Zeitungsannonce der dezente Verweis auf die Collagetechnik von Der Mensch erscheint im Holozän. Ebenso fehlt der Bezug aufs Ovids Metamorphosen und somit auch die Theorie der paarsymbiotischen Krankheitsübertragung. Indem diese ursprünglichen Bezüge merklich abgeschwächt worden sind, distanziert sich die zweite Erzählfassung von den beiden älteren Demenz-Innenperspektiven. Statt dieses Traditionsbezugs lehnt sich der Text eher an Demenz-Darstellungen an, die aus Sicht des Partners verfasst sind. So erinnert der selbstanklagende, melancholische Ton zuweilen an Bayley, der in seinem Demenz-Narrativ das eigene Fehlverhalten gegenüber Iris problematisiert (vgl. EFI, S. 252). Diese intertextuelle Akzentverschiebung lässt sich unter anderem auf den veränderten Publikationshintergrund zurückführen: So tragen die Umänderungen der inhaltlichen Ausrichtung des Erzählbands Richtig liegen Rechnung, der unterschiedliche Paarkonstellationen und Beziehungsaspekte beleuchtet.123 Demgegenüber steht der ursprüngliche Publikationshintergrund, der Erzählband Es schneit in meinem Kopf. Im Kontext dieser Demenz-Anthologie versucht Draesners erste Erzählfassung, – vielleicht auch in Abgrenzung zu den Texten der anderen Gegenwartsautoren – eine innovative Perspektive auf die Krankheit zu entwickeln, die gleichzeitig auf prominente Demenz-Prätexte verweist. Dabei greift sie medizinische Konzeptionen, wie das der Spiegelneuronen und dem erhöhten Demenz-Risiko von pflegenden Ehegatten, auf und verbindet diese mit mythischen Schuld- und Bestrafungsvorstellung, woraus ein verwirrendes Krankheitsbild resultiert. Während diese erste Fassung zwei Innenperspektiven 123
Vgl. Malottke (2017), S. 232.
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auf die Krankheit eröffnet, illustriert die zweite Fassung von Ichs Heimweg macht alles allein neben der gekürzten Innenperspektive vor allem die Sichtweise des Angehörigen auf die Erkrankung, was eine deutliche Akzentverschiebung hin zu den, in diesem Kapitel untersuchten Partner-Narrativen bedeutet.
3.3
Wie der Sohn, so die Mutter? – Langsames Entschwinden
Ähnlich wie im Fall von Iris Murdoch, deren Alzheimer-Krankheit nicht nur ihren Ehegatten Bayley, sondern beispielsweise auch Andrew Norman Wilson zu (auto-)biographischen Reflexionen veranlasst hat,124 zieht auch Walter Jens’ DemenzErkrankung unterschiedliche, literarische Verarbeitungen nach sich: Sieben Jahre, nachdem Tilman Jens mit seinem Essay Demenz. Abschied von meinem Vater die Gemüter erhitzt hatte, veröffentlicht dessen Mutter Inge den Text Langsames Entschwinden. Vom Leben mit einem Demenzkranken. Diese Konstellation ist für die vorliegende Arbeit besonders interessant, schließlich erlaubt sie, den literarischen Umgang mit ein und demselben Demenzkranken – aus Sicht des Sohnes auf der einen Seite und aus der Sicht der Ehefrau auf der anderen Seite – zu untersuchen. Schon die medialen Reaktionen auf die beiden Demenz-Narrative könnten nicht unterschiedlicher ausfallen. Wie in Kapitel 2.1 dieser Arbeit dargelegt, versetzt Tilman Jens’ Text die deutsche Medienlandschaft im Jahr 2009 in Aufruhr: Ob im Fernsehen, Radio oder den Tageszeitungen – Demenz. Abschied von meinem Vater wird kontrovers diskutiert.125 Im Fokus der Diskussion steht zum einen Jens’ These, sein Vater habe sich in die Demenz geflüchtet, um sich einer Auseinandersetzung mit seiner NSDAP-Mitgliedschaft zu entziehen (vgl. DAV, S. 135). Neben der kritischen Untersuchung dieser These bemängeln die Rezensenten, dass der Sohn den kranken Walter Jens öffentlich zur Schau stelle und auf diese Weise dessen Wunsch nach einem würdevollen Umgang zuwiderhandele.126 Während diese Punkte in der Medienlandschaft heiß diskutiert werden, bleibt die von Tilman Jens aufgeworfene Sterbehilfe-Debatte nahezu unbeachtet. Allein Christian Geyer geht in der Frankfurt Allgemeinen der Frage nach, wie man »einem geistig verwirrten Menschen [begegnet], von dem bekannt ist, dass er genau diesen Zustand des Verwirrtseins, des nicht mehr Sprechen- und Schreibenkönnens, nie erleben, sondern lieber aktive Sterbehilfe erfahren wollte?«127 Erst im Jahr 2016 greift das Feuilleton diese Frage in Bezug auf Walter Jens wieder auf und verhandelt sie 124 Vgl. Wilson (2003) und II. Textanalyse, Kapitel 3.1. 125 Zur breiten medialen Debatte über Demenz. Abschied von meinem Vater vgl. Textanalyse, Kapitel 2.1 dieser Arbeit. 126 Vgl. z.B. Radisch (2009) oder auch Ueding (2009). 127 Christian Geyer: »Es muss ja nicht gerade heute passieren«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.02.2009.
3. Demente Partner
ausführlicher. Anlass hierfür ist das Erscheinen von Inge Jens’ Text Langsames Entschwinden, der – flankiert von einem Vorwort und einem Schlussteil – in authentischen Briefauszügen rückblickend vom Krankheitsverlauf ihres Mannes und ihrem eigenen Umgang damit handelt.128 Das Buch wird in den Feuilletons überwiegend positiv aufgenommen;129 von medialem Aufruhr, wie beim Erscheinen von Demenz. Abschied von meinem Vater, ist keine Spur. Dies mag zum einen am Zeitpunkt der Veröffentlichung liegen: Als Langsames Entschwinden im Jahr 2016 erscheint, ist Walter Jens bereits über ein Jahr verstorben. Inge Jens’ retrospektive Betrachtungen und Bewertungen stehen dem literarischen Umgang ihres Sohnes gegenüber, der die Krankheit des Vaters noch zu dessen Lebzeiten schildert. Eine solche zeitnahe Auseinandersetzung wird in den Feuilletons – sei es im Fall von Geiger, Bayley oder eben Tilman Jens – vorwiegend als pietätlos eingestuft oder als Tabubruch wahrgenommen.130 Neben der retrospektiven Darstellung unterscheidet sich Inge Jens’ Text von dem ihres Sohnes vor allem durch eine bewusste Schwerpunktlegung auf die Themenbereiche Partnerschaft und Pflege. So steht in Langsames Entschwinden, ähnlich wie bei Elegy for Iris, nicht nur der Kranke, sondern auch dessen Partnerin, die autobiographische Ich-Erzählerin, im Fokus des Texts: »Im Rückblick fiel mir [Inge Jens] auf, dass die kleinen Berichte, im Zusammenhang gelesen, nicht nur eine Menge über den unaufhaltsamen Verfall meines Mannes, sondern auch einiges über mich erzählten, über die Veränderungen, die ich in dieser langen Zeit durchgemacht habe.« (LE, S. 11) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, lässt sich der Text vorwiegend als Selbstreflexion der autobiographischen Verfasserin lesen, was eingedenk der vorangegangenen Untersuchungen autobiographischer Demenz-Narrative nicht überrascht. Interessant daran ist jedoch, dass die Reflexionen aus Kinder-Perspektive – sofern sie einen faktualen Hintergrund aufweisen – von der Literaturkritik und -wissenschaft merklich anders bewertet werden, als die Texte, die aus dem
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Dass es sich um authentische, ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedachte Briefauszüge handelt, wird nicht nur im Text selbst versichert (vgl. LE, S. 10), sondern auch im Peritext kommuniziert. So wird im Klappentext betont: »In vertraulichen Briefen an Freunde und Bekannte hat sie [Inge Jens] immer wieder geschildert, wie er sich verändert und wie schwierig es ist, mit einem Demenzkranken umzugehen.« LE, Klappentext. 129 Vgl. Ingeborg Jaiser: »Anwesende Abwesenheit«, in: Titel Kulturmagazin, 23.04.2016 oder auch Christiane Adam: »Über die Demenz von Walter Jens«, in: Neue Osnabrücker Zeitung, 10.03.2016. 130 Bayleys Text wird beim Erscheinen zunächst gespalten aufgenommen, die in der Folge entstehenden wissenschaftlichen Beiträge werten ihn jedoch einhellig positiv. Vgl. im Kontrast Himmelfarb (1999) und –. Jeffrey Berman: Companionship in Grief. Love and Loss in the Memoirs of C. S. Lewis, John Bayley, Donald Hall, Joan Didion and Calvin Trillin. Amherst 2010.
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Blickwinkel eines Partners verfasst sind.131 Dies liegt im unterschiedlichen Hierarchiegefälle der beiden verschiedenartigen Beziehungsgefüge begründet: Erkrankt ein Ehepartner an Demenz, kommt es zwangsläufig zu gravierenden Verschiebung innerhalb der Paarbeziehung. Trotz dieses veränderten Verhältnisses steht das egalitäre Leitbild einer Partnerschaft – wie idealtypisch es auch sein mag – dem Generations- und Hierarchiegefüge der Eltern-Kind-Beziehung gegenüber.132 Der erzählende Gatte wird schon aufgrund des ähnlichen Alters wie das des Kranken, zumindest potentiell ebenbürtig wahrgenommen, wohingegen die Perspektive eines Kindes auf einen Elternteil immer durch ein Gefälle geprägt ist. Erkrankt ein Elternteil schließlich an Demenz, kann das jedoch zu einer Umkehr der ElternKind-Beziehung führen: Der einstige Schutzbefohlene ist seinem dementen Vater oder der Mutter ab einem bestimmten Krankheitsstadium geistig und auch körperlich überlegen. Diese Überlegenheit tritt besonders zu Tage, wenn Kinder von Dementen, wie Tilman Jens oder Arno Geiger, sich der elterlichen Krankheit auf literarischer Weise näher. An diesen Demenz-Texten manifestiert sich das umgekehrte Eltern-Kind-Verhältnis, schließlich ist es dem einstigen Erziehungsberichtigten im Gegensatz zu seinem Kind nicht mehr möglich, selbst über seine Krankheit zu schreiben. Aus diesem Grund gelten (auto-)biographische DemenzNarrative aus Kinder-Perspektive als einseitige Schilderungen, die zuweilen als Emanzipationsversuch, Denkmalsturz oder gar metaphorischer (Vater-)Mord eingestuft werden. Bei Demenz-Texten, die aus der Feder eines Gatten stammen, bleiben derartige Vorwürfe jedoch weitestgehend aus.133 Diese andere Bewertung von partnerschaftlichen Demenz-Texten durch die Medien, aber auch durch die Literaturwissenschaft lässt sich auch am Beispiel von Langsames Entschwinden beobachten. So sieht sich Inge Jens beispielsweise nicht
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Für den unterschiedlichen Umgang können Inge Jens’ und John Bayleys Texte als Beispiele herangezogen werden, die von der Literaturkritik und -wissenschaft im Vergleich mit den Narrativen aus Kinder-Perspektive deutlich wohlwollender aufgenommen worden sind. Zu Bayley vgl. Gilardi (2002), Cowart (2003) oder auch Berman (2010). Zu Jens vgl. z.B. Paschek (2016), Glasenapp (2016) oder Adam (2016). Ulrike Vedder kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: »Während das Format der Ehe-Erzählung die Demenzkranken in einer Konstellation von tendenziell Gleichaltrigen und Gleichrangigen positioniert […], sind Alzheimer-Erzählungen im familiären Generationenroman anders angelegt. Hier geht es um Abhängigkeitsverhältnisse aufgrund des Altersunterschieds und der familiären Konstellation, d.h. um Asymmetrien der Beziehungen, aber auch um Rollentausch […].« Vedder (2012), S. 279. Tatsächlich muss an dieser Stelle einschränkend angemerkt werden, dass John Bayley – wenn auch nur vereinzelt – ebenfalls der Vorwurf gemacht worden ist, Indiskretionen auszuplaudern und dadurch das Bild der berühmte Iris Murdoch zu demontieren. Vgl. Himmelfarb (1999), S. 34f. Insgesamt finden sich aber deutlich weniger derartige Reaktionen auf autobiographische Demenz-Texte, die aus der Feder von Ehegatten stammen.
3. Demente Partner
dem Vorwurf der Indiskretion ausgesetzt. Hatten Presse und Literaturwissenschaft ihrem Sohn Tilman den Vorwurf gemacht, den berühmten Vater entgegen dessen Willen als einen »am Rockzipfel seiner Pflegerin heiter Wurstweckle verdrückenden Greis« dargestellt zu haben, werden solche Anschuldigungen Inge Jens gegenüber nicht laut.134 Gerade vor dem Hintergrund von Walter Jens’ Stellungnahme zu Sterbehilfe und dem Umgang mit Schwerkranken, erstaunt diese unterschiedliche Bewertung durch die Medien, schließlich berichtet dessen Frau ebenfalls detailliert vom regressiven und aggressiven Verhalten ihres kranken Mannes und prägt damit sein Bild in den Medien nachhaltig.135 Neben der ausbleibenden Kritik fällt auf, dass Inge Jens im Gegensatz zu ihrem Sohn nach der Veröffentlichung von Langsames Entschwinden vielfach die Möglichkeit geboten bekommt, in Interviews Stellung zu ihrem Text zu beziehen.136 Dabei werden Fragen nach dem Sinn von Patientenverfügungen und der angemessenen Betreuung von Demenz-Patienten behandelt oder aber Inge Jens’ Entscheidung thematisiert, dem Wunsch ihres Mannes nach Sterbehilfe nicht nachzukommen.137 Eine (literatur-)kritische Auseinandersetzung, wie sie im Anschluss an Tilman Jens’ Demenz-Text zu erwarten gewesen ist, bleibt allerdings aus. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass das Provokationspotential von Langsames Entschwinden deutlich geringer ist, als das von Demenz. Abschied von meinem Vater. Im Gegensatz zu ihrem Sohn konstruiert Inge Jens zum Beispiel keinen Zusammenhang zwischen der NSDAP-Mitgliedschaft ihres Mannes und dessen Erkrankung. Statt Ursachenforschung zu betreiben, rückt die Schriftstellerin den inhaltlichen Fokus des Texts auf die Symptome der Demenz und den dadurch veränderten Lebenswandel aller Beteiligter, wobei sie – im Gegensatz zu Bayleys Text – kaum von Walter Jens’ früherem Wirken berichtet.
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Radisch (2009), o.S. Vgl. LE, S. 100: »Er [Walter] ist oft traurig, weint oder ist auch mal aggressiv […]. Dieser Befindlichkeit stehen jedoch andere entgegen, Zeiten, in denen er lacht, sich freut, es sich wohl sein lässt: Beim Essen (was er immer noch besonders gerne tut…aber nicht mehr mit einem Gefühl dafür, wann es genug ist), wenn er mit den Enkel-Zwillingen von Frau H. am Mähringer Kaffeetisch Kaba trinkt, wenn er mit ihnen spielt oder wenn er etwas sieht, was ihn interessiert.« Vgl. z.B. Tilman Krause: »Ich wollte ihn nicht verstecken. Inge Jens über ihr Buch ›Langsames Entschwinden‹«, in: Die Welt, 09.03.2016; Shirin Sojitrawalla: »Er hatte viele Glücksmomente. Inge Jens im Gespräch mit Shirin Sojitrawalla«, in: Deutschlandfunk, 25.08.2016. Oder auch: Hannes Leitlein: »Im Krankenhaus wäre Walter verhungert«, in: Die Zeit, 25.08.2017. Zu ihrer Entscheidung in puncto Sterbehilfe sagt Inge Jens im Deutschlandfunk: »Jetzt können Sie mir natürlich vorhalten: Sie haben diesen Willen in keiner Weise erfüllt. Nein, das habe ich nicht. Ich habe dem Wunsch meines Mannes nicht nachkommen können, das bekenne ich. Ob ich Recht oder Unrecht getan habe, wage ich nicht zu entscheiden.« Sojitrawalla (2016), o.S.
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3.3.1 3.3.1.1
Dem Entschwindenden literarisch habhaft werden Textgliederung und zeitliche Struktur
Schon ein erster Blick in das Buch führt die klare Strukturierung des DemenzNarrativs vor Augen: Langsames Entschwinden zeichnet sich durch eine Dreiteilung aus, die den Text in ein knappes Vorwort, einen Hauptteil und einen zusammenfassenden Schlussteil gliedert. Das Vorwort setzt retrospektiv im November 2013 ein,138 als die 86jährige Inge Jens aus dem gemeinsamen Haus in Tübingen in eine altersgerechte Dreizimmerwohnung zieht (vgl. LE, S. 8). Nach dem Tod ihres Mannes im Juni 2013 und der anschließenden Trauerzeit, kommt Jens erst in ihrer neuen Behausung dazu, sich mit dem Vergangenen auseinanderzusetzen (vgl. LE, S. 10). Vor allem die Lektüre alter Briefe, die sie einst am PC verfasst hat, führt ihr Folgendes vor Augen: »Die letzten Jahre waren bitter. Dieses endlose Siechtum hat er gewiss niemals gewollt. Und doch, da bin ich mir – gerade nach erneuter Durchsicht der Briefe – sicher: Er wollte bis zuletzt leben, die Angst vor dem Nicht-mehr-da-Sein war einfach zu groß. […] Ich habe oft mit mir gerungen, ob es Zeit wäre, ihm das immer wieder so vehement eingeforderte Recht auf Sterbehilfe endlich zu gewähren. Ich habe es nicht geschafft. In einigen der hier, in meinem vermutlich letzten Buch, zusammengetragenen Berichte erschließt sich das Warum.« (LE, S. 12f.) In ihren Briefauszügen, die im Vorhinein nicht zu Publikation gedacht waren und anonymisiert wiedergegeben werden,139 legt Jens auf der einen Seite dar, warum sie ihrem Mann keine Sterbehilfe gewähren konnte. Gleichzeitig (und hauptsächlich) gibt sie Einblicke in ihren eigenen Erkenntnisprozess, dass ihr Mann unwiederbringlich erkrankt ist. Indem Inge Jens im Vorwort ihre Intentionen erläutert und die Hintergründe der Textproduktion offenlegt, unterstreicht sie schon zu Beginn die Stoßrichtung ihres Texts, die sich von der ihres Sohnes unterscheidet. So spart die Autorin die Debatte um Walter Jens’ NSDAP-Mitgliedschaft und den von ihrem Sohn konstruierten Zusammenhang zur väterlichen Demenz-Erkrankung gänzlich aus. Stattdessen kommuniziert sie im Prolog, dass der Schwerpunkt ihres Texts auf pflegerische und ethische Fragestellungen gelegt ist (vgl. LE, S. 13). Durch diese thematische Eingrenzung wird deutlich, dass das Vorwort nicht nur der Anmoderation 138
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Dass es sich um einen Rückblick handelt, wird nicht nur durch die Verwendung des Präteritums zum Ausdruck gebracht, sondern durch die Angabe »Tübingen, im Januar 2016« am Ende des Vorworts. LE, S. 14. Die Autorin betont, dass die Briefe ursprünglich rein private Zwecke erfüllten: »Als ich sie [die Briefe] in den Jahren 2005 bis 2013 an Freunde und Bekannte, aber auch an mir gänzlich Unbekannte, die Rat suchten, schrieb, habe ich niemals daran gedacht, sie eines Tages zu publizieren.« LE, S. 10.
3. Demente Partner
und Motivationsäußerung dient, sondern sich auch als bewusste Abgrenzung gegenüber Demenz. Abschied von meinem Vater verstehen lässt. Eine Krankheit in Briefen Der auf das Vorwort folgende Hauptteil trägt den Titel »Er ist ein Mensch, und er bleibt ein Mensch. Erfahrungen mit einer Krankheit. Aus Briefen 2005-2013« und setzt sich aus insgesamt 37, offenbar authentischen Briefauszügen zusammen, die datiert und chronologisch geordnet sind (LE, S. 15). Die jeweiligen Adressaten erscheinen anonymisiert und kommen nicht durch etwaige Antwortschreiben zu Wort; auch wird nicht kenntlich gemacht, ob Inge Jens sich mehrfach an dieselben Adressaten oder immer an unterschiedliche Personen wendet. Beispielsweise finden sich zahlreiche Briefe, die mit dem Titel »an ein befreundetes Ehepaar« überschrieben sind (LE, S. 38, 69, 90, 103, 113), wobei sich dem Leser die Kenntnis entzieht, ob es sich um ein und dasselbe Ehepaar oder verschiedene Adressaten handelt. Statt eines speziellen oder mehrerer Briefwechsel liegen dem Leser nur Auszüge aus Inge Jens’ eigenen Briefen vor. Diese Textanlage scheint in Anbetracht der vorangegangenen Analysen nicht ungewöhnlich, ähnelt sie doch der Notat- und Tagebuchstruktur von Der Mensch erscheint im Holozän, Hirngespinste oder aber Elegy for Iris.140 Neben diesen Textbeispielen zeichnet sich die Demenz-Erzählung Ichs Heimweg macht alles allein ebenfalls dadurch aus, dass sie die Krankheit im zweiten Abschnitt in Form eines Briefes erzählt (vgl. Textanalyse, Kapitel 3.2). Tagebuch- und Briefromane, bzw. faktuale Briefkonvolute können als naheliegende Textformen eingeordnet werden, um eine progrediente Krankheit wie Demenz zu erzählen. Schließlich lassen sich die täglichen Veränderungen mittels der diaristischen Struktur unmittelbar kommunizieren. Wie eine Analyse der elliptischen Zeitgestaltung von Langsames Entschwinden verdeutlicht, kann der Krankheitsverlauf, der sich oft über Jahre erstreckt, auf diese Weise aus Sicht der autodiegetischen Erzählerin relativ temporeich erzählt werden: Die erzählte Zeit im Hauptteil erstreckt sich über einen verhältnismäßig langen Zeitraum, nämlich von November 2005 bis Februar 2013, wobei zwischen den jeweiligen Briefauszügen unterschiedlich große Abstände festzustellen sind. Beispielsweise liegen zwischen dem zweiten und dritten Brief acht Monate, während zwischen den darauffolgenden Korrespondenzen nur zwei oder drei Monate, manchmal auch nur wenige Tage vergangen sind. Insgesamt werden die anfänglichen Krankheitsentwicklungen der Jahre 2005 und 2006 in nur zwei Briefen wiedergegeben, wohingegen die Jahre 2007 und 2008 durch insgesamt 19 Briefauszüge engmaschiger dokumentiert sind. Ab Juli 2009 gestaltet sich die zeitliche 140 Während sich die Erzählungen Der Mensch erscheint im Holozän und Hirngespinste durchgängig durch einen Notatstil auszeichnen, setzt die Tagebuchstruktur bei Bayleys Text erst im zweiten Abschnitt Now ein, vgl. EFI, S. 225ff.
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Wiedergabe wiederum deutlich lückenhafter, indem die darauffolgenden zweieinhalb Jahre in nur fünf Briefen umrissen werden. Gegenüber dieser zeitraffenden Gestaltung fallen die Schilderungen zwischen Dezember 2012 bis Februar 2013 mit sieben Briefen wieder detaillierter aus. Der Hauptteil endet, indem sich an den letzten Briefauszug eine Vakatseite anschließt und darauf der typographisch hervorgehobene Satz folgt: »Drei Monate nach seinem 90. Geburtstag, am 9. Juni 2013, starb Walter Jens in Tübingen. Er wurde am 17. Juni auf dem alten Stadtfriedhof beerdigt.« (LE, S. 117). Wie durch diesen Satz hervorgehoben wird, liegen zwischen der letzten Korrespondenz vom 15. Februar 2013 und dem Todesdatum drei Monate, deren Geschehnisse nicht durch Briefe dokumentiert worden sind. Der Tod der dementen Hauptfigur wird folglich nur durch den nachgelagerten Kommentar erzählt, nähere Umstände werden weder in Briefen noch im Vor- oder Nachwort geschildert. Solche Zeitsprünge und Auslassungen lassen sich als elliptische Erzählweise identifizieren, die einerseits dem vorhandenen Briefkorpus geschuldet sein kann, sich aber insbesondere als editorische und erzählerische Gestaltung benennen lässt. Im Gegensatz zu den Krankheitsphasen, die aufgrund des wechselhaften Zustands des Kranken zeitdeckend oder gar dehnend erzählt sind, werden verhältnismäßig stabile Phasen überwiegend zeitraffend erzählt, was auf eine intentionale Zeitgestaltung schließen lässt. Resümierender Appell Auf die Angabe des Todeszeitpunkts folgt, nach einer weiteren Vakatseite, der dritte und letzte Teil des Texts, der mit dem Titel überschrieben ist: »Leben mit einem Demenz-Kranken. Ein persönlicher Bericht und kritische Anmerkungen zum Alltag unserer Pflegeeinrichtungen.« (LE, S. 119) In einer kursivierten Anmerkung am Ende wird kenntlich gemacht, dass es sich hierbei um eine Art Nachwort handelt, das in seinen Grundpfeilern auf einen Vortrag zurückgeht. Diesen hatte Inge Jens im Rahmen einer Fachtagung des Caritasverbands der Diözese Augsburg im Jahr 2012 gehalten (vgl. LE, S. 153). Auch wenn der Bericht für den Abdruck »überarbeitet und ergänzt« worden ist (LE, S. 153), stellt der Erzählduktus einen gewissen Bruch im Vergleich zum vorangegangenen Vorwort und Hauptteil des Texts dar. Der Teil beginnt in medias res – ohne Überleitung oder Anschluss an die vorangestellten Briefe. Anders als im Vorwort, das dezidiert den Schreibprozess thematisiert und dem Leser als einleitende Erklärung dienen soll, wendet sich die autobiographische Ich-Erzählerin im dritten Teil nicht explizit an einen Leser, sondern offenbar an ein unbestimmtes, größeres Publikum, dem sie die, zuvor unerwähnt gebliebenen Komplikationen während verschiedener Krankenhaus- und Pflegeheimaufenthalte ihres Mannes schildert (vgl. LE, S. 122). Der Teil erscheint als in sich geschlossener Vortrag konzipiert,
3. Demente Partner
der auch unabhängig vom Rest des Texts gelesen werden könnte. Diese Textanordnung überrascht allein schon aus chronologischen Aspekten: Während das Vorwort mit den Ereignissen nach Walter Jens’ Tod einsetzt und die Entstehung des Briefkonvoluts erläutert, bietet der Hauptteil einen, wenn auch elliptischen, so doch chronologisch geordneten Rückblick auf die Krankheitsentwicklungen von 2005 bis 2013. Der sich daran anschließende dritte Teil geht wiederum hinter diese Zeit zurück, indem zunächst von Ereignissen der Jahre 2011 und 2012 berichtet wird. Neben einigen Geschehnissen, die bereits in den Briefen Erwähnung gefunden haben, fällt auf, dass gewisse Szenen aus den Krankenhausaufenthalten im dritten Teil von Langsames Entschwinden zum ersten Mal beschrieben werden. Diese Gestaltung ermöglicht es, Walter Jens’ Krankheitsverlauf von den Anfängen bis zu dessen Beerdigung – wenn auch nicht immer chronologisch – nachzuvollziehen, wobei der Leser Einblicke in die verschiedenen Phasen der Krankheit und die entsprechenden Formen der Betreuung bekommt. Dabei wird im Vorwort und Hauptteil von Langsames Entschwinden vorrangig von der Betreuung des Kranken durch privat organisierte Pflegekräfte berichtet, die ihn zu Hause besuchen oder aber tagsüber auf einen Bauernhof mitnehmen (vgl. LE, S. 75f.). Im dritten Teil des Texts steht hingegen die mangelhafte Betreuung in Krankenhäusern und Pflegeheimen im Vordergrund, die übergangsweise vonnöten gewesen sei (vgl. LE, S. 122f.). Im Vergleich zu den Briefen ist der dritte Teil deutlicher als Appell angelegt, der auf Missstände in der Pflege hinweist (auf diesen appellierenden Charakter des Schlussteils wird in Textanalyse, Kapitel 3.3.2 näher eingegangen).
3.3.1.2
Immer wieder erzählen, was sich immer wieder ereignet
Auch wenn sich weder die literaturwissenschaftliche Forschung noch das Feuilleton einer umfassenden, formalen Analyse oder Stilkritik von Langsames Entschwinden angenommen haben, bemängeln die wenigen, vorliegenden Rezensionen doch, dass es in Inge Jens’ Text »bei der informierenden Beschreibung des jeweiligen IstZustands manchmal zu Redundanzen« komme.141 Tatsächlich wiederholen sich bestimmte Beschreibungen und Elemente innerhalb der Briefe immer wieder. Beispielsweise berichtet Inge Jens in 17 der insgesamt 37 Briefe zum Teil wortgleich vom Glück, eine geeignete Pflegerin gefunden zu haben, die es ermöglicht, den Kranken zu Hause zu betreuen.142 In fünf dieser Briefe geht sie näher auf die Um-
141
Angela Laußer: »Rezension zu Inge Jens: Langsames Entschwinden. Vom Leben mit einem Demenzkranken«, in: socialnet Rezensionen, 13.03.2017. Ähnliche Formulierungen finden sich beispielsweise auch bei Nicole Paschek: »Vom begnadeten Redner zum Sprachlosen«, in: Spektrum.de, 27.07.2016; oder auch bei Glasenapp (2016). 142 Die nachfolgende Auflistung aller Passagen, die von Walter Jens’ Pflegerin Frau H. handeln, zeigt, dass diese Figur in Langsames Entschwinden sehr häufig Erwähnung findet (deutlich häufiger als beispielsweise die Kinder des Dementen, die nur zwei-, dreimal am Rande erwähnt
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stände ein, die aus dieser Betreuung erwachsen. Ein Briefauszug vom 16. Juni 2009 lautet zum Beispiel wie folgt: »Frau H. kommt morgens um 6 Uhr und macht ihn [Walter Jens] fertig; dann schläft er wieder bis gegen 12 Uhr, wo er dann endgültig aufsteht. Und nach dem Mittagessen, manchmal auch später, nimmt ihn Frau H. im Allgemeinen mit auf ihren Hof zwischen Reutlingen und Tübingen. […] Dort in Mähringen [.] gibt es viele Tiere und Hofleute, die sichtbare Tätigkeiten ausüben, denen er auf der Hofbank oder im Rollstuhl sitzend, zusehen kann. Es gibt eine alte Mutter, die sich mit ihm ›aufs Bänkle‹ setzt, es gibt Nachbarn, die zum Schwatz kommen. […] Abends kommt er dann wieder heim, wir verbringen noch einige Zeit zusammen, dann wird er ins Bett gebracht.« (LE, S. 75f.) Diese Ausführung über Frau H. und ihren Hof wiederholen sich wortgetreu in verschiedenen Briefen (vgl. z.B. LE, S. 80, 97f, oder auch S. 101). Eine solche, repetitive Erzählstruktur ist zum einen dem Umstand geschuldet, dass Inge Jens ihre Briefe offenbar an unterschiedliche Personen adressiert und dabei zwangsläufig auf dieselben Schilderungen zurückgreift, um vom Gesundheitszustand ihres Mannes zu berichten.143 Da jedoch aus der Textanlage hervorgeht, dass das Briefkonvolut insgesamt gekürzt worden ist und nur eine Auswahl von Korrespondenzen darstellt,144 hätten diese Dopplungsphänomene aus editorischer Sicht zum Teil überarbeitet, bzw. ausgelassen werden können. Statt eine bloße erzählerische Redundanz hinter diesen Wiederholungen zu vermuten, liegt vielmehr der Schluss nahe, darin ein literarisches Mittel zu erkennen. So führen die Briefausschnitte immer wieder vor Augen, was sich während der Krankheit immer wieder ereignet, sich dabei aber sukzessive steigert. Auf diese Weise findet nicht nur Walter Jens’ intensiver werdende Betreuung durch Frau H. und deren Familie mehrfach Erwähnung, sondern auch die direkten Krankheitsfolgen, wie etwa das eingeschränkte Gehvermögen des Dementen (vgl. LE, S. 49, 56 und 72) oder dessen abnehmende Fähigkeit, zu lesen und schreiben, und schließlich auch zu sprechen (vgl. LE, S. 26, 32, 42, 44, 47, 49, 98 und 113). Diese Symptome verschlimmern sich mit der Zeit, sodass der Kranke am Ende weder dazu in der Lage ist, zu gehen, noch sich selbst auszudrücken oder Unterhaltungen zu folgen. werden). Zur Person und Funktion der Pflegerin vgl. LE, S. 35, 42, 44, 53, 56, 58, 64, 67, 70, 72, 75f., 79f., 83f., 97f., 101, 103, 114f. 143 Zu einer ähnlichen Beobachtung kommt Nikolaus Glasenapp, der – wenn auch etwas verklausuliert – konstatiert: »Da nicht mehrere Briefe an dieselbe Person adressiert wurden, ergibt sich der Eindruck, sie [Inge Jens] schreibe denselben Brief mehrfach.« Glasenapp (2016). 144 Wie bereits in Bezug auf die Zeitgestaltung erwähnt worden ist, deutet einiges darauf hin, dass (der besseren Lesbarkeit halber, aber auch aus Diskretionsgründen) nicht alle Briefe von Inge Jens abgedruckt worden sind, die von der Erkrankung ihres Mannes handeln. Vielmehr scheint dem Leser, eine Selektion vorzuliegen. Vgl. Textanalyse, Kapitel 3.3.1.1.
3. Demente Partner
Neben diesen repetitiven, sich sukzessive steigernden Symptombeschreibungen fallen weitere Szenen in den Blick, von denen die Ich-Erzählerin immer wieder berichtet: Beispielsweise schildert sie in zwei Briefen und im Nachwort, wie ihr dementer Gatte im Weihnachtsgottesdienst in einem Moment der Klarheit den verlesenen Bibeltext vervollständigt habe (vgl. LE, S. 38, 79 und 150). Diese Situation wird als Schlüsselszene der Krankheitsgeschichte eingeordnet, die sich nicht nur durch Rückschläge auszeichne, sondern auch kurze Momente des Erinnerns, der Artikulation und der Selbsteinschätzung hervorgebracht habe. Wie an diesem Beispiel deutlich wird, gibt die singuläre Frequenz des Erzählens (es wird immer wieder berichtet, was sich immer wieder aufs Neue ereignet)145 Aufschluss über die Kernaussagen des Texts: Einerseits wird dadurch die persönliche Pflege in gewohnter Umgebung als gelungene Betreuungsform herausgestellt, andererseits der Lernprozess der betreuenden Angehörigen veranschaulicht. Dieser Lernprozess wird als Phänomen benannt, das primär und sekundär Betroffene diametral voneinander unterscheidet: Während der Demente im Zuge seiner Krankheit immer mehr Fähigkeiten einbüße, lerne seine Umgebung in vielerlei Hinsicht dazu (vgl. LE, S. 11). Dieser Erkenntnisgewinn weist Parallelen zu Arno Geigers Schilderungen auf, der feststellt: »Für den Vater ist seine Alzheimererkrankung bestimmt kein Gewinn, aber für seine Kinder und Enkel ist noch manches Lehrstück dabei.« (AKE, S. 136) Im Zuge der sich wandelnden Sicht auf den Kranken und sein Leiden klären sich im Fall von Inge Jens nicht nur Fragen nach einer geeigneten Pflege, sondern treten auch philosophisch-anthropologische Erkenntnisse zu Tage. So stellt die Ich-Erzählerin im Laufe der Zeit fest, dass ihr Mann aufgrund seiner fortgeschrittenen Erkrankung zwar keine Person im eigentlichen Sinne mehr sei, wohl aber ein Mensch – »allen Einschränkungen zum Trotz, und ich lerne, was ein Mensch auch sein kann.« (LE, S. 79) Diese Erkenntnis, »er ist ein Mensch, und er bleibt ein Mensch«, schickt Jens nicht nur als Überschrift dem Briefkonvolut voraus, sondern formuliert sie wortgleich in insgesamt drei Briefen (LE, S. 57, 79 und 108). Darüber hinaus gelangt sie nach einem weiteren Schlaganfall ihres Mannes, von dem er sich zum Erstaunen seines Umfelds wieder langsam erholt, zur Überzeugung, »dass er wirklich noch leben will, der Grundinstinkt des ›was lebt, will leben‹ ist noch intakt.« (LE, S. 104). Dieser Grundinstinkt wird in einem weiteren Brief und im Nachwort erwähnt, und kann ebenso als zentrales Ergebnis eines Erkenntnisprozesses eingeordnet werden (LE, S. 110, 148).
145
Zum Phänomen des singulären Erzählens vgl. Wolfgang Klein: »Textstruktur und referentielle Bewegung«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Bd. 86 (1992), S. 67-92.
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Vergessen erzählen
3.3.2 3.3.2.1
Ein Bewusstsein schaffen Gute Pflege, schlechte Pflege
Wie sich bereits an der Frequenz des Erzählens zeigt, kommt der Figur der Pflegerin in Langsames Entschwinden eine besondere Funktion zu: Immer wieder wird erwähnt, dass die ursprünglich als Haushaltshilfe engagierte Frau H. den Kranken »– unter zunehmender Einbeziehung ihrer bäuerlichen Großfamilie – hingebungsvoll versorgt und schier unerschöpflich ist im Ersinnen von kleinen Dingen und Unternehmungen, die ihm Spaß machen.« (LE, S. 44) Die Pflegerin aus dem ländlichen Bereich erscheint als Gegenentwurf zum intellektuellen Haushalt der Familie Jens. Auch wenn die Ich-Erzählerin in drei Briefen einräumt, dass diese Art der Betreuung für sie zunächst »gewöhnungsbedürftig« gewesen sei (LE, S. 45, 53 und 56), nennt sie die Pflegerin ›liebevoll‹ und ›zuverlässig‹ und attestiert ihr, den kranken Walter Jens »mit Hingabe, aus Überzeugung und mit großer Befriedigung, ja mit Freude und Spaße« zu umsorgen (LE, S. 53). Diese positive Darstellung sticht besonders im Vergleich zu anderen Textbeispielen dieser Arbeit hervor. Dies liegt zum einen darin begründet, dass Pflegepersonal, wenn überhaupt nur im Hintergrund der verschiedenen Erzählungen eine Rolle spielt. Weder in Frischs, noch in Draesners oder Hackers Erzählungen, noch bei John Bayleys Text werden Pflegekräfte erwähnt. Allein in Hirngespinste, Der alte König in seinem Exil und Demenz. Abschied von meinem Vater kommen professionelle Betreuer vor, wobei auch in diesen Texten die tägliche Betreuung vorwiegend von den Angehörigen geleistet zu werden scheint.146 Sofern Pflegefiguren in diesen Texten vorkommen, werden sie als häufig wechselnde Hilfen geschildert, die mal mehr, oftmals aber weniger mit dem Kranken harmonieren (vgl. z.B. AKE, S.). (Interessanter Weise erwähnt auch Tilman Jens die besondere Pflegesituation durch Frau H. in seinem Text, lässt der Figur allerdings bei weitem nicht so viel Bedeutung zukommen, wie es in Langsames Entschwinden der Fall ist [vgl. DAV, S. 150].147 ) Diese unterschiedliche Darstellung des Pflegepersonals innerhalb des Textkorpus legt den Schluss nahe, dass Inge Jens im Gegensatz zu den anderen Autoren ein fremdbetreutes Konzept für Demente unterstützt. Ein Textstudium zeigt jedoch, dass auch in Langsames Entschwinden der vielfach beschworene, familiäre Anschluss als ideale Pflegeform benannt wird. In diesem speziellen Fall handelt es sich allerdings nicht allein um die eigene Familie, die den kranken Walter Jens täglich begleitet. Zwar kämen die beiden Söhne »sooft es geht« zu Besuch (LE, S. 76),
146 Allein bei Bernlefs Hirngespinste kommt eine namentlich genannte Pflegerin vor, die dem Dementen jedoch hilflos gegenübersteht. Vgl. HG, S. 110. 147 Diese unterschiedliche Wertung mag darin begründet liegen, dass Tilman Jens’ Text im Jahr 2009 zu einem Zeitpunkt erscheint, an dem die Betreuung durch die Pflegerin noch nicht derart intensiv ausgefallen sein könnte.
3. Demente Partner
sie hätten aber ihr eigenes Leben, das sie in Anspruch nehme. Die Ich-Erzählerin wiederum sei selbst altersbedingt zu schwach, um sich ihrem Mann in vollem Umfang anzunehmen; auch gehe ihr die »unglaubliche Fähigkeit« der Pflegerin ab, »Realitäten anzuerkennen, ohne sie zu bejammern.« (LE, S. 115) Statt der eigenen Familie kümmert sich deshalb die bäuerliche Großfamilie H. tagsüber um den Dementen, der nach dem Mittagessen mit auf deren Hof genommen werde und dort neben den Kleinkindern, geistig eingeschränkten Mitarbeitern und der 80jährigen Großmutter »mitlaufe« (LE, S. 98). Wie im dritten Teil des Texts deutlich angesprochen, liegt der inhaltliche Fokus auf der Pflegerinnenfigur im Anspruch darin begründet, durch Langsames Entschwinden richtige Formen der Betreuung für Demente zu definieren, von denen am Ende nicht nur die Kranken, sondern auch die Angehörigen und das Personal profitieren sollen. Mit einer angemessenen Betreuung werden Attribute, wie »liebevoll und engagiert«, »zupackend, zugewandt«, »körperlich kräftig und psychisch einfühlsam« assoziiert (LE, S. 37). Der »derbe, aber herzliche« Umgang auf dem Hof der bäuerlichen Großfamilie eigne sich für den einstigen Intellektuellen (vgl. LE, S. 98), der im Zuge seine Krankheit einen regressiven Prozess durchläuft. Als Kontrastfolie zur Pflege durch die ländliche Großfamilie werden das Krankenhaus und auch Pflegeheime als ungeeignete Umgebungen geschildert. Hier mangele es dem Personal an Vertrautheit, Zeit und Empathie (vgl. LE, S. 122).148 Aufgrund des mangelnden Verständnisses des Pflegepersonals, aber auch seitens der Ärzte sei es durchaus möglich, so Inge Jens, als Demenzkranker »zwischen all der beeindruckenden Hightech-Apparatur ganz schlicht und altmodisch zu verhungern.« (LE, S. 123) Anhand weiterer Missverständnisse und Missstände im Krankenhausalltag verdeutlicht der letzte Teil der Erzählung, dass für eine verbesserte Pflege umfangreiche staatliche Unterstützung vonnöten sei, die sich einerseits in größeren materiellen Aufwendungen für Angehörige und Pfleger ausdrücken sollte (vgl. LE, S. 124f.). Neben einer stärkeren finanziellen Bezuschussung fordert Jens weiterhin eine bessere Ausbildung für Pflegekräfte und Ärzte, die in erster Linie mehr Einfühlungsvermögen gegenüber Dementen aufbringen sollten: »Wir brauchen mehr Wissen und mehr Empathie, wenn wir Demente nicht nur unter dem Gesichtspunkt einer immer problematischer werdenden volkswirtschaftlichen Belastung ansehen wollen, sondern als schwerstkranke Menschen, die – samt der sie Pflegenden – ein Anrecht auf soziale Gerechtigkeit und humane Hilfe haben.« (LE, S. 152f.) 148 Eine ähnliche Klage findet sich auch in Annie Ernaux: Je ne suis pas sortie de ma nuit. Paris 1999, S. 15. Vgl hierzu Burke (2014), S. 29: »There are many things to say about Annie Ernaux’s description of the treatment of her mother on her admission to hospital. The literal stripping of her mother’s dignity by the nameless intern offers a painful account of her powerlessness and loss of autonomy in the face of an overstretched emergency department.«
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Vergessen erzählen
Im Lichte dieses Zitats erscheint Langsames Entschwinden als Forderung nach einem veränderten Denken und Handeln in Bezug auf Demenz und muss deshalb mit engagierter Literatur in Verbindung gebracht werden. Da dieser Begriff in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft uneinheitlich gebraucht wird, bedarf es zunächst einer terminologischen Klärung: Wie Ursula Geitner schlüssig darlegt, stimmt der in der hiesigen Forschung verwendete Ausdruck der engagierten Literatur nicht mit dem von Sartre geprägten Engagement-Begriff überein.149 Dem deutschen Sprachgebrauch gemäß ist ›Engagement‹ als auktorial verantwortete, politische Botschaft definiert, für deren Verbreitung sich der jeweilige Autor (entweder im literarischen Werk selbst oder auch außerhalb davon) einsetzt.150 Diese Definition trifft auf Inge Jens Text Langsames Entschwinden zu, der den Wunsch nach einer gesellschaftspolitischen Veränderung im Umgang mit Demenz-Kranken und deren Angehörigen formuliert.
3.3.2.2
Noch-Wissen, Nicht-Wissen und Nicht-Wissen-Können
Im Vergleich zu den anderen, in dieser Arbeit untersuchten Demenz-Narrativen behandelt Langsames Entschwinden überdies den Themenbereich ›Wissen und Demenz‹, bzw. das Nicht-Wissen über die Krankheit offensiver. Insbesondere im letzten Abschnitt des Texts subsumiert Jens unter Zuhilfenahme identischer Formulierungen und Satzstellungen, was sie über den Gesundheitszustand und den Umgang mit dem Kranken auf der einen Seite weiß, und was sie auf der anderen Seite eben nicht weiß, ja gar nicht wissen kann. Dabei problematisiert sie auch das Wissen des Dementen um seinen eigenen Zustand. Bis zu einem gewissen Krankheitsstadium quäle dieses Wissen den Betroffenen und dessen Umfeld, das zunehmend darauf hoffe, dass der Kranke seine krankheitsbedingten Einbußen bald nicht mehr realisieren könne (vgl. LE, S. 31). Neben dieser Problematik des Noch-Wissens bemängelt die autobiographische Erzählerin ihr eigenes Nicht-Wissen-Können ob der inneren Vorgänge, Wünsche
149 Zur uneinheitlichen Verwendung des Engagement-Begriffs vgl. Ursula Geitner: »Stand der Dinge: Engagement-Semantik und Gegenwartsliteratur-Forschung«, in: Jürgen Brokoff / Ursula Geitner / Kerstin Stüssel (Hg.): Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur. Göttingen 2016, S. 19-58. Zu dem von Sartre geprägten und von Adorno aufgegriffenen Begriff vgl. Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Hg. von Traugott König. Reinbek 1981; sowie Theodor W. Adorno: Engagement, in: Ders.: Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften, Bd. 11.3. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1981, S. 409-430. 150 Diese Definition ist nicht nur an Geitner angelehnt, sondern stützt sich auch auf die schlüssige Formulierung Michael Navratils, der zu kontrafaktischem Erzählen als Modus politischen Schreibens forscht. Vgl. Michael Navratil: »Auf einmal mochten wir Günter Grass wieder,« in: Fabian Lampart et al. (Hg): Daniel Kehlmann und die Gegenwartsliteratur. Dialogische Poetik, Werkpolitik und Populäres Schreiben. Berlin / Boston 2020, S. 251-280.
3. Demente Partner
und Nöte des Dementen, nachdem dieser sein Kommunikationsvermögen eingebüßt habe. Immer wieder stellt sich die Ich-Erzählerin die rhetorische Frage: »Meinem Mann geht es … ja, wie geht es ihm? Ich weiß nicht einmal, ob ich guten Gewissens sagen kann: erträglich.« (LE, S. 69) Wie in dem, im Rahmen eines Symposiums entstandenen Band Vom Geheimen und Verborgenen schlüssig aufgezeigt wird, ist eine unauflösbares Nicht-Wissen nicht mit temporärer Unkenntnis zu verwechseln: Letztere könne sich beispielsweise im Zuge der voranschreitenden, medizinischen Forschung klären (wie etwa die zentrale Frage nach den Ursachen der Alzheimer-Krankheit).151 Die inneren Vorgänge eines Dementen scheinen, den Außenstehenden jedoch auf unabsehbare Zeit verborgen zu bleiben. Dieses NichtWissen-Können ob der Lebens- und Gefühlswelt der Betroffenen unterscheide Demenz von den meisten physischen Leiden, so Jens. Indem die Krankheit die sprachliche Ausdrucksfähigkeit des Patienten einschränkt, bleibe dem Umfeld allein eine Kommunikation mit dem Kranken auf emotionaler Ebene, bei der jedoch »gelegentlich gespenstische Dinge« zu Tage kämen (LE, S. 29). Aufgrund dieser Krankheitsfolgen können Außenstehende nur vermuten oder interpretieren, wie es dem Kranken tatsächlich geht: »Wir wissen so wenig über die wirkliche Befindlichkeit von Dementen (vermutlich gibt es so viele Varianten dieser Krankheit, wie es an ihr Erkrankte gibt), dass wir immer auf Vermutungen und unsere eigenen Interpretationen des Zustands, in dem sich der Leidende befindet, angewiesen bleiben. […] Die Tatsache, dass vermutlich jeder von uns keinesfalls so leben möchte, wie es der Kranke zu tun gezwungen ist, sagt viel über die Befindlichkeiten der »Pflegenden«, aber nichts über die des Betroffenen aus.« (LE, S. 94f.) Jens spricht an dieser Stelle eine Kernproblematik an, die aus DemenzErkrankungen erwächst und auch in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den entsprechenden Narrativen häufig zu Missverständnissen geführt hat: Wie in den einführenden Kapiteln dieser Arbeit erwähnt (1. Einleitender Teil), geben Demenz-Texte, die ab einem bestimmten Krankheitsstadium zwangsläufig aus der Feder eines Dritten stammen, allein Aufschluss über die Einschätzungen und die Krankheitswahrnehmung des Verfassers. Eine ›authentische‹ Darstellung im Sinne einer unverstellten, längerfristigen Sicht auf die Krankheit durch einen eigens Betroffenen, ist aufgrund der zwangsläufigen Übermittlung durch einen Dritten unmöglich. Aus diesem Grund lassen sich Demenz-Narrative
151
Zur Unterscheidung von Nicht-Wissen, Nicht-Wissen-Können vgl. Michael Nagenborg / Sabine Müller / Melanie Möller et al. (Hg.): Vom Geheimen und Verborgenen. Enthüllen und Entdecken in der Medizin. 2017, S. 9. Oder auch: Maximiliane Wilkesmann: »Nichtwissen – ein schillernder Begriff«, in: Maximiliane Wilkesmann / Stephanie Steden (Hg.): Nichtwissen stört mich (nicht). Zum Umgang mit Nichtwissen in Medizin und Pflege. Wiesbaden 2019, S. 10-28.
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vielmehr als (wenn auch aussagekräftige und durchaus kenntnisreiche) Dokumente des gesellschaftlichen Umgangs und der Wahrnehmung von Dementen einstufen, denn als direkte Zeugnisse der Krankheit. Mikroangiopathie Während die Frage nach der ›Lebenswelt‹ des Kranken von Inge Jens dem Bereich des Nicht-Wissen-Könnens zugeordnet wird, greift sie jedoch auf medizinische Wissenselemente zurück, um die spezielle Demenz-Diagnostik und den Krankheitsverlauf fundiert zu schildern. Anhand der chronologisch aneinandergereihten Briefe kristallisiert sich heraus, dass sich dieses Wissen der autobiographischen Erzählerin im Laufe der Zeit verändert hat: Hält sie das veränderte Verhalten ihres Mannes zunächst für die Symptome einer Depression und Anzeichen des voranschreitenden Alters ihres Mannes (vgl. LE, S. 17), erklärt sie nach der Konsultation eines Arztes zu Beginn 2007, dass Walter Jens’ »geistige Präsenz [.] durch eine Mikro-Angiopathie, sprich: durch (regenerierfähige, aber natürlich Ausfälle verursachende) Mikroinfarkte der kleinsten Gehirngefäße« beeinträchtigt sei (LE, S. 21).152 Dieses Krankheitsbild weise zwar Züge einer Demenz auf, unterscheide sich jedoch dadurch, dass es auch klare Momente und Phasen der Erholung mit sich bringe (vgl. LE, S. 29). Im weiteren Verlauf des Texts wird konkretisiert, dass die, durch die Gefäßerkrankung hervorgerufenen Schlaganfälle bei Walter Jens nicht nur übergangsweise Demenz-Symptome nach sich gezogen hätten, sondern dass daraus eine vaskuläre Form der Demenz erwachsen sei.153 Dieses Krankheitsbild unterscheidet sich im Vergleich zur Alzheimerkrankheit durch sprunghafte Krankheitsfortschritte, die von Phasen der scheinbaren Regeneration unterbrochen sind. Stellt diese ›zackenförmige‹ Krankheitsentwicklung zunächst eine Genesung oder zumindest eine mittelfristige Konsolidierung des Gesundheitszustands in Aussicht, hofft die Ich-Erzählerin in Anbetracht des weiteren Krankheits-
152
153
Bei einer Mikroangiopathie handelt es sich – wie Inge Jens richtig darlegt – um eine Erkrankung der kleinsten Blutgefäße, die nicht nur das Hirn, sondern verschiedene Körperregionen betreffen kann. Neben Folgen, wie Blindheit oder Herzinsuffizienzen, ist es auch möglich, dass eine Mikroangiopathie chronische neurologische Defizite nach sich zieht. So kann es im Fall einer zerebralen Mikroangiopathie zur »Entwicklung vaskulärer kognitiver Störungen bis hin zur Ausbildung einer subkortikalen ischämischen vaskulären Demenz« kommen. Vgl. Nils Peters / Martin Dichgans: »Vaskuläre Demenz«, in: Der Nervenarzt Bd. 81, H. 10 (2010), S. 1245-1255, hier S. 1249. Wie bereits im Einleitenden Teil, Kapitel 1.5 dargelegt, stellt die vaskuläre Demenz die zweithäufigste Ursache nach der Alzheimerkrankheit für eine Demenz dar. Es handelt sich dabei nicht um ein einheitliches Krankheitsbild, sondern um einen Sammelbegriff, unter den alle Demenzformen, die gefäßbedingt versursacht sind, gefasst werden. Vgl. Peters / Dichgans (2010), S. 1245.
3. Demente Partner
verlaufs schließlich, dass er möglichst bald »den Zustand völliger Demenz erreicht« (LE, S. 41): »Es ist (leider?) keine gradlinige Demenz, unter der mein Mann leidet, sondern eine Angiopathie, d.h. eine Gefäßerkrankung, die auch das Gehirn nicht verschont hat. Die Folge: Sein Zustand verschlechtert sich nicht gleichmäßig fortschreitend, sondern zackenförmig und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Mal ist es ganz schlimm, dann erholt er sich, sagt und weiß Dinge, die niemand bei ihm vermutetet hätte, kann plötzlich wieder laufen […].« (LE, S. 34) Wie anhand dieses Zitats deutlich wird, zeichnet sich Inge Jens’ Text durch eine hohe Dichte an medizinisch fundierten Demenzdefinitionen aus. Die Symptombeschreibungen, die auch das aggressive Verhalten des Kranken und dessen Inkontinenz umfassen, dienen nicht nur einer detaillierten, wahrheitsgetreuen Darstellung, sondern sollen ein Bewusstsein für die, in der hiesigen Gesellschaft zwar weitverbreiteten, aber weniger bekannten Demenz-Form und den Umgang damit schaffen.
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Epilog
Vergleichslinien
Wie anhand der vorangegangenen Untersuchung deutlich wird, verlaufen zwischen den jeweiligen Demenz-Narrativen – jenseits von Genre-Konventionen und individuellem Stil – signifikante Vergleichslinien, die über das komprimierte Korpus hinausweisen. Im abschließenden Teil dieser Arbeit gilt es, diese zentralen Vergleichslinien und Referenzpunkte in einer Zusammenschau zu akzentuieren.
1.
Eine Frage der Perspektive
Die Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den acht Narrativen lassen sich naturgemäß am deutlichsten innerhalb der drei Analyseblöcke feststellen. So entsprechen sich die drei Demenz-Innenschauen beispielsweise darin, dass sie alle (wie unterschiedlich die Charaktere Geiser, Maarten und Sarah auch angelegt sein mögen) sogenannte ›Depersonalisationserscheinungen‹ aufweisen:1 Durch die Krankheit um das Gefühl der mentalen und körperlichen Kohärenz gebracht, sind sich die Protagonisten graduell selbst fremd geworden und glauben, den kranken Teil ihrer Persönlichkeit von außen zu beobachten. Bei dieser gespaltenen Wahrnehmungsform handelt es sich um ein Phänomen, das nicht nur in der Psychotraumatologie als dissoziative Störung bekannt ist,2 sondern auch (wie in Kapitel 1.2.3.2 der Textanalyse näher ausgeführt wird) als literarisches Erzählerverfahren unter dem Begriff ›Dédoublement‹ firmiert.3 Eine Distanzierung vom kranken Selbst, realisiert
1
2
3
Zum psychologischen Term der ›Depersonalisationserscheinungen‹ vgl. »Depersonalisations-erscheinungen: Defizite in der körperlichen und mentalen Kohärenz«, in: Nicolas Hoffmann / Birgit Hofmann: Zwanghafte Persönlichkeitsstörung und Zwangserkrankungen. Therapie und Selbsthilfe. Berlin / Heidelberg 2010, S. 59-78. Bei dissoziativen Identitätsstörungen kommt es zur psychischen Abspaltung mehrerer Teilpersönlichkeiten. Vgl. Kathlen Priebe / Christian Schmahl / Christian Stiglmayr: »Dissoziative Identitätsstörung«, in: Dies. (Hg.):Dissoziation. Theorie und Therapie. Berlin 2014, S. 228-236. Neben der umfassenden Monographie von Alexander Fischer (vgl. Fischer [2010]), findet sich der Begriff ›Dédoublement‹ hauptsächlich in der französischen Literaturwissenschaft. Einen ausführlichen Überblick über Doppelgänger-Figuren und Ich-Aufspaltung in der fran-
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Vergessen erzählen
durch eine sprachliche Heterodiegese, verbindet die drei durchaus unterschiedlich gearteten Ich-Perspektiven. Im Gegensatz zu diesen Selbstdistanzierungsversuchen behandeln DemenzNarrative, die aus Sicht der Kinder verfasst sind, das sich wandelnde Verhältnis zum kranken Elternteil. Dabei stehen das verschobene Familiengefüge sowie die Figur des sich selbst ermächtigenden Kinds im Vordergrund dieser Texte. Während Arno, Tilman und Anton einerseits darum bemüht sind, die im Schwinden begriffene Person des kranken Vaters oder der Mutter biographisch zu rekonstruieren,4 definieren sie gleichzeitig ihre eigene Rolle im Abgleich oder auch in Abgrenzung zum dementen Elternteil. Der Ausbruch der Krankheit wird in allen drei Texten als einschneidender Bruch in der Biographie eingeordnet, der sowohl die Elternfigur als auch deren Kinder betrifft. Diesen Darstellungen stehen wiederum Demenz-Texte gegenüber, die aus der Perspektive der Ehepartner geschrieben sind. Hierin werden die Themenkomplexe Partnerschaft, Liebe und Einsamkeit sowie die eigene Gesundheit der pflegenden Ehegatten schwerpunktmäßig beleuchtet. Im Gegensatz zu den Kinder-Perspektiven, die häufig mit binären Kategorien arbeiten (z.B. werden Gesundheit und Krankheit, Jungend und Alter, Exil und Gemeinschaft in Kontrast zueinander gestellt),5 beschreiben die hier untersuchten Partner-Narrative Gesund- und Krankheit als zwei Pole einer Skala, die sich durch fließende Übergänge auszeichnet.6 An die Stelle eines demenzbedingten Bruchs der Biographie tritt das Bild einer prozessualen Krankheitsentwicklung, die in allen drei Narrativen mit einer Entfremdung und einer anschließenden Wiederannäherung der beiden Gatten einhergeht. Demzufolge bringen die Demenz-Darstellungen von Bayley, Jens und Draesner das zunehmende Einfühlungsvermögen des Partners gegenüber dem Demenzkranken zum Ausdruck – eine Entwicklung, die durchaus ambivalent geschildert wird: Inge Jens wertet den Krankheitsprozess ihres Mannes hauptsächlich als Entfremdungsprozess, der jedoch mit einem Umdenken einhergeht. So erkennt die Autorin im Laufe der Zeit die veränderte Lebenswelt und die damit einhergehenden Bedürfnisse ihres dementen Mannes an. (vgl. LE,
4
5 6
zösischen Literatur bietet folgende Konferenzschrift: Gabriel-Andrè Pérouse (Hg.): Doubles et dédoublement en littérature. Saint-Étienne 1995. Vgl. Helbig (2005), S. 50: »Durch das Erzählen [der Demenz] werden nicht nur die Erinnerungen der Kranken bewahrt, die Erzähler versichern sich auch jener Person, deren Verschwinden sie beobachten.« Zu den Binarismen in Demenz-Narrativen aus Kinderperspektive vgl. z.B. Süwolto (2015), S. 204. Ein skalares Krankheitsverständnis steht binären Kategorisierungen gegenüber, die allein zwischen ›gesund‹ und ›krank‹ unterscheiden. Zu diesen beiden binären Codes vgl. Anz (1989), S. XI. Für eine graduelle Krankheitserfassung werden in der medizinischen Diagnostik sogenannte Scoring-Systeme genutzt. Vgl. Verena Fleig et al.: »Scoring-Systeme in der Intensivmedizin«, in: Anaesthesist Bd. 60, H. 10 (2011), S. 963-974.
Vergleichslinien
S. 152). Im Fall von Elegy for Iris führt das intensivierte Näheverhältnis der Partner wiederum zu einem symbiotischen Verhältnis, das in letzter Instanz sogar eine Krankheitsimitation des eigentlich gesunden Ehemanns bewirkt (EFI, S. 275). Diese Paarsymbiose wird in Draesners Erzählung noch gesteigert, indem von einer tatsächlichen Ansteckung von Ehegatten zu Ehegatten die Rede ist.
2.
Ordnung und Mimesis
Neben diesen drei kategorialen Gemeinsamkeiten treten in einer Zusammenschau aller untersuchten Narrative vor allem zwei – auf den ersten Blick komplementäre – literarische Strategien hervor, die genutzt werden, um Demenz zu erzählen: Ein Teil der Krankheitsdarstellungen setzt den kognitiven Zerfall und Sprachverlust sowie den Persönlichkeitswandel der dementen Figuren mimetisch um. Dabei nutzen Autoren, wie Frisch, Bernlef, Draesner oder auch Geiger, avancierte Erzählverfahren, um zum Beispiel mithilfe von narrativen Transgressionen, Metalepsen und einer aufgebrochenen Textstruktur die veränderte Wahrnehmung und Sprechweise der kranken Figuren formal zum Ausdruck zu bringen. Diese Texte überschreiten auf lautlicher Ebene, an der Textoberfläche (etwa durch Collageelemente und einen zergliederten Satzspiegel) oder auch durch eine anachronische Zeitstruktur die Grenzen diegetisch-narrativer Ordnungen. Hierbei lassen sich nicht nur Bezüge zur literarischen Avantgarde, sondern hauptsächlich zu romantischen Erzählverfahren und Motiven aufzeigen. Wie Dirk Kretzschmar eingängig schildert, stellt die Romantik das »Imaginative, Phantastische, Wahnhaft-Abnorme und Märchenhafte in eine kritische Gegenposition zur rationalen Produktions- und Zweckorientierung der modernen, bürgerlichen Gesellschaft«.7 Diese Auseinandersetzung mit Krankheiten auf der einen Seite,8 und die Faszination gegenüber dem Unheimlichen auf der anderen Seite, haben Texte der Romantik zu naheliegenden Vorlagen für Demenz-Narrative gemacht. Dementsprechend variieren Krankheitsdarstellung, wie Katharina Hackers Die Erdbeeren von Antons Mutter oder Bernlefs Hirngespinste, romantische Doppelgänger- und Spiegelmotive (vgl. hierzu Textanalyse, Kapitel 1.2.3.2 und 2.3.2.3). Darüber hinaus kommt es in den mimetischen Demenz-Narrativen – in Anlehnung an romantische Kunstmärchen von Brentano,
7 8
Kretzschmar (2012), S. 136. Zu romantischen Krankheitsbildern vgl. exemplarisch Rita Wöbkemeier: Erzählte Krankheiten. Medizinische und literarische Phantasien um 1800. Stuttgart 1990. Eine Abhandlung neueren Datums, die das Zusammenspiel von Medizin, Psychologie und Literatur um 1800 am Beispiel von Verfolgungswahn beleuchtet, stammt von Maximilian Bergengruen: Verfolgungswahn und Vererbung. Metaphysische Medizin bei Goethe, Tieck und E.T.A. Hoffmann. Göttingen 2018.
215
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Tieck, von Chamisso oder E.T.A. Hoffmann – zu sprachlichen wie inhaltlichen Unentscheidbarkeiten und Verwirrspielen, die auch am Ende der Texte nicht aufgelöst werden.9 Dieser intertextuelle Zusammenhang zwischen literarischen DemenzDarstellungen und romantischen Texten wird weiterhin durch Verweise auf die viktorianische Unsinnsdichtung ausgebaut, die vergleichbare Themenkomplexe zum Gegenstand hat. In den Narrativen von Draesner, Bernlef und Bayley leiden die Demenzkranken wie Alice im Wunderland darunter, dass die Ordnung der Dinge und Sprache verloren gegangen ist. Durch zahlreiche Motivverflechtungen wird die Wahrnehmung von Demenzkranken als bizarre, unkalkulierbare Parallelwelt voller Bedrohungen, aber auch Freuden skizziert – eine Darstellungsweise die Lewis Carrolls Alice-Kosmos entspricht (vgl. Textanalyse, Kapitel 1.3.4.1). Der Ordnungsverlust dieser Parallelwelt wird im Fall von mimetischen Demenz-Narrativen auf die Struktur der Texte übertragen, was wiederum zur Folge hat, dass sich der Leser in die Lage des dementen Protagonisten versetzt sieht, der mit Unverständnis auf die ihm rätselhaft gewordene Umwelt reagiert.10 Solchen formal-poetologischen Experimenten stehen auf der anderen Seite Demenz-Schreibweisen gegenüber, die sich der Krankheit strukturiert nähern. Eingebettet in eine zusammenhängende Textoberfläche – die chronologisch und formal klar organisiert ist – wird der Krankheitsfortschritt für den Leser nachvollziehbar dokumentiert und kohärent erzählt. Dabei rückt insbesondere der prozessuale Aspekt des Demenzsyndroms, dessen Symptome sich mit der Zeit zunehmend verschlimmern, in den Vordergrund. Tagebucheinträge, wie in Bayleys Elegy for Iris, oder einseitige Briefzeugnisse, wie in Inge Jens’ DemenzNarrativ, verstärken den Eindruck einer kontinuierlichen, unmittelbaren und vor allem subjektiven Erzählung der Krankheit. Derartige diaristische und epistolare Textformen können als Rückgriffe auf Brief- und Tagebuchromane identifiziert werden, die in der Literatur des 18. Jahrhunderts besondere Popularität erfahren haben und seitdem immer wieder Renaissancen erleben.11 Dass Demenz-Narrative gerade diese Genres aufgreifen, liegt in der persönlichen und unmittelbaren Wirkung von faktualen Egodokumenten und den literarisierten Varianten begründet,
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Zum Phänomen der Unentscheidbarkeit in romantischen Texten, die insbesondere durch das Doppelgänger-Motiv verkörpert wird, vgl. exemplarisch Sütterlin (2016), S. 94. In diesem Zusammenhang konstatiert Heike Hartung, dass mimetische DemenzNarrativität auf Ebene der Textstruktur und Erzählverfahren vermeintliche konstante Faktoren wie Linearität, Weiterentwicklung und Subjektivität vor dem Hintergrund der Demenz literarisch in Frage stellen würden: Heike Hartung: Ageing, Gender and Illness in Anglophone Literature: Narrating Age in the Bildungsroman. New York 2016, S. 213. Zur Poetik des Briefromans bietet folgender Sammelband stichhaltige Einzelanalysen sowie epochale Überblicksdarstellungen: Gideon Stiening / Robert Vellusig (Hg.): Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Studien. Berlin / Boston 2012.
Vergleichslinien
die dem Bedürfnis nach einer wirklichkeitsnahen und sinnstiftenden Deutung der Krankheit entgegenkommen. Erscheinen mimetische und kohärente Demenzschreibweisen zunächst als grundsätzlich verschiedenartige Konzepte, zeigt eine Untersuchung des vorliegenden Korpus, dass es in manchen Fällen ebenso zu Engführungen der beiden Strategien kommt: Einzelne mimetische Demenztexte legen der Krankheitsdarstellung eine Tagebuchstruktur oder eine Art Herausgeberkommentar zu Grunde, die dem Leser als Orientierungshilfe dienen. Im Fall von Ulrike Draesners Erzählung liefert beispielsweise der nachgelagerte Brief des Ehemanns Informationen zum überwiegend rätselhaften Bewusstseinsstrom der dementen Hauptfigur. Auch Frischs Erzählung weist eine tagebuchähnliche Notatstruktur auf, die der Erzählung – ähnlich wie die kursivierten Satzanfänge in Bernlefs Hirngespinste – ein chronologisches Grobraster verleiht. In Hinsicht auf diese Strukturierung der mimetischen Demenz-Texte muss der Begriff des ›Chaos-Narratives‹, wenn nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen, so doch kritisch hinterfragt werden:12 Der von Arthur Frank geprägte Ausdruck wird vielfach in Bezug auf Demenz-Texte angewendet, die einerseits inhaltlich vom krankheitsbedingten Chaos handeln und andererseits das Entgleiten des Bewusstseins auf ihre Erzählstruktur übertragen (vgl. Textanalyse, Kapitel 1.1.3, 1.2.3, 1.3.2 und 2.2.1.2 dieser Arbeit). Frank geht davon aus, dass sich diese Texte durch das Fehlen einer narrativen Struktur auszeichnen, um den Kontrollverlust auch formal zu vermitteln.13 Wie die Analysen der mimetischen Demenz-Texte zeigen konnten, scheinen diese Narrative jedoch nur auf den ersten Blick, bar jeder Ordnung zu sein. Bei den mimetischen Demenz-Darstellungen von Frisch, Bernlef, Draesner und auch Geiger handelt es sich durchweg um hoch artifizielle Texte, die den kognitiven Zerfall literarisch übersetzen, ohne dabei selbst ›chaotisch‹ vorzugehen.
3.
Fester Kern, fließender Wandel, krasser Umbruch
Unabhängig von den formalen Darstellungsweisen unterscheiden sich die jeweiligen Demenz-Narrative dadurch, dass sie die Persönlichkeit der dementen Figuren entweder als fixe Größe benennen oder aber den Kranken als vollkommen verändert schildern. Innerhalb des vorliegenden Korpus zielt etwa die Hälfte der Texte darauf ab, dass die dementen Figuren trotz ihrer Erkrankungen im Kern gleich ge-
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Vgl. Frank (1995), S. 95. Zur Verwendung dieses Begriffs ›Chaos-Narrative‹ vgl. außerdem Textanalyse, Kapitel 3.1.1.2. Frank (1995), S. 96: »Chaos narratives present suffering as being without purpose or design; as I said, they are stories without narrative structure.«
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blieben sind.14 In Draesners Erzählung finden sich beispielsweise zahlreiche Hinweise darauf, dass die demente Figur Sarah immer noch zu konstitutiven Erinnerungsleistungen und einer subjektiven Wahrnehmung ihrer Umgebung in der Lage ist (vgl. Textanalyse, Kapitel 1.3.3). Diese, von der Krankheit unangetasteten Fähigkeiten und Eigenschaften zeichnen sie als beeinträchtigtes Individuum aus. Eine ähnliche Wertung findet sich in Der alte König in seinem Exil: Hierin bescheinigt Arno Geiger seinem dementen Vater, trotz der Krankheit die »weitestgehende Unversehrtheit seines Charakters« (AKE, S. 69). Das Paradoxon der graduell von der Krankheit veränderten Person und deren gleichgebliebener Persönlichkeit wird in den Texten von Draesner, Geiger, Bayley und Frisch mit der Vorstellung des ewigen Wandelns und Vergehens in Verbindung gebracht: Gemäß dem antiken Aphorismus ›πάντα ῥεῖ‹ schildern diese Texte das Demenzsyndrom als Teil der Prozessualität des Seins (vgl. Textanalyse, Kapitel 3.1.4), was anhand des vermehrten Gebrauchs einer Natur-Metaphorik zum Ausdruck gebracht wird: Witterungsphänomene und Jahreszeiten, geologische Entwicklungen und Gezeiten dienen als Bilder eines natürlichen, immer wiederkehrenden Wandels. So wird in Der Mensch erscheint im Holozän durch die Erosionsmetapher zum Ausdruck gebracht, dass Flora, Fauna und Gesteine ebenso wie Menschen von denselben Veränderungen betroffen sind, die alles entstehen, formen und vergehen lassen (vgl. MH, S. 139). Vor dem Hintergrund dieser Bildlichkeit erscheint das Sein in Frischs Erzählung nicht als statischer, sondern als dynamischer Prozess, der alles verändert und es auf diese Weise beim Alten belässt. Die platonische Idee des unaufhörlichen Flusses der Dinge, dem ewigen Wandel, wird in den obengenannten Texten vielfach durch einen Bezug auf Ovids Metamorphosen ausgebaut. Auf diesen antiken Prätext bezieht sich auch John Bayley, der in Elegy for Iris erklärt, er könne sich rückblickend nicht daran erinnern, dass Iris je anders gewesen sei (EFI, S. 275). Gerade in den stetigen Veränderungen bestünde die Konstante von Iris’ ›fließender‹ Persönlichkeit (vgl. EFI, S. 65). Während die Narrative von Frisch, Draesner, Geiger und Bernlef den dementen Protagonisten einen unveränderten Charakter attestieren und die Krankheit als Teil des Lebensflusses beschreiben, betonen J. Bernlef, Tilman Jens, Katharina Hacker sowie Inge Jens hingegen die krankheitsbedingte, komplette Persönlichkeitsveränderung der Dementen, die zum Teil sogar als gänzlicher Verlust des Personenstatus gedeutet wird. So heißt es in Langsames Entschwinden über den dementen Walter Jens: »›Mein Mann‹ – und das hieß für uns beide in erster Linie ›mein Partner‹ – ist er längst nicht mehr.« Immer wieder spricht Inge Jens von der
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Zur Reaktion von Kindern Demenz-Kranker auf derartige Narrative vgl. Pat Sikes / Mel Hall: »It was then that I thought ›whaat? This is not my Dad‹: The implications of the ›still the same person‹ narrative for children and young people who have a parent with dementia«, in: Dementia. The International Journal of Social Research and Practice Bd. 17, H. 2 (2018), S. 180-198.
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verwirrenden Situation, dass sich ihr Gatte optisch kaum verändert habe, aber aufgrund der Krankheit »keine Person mehr ist.« (LE, S. 108) Im Zuge der fortschreitenden Demenz-Erkrankung zeige er allen voran kindliche Wesenszüge, die Inge Jens nicht mit dessen vormaligem Intellektuellen-Dasein übereinbringen könne (vgl. LE, S. 100). Die vermeintliche Rückentwicklung zum Kind ist ein weitverbreiteter Topos in Demenz-Narrativen, der auch von Tilman Jens und J. Bernlef aufgegriffen wird: In Demenz. Abschied von meinem Vater erscheint der kranke Walter als Kleinkind, das Kaninchen füttert und mit Puppen spielt (DAV, S. 153f).15 Dieses Bild deckt sich mit Bernlefs Erzählung, in der der demenzkranke Protagonist am Ende glaubt, sich als Säugling im Arm seiner Mutter zu befinden (HG, S. 174). Regression und Kindlichkeit werden in diesen Texten – anders als bei Bayley oder Draesner – nicht als inhärente Eigenschaften, sondern als krankheitsbedingte, tragische Rückentwicklungen gewertet. Im Gegensatz zu den Texten, die das Sein als fließenden Wandel beschreiben, werten Tilman und Inge Jens sowie J. Bernlef die Krankheit als zirkuläre Entwicklung, die das hohe Alter mit der Kindheit rückkoppeln. Eine andere Wertung findet sich allein bei Katharina Hacker, die Demenz nicht als regressiven Prozess, sondern als Verlust des Geschlechterhabitus schildert:16 Von der Demenzerkrankung gezeichnet, wirkt Hilde auf den Sohn abgewandt und männlich. Er bemängelt, dass Hilde aufgrund ihrer Krankheit nicht länger dazu in der Lage sei, ihre mütterliche Fürsorge auszuüben oder den Familienzusammenhalt zu stiften (vgl. EAM, S. 8). Auf diese Weise wird Demenz in die Erdbeeren von Antons Mutter als Einbuße der Mütter- und Weiblichkeit eingeordnet.
4.
Zwischen Pathologisierung und Sakralisierung
Die bisher aufgezeigten Vergleichslinien – der Krankheitsperspektiven, Darstellungsverfahren und Persönlichkeitsbilder – verlaufen quer zwischen den jeweiligen Narrativen, unabhängig davon, welches Erscheinungsdatum diese tragen. Dementsprechend lassen sich auf Basis der literarischen Konventionsbezüge und Schreibweisen des Demenzsyndroms unterschiedliche Cluster aus älteren wie jüngeren Gegenwartstexten gruppieren. Auch die Frage nach der Persönlichkeit eines Dementen (ob verändert oder im Kern gleichgeblieben) wird von jedem Autor individuell und nicht etwa gemäß einer zeitgeschichtlichen Entwicklung beantwortet.
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In zahlreichen Demenz-Texten, die aus der Perspektive der Kinder verfasst sind, wird das kranke Elternteil mit einem Kind verglichen. Vgl. exemplarisch Nucci Rotta: La bimbamamma. Neapel 2009. Oder auch: Tahar Ben Jelloun: Sur ma mère. Paris 2005 [Yemma – meine Mutter, mein Kind. Berlin 2007]. Zum Term des ›Geschlechterhabitus‹ vgl. Engler (2008), S. 250-261, sowie Kapitel 2.3.2.1 der Textanalyse.
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Während unter den Gesichtspunkten der Erzählverfahren, literarische Traditionsbezüge sowie individuelle Akzentsetzungen unterschiedliche Textgruppierungen innerhalb des Korpus entstehen, lässt sich jedoch auf wissensgeschichtlicher Ebene eine fortwährende Weiterentwicklung des Sprechens über Demenz erkennen: In den ausgehenden 1970er Jahren verwendet Max Frisch zur Einordnung der Demenzsymptome noch die Begriffe ›Verkalkung‹ und ›Altersblödsinn‹ (vgl. MH, S. 238). Dasselbe Krankheitsbild wird in späteren Texten explizit als ›AlzheimerKrankheit‹ bezeichnet.17 In diesem Zusammenhang fällt auf, dass keines der Narrative aus den 1980er und 1990er Jahren ein anderes (beispielsweise vaskuläres oder degeneratives) Demenzleiden darstellt. Eine solche gesellschaftliche und literarische Fokussierung auf die Alzheimer-Krankheit ist nicht nur Folge der zunehmenden Diagnosezahlen.18 Wie anhand des zeitgeschichtlichen Kontexts aufgezeigt werden konnte, schaffen institutionelle Gründungen, wie die der amerikanischen Alzheimer’s Association im Jahr 1980 und der Deutschen Alzheimer Gesellschaft im Jahr 1989, ein internationales Bewusstsein für das spezifische Krankheitsbild, das auch heute noch irrtümlicherweise als Oberbegriff für das weiter gefasste Demenzsyndrom verwendet wird.19 Aufgrund dieser Ausgangslage nimmt es nicht Wunder, dass sich literarische Texte (und in der Folge auch literaturwissenschaftliche Beiträge) vorwiegend auf Darstellungsformen der Alzheimer-Krankheit konzentrieren. Demgegenüber stehen Demenz-Narrative, wie etwa Tilman und Inge Jens’ Texte oder auch auf Stefan Merrill Block The Story of Forgetting,20 die in den beginnenden 2000er Jahren explizit zu einer Erweiterung des Demenzbegriffs beitragen, indem sie den Unterschied zwischen vaskulären und degenerativen Demenzformen darlegen. Neben diesen Ausdifferenzierungen der verschiedenen Krankheitsbilder und Symptomverbände lassen sich aus dem vorliegenden Korpus ebenso medizinische Erkenntnisgewinne, Theoriebildungen und Diskussionshintergründe filtern, die sich hauptsächlich auf die Ursachen eines Demenzausbruchs beziehen. Hierzu 17
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Auch wenn der Begriff kein einziges Mal fällt, zeichnet J. Bernlefs Hirngespinste den Verlauf einer senilen Alzheimer-Erkrankung nach, ebenso wie Ulrike Draesner, Arno Geiger, Katharina Hacker und John Bayley. Auch über die hiesige Textauswahl hinaus handeln die meisten (und bekanntesten) Demenz-Texte explizit von der (senilen oder präsenilen) AlzheimerKrankheit. Vgl. z.B. Margaret Forster: Have the Man had Enough? London 1990; Nicholas Sparks: The Notebook. New York 1996; Suter (1997); Annette Pehnt: Haus der Schildkröten. München 2006; Lisa Genova: Still Alice. New York 2007. Zu den steigenden Diagnosezahlen der Alzheimer-Krankheit des präsenilen Typs vgl. Bianca Natale et al.: »Alzheimer-Demenz mit präsenilem Beginn – Besonderheiten in Diagnostik, Therapie und Management«, in: Hans Förstl (Hg.): Demenz in Theorie und Praxis. Berlin / Heidelberg 2011, S. 73-92, zur Epidemiologie speziell S. 75ff. Zur Gründung der Alzheimer’s Association und der Deutschen Alzheimer Gesellschaft vgl. Textanalyse, Kapitel 1.2.2 Stefan Merill Block: The Story of Forgetting. New York 2008.
Vergleichslinien
zählt beispielsweise der erbrachte Nachweis einer genetischen Vererbbarkeit von gewissen Demenzformen, der in Elegy for Iris thematisiert wird (vgl. EFI, S. 91). Darüber hinaus finden Debatten über das erhöhte Risiko für pflegende Angehörige und psychotraumatische Belastungsereignisse als mögliche Ursachen Eingang in die Texte (vgl. Textanalyse, Kapitel 2.1.3 und 3.2.3). Indem literarische DemenzDarstellungen auf diese Weise medizinische Wissensinhalte, Begrifflichkeiten und Diskussionen aufgreifen, zeugen sie von dem gesteigerten Bedürfnis, die Krankheit dem wissenschaftlichen Kenntnisstand entsprechend darzustellen – ganz gleich, ob die Texte einen fiktionalen oder einen faktualen Anspruch für sich erheben. Gleichzeitig drückt der vermehrte Rückgriff auf medizinische Demenzkonzepte eine Nobilitierung dieser Wissensinhalte aus. Wie Thomas Anz bereits 1989 betont, wird der Medizin auf diese Weise eine geradezu »soziale Autorität« zugesprochen, »der sich literarische und literaturkritische Diskurse so wenig entziehen können wie ethische, politische oder juristische.«21 Dieses medizinische Wissen über die Krankheit wird jedoch nicht als hinlänglich sinnstiftend erachtet; impulsgebend scheint hingegen für alle DemenzNarrative, eine Deutung dessen zu sein, was gerade nicht durch Wissensinhalte über die Krankheit eingeholt werden kann. Die jeweilige Ätiologie der Erkrankung – z.B. eine genetische Vererbung oder eine Mikroangiopathie – wird in allen Narrativen nur als Rahmenbedingung eines Prozesses eingeordnet, dessen tieferen Sinn es im individuellen Fall zu ergründen gilt. Dabei kommt es in allen Demenz-Darstellungen zu einer paradoxen, normativen Bewertung der Krankheit, die einerseits als weitverbreitete Problematik, ja als »Krankheit des Jahrhunderts« benannt wird (AKE, S. 58).22 Obgleich auf die rapide wachsende Zahl an Krankheitsfällen aufmerksam gemacht wird, schildern alle acht Texte den Ausbruch der Demenz stets als Ausdruck eines individuellen ›Anders-Seins‹: Als Stigma, Zeichen von Genialität oder sakrales Signum unterscheidet die Demenz-Erkrankung den betroffenen Protagonisten von seinem Umfeld und verleiht ihm aufgrund der Symptome eine Aura des ›Unheimlichen‹, des Vertraut-Unvertrauten. Diese Darstellung spricht der dementen Figur – in Opposition zu einem ratio-zentrierten Menschenbild – gerade wegen ihrer krankheitsbedingten Veränderungen eine außerordentliche Rolle innerhalb des Texts zu. Auf diese Weise wird die literarische Auseinandersetzung mit der Krankheit als moralisch-ethisches, gesellschaftspolitisches und auch ästhetisches Lehrstück nobilitiert, das dem Leser einen Ausblick über die Erkrankung des Individuums hinaus eröffnen soll.
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Anz (1989), S. XI. Der im Demenz-Diskurs vielzitierte Autor David Shenk geht sogar so weit, Demenz als ›Epidemie‹ zu bezeichnen. Vgl. David Shenk: The Forgetting. Alzheimer’s: Portrait of an Epidemic. New York 2001.
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Anhang
1.
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Vergessen erzählen
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Anhang
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Vergessen erzählen
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Abbildungen
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Abb. 2: Webseite der Carsten-Stiftung für Naturheilkunde und Medizin. https://www.carstens-stiftung.de/artikel/top-10-demenz.html, abgerufen am 1. Februar 2019.
5.
Demenz in den Künsten: Ein (unvollständiger) Überblick
Comics, Graphic Novels und Kinderbücher Altés, Marta: Mi abuelo. Madrid 2012. Chast, Roz: Can’t We Talk about Something More Pleasant? London 2014. Memetris, Jean / Demetris, Alex: Grandma’s Box of Memories: Helping Grandma to Remember. London 2014. Rocas, Paco: Arrugas. Paris 2007. [Kopf in den Wolken. Berlin 2013]. Leavitt, Sarah: Tangles: A story about Alzheimer’s, my mother and me. New York 2010. [Das große Durcheinander. Alzheimer, meine Mutter und ich. Weinheim 2013]. Lambert, Thibaut / Henry, Sabine: Al Zimmeur. Durbuy 2011. [Keine Macht Für Al Tsoy Ma. Frankfurt a.M. 2013]. Van den Abeele, Véronique / Dubois, Claude: Ma Grand-mère Alzha… quoi? Paris 2006. Van Laan, Nancy / Graegin, Stephanie: Forget Me Not. New York 2014.
Anhang
Walrath, Dana: Aliceheimer’s: Alzheimer’s Through the Looking Glass. Lanham 2016.
Dramen Admiraal, Joop: U bent mijn moeder. UA Het Werkteater Amsterdam 1981 [Du bist meine Mutter. DSE Kammerspiele Düsseldorf 1994]. Call, Daniel: Wege mit Dir. UA Städtische Bühnen Chemnitz 2007. Jelinek, Elfriede: Winterreise. UA Münchner Kammerspiele 2011. Krähenbühl, Sebastian: Das Bedürfnis der Pflanzen. UA Züricher Theater an der Winkelwiese 2012. Lausund, Brian: Ich erinnere mich genau. UA Reiffenstuelhaus Pfarrkirchen 2013. Maurer, Konrad / Maurer, Ulrike: Die Akte Auguste D. UA Theater Neumarkt Zürich 2001. Mitterer, Felix: Der Panther. UA Wiener Kammerspiele 2007. Schüßler, Barbara: Hemdenwechsel. UA Theater Vaihingen 2013. Zeller, Florian: Le Père. UA Théâtre Hébertot Paris 2011 [Der Vater. DSE St. Pauli Theater Hamburg 2015].
Erzählungen, Romane, Autobiographien Bayley, John: Elegy for Iris. New York 1999 [Elegie für Iris. München 2000]. Bayley, John: Iris and her Friends. A Memoir of Memory and Desire. New York 2000. Berg, Tim: Und am Ende saß ich im Papierflieger und du warst der Wind. Berlin 2017. Berling, Max: Max und Pia, in: Klara Obermüller (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. München 2006, S. 146-160. Bernlef, J. [Hendrik Jan Marsman]: Hersenschimmen. Amsterdam 1984 [Hirngespinste. Zürich 1986]. Block, Merill: The story of forgetting. New York 2008 [Wie ich mich einmal in alles verliebte. Köln 2011]. Braam, Stella: Ik heb alzheimer. Het verhaal van mijn vader. Amsterdam 2005 [Ich habe Alzheimer. Wie sich die Krankheit anfühlt. Weinheim / Basel 2007]. Bragg, Melvyn: Grace and Mary. London 2013. Buades, Margarita Retuerto: Mi vida junto a un enfermo de Alzheimer. Madrid 2003. Chariandy, David: Soucouyant. Vancouver 2007 [Der karibische Sommer. Frankfurt a.M. 2009]. Cohen, Elizabeth: The House on Beartown Road. A Memoir of Learning and Forgetting. New York 2003. Davis, Robert: My Journey into Alzheimer’s Disease. Helpful Insights for Family and Friends. Carol Stream 1989. Davidson, Ann: Alzheimer’s. A Love Story. Secaucus 1997. DeBaggio, Thomas: Losing My Mind. An Intimate Look at Life with Alzheimer’s. New York 2003.
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DeBaggio, Thomas: When It Gets Dark. New York 2007. Di Pietrantonio, Donatella: Mia madre è un fiume. Rome 2010. Downham, Jenny: Unbecoming. Oxford 2015. Draesner, Ulrike: Ichs Heimweg macht alles allein, in: Dies.: Richtig liegen. Geschichten in Paaren. München 2011, S. 175-184. Draesner, Ulrike: Ichs Heimweg macht alles alleine, in: Klara Obermüller (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. München 2006, S. 59-81. Ernaux, Annie: Je ne suis pas sortie de ma nuit. Paris 1999. Farkas, Péter: Nyloc perc. Budapest 2007 [Acht Minuten. München 2011]. Faes, Urs: Er ist nicht mehr da, wenn er da ist, in: Klara Obermüller (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. München 2006, S. 23-46. Fitzgerald, Helen: The Exit. London 2015. Forster, Margaret: Have the Man had Enough? London 1990 [Ich glaube, ich fahre in die Highlands. Frankfurt a.M. 1992]. Franzen, Jonathan: The Corrections. New York 2001 [Die Korrekturen. Hamburg 2002] Franzen, Jonathan: My father’s brain, in: Ebd.: How to be alone. London 2002, S. 738 [»Das Gehirn meines Vaters«, in: Ders.: Anleitung zum Einsamsein. Hamburg 2002, S. 16-50]. Frisch, Max: Der Mensch erscheint im Holozän, in: Ebd.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Sieben Bände: Bd. 7. Ed. Hans Mayer. Frankfurt a.M. 1986, S. 205-300. Fuchs, Elinor: Making an Exit: A Mother-Daughter Drama with Alzheimer’s, Machine Tools, and Laughter. London 2005. Geiger, Arno: Der schmale Grat, in: Klara Obermüller (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. München 2006, S. 15-22. Geiger, Arno: Der alte König in seinem Exil. München 2011. Gemmeke, Anna: Das fremde Zimmer. Mannheim 2015. Genova, Lisa: Still Alice. New York 2007 [Mein Leben ohne Gestern. Bergisch Gladbach 2009]. Gerster, Andrea: Dazwischen Lili. Basel 2008. Gillies, Andrea: Keeper. London 2009. Grant, Linda: Remind Me Who I Am, Again? London 1998. Gülich, Martin: Was uns nicht gehört. München 2012. Habeck, Fritz: Dezemberabend, in: Andreas Weber (Hg.): Fritz Habeck. Gedanken in der Nacht. Erzählungen. Freistadt 1995, S. 133-142. Hacker, Katharina: Die Erdbeeren von Antons Mutter. Frankfurt a.M. 2010. Hadas, Rachel: Strange Relations. A Memoir of Marriage, Dementia, and Poetry. Philadelphia 2011. Hagena, Katharina: Der Geschmack von Apfelkernen. Köln 2008. Happel, Lioba: dement. Aachen 2015. Hummel, Katrin: Gute Nacht, Liebster. Bergisch Gladbach 2009.
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Huonder. Silvio: Alter Mann rückwärts gehend, in: Klara Obermüller (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. München 2006, S. 82-96. Ignatieff, Michael: Scar Tissue. London 1993 [Die Lichter auf der Brücke eines sinkenden Schiffs. Frankfurt a.M. / Leipzig 1995]. Inoue, Yasushi: Waga haha no ki. Tokio 1975 [Meine Mutter. Frankfurt a.M. 1985]. Jens, Inge: Langsames Entschwinden. Vom Leben mit einem Demenzkranken. Hamburg 2016. Jens, Tilman: Demenz. Abschied von meinem Vater. Gütersloh 2009. Jelloun, Tahar Ben: Sur ma mère. Paris 2005 [Yemma – meine Mutter, mein Kind. Berlin 2007]. Khong, Rachel: Goodbye, Vitamin. New York 2017 [Das Jahr, in dem Dad ein Steak bügelte. Köln 2018]. Knauss, Sybille: Das Liebesgedächtnis. Tübingen 2015. Koch, Erwin: Das Ameisennest, in: Klara Obermüller (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. München 2006, S. 47-58. Konek, Carol: Daddyboy. A Family’s Struggle with Alzheimer’s. Saint Paul 1991. Krauss, Nicole: Great House. New York 2010 [Das große Haus. Reinbek / Hamburg 2012]. Kronauer, Brigitte: Im Gebirg‹, in: Dies.: Die Tricks der Diva. Geschichten. Stuttgart 2004, S. 7-21. Kuckart, Judith: Was habe ich eigentlich?, in: Klara Obermüller (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. München 2006, S. 97-124. Laborde, Françoise: Pourquoi ma mère me rend folle. Paris 2002. Lindbergh, Reeve: No More Words. A Journal of My Mothers, Anne Morrow Lindbergh. New York et al. 2001. McEwan, Ian: Atonement. London 2001 [Abbitte. Zürich 2002]. McGowin, Daniela: Living in the Labyrinth: A Personal Journey Through the Maze of Alzheimer’s. New York 1993. Michell, Wendy: Somebody I used to know. London 2018 [Der Mensch, der ich einst war: Mein Leben mit Alzheimer. Reinbek / Hamburg 2019] Miller, Sue: The Story of my Father. New York 2004. Parei, Inka: Das Ding, in: Klara Obermüller (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. München 2006, S. 136-145. Pehnt, Annette: Haus der Schildkröten. München 2006. Pierce, Charles: Hard to Forget: An Alzheimer’s Story. New York 2000. Roach, Marion: Another Name for Madness. Boston 1983. Rohra, Helga: Aus dem Schatten treten. Warum ich mich für unsere Rechte als Demenzbetroffene einsetze. Frankfurt a.M. 2011. Rosenthal, Olivia: On n’est pas là pour disparaître. Paris 2007 [Wir sind nicht da, um zu verschwinden. Sulzbach 2017].
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Vergessen erzählen
Rota, Nucci: La bimbamamma. Cosa vuol dire convivere con l’Alzheimer. Il diario di una figlia. Neapel 2009. Ruge, Eugen: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Reinbek / Hamburg 2011. Schreiner, Margit: Nackte Väter. Zürich 1997. Schweikert, Ruth: Gesten der Umarmung, in: Klara Obermüller (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. München 2006, S. 161-170. Scrimger, Richard: Mystical Rose. Toronto 2000 [Meine Seele ein Meer. Stuttgart 2012]. Seidenauer, Gudrun: Aufgetrennte Tage. St. Pölten / Salzburg 2009. Shenk, David: The Forgetting. Alzheimer’s: Portrait of an Epidemic. New York 2001. Sparks, Nicholas: The Notebook. New York 1996 [Wie ein einziger Tag. München 1996]. Spohr, Betty / Bullard, Jean Valens: Catch a Falling Star. Living with Alzheimer’s. Seattle 1995. Stamm, Peter: Die Dämmerung, in: Klara Obermüller (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. Erzählungen über Alzheimer und Demenz. München 2006, S. 125-141. Suhl, Leonore: Frau Dahls Flucht ins Ungewisse. Düsseldorf 1996. Suter, Martin: Small World. Zürich 1997. Tietjen, Bettina: Unter Tränen gelacht. Mein Vater, die Demenz und ich. München 2016. Trummer, Isabella: Schattensturm. Graz 2014. Urban, Petra: Die Flaneurin. Hamburg 2009. Valadon, Eveleen / Remy, Jaqueline: Mes pensées sont des papillons. Paris 2017 [Meine Gedanken fliegen wie Schmetterlinge. München 2018]. Venturino, Giovanna: Il tuo mare di nulla. La mia mamma e l’Alzheimer. Rom 2012. Verhulst, Dimitri: De laatkomer. Door zich dement voor te doen denkt een gepensioneerde bibliothecaris zijn kleurloze bestaan achter zich te kunnen laten. Amsterdam 2013 [Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau. München 2014]. Wajsbrot, Cécile: Mémorial. Paris 2005 [Aus der Nacht. München 2008]. Wall, Frank: Where Did Mary go? A Loving Husband’s Struggle with Alzheimer’s. Amherst 1996. Wiesel, Elie: The Forgotten. New York 1995. Winter, Tom: Arms Wide Open. London 2014. Witchel, Alex: All gone. A Memoir of My Mother’s Dementia. With Refreshments. New York 2012. Wündsch, Frank: Ich bin doch auch wer. Leipzig 2013. Zacharias, Sylvia: Diagnose Alzheimer. Helmut Zacharias: Ein Bericht. Köln 2000. Zwicker, Frédéric: Hier können Sie im Kreis gehen. München 2016.
Spielfilme und Dokumentationen Arledge, Elizabeth (Reg.): The Forgetting: A Portrait of Alzheimer’s. USA 2004. August, Bille (Reg.): En sång för Martin. Schweden 2001. Berliner, Alan (Reg.): First Cousin Once Removed. USA 2013.
Anhang
Breitman, Zabou (Reg.): Claire – Se souvenir des belles choses. Frankreich 2001. Cassavetes, Nick (Reg.): The Notebook. USA 2004. Chang-dong, Lee (Reg.): Hangul [Poetry]. Südkorea 2010. Chiche, Bruno (Reg.): Small World. Deutschland / Frankreich 2010. Chomko, Elizabeth (Reg.): What They Had. USA 2018. Dilthey, Iain (Reg.): Eines Tages. Deutschland 2010. Egoyan, Artom (Reg.): Remember. Kanada / Deutschland 2015. Eyre, Richard (Reg.): Iris. GB / USA 2001. Glatzer, Richard / Westmoreland, Wash (Reg.): Still Alice. USA 2012. Harada, Masato (Reg.): Waga haha no ki [Chronicle of my mother]. Japan 2011. Heinze, Nadine / Dietschreit, Marc (Reg.): Die Vergesslichkeit der Eichhörnchen. Deutschland 2019. Jenkins, Tamara (Reg.): The Savages. USA 2007. Kannengießer, Andreas (Reg.): Vergiss Dein Ende. Deutschland 2011. Kaye, Tony (Reg.): Detachment. USA 2011. Keach, James (Reg.): I’ll be me. USA 2011. Kleinert, Andreas (Reg.): Mein Vater. Deutschland 2003. Leytner, Nikolaus (Reg.): Die Auslöschung. Deutschland 2013. Lloyd, Phyllida (Reg.): The Iron Lady. GB 2011. McCarthy, Tom (Reg.): Win Win. USA 2011. Petrova, Ralitza (Reg.): Bezbog [Godless]. Bulgarien 2016. Polley, Sarah (Reg.): Away From Her. Kanada 2006. Ranisch, Axel (Reg.): Dicke Mädchen. Deutschland 2012. Robelin, Stéphane (Reg.): Et si on vivait tous ensemble? [Und wenn wir alle zusammenziehen?]. Frankreich / Deutschland 2011 Rossato-Bennett, Michael (Reg.): Alive Inside. USA 2014. Rydell, Mark (Reg.): On Golden Pond. USA 1981. Schrader, Paul (Reg.): Dying of the Light. Bahamas / USA 2014. Schreier, Jake (Reg.): Robot & Frank. USA 2012. Schweiger, Till (Reg.): Honig im Kopf. Deutschland 2014. Sieveking, David (Reg.): Vergiss mein nicht. Deutschland 2013. Steinbichler, Hans (Reg.): Das Blaue vom Himmel. Deutschland 2011. Testin, Mike (Reg.): Dementia. USA 2015. Ustaoğlu, Yeşim (Reg.): Pandoranın Kutusu [Pandoras Box]. Türkei 2008. Virzì, Paolo (Reg.): The Leisure Seeker. Italien / Frankreich 2017. Willbrand, Nils (Reg.): Für Dich dreh ich die Zeit zurück. Österreich 2017. Williams, John (Reg.): Ichiban utsukushî natsu [Firefly Dreams]. Japan 2001.
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Literaturwissenschaft Werner Sollors
Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen September 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1
Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Ulfried Reichardt, Regina Schober (eds.)
Laboring Bodies and the Quantified Self October 2020, 246 p., pb. 40,00 € (DE), 978-3-8376-4921-5 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4921-9
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Literaturwissenschaft Renata Cornejo, Gesine Lenore Schiewer, Manfred Weinberg (Hg.)
Konzepte der Interkulturalität in der Germanistik weltweit August 2020, 432 S., kart., 6 SW-Abbildungen 50,00 € (DE), 978-3-8376-5041-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5041-3
Claudia Öhlschläger (Hg.)
Urbane Kulturen und Räume intermedial Zur Lesbarkeit der Stadt in interdisziplinärer Perspektive Juli 2020, 258 S., kart., 10 SW-Abbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-4884-3 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4884-7
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 11. Jahrgang, 2020, Heft 1 August 2020, 226 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-4944-4 E-Book: PDF: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4944-8
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