Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassungsprozessrecht und Pluralismus: Zugleich ein Beitrag zu Peter Häberles Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit als gesellschaftliche Funktion und des Verfassungsprozessrechts als Pluralismus- und Partizipationsrecht [1 ed.] 9783428549740, 9783428149742

»Constitutional Adjudication, Constitutional Procedural Law and Pluralism«The German Constitutional Court is, primarily,

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German Pages 270 Year 2016

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Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassungsprozessrecht und Pluralismus: Zugleich ein Beitrag zu Peter Häberles Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit als gesellschaftliche Funktion und des Verfassungsprozessrechts als Pluralismus- und Partizipationsrecht [1 ed.]
 9783428549740, 9783428149742

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1331

Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassungsprozessrecht und Pluralismus Zugleich ein Beitrag zu Peter Häberles Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit als gesellschaftliche Funktion und des Verfassungsprozessrechts als Pluralismusund Partizipationsrecht

Von

Jorge Luis León Vásquez

Duncker & Humblot · Berlin

JORGE LUIS LEÓN VÁSQUEZ

Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassungsprozessrecht und Pluralismus

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1331

Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassungsprozessrecht und Pluralismus Zugleich ein Beitrag zu Peter Häberles Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit als gesellschaftliche Funktion und des Verfassungsprozessrechts als Pluralismusund Partizipationsrecht

Von

Jorge Luis León Vásquez

Duncker & Humblot · Berlin

Die Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Hamburg hat diese Arbeit im Jahr 2016 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH; Ochsenfurt Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14974-2 (Print) ISBN 978-3-428-54974-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-84974-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für meine Frau Doris und meine Tochter Sandra

Vorwort Das Bundesverfassungsgericht ist im deutschen Verfassungsstaat nicht nur ein staatliches, sondern vielmehr auch ein gesellschaftliches bzw. bürgerliches Verfassungsgericht. Denn es wirkt nicht nur auf den Staat, sondern zunehmend auf die Zivilgesellschaft. Damit stiftet bzw. erhält das Bundesverfassungsgericht den gesellschaftlichen Grundkonsens. Es pluralisiert das verfassungsrechtliche System sowohl in staatsrechtlicher als auch gesellschaftlicher Hinsicht. Dabei spielt das Verfassungsprozessrecht eine entscheidende Rolle. Ein formalistisches Verfassungsprozessrecht, das unkritisch seine Grundlage in sonstigen Prozessordnungen zu finden versucht, wäre weder in der Lage, die Verfassung der Öffentlichkeit zu erklären, noch könnte es die gesellschaftliche Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit zur Entfaltung bringen; dieses Ziel wird nur durch ein Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht erreicht. Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2015 als Dissertation an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg eingereicht. Die Disputation fand am 27. Januar 2016 statt. Für die Veröffentlichung ist die bis Februar 2016 erschienene Literatur berücksichtigt worden. Mein ganz herzlicher Dank gilt an erster Stelle meinem verehrter Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Markus Kotzur, LL.M. (Duke Univ.) für die menschlich wie fachlich vorbildliche Betreuung während des gesamten Promotionsverfahrens. Er hat mir den notwendigen Freiraum eingeräumt und durch seine wertvollen Anregungen und Impulse zum Gelingen der Dissertation beigetragen. Für ständige und großzügige Unterstützung gilt auch mein besonderer Dank Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle. Er ist ein leuchtendes Vorbild für viele junge deutsche und lateinamerikanische Juristen. Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Karl-Heinz Ladeur danke ich sehr für die Erstellung des Zweitgutachtens. Für effiziente und sehr professionelle Unterstützung danke ich herzlich Frau Claudia Zavala, Mitarbeiterin der Promotionsstelle der Fakultät, und Herrn Andreas Knobelsdorf, Fachreferent an der Zentralbibliothek Recht. Herzlich gedankt sei schließlich meinen Freunden Rechtsanwalt Nicolaus Weil von der Ahe und Maria Weber. Herrn Dr. Florian R. Simon, LL.M. danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Schriften zum Öffentlichen Recht“. Der größte Dank gilt meiner Frau Doris und meiner Tochter Sandra sowie meinen Eltern und Geschwistern. Hamburg, März 2016

Jorge Luis León Vásquez

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Peter Häberle – ein lebender Klassiker der deutschen Verfassungs- und Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 II. Ziel und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 B. Die Wurzeln von Häberles Verfassungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I. Das Frühwerk Häberles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Institutionelles Verständnis der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2. Öffentliches Interesse als juristisches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Verfassungsrechtsprechung als Gemeinwohljudikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 4. Verfassung des Pluralismus – Verfassung als öffentlicher Prozess . . . . . . . . . 28 5. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft – Verfassung als Kultur . . . . . . . . . 29 II. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 C. Der gemischte Verfassungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 I. Verfassung des Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2. Pluralismus (Offenheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 II. Dimensionen der Verfassung des Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. Verfassung des Pluralismus als rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Verfassung des Pluralismus als offene und öffentliche Grundordnung . . . . . . 37 3. Verfassung des Pluralismus als „lebende“ rechtliche Grundordnung . . . . . . . 37 4. Verfassung des Pluralismus als „Raum“ für Konsens und Dissens . . . . . . . . . 38 5. Verfassung des Pluralismus als Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 III. Kritiken an der Verfassung des Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. Verliert die Verfassung ihren normativen Charakter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Die Verfassung als „bloßes Echo“ des gesellschaftlichen Wandels? . . . . . . . . 42 3. Totalitäre Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

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Inhaltsverzeichnis

D. Verfassungsgerichtsbarkeit im Kern des Rechts und der Politik . . . . . . . . . . . . . . 45 I. Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 a) Dichotomie von Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 b) Institutionelle Trennung von Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 c) Primat des Rechts über die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 d) Primat der Politik über das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 e) Innerer Widerspruch zwischen Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. Häberles These – Recht und Politik als Teilfunktionen des ganzen res publica 52 a) Politikbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 b) Recht und Politik nach Häberle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 II. Verfassungsrecht als politisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1. Der staatsrechtliche Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2. G. Jellineks Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3. Staatsrechtslehre und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4. Auffassung Häberles: Verfassungsrecht „führt eine politische Existenz“ . . . . 65 III. Zum Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1. Staats- und Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2. Formelle und materielle Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 a) Formelle und materielle Deutung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . 71 b) Verfassungsgerichtsbarkeit in formellem und materiellem Sinn . . . . . . . . . 74 IV. Verfassungsstreitigkeiten als politische Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1. These der rein juristischen Natur der Verfassungsstreitigkeit . . . . . . . . . . . . . 77 2. These der politisch-juristischen Natur der Verfassungsstreitigkeit . . . . . . . . . 79 3. Politische Fragen und Verfassungsstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4. Häberle’sche Ansicht der Verfassungsstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 a) Begriff der Verfassungsstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 b) Political-question-Doktrin und self-restraint . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld des Staats und der Gesellschaft

86

I. Staat und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2. Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 a) These des Dualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 b) These der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 c) Die politische Gemeinwesenslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

Inhaltsverzeichnis

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3. Staat und Gesellschaft in Häberles Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 a) Die Kritik an der Identitäts-, Dualismus- und Unterscheidungstheorie . . . 92 b) Republikanische Bereichtrias als Häberle’sche Alternative der Antinomie Staat – Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 II. Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit im Rahmen des Pluralismus . . . . . . 97 1. Verfassungsgerichtsbarkeit und Zivilgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 a) Verfassungsgerichtsbarkeit als „gesellschaftliches Gericht“ . . . . . . . . . . . . 97 b) Verfassungsgerichtsbarkeit als „Beteiligte am Gesellschaftsvertrag“ . . . . . 99 c) Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassung als Generationsvertrag . . . . . . 101 2. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 a) Das Gemeinwohl nach der Theorie Häberles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 aa) Republikanische Idee des Gemeinwohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 bb) Gemeinwohl und staatliche Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 (1) Gemeinwohlfunktion der Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 (2) Gemeinwohlfunktion der Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 (3) Gemeinwohlfunktion der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Das BVerfG als Gemeinwohljudikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 aa) Gemeinwohljudikatur und ihr Häberle’scher Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . 105 bb) Deutung und Konkretisierung des Gemeinwohls . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 (1) Gemeinwohl als Interpretationsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 (2) Gemeinwohl als Auslegungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 c) Gemeinwohl und prätorisches Verhalten des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 III. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1. Gewaltenteilungsprinzip im Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2. Theorien des Verhältnisses Verfassungsgerichtsbarkeit – Gewaltenteilungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 a) Verfassungsgerichtsbarkeit als Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 b) Verfassungsgerichtsbarkeit als Auflösung des Gewaltenteilungsprinzips

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c) Gewaltenteilungsprinzip als Wurzel der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . 111 d) Gewaltenteilungsgrundsatz als Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . 112 3. Gewaltenteilung und Verfassungsgerichtsbarkeit in Häberles Denken . . . . . . 113 a) Begriff und Erscheinungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 b) Verfassungsgerichtsbarkeit: Teil und Garant der Gewaltenteilung . . . . . . . 114 IV. BVerfG, politischer Prozess, Verfassungspolitik und Kulturpolitik . . . . . . . . . . . 116 1. BVerfG als politische Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 a) Begriff politischer Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 b) Das BVerfG und der politische Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 c) Grenzen der Partizipation des BVerfG im politischen Handeln . . . . . . . . . 119

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Inhaltsverzeichnis 2. BVerfG und Verfassungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 a) Häberle’scher Begriff der Verfassungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 b) Verfassungsrecht und -lehre als Verfassungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 c) BVerfG als Verfassungspolitikjudikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 I. Fundamente der Häberle’schen Verfassungsauslegungslehre . . . . . . . . . . . . . . . 127 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Verfassung als law in public action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3. Die Lehre des Möglichkeitsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4. Zeitfaktor und Verfassungsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 5. Demokratisierung der Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 6. Kritischer Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 II. Grundfragen der Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 1. Materielle Verfassungstheorie als eigentliche verfassungsrechtliche Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Begriff der Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 a) Verfassungsauslegung im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Verfassungsinterpretation im weiteren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 c) Interpretation der Verfassung als öffentlicher Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3. Ziel der Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 a) Herkömmliches Ziel der Verfassungsauslegung: Verfassung oder Verfassungsgeber? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 b) Pluralistische Ziele der Verfassungsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4. Aufgabe der Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 a) Herkömmliche Aufgaben der Verfassungsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 b) Pluralistische Aufgaben der Verfassungsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 5. Methoden der Interpretation der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 a) Die begrenzte Rolle der herkömmlichen Interpretationsmethoden . . . . . . . 149 b) Pluralistische Auffassung der herkömmlichen Methoden – die Offenheit des Interpretationskanons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 aa) Offener Katalog der Interpretationsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 bb) Offenes Zusammenspiel klassischer Interpretationsmethoden . . . . . . . 155 cc) Vor- und Nachverständnis im Verfassungsinterpretationsvorgang . . . . 157 c) Häberle und das topische Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6. Prinzipien der Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 a) Unterschied zwischen Prinzipien und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 b) Offener Kanon der Prinzipien der Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . 162

Inhaltsverzeichnis

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c) Das Problem der Grenzen der Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . 163 7. Verfassungsauslegung und Verfassungsgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 III. Beteiligte am Verfassungsinterpretationsvorgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 1. Der geschlossene Kreis der Verfassungsinterpreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Häberle und die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten . . . . . . . . . . 170 a) Ausgangsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 b) Verfassungswirklichkeit und Verfassungsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 c) Relativierung und Personalisierung der Verfassungsinterpretation . . . . . . . 173 d) Stellung der Verfassungsinterpreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 aa) Das BVerfG – kein interpretatorisches Monopol, kein letztes Wort . . 175 bb) Die anderen staatlichen Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 cc) Verfahrensbeteiligte an den Entscheidungen staatlicher Funktionen und demokratisch-pluralistische Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 dd) Die Verfassungsrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 e) Legitimation der Interpreten der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 f) Folgen der Häberle’schen Theorie für die Verfassungsauslegung . . . . . . . 181 g) Europäische offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten . . . . . . . . . . . 183 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 G. Grundlagen des Verfassungsprozessrechts als Pluralismus- und Partizipationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 I. Stellung des Verfassungsprozessrechts in der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . 185 1. Juristische Natur des Verfassungsprozessrechts – Theorien . . . . . . . . . . . . . . 185 a) Verfassungsprozessrecht als Bestandteil der allgemeinen Prozessrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 b) These der Eigenart des Verfassungsprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 c) Häberles These des Verfassungsprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 aa) Verfassungsprozessrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht . . . . . . . 187 bb) Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht . . . . 189 II. Begriff des Verfassungsprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 2. Verfassungsprozessrecht im weiteren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 3. Verfassungsprozessrecht im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 III. Aufgaben des Verfassungsprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Traditionelle Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 3. Pluralistische Aufgaben des Verfassungsprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 a) Verfassungsrechtliche Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

14

Inhaltsverzeichnis b) Gesellschaftliche Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 c) Politische Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 IV. Grundsätze des Verfassungsprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2. Konstitutionelle Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 a) Grundsatz der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 b) Grundsatz des Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 c) Grundsatz des Minderheitsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 d) Grundsatz der „partizipativen“ Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 3. Prozessuale Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 a) Das Prinzip des Verbots der ex-officio-Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 b) Das Prinzip des non-liquet-Verbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 c) Der Grundsatz der Unabhängigkeit der Verfassungsgerichte . . . . . . . . . . . 203 d) Das Prinzip der Verfahrensgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 e) Das Prinzip der Verfahrensautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 V. Interpretation des Verfassungsprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 1. Das Verfassungsprozessrecht: bloßes „technisches“ Recht? . . . . . . . . . . . . . . 208 2. Häberle und die Interpretation des Verfassungsprozessrechts . . . . . . . . . . . . . 209 VI. Offener Beteiligtenkreis im Verfassungsprozessrecht – „Beteiligte“ statt „Parteien“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1. Verfassungsgerichtlicher Prozess ohne prozessuale Parteien . . . . . . . . . . . . . 211 2. „Beteiligte“ als angemessene Kategorie des Verfassungsprozessrechts . . . . . 213 VII. Rechtsquellen des Verfassungsprozessrechts – Pluralität und Offenheit . . . . . . . 214 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2. Etatistische Theorie der Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 3. Pluralismus und Öffnung der Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 VIII. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

H. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

Abkürzungsverzeichnis Abs. AEUV AK-GG Anm. AöR APuZ ARSP Art. Aufl. BayVBl Bd. BGB BVerfG BVerfGE BVerfGG bzw. d. h. ders. DÖV DRiG DRiZ DVBl EG EGMR EMRK erw. EuGH EuGRZ EUV

f./ff. FamFG FamRZ FG FGG FGO Frankfurt a. M. Freiburg i. Br.

Absatz Vertrag über der Arbeitsweise der Europäischen Union Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Aus Politik und Zeitgeschichte Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Auflage Bayerische Verwaltungsblätter Band Bürgerliches Gesetzbuch Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht beziehungsweise das heißt derselbe Autor Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Richtergesetz Deutsche Richterzeitung Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Gemeinschaft Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention erweitert Gerichtshof der Europäischen Union Europäische Grundrechte-Zeitschrift Vertrag über die Europäische Union Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) folgende Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Festgabe Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Finanzgerichtsordnung Frankfurt am Main Freiburg im Breisgau

16 FS GeschOBR GeschOBReg. GeschOBT GG GOBVerfG GS GVG HGR Hrsg. HStR JA JöR JURA JuS JZ KJ Königstein/Ts. LER LKV Münch-Komm-ZPO Neuaufl. NGO NJW Nr. NVwZ PVS RabelsZ RAO RdJB Rn. RPDC RV S. s. SGG subj. u. a. u. a. m. usw. Verw. VerwArch Vgl. VVDStRL VwGO z. B. z. T. ZaöRV

Abkürzungsverzeichnis Festschrift Geschäftsordnung des Bundesrates Geschäftsordnung der Bundesregierung Geschäftsordnung des Bundestages Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts Gedächtnisschrift Gerichtsverfassungsgesetz Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europe Herausgeber Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung Kritische Justiz Königstein im Taunus Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde Landes- und Kommunalverwaltung Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung Neuauflage Non-Governmental Organisations (Nichtregierungsorganisationen) Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Politische Vierteljahresschrift Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Deutsche Reichsabgabenordnung Recht der Jugend und des Bildungswesens Randnummer/n Revista Peruana de Derecho Constitucional Weimarer Reichsverfassung Seite siehe Sozialgerichtsgesetz subjektiv und andere und anderes mehr und so weiter Die Verwaltung Verwaltungsarchiv Vergleiche Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung zum Beispiel zum Teil Zeitschrift für ausländisches öffentliches Rechts und Völkerrecht

Abkürzungsverzeichnis ZfP ZHR Ziff. ZPO ZPol ZRP ZZP

Zeitschrift für Politik Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrechts Ziffer Zivilprozessordnung Zeitschrift für Politikwissenschaft Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Zivilprozess

17

A. Einleitung

Die Provokation passt zu Peter Häberle: In vielen Schriften hat er provoziert – immer konstruktiv, stets suaviter, behutsam, freundlich –, aber gleichwohl herausfordernd, auffordernd zur Neu-Orientierung des Denkens, zum Herausspringen aus tiefeingefahrenen Denk-Geleisen staatsrechtlicher und allgemeinrechtlicher Dogmatik.1

I. Peter Häberle – ein lebender Klassiker der deutschen Verfassungs- und Staatsrechtslehre Der Versuch, die wissenschaftliche Individualität eines Juristen zu erfassen, stellt eine heikle Aufgabe dar,2 umso mehr, wenn es um eine rara avis wie Häberle geht. Der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist sein Denken stets eine konstruktive und behutsame Provokation. Für diejenigen, die Häberles Ideen und Werke studieren wollen, werden sie eine authentische Herausforderung, nicht nur weil seine Theorien oft zur Neuorientierung des Denkens führen, sondern auch weil seine problembewusste Wirklichkeitsanalyse und sein komplexes Denken zwangsläufig eine multidisziplinäre Herangehensweise verlangen. Elemente, die aus den Politik-, Wirtschaftswissenschaften,3 der Soziologie,4 der Philosophie,5 Ethik,6 Anthropologie,7 Religion,8 Geschichte9 und selbst der Kunst,10 Musik,11 Dichtkunst12 und der schönen 1 Saladin, in: Fleiner-Gerster, (Hrsg.), Die multikulturelle und multi-ethnische Gesellschaft, S. 7. 2 Korioth, S. 309. 3 Vgl. Häberle (1992), S. 553 ff.; ders. (1996), S. 581 ff.; ders. (2008), S. 66 ff. 4 Vgl. Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, S. 1, 27 ff.; ders. (1998), S. 473 ff. 5 Vgl. Häberle (1998), S. 17 ff., 303 ff., 322 ff.; ders. (1992), S. 715 ff. 6 Vgl. Häberle, Rechtstheorie 1990, S. 269 ff.; ders. (1996), S. 563 ff.; ders. (1981), S. 25, 30, 32 f., 87, 104. 7 Vgl. Häberle (2006), S. 47 ff. 8 Vgl. Häberle (2016), S. 85; ders. (2008), S. 19 f., 63 ff.; ders., FS Zeidler, S. 3 ff.; ders. (1992), S. 213 ff. 9 Vgl. Häberle (1992), S. 685 ff. 10 Vgl. Häberle (2008), S. 173 ff.

20

A. Einleitung

Literatur13 stammen, bereichern seine Verfassungstheorie. Oft begehen daher seine Kritiker einen Fehler, da sie dieser Interdisziplinarität seiner Überlegungen nicht Rechnung tragen. Auch die Rezensenten beurteilen Häberles Theorien häufig nur in Teilaspekten. Diese Vielfältigkeit spiegelt bereits zum einen den offenen wissenschaftlichen Geist von Häberle wider, zum anderen die „kulturelle Offenheit seines Denkens“14. Er hat nach wie vor alle Formen von Dogmatismus und Fundamentalismus abgelehnt.15 Er ist ein „undogmatischer ,Groß-Integrator‘“16, deshalb kennt er keine absoluten Wahrheiten. Ihm sind diese immer vorläufig und bleiben für neue und abweichende Perspektiven offen – kritischer Rationalismus. Man kann demnach ohne Übertreibung behaupten: Die Person von Häberle inkarniert den praktizierten Pluralismus und seine Werke zielen auf eine universelle Verfassungstheorie.17 Bereits 1994 hatte Hesse18 diese universelle Projizierung von Häberles Verfassungslehre vorhergesehen.19 Die Zeit hat ihm Recht gegeben. Da diese Verfassungslehre von Würde, Freiheit und Gleichheit der Menschen ausgeht, kann man es auch als Denken eines konstitutionellen Humanismus bezeichnen. Leben und Werke von Häberle werden so eine kohärente und fundierte Einheit.20 Ein Charakteristikum Häberles ist, dass er den Hintergrund des Problems genau sieht und daraus ganz neue Lösungsperspektiven eröffnet. Deshalb darf es nicht verwundern, dass er in unterschiedlichen Bereichen des Verfassungsrechts immer wieder originelle21 und faszinierende Theorien darlegt, nämlich: „Verfassung als öffentlicher Prozess“ (1969), „Verfassung des Pluralismus“ (1980), „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ (1982), „Öffentliches Interesse als juristisches Problem“ (1968), „Textstufentheorie“ (1989), „die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975), „Rechtsvergleichung als fünfte Auslegungsmethode“ (1989), „Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess“ (1977), „Verfassungsinterpretation als Verfassunggebung“ (1977), „Kultur als viertes Element vom Staat“ (1992/93), „der kooperative Verfassungsstaat“ (1978), „institutionelle Theorie der Grundrechte“ (1962), „Grundrechte als status activus processualis“ (1977), 11 12 13 14 15 16 17 18

217. 19

Vgl. Häberle, JöR 60/2012, S. 205 ff.; ders. (2007), S. 65 ff. Vgl. Häberle (2008), S. 159 ff. Vgl. Häberle (1983), S. 9 ff.; ders. (1998), S. 500 ff.; ders. (1995), S. 45 ff. Kotzur, AöR 2014, S. 287, 289. Häberle (1996), S. 581 ff. van Ooyen, in: Recht und Politik 2/2014, S. 99, 100. Häberle (2013). In: Fleiner-Gerster (Hrsg.), Die multikulturelle und multi-ethnische Gesellschaft, S. 215,

Dazu León Vásquez (2016), S. 329, 344; ders., RPDC, 7/2014, S. 157, 160. Michael, JZ 2014, S. 507. 21 Selbst seine bissigen Kritiker preisen Häberles Originalität, s. etwa Henke, Der Staat 20/ 1981, S. 580. 20

II. Ziel und Gang der Untersuchung

21

„Staatskirchenrecht als Religionsverfassungsrecht“ (1976), „Verfassungsgerichtsbarkeit als Gemeinwohljudikatur“ (1970), „BVerfG als gesellschaftliches Gericht“ (1978), „Eigenständigkeit des Verfassungsprozessrechts“ (1973), „Verfassungsprozessrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“ (1976) usw.

II. Ziel und Gang der Untersuchung Diese Arbeit kann sich nicht mit dem ganzen Werk von Häberle beschäftigen. Gegenstand dieser Arbeit ist ausschließlich die von ihm vorgeschlagene und entwickelte pluralistische These der Verfassungsgerichtsbarkeit und des Verfassungsprozessrechts. Im Grunde will diese Verfassungstheorie sagen: 1. Das BVerfG sei im demokratischen Verfassungsstaat weniger ein „staatliches Gericht“ als ein „gesellschaftliches Verfassungsgericht“22, d. h., die Verfassungsgerichtsbarkeit wirke nicht nur auf den staatlichen, sondern auch und zunehmend auf den gesellschaftlichen Prozess, den sie kontrolliere, aber auch anrege und sogar fordere.23 2. Das Verfassungsprozessrecht sei kein bloßes „technisches Recht“24, sondern „Pluralismus- und Partizipationsrecht“25. Das formalistische Verfassungsprozessrecht, das seine Grundlagen in sonstigen Prozessordnungen unkritisch zu finden versucht, sei nicht in der Lage, die Öffentlichkeit der Verfassung optimal zu realisieren; dies sei hingegen nur erreichbar aus einer pluralistischen Verfassungstheorie des Verfassungsprozessrechts.26 Inwiefern solche Ansätze verifiziert und ihnen gefolgt werden kann, soll hier näher untersucht werden. Häberles Denken lässt sich genau erfassen, wenn man die Wurzeln seiner Theorien kennt (dazu unter B.). Da der Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit und des Verfassungsprozessrechts zum großen Teil von der Idee der Verfassung abhängt, ist es unvermeidlich, Häberles Verfassungsbegriff zu erläutern und die Kritiken daran zu bewerten (dazu in Teil C.). Behauptet man, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit „zwischen“ Recht und Politik steht, so wird angenommen, dass diese sich ausschließende Kategorien bilden. Häberle lehnt diese Dichotomisierung ab. Recht und Politik seien Teilelemente der ganzen res publica. Damit erlebe die Verfassungsgerichtsbarkeit einen Strukturwandel nicht nur hinsichtlich des Rechts und der Politik (dazu unter Teil D.), sondern auch vom Verhältnis von Staat und Gesellschaft her. Die Verfassungsgerichtsbarkeit erscheine auf diese Weise weit mehr als Kontrollfunktion staatlicher Gewalt, sie übernehme neue Funktionen und Mitverantwortungen (dazu in Teil E.). Dies alles eröffnet natürlich den Weg zu einer ent22 Häberle (2014), S. 190 ff. Es gibt auch eine japanische Auflage: Tagen shugi ni okern Kenpo- saiban: pì he¯berure no Kenpo- saibanron, 2014. 23 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. XI ff. 24 Häberle (1998), S. 652. 25 Häberle (2014), S. 195. 26 Häberle (1998), S. 650.

22

A. Einleitung

sprechenden Interpretationslehre. Hier postuliert Häberle einerseits die These der materiellen Verfassungstheorie als eigentliche verfassungsrechtliche Hermeneutik, andererseits eine republikanische Theorie der Interpretation des Grundgesetzes (dazu unter Teil F.). Schließlich ist es unbestritten, dass Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht im unmittelbaren Zusammenhang stehen, dessen Grundlagen analysiert werden sollen (dazu in Teil G.). Die am Ende der Arbeit stehenden Schlussbemerkungen fassen systematisch die eigenen Ansätze hinsichtlich der hier analysierten Theorien von Häberle zusammen.

B. Die Wurzeln von Häberles Verfassungstheorie I. Das Frühwerk Häberles 1. Institutionelles Verständnis der Grundrechte Die hervorragenden und ausgedehnten Werke von Häberle1 beginnen mit seiner Doktorarbeit mit dem Titel „Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz: Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre des Gesetzesvorbehalts“. Die von Hesse geleitete Dissertation befasst sich sowohl mit der Analyse und Auslegung des Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes,2 das als offenbare Reaktion gegen den Weimarer Leerlauf und totalitäre Grundrechtsfeindlichkeit formuliert wurde3, 4 als auch mit der Entwicklung einer institutionellen Theorie der Grundrechte.5 Tatsächlich hatte Häberle nicht nur eine allgemeine Grundrechtslehre entwickelt, sondern auch eine positivrechtliche Grundrechtsdogmatik.6 Für ihn habe die Wesensgehaltsgarantie lediglich deklaratorische Bedeutung und bilde gleichzeitig eine institutionelle Garantie.7 Von seiner institutionellen Theorie der Grundrechte her vertritt er den doppelten Charakter der Grundrechte. Diese weisen einerseits eine individualrechtliche Seite – subjektive Dimension – auf,8 andererseits eine institutionelle Bedeutung – objektive 1 Freiburg 1962. Andere Autoren, die sich mit Häberles ausgewähltem Thema später beschäftigt haben: Drews (2005); Jäckel (1967). 2 Zum damaligen Zeitpunkt beherrschten relative und absolute Wesensgehaltstheorien der Grundrechte die Diskussion. Man hielt beide Thesen für gegensätzlich, aber für Häberle war der Widerspruch nur scheinbar. Deshalb versuchte er, beide Theorien miteinander durch den Grundsatz der Güterabwägung zu verbinden, vgl. Häberle (2016), S. 73 f.; ders. (1962), S. 39 ff., 54, 68 ff.; s. auch Lecheler, FamRZ 1985, S. 32. 3 Über die Grundrechte in der Weimarer Republik s. Hufen, S. 27 Rn. 17; Pieroth/Schlink/ Kingreen/Poscher, Rn. 36 ff.; Michael/Morlok, Rn. 19; Groh, S. 409 ff.; Stern, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 184, Rn. 1 ff.; Starck (1995), S. 154 ff. 4 Leisner-Egensperger, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR III, § 70, Rn. 1 ff.; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, Art. 19 Rn. 5 ff. 5 So Schwabe, S. 133 ff.; Grimmer, S. 141 ff.; Grzeszick, S. 236 ff. 6 Bethge, DVBl 1986, S. 957. 7 Häberle (1962), S. 234 ff. Selbst sein Doktorvater, Konrad Hesse (1995, Neudruck 1999) Rn. 332, nahm später die Interpretation dieses Verfassungsgebots an: „Der ,Wesensgehalt‘ eines Grundrechts beginnt also dort, wo die – differenzierenden – Möglichkeiten zulässiger Begrenzung enden. Da eine unzulässige Grundrechtsbegrenzung bereits als solche verfassungswidrig ist, hat Art. 19 Abs. 2 GG nur deklaratorische Bedeutung –“. Anders Jäckel, S. 140 ff. 8 Häberle (1962), S. 70 ff.

24

B. Die Wurzeln von Häberles Verfassungstheorie

Dimension –.9 Denn die Grundrechte würden nicht allein das Verhältnis des Bürgers zum Staat, sondern auch das Leben des Bürgers in den objektiven Ordnungen der Verfassung bestimmen.10 Diese Doppeldimension bildet bislang das Wesen aller Grundrechte.11 Häberle geht hier noch eine Stufe weiter und betont dezidiert auch die institutionelle Schutzwirkung aller Grundrechte.12 Er weist darüber hinaus Schmitts Ansicht hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Freiheit und Institut zurück: Während die Freiheit für Schmitt13 kein Institut sein kann, werde sie unter dem institutionellen Gedanken der Grundrechte korrelativ.14 Die Grundrechtstheorie Häberles geht von der Lehre von Smend,15 Heller,16 Hesse,17 Hauriou18 und E. Kaufmann19 aus. Seine bisher dreimal aufgelegte20 und in verschiedenen Fremdsprachen übersetzte Doktorarbeit,21 die in der Gegenwart einen verdienten Platz in der verfassungsrechtlichen Doktrin hat,22 bildet eine der ersten Grundlagen seiner Entwicklung einer pluralistischen Verfassungstheorie. Juristische Begriffe wie Gemeinwohl,23 öffentliches Interesse,24 Öffentlichkeit,25 Pluralismus,26 Kultur27 usw. erschienen schon hier als handgreifliche Basis einer neuen und systematischen Verfassungstheorie. 9

Kritisch Lechner, NJW 1974, S. 90, 112. Häberle (1962), S. 112. 11 Dazu s. Hufen, S. 51 Rn. 2 f.; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Rn. 88 ff. 12 Lecheler, FamRZ 1985, S. 32. 13 (1985), S. 167: „Die Freiheit ist kein Rechtsinstitut, keine Einrichtung und keine Anstalt: sie kann noch weniger eine organisierte und formierte Institution des öffentlichen Rechtes sein“. 14 Häberle (1962), S. 92 ff. 15 Häberle (1962), S. 6 f., 12 ff. 16 Häberle (1962), S. 10 f. 17 Häberle (1962), S. 12 ff. 18 Häberle (1962), S. 15 f., 73 ff., 104 ff. 19 Häberle (1962), S. 76 ff. 20 (1972), (1983). 21 Häberle, Le libertà fondamentali nello Stato costituzionale, Roma, 1993, ders., La libertad fundamental en el Estado constitucional, Lima, 1997, neue spanische Übersetzung: ders., La garantía del contenido esencial de los derechos fundamentales en la Ley Fundamental de Bonn. Una contribución a la concepción institucional de los derechos fundamentales y a la teoría de la reserva de la ley, Madrid, 2003. 22 Lerche, DÖV 1965, S. 212 ff.: „Diese Arbeit ist – für eine Dissertation ungewöhnlich – alsbald zu Rang und Ansehen gelangt. Trotz ihres hohen Abstraktionsgrades beginnt sie bereits die Praxis zu beeinflussen, und man kann sagen, daß sie eines sicheren Platzes in der staatsrechtlichen Doktrin gewiß sein darf“; Schwabe, S. 133: „seine Gedanken haben eine ungewöhnlich breite Resonanz gefunden“. 23 Häberle (1962), S. 34, 36, 68, 143, 144, 232. 24 Häberle (1962), S. 21 ff. 25 Häberle (1962), S. 21 ff. 26 Häberle (1962), S. 112 Anm. 271. 10

I. Das Frühwerk Häberles

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2. Öffentliches Interesse als juristisches Problem Der Dissertation des Jahres 1962 folgte als nächste größere Arbeit seine Freiburger Habilitationsschrift28 „Öffentliches Interesse als juristisches Problem: Eine Analyse von Gesetzgebung und Rechtsprechung“29. Mit vollem Recht meint Leisner,30 dass dieses Werk ein „Klassiker der deutschen Literatur des Öffentlichen Rechts“ sei. Laut Häberle sei öffentliches Interesse bzw. Gemeinwohl31 fester und unverzichtbarer Bestandteil der Rechtsordnung.32 Er kritisiert die monarchische Konzeption des öffentlichen Interesses als extra-konstitutionelle geschlossene Größe.33 Im Gegensatz denkt er daran, dass das öffentliche Interesse, das in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung vorliegt, kein diffuser Wertungsbegriff ist, in welchem sich politische Wünsche verstecken,34 sondern ein wesentliches Element einer pluralistischen Demokratie. Öffentliches Interesse wird als juristisches Problem verstanden, nicht als Dichotomie von Politik und Recht.35 Es könnte ferner interpretiert werden und entfalte normierende Kraft.36 Deshalb spricht Häberle bereits von Verfassungsinterpretation als Gemeinwohl- und Öffentlichkeitskonkretisierung, weil in jeder Konkretisierung öffentlichen Interesses ein Stück Öffentlichkeit der Verfassung aktualisiert wird.37 Auf diesem Weg wird die Verfassung als öffentlicher Prozess, als normative Gemeinwohlordnung begriffen.38

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Häberle (1962), S. 14. Um Häberles Habilitationsschrift genau zu verstehen, ist das Lesen des folgenden Werkes unumgänglich: Smend, in: GS Jellinek, S. 11 ff.; Hesse, VVDStRL 17/1959, S. 41 ff. 29 Freiburg, 1968. Diese Habilitationsschrift wurde veröffentlicht, Bad Homburg, 1970. Es ist außergewöhnlich, dass eine Habilitationsschrift nach 35 Jahren eine Neuauflage erlebt (2006), vgl. Uerpmann-Wittzack, Verw. 2006, S. 290. 30 JZ 2006, S. 1119. 31 „Es kann hier nicht mehr einfach mit dem etatistischen Interesse, das in der konstitutionellen Monarchie der monarchische Apparat durch seine Gemeinwohlkompetenz bestimmte, identisch sein“, so meint Scheuner, DÖV 1972, S. 142. 32 Häberle (1970), S. 721. 33 Häberle (1970), S. 17 ff., 716 ff. Eines der wichtigsten Anliegen Häberles ist die verfassungsrechtliche „Domestikation“ des öffentlichen Interesses (salus publica ex constitutione) und damit die Beendigung der für die Monarchie charakteristischen Frontstellung zwischen dem Gemeinwohl einerseits und Recht und Gesetz andererseits. Das öffentliche Interesse dürfe nicht mehr als ein normfreier oder antinormativer Begriff gedacht werden, vielmehr sei das Recht selbst gemeinwohlbedingt, wie denn z. B. das öffentliche Interesse als grundrechtsbegrenzender Titel selbst verfassungsrechtlicher Legitimation bedürfe; vgl. Klein, Verw. 1972, S. 361, 362; Bull, S. 20 ff. 34 Leisner, JZ 2006, S. 1119, 1120. 35 Stolleis, ARSP 1974, S. 300, 302. 36 Häberle (1970), S. 27, 714, 722, 718; Leisner, JZ 2006, S. 1119, 1120. 37 Häberle (1970), S. 708. 38 Häberle (1970), S. 70, 245, 347, 710: „Außerhalb der Verfassung gibt es weder Öffentlichkeit noch öff. Interesse“; anders Martens, JZ 1971, S. 565, 566. 28

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B. Die Wurzeln von Häberles Verfassungstheorie

Auch der Gesetzgeber regele nicht im luftleeren Raum, er sei bei seiner tatbestandlichen Ausformung des öffentlichen Interesses an einschlägige Leitbildvorstellungen39 seiner Zeit gebunden und ihnen mehr oder weniger stark bewusst verpflichtet; die Anwendung des Öffentlichkeitsprinzips sei für das Plenum des Gesetzgebungsorgans unumstritten, denn die Gesetzgebung erscheine als öffentliche Funktion.40 Ein wichtiger Beitrag von Häberle ist es auch, öffentliches Interesse sowohl als Interpretationsgegenstand als auch als Interpretationshilfe zu berücksichtigen.41 Die Konkretisierung öffentlicher Interessen ist heute mehr denn je eine legitime Aufgabe der Rechtsprechung geworden, die erst unter dem Grundgesetz ihre volle Wirksamkeit entfaltet.42 Über öffentliche Interessen gewinnt der Richter ein Stück argumentatorischer Freiheit, „die ihm Absolutismus und Positivismus verwehren“43. Als Gemeinwohljudikatur44 bewähre sich die Rechtsprechung dort, wo sie in freier Rechtsschöpfung bestimmte Rechtsfiguren zu dem Ziel einwickelt oder einsetzt, um Gemeinwohlgesichtspunkten im Auslegungsvorgang gerecht zu werden.45 Darüber hinaus „[macht] Rechtsprechung […] sich zu Gemeinwohljudikatur und bleibt dank der integrierenden Wirkung öff. Interessen von den anderen öff. Staatsfunktionen weit weniger getrennt als gemeinhin angenommen“46. Die Verfahren spielen hier eine große Rolle. Zum einen erlauben Prozesse die Konkretisierung des öffentlichen Interesses. Zum anderen dienen sie jeder Form staatlicher Entscheidungsfindung.47 So ist Häberle zu einer sorgfältigen und tiefen Studie des öffentlichen Interesses bzw. Gemeinwohls gelangt.48 Es ist auch möglich, eine allgemeine Theorie der Gesetzauslegung in Bezug auf das öffentliche Interesse sowie eine Theorie der Ermessenslehre in ihr zu erkennen.49

3. Verfassungsrechtsprechung als Gemeinwohljudikatur Die in zwei Teilen veröffentlichte Abhandlung „,Gemeinwohljudikatur‘ und Bundesverfassungsgericht. Öffentliche Interessen, Wohl der Allgemeinheit in der 39

Dazu s. Volkmann, in: Krüper/Merten/Morlok (Hrsg.), An den Grenzen der Rechtsdogmatik, S. 77 ff. 40 Häberle (1970), S. 103. 41 Häberle (1970), S. 38, 722. 42 Becker, NJW 1971, S. 926, 927. 43 Häberle (1970), S. 723, 728. 44 Mayer, DVBl 1975, S. 961. 45 Häberle (1970), S. 425. 46 Häberle (1970), 1970, S. 722. 47 Uerpmann-Wittzack, S. 20. 48 Stolleis, VerwArch. 1974, S. 1, 11. 49 Uerpmann-Wittzack, Verw. 2006, S. 290.

I. Das Frühwerk Häberles

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Rechtsprechung des BVerfG“50 ist auch Hauptbestandteil der pluralistischen Verfassungstheorie von Häberle.51 Im Rahmen ihrer spezifischen Funktionen würden sich Verfassungsrichter mit der Auslegung und Konkretisierung des privaten und öffentlichen Interesses beschäftigen.52 Als Gemeinwohljudikatur müsse das BVerfG das im Grundgesetz enthaltene öffentliche Interesse konkretisieren, denn „Verfassungsinterpretation wird zu einem Stück Gemeinwohlkonkretisierung und Öffentlichkeitsaktualisierung“53. Wie Häberle in seiner Habilitationsschrift bereits behauptet hatte, wird die Konkretisierung des Gemeinwohls stets im Rahmen der Verfassung – niemals extra-konstitutionell – bestimmt. Die Abwägung der widerstreitenden Interessen fordert Pluralismus, weil eine Vielzahl möglicherweise relevanter Interessen ins Blickfeld kommt, sodass die Verfassungsrichter von einem öffentlichen Interesse ausgehen müssen.54 Dies verlangt eine prätorische Leistung des BVerfG: „Verfassungsrechtsprechung wirkt hier rechtschöpferisch ,wie‘ Gemeinwohlgesetzgebung bzw. sie steht in Parallele zu den Gemeinwohlleitbildern und Techniken des Gesetzgebers“55. Häberle56 hebt zudem das besondere Verhältnis von Grundrechten und öffentlichem Interesse hervor. Auf der einen Seite könnten Grundrechte als öffentliche Interessen wirksam werden – Grundrechte als öffentliches Interesse –, auf der anderen werden Grundrechte durch öffentliche Interessen begrenzt – öffentliches Interesse als Grenze der Grundrechte –.57 Relevante Punkte sind auch die Beziehungen zwischen Rechtsprechung und normierender Kraft der Öffentlichkeit. Daraus ergibt sich die Verfassungsrechtsprechung als Gemeinwohlfunktion, die Interpretation der Verfassung als Konkretisierung des Gemeinwohls und als Aktualisierung der Öffentlichkeit.58 Ferner verwendet das BVerfG das öffentliche Interesse als „offenen Topos“59, damit ein bestimmtes Ergebnis im Rahmen der herkömmlichen Interpretationsmethode begründet werden kann.60 Unter diesen Voraussetzungen kennzeichnete Häberle61 das BVerfG als echtes öffentliches Gericht. 50

Häberle, AöR 1970. S. 86 – 125; 260 – 298; ders. (1979), S. 235 ff. „Wie immer man ,Verfassung‘ in ihrer Eigenart deutet: als normative Grundordnung der res publica, als Recht der Öffentlichkeit und öffentlichen Prozeß, als immer neuen Kampf um die Öffentlichkeit der staatlichen Zustände, als öffentliche normative Gemeinwohlordnung, als Ordnung, die vor allem einmal die öffentliche Prozeduren und Verfahrenstechniken normiert, die in einer pluralistischen Demokratie einen offenen Interessenausgleich ermöglichen und zu einem Gemeinwohlkonsens a posteriori, nicht a priori führen“, vgl. Häberle (1979), S. 236. 52 Häberle, AöR 1970, S. 87 f.; ders. (1979), S. 236. 53 Häberle (1979), S. 236. 54 Häberle, AöR 1970, S. 91 f. 55 Häberle, AöR 1970, S. 103 f., 263. 56 Häberle, AöR 1970, S. 112. 57 Häberle (1979), S. 236. 58 Häberle, AöR 1970, S. 260, 291 f., 297. 59 Häberle (1979), S. 260 ff. 60 Häberle, AöR 1970, S. 260, 272 ff. 51

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B. Die Wurzeln von Häberles Verfassungstheorie

4. Verfassung des Pluralismus – Verfassung als öffentlicher Prozess Häberle hat anhand der genannten Werke die Entwicklung seiner Verfassungstheorie des Pluralismus62 weitergeführt. Seine Arbeit „Die Verfassung des Pluralismus. Studien zur Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft“63 will Verfassungstheorie einer offenen Zivilgesellschaft sein.64 Theoretisches Fundament dieser These ist das sogenannte Möglichkeitsdenken,65 das nicht aus der Rechtswissenschaft, sondern aus der Literatur – Musil66 – und Philosophie – Bloch67 – stammt. Diese Theorie lehnt die Denkform „entweder…oder“ ab68. Möglichkeitsdenken bedeutet im Gegenteil fragendes und offenes Denken („sowohl…als auch“), es bleibt mithin für neue Wirklichkeiten und Ideen geöffnet.69 Vor allem wird Möglichkeitsdenken relevant, wenn es um eine politische, offene und pluralistische Verfassungsordnung geht.70 Deshalb konzipiert Häberle71 die Verfassung des Pluralismus als „Werk aller“, als „Verfassung für alle und von allen“72. Nicht ohne Grund nimmt „die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“73 eine überragende Stellung in der Häberle’schen Verfassungstheorie ein.74 Damit schlägt er einen pluralistisch-demokratischen Begriff der Verfassung vor und gleichzeitig eine authentische Demokratisierung der Verfassungsinterpretation. Das ist richtig, denn die 61

Häberle, AöR 1970, S. 86, 91 f. Nach Quaritsch, Der Staat 19/1980, S. 29 ff. sei das Wort „Pluralismus“ zum ersten Mal von Laski gebraucht worden und Schmitt hätte es in die deutsche Diskussion eingeführt. Freilich behauptet Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 33, 37, dass seine Einführung in die Deutsche Diskussion vor allem Fraenkel zu verdanken sei. Zum Pluralismus im Allgemeinen s. Matter (2012); Fraenkel, S. 256 ff.; Huba, Der Staat 33/1994, S. 581 ff.; Hirst, S. 183 ff.; Birke (1978); H. Preuß, S. 117 ff.; Laski, The Philosophical Review, 1919, S. 562 ff.; Scharpf, S. 17 f., 29 ff.; Zacher, Der Staat 9/1970, S. 161 ff. 63 (1980). 64 Häberle (1992), S. 219, 225, 331, 377. 65 Häberle (1980), S. 3 ff. 66 Der Mann ohne Eigenschaften, 1952. 67 Das Prinzip Hoffnung, 1959. 68 Häberle (1980), S. 3. 69 Kritisch Henkel, Der Staat 20/1981, S. 580, 581 ff. 70 Häberle (1980), S. 3. 71 Häberle (1980), S. VI. 72 Häberle (2009), S. 123; ders., in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 35, 37. 73 Häberle, JZ 1975, S. 297 ff.; kritisch Achterberg, DVBl 1985, S. 413 f.; positiv Thiele, DVBl 1999, S. 723, 724. 74 „Eine erste Annäherung an den Begriff ,Pluralismus‘ wurde in der Umschreibung ,Vielfalt von Ideen und Interessen‘ unternommen, wiederholt sei die These vom Kritischen Rationalismus als ,Philosophie des Pluralismus‘ und von der kulturellen Grundierung der offenen Gesellschaft z. B. durch bestimmte Grundwerte“, vgl. Häberle, Verw. 1993, S. 421, 436 f. 62

I. Das Frühwerk Häberles

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Geltung der Verfassung liegt nicht letzten Endes in ihrer Normativität, sondern in ihrer Öffentlichkeit. Die andere Seite der Verfassung des Pluralismus ist eben deshalb die „Verfassung als öffentlicher Prozeß“ (1978).75 Häberles These beruht hauptsächlich auf den Vorkenntnissen von Smend,76 Hesse77 und Habermas78 über die Öffentlichkeit. Unter Verfassung als öffentlichen Prozess erfasst er einerseits ein Programm, unter methodisch durchgehaltener, vergleichender Verfassungsinterpretation die wesentlichen Elemente einer pluralistischen Verfassungslehre der freiheitlichen Republik und ihrer europa-integrierten Einbindung zu qualifizieren.79 Andererseits besagt dies, dass Inhalt und Verfahren der Verfassung optimal zum Gegenstand von Publizität werden müssen. Es gibt keine Verfassung ohne Publizität und außerhalb der Verfassung existiert keine Öffentlichkeit.80 Die Öffentlichkeit lässt sich pluralistisch verstehen. Sie öffnet sich dem Möglichkeitsdenken, eröffnet Alternativen, die der Vielfalt der an der Interpretation teilnehmenden Kräfte Rechnung tragen.81 Strukturelle Offenheit und Öffentlichkeit der Verfassung implizieren zwangsläufig Pluralismus.

5. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft – Verfassung als Kultur Das als Programm bezeichnete Werk „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ (1982)82 schlägt eine Brücke zu vergleichbaren, nach 1933 und 1945 verschütteten oder vernachlässigten Orientierungen bei Smend, Holstein, Heller und Hensel.83 Häberles Skizze will die kulturellen Wurzeln des Rechts erarbeiten und für Verfassungsrecht und Verfassungstheorie nutzbar machen.84 Verfassungslehre als Kulturwissenschaft will die bis heute entwickelten juristischen Verfassungsrechtskonzeptionen nicht ersetzen. Diese Theorie sucht nur, sie zu ergänzen und die Normativität und Normalität der Verfassung zu verstärken.85 Sie distanziert sich von 75 (1998). Ziekow, DÖV 2000, S. 970, fragt sich: „Wie rezensiert man Denkmäler?“ Er meint, dass einige Beiträge des Buches von Häberle („Verfassung als öffentlicher Prozeß“) durchaus als moderne Klassikertexte der Staatsrechtslehre und des Staatsrechts gelten dürfen. 76 Smend, in: GS W. Jellinek, S. 11 ff. 77 Hesse, VVDStRL 17/1959, S. 11, 41 ff. 78 Habermas (1990), S. 54 ff. 79 Ipsen, DÖV 1997, S. 260, 261. 80 Häberle (1998), S. 343; s. auch Smend, in: GS W. Jellinek, S. 11 ff.; Hesse, VVDStRL 17/1959, S. 11, 41 ff. 81 Scheuner, DÖV 1979, S. 916. 82 2. stark erw. Aufl. 1998. 83 Häberle (1998), S. 1. 84 Ipsen, DÖV 1983, S. 826. 85 „Das meint auch: Die Verfassungstexte sind ,Literatur‘, in ihnen ,staut‘ sich Wissenschaft, Verfassungsrechtsjudikatur und Verfassungswirklichkeit. Sie müssen – vergleichend –

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B. Die Wurzeln von Häberles Verfassungstheorie

allen Formen des Positivismus, des Dezisionismus und des Normativismus.86 Kultur ist eine Dimension der offenen Gesellschaft, die allmählich ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit tritt.87 Die Teilnehmer dieses Verfassungs-Kulturlebens („die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“) bringen ihre Vorstellungen als Gesichtspunkte der Verfassungsauslegung ein; Häberle nennt dies „kulturelle Kristallisationen“88. Häberle skizziert seine Theorie über Verfassung als Kultur in doppeltem Sinne: Kultur in der Verfassung und Verfassung als Kultur bzw. als kulturellen Prozess.89 Unter dem ersten Gesichtspunkt wird Verfassungslehre „als die Summe jener Verfassungsnormen, die die kulturellen Angelegenheiten im engeren Sinne (bundesoder landes-)verfassungsrechtlich umfangen“90, verstanden. Unter Verfassung als Kultur verwandelt man die Verfassung in Ausdruck, Selbstdarstellung und Fundament der Hoffnungen einer Gesellschaft.91 Man arbeitet mit einem offenen Begriff der Kultur,92 die Konsequenz der pluralistischen Struktur des politischen Gemeinwesens ist. Der Mensch lebt nicht nur von der Kultur, „er lebt doch wesentlich auch auf Kultur hin und von der Kultur früherer und heutiger Generationen“93, der Mensch ist deshalb von seiner Natur her ein Kulturwesen.94 Verfassungslehre als Kulturwissenschaft entwickelt sich ohne Dogmen, das Verfassungsrecht ist insofern nur ein Instrument. Deswegen stellt Häberle fest, dass die Verfassung in der klassischen Trias Staatsvolk-Staatsgewalt-Staatsgebiet noch keinen festen Platz hat, obwohl die Verfassung nicht nur das erste, sondern das wesentliche Element sein muss.95 Zu Recht schlägt er vor, klassische Elemente des Staates mit dem Kulturbegriff zu vereinbaren: „Verfassung ist ein Teil der Kultur, sie bildet, wenn man will (richtiger: muß), mindestens ein ,viertes‘ Element“96 des Staates (Verfassung ist eine verdichtete Form der „politischen Kultur“ eines Vol,zusammen-gelesen‘ werden. Verfassungslehre läßt sich aus den Verfassungstexten erarbeiten“, vgl. Häberle (1998), S. 1163. 86 Häberle (2009), S. 3; das Rechtliche ist allerdings nur ein Element der Verfassung als Kultur, so ders. (1998), S. 84. 87 Häberle (1980), S. VI. Man kann an dieser Stelle z. B. darauf verweisen, dass das Berliner Wissenschaftskolleg heute einen Forschungsweg den „Rechtskulturen“ widmet. Abrufbar im Internet: http://www.wiko-berlin.de/institution/projekte-kooperationen/recht-imkontext/ (Stand: 17.07.15). 88 Steiner, NJW 1985, S. 1610, 1611. 89 Kritisch Schlink, AöR 1984, S. 143, 147 f.; Pieroth, Der Staat 22/1983, S. 394, 402 ff.; Brugger, AöR 2001, S. 271 ff. 90 Häberle (1998), S. 7 ff. 91 Häberle (1998), S. 83; ders. (1996), S. 680. 92 Schlink, AöR 1984, S. 143, 144. 93 Häberle (1998), S. 27. 94 Häberle (1998), S. 27. 95 Häberle (1998), S. 85 f. 96 Häberle (1998), S. 85 f.

I. Das Frühwerk Häberles

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kes).97 Verfassungslehre als Kulturwissenschaft benötigt zum einen eine Erweiterung der Interpretationsmethoden, zum anderen das Verständnis des Staates selbst. Beispielsweise ist die Rechtsvergleichung als fünfte Methode der Verfassungsauslegung zu begreifen.98 Diese originär Häberle’sche Idee von der Verfassungsvergleichung gewinnt ihren praktischen Sinn in der verfassungskulturell determinierten Definition eines sozialen Mindeststandards und in einem Grundkanon gemeineuropäischer Erziehungsziele.99 Hier werden auch Zeit und kulturelle Ähnlichkeiten oder Unterscheidungen zu beachten sein, denn „Kultur ist in Raum und Zeit wandelbar“100. Abschließend gilt der Staat in der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft als „kooperativer Verfassungsstaat“, der seine Identität im Völkerrecht, in den regionalen, internationalen und supranationalen Beziehungen sowie in der Bereitschaft zur Solidarität und Humanität finden muss.101 Der kooperative Staat bemüht sich etwa um den Weltfrieden, den Kulturgüterschutz, die Umweltpolitik102 und vieles mehr. Aus diesem Grund ist das Kulturverfassungsrecht durch eine spezifische Offenheit „nach außen“ zu kennzeichnen.103

97 Karpen, JZ 1985, S. 31: „Die Verfassungslehre hat ihre Stelle im System der Staatswissenschaften zwischen der allgemeinen Staatslehre und dem besonderen Staatsrecht. Die allgemeine Staatsrechtslehre versucht die Wesenszüge zu erarbeiten, die dem Staat an sich eigen sind. Die besonderen Staatsrechte befassen sich mit dem positiven Recht der einzelnen Staaten. Die Verfassungslehre ist nicht so konkret wie ein besonderes Staatsrecht. Sie ist nicht die Lehre von allen Verfassungen, aber auch nicht von einer bestimmten Verfassung, sondern die Lehre von der Verfassung eines bestimmten geschichtlichen Staatstyps, eben des sogenannten modernen Verfassungs- (oder Rechts-)Staates. Die Begriffe Menschenwürde, Volkssouveränität, Verfassung als Vertrag, Erziehungsziele und Orientierungswerte, Gewaltenteilung, Rechts-, Sozial- und Kulturstaat, Grundrechtsgarantie, Pluralismus beschreiben den Inhalt dieses Verfassungstypus. Verfassungskultur ist eine verdichtete Form der ,politischen Kultur‘ eines Volkes“. 98 Häberle (1998), S. 312 f.; ders., JZ 1989, S. 913 ff. 99 Geis, Verw. 2000, S. 297, 299. 100 Häberle (1996), S. 211. 101 Kooperativer Verfassungsstaat ist der Staat, „der seine Identität gerade auch im Völkerrecht, im Geflecht internationaler und supranationaler Beziehungen, in der Wahrnehmung internationaler Zusammenarbeit und Verantwortung sowie in der Bereitschaft zur Solidarität findet. Er entspricht damit weltweiten friedenspolitischen Notwendigkeiten“, vgl. Häberle (1980), S. 288; Kotzur (2004), S. 31 ff. 102 „Idealtypisches (z. T. noch ,realtypisches‘!) Gegenstück zum kooperativen Verfassungsstaat ist – innerhalb des Spektrums des Typus Verfassungsstaat – der ,egoistische‘, selbstbezogene und nach außen ,aggressive‘ Verfassungsstaat, außerhalb dieses Spektrums der totale Staat mit ,geschlossener‘ Gesellschaft […] und/oder ,wilde‘ Staat […]“, vgl. Häberle (1980), S. 289; ders. (1998), S. 175 ff.; ders. (1996), S. 487. 103 Häberle (1996), S. 211; nach Schnapp, Der Staat 38/1999, S. 480, hat Häberle mit seinem Werk „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ ein programmatisches Panorama einer Verfassungslehre aquarelliert, das nicht seinesgleichen hat.

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B. Die Wurzeln von Häberles Verfassungstheorie

II. Zwischenergebnis Häberle geht immer über die konkrete Aufgabe seiner Werke hinaus. Seine Dissertation handelt z. B. von der Analyse und Auslegung des Art. 19 Abs. 2 GG, gleichwohl geht es zugleich um eine eigene Theorie der Grundrechte und ihrer Grenzen. Seine Habilitationsschrift bildet eine Theorie der Gesetzesauslegung hinsichtlich des öffentlichen Interesses, gleichzeitig wird eine Theorie der Ermessenslehre entwickelt. Sogar seine „kleinen“ Beiträge sind Hauptbestandteil seiner Verfassungstheorie: „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ beschäftigt sich mit einer pluralistischen Theorie der Verfassungsauslegung. Ferner hat er schon früh wesentliche Beiträge auch zur kulturwissenschaftlichen These des Rechts geleistet und seine „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ gehört heutzutage zu den neueren Grundlagenfächern des Rechts –„Kulturwissenschaftliche Analyse des Rechts“104. Darüber hinaus beruht die Lebenskraft einer Verfassung und des Rechts selbst nicht allein auf dem Normtext, sondern auch auf weiteren gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen.105 Daher gibt es keine natürliche, sondern eine kulturelle Freiheit der Menschen.106 Zuletzt zeigen Häberles Frühwerke einerseits ein komplexes und fruchtbares Verfassungsrechtsverständnis; andererseits multidisziplinäre Fragestellungen in verschiedenen Fachbereichen des öffentlichen Rechts. Sein Denken ist immer echte und positive Provokation, damit man über alte oder neue juristische Probleme reflektiert. Seine eigene Verfassungskonzeption macht diesbezüglich keine Ausnahme, hingegen wird sie logische Konsequenz der hier zusammengefassten Werke.

104 105 106

Krüper, in: Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, S. 274 f. Morlok, in: Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, S. 2561. Häberle (1998), S. 593, 671.

C. Der gemischte Verfassungsbegriff I. Verfassung des Pluralismus 1. Kultur Ausgangspunkt von Häberles These ist die Konzipierung der Verfassung als Kultur,1 sie wird ein zentraler Punkt in der Verfassung des Pluralismus.2 Deswegen ist es notwendig, die Bedeutung von Kultur zu erklären. Nach Häberle ist Kultur „ein System von expliziten und impliziten Mustern für und von Verhalten, die durch Symbole erworben und tradiert werden – unter Einfluß der Verdinglichungen –, so besteht der essentielle Kern dieser Kultur aus traditionalen Ideen und besonders aus den ihnen zugeordneten Werten“3. Dieser Begriff der Kultur eröffnet verschiedene Perspektiven: Kultur ist die Vermittlung dessen, was war (traditionale Aspekte), die Weiterentwicklung dessen, was war (innovative, auch auf sozialen Wandel ausgerichtete Aspekte), und sie ist nicht immer identisch mit Kultur, weil ein politisches Gemeinwesen verschiedene Kulturen haben kann (pluralistische Aspekte).4 Daraus folgt, dass Tradition, Wandel, Pluralismus (Offenheit) tragende Aspekte der Verfassung als Kultur bilden. Häberle beruft sich auf diese drei Elemente, um seinen kulturellen Begriff der Verfassung darzustellen: „Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives ,Regelwerk‘, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen“5. Verfassung als Kultur ist zudem keine rein theoretische Ausarbeitung, ihre realis1 Für Häberle (1998), S. 19, ist das Recht – auch das Verfassungsrecht selbst – ein Bestandteil der Kultur; ders. (2016), S. 82 ff. Dazu s. auch die optimistische Stellungnahme von Sommermann und die skeptische Ansicht von Huster, VVDStRL 65/2006, S. 7 – 50, 51 – 78. 2 Müller, in: Liber Amicorum für Häberle, S. 18: „Kultur ist dem Jubilar nicht nur Herzenanliegen, sie ist permanenter Referenzpunkt in seinem wissenschaftlichen Arbeiten. Er versucht, das traditionelle Verständnis von Kultur um einen innovativen und pluralistischen Aspekt neben dem traditionellen Gehalt zu erweitern und strebt in diesem Sinn auch eine Öffnung der Verfassungslehre an, die er wesentlich als Kulturwissenschaft versteht“. 3 Häberle (1981), S. 41. 4 Häberle (1998), S. 4 f.; ders. (1980), S. 13 ff. 5 Häberle (1998), S. 83.

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C. Der gemischte Verfassungsbegriff

tische Entwicklung vollzieht sich durch die von Häberle genannten „kulturellen Kristallisationen“6. Zu ihnen gehören z. B. Klassikertexte, klassische Kunstwerke, Kirchentraditionen, Wissenschaften (Verfassungslehre als Kulturwissenschaft),7 die Werke der Gesetzgebung, der Exekutive, der Rechtsprechung usw. Freilich ist Kultur nicht nur ein Element der Verfassung des Pluralismus, sondern auch ein Legitimationsfaktor, weil jede Verfassung letztlich aus der Dimension des Kulturellen lebt.8

2. Pluralismus (Offenheit) Neben der Kultur ist der Begriff Pluralismus (Offenheit) im Hintergrund von Häberles Verfassungskonzept. Pluralismus meint Vielfalt von Ideen und Interessen, die im politischen Gemeinwesen immer bestehen. „Diese Vielfalt lebt aus einer Fülle von unterschiedlich stark formalisierten Verfahren. In ihnen begegnen sich die Interessen und Ideen der realen und idealen Welt in Konflikt und Konsens (nämlich im Minimal- bzw. Grundkonsens); sie ringen mit- und gegeneinander und objektivieren sich zu Alternativen.“9 Die Theorie der Verfassung des Pluralismus impliziert eine Demokratisierung und fordert einen echten demokratischen Konsens ein. Indem die Demokratie sich auf Zustimmung und Mitwirkung aller Bürger gründet, erlangt der Konsens in ihr eine konstitutive Bedeutung.10 Nicht ohne Grund spricht Häberle von einer pluralistischen Verfassung, die das Werk aller ist, sonst existiert sie nicht.11 Hier findet auch die „nicht-juristische Fassung der Verfassung eines politischen Gemeinwesens einen angemessenen Ausdruck“12. Darüber hinaus bedeutet dieser pluralistische Verfassungsbegriff eine Entfernung allen formalistischen Verständnisses der Verfassung,13 des Dezisionismus14 und jener Theorie, die Gesellschaft und Staat trennt.15

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Häberle (1998), S. 221 ff. Nach Heller, S. 34, ist Staatsrechtslehre Kulturwissenschaft, nicht Naturwissenschaft: „Gegenstand der Kulturwissenschaft ist also ein Stück der psychischen Welt, die wir als menschliche Zweckformung begreifen können. Nicht jede durch den Menschen geformte Wirklichkeit kommt für die kulturwissenschaftliche Erkenntnis in Frage, sondern nur eine solche, die es uns eben gestattet, sie als menschenbewirktes Zeichen aufzufassen“. 8 Häberle (1996), S. 680. 9 Häberle (1998), S. 134 f. 10 Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 67. 11 Häberle (1980), S. VI. 12 Häberle (1998), S. 90. 13 Dazu s. Dau-Lin, AöR 1932, S. 27 ff. Er spricht hier von formalistischem Verfassungsbegriff als konkrete Daseinsweise eines Staates, als die sogenannte Verfassungsurkunde und als geschriebene Rechtssätze besonderer Art. Aus historischer Perspektive s. SchmidtAßmann, S. 32 ff.; Walz, S. 13 ff.; zur traditionellen Klassifizierung der Verfassungen s. Loewenstein, S. 140 ff. 7

II. Dimensionen der Verfassung des Pluralismus

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II. Dimensionen der Verfassung des Pluralismus Aus dem bereits definierten Verfassungsbegriff lässt sich ableiten, dass die Verfassung des Pluralismus die rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft ist.16 Als normative Rahmenordnung gibt sie inhaltliche Direktiven, eröffnet Möglichkeiten und Verfahren für den Bürger wie für den Fachmann, für die pluralistischen Gruppen und für die kulturelle Öffentlichkeit, um allgemeine und besondere, abstrakte und konkrete Werte und Zwecke, Ziele und Interessen im Gegen- und Miteinander zu erreichen bzw. durchzusetzen.17 Der Häberle’sche Verfassungsbegriff ist mithin als normative und prozedurale Verfassung zu bezeichnen,18 die hauptsächlich auf den folgenden Elementen beruht.

1. Verfassung des Pluralismus als rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft Zum Zusammenhang zwischen Staat und Gesellschaft bestehen unterschiedliche Anschauungen. Während Isensee19 für die Trennungstheorie eintritt, erläutert Böckenförde20 ihre „Unterscheidung“. Forsthoff21 spricht sich für eine „dialektische Zuordnung“ aus, da Staat und Gesellschaft „zwei Modi mitmenschlichen Seins“ seien. Sowohl Hesse22 als auch Ehmke23 halten hingegen das Begriffspaar Staat und 14 Nach Schmitt (1970), S. 23, ist das Wesen einer Verfassung in einem Gesetz nicht enthalten, sondern sie liegt in einer grundlegenden politischen Entscheidung der Träger der verfassungsgebenden Gewalt. 15 Isensee (1968), S. 149. 16 Häberle (1980), S. 46: „Verfassung meint rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft“. 17 Häberle (1981), S. 9; ders. (1980) S. 46; ders., in: Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, S. 1, 20; Gusy, in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 201, 211; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu u. a. (Hrsg.), GG, Einleitung, S. 51 Rn. 198. 18 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 25. 19 (1968), S. 149: „In der Gegenüberstellung zur ,Gesellschaft‘ bedeutet ,Staat‘ die Organisation mit der Befugnis, unwiderstehliche Gewalt auszuüben. Dagegen bildet die ,Gesellschaft‘ die komplementäre Größe, die als Inbegriff aller sozialen Erscheinungen unterhalb jener Instanz zu erfassen ist“. 20 (1976), S. 185 ff.; s. auch Forsthoff (1971), S. 21 ff.; Hesse, DÖV 1975, S. 437, 439, kritisiert diesen Blickwinkel, weil sich die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zu einem totalen Staat oder zu einer totalen Gesellschaft umwandeln könnte. 21 Forsthoff (1971), S. 21. 22 DÖV 1975, S. 437, 442; s. auch Schmidt, AöR 1976, S. 24 ff. 23 (1981), S. 320: „Demgegenüber sollte man die gedanklichen Schwierigkeiten dadurch zu überwinden suchen, daß man statt in den Kategorien ,Staat‘ und ,Gesellschaft‘ in den Kategorien ,politisches Gemeinwesen‘ und ,government‘ denkt […]. Es gibt eine Verfassung und das ist die des politischen Gemeinwesens“.

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C. Der gemischte Verfassungsbegriff

Gesellschaft für defizitär, weil es die Beziehungen zwischen dem gesellschaftlichen und dem staatlichen Leben nicht sachgemäß zum Ausdruck bringt.24 Die Verfassung des Pluralismus verzichtet ihrerseits auf jede dogmatische Trennung von Staat und Gesellschaft.25 Staat und Gesellschaft sind keine Gegensätzlichkeit.26 Das Leben in der Gesellschaft ist ohne organisierende, planende, verantwortliche Gestaltung durch den Staat unmöglich, umgekehrt konstituiert der demokratische Staat sich erst im gesellschaftlichen Zusammenwirken.27 Die Verfassung des Pluralismus bestimmt die Leitprinzipien, nach denen sich politische Einheit bilden soll und staatliche Aufgaben wahrgenommen werden sollen. Sie regelt die Verfahren der Bewältigung von Konflikten innerhalb des Gemeinwesens und ordnet die Organisation und das Verfahren politischer Einheitsbildung und staatlichen Wirkens. Sie schafft Grundlagen und normiert Grundzüge rechtlicher Gesamtordnung.28 Die pluralistische Verfassung konstituiert den Rahmen für die Beschränkung und Rationalisierung der Macht.29 Deshalb will sie Gesellschaft auch nicht „vereinahmen“. Erinnert sei, dass die Beschränkung der Macht der Sinn des Kampfes um Verfassungen ist.30 Somit sind sowohl die Anerkennung der Grundrechte als auch die Gründung der Verfassungsgerichtsbarkeit wesentliche Momente dieser Beschränkung.31 Die Macht des Staates, aber auch der Gesellschaft soll organisiert und begrenzt werden, denn es besteht kein Zweifel daran, dass öffentliche und private Missbräuche und pluralistische Verfassung unvereinbar sind.32 Die Verfassung beschränkt sich daher nicht nur auf die Regelung der staatlichen Sphäre,33 sondern sie normiert auch das gesamte Gemeinwesen34 – indes, wie gesagt, ohne normativ zu 24

Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 11. Häberle (1998), S. 236, 242. 26 Hesse, DÖV 1975, S. 437, 442. 27 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 11 ff. 28 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 17 f.; ders., in: Benda u. a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, S. 7 f. Rn. 12; ders. (1959), S. 8 f. 29 Häberle (1980), S. 170. 30 Ehmke (1981), S. 91, 102 ff. Für Ehmke erfolgt die Beschränkung und Rationalisierung der Macht in einem Prozess, in dem die gestaltende und mitverantwortende Tätigkeit des Bürgers eines Staates eine ausschlaggebende Rolle spielt. 31 Ehmke (1981), S. 104; Zweigert, in: FG aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des BVerfG, Bd. I, S. 63 ff. 32 Von der ökonomischen privaten Gewalt her hat Häberle (1996), S. 706, z. B. betont, dass der Markt im Verfassungsstaat nicht das Maß aller Dinge ist und schon gar nicht das Hauptmaß des Menschen. 33 Morlok/Michael, S. 46 Rn. 40. 34 Hesse, (1995, Neudruck 1999), Rn. 18: „Als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens ist die Verfassung nicht auf eine Ordnung staatlichen Lebens beschränkt. Ihre Regelungen erfassen – besonders deutlich in Gewährleistungen wie denen der Ehe und Familie, des Eigentums, der Bildung und des Wirkens sozialer Gruppen oder der Freiheit von Kunst und Wissenschaft – auch Grundlagen der Ordnung nicht-staatlichen Lebens“. 25

II. Dimensionen der Verfassung des Pluralismus

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vereinnahmen oder komplett zu überkommen. Als funktioneller Integrationsfaktor erschafft sie weder einen totalen Staat noch eine totale Gesellschaft.

2. Verfassung des Pluralismus als offene und öffentliche Grundordnung Die Verfassung ist offene und öffentliche Ordnung für Staat und Gesellschaft.35 Offenheit besagt, dass die Verfassung die Partizipationsmöglichkeiten der Bürger im demokratischen Leben erweitert. Sie werden zugleich Empfänger und ständige Teilnehmer der Verfassungsnorm. Deshalb ist die Auslegung der Verfassung nicht nur Sache der Rechtswissenschaftler, der Gerichte, der Politiker oder der Verwaltungsbeamten, sondern auch die aller Bürger.36 Öffentlichkeit meint, dass die Bürger keine passiven Zuschauer der Verfassung sind. Stattdessen nehmen sie an der Verfassung durch die vielfältigen demokratischen Verfahren teil. „Verfahren sind es, die die Verfassung auf den Weg bringen, besonders die Verfassungsgerichtsbarkeit; sie bewirken, daß Verfassungsinterpretation einen sonst nicht erreichten Stellenwert bei der Fortbildung der Verfassung erlangt“37. Als offener und öffentlicher Prozess hat sie bessere Möglichkeiten für ihre Geltung, Legitimation38 sowie ihre Akzeptanz.39

3. Verfassung des Pluralismus als „lebende“ rechtliche Grundordnung Das Verfassungsrecht lebt in einer spezifischen Zeitproblematik.40 Verfassungsgeschehen sind Zeitgeschehen.41 Daher kann eine Verfassung als ein lebendes Instrument begriffen werden,42 denn sie ist keine bloße Urkunde der Juristen, sondern 35

Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 25. Häberle (1982), S. 55. 37 Häberle (1998), S. 64; Morlok (1988), S. 105. 38 Häberle (1998), S. 243. 39 Häberle (1998), S. 84 ff.: „Die Akzeptanz einer Verfassung, ihre Verwurzelung im Bürgerethos und Gruppenleben, ihr Verwachsensein mit dem politischen Gemeinwesens etc. – all dies hat zwar bestimmte rechtliche Normierung zur Voraussetzung, aber darin liegt noch keine Garantie, daß ein Verfassungsstaat hic et nun ,wirklich‘ ist. (Das Rechtliche ist nur ein Aspekt der Verfassung als Kultur)“. 40 Häberle (1998), S. 61. 41 Häberle (1998), S. 65. 42 „Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kulturellen ,Informationen‘, Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten“, Häberle (1998), S. 83 f.; Limbach (2010), S. 34 ff. 36

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C. Der gemischte Verfassungsbegriff

ein Mittel von Leben, und ihr Geist ist immer Geist der Zeit.43 Es handelt sich um das Verhältnis zwischen Zeit und Verfassung, denn jede Verfassung ist und lebt in der Zeit. So unterscheidet Häberle „Verfassung in der Zeit“ (Makrodimension) von „Zeit in der Verfassung“ (Mikrodimension). „Im Makrobereich geht es um Verfassungen und ihr Recht vor und in der Geschichte, im Mikrobereich um die Zeit in der Gegenwart des konkreten Verfassungsrechts“44. Die Verfassung lässt den geistigen, politischen oder ökonomischen Entwicklungsstand nicht ignorieren. Ihre Lebens- und Wirkungskraft beruht darauf, dass sie sich mit den spontanen Kräften und lebendigen Tendenzen der Zeit zu verbinden vermag, dass sie diese Kräfte zur Entfaltung bringt und einander zuordnet, dass sie vom Gegenstand her bestimmte Gesamtordnung konkreter Lebensverhältnisse ist.45 Sonst würde sie ihre Lebenskraftverlieren und könnte das veränderliche Wesen der Verfassungswirklichkeit nicht regeln (s. Teil F. I. 2). Eine lebende Verfassung (law in public action) bindet die Zeit ein und kann Wandlungen der und in der Öffentlichkeit und ihren Infrastrukturen nicht passiv hinnehmen, weil sie sich andernfalls selbst außer Kraft setzt. Sie muss sich intra constitutionem halten und sich ständig aktualisieren.46 Aus gutem Grund bezeichnet Häberle in Anlehnung an Scheuner47 die Verfassung auch als Norm und Aufgabe.

4. Verfassung des Pluralismus als „Raum“ für Konsens und Dissens Da Konflikt und Dissens ein Ausdruck der res publica sind,48 müssen sie als wesentliches Stück Prozesscharakter von der Verfassung berücksichtigt werden. Wachstumsprozesse der Verfassung bedürfen solchen Streits, solchen Für und Wi-

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Woodrow, S. 69. Häberle (1998), S. 93 ff. Fristen, Verjährung, strafrechtliche Verfolgbarkeit, Legislaturperioden usw. seien Beispiele der Zeit in der Verfassung (Mikrodimension); Verfassung in der Zeit (Makrodimension) spiegele sich z. B. in den formalisierten Verfassungsänderungen einer Verfassung. 45 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 43. 46 Häberle (1998), S. 230. 47 Nach Scheuner (1978), S. 174, um „die Normen des Verfassungsrechts legt sich der Hof der bloßen Konventionen und Traditionen des Verfassungslebens, die noch nicht Recht sind, aber doch als moralisch und herkömmlich verbindlich angenommen werden. Beweglichkeit und Anpassung sind für eine Verfassung, soll sie Bestand haben, unerläßlich. Sinn der konstitutionellen Formen ist es, den Prozeß der politischen Auseinandersetzung, Entscheidung, Sammlung in Bahnen zu weisen. Sie sind nicht nur vorgeordnete Ämter und Institutionen, sie stellen zugleich der kommenden Zeit die Aufgabe der Bewahrung und Anpassung an veränderte Bedingungen“. 48 Häberle (1980), S. 62. 44

II. Dimensionen der Verfassung des Pluralismus

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ders, solcher Konfrontation und Integration.49 Der Dissens, der als innere Spannung der Gesellschaft gesehen werden kann,50 ist in einer Demokratie nicht als unüberwindbares Hindernis zu sehen. Er ist Spiegel einer pluralistischen Gesellschaft, die aus verschiedenen – oft gegensätzlichen – Ideen und Interessen lebt. Aller Konsens setzt Dissens voraus. Er ist stets Konsequenz der Vielfalt von Ideen und Interessen. Aber der Konsens muss im Verfassungsstaat Ergebnis einer demokratischen Diskussion sein, niemals ein Oktroi der Mehrheit. Für diese offene Diskussion sollen bestimmte Verfassungswerte in Betracht benommen werden.51 Selbstverständlich muss eine grundlegende und stillschweigende Vereinbarung über diese Verfassungswerte vorausgesetzt werden. Während die Bürger die Fähigkeit vor allem zur Toleranz haben,52 wird in der Verfassung immer genügend Raum für Konsens und Dissens sein.53

5. Verfassung des Pluralismus als Vertrag Dieser Begriff der Verfassung beruft sich auf die klassische Lehre vom Gesellschaftsvertrag von Locke bis Rousseau, von Kant bis zum gegenwärtigen Diskurs um den Grundkonsens.54 Unter diesem Gesichtspunkt und mutatis mutandis kann die Verfassung als „eine Einigung über die institutionellen, vor allem aber über die sachlichen Grundlagen des Staates verstanden werden, die von allen gemeinsam angenommen werden“55. Häberle nuanciert diese Definition, wenn er sagt, dass die Verfassung als Vertrag im hier gebrauchten Sinn ein Denkmodell, ein heuristisches Prinzip zum Zweck der Verbürgung personaler Freiheit und öffentlicher Gerechtigkeit ist.56 In der Theorie des Pluralismus ist die Verfassung als „gesellschaftlicher Vertrag“ und „als Generationsvertrag“ erkennbar. Sie ist ein Vertrag zwischen Bürgern57 der offenen Gesellschaft, die den Grundkonsens zu finden versuchen.58 Die 49 Häberle (1982) S. 55; ders., in: Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, S. 1, 46. Aus den Politikwissenschaften Wiener, S. 1 ff. 50 Popper (1992), S. 210 ff. 51 Häberle (1980), S. 63. 52 Häberle (1998), S. 230. 53 Häberle (1981), S. 14; Morlok, in: Morlok u. a. (Hrsg.), Gemeinwohl und politische Parteien, S. 9, 14; Schulze-Fielitz (1984) S. 11 ff. 54 Häberle (1979), S. 439; s. auch Badura, S. 12 f.; Ermacora, S. 112 ff.; Esser (1949), S. 96 ff.; Jellinek (1966), S. 201 ff.; Schmitt (1970), S. 61 ff. 55 Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 33, 61. 56 Häberle (2009), S. 128 ff.; ders. (1979), S. 438 ff.; ders., EuGRZ 2004, S. 117, 121; ders., in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 43 ff.; ders. (1981), S. 77; Rawls, S. 27 ff. 57 Di Fabio (1998), S. 31 f. 58 In der Theorie des Pluralismus – wie Häberle (1998), S. 288, feststellt – gibt es nur „evolutionäre Verfassunggebung“. Daher ist die folgende Aussage von Schmitt (1970), S. 79, nicht anzunehmen: „An Rechtsformen und Prozeduren ist die verfassunggebende Gewalt nicht

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C. Der gemischte Verfassungsbegriff

von Häberle angewandte Metapher des „Runden Tisches“ symbolisiert ein gleichberechtigtes Neben- und Miteinander vieler in einem politischen Gemeinwesen.59 Sie ist „die beste optisch-bildliche Umsetzung des gleichberechtigten ,Sich-Vertragens und Sich-Ertragens‘, das für das Aushandeln von pluralistischen Verfassungen kennzeichnend ist“60. Wenn man eine Verfassung anderen nicht oktroyiert, sondern die Bürger stimmen sich über die Grundlagen des sozialen Zusammenlebens ab, dann ist die Verfassung als mehrseitiger, konsensualer Gesellschaftsvertrag aller maßgeblichen gesellschaftlichen Konfliktparteien über die zentralen materialen Grundlagen des Gemeinwesens zu begreifen.61 Die Verfassung zeichnet sich durch das notwendige ständige immer neue SichVertragen aller aus.62 Da sich die Verfassung durch die Vertragsgenerationen ständig erneuert, verbindet sie die Vergangenheit, die Gegenwart mit der Zukunft, d. h. die alten Generationen mit den jungen Generationen. Daher ist das Grundgesetz ein dynamisierter Generationsvertrag im Laufe der Zeit. Er bezieht jedenfalls die ganze Tiefe von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Volkes ein und zeigt, dass der Zeitfaktor Grundprobleme der Verfassungslehre existenziell bestimmt.63 Die als Generationsvertrag gekennzeichnete Verfassung fordert Solidarität64 und Mitverantwortung der Generationen,65 besonders im Kampf um den Schutz der Natur und der Kultur, aber auch um die Kernenergiebedrohungen und die Gentechnik.66 Obwohl eine Abwägung der Risiken und Chancen gegeneinander notwendig ist, wäre eine objektive Betrachtung und konstruktive Diskussion wichtig, ohne die Risiken gebunden; sie ist ,immer im Naturzustande‘, wenn sie in dieser unveräußerlichen Eigenschaft auftritt“. 59 Häberle (1992), S. 106. 60 Häberle (1992), S. 107: „Die ältere Idee, der Staat beruhe auf Vertrag, die Verfassung sei ein ,immer neuer Vertrag‘, darf sich durch das Paradigma des jetzt praktizierten ,Runden Tisches‘ bestätigt fühlen. Er könnte sein Symbol des Verfassungsstaates bzw. seiner Herausforderung und seiner Chancen […] werden“. 61 Schulze-Fielitz (1988), S. 218. 62 Dazu Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 33, 69: „Der Staat brauche permanenten Konsens, um fortbestehen zu können. Konsens bedeute aber nicht nur Einigkeit, sondern sei auch Vertrag, Ausgleich der Gegensätze […] Der Vertrag sei wahrscheinlich eine demokratischere Form als die enthusiastische Akklamation oder die enthusiastische Einigkeit“. 63 Häberle (1998), S. 597 Anm. 66. 64 Derpmann, S. 19 ff. 65 Eine Verfassung – wie Saladin, AöR 1979, S. 345, 374 f., meint – „ist in der Tat Produkt und Denkmal politischer Geschichte, zur Sprache gekommene politische Tradition. Diese Vorstellung wird besonders kräftig, wenn sie sich verbindet mit Idee und historischer Wirklichkeit eines Bundes: zwischen verschiedenen Gliedstaaten (wie in der Schweiz), zwischen Fürsten und Bürgern oder ,Baronen‘, oder auch zwischen den Individuen, welche sich im ,Contrat Social‘ zur Gemeinschaft finden“. 66 Häberle (1992), S. 666 ff.; ders. (1998), S. 594 ff.

III. Kritiken an der Verfassung des Pluralismus

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für die zukünftigen Generationen aus den Augen zu verlieren.67 Als solche darf die Verfassung keine Gruppen von Bürgern oder einzelne Generationen ausschließen oder „verlieren“68. Rings um den genannten „Runden Tisch“ herum nehmen nicht nur die gegenwärtigen Generationen teil, sondern auch fiktiv die zukünftigen Bürger,69 vielmehr diejenigen, die noch nicht geboren sind, denn sie haben auch einen Anspruch auf eine bessere Welt.70 So gebe es stillschweigend einen verfassungsrechtlichen Pakt zwischen beiden Generationen.

III. Kritiken an der Verfassung des Pluralismus 1. Verliert die Verfassung ihren normativen Charakter? Seitdem Häberle sein Verständnis der Verfassung vorschlug, hat die Verfassung des Pluralismus sowohl Zustimmung als auch Kritik gefunden. Die erste Kritik bezieht sich auf den angeblichen Verlust des normativen Wesens der Verfassung. Richter hat die folgende These vertreten: „Normativität meint Geltung. Geltung beruht auf rechtlichem Befehl und/oder faktischer Verhaltenserwartung. Soweit die Verfassung ,offen‘ ist, kann sie ,Geltung‘ nicht beanspruchen“71. Böckenförde wiederholt dieses Argument in ähnlichem Wortlaut.72 Indes basiert die Geltung einer Verfassung nicht nur auf ihrer bloßen Normativität – wie der Positivismus immer behauptet hat –, sondern auch auf ihrer Offenheit und Öffentlichkeit, die auch normierende Kraft entfalten.73 Im Lichte des bisher Gesagten ist es offensichtlich, dass die Theorie der Verfassung des Pluralismus die normative Substanz der Verfassung nicht verneint. Ganz im Gegenteil ist die Normativität ein wesentliches Element von ihr als rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft. Da die Verfassung normative Grundordnung ist, lässt sich sogar von einem normativen

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Dazu s. Altmaier, S. 11 ff.; Mann, S. 54, 62 ff.; Heberer, S. 29; Schartl/Erber-Schropp (Hrsg.), Chancen und Risiken der modernen Biotechnologie, S. 11 ff. 68 Häberle (1979), S. 439. 69 Häberle (1992), S. 666 Anm. 149. „Der Gesellschafts- bzw. Generationsvertrag ist eine verfassungsrechtliche ebenso notwendige wie hilfreiche ,Fiktion‘, so sehr sich gewiß verfassungsverträgliche Momente gerade heute auch in der Realität finden. Jedenfalls muß sich die heutige Generation in Grenzen einer Selbstbindung im Blick auf die künftige unterwerfen. Das Vertragsmodell kann dabei Schutz gegen Willkür bieten“. 70 Häberle (1992), S. 667. 71 Richter, S. 19. 72 Böckenförde (2011), S. 134 f.; ders., NJW 1976, S. 2089, 2093: „Normativität der Verfassung meint ihre Geltung. Geltung beruht aber ihrerseits auf verbindlicher rechtlicher Anordnung und/oder tatsächlicher Verhaltenserwartung. Soweit eine Verfassung ,offen‘ ist, kann sie daher Geltung nicht beanspruchen“; Forsthoff, in: FS Huber, S. 3 ff. 73 Häberle (1998), S. 243.

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C. Der gemischte Verfassungsbegriff

Pluralismus sprechen.74 Offenheit und normierende Kraft der Verfassung schließen mithin einander nicht aus. Die Maßgeblichkeit der Verfassung in der Theorie des Pluralismus steht außer Frage. Unter diesem Gesichtspunkt bedeutet Offenheit der Verfassung keine Schmälerung ihrer Normativität,75 vielmehr eine Kontextualisierung dieser Normativität. Ferner vergessen Richter und Böckenförde die kulturelle Dimension der Verfassung des Pluralismus. „Kultur besagt keine Auflösung“76.

2. Die Verfassung als „bloßes Echo“ des gesellschaftlichen Wandels? Die zweite Kritik hat auch mit der Offenheit der Verfassung zu tun. Klein hat argumentiert, dass die offene Verfassung zum einen „bloßes Echo“ des gesellschaftlichen Wandels sei und zum anderen eine freie Überzeugung der Gesellschaft.77 Es liegt auf der Hand, dass das Leben eines Gemeinwesens ständigen Veränderungen unterliegt; infolgedessen darf die Verfassung nicht endgültig in der Zeit festgelegt werden.78 Kleins Kritik nimmt nicht zur Kenntnis, dass Offenheit der Verfassung kein Synonym für Auflösung ist. Die Verfassung konstituiert auch den normativen Rahmen der Gesellschaft. Sie ist öffentlicher Prozess zur Rationalisierung und Begrenzung staatlicher Macht sowie Instrument zur Beilegung sozialer Konflikte um humaner Ordnung für alle willen.79 Deswegen spricht Häberle von einer „verfassten Gesellschaft“80. Die offene Verfassung gibt weder ihre leitende Funktion noch ihre normative Substanz auf. Die Offenheit und Weite der Verfassung bedeutet deshalb keine Auflösung in eine totale Dynamik, in der die Verfassung außerstande wäre, dem Leben des Gemeinwesens leitenden Halt zu geben. Der Anspruch der Verfassung, gesellschaftlichen Wandel eben nicht nur „normativ“ nachzuvollziehen, sondern ihn zu steuern, ihm einen normativen Rahmen zu geben, bleibt. Die Verfassung lässt nicht nur offen, sondern sie legt auch verbindlich fest, was nicht offen bleiben soll.81 Daher sollen beispielsweise Grundlagen der Ordnung des Gemeinwesens (z. B. die Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG),82 des Staatsaufbaues, Kompetenzen und demokratische Verfahren nicht offen sein.83 Die Verfassung kennt 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83

Häberle (1980), S. 57. Über die normative Kraft der Verfassung s. Hesse (1984), S. 3 ff. Diese Idee stammt aus einer Besprechung mit Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle. Benda/Klein/Klein, Rn. 199. Bäumlin, S. 15. Häberle, VVDStRL 30/1972, S. 41, 133. Häberle (1998), S. 122. Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 24 ff. Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 24 ff. Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 24 ff.

III. Kritiken an der Verfassung des Pluralismus

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damit wesentliche Momente der Konstanz als Rahmenordnung.84 In gewisser Weise steht die Verfassung des Pluralismus zwischen Veränderung und Permanenz. „Die öffentliche Verfassung ist insofern immer ,unterwegs‘“85.

3. Totalitäre Demokratie? Schlothauer erhebt Einwände gegen Häberles Deutung der offenen Gesellschaft durch Popper. Für ihn existiere zwischen Häberles Theorie und den Vorstellungen von Popper ein Widerspruch. Nach Schlothauer versuche die Popper’sche Theorie, keinen Verfassungsstaat zu schaffen, sondern es gehe „um eine perfekte politische Totalität, eine totalitäre Demokratie“86. So gelänge es der Theorie der offenen Gesellschaft paradoxerweise, ein pluralistisches Gemeinwesen zu beseitigen. Dadurch errichte man eine geschlossene und homogene Gesellschaft. Grundsätzlich sind zwei Beurteilungsfehler in dieser Kritik wahrzunehmen. Erstens ist es Wahrheit, dass Poppers Vorstellungen Vorbild für Häberle sind.87 Dennoch besteht zwischen den beiden ein offensichtlicher Unterschied. Bei Poppers offener Gesellschaft fehlt die kulturelle Grundlage,88 daher prüft diese Theorie die Wirklichkeit des Verfassungsstaates nicht gewissenhaft. Häberle erkennt dies und entwickelt aus diesem Grund die wissenschaftlich-kulturellen Grundsätze, deren die ursprüngliche Theorie der offenen Gesellschaft bedarf.89 In diesem Punkt ergänzt er zutreffend Poppers Theorie. Dies vermeidet ferner ein totalitäres Verständnis der offenen Gesellschaft. Zweitens hat Häberle im Vergleich zu Popper eine unterschiedliche Theorie des Menschenbildes. Für Popper ist der Mensch vor allem rationales Wesen, seinerseits meint Häberle, dass der Mensch nicht nur Ratio, sondern auch Emotio ist.90 Zudem lehnt Häberle dezidiert alle Formen der Menschherrschaft ab, sogar die Herrschaft eines sozial-technischen Apparates91 oder die Herrschaft des Marktes.92 Daher vertritt er die „rule of law“, die Herrschaft des Rechts.93 Ab84

Häberle (1998), S. 192 f. Häberle (1998), S. 237. 86 Schlothauer, S. 173 f. 87 Häberle (2009), S. 123; ders., in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 37. 88 Häberle (2009), S. 123; ders., in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 35, 37; ders. (1981), S. 45. 89 Häberle (2009), S. 124: „Die so verstandene ,offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten‘ bedarf der kulturellen Grundierung“; ders., in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 35, 37. 90 Häberle (2008), S. 68 ff. 91 Häberle (2008), S. 37 ff. 92 Häberle (1981), S. 75: „Wo sie die Offenheit der Gesellschaft bedrohen, muß der Verfassungsstaat eingreifen“. 93 Häberle (1998), S. 353. 85

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C. Der gemischte Verfassungsbegriff

schließend kann gesagt werden, während Popper seine Theorie der offenen Gesellschaft auf technokratische Elemente fußt, verbindet offenbar Häberle seine Theorie mit kultureller Grundlage.94 Von daher können sich beide Gesichtspunkte nur teilweise angleichen.

IV. Zwischenergebnis Die pluralistische Verfassungstheorie von Häberle ist kein Zufall, sondern Ergebnis einer systematischen wissenschaftlichen Arbeit. Wie in allen von ihm geleisteten Beiträgen steht offen oder versteckt eine stichhaltige und kohärente Entwicklung eines bestimmten juristischen Themas, das immer von einem multidisziplinären Ansatz behandelt wird. So bildet die Verfassung des Pluralismus heute eine der wichtigsten Theorien der Verfassung, deren Absicht es ist, Verfassung, Staat und offene Gesellschaft miteinander zu verbinden. Daher kommt es nicht selten vor, dass der Begriff „Pluralismus“ im Rahmen des öffentlichen Rechts immer mehr mit Häberles Arbeiten assoziiert ist. Häberles Verfassungsbegriff hat sehr wenig mit einem streng formalen, rechtsstaatlichen Verfassungsverständnis zu tun. Hingegen geht es um einen „gemischten Verfassungsbegriff, der den öffentlichen Prozess des Sich-Verfassens und dessen kulturelle Verwurzelung in den Mittelpunkt rückt“95. Dieser gemischte Verfassungsbegriff ist durch Öffentlichkeit und Offenheit, Prozesscharakter, Verfahrensorientiertheit, prozessuales Gemeinwohlverständnis und Möglichkeitsdenken dynamisiert.96

94 95 96

Häberle (1998), S. 1 ff. Kotzur, JZ 2003, S. 73, 77. Vorländer, S. 324.

D. Verfassungsgerichtsbarkeit im Kern des Rechts und der Politik I. Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik 1. Recht und Politik Dieser Teil der Untersuchung wird absichtlich nicht als „Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik“ bezeichnet. Dieser Begriff transportiert die irrtümliche Idee, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit einer ständigen und unvermeidlichen Spannung unterliegt, in der sie sich für das Recht (und mithin gegen die Politik) oder für die Politik (und mithin gegen das Recht) entscheiden soll.1 Diese Dichotomisierung findet sich bereits im Denken von Guizot: „En veillant ainsi à la porte des lois, le pouvoir judiciaire ne défend pas seulement les citoyens, il se défend lui-même; il protège son propre domaine, il repousse cette invasion de la justice par la politique, dans laquelle la justice a tout à perdre et où la politique n’a rien à gagner“2. Im Einklang mit ihm stellte auch Schmitt fest, dass eine hemmungslose Expansion der Justiz nicht etwa den Staat in Gerichtsbarkeit, sondern umgekehrt die Gerichte in politische Instanzen verwandeln würde.3 Hinter diesen Standpunkten steckt wesentlich das Dogma der Trennung von Recht und Politik. Die Diskussion über das Verhältnis von Recht und Politik ist „ein Dauerthema“4, das für die richtige Bewertung der Stellung und Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit jedoch unumgänglich ist.5 Allzu häufig haben Juristen ihr Selbstverständnis und ihre positive Selbsteinschätzung daraus bezogen, dass ihre Tätigkeit unpolitisch,6 also nur der Sache des Rechts verbunden ist.7 Oft denkt man auch, dass Recht 1

Däubler/Küsel (Hrsg.), Verfassungsgericht und Politik, S. 11 ff. Guizot, S. 109. 3 Schmitt (1985), S. 98: „Es würde nicht etwa die Politik juridifiziert, sondern die Justiz politisiert. Verfassungsjustiz wäre dann ein Widerspruch in sich“. 4 Häberle (2014), S. 17; ders., in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 2. 5 Die Beziehungen zwischen dem Bereich des Rechts und der Politik haben, in einer allerdings oft wenig hervortretenden Weise, Bedeutung für nicht wenige rechtliche Fragen, welche durch den häufig recht unklaren Charakter der Verfassungsformeln hervorgerufen werden, vgl. Leisner, S. 305; so auch Geiger (1980), S. 6 ff.; Massing, in: Schäfer/Nedelmann (Hrsg.), Der CDU-Staat, S. 123 ff. 6 Nach Di Fabio (2001), S. 9, waren es in der Vergangenheit zwar weniger Juristen, sondern die der Politik nahe stehenden Gelehrten wie Bodin, Hobbes oder Locke, die mit ihren philosophischen und theoretischen Konzepten den neuzeitlichen Verfassungsstaat vorgedacht, abgeleitet und auf den Begriff gebracht haben. 2

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und Politik Gegensätze sind,8 denn zwischen dem Wesen des Politischen und des Rechts bestehe ein innerer Widerspruch, der sich nicht auflösen lasse; Politik sei immer Dynamisch-Irrationales, solange Recht Statisch-Rationales sei.9 Nicht selten wird Politik mit dem Bösen oder mit dem Teufel assoziiert – Recht trage das Siegel des Objektiven, Politik gelte als parteilich; Recht diene dem Gemeinwohl, Politik sei eigennützig; Recht heiße Ordnung, Politik habe den Beigeschmack des Ungeordneten; Recht erlaube Vorausschau, Politik sei unberechenbar; Politik werde als Bedrohung empfunden, Recht biete Schutz.10 Goethes11 Wort „ein garstig Lied! Pfuy! Ein politisch Lied!/ Ein leidig Lied“ gehe von dieser negativen Perspektive der Politik aus. Zudem spricht man oft von einer Verrechtlichung der Politik einerseits und von einer Politisierung des Rechts andererseits.12 In der Literatur lassen sich zur Trennung von Recht und Politik unterschiedliche Stellungnahmen finden. a) Dichotomie von Recht und Politik Das Verhältnis von Recht und Politik ist, solange man diese Unterscheidung macht, von Spannungen geprägt.13 Der Versuch, Recht und Politik säuberlich zu trennen, ist in der juristischen Doktrin nichts Neues.14 Im Deutschland des 19. Jahrhunderts driften allmählich juristische und objektiv-politische Denkweise einerseits, rechte Gesinnung und Einstellung zu politischen Aufgaben andererseits 7 Wahl, in: Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, S. 121, 122 f.: „Die Juristenausbildung und das anschließende Hineinwachsen in einen juristischen Beruf bewirken danach eine Einübung in dieses Verständnis und damit zugleich eine Abschottung gegenüber dem politischen Bereich“. Juristische Ausbildung, sagte Wiethölter, S. 40, sei so „unmodern“ wie das Recht selbst. Der Jurist lernt nicht geistige und politische Urteilsselbstständigkeit, sondern Interpretation von Rechtssätzen. Der Jurist „ist den ihm heute in einer durchgehend ,verrechtlichten‘ Welt gestellten Aufgaben nicht gewachsen, weil er ihnen vor allem politisch nicht gewachsen ist“; s. auch Schweiger, in: Forstmoser/Vogt, Einführung in das Recht, S. 587 ff. 8 Benda, in: Cotta u. a. (Hrsg.), Richter und Politik, S. 37, 41; ders., ZRP 1977, S. 1 ff.; Hase, S. 223 ff.; Eisenblätter, S. 74: „Das Verharren in der Dichotomie von Recht und Politik ist Ausdruck einer Fiktion, der die Rechtssoziologie schon längst die Grundlage entzogen hat“. 9 Leibholz, JöR 6/1957, S. 109, 121 f.; Klein (1966), S. 30; Gunst, S. 103 f. Freilich ist das Gegensatzpaar von „dynamisch“ und „rational“ als Ausdrucksform des idealtypischen Strukturunterschiedes kaum brauchbar, vgl. Eisenblätter, S. 74. 10 Grimm, JuS 1969, S. 501 ff. 11 (Szene in Auerbachs Keller), Faust, 1841, S. 94. 12 So Grimm, in: FS Benda, S. 91, 93 ff.; laut Pardon, in: FS Scupin, 1983, S. 71, 84: „Eine Verrechtlichung der Politik ist ebenso schädlich wie eine Politisierung des Rechts“. 13 Mengel, APuZ B13/14 1989, S. 30 ff. 14 Zum Versuch eines Kontaktes von Recht und Politik s. Hedemann, S. 4: „Je mehr die Politik zu einer eigenen und echten ,Wissenschaft‘ ausgebaut wird, desto mehr wird die Rechtswissenschaft Fühlung mit ihr nehmen müssen“; aus der Lehre der Methode s. Pawlowski (1999), Rn. 595 ff.

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immer mehr auseinander.15 Das Politische galt als eine Form des staatlichen Handelns, bzw. als Tätigkeit der Monarchie, das durch seinen Bezug zum Gemeinwohl und öffentlichen Interesse gekennzeichnet erschien, während das Recht nicht dem Gemeinwohl, sondern den individuellen Interessen der Einzelnen zu dienen bestimmt sein sollte; das Recht erschien nicht als Ausdruck, sondern als Grenze der Politik. In jenem Sinne zeigten Politik und Recht sich als eine Konfrontation zwischen Irrationalität versus Rationalität.16 Schon Savigny betrachtete mit Misstrauen Gesetze, die politische, polizeiliche oder staatswirtschaftliche Zwecke verfolgen.17 Er akzeptierte, dass der Gesetzgeber das bestehende Recht abändern könnte, wenn höhere politische Zwecke dies fordern, jedoch seien die Gesetze dieser Art eine „fruchtlose Corruption des Rechts“18. Daher entstehe das Recht aus dem Gewohnheitsrecht und dann aus der Jurisprudenz, nicht aus der Willkür eines Gesetzgebers.19 Das Recht sei kein Gesetzrecht, sondern lediglich Gewohnheitsrecht.20 Zachariä21 hielt sich von der Vermischung des Rechts mit der Politik fern, die Frage nach der vernunftmäßigen Begründung der vorhandenen Rechtsbestimmungen sei nicht mit den politischen Überlegungen zu verwechseln. Von Mohl22 betrachtete die politischen Schriften überhaupt nicht als der positiven (Staats-)Rechtswissenschaft zugehörig. Gerber23 versuchte, das Recht von der Politik zu reinigen, weil er glaubte, dass letztere erstere bedrohte. Er schrieb: „Überhaupt ist übrigens eine Zeit, in welcher eine Organisation die andere verdrängt, alle öffentlichen Verhältnisse in stetem Schwanken begriffen sind, und das Bestehende jederzeit durch eine Umwälzung bedroht wird, der Rechtswissenschaft ungünstig; sie ist eine Zeit der Politik und nicht des Rechts“. In seiner Leipziger Rektoratsrede über „Die Aufgaben der Rechtswissenschaft“ vom 31. Oktober 1884 sagte Windscheid,24 die Gesetzgebung in zahlreichen Fällen 15

Sauter, in: Kunst/Grundmann (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Bd. II, S. 2694 ff. Gusy, Österr. Z. öffentl. Recht und Völkerrecht 1984, S. 81 ff.; ders., Jus Politicum 1 (Abruf vom 25. 03. 2015). 17 Fikentscher, S. 39. 18 Savigny (1814), S. 16. 19 Savigny (1814), S. 13 f. 20 Dennoch sagt Savigny (1814), S. 12: Wir nennen „künftig den Zusammenhang des Rechts mit dem allgemeinen Volksleben das politische Element [des Rechts], das abgesonderte wissenschaftliche Leben des Rechts aber das technische Element desselben“. 21 (1841), S. VI: „Was die Methode der Behandlung in materieller Hinsicht betrifft, so hat sich der Verf. von der, nicht genug zu beklagenden und auch nach neuern Erfahrungen publicistischen Fragen in der Praxis fast mehr als in der Theorie hervortretenden, Vermischung des Rechts mit der Politik, wie er hofft, durchaus fern gehalten. Politische Raisonnements, womit aber natürlich die Frage nach der vernunftmäßigen Begründung der vorhandenen Rechtsbestimmungen nicht zu verwechseln ist, wird man vergebens in dem Buche aufsuchen“. 22 (1856), S. 241 ff.; s. auch Pauly, S. 141 Anm. 45. 23 (1852), S. 13. 24 (1904), S. 112. 16

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beruhe auf ethischen, politischen, volkswirtschaftlichen Erwägungen oder auf einer Kombination dieser Erwägungen, aber diese als solche seien nicht Sache des Juristen. Das Recht und die Juristen könnten sich mit der Politik nicht beschäftigen. G. Jellinek25 postulierte die These, dass die Politik nicht eine Lehre vom Seienden sei, sondern vom Sein-Sollenden: „So wenig Recht und Politik miteinander vermischt werden sollen, so sehr jederzeit ihre scharfen Grenzen zu beachten sind“. Als Kelsen seine Theorie der reinen Rechtslehre entwickelte, wollte er eine Theorie des Rechts ausarbeiten, die sie „von allen ihr fremden Elementen befreit“26. Dieses dualistische Trennungsdenken lehnte jede Verbindung des Rechts mit der Politik ab, was im folgenden Satz ausgedrückt bleibt: „Nicht um die Stellung der Jurisprudenz innerhalb der Wissenschaft und die sich daraus ergebenden Konsequenzen geht in Wahrheit der Streit – wie es freilich den Anschein hat; sondern um das Verhältnis der Rechtswissenschaft zur Politik, um die saubere Trennung der einen von der anderen, um den Verzicht auf die eingewurzelte Gewohnheit, im Namen der Wissenschaft vom Recht, unter Berufung also auf eine objektive Instanz, politische Forderungen zu vertreten, die nur einen höchst subjektiven Charakter haben können, auch wenn sie, im besten Glauben, als Ideal einer Religion, Nation oder Klasse auftreten“27. Aus diesem Anlass erscheint hier die Spaltung von Recht und Politik als arbeitsbeteiligtes Prinzip, weil Recht und Politik getrennten Verfahren zugewiesen sind.28 Bemerkenswert ist auch der Standpunkt von Luhmann,29 der in seiner Systemtheorie das Rechtssystem vom politischen System unterschied. Beide seien Subsysteme des Gesellschaftssystems. „Das politische System bewegt sich auf einem ganz anderen Terrain. Es versucht, Meinungsbildungen so zu kondensieren, daß kollektiv bindende Entscheidungen getroffen werden können. Diese suchen im Medium des politisch Möglichen nach politischen Kriterien eine Form, in der die Politik ihr Problem lösen, das heißt loswerden kann. Das Recht stellt dank seiner Positivität = Änderbarkeit diese Möglichkeit der Formfestlegung und der Entpolitisierung von Problemen bereit. Es stellt sicher, daß Angelegenheiten unter spezifisch rechtlichen Kriterien weiterbehalten werden, auch wenn die Politik sich inzwischen anderen Problemen zugewandt hat“30. Trotz der Separierung dieser Subsysteme schließt Luhmann intensive kausale Beziehungen zwischen dem Recht und der Politik nicht aus. Dies zeige sich deutlich im Klammerbegriff des „Rechtsstaates“. Dieser Begriff diene als Schema, das es ermöglicht, zwei gegenläufige Perspektiven als Einheit zu bezeichnen und als zivilisatorische Errungenschaft zu feiern: „die juristische Fesselung der politischen Gewalt und die politische Instrumentalisierung

25 26 27 28 29 30

(1966), S. 16. Das war ihr methodisches Grundprinzip, vgl. Kelsen, (1967), S. 1. Kelsen (1967), S. IV. Hagen, S. 65. Luhmann (1993), S. 407 ff. Luhmann (1993), S. 424.

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des Rechts“31. Es handele sich um ein wechselseitig-parasitäres Verhältnis von Politik und Recht. Das politische System profitiere von dem, was im Rechtssystem „Recht“ oder „Unrecht“ ist, während das Recht vom Frieden, den das politische System sichert, profitiere.32 Auf jeden Fall sei es ganz ausgeschlossen, sich die Politik als laufende Auslegung der rechtlich fixierten Verfassung vorzustellen, sowie auch ganz und gar politische Fragen dem Recht zur Entscheidung vorzulegen.33 Die Trennungstheorie wird gewissermaßen auch von Esser und Stern verteidigt. Aufgrund der Bedeutung des Wortes „Symbiose“34 sei es augenscheinlich, dass Recht und Politik ganz unterschiedliche Fachgebiete seien. Laut Esser bestehe zwischen Recht und politischer Macht „nicht eine bloße Abhängigkeit, sondern ein seltsames aber typisches Wechselleben, eine Symbiose, von der schwer zu sagen ist, wer sich wessen bedient“35. Seinerseits meint Stern, dass Recht den Rahmen für das politische Handeln vorgebe und Politik neue Gesetze oder die Novellierung der alten Normen schaffe, in diesem Sinne seien Recht und Politik „Chiffren einer differenzierten Symbiose“36. b) Institutionelle Trennung von Recht und Politik Grimm37 hält eine Trennung von Recht und Politik auf der Ebene der Rechtsetzung für undurchführbar, dagegen sei eine solche Trennung auf der Ebene der Rechtsanwendung durchaus möglich. Die Politik programmiere die Rechtsanwendung durch den Erlass genereller Normen. „Die Auslegung und Anwendung der Normen im konkreten Fall wird ihrem Einfluß aber entzogen“38. Wenn ein Gesetz politisch beschlossen und in Kraft getreten sei, gewinne das Gesetz eine autonome Existenz, trotzdem könne die Politik das Gesetz aufheben oder abändern.39 Es handele sich daher um eine institutionelle Trennung, die die Unabhängigkeit der Rechtsprechung sichere, mit Worten Grimms: „Sie sichert die Organe der Rechtsprechung bei ihrer rechtsanwendenden Tätigkeit vor jeder Beeinflussung durch die Politik, namentlich durch die politisch entscheidenden Staatsorgane und die in ihnen wirkenden politischen Parteien“40. Dennoch bedeute diese Trennung von Recht und 31

Luhmann (1993), S. 422. Luhmann (1993), S. 426. 33 Luhmann (1993), S. 418 f. 34 „Symbiose“ besagt „das Zusammenleben von Lebewesen verschiedener Art zu gegenseitigem Nutzen“, vgl. Duden: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 6, S. 2548. 35 Esser (1949), S. 9. 36 Stern (1984), S. 24. Nach Giese, S. 45, verhilft die politische Betrachtungsweise dem Recht zur vollen Klarheit; umgekehrt bedient sich die Politik des Rechts zur Erreichung ihrer Zwecke. 37 Grimm, in: FS Benda, S. 91, 97 ff. 38 Grimm, in: FS Benda, S. 91, 97. 39 Grimm, in: FS Benda, S. 91, 97. 40 Grimm, in: FS Benda, S. 91, 98 f. 32

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Politik nicht, dass der Vorgang der richterlichen Rechtsanwendung auch intern unpolitisch wäre, denn „Einflüsse des Vorverständnisses, der Herkunft und Sozialisierung, der politischen und weltanschaulichen Präferenzen der Richter sind hier unausweichlich“41. c) Primat des Rechts über die Politik Kant bestimmte das Verhältnis zwischen Recht und Politik am präzisesten in seiner berühmten Diskussion mit Constant über die Frage, ob es eine Pflicht sei, die Wahrheit zu sagen.42 Kant behauptete steif und fest, dass alle Politik als ausübende Rechtslehre ihre Knie vor dem Recht beugen müssten.43 „Das Recht muß nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Rechte angepaßt werden“44. Da Kant den politischen Bereich jenem Rechtsprinzip unterstellt, kann von einer Eigenständigkeit des Politischen nicht die Rede sein. Er glaubte daran, dass sozialstaatliches wie politisches Handeln überhaupt stets an den Begriff des Rechts gebunden sei, dies bedeute aber gerade keine Dichotomisierung von Recht und Politik, von formalen Grundsätzen und inhaltlichen Zielen, vom legalen Verhalten und moralischen Zwecken.45 Politik wird jeder Eigenmächtigkeit entkleidet, sie steht unter den kategorischen Normen der Moral und des Rechts und ist nicht befugt, Werte eigener Prägung in Umlauf zu setzen.46 Seinerseits brachte Marcic vor: „Ich lehre den Primat des Rechts gegen die Politik. Und dennoch: ich weiß nicht recht, wenn man seine und meine Gedankengänge genau verfolgt, ob in der Sache ein so großer Unterschied waltet wie in der Terminologie“47. Die Äußerung von Bachof „im Konflikt zwischen Recht und Politik ist der Richter nur dem Recht verpflichtet“ stellt auch den Primat des Rechts über die Politik klar.48 d) Primat der Politik über das Recht Wiethölter lehrt den Primat der Politik über das Recht.49 Für eine moderne politische Gesellschaft, schrieb er, die gleichermaßen den Faschismus als Produkt eines liberal-individualistisch-kapitalistischen Gesellschaftssystems wie den Stalinismus als Produkt eines sozial-kollektivistisch-sozialistischen Gesellschaftssystems ver41 42 43 44 45 46 47 48

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Grimm, in: FS Benda, S. 91, 100. Kant (1922), S. 201. Cavallar, S. 77 ff. Kant (1922), S. 205. Sassenbach, S. 167. Brandt, S. 31. Marcic (1969), S. 225. Bachof, in: Summum ius summa iniuria, S. 41, 57; ders., Universitas 21/1966, S. 137, Marcic (1969), S. 225.

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meiden will, ist Recht erst noch zu schaffen, nicht schon vorhanden. „Wir müssen Recht politisch entmachten, damit Recht seine eigene Macht entfalten lernt“50. Aber dies sei nur möglich durch eine politische Theorie des Rechts, denn „ohne politische Rechtstheorie für die Gegenwart einer politischen Gesellschaft, die ,begreift’, dass und wie wir verstrickt sind in eine überholte ,Rechtskultur‘, gelangen wir nicht auf die Höhe unserer Zeit, sondern erstarren wir in der Tiefe der Vorzeit“51. Die politische Rechtstheorie einer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft würde vor allem eine aus kritischer Empirie und Reflexion zu gewinnende und auszuführende Gesellschaftstheorie bedeuten. Sonst bleiben Armut, Macht, Hunger, Hass, Ausbeutung, Knechtschaft usw. „draußen vor der Tür“ des Rechts, aber natürlich nicht der Politik. Wiethölter plädiert für eine politische Theorie des Rechts, die die Wirklichkeitsentfremdung der Juristen und des Rechts überwindet.52 Er meinte damit nicht nur eine politische Rechtstheorie, sondern auch das Engagement des Juristen für eine der Idee des demokratischen Rechts- und Sozialstaates verpflichteten Interpretation und Entwicklung des Rechts.53 e) Innerer Widerspruch zwischen Recht und Politik Der Grundgedanke dieser These ist, dass sich Recht und Politik in einer dauerhaften Spannung befinden, weil die Essenz des Rechts und das Wesen der Politik unvereinbar seien. Leibholz54 und Klein55 nehmen diesen Standpunkt ein. Sie sind sicher, „daß in der idealtypischen Struktur zwischen dem Wesen des Politischen und dem Wesen des Rechts ein innerer Widerspruch besteht, der sich nicht auflösen läßt. Dieser läßt sich darauf zurückführen, daß das Politische seinem Wesen nach immer etwas Dynamisch-Irrationales ist, das die vitalen politischen Kräfte zu bändigen sucht. Es ist dieser latente Konflikt zwischen dem in ständiger Bewegung befindlichen Politischen und dem vorzugsweise in Ruhe verharrenden Recht, oder anders ausgedrückt, der Konflikt zwischen Existentialität und Normativität, oder in einem weiteren philosophischen Sinn zwischen Natur und sittlicher Vernunft“56. Auf diese 50

Wiethölter, S. 9; s. auch Neumann, in: Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, S. 145, 177 f. 51 Wiethölter, S. 10. 52 Wiethölter, S. 38. 53 Mayer-Maly (1981), S. 15. 54 Leibholz, JöR 6/1957, S. 109, 121 f. 55 Klein (1966), S. 29 ff. 56 Leibholz, JöR 6/1957, S. 109, 121 f.; Klein (1966), S. 29 ff.; s. auch Braun, S. 96. Gegen diese Ansicht sind mindestens zwei Argumente anzuführen. Zuerst, wenn Leibholz feststellt, dass das Wesen des Rechts in Ruhe verharrt, geht er von einer falschen Prämisse aus. Natürlich gibt es für das Recht „keinen Augenblick eines Stillstandes“, wie Savigny (1814), S. 11, sagte. Was Häberle (1998), S. 93 ff., von der kulturellen Grundierung des Verfassungsrechts behauptet hat, gilt auch hier für das Recht. Dieses Recht als Kultur (dazu s. auch Krüper, in: Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, S. 268 ff.) bewegt sich zwischen Tradition und Wandel, es hat dynamische und statische Momente. Dieser statische Augenblick besagt allerdings keine

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Weise wäre die Trennung zwischen Recht und Politik gerechtfertigt.57 Triepel widerlegte indes diese Ansicht.58 Für ihn gilt: „Das Wesen des Politischen steht nicht mit dem Wesen des Rechts in Widerspruch“, ähnlich meint Scheuner: „Politik ist kein Gegensatz zum Recht“59.

2. Häberles These – Recht und Politik als Teilfunktionen des ganzen res publica Bereits 1978 postulierte Häberle, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Verfahren aus dem verfassungsrechtlichen und politischen Blickwinkel einer pluralistischen Verfassungstheorie bedurften.60 Schon zwei Jahre zuvor hatte er seinen bedeutsamen Beitrag „Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit“61 verfasst, in dem er sowohl die Hauptprobleme als auch seinen eigenständigen Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit erläuterte. Er bettete die Diskussion über die wesentlichen Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit vor allem in die dogmatische Auseinandersetzung mit dem „Zusammenhang“ von Recht und Politik ein.62 a) Politikbegriff Sehr oft verabsolutiert man entweder Macht,63 Herrschaft und Konflikt als wesentliche Elemente der Politik64 (Theorie der intentionalen Bedeutung)65 oder die ständige Bewegungsunfähigkeit des Rechts. Die Frage nach der Starrheit oder nach der Beweglichkeit des Rechts ist daher keine alternative Frage (entweder … oder), sondern eine Frage der richtigen Zuordnung dieser Momente. Statische und dynamische Augenblicke des Rechts sind notwendig, um dem geschichtlichen Wandel gerecht zu werden (vgl. Hesse, (1995, Neudruck 1999), Rn. 36 ff. D. h. also, dass nicht nur die Politik dynamisch ist, sondern auch das Recht: law in action (vgl. Häberle ([1998], S. 303, 786). Zweitens schreibt Leibholz der Politik einen irrationalen Charakter zu. Aber die Ausübung der Politik ist im Verfassungsstaat nicht absolut frei. Sie ist Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten und wie es keine Öffentlichkeit außerhalb der Verfassung gibt, steht auch die rationale Übungspolitik stets innerhalb der Verfassung: Das Politische außerhalb der Verfassung existiert nicht. Recht und Politik stehen im demokratischen Verfassungsstaat nicht gegeneinander. Zu Recht meint Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 3 Anm. 6, dass die „Wesensthese“ von Leibholz und Klein nicht weiterhilft. 57 In Wirklichkeit besteht aber im modernen Verfassungsstaat kein unüberwindlicher Dualismus beider, vgl. Oberreuter, in: Nohlen (Hrsg.), Wörterbuch Staat und Politik, S. 820, 824). 58 Triepel, VVDStRL 5/1929, S. 2, 7 f.: „Ich kann mich aber auch nicht damit befreunden, daß zwischen ,Politischem‘ und ,Rechtsstaatlichem‘ ein Gegensatz geschaffen wird“. 59 Scheuner, in: FS Smend, S. 225, 260; ders. (1978), S. 78. 60 Häberle (1980), S. 61; ders. (1998), S. 147 f. 61 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1 ff. 62 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 2. 63 Zur Politik als Interessenkampf und Machtkampf s. Ebsen, S. 235 ff.

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Wohlfahrt und das Glück als ihren Bestandteil (Theorie der institutionellen Bedeutung).66 Die Anschauung von der dynamischen und irrationalen Politik als Technik zum Machterwerb und zur Machtbewahrung für beliebige Zwecke ist auch in Häberles Theorie überholt. Politik ist für ihn weder die bloße „Beeinflussung der Leitung eines politischen Verbandes, heute also: „eines Staates“67, noch die Kunst der Machtausübung durch die von Schmitt überspitzt vorgeschlagene „Unterscheidung von Freund und Feind“68. Für einen geeigneten Begriff der Politik ist es nicht hilfreich, die bereits genannten einzelnen Teilelemente der Politik in Betracht zu ziehen,69 denn ein rechtsfreies Verständnis des Politischen bestehe nicht mehr.70 Daher soll umfassend verstanden werden, was die Politik in der Verfassungstheorie des Pluralismus bedeutet.71 So ist Häberles Politikbegriff sowohl an das Möglichkeitsdenken als auch an die Kategorie des res publica geknüpft. Die Politik als Kunst des Möglichen72 und des Notwendigen73 bedeutet „die Kunst, morgen das möglich zu machen, was heute vielleicht unmöglich erscheint“74. Das Wort „Kunst“ hat hier nichts mit Ästhetischem, sondern, wie Bloch bemerkt, „mit einem Können zu tun. In dem Wort ,können‘ steckt ein64 „Wenn Juristen gleichwohl beginnen, sich in systematischer Absicht einen Begriff des Politischen zu machen, erscheint unweigerlich der Name Carl Schmitt, und zwar als Menetekel“. Sein berühmtes Freund-Feind-Verhältnis „ist kein juristischer, bei näherem Hinsehen auch kein wissenschaftlicher, sondern ein politischer Begriff – ein Kunstgriff, der mit der Evidenz einer heimlich normativ zugerichteten Empirie operiert“, vgl. Di Fabio (2001), S. 5 ff. 65 Sternberger, PVS 24/1983, S. 6, 12 ff.; ders. (1978), S. 19 ff. 66 Die intentionalen und institutionellen Bedeutungen sollen nicht übersehen werden, der Begriff „Politik“ soll sie miteinander verknüpfen, weil sie zusammengehören, vgl. Sternberger, PVS 24/1983, S. 6, 12. 67 Weber (1964), S. 7 ff. 68 Schmitt (1963), S. 26 ff.; Gunst, S. 99. Es ist erstaunlich, dass die Politik noch heute als Freund-Feind-Verhältnis definiert ist: „Während das Recht durch die Differenz von Recht und Unrecht konstituiert wird, ist die maßgebliche Unterscheidung im Bereich der Politik die zwischen Freund und Feind. Der erfolgreichste Politiker ist dementsprechend derjenige, der am besten weiß, wie man Freunde gewinnt und seinen alten Feinden schadet“, vgl. Braun, S. 97. 69 von der Gablentz, in: Hoffmann (Hrsg.), Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 52, 71, spricht von einer Machtheorie der Politik (hier steht die Macht im Mittelpunkt der Betrachtung) und von einer Theorie der Gestaltung (Politik als Gestaltung des öffentlichen Lebens). Für ihn ist Politik Macht und Kampf, Gestaltung und Ordnung. „In der Politik geht es um das Recht […]. Politik ist Kampf um die gerechte Ordnung“. 70 Häberle (2006), S. 511 Anm. 24. 71 Häberle (1980), S. 63. 72 Häberle (1998), S. 21: „Die Relevanz von Möglichkeitsdenken hat Bismarck in seinem Wort von der Politik als ,Kunst des Möglichen‘ zur Sprache gebracht“; ders. (1980), S. 4. 73 Häberle (2013), S. 81. 74 Häberle (1998), S. 57. Nach Arndt (1965), S. 7, ist die Politik „eine Art des Menschen, Wirklichkeit zu verlieren oder Wirklichkeit zu bewältigen. Politik ist im Rückblick und im Vorblick auf Wirkliches gerichtet – im Rückblick auf das im Stand der Geschichte Verwirklichte, im Vorblick auf das, was geschichtlich zu verwirklichen notwendig ist, um das Dasein des Menschen möglich zu machen“.

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leuchtenderweise ebenfalls die Kategorie Möglichkeit. Politik als Kunst des Möglichen ist so ein Können, das nach Maßgabe des Möglichen weiß, was es will und will, was es kann“75. Es gibt keine Politik in einer totaldeterminierten Welt, dagegen besteht, wenn nicht alles determiniert ist, Raum für die Möglichkeit und für die Definition. Daher besagt Möglichkeit partiale Determiniertheit.76 Aus diesem Grund transportiert der pluralistische Politikbegriff für Häberle Abwechslung, Toleranz, Minderheitsrechte, Repräsentation nicht organisierter Interessen, soziale Grundrechte sowie Sondervoten.77 Sie sind stets unvollendete verfassungsrechtliche Aufgabe, die Raum für Möglichkeitsdenken bieten. Die so verstandene Politik zeigt deutlich, dass Minderheiten die Möglichkeit haben, die Mehrheit zu werden oder dass soziale Grundrechte eine bessere Chance auf ihre Rechtswirksamkeit haben.78 Politik ist zudem durch ihren potenziellen oder aktuellen Bezug auf das ganze res publica zu qualifizieren.79 Dies bedeutet, dass „es keinen rechtsfreien Begriff des Politischen (mehr) gibt“80. In diesem Sinne versteht Häberle die Politik als Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten, als gute Ordnung,81 die jedoch kein konfliktfreier Bereich und kein Konfliktverbot ist,82 der sozialen Verhältnisse, als Einflussnahme auf die Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen.83 Um mit von Simson zu sprechen, ist die Politik „die Verfolgung gemeinsamer staatlicher und gesellschaftlicher Ziele“84. Politik lässt sich ferner als öffentlicher Konflikt von Interessen unter den Bedingungen von Machtgebrauch und Konsensbedarf verste75

Bloch (1985), S. 414. Bloch (1985), S. 412 f. 77 Häberle (1998), S. 19 ff.; ders. (1980), S. 3 ff. Man kann es nicht akzeptieren, wenn Di Fabio sagt, dass der Kern des Politischen die Macht ist, denn das Politische besagt auch Konsens, Toleranz und Pluralismus. 78 Häberle, VVDStRL 30/1972, S. 43 ff. 79 Häberle (1980), S. 63. 80 Häberle (2006), S. 511 Anm. 24. 81 Stammler, (1964), S. 200: „Nun geht alle Politik darauf aus, gute soziale Zustände zu bewirken“; ders., in: Maihofer (Hrsg.), Begriff und Wesen des Rechts, S. 356, 378 ff. 82 Häberle (1998), S. 281; Ihering (1893), S. 378; ders. (1924), S. 175: „Nur wo die Staatsgewalt selber die von ihr vorgeschriebene Ordnung befolgt, gewinnt letztere ihre rechte Sicherheit, nur wo das Recht herrscht, gedeiht der nationale Wohlstand, blühen Handel und Gewerbe, nur da entfaltet sich die dem Volke innewohnende geistige und moralische Kraft zu ihrer vollen Stärke. Das Recht ist die wohlverstandene Politik der Gewalt – nicht die kurzsichtige Politik des Augenblicks, des momentanen Interesses, sondern die weitsichtige Politik, welche in die Zukunft blickt und das Ende erwägt. Die Bedingung dieser Politik ist die Selbstbeherrschung“. 83 Scheuner (1978), S. 173 f., versteht die Politik „als oberste, alle sozialen Kräfte ordnende Gestaltung und Befriedigung des menschlichen Zusammenlebens unter dem Gebot des Gemeinwohls, so ist der politische Bereich im Staat derjenige, in dem die Auseinandersetzung um die aktualen Ziele des Gemeinwesens, um die Interpretation des Gemeinwohls stattfinden; s. auch Wassermann, S. 3; Gunst, S. 103. 84 Simson, in: Haungs (Hrsg.), Res Publica, S. 370, 371. 76

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hen.85 In Anlehnung an Smend86 hat Hesse die Politik „als das Ringen derjenigen Kräfte, aus deren Mit- und Gegeneinander die Lebens- und Organisationsformen des Gemeinwesens und ihr Verhältnis zueinander erwachsen, das zur Integration führt“87, definiert. Da das Häberle’sche Politikverständnis „auf der Tatsache der Pluralität der Menschen“88 beruht, ist der Konsens Ziel und Gegenstand der Politik.89 Damit dem Konsensbedarf genüge getan wird, sind alle staatlichen Funktionen als politische Funktionen zu verstehen, selbst die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit.90 Darüber hinaus muss man sich, wenn man Politik betreibt, bewusst sein, dass man Verantwortung trägt.91 Gegenstand dieser Verantwortung ist „die res publica, die öffentliche Sache, die in einer Republik latent die Sache Aller ist“92. Die Ausübung der Macht bzw. der Politik – sagt Jonas – ohne die Beachtung der Pflicht ist „unverantwortlich“93, d. h. ein Bruch des Treueverhältnisses der Verantwortung. Die Verfassung kennt allerdings keine Macht ohne Verantwortlichkeit.94 Zusammenfassend ist mit Häberle zu sagen: Politik ist die Kunst des Möglichen und des Notwendigen, die verantwortliche und rationale Ausübung der Macht, die kein Zweck an sich ist, um einen demokratischen Konsens zu erzielen; die gute Ordnung und der Friede95 einer offenen und pluralistischen Gesellschaft, an der alle Bürger, verfassungsrechtlichen Organe und Institutionen teilhaben.

85 Alemann, in: Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, S. 1084; Hesse (1984), S. 250, meint, die Politik sei „das Ringen derjenigen Kräfte, aus deren Mit- und Gegeneinander die Lebens- und Organisationsformen der Gemeinwesen und ihr Verhältnis zueinander erwachsen, das Ringen, das zur staatlichen Integration führt“. 86 Smend, in: FG Kahl, S. 1, 16 ff.; ders. (1994), S. 78 ff. 87 Hesse (1984), S. 250. 88 Arendt, S. 9. 89 Häberle, ZHR 1972, S. 425, 439: „Mehrfach findet sich eine Beschwörung des Politischen, das offenbar dezisionistisch, aktionistisch, staatsbezogen ist und stark am machtvoll verstandenen Konflikt (nicht am Kompromiß) orientiert ist“. 90 Häberle (1980), S. 63. 91 Häberle, ZHR 1972, S. 425, 438: Politik wird aus der konkreten Verantwortung freier Entscheidungen Einzelner und der Gruppen herausgenommen, ihr Ort im Kontext des Notwendigen und Möglichen, ihre Einbettung im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang ist verkannt. 92 Jonas, S. 181. 93 Jonas, S. 172 ff. Nach Scheuner (1978), S. 26, ist Macht nicht der Sinn des politischen Lebens, sondern Voraussetzung für die Erfüllung der befriedenden und ordnenden Funktion. 94 Hesse (1984), S. 85. 95 Sternberger (1961), S. 18: „Der Gegenstand und das Ziel der Politik ist der Friede“ […] „Der Friede ist die politische Kategorie schlechthin“.

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b) Recht und Politik nach Häberle Während im dualistischen Trennungsdenken Recht und Politik als Gegenpole erscheinen,96 bringen sie sich für Häberle in Verbindung. Vielmehr stehen sie in einem engen Zusammenhang zueinander,97 dermaßen, dass sich Recht und Politik nicht säuberlich voneinander trennen lassen.98 Er weist mit allem Nachdruck darauf hin, dass die vermeintlich unpolitische Eigenständigkeit und Neutralität des Rechts gegenüber dem Politischen längst als Selbstbetrug erkannt wurde.99 Er sagt ferner: „Wenn Recht geschaffen ist, hört die Politik noch nicht auf. Scheidet eine Identifizierung von Recht und Politik aus, ebenso ihre wechselseitige Instrumentalisierung,100 so ist doch auch die Meinung vom schlichten Nebeneinander abzulehnen: zugunsten einer funktionalen Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Instanzen in verschiedenen Verfahren im Rahmen desselben politischen und Rechtssystems“101. Zwei Aspekte können hier hervorgehoben werden. Zum einen vertritt Häberle weder einen Dualismus noch eine völlige Identifizierung von Recht und Politik. Sie sind dagegen partielle Elemente des res publica, die gemäß dem Kriterium der Arbeitsteilung organisiert werden müssen. Zwischen beiden existieren sowohl Koinzidenz als auch Spannungen, die freilich gelöst werden können. Die Ausrichtung an der Macht, an ihrem Erwerb, ihrer Ausübung und ihrer Kontrolle bildet nur eine Seite der Politik.102 Es gibt keinen Beginn und kein Ende im Verhältnis von Recht und Politik,103 denn das heutige Recht ist das Ergebnis der Politik von gestern, und die Politik von heute schafft das Recht von morgen.104 Eine Vorrangstellung von einem

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Man darf Recht und Politik nicht absolut voneinander trennen; der wirkliche Staat lebt, d. h., er ist Verbindung von Recht und Politik. Auch das Recht ist nicht absolut ruhend, nicht unveränderlich, und die Bewegung der Politik will wieder zur Ruhe kommen, vgl. Bluntschli, S. 2. 97 Häberle, DVBl 1973, S. 388. 98 Schulze-Fielitz, AöR 1997, S. 1, 14. 99 Häberle (1998), S. 280. 100 Zur Instrumentalisierung von Recht und Politik und umgekehrt s. Bluntschli, S. 3: „Das Recht ist eine Voraussetzung der Politik, eine Grundbedingung ihrer Freiheit, freilich nicht die einzige. Die Politik soll sich mit Beachtung der rechtlichen Schranken entfalten. So überstimmt sie die Sorge für die wechselnden Bedürfnisse des Lebens. Das Recht hinwieder bedarf der Politik, um vor Erstarrung gesichert zu bleiben und mit der Entwicklung des Lebens Schritt zu halten. Ohne den belebenden Hauch der Politik würde der Rechtskörper zum Leichnam werden, ohne die Grundlage und die Schranken des Rechts würde die Politik in ungezügelter Selbstsucht und in verderblicher Zerstörungswuth untergehen“. 101 Häberle (1998), S. 280. 102 Häberle (1998), S. 281. 103 Die Verfassunggebung erscheint im Rahmen des Verfassungsstaates nicht unbegrenzt, er kennt im Interesse der Freiheit nur rationale, beschränkte Kompetenzen, Vollmachten und Mandate, so Ehmke (1981), S. 476. 104 Zeidler, in: Schäfer/Zeidler, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, S. 43, 45.

I. Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik

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gegenüber dem anderen existiert auch nicht.105 Immerhin sind Recht und Politik auf ein gutes Handeln gerichtet.106 Zum anderen bringt die Parole Politisierung und Entpolitisierung keinen Wert an sich mit, daher ist es irreführend, wenn man in der Gegenwart von Verrechtlichung der Politik oder Politisierung des Rechts von vornherein dichotomisch als etwas Gutes oder etwas Schlechtes spricht.107 Entscheidend ist demgegenüber die Frage, „in welcher Weise und mit welchen Zielen und in welchen Grenzen ,politisiert‘ werden soll“108. Um sich mit politischen Zusammenhängen rational auseinandersetzen zu können, müssen sie offengelegt werden, obschon die Emotio aus der Politik aus anthropologischen Gründen109 nicht komplett verbannt werden kann.110 Um politisches Denken und Handeln zu ermöglichen, muss es darüber hinaus „private und unpolitische Schutzzonen geben“111. Selbst Häberle stellt fest, dass Begriffe wie Fachwissen und Sachverstand nicht als unpolitisch gekennzeichnet werden können.112 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Recht und Politik in Häberles Theorie nicht als zwei unabhängige Kreise darstellen, die sich in einem Punkte, dem Gesetz, berühren, wobei der Norminhalt als politisch, Normgewinnung und Normanwendung als der Rechtssphäre zugehörig erscheinen: „Die politische Welt erstreckt vielmehr ihren Bereich bis tief in das Rechtsgebiet hinein“113. Recht als Kontrolle staatlicher und gesellschaftlicher Macht und als Ermächtigung zur Macht (z. B. Kompetenzen der Verfassung) sind auch Formen der Politik,114 die durchaus an Normen gebunden sind.115 Mit vollem Recht meint Häberle, dass die Vokabel „unpolitisches Recht“ nicht weiterführen kann.116 Recht und Politik stehen sich im demokratischen Verfassungsstaat nicht gegenüber, sie sind „Teilaspekte, Teilfunktionen der ganzen res publica“117. 105 Daher müssen Grimms Parolen „Recht als Produkt und Werkzeug der Politik“, „Recht als Rahmen und Maßstab der Politik“ abgelehnt werden, da sie ein Primat des Rechts über die Politik und umgekehrt transportieren, vgl. Grimm, JuS 1969, S. 501, 502 ff. 106 Pawlowski, Rn. 11. 107 So aber Grimm, in: FS Benda, S. 91, 93 ff. 108 Häberle (1998), S. 281. 109 Menschen haben ein rationelles, aber auch emotionelles Wesen, dazu Häberle (2008), S. 17 ff. 110 Häberle (1998), S. 281. 111 Häberle (1998), S. 281. 112 Häberle (1998), S. 281. 113 v. Hippel, AöR 1927, S. 393, 405. 114 Häberle (1998), S. 282. 115 Häberle (1998), S. 282. 116 Häberle (1980), S. 59 f. 117 Häberle (1980), S. 63 f. Doch unterschieden sie sich durch die Art und Weise, wie sie im Rahmen der republikanischen Arbeitsteilung agieren, stehen aber nicht etwa dem Recht gegenüber; s. auch Gschiegl, S. 27: Zum einen ist die Politik durch die rechtlich vorskizzierten

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D. Verfassungsgerichtsbarkeit im Kern des Rechts und der Politik

II. Verfassungsrecht als politisches Recht 1. Der staatsrechtliche Positivismus Man sagt, dass die Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts die Geschichte des Rechtspositivismus ist, denn in dieser Epoche wurde die Methode der deutschen Staatsrechtslehre geformt.118 Paradoxerweise war kein Staatsrechtslehrer, sondern ein Privatrechtslehrer, Gerber, der Initiator der staatsrechtlichen Methodenlehre.119 Neben Ihering hatte er seine methodische Vorstellung zunächst einmal für das Zivilrecht in der Einleitung zu seinem „System des deutschen Privatrechts“ von 1848 entwickelt und sich erst später dem Staatsrecht zugewendet.120 So behauptete er: „Das System des Privatrechts ist ein System von Willensmöglichkeiten, welche durchweg an die Willensmacht der individuellen menschlichen (oder ihr nachgebildeten) Persönlichkeit angeknüpft sind. Auch das Staatsrecht ist ein System von Willensmöglichkeiten, aber angeknüpft an die mit Persönlichkeit bekleidete Macht des politisch geeinten Volks“121. Mit diesen bloßen Übertragungen versuchte er, eine Theorie des Staatsrechts zu errichten. Nach Gerber hat das Staatsrecht als wissenschaftliche Lehre die Entwicklung des dem Staate als solchem zustehenden Rechts zum Gegenstand, die Willensmacht des Staates, die Staatsgewalt, sei das Recht des Staates.122 Hiernach sei das Staatsrecht „die Lehre von der rechtlichen Bestimmung des staatlichen Lebensorganismus, so gehört dahin auch nur die Entwickelung derjenigen Rechtssätze und Rechtsinstitute, welche sich unmittelbar auf die Lebens- und Willenskraft des Staates beziehen“123. Das Staatsrecht erscheint so als „eine Summe von Rechtssätzen und Rechtsinstituten“124, die allerdings fest gefügt und den wechselnden Einflüssen des Tages entzogen sein müssten.125 Er möchte die Dogmatik des Staatsrechts in dreierlei Hinsicht verbessern: erstens durch Präzisierung der Grundbegriffe, zweitens durch Konstruktion eines Systems und drittens durch den Ausschluss des Verwaltungsrechts aus der Staatsrechtslehre.126 Ferner müsste diese Dogmatik von allen philosophischethisch-politischen Betrachtungen gereinigt werden. Er sagt: „Seine Betrachtung soll nur eine rechtswissenschaftliche sein; das Politische ist nicht Zweck, sondern nur Handlungsspielräume determiniert, zum anderen übernimmt die Politik in demokratischen Verfassungsstaaten die Rolle der zentralen Schöpferin von Recht. 118 Bärsch, in: Sattler (Hrsg.), Staat und Recht, S. 43. 119 Müller, in: Brunkhorst/Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik, S. 191, 192. 120 Koch, S. 61. 121 Gerber (1880), S. 4 Anm. 2. 122 Gerber (1880), S. 3. 123 Gerber (1880), S. 4. 124 Gerber (1880), S. 5. 125 Gerber (1880), S. 8. 126 Gerber (1880), S. V ff.; s. auch dort die Einleitung von Pöggeler, S. 11*.

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Material“127. Daher müsste sich der Stoff der Staatsrechtswissenschaft auf das eigentliche Verfassungsrecht begrenzen, in technischem Sinne bedeutete diese Abgrenzung, dass die Staatsrechtslehre das gesetzte Recht zum Gegenstand allein hatte.128 Laband führte die Leitlinie des staatsrechtlichen Positivismus weiter, obwohl er in der Tat „als der geistige Testamentsvollstrecker Gerbers für das Staatsrecht des deutschen Reiches“ erscheint.129 Er war der Meinung, dass die Verfassung des Reichs nicht mehr der Gegenstand des Parteistreites sei, sondern Grundlage für alle Parteien und ihre Kämpfe.130 Mit dem Ausbau der Verfassung und ihrer Durchführung gliederten sich die Verhältnisse des neuen öffentlichen Rechts, aber auch stelle sich die Herausforderung, ihre einheitlichen und leitenden Prinzipien festzuhalten; „es entstehen durch die Praxis selbst in unerschöpflicher Fülle neue Fragen und Zweifel, welche nicht nach dem politischen Wunsch oder der politischen Macht, sondern nach den Grundsätzen des bestehenden Rechts entschieden werden müssen“131. Ähnlich wie Gerber dachte auch Laband daran, dass „auf dem Gebiete des Staatsrechts zahlreiche Begriffe wiederkehren, welche ihre wissenschaftliche Feststellung und Durchbildung zwar auf dem Gebiete des Privatrechts gefunden haben, welche ihrem Wesen nach aber nicht Begriffe des Privatrechts, sondern allgemeine Begriffe des Rechtes sind. Nur müssen sie allerdings von den spezifischen privatrechtlichen Merkmalen gereinigt werden“132. Laband wusste seitens des augenscheinlichen Mankos dieser bloßen zivilistischen Behandlung des Staatsrechts, dass sich unter der Verurteilung der zivilistischen Methode oft die Abneigung gegen die juristische Behandlung des Staatsrechts versteckt, „und indem man die Privatrechtsbegriffe vermeiden will, verstößt man die Rechtsbegriffe, um sie durch philosophische und politische Betrachtungen zu ersetzen“133. Er gestand ferner die Wichtigkeit und Bedeutung der Geschichte, Volkswirtschaftslehre, Politik und Philosophie für die Erkenntnis der Rechtswissenschaft zu, dennoch war die Dogmatik für ihn „nicht die einzige Seite der Rechtswissenschaft, aber sie ist doch eine derselben“134. Um Rechtsinstitute und -begriffe zu konstruieren, gebe es kein anderes Mittel als die „rein logische Denktätigkeit“ bzw. die Logik;135 „dieselbe läßt sich für diesen Zweck durch nichts ersetzen; alle historischen, politischen oder philosophischen Betrachtungen – so wertvoll sie an und für sich sein mögen – sind für die Dogmatik eines konkreten 127 128 129 130 131 132 133 134 135

Gerber (1852), S. 28. Wilhelm, S. 134 ff. Landsberg, S. 833. Laband, S. V. Laband, S. VI f. Laband, S. VII. Laband, S. VII. Laband, S. IX. Laband, S. IX.

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Rechtsstoffes ohne Belang und dienen nur zu häufig dazu, den Mangel an konstruktiver Arbeit zu verhüllen“136. Damit ist das Politische von Neuem aus dem Staatsrecht ausgeschieden. Später kritisierte Gierke teilweise die Methode Labands und bestätigte zugleich: „Der wissenschaftliche Fortschritt, der durch das Buch vollzogen ist, beruht in seinem Kerne darauf, daß Laband bei seiner Darstellung des deutschen Reichsstaatsrechtes in größerem Stile und mit strengerer Konsequenz, als Andere vor ihm, den Gedanken durchgeführt hat, daß das Staatsrecht Recht und nichts als Recht ist“137. Gierke, der auch an die Selbstständigkeit des Staatsrechts glaubte, kritisierte an den zeitgenössischen staatsrechtlichen Arbeiten, dass sie in einer nebeligen Atmosphäre, in welcher die Grenzen zwischen juristischer Erörterung und politischen, ethischen oder wirtschaftlichen Erwägungen unklar verschwimmen, herstellt worden seien.138 Daher sagte er, dass die wichtigste Aufgabe einer echten Staatsrechtslehre „die saubere Trennung des Rechtes von der Politik“ sei.139 Die Versuche von Gerber und Laband, eine eigene Methode für die Staatsrechtslehre auszuarbeiten, fand auch in Kelsen ihre Kontinuität. Die Methode von Kelsen zielt „auf eine Theorie des positiven Staates, das heißt aber auf eine streng juristische und nicht politisch gefärbte Staatsrechtslehre“140. Wie seine Vorgänger versuchte er auch die Schaffung einer Staatsrechtslehre unabhängig „von einer nebulosen Staatsmetaphysik“141. Bei ihm liegt diese Trennung in der Verschiedenheit der Problemstellung der Staatsrechtslehre und der Politik. „Nicht ob der Staat, nicht warum und wie er sein soll, wie die Politik, sondern was der Staat und wie er ist, fragt die Staatslehre“142. Deshalb sei im Unterschied zur Politik, deren Forderung die Gerechtigkeit sei, der wirkliche und seiende Staat das positive Recht.143

2. G. Jellineks Theorie G. Jellineks Werk ist nach Kelsen144 die vollendete Zusammenfassung der Staatslehre des 19. Jahrhunderts. Die allgemeine Staatslehre von Jellinek hat zwei Hauptgebiete: erstens die „allgemeine Soziallehre des Staates“, die den Staat als 136

Laband, S. IX. Gierke, S. 4. 138 Gierke, S. 8. 139 Gierke, S. 9; s. auch Koch, S. 62. 140 Kelsen (1966), S. VII. 141 Kelsen (1966), S. VII. 142 Kelsen (1966), S. 44. 143 Kelsen (1966), S. 45. 144 Kelsen (1966), S. IX. Fraglich und umstritten ist, ob und inwieweit G. Jellinek Rechtspositivist ist, dazu Tsatsos (1964), S. 19; Kettler, S. 106 ff. Zur Frage, ob G. Jellinek eine neue Methode begründet hätte, s. Herwig, in: Sattler, (Hrsg.), Staat und Recht, S. 75 ff. 137

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gesellschaftliches Gebilde in der Totalität seines Wesens betrachtet; zweitens die „allgemeine Staatsrechtslehre“, die Erkenntnis der rechtlichen Natur des Staates und der staatsrechtlichen Grundbegriffe ist.145 Wie gezeigt hatten Gerber und Laband einen strengen juristischen Positivismus verfochten, der alle politischen und sozialen Elemente aus der Rechtsbetrachtung ausschied. G. Jellinek bekämpfte diese Auffassung,146 weil die Feststellung des Inhaltes aller Rechtssätze mit der reinen Logik nicht möglich sei und die Grundbegriffe des Staatsrechts, die alle übrigen tragen, der rein logischen Behandlung spotten.147 Er argumentierte darüber hinaus, auch wenn Recht und Politik so wenig wie möglich miteinander vermischt werden sollten und ihre scharfen Grenzen so sehr jederzeit zu beachten seien, so sei doch eine „ersprießliche staatsrechtliche Untersuchung ohne Kenntnis des politisch Möglichen ausgeschlossen“148. Auch für die fruchtbare Untersuchung der staatsrechtlichen Probleme ist die Erkenntnis des Zusammenhanges von sozialer Staatslehre und Staatsrechtslehre von höchster Bedeutung.149 Zwar verfocht G. Jellinek die Berücksichtigung sozialer und politischer Elemente, doch sprach er nicht von einer politischen Staatsrechtslehre. Im Anschluss an Laband sagte er, dass die Rechtsdogmatik die Erforschung des geltenden positiven Rechts sei, und die politische Erkenntnis lehre vor allem, die Grenzen sicherer Untersuchungen festzustellen.150 Daher bot er für das Verhältnis zwischen Staatsrechtslehre und Politik zwei Maximen an: zum einen solle die Staatsrechtslehre nicht das politisch Unmögliche aufbauen, zum anderen solle eine Vermutung für die Rechtsmäßigkeit der Handlungen oberster Staatsorgane sprechen.151

3. Staatsrechtslehre und Politik Vor allem die positivistischen Anschauungen G. Jellineks und Kelsens wurden von Heller heftig kritisiert. Im Vergleich zu Kelsen steht Hellers Staatslehre – wie er selbst sagte – „in ihrer Fragestellung viel näher der ,Politik‘“152. Er hielt das Problem der Grenze zwischen Staatslehre und Politik für schwierig. Ironisch aber stellte Heller fest, dass dieses Problem einfach werde, „wenn unter allgemeiner Staatslehre nur die dogmatische Beschäftigung mit den allgemeinen positiven Staatsrechtsbegriffen verstanden wird, was aber folgerichtig nur möglich ist in einer Staatslehre

145 146 147 148 149 150 151 152

G. Jellinek (1966), S. 10 f. Kleinheyer/Schröder, S. 141. G. Jellinek (1966), S. 16. G. Jellinek (1966), S. 16. G. Jellinek (1966), S. 12. G. Jellinek (1966), S. 16. G. Jellinek (1966), S. 17 f.; Kersten, S. 462. Heller, S. 4.

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D. Verfassungsgerichtsbarkeit im Kern des Rechts und der Politik

ohne Staat, d. h. dort, wo die Rechtsordnung und der Staat identifiziert werden“153. Daher teilte er nicht den Glauben an eine scharfe Grenze zwischen Politik als praktischer und wertender Wissenschaft einerseits und der Staatslehre als theoretischer und wertfreier Wissenschaft andererseits.154 Die Staatslehre ist laut Heller in Wahrheit auch eine praktische und keine wertund politikfreie Wissenschaft.155 Der Traum von Kelsen, eine radikal entpolitisierte Staatslehre zu schaffen, sei unmöglich: „An die Verwirklichung dieses Traumes konnte nur glauben, wer den Staat als historisch-politische Wirklichkeit verneinte. Diese Negation wird von Kelsen – durchaus in der Linie der herrschenden Lehre von Gerber und Laband – in der Weise vollzogen, dass der Staat sinneswissenschaftlich zu einer ideellen Normordnung entwirklicht und diese möglichst inhaltlosen, trotzdem aber selbstverständlich gegenwartsgebundenen Rechtsformen auch noch als geschichtstranszendent verabsolutiert werden. Paradoxerweise ergibt nun das Kelsensche Experiment zwar eine entstaatlichte, aber beileibe nicht eine entpolitisierte Staatslehre“156. In dem Maße, wie Staatslehre und Politik sich gar nicht trennen lassen, bedarf es auch nicht einer Ergänzung jener durch diese.157 Sein und Sollen seien keine absoluten Gegensätze, denn alle Seinsurteile der Staatslehre, argumentierte Heller, sind in einem gewissen Grade zugleich auch Sollensurteile.158 Dies zeige, wie die praktische Politik „nur die Kunst des Möglichen ist, so bekommt auch die Theorie erst im Hinblick auf das politisch Mögliche ,Inhalt und Ziel‘“159. Insofern bleiben politische Wirklichkeitserkenntnis und Wertung untrennbar verknüpft.160 In der Auseinandersetzung über das Verhältnis von Staatsrecht und Politik wird das Denken von Laun häufig ungerechtfertigt vergessen.161 Nach ihm könne die Wissenschaft absolut objektiv nicht sein, stets könne bei einem Erkenntnisprozess psychologisch ein subjektiver Einschlag eine Rolle spielen, was für die Staatslehre auch gelte.162 Da die Staatslehre mit den politisch umstrittensten Dingen zu tun habe, sei es besonders schwierig, in der Staatslehre objektiv zu sein.163 Für Laun steht der Staatsrechtslehrer an einem Punkt, an dem die Staatslehre und die Rechtswissenschaft in die praktische Politik, d. h. in das Ringen der Menschen um die Macht, unmittelbar eingreifen und von diesem Ringen unmittelbar beeinflusst werden.164 In 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164

Heller, S. 52. Heller, S. 51 ff. Heller, S. 52. Heller, S. 54. Heller, S. 55. Heller, S. 55. Heller, S. 56. Heller, S. 57. So Koch, S. 61. Laun (1947), S. 21 ff. Laun (1947), S. 22. Laun, AöR 1922, S. 145.

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diesem Rahmen muss man sich über zwei Fragen klar werden: erstens, inwiefern der Staatsrechtslehrer selbst bei seinen Theorien von eigenen oder fremden subjektiv bedingten Werturteilen beeinflusst ist, zweitens, wie seine Theorien fremde Werturteile beeinflussen und deshalb in die praktische Politik eingreifen.165 „Der Jurist, mag er noch so sehr ,Positivist‘ sein, schöpft die Beantwortung der Rechtsfragen nicht bloß aus Gesetz und Logik, sondern auch aus seinem metaphysischen Glauben“166. Daher hielt es Laun für richtig zu sagen: „Die ,dogmatische’ Auslegung und Anwendung des Rechtes ist notwendig von den subjektiven politischen Werturteilen des Individuums, das es auslegt und anwendet, abhängig“167. Es gehe um eine Rückkehr zur Politik, aber nicht zum Dogmatismus des alten Naturrechts.168 Zudem gebe der Staatsrechtslehrer unter Umständen auch durch außeramtliche Handlungen, Briefe, Gutachten usw. eine bemerkenswerte politische Meinungsäußerung ab,169 so müsse der Einfluss der (Staats-)Rechtswissenschaft auf die Politik erhöht werden.170 Offenbar ist daher, dass „für eine nicht voreingenommene Betrachtung die ,Politisierung‘ keinen Vorwurf, die ,Entpolitisierung’ kein Lob bedeutet“171. In seiner berühmten Rektoratsrede von 1926 sagte Triepel172, dass das Staatsrecht „im Grunde gar keinen anderen Gegenstand als das Politische“ habe. Vom staatsrechtlichen Positivismus her meinte er, dass sich die Rechtswissenschaft nicht auf logische formale Konstruktionen beschränken solle, denn jede Rechtsordnung sei für sich etwas Gegebenes, also ein Sein, und diese Gegebenheit könne gar nicht ohne Rücksicht auf die sozialen Beziehungen, die Recht normieren, begriffen werden. Er fasste unter Politik das staatliche Handeln, die Leistung des Staats und die Einwirkung auf die Staatsangelegenheiten, die „bewußte Staatspraxis“ auf.173 Politisch sei daher alles, „was sich auf die Staatszwecke oder auf deren Abgrenzung gegenüber individuellen Zwecken bezieht, so ist es klar, daß eine allseitige Erfassung der Normen des Staatsrechts ohne Einbeziehung des Politischen gar nicht möglich ist“174. Kein Jurist, meinte er, könne mit der formalen Logik ein vernünftiges Ergebnis erzielen; was wesentlich oder unwesentlich sei, lasse sich nur durch ein Werturteil feststellen.175 „Selbst bei ganz einfachen Subsumptionen kommen wir häufig ohne Zweckerwägungen und Werturteile nicht aus“176. So ist es keine 165

Laun, AöR 1922, S. 145, 146. Laun, AöR 1922, S. 145, 162, 178: „Der Lehrer der Rechts- und Staatsrechtswissenschaften lehrt demnach nicht nur ,objektive‘ Erkenntnis, sondern auch subjektive Werturteile“. 167 Laun, AöR 1922, S. 145, 162. 168 Laun, AöR 1922, S. 145, 176. 169 Laun, AöR 1922, S. 145, 186. 170 Laun, AöR 1922, S. 145, 192. 171 Laun, AöR 1922, S. 145, 196. 172 Triepel (1927), S. 12. 173 Triepel (1927), S. 11. 174 Triepel (1927), S. 20. 175 Triepel (1927), S. 32. 176 Triepel (1927), S. 32. 166

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D. Verfassungsgerichtsbarkeit im Kern des Rechts und der Politik

Übertreibung, wenn Triepel feststellte, dass „die Mehrzahl der für das Staatsrecht maßgebend gewordenen Staatstheorien, die ja größtenteils juristische Konstruktionen gewesen sind, im Hinblick auf politische Ziele aufgestellt und zur Rechtfertigung politischer Akte verwendet worden ist“177. Hier erinnerte er paradoxerweise an ein Vorbild des Hauptvertreters der antipolitischen Richtung der Staatsrechtslehre. Die Lehre Labands vom Unterschied zwischen Gesetz im materiellen und im formellen Sinne – scheinbar unpolitisch oder politisch neutral – hatte für Triepel „sicher eine politische Tendenz und die Leidenschaftlichkeit, mit der sie von Hänel bekämpft wurde, besaß einen politischen Hintergrund“178. Triepel fand die teleologische Methode für den Gegenstand der Rechtswissenschaft adäquat, denn diese sei selbst nichts als ein Komplex von Werturteilen über Interessenkonflikte.179 Er sprach sich daher für eine Verbindung der politischen Erwägung mit der logischformalen Begriffsarbeit aus, ohne dass das Staatsrecht durch Politik ersetzt werde.180 Von Hippel plädierte für eine rechtlich-moralische Staatslehre.181 Vom Problem der Objektivität ausgehend hat er den Rechtspositivismus im öffentlichen Recht thematisiert. Um dieses rechtliche Problem in Angriff zu nehmen, ist nach von Hippel der Begriff des Rechtsstaates entscheidend. Für den Rechtspositivismus erscheinen Rechtsnormen als Kriterium der Objektivität schlechthin und sie regeln das Verhalten staatlicher Organe.182 Der Rechtspositivismus versuche, die Welten der Politik und des Rechts zu trennen: „Dort, wo der Wald der Rechtsnormen sich lichtet, beginnt der Bereich der Politik […]. Jenseits des Normenwaldes gilt nicht die Objektivität des Rechtlichen, und die Stürme politischer Leidenschaft toben über ein Meer, dem kein Gott gebietet“183. Der politischen Entscheidung trete die rechtliche als etwas anderes gegenüber. Daher sei die Politik nicht Sache der Juristen. Das Recht sei durch die Subsumtionstheorie objektiv und sachlich, die Politik könne diesen Anspruch nicht erheben, weil hier die Norm, das Kriterium der Objektivität, fehle. Die Politik besitze keine Norm und damit keine Objektivität. Gegen diese Auffassung führt von Hippel an, dass das Verfahren der Normsetzung rechtlich sei, „aber der Inhalt der Norm und insbesondere der Grundnormen, des Gesetzes und der Verfassung, dient wohl als Kriterium rechtlicher Objektivität, gehört aber bereits der Welt des Politischen an“184. Die Verbindung von Recht und Politik liege in der Tätigkeit der Rechtsinterpretation, „die über Sinndeutung zur Sinngebung führt und insoweit freie, normentbundene Gestaltung der politischen Welt ist, wenn auch nur 177 Triepel (1927), S. 34. Als Beispiele nannte er die Lehren vom Staats- oder Gesellschaftsvertrag, von der Souveränität und von der Gewaltenteilung usw. 178 Triepel (1927), S. 35. 179 Triepel (1927), S. 37. 180 Triepel (1927), S. 37 ff. 181 v. Hippel (1967), S. 179 ff. 182 v. Hippel, AöR 1927, S. 393 ff. 183 v. Hippel, AöR 1927, S. 393, 397. 184 v. Hippel, AöR 1927, S. 393, 398.

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innerhalb der Grenzen eindeutigen Rechtssinnes“185. Im Verfahren der Rechtsanwendung werde die Rechtsdeutung zur Rechtspolitik, dann gewinne das Problem der politischen Objektivität eine zentrale Bedeutung.186 Bei der politischen Objektivität handele es sich nach von Hippel um keinen praktischen Opportunismus der Realpolitik, wie sie der Positivismus betrachtet, sondern um die Rechtsteleologie als Rechtspolitik: „Rechtliche Sinndeutung, die zur Sinngebung führt, läßt das Problem rechtlicher Objektivität mit dem politischer Sachlichkeit insoweit zusammenfallen“187. Die teleologische Rechtsauslegung, für die rechtliche Objektivität nicht Besitz, sondern Aufgabe sei, fordere sachliche Begründung rechtspolitischer Standpunkte.188 Zudem kritisiert er den Wertrelativismus, da dieser den Lebenssinn töte und jede Möglichkeit der Entwicklung leugne.189 Darüber hinaus glaubt von Hippel daran, dass die Fähigkeit klaren Denkens so nicht mehr den juristischen Charakter bilde, sondern die klare Sicht des Wirklichen und Wissen um „das Gute“, um die Forderung an die Gerechtigkeit.190 In der Erfüllung der Gerechtigkeit liege die Ehre des Juristen, „der nunmehr als Rechtspolitiker auch Teil hat an der Objektivität politischen Tuns“191.

4. Auffassung Häberles: Verfassungsrecht „führt eine politische Existenz“ So einfach es ist, Verfassungsrecht als politisches Recht zu kennzeichnen, so schwierig ist es, diese Auffassung zu substantivieren. Zumeist bleibt die Begründung der Formel bei der bloßen Behauptung.192 Trotz der Unklarheit und Mehrdeutigkeit der Formel politisches Recht ist jedoch die Intention eindeutig, dem Verfassungsrecht eine besondere Eigenschaft zuzusprechen, kraft derer es sich vom sonstigen Recht unterscheidet,193 auch wenn diese Eigenschaft für einige nicht immer positiv eingeschätzt wird. Sie hängt im Grunde einerseits vom Verständnis der Verfassung selbst ab und andererseits von der Idee der Politik. Bevor man Häberles Auffassung analysiert, muss man zwei Fragestellungen Rechnung tragen. Erstens muss man sich nach dem Sinn des Begriffs politisches Recht fragen, zweitens muss die These der Schwäche des Verfassungsrechts als politisches Recht untersucht werden.

185 186 187 188 189 190 191 192 193

v. Hippel, AöR 1927, S. 393, 407. v. Hippel, AöR 1927, S. 393, 407. v. Hippel, AöR 1927, S. 393, 407. v. Hippel, AöR 1927, S. 393, 414. v. Hippel, AöR 1927, S. 393, 410 ff. v. Hippel, AöR 1927, S. 393, 417. v. Hippel, AöR 1927, S. 393, 419. Kägi (1971), S. 134 Anm. 16. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 268 Rn. 1 ff.

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Nach einer bekannten Formel ist das Verfassungsrecht politisches Recht194 oder, wie andere es vorziehen, spezifisches Recht für das Politische.195 Verfassungsrecht ist politisches Recht in dem schlichten Sinne, dass es der Ordnung des politischen Lebens dient und in seinem Grundrechtsteil nicht weniger politisches Recht als in seinem organisatorischen Teil ist.196 Es hat politischen Charakter, denn es schafft und ordnet die politischen Institutionen, in denen der Staat organisatorisch in Erscheinung tritt, und regt an, bindet und begrenzt durch Normen und Grundsätze die Ausübung der Staatsgewalt und den politischen Prozess.197 In diesem Sinne wird das Politische zum Gegenstand des Verfassungsrechts.198 Damit will man selbstverständlich nicht sagen, dass die übrigen Rechtsgebiete unpolitisch wären, sondern nur, dass etwa das Strafrecht, das Wirtschafts- und Arbeitsrecht und das Recht des Eigentums zwar im gegenständlichen Sinn mittelbar politikbezogen sind, sie regeln den politischen Prozess als Gegenstand nicht direkt, aber sie können ebenso in den Aggregatzustand des Politischen geraten und in diesem Sinn politisch werden.199 Politisches Recht bedeutet für einige eine Schwäche des Verfassungsrechts. Mit dem Abbau des Verfassungsstaates werde die Selbstständigkeit der Staatsrechtslehre mehr und mehr bedroht; aus dem Recht für das Politische werde das politische Recht, in dem das Normative immer stärker zurücktritt; der Gegensatz von Sein und Sollen, von Wirklichen und Norm werde völlig überwunden; das Staatsrecht habe abgedankt. Hinter der Formel Verfassungsrecht als politisches Recht verberge sich die Tendenz, die – bewusst oder unbewusst – zu einer Auflösung der normativen Verfassung führen müsse; Verfassungsrecht als politisches Recht bedeute – laut Kägi – Schwächung seiner normativen Kraft.200

194

Häberle (2014), S. 245; Smend (1994), S. 82; Triepel, VVDStRL 5/1929, S. 2, 8. Billing, S. 51 ff.; ähnlich Schuppert (1973), S. 127 ff.; Stern (1984), S. 16. 196 Ehmke (1981), S. 468; anders Böckenförde, in: Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum: Über Carl Schmitt, S. 283, 291: „Das Staats- und Verfassungsrecht ist gegenständlich das eigentlich politische Recht; nicht in dem Sinne, daß Recht immer auch etwas mit Politik zu tun hat, der Ordnung und Gestaltung des Zusammenlebens in einer politischen Gemeinschaft dient, sondern weil es von der Materie her die Bedingungen, Verfahrensweisen, Befugnisse und auch Grenzen der Handlungsfähigkeit des Staates als politische Einheit normiert und ebenso die Befugnisse und Möglichkeiten zur Erhaltung und Sicherung dieser politischen Einheit. Dann aber ist das Staatsrecht materialiter und in seinem Telos unmittelbar auf das Politische bezogen und wird von daher bestimmt“. 197 Badura, S. 21 Rn. 13. 198 Smend (1994), S. 82; kritisch Bilfinger, ZfP 1929, S. 281, 284 ff. 199 Vgl. Böckenförde, in: FS Scupin, S. 317, 321: „Der Unterschied zum Staatsrecht liegt allerdings darin, daß die anderen Rechtsgebiete nur gelegentlich, fallweise und zeitlich begrenzt in das politische Spannungsfeld geraten, das Staatsrecht hingegen typischerweise in diesem Beziehungs- und Spannungsfeld steht, da es den Zugang zu den politischen Macht- und Entscheidungspositionen, deren Begrenzung usf. regelt und damit das Politische selbst zu normieren sucht“. 200 Kägi, (1971), S. 127 f. 195

II. Verfassungsrecht als politisches Recht

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Gegen diese juristische Gesinnung hebt man hervor, dass der Ausdruck politisches Recht keine Abschwächung des normativen Sinnes von Verfassungsrecht bedeutet. Die Verfassung regelt die Formung und Ausübung der politischen Macht; sie hat es daher mit starken sozialen und politischen Kräften zu tun.201 Deshalb stellte Krüger zu Recht fest: „Über das Wesen des Staatsrechts selbst ist mit dieser Qualifikation seines Stoffes [das Politische] nicht das geringste (sic) ausgesagt, insbesondere ist hiermit die Normativität dieses Rechts noch keineswegs in Frage gestellt“202. Da Verfassungsrecht unmittelbar politikbezogen ist,203 könnte man zusammenfassen, dass das Verfassungsrecht seinen rechtlichen Charakter nicht verliert, ganz im Gegenteil, die Verbindung des Verfassungsrechts mit der Politik und der Wirklichkeit ermöglicht in größerem Ausmaß die Verstärkung seiner Normativität. Die vermeintlich unpolitische Eigenständigkeit und Neutralität von Verfassungsrecht wurde längst – nach Häberle – als Selbsttäuschung erkannt,204 denn am Problem des Politischen kommt keine Verfassungs- oder Staatslehre vorbei. So sei unpolitisches Verfassungsrecht nicht nur ein Selbstbetrug,205 sondern auch eine Unmöglichkeit. Das Verfassungsrecht „führt eine politische Existenz“206, daher liege seine Eigenart in seiner Natur als politisches Recht.207 Dennoch zeigt sich das Politische in Häberles Denken auch in seiner Anschauung des Verfassungsrechts als Recht der Öffentlichkeit und als Konflikt- und Kompromissrecht. Demokratisches Verfassungsrecht lässt sich als „Recht der Öffentlichkeit par excellence“208 begreifen. Dies besagt, dass die Öffentlichkeit das Gesetz ist, unter dem die Verfassung angetreten ist und unter dem sie sich weiterzuentwickeln hat; in der Öffentlichkeit liegen Voraussetzungen und Wege der Fortentwicklung der Verfassung: Die Wirklichkeit der Verfassung wird die Wirklichkeit ihres Verfassungsrechts als Recht der Öffentlichkeit209 bzw. als Recht des res publica.210 Das Politische schließt unvermeidlich Streitigkeiten und Konsense ein, aber auch Möglichkeiten. Der Konflikt enthält schon von vornherein den Samen des Konsenses. Man könnte von Konsens nicht sprechen, wenn es nicht im Voraus einen Streit gibt. Da das Verfassungsrecht die politische Ordnung eines Gemeinwesens regelt, sucht es den

201

Scheuner (1978), S. 173. Krüger (1966), S. 697. 203 Böckenförde, in: FS Scupin, S. 317, 319. 204 Häberle (1998), S. 280. 205 Häberle (2014), S. 19; ders., in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 4. 206 Häberle, DVBl 1973, S. 388. 207 Scheuner (1978), S. 173. 208 Häberle (1998), S. 65; ders. (1997), S. 38. 209 Häberle (1998), S. 65. 210 Häberle (2006), S. 278: „Das Verfassungsrecht als Recht der res publica konnte auf das öff. Interesse als Rechtsprechungstopos von vornherein nicht verzichten“. 202

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D. Verfassungsgerichtsbarkeit im Kern des Rechts und der Politik

Grundkonsens einer Zivilgesellschaft.211 In diesem Sinne ist zu sagen, dass Verfassungsrecht auch zum Konflikt- und Kompromissrecht wird.212 Darüber hinaus begrenzt Häberle das Politische nicht auf das Verfassungsrecht.213 Selbst das Privatrecht habe „politische Implikationen und Bedingungen“. Das Privatrecht scheint vom Bereich des Politischen weiter entfernt zu sein als das Staatsoder Völkerrecht; da sich im bürgerlichen Recht der politische Kern auf den ersten Blick hinter einer reich entfalteten Dogmatik verbirgt, ist der Privatrechtler daher stärker der Gefahr ausgesetzt, die politischen Zusammenhänge und Wirkungen zu übersehen.214 Das Verfassungsrecht „besitzt keine geringere Affinität zur Freiheit als das Privatrecht und dieses keine geringere Affinität zum Gemeinwohl“215 als das Verfassungsrecht. Sowohl das Verfassungsrecht als auch das Privatrecht befasse sich geradezu mit der Freiheit216 und mit dem Gemeinwohl, also mit der politischen Größe einer Zivilgesellschaft. Daher lässt sich behaupten, dass „Zivilrecht zutiefst ,politisches‘ Recht“217 ist, selbst als Mittel der politischen Gewaltenteilung ist es zu betrachten.218 Denn das Privatrecht – wie jedes Recht – begründet letztlich Bindung und Freiheitsbeschränkung; die Erfahrung zeigt ferner, dass ein freiheitssicherndes Rechtssystem, ohne die Gewaltenteilung, die das Privatrecht auch ermöglicht, nicht zu realisieren ist.219 Rechtsinstitute wie Ehe, Familie, Eigentum, Erbrecht, Vertragsfreiheit haben politische Implikationen und Bedingungen. Zum politischen Programm des Privatrechts bzw. seiner Grundidee gehört etwa, die Selbstbestimmung und Wohlstandsmehrung in einer Gesellschaft freier und gleicher Bürger durch ein dem Gedanken der Privatautonomie geöffnetes Privatrecht zu ermöglichen.220 In diesem Sinne ist das Privatrecht auch politisches Recht.221

211

Dazu Häberle (2008), S. 213 f. Häberle (1998), S. 177 f. 213 Häberle, JöR 48/2000, S. 399, 414 f. 214 Ballerstedt, in: FS Kunze, S. 39, 44. 215 Häberle (2006), S. 711. Für Hesse (1988), S. 39, „ist das Verfassungsrecht von entscheidender Bedeutung für das Privatrecht, das Privatrecht von entscheidender Bedeutung für das Verfassungsrecht“. 216 Hallstein, S. 6. 217 Rüthers (1997), S. V. 218 Bydlinski, in: FS Wilburg, S. 53 ff. 219 Bydlinski, in: FS Wilburg, S. 53, 58, 67. 220 Zöllner, JuS 1988, S. 329 ff. 221 Privatrecht ist im übrigen kein bloßes „Fach“, vgl. Häberle (2014), S. 249. 212

III. Zum Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit

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III. Zum Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit 1. Staats- und Verfassungsgerichtsbarkeit Eines der ersten Probleme, die Häberle in Angriff nimmt, ist das Problem des Begriffs der Verfassungsgerichtsbarkeit, das insbesondere unter zwei Gesichtspunkten behandelt werden kann: einerseits hinsichtlich des Unterschieds zwischen Staatsgerichts- und Verfassungsgerichtsbarkeit, andererseits hinsichtlich der Differenzierung von Verfassungsgerichtsbarkeit im materiellen und im formellen Sinn. Man findet in der Literatur neben der Bezeichnung Verfassungsgerichtsbarkeit auch die Bezeichnung Staatsgerichtsbarkeit.222 Gleichwohl werden beide Begriffe heute nicht als auswechselbar verwendet. Sie gehören zu unterschiedlichen geschichtlichen Augenblicken.223 Gegenstand der Staatsgerichtsbarkeit, die sich auf die Epoche der Weimarer Republik bezieht,224 war die Gesamtheit der staatlichen Organe, indem die Staatsgerichtsbarkeit direkt oder indirekt an der staatlichen Willensbildung teilnahm.225 Hierbei handelte es sich im Kern um eine gerichtsförmige Aufsicht des Reiches über die Länder und die Gewähr der konstitutionellen, also paktierten Verfassung in den Souveränitätskonflikten zwischen den Organen.226 Die am 23. und 24. April 1928 durchgeführte Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer wurde „Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit“ betitelt. Allerdings lehnte Triepel als Referent schon dort dieses Wort ab, da alle Gerichte letzten Endes Staatsgerichte seien und auf jeden Fall der Begriff Staatsgerichtsbarkeit nicht nach dem Subjekt, sondern nach dem Gegenstande bestimmt sein müsste; ferner gehörten nicht alle staatsrechtlichen Fragen zum Bereich der Staatsgerichtsbarkeit.227 Folglich hielt er „den Ausdruck Verfassungsgerichtsbarkeit für den besten“228. Obwohl Kelsen im Vergleich zu Triepel sich über den Unterschied beider Begriffe nicht weiter äußerte, definierte er bloß die Staatsgerichtsbarkeit als „Verfassungs222 Kühn, S. 9 Anm. 3. Das gilt auch für die Begriffe Staatsgerichtshof und Verfassungsgericht. Unter einem Staatsgerichtshof wird ein Gericht verstanden, das ausschließlich für staatsorganisatorische Streitigkeiten zwischen den einzelnen Staatsorganen sowie zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten zuständig ist. Ein Verfassungsgericht dient darüber hinaus der Wahrung der Grundrechte. „So findet bei einem ,Staatsgerichtshof‘ eines deutschen Landes zumeist keine Individualverfassungsbeschwerde statt (z. B. Niedersachsen), während die Zuständigkeit eines ,Verfassungsgericht[s]‘ weiter gespannt ist (z. B. Brandenburg)“, vgl. Schmidt, S. 6. 223 Scheuner, in: FG aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des BVerfG, Bd. I, S. 1, 20 ff. 224 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 6. Die Bezeichnung Staatsgerichtsbarkeit findet man z. B. in Smend (1928), S. 135, 143, 172; ders. (1994), S. 247, 273; s. auch W. Jellinek, VVDStRL 2/ 1925, S. 8, 11. 225 Jerusalem, S. 50 ff. 226 Schlaich, in: VVDStRL 39/1981, S. 99, 103. 227 Triepel, VVDStRL 5/1929, S. 2, 3 ff. 228 Triepel, VVDStRL 5/1929, S. 2, 4.

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D. Verfassungsgerichtsbarkeit im Kern des Rechts und der Politik

Gerichtsbarkeit“ und als solche sei sie „eine gerichtliche Garantie der Verfassung“229. Abgesehen davon sind für ihn offenbar beide Begriffe gleichbedeutend, denn er verstand die Staatsgerichtsbarkeit als Verfassungsgerichtsbarkeit. Jedoch behauptete Kelsen, dass es Zweck dieser gerichtlichen Garantie sei, „die Rechtmäßigkeit der Staatsfunktionen zu sichern“230; er bezog sich also in Wahrheit auf die Staatsgerichtsbarkeit und nicht auf die Verfassungsgerichtsbarkeit im engeren Sinne. Wie Triepel hält Häberle den Begriff Verfassungsgerichtsbarkeit für geeignet.231 Mit den Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 schneidet das Grundgesetz die Verbindung zu älteren Typen der Staatsgerichtsbarkeit ab,232 deswegen wird aus gutem Grund heute nicht mehr, wie oft in der Weimarer Republik, von Staatsgerichtsbarkeit gesprochen.233 Es muss hier daran erinnert werden, dass die Verfassung nach Häberle rechtliche Grundordnung des Staates und der Gesellschaft ist. Aus diesem Grund betreffe die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur den Staat und die Tätigkeit seiner Organe, sondern auch die Gesellschaft.234 Er zeigt sich vom gesellschaftlichen Machtmissbrauch besonders besorgt, weil die gegenwärtigen Bedrohungen der Grundrechte sowohl vom Staat als auch und zunehmend von der Gesellschaft stammen.235 Der religiöse Fundamentalismus, die ökonomische Macht der nationalen und internationalen Unternehmen, die Konzentration privater Medienmacht, der Zugriff auf die persönlichen Daten (Stichwort: Persönlichkeitsschutz) sind z. B. Freiheitsbedrohungen, die sich der Gesellschaft zuschreiben lassen. Hiermit erfährt der Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit aufgrund seiner neuen Aufgaben von der Gesellschaft her eine erforderliche Veränderung. Deswegen hat Häberle Recht, wenn er behauptet, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit heute weniger eine Staatsfunktion als eine „öffentliche Gemeinwohlfunktion“ sei.236 Daher kann man Staatsgerichtsbarkeit nicht als deckungsgleich mit der Verfassungsgerichtsbarkeit bezeichnen, denn Letztere ist auch eine „gesellschaftliche Gerichtsbarkeit“237.

229

Kelsen, VVDStRL 5/1929, S. 30 ff. Kelsen, VVDStRL 5/1929, S. 30 ff. 231 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 6; s. auch Badura, S. 785 Rn. 51: „Für eine Gerichtsbarkeit wie die nach dem Grundgesetz, bei der die verfassungsrechtliche Bindung des Gesetzgebers und die Anrufung des Gerichts auch durch den in seinen Grundrechten beschwerten Einzelnen im Vordergrund stehen, ist die Bezeichnung als ,Verfassungsgerichtsbarkeit‘ passender“. 232 Schlaich, in: VVDStRL 39/1981, S. 99, 103. 233 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 6. 234 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 6. 235 Häberle (1997), S. 299 ff. 236 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 6. 237 Häberle, in: van Ooyen/Möllers, (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 35 ff. 230

III. Zum Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit

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2. Formelle und materielle Verfassungsgerichtsbarkeit a) Formelle und materielle Deutung der Rechtsprechung Angesichts des Art. 92 des Grundgesetzes sagt man, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit echte Rechtsprechung sei: „Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht […] ausgeübt“. Die Doktrin spricht hier von einem formellen und materiellen Verständnis der Rechtsprechung. Formeller Begriff238 von Rechtsprechung besagt die „Summe“ aller Zuständigkeit der Judikative, die sich aus geltendem Recht ergibt;239 dagegen knüpft materielles Verständnis an den Inhalt rechtsprechender Tätigkeit an und erklärt nicht nur den Katalog der gesetzlich zugewiesenen Rechtswegeröffnung zum Inhalt der Judikative, sondern auch die traditionellen Kernbereiche der vom Verfassungsgeber vorgeschriebenen Gerichtsbarkeiten: bürgerliche Streitigkeiten sowie Strafgerichtsbarkeit.240 Materiell gesehen wird die Rechtsprechung nach ihrer Funktion definiert.241 Laut Thoma: Unter Rechtsprechung im materiellen Sinne des Wortes hat man also den verselbstständigten Ausspruch dessen zu verstehen, was in Anwendung des geltenden Rechts durch eine staatliche Autorität auf einen konkreten Tatbestand im Einzelfalle rechtens ist; unter Rechtsprechung im formellen Sinne versteht man die Betätigung der Gerichte aller Art; aber die eigentliche Aufgabe der Gerichte ist es, „in Urteilsform Akte der Rechtsprechung (im materiellen Sinne des Wortes) zu erlassen“242. Diesbezüglich hatte Häberle sich früher einerseits gefragt, aus welchen Kriterien sich die Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit des Grundgesetzes als Rechtsprechung ergibt, andererseits, ob der Begriff der Rechtsprechung ausschließlich materiell, ausschließlich formell oder in einer Verbindung formeller und materieller Kriterien zu bestimmen ist.243 Positivrechtlich gesehen wird die Verfassungsge238 Maurer, S. 611 Rn. 3: „Der formelle Rechtsprechungsbegriff, der auf die den Gerichten gesetzlich übertragenen Aufgaben abstellt, scheidet schon deshalb aus, weil er zu einem Zirkelschluß führte (Rechtsprechung ist richterliche Tätigkeit, richterliche Tätigkeit ist Rechtsprechung) und zudem die Zuordnung der Rechtsprechung dem Gesetzgeber ausliefert“. 239 Morlok/Michael, S. 381 Rn. 4. 240 Morlok/Michael, S. 381 Rn. 4.; Badura, S. 746 Rn. 2; Wilke, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 112 Rn. 57 f. 241 Heyde, in: Benda u. a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, S. 1580, 1584 Rn. 13. 242 Thoma, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, S. 108 (129, 133). Der Begriff der Rechtsprechung lässt sich weder rein formell, d. h. von dem Organ her, dem die Aufgabe, Recht zu sprechen, zugewiesen ist, noch rein materiell, d. h. ausschließlich von seiner Funktion her, ohne irgendwelche organisatorisch-formalen Elemente zu verwenden, bestimmen. Der richtige Weg liegt nach ihm in einer Verbindung von formellen und materiellen Kriterien. Neben Wesen und Modalität der Funktion sind auch Wesen und Art des Organs, das diese Funktion wahrnimmt, und die Art der Gestaltung des Verfahrens dieses Organs für eine Begriffsbestimmung zu berücksichtigen, vgl. Billing, S. 26 ff. 243 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 7.

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D. Verfassungsgerichtsbarkeit im Kern des Rechts und der Politik

richtsbarkeit Rechtsprechung (Art. 92 GG). Indessen definiert das Grundgesetz selbst nicht ausdrücklich, was Rechtsprechung ist. Deshalb stellt Häberle die Frage, welche Merkmale die Rechtsprechung bestimmen. Die Rechtsprechung wird öfter durch die Rechtsanwendung auf konkrete Sachverhalte244 und durch die Streitentscheidung als wesentliche Charakteristika gekennzeichnet.245 Jedoch ist diese Auffassung wenig bestimmt. Nach Hesse ist die Rechtsanwendung Sache aller staatlichen Organe (nicht nur der Rechtsprechung), die nach Maßgabe der unterschiedlichen Dichte ihrer rechtlichen Bindung Recht zu konkretisieren haben, im besonderen die der Verwaltung;246 auch bildet nicht die Streitentscheidung ein wesentliches Element der Rechtsprechung, weil sie nicht die Aufgabe der Strafrechtspflege umfasst, die keine Rechtsstreitigkeiten entscheidet.247 Häberle bestätigt diese Betrachtungen, denn er gründet sein Verständnis der Rechtsprechung auf Hesses Definition. So sei Rechtsprechung „in ihrer Grundtypik charakterisiert durch die Aufgabe autoritativer und damit verbindlicher, verselbständigter Entscheidung in Fällen bestrittenen oder verletzten Rechts in einem besonderen Verfahren“248. Es handelt sich um einen Rechtsprechungsbegriff, der die richterliche Tätigkeit des BVerfG als materielle Rechtsprechung darstellt, bezogen auf die Verfassung als ihren Gegenstand.249 Diese Definition, die positivrechtlich durch Art. 92, 93 des Grundgesetzes und durch §1 des BVerfGG250 untermauert wird, ist selbst für das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle anwendbar, in dem das BVerfG auf Anrufung Gesetze für nichtig oder – zur Vermeidung der Folgen der extunc-Wirkung der Nichtigkeitserklärung – für verfassungswidrig erklären kann, ohne dass es für das Verfahren einer konkreten Rechtsverletzung durch das verfassungswidrige Gesetz bedarf (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §78 des BVerfGG).251 Die

244 Stern (1980), S. 898: Rechtsprechung ist „die in besonders geregelten Verfahren zu letztverbindlicher Entscheidung führende rechtliche Beurteilung von Sachverhalten in Anwendung des geltenden Rechts durch ein unbeteiligtes (Staats-)Organ, den Richter“. 245 Bettermann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 73 Rn. 39: „Nur die Entscheidung von Rechts-Streitigkeiten behält Art. 92 GG den Richtern vor“. 246 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 548. 247 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 548: „Auch das Merkmal der Streitentscheidung ermöglicht keine ausreichende Bestimmung der Eigenart der Rechtsprechung, schon weil es nicht die Aufgabe der Strafrechtspflege umfaßt, die keine Rechtsstreitigkeiten entscheidet“. Eine abweichende Darstellung entwickelt Bettermann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 73 Rn. 44; so auch Maurer, S. 612 Rn. 6. 248 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 548; Starck, VVDStRL 34/1976, S. 43, 65 f., definiert materiell die Rechtsprechung als „eine im justizförmigen Verfahren geschaffene autoritative und endgültige Individualisierung von (hypothetischen) Rechtssätzen in Fällen bestrittenen oder verletzten Rechts durch einen unabhängigen Richter“. 249 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 8. 250 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 8. 251 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 8.

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abstrakte Normenkontrollentscheidung erlangt allgemein verbindliche Wirkung (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) im Wege der „Gesetzeskraft“252 (§ 31 Abs. 2 BVerfGG). Bisher wurde gezeigt, dass Häberle im Anschluss an Hesse und Scheuner für ein materielles Verständnis der Rechtsprechung eintritt.253 Allerdings denkt er noch an einen eigenen Rechtsprechungsbegriff entsprechend seiner Verfassungstheorie des Pluralismus. So habe die Rechtsprechung ein enges und unvermeidliches Verhältnis zur Öffentlichkeit, weil Demokratie und Rechtsstaat gleichermaßen die Öffentlichkeit der richterlichen Funktion fordern.254 Dies gelte in zweierlei Hinsicht: Zum einen sind die Richter „öffentliche Richter“, zum anderen ist Gerechtigkeit immer „öffentliche Gerechtigkeit“255. Aus diesem Grund spricht er von der „Rechtsprechung als öffentliche Gemeinwohlfunktion“, in der der richterliche Interpretationsvorgang mit der Transparenz der Auslegung verbunden werde.256 Abgesehen davon ist für Häberle das Bild des Richterstaates überzeichnet; die Idee Montesquieus (der Richter sei nur „bouche de la loi“) habe sich verabschiedet.257 Daher postuliert er, dass sich die Funktion der Rechtsprechung im Verfassungsstaat auf bloße subsumierende Aufgaben nicht begrenzt. Verfassungsrechtsprechung sei hingegen in besonderem Maße Rechtsfortbildung und Rechtschöpfung.258 Die Wahrung des Rechts sei nur eine Seite der Aufgaben der Rechtsprechung als Gemeinwohlfunktion. Rechtsprechung meine auch „behutsame Rechtsfortbildung bis hin zum Richterrecht als eigener Rechtsquelle“259. Gleichwohl besagt dies nicht, dass Häberle an eine grenzenlose Rechtsprechung denkt.260 Da sie ein Teil der staatlichen Funktionen sei und in das Gesamtsystem der Gewaltenteilung eingeordnet bleibe, habe die Rechtsprechung das Prinzip funktionellrechtlicher Grenzen der rechtsprechenden Tätigkeit zu beachten.261

252

Schlaich/Korioth, Rn. 378. Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 6 ff.; ders. (2013), S. 407. 254 Häberle (1980), S. 136. 255 Häberle (1980), S. 136: „Es gibt keine private Gerechtigkeit“. 256 Häberle (1980), S. 136. 257 Häberle (2013), S. 405 f. 258 Hatje, S. 47. 259 Häberle (2013), S. 406. 260 Dazu s. Lepsius, in: Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, S. 159, 161 ff. 261 Lepsius, in: Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, S. 159, 161 ff. 253

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D. Verfassungsgerichtsbarkeit im Kern des Rechts und der Politik

b) Verfassungsgerichtsbarkeit in formellem und materiellem Sinn Ein einheitlicher Verfassungsgerichtsbarkeitsbegriff existiert bisher nicht.262 Trotzdem sind zwei verschiedene Einstellungen in der Doktrin zu erkennen: Es hat sich hauptsächlich ein formelles und ein materielles Verständnis ausgeprägt.263 Das formelle Verständnis von Verfassungsgerichtsbarkeit basiert auf der positivrechtlichen Regelung der Zuständigkeit eines Verfassungsgerichts.264 Hier lässt sich nicht sagen, dass ein vereinheitlichter Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit existiert, denn alle verschiedenen Verfahrensarten haben eine eigene Aufgabe.265 Formell gesehen sei die Verfassungsgerichtsbarkeit dabei nur die „Summe“ aller Zuständigkeiten, die sich aus dem geltenden Grundgesetz und dem BVerfGG ergeben. So werde sie – wie Friesenhahn meint – eine „Sammelbezeichnung für verschiedene Arten von Rechtsprechung“266. Demgegenüber verteidigen Autoren, die sich an dem Zweck des Schutzes der Verfassung und der Entscheidung von Rechtsfragen der Verfassung als Hauptpunkt der Verfassungsgerichtsbarkeit orientieren, einen materiellen Begriff.267 Dieser sei laut Triepel „Gerichtsbarkeit in Fragen der Verfassung und zum Schutze der Verfassung“268. Gleichwohl sei sie nicht bloß Gerichtsbarkeit in Fragen der formellen Verfassung, sondern „in Sachen der materiellen Verfassung“269. Ähnlich wie Triepel 262

Vgl. Stern (1980), S. 943: „Verfassungsgerichtsbarkeit bedeutet, in einem gerichtlichen Verfahren am Maßstab des Verfassungsrechts letztverbindlich zu entscheiden, was Rechtens (sic) ist. Stets ist es ein Rechtssatz, der das Maß des Richtens abgibt. Er ist die Grundbedingung für jede Verfassungsgerichtsbarkeit wie für jede Gerichtsbarkeit“; s. auch Simon, in: Benda u. a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, S. 1637, 1640: „Wird Verfassungsgerichtsbarkeit als eine ,institutionell auf die Erhaltung und Durchsetzung einer Verfassung gerichtete Rechtsprechung‘ verstanden (so Scheuner), dann gehört zu ihren Voraussetzungen, daß eine – geschriebene – Verfassung existiert und als übergeordnete anerkannt wird“; Roellecke, in: Schäfer/Roellecke, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, S. 24 ff., unterscheidet drei Interpretationen hinsichtlich des Begriffs der Verfassungsgerichtsbarkeit: a) Die integrationstheoretische Interpretation versteht sie als eine von vielen Stationen im Prozess der ständigen Herstellung der politischen Einheit der Gesellschaft, b) die juristische Interpretation knüpft an das Begriffspaar Recht und Politik an, c) die politische Interpretation will sie demgegenüber aus dem politischen Gesamtsystem verstehen. 263 Bethge, in: Maunz u. a. (Hrsg.), BVerfGG Kommentar, Bd. I, vor § 17 Rn. 26 f., hält den materiellen Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit angesichts seiner vermeintlichen Diffusität für irrelevant. 264 Lechner (1973), S. 37 ff.; Kühn, S. 9. 265 Schlaich/Korioth, Rn. 10. 266 Friesenhahn, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, S. 523, 526. 267 Scheuner, in: FG aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des BVerfG, Bd. I, S. 1, 5 Anm. 9. 268 Triepel, VVDStRL 5/1929, S. 2, 5: „Aber Verfassung ist in diesem Zusammenhange nicht die Verfassung im formellen Sinne, nicht das Verfassungsgesetz oder die Verfassungsgesetze, nicht die Verfassungsurkunde“. 269 Triepel, VVDStRL 5/1929, S. 2, 5.

III. Zum Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit

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argumentierte auch Scheuner, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit „Gerichtsbarkeit über Fragen des Verfassungslebens“270 sei. Wintrich sprach von einem einheitlichen Zweck der Verfassungsgerichtsbarkeit, der im „Schutz der Verfassung“271 bestehe, und ebenso fügte Hesse hinzu, dass die „Verfassungsgerichtsbarkeit […] ausschließlich der Wahrung der Verfassung“ diene,272 sowohl im Sinne objektiven als auch subjektivindividuellen Rechtsschutzes, im besonderen dem Schutz der Grundrechte.273 Von einem materiellen Verständnis der Verfassungsgerichtsbarkeit spricht auch Häberle.274 Hier stellt sich die Frage, ob es über die Einzelzuständigkeiten einen einheitlichen Grundbegriff der Verfassungsgerichtsbarkeit gibt.275 Er beantwortet diese Frage positiv. Er ist einerseits der Ansicht, dass sich die Organisation und

270 Scheuner, in: FG aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des BVerfG, Bd. I, S. 1, 4 ff.: „Mit der eingetretenen Erweiterung des Bereichs dieser Gerichtsbarkeit, der Einbeziehung der Verfassungsstreitigkeiten unter Teilnehmern des politischen Lebens und der Beschwerden wegen Verletzung verfassungsrechtlich geschützter Rechte wird die Verfassungsgerichtsbarkeit in einem weiteren Sinne als Gerichtsbarkeit über Fragen des Verfassungslebens zu definieren sein, die aber nur solche Verfahren umfaßt, die echte Rechtsprechung, d. h. verbindliche Entscheidung über bestrittenes oder verletztes Verfassungsrecht, nicht Vermittlung oder Aufsicht, darstellen und in denen die Entscheidung über Rechtsfragen der Verfassung einen Hauptpunkt bedeutet“; ders., DVBl 1952, S. 293, 296: „Ein einheitlicher Begriff daraus ergibt, daß es sich um Rechtsprechung im Bereiche des Verfassungslebens handelt“. Aus der aktuellen Diskussion Möllers, in: Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, S. 281, 283 ff. und Lepsius, in: Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, S. 159, 161 ff. 271 Wintrich, in: FS Nawiasky, S. 191, 200 ff.: „Wie bereits oben dargelegt, sollen die Verfassungsgerichte (namentlich das Bundesverfassungsgericht, dem die umfassendsten Zuständigkeiten übertragen sind), durch Richterspruch mit letzter Verbindlichkeit einerseits die Verfassungsordnung auslegen, entfalten und wahren, andererseits die Existenzgrundlagen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verteidigen. Aus dieser besonderen Funktion, um derentwillen den Entscheidungen der Verfassungsgerichte allgemein verbindliche Kraft zukommt, ergibt sich ihre Stellung als ,Hüter der Verfassung‘“. 272 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 561; s. auch Drath, VVDStRL 9/1952, S. 17, 19 ff. 273 Hesse (1984), S. 316. 274 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 9. 275 Wintrich, in: FS Nawiasky, S. 191, 199 Anm. 14, meint: „Die hier aufgeworfene Frage ist also, ob in einem bestimmten Verfassungssystem (nämlich dem des Grundgesetzes und der Länderverfassungen) die Zuweisung der positivrechtlich den Verfassungsgerichten übertragenen Aufgaben gerade an diese Gerichte (,Verfassungsgerichtsbarkeit im formellen Sinn‘) aus einer einheitlichen Grundkonzeption heraus erklärbar ist und erklärbar werden muß, um der Gesamttendenz der Verfassungen gerecht zu werden. Die nachfolgenden Ausführungen im Text suchen solch einheitliche Grundgedanken, die allen verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts und der Landesverfassungsgerichte zugrunde liegen, aus der Einheit des Zweckes, der Einheit des Gegenstandes und der nur den Verfassungsgerichten eigentümlichen Doppelfunktion (zugleich als Gericht und oberstes Verfassungsorgan) herzuleiten. Damit wird ein umfassender Begriff der ,Verfassungsgerichtsbarkeit im materiellen Sinn‘ gewonnen […]“.

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Aufgaben einer Verfassungsgerichtsbarkeit aus der positiven Verfassung ergeben,276 andererseits sagt er, dass allerdings hinter der Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts (Art. 93 GG) eine Grundaufgabe stehe: die Wahrung der Verfassung.277 Daher begreift Häberle vorläufig die Verfassungsgerichtsbarkeit als „jedes gerichtliche Verfahren, das die Einhaltung der Verfassung unmittelbar gewährleisten soll“278. Der Vorteil dieser Definition liegt auf der Hand. Schutzzweck und Kontrollfunktion der Verfassungsgerichtsbarkeit werden hervorgehoben. Verfahren (formelles Element) und Wahrung der Verfassung (materielles Element) werden hier nicht übersehen. Zwar nimmt Häberle die genannte Definition an, aber er hält sie gleichsam für unvollkommen,279 denn sie lässt nicht die Folgerungen aus dem Schutzzweck für die konkrete Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz deutlich werden, d. h. die „Verfassung als Ordnungsrahmen für das staatliche und gesellschaftliche Wirken in der res publica zu erhalten und offenzuhalten“280.

IV. Verfassungsstreitigkeiten als politische Konflikte Die Erklärung der Natur der Verfassungsstreitigkeiten ist zentral für ein richtiges Verstehen der Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit.281 Ihre exakte Bemessung spielt eine bedeutsame Rolle,282 denn die Verfassungsstreitigkeit steht im Fokus eines komplex-hochdifferenzierten, durchweg normativ geprägten Rechtssprechungsgefüges des Rechts.283 Bislang ist dies ein strittiges Thema, ebenso wie der Begriff der Rechtsprechung und der Verfassungsgerichtsbarkeit selbst. Dass sich die Verfassungsgerichtsbarkeit ausschließlich mit den echten Verfassungsstreitigkeiten befasst und dass nicht jeder Streit über die Verfassung schon Verfassungsstreitigkeit bedeutet, ist offenbar.284 Um diese ansonsten zu entscheiden, hat die Verfassungsge276 Häberle (1979), S. 431 f., hat die im Grundgesetz enthaltenen Zuständigkeiten so eingeteilt: a) Verfassungsbeschwerde, b) abstrakte und konkrete Normenkontrolle, c) Organstreitigkeiten, d) bundesstaatliche Streitigkeiten und sonstige Kompetenzen. 277 Häberle, EuGRZ 2004, S. 117, 121. 278 Mosler, in: Mosler (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart, S. IX, XII; ähnlich Friesenhahn, in: Mosler (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart, S. 89, 91: „Alle gerichtlichen Verfahren, welche die Einhaltung der Verfassung unmittelbar gewährleisten sollen, sind beim Bundesverfassungsgericht konzentriert“. 279 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 6 f. 280 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 7. 281 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 561 ff. 282 Wie etwa für die unverzichtbare Abschichtung zwischen Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, vgl. Bethge, JURA 1998, S. 529, 532. 283 Bethge, in: FS Schenke, S. 61 ff. 284 Bachof, AöR 1953/1954, S. 107, 115: „Der Auffassung, daß unter ,Streitigkeiten‘ i. S. von Art. 93 I Nr. 1 GG nur ,Verfassungsstreitigkeiten‘ im engeren Sinne, d. h. nur Organ-

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richtsbarkeit ein Monopol.285 Was ist aber eigentlich eine Verfassungsstreitigkeit? Dafür ist wenig hilfreich, auf verfassungsrechtliches positives Recht zu verweisen, weil weder das Grundgesetz noch das BVerfGG den Begriff Verfassungsstreitigkeit verwendet oder definiert.286

1. These der rein juristischen Natur der Verfassungsstreitigkeit Offenbar kann ein rein juristischer Begriff der Verfassungsstreitigkeit nur aus rechtlichen Elementen definiert werden. Von der Reichsverfassung von 1919 her gilt H. Preuß als Vertreter dieser These. Er sagte: „Auch die Fragen zwischen dem Reich und den Einzelstaaten oder zwischen den Einzelstaaten untereinander, die vor dem Staatsgerichtshof entschieden werden, sind ohne Ausnahme Rechtsfragen. Ich habe darauf mein besonderes Augenmerk bei allen Bestimmungen der Verfassung gelegt, daß nicht in der Form des Rechtsprozesses eine politische Sache geltend gemacht werden soll“287. Im Sinne dieser Auffassung sind Verfassungsstreitigkeiten alle „Streitigkeiten über die Auslegung oder die Anwendung der Landesverfassung“288, d. h. „Streitigkeiten, deren rechtlicher Gehalt im Verfassungsrecht gegeben sein muß“289. Verfassungsstreitigkeiten haben – auch nach Jerusalem – „rechtlichen Charakter“, denn sie sind „Rechtstreite“290. Friesenhahn betont, dass nicht jeder Streit über die richtige Auslegung einer Verfassungsnorm ein Verfassungsstreit sei, sondern nur ein Streit über ein verfassungsrechtliches Rechtsverhältnis.291 Untersucht man diese Meinungen näher, so leuchtet ein, dass das Politische hier keine

streitigkeiten über ,Rechte‘ der Staatsorgane und nicht schon über jede objektive Frage des Verfassungsrechts zu verstehen sind, ist beizutreten“. 285 Bethge, JURA 1998, S. 529. 286 Für eine historische und dogmatische Darstellung der Entwicklung der Verfassungsstreitigkeiten s. Gusy (1997), S. 209 ff.; Stolzmann, AöR 1929, S. 335 ff.; Lammers/Simons, S. 314 f., 361 ff.; Triepel (1965), S. 3 ff.; Ritter, S. 7 ff.; Apelt, NJW 1953, S. 639 ff.; Kühn, S. 40 ff. 287 H. Preuß, S. 364. 288 Kahl, S. 409: „Verfassungsstreitigkeiten sind Streitigkeiten über die Auslegung oder die Anwendung der Landesverfassung. Entscheidend ist nicht, daß der Streit darüber gerade zwischen der Regierung und der Volksvertretung staatfindet, wenn das auch der häufigste Fall ist, sondern, daß der Gegenstand des Streites die Verfassung betrifft, wobei es wiederum gleichgültig ist, ob es sich um einen in der Verfassungsurkunde enthaltenen Satz handelt oder um einen in einem sonstigen Verfassungsgesetz stehenden Satz“, s. auch Eiswaldt, S. 20 ff.; Hänel, S. 568. 289 Kühn, S. 43. 290 Jerusalem, S. 116 f. 291 Friesenhahn, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, S. 523, 534.

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D. Verfassungsgerichtsbarkeit im Kern des Rechts und der Politik

Rolle spielt, um eine Verfassungsstreitigkeit zu bestimmen. Verfassungsstreitigkeiten als rechtliche Streite müssen lediglich die Verfassung betreffen.292 Gemäß § 40 Abs. 1 VwGO ist „[d]er Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlichrechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben […]“293. Über die Abgrenzung von Streitigkeiten verfassungsrechtlicher Art existieren unterschiedliche Theorien.294 Laut der formellen Abgrenzungstheorie „kommt es […] gar nicht darauf an, ob der Streit materiell dem verfassungsrechtlichen Bereich angehört, d. h. ob z. B. für die Streitentscheidung Verfassungsnormen eine Rolle spielen, sondern es ist nur zu überprüfen, ob formell (der gesetzlichen Zuweisung nach) eine Verfassungsstreitigkeit vorliegt“295. Damit bereite die Bestimmung der Verfassungsstreitigkeit keine Schwierigkeiten; sie sei immer zu befürworten, vorausgesetzt dass der Gesetzgeber für eine Streitigkeit im BVerfGG die Zuständigkeit eines Verfassungsgerichts vorgesehen hat.296 Diese scheinbare Leichtigkeit, die Verfassungsstreitigkeit zu definieren, macht eine Analyse des Begriffs in materieller Hinsicht allerdings nicht entbehrlich. Ein materielles Verständnis der Verfassungsgerichtsbarkeit führt gleichzeitig zu einem materiellen Verfassungsstreitigkeitsbegriff.297 Die materielle Abgrenzungstheorie bildet jedoch keine Einzeltheorie, sondern eine Reihe von unterschiedlichen materiellen Auffassungen.298 Trotz der heute wohl herrschenden Meinung ist für die materielle Abgrenzungstheorie entscheidend, dass es bei der Verfassungsstreitigkeit um die Auslegung eines Gebotes oder eines Grundsatzes der Verfassung (auch im materiellen Sinne verstanden), also um die Entscheidung einer verfassungsrechtlichen Frage geht. Ferner muss die verfassungsrechtliche Frage sich aus einem Verfassungsrechtsverhältnis entwickelt haben, einem Rechtsverhältnis zwischen Stellen, die nach der Verfassung mit Rechten und Pflichten ausgestattet sind, aufgrund derer sie an der Staatswillensbildung teilhaben.299 Materiell müssen die Verfassungsstreitigkeiten sowohl unmittelbar am Verfassungsleben Beteiligte betreffen als auch sich kumulativ auf Rechte und Pflichten beziehen, die unmittelbar in der 292 Poetzsch, S. 51: Verfassungsstreitigkeiten sind alle Streitigkeiten über die Verfassung, ganz gleich wer als Partei dabei auftritt; s. auch Anschütz (1933, Nachdruck 1968), S. 162; Giese, S. 101; Arndt (1919), S. 58: „Gegenstand des Verfassungsstreites können sowohl die Auslegung, wie die Ausführung wie endlich die Rechtsmäßigkeit der Verfassung sein“; Ritter, S. 9 ff.; Hofmann, S. 32 ff.; Laufer, S. 46, definiert die Verfassungsstreitigkeit lediglich als Streit über die Auslegung und Anwendung der Verfassung. 293 Dazu Schenke, AöR 2006, S. 117 ff.; ders., JZ 1996, S. 998 ff. 294 Dazu Kraayvanger, S. 17 ff. 295 Wertenbruch, DÖV 1959, S. 505, 507. 296 Schenke, AöR 2006, S. 117, 119 f. 297 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 9. 298 Eine Erläuterung der unterschiedlichen materiellen Theorien der Verfassungsstreitigkeiten findet sich in Schenke, AöR 2006, S. 117, 118 ff. 299 Geiger (1952), S. 41.

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Verfassung geregelt sind.300 Um mit Geiger zu sprechen: „Zu jeder Verfassungsstreitigkeit im materiellen Sinn (,echten‘, ,eigentlichen‘ Verfassungsstreitigkeit) gehört ein Tatbestand aus dem ,Verfassungsleben‘ des Staates; die daran (nach der Verfassung) Beteiligten sind die Parteien des Streites“301.

2. These der politisch-juristischen Natur der Verfassungsstreitigkeit Von Lammers und Simons stammt ein juristisch-politisches Verständnis der Verfassungsstreitigkeiten. Sie hatten bereits bemerkt, dass im Hintergrund jeder Verfassungsstreitigkeit eine politische Frage steht.302 „Unter politischen Rechtsstreitigkeiten sind dabei solche Rechtsstreitigkeiten zu verstehen, bei denen über politisches Recht gestritten und das Politische selbst an Hand der bestehenden Normen zum Gegenstand der richterlichen Beurteilung gemacht wird“303. So ist die Natur einer bestimmten Verfassungsstreitigkeit zweifach: das Juristische und das Politische.304 Verfassungsstreitigkeiten sind Streitigkeiten um geltend gemachtes und bestrittenes Recht, aber auch politische Streitigkeiten,305 denn „es besteht weder zwischen Zweckmäßigkeitsfragen und Rechtsfragen, noch zwischen politischen Fragen und Rechtsfragen irgendein scharfer Gegensatz“306. Aus diesem Grund bilden die Verfassungsstreitigkeiten als Rechtsstreitigkeiten nicht etwa einen Gegensatz zu den politischen Streitigkeiten, dies wäre völlig schief, wie Triepel meinte.307 „Das Politische aus dem Begriffe der Verfassungsstreitigkeiten herausnehmen, heißt die Schale ihres Kerns berauben“308, daher sind Verfassungsstreitigkeiten stets politische Streitigkeiten und als solche können sie gar nicht entpolitisieren.309 Eine Klage vor dem BVerfG ist daher immer die Fortsetzung einer politischen Auseinanderset300

Schenke, AöR 2006, S. 117, 120. Geiger (1952), S. 41; Friesenhahn, in: FS Thoma, S. 55 ff. 302 Lammers/Simons, S. 14; Leibholz, JöR 6/1957, S. 109, 121. 303 Höpker-Aschoff, JöR 6/1957, S. 144, 145; Roellecke, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II, § 53 Rn. 10. Dagegen Thoma, JöR 6/1957, S. 161, 170 ff. 304 Bei oberflächlicher Betrachtung erscheinen Verfassungsstreitigkeiten als rein juristische Probleme, jedoch bestehen immer politische Fragen im Hintergrund. Die Verfassungsgerichtsbarkeit soll das nicht ignorieren. 305 Nach Stier-Somlo, S. 62 Anm. 2: „Nicht jede Uneinigkeit oder Meinungsverschiedenheit ist Streit, sondern eine solche Gegensätzlichkeit der Auffassung, bei der es sich um geltend gemachtes und bestrittenes Recht handelt. Immer handelt es sich um eine Rechtsstreitigkeit, aber auch politische Fragen können in Betracht kommen“. 306 Triepel (1965), S. 15. 307 Triepel, VVDStRL 5/1929, S. 2, 8. 308 Triepel, VVDStRL 5/1929, S. 2, 8. 309 Triepel, VVDStRL 5/1929, S. 2, 8; Wittmayer, S. 209 f. 301

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zung.310 Häberle meint, dass ohnehin alle Verfassungsrechtsfragen einen politischen Aspekt hätten311 und damit das Politische selbst Gegenstand der rechtlichen Beurteilung werde.312

3. Politische Fragen und Verfassungsstreitigkeiten Abgesehen von dem Problem der Natur der Verfassungsstreitigkeiten steht noch die rechtliche Erörterung der politischen Fragen aus.313 In den USA betrachtet man den Namen political question als missverständlich,314 denn darunter sind nicht Fälle zu verstehen, die politisch bedeutsam oder umstritten sind, sondern solche Fälle, in denen der Supreme Court aus verfassungsrechtlichen, funktionellen oder pragmatischen Gründen keine Entscheidung trifft und die Verantwortung für die Streitentscheidung den beiden anderen Zweigen der Staatsgewalt – Kongress bzw. Präsident – zuweist.315 Deshalb sollte man statt des Ausdrucks politische Frage das Wort nicht-justiziable Doktrin verwenden.316 Dennoch sind ihre Konturen bisher diffus und dies spiegelt sich sogar in der „definitiven“ Entscheidung des Supreme Court hinsichtlich des Falls Baker v. Carr wider.317 Diese Entscheidung enthält von den anderen Staatsgewalten her drei verschiedene Theorien der Rolle des Supreme Court über die political-question-Doktrin. Nach der klassischen Theorie 310

Hinsichtlich des Staatsgerichtshofes der Reichsverfassung von 1919, s. Reinhard, S. 32. Für Zuck, JZ 1974, S. 361, 364, ist der judicial self-restraint ein Synonym oder die Kehrseite der political-question-Doktrin. 312 Wittig, Der Staat 8/1969, S. 137, 144. 313 In Marbury v. Madison lassen sich Ansätze der political-question-Doktrin feststellen. Bereits Jahre bevor der genannte Fall entschieden worden war, hatte jedoch ein Mitglied des Supreme Court, Justice James Iredell, in Ware v. Hylton einen Streitpunkt als nicht-justiziable political question qualifiziert und dies ausführlich begründet, vgl. Haller, S. 181. 314 Nowak/Rotunda/Young, S. 102: „The political question doctrine […] is a misnomer“. 315 Brugger (2001), S. 21: „Der Supreme Court lehnt es ab, ,political questions‘ [im engeren Sinne] zu entscheiden. Der Supreme Court urteilt über viele solcher ,political cases‘, vor allem im Grundrechtsbereich, aber auch im Staatsorganisationsrecht“. 316 Nowak/Rotunda/Young, S. 102; „Mit political question meint das Gericht, dass die betreffende Frage nicht-justiziabel sei“. Haller, S. 353; s. auch Schäfer, S. 68 ff.; Nielsen, ARSP 1968, S. 575 ff.; Scharpf, S. 15 ff. 317 369 U.S. 186, 217 (1962): „It is apparent that several formulations which vary slightly according to the settings in which the questions arise may describe a political question, although each has one or more elements which identify it as essentially a function of the separation of powers. Prominent on the surface of any case held to involve a political question is found a textually demonstrable constitutional commitment of the issue to a coordinate political department; or a lack of judicially discoverable and manageable standards for resolving it; or the impossibility of deciding without an initial policy determination of a kind clearly for non judicial discretion; or the impossibility of a court’s undertaking independent resolution without expressing lack of the respect due coordinate branches of government; or an unusual need for unquestioning adherence to a political decision already made; or the potentiality of embarrassment from multifarious pronouncements by various departments on one question“. 311

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kann der Supreme Court keine Entscheidung treffen, wenn die Verantwortung der Streitentscheidung gemäß der Verfassung anderen Staatsgewalten zugewiesen worden ist (etwa: Marbury v. Madison).318 Ein „prudential view“ der politicalquestion-Doktrin ermöglicht die Anwendung dieser Doktrin, wenn ein wesentliches Prinzip oder die Autorität des Supreme Court selbst beschädigt werden kann. Der funktionellen Theorie zufolge müssen schließlich Faktoren wie die Schwierigkeiten des Zugangs zu den relevant-richterlichen Informationen, die Notwendigkeit einer einheitlichen Entscheidung, die weitreichenden Kompetenzen anderer Staatsgewalten in Betracht gezogen werden, bevor der Supreme Court einen Beschluss fasst.319 Im deutschen Recht hat E. Kaufmann320 die politischen Fragen als erste Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit bezeichnet,321 denn „von ihr sind alle politischen Fragen ausgeschlossen“322. Er definiert politische Fragen als „Fragen, für deren Entscheidung keine Rechtsnormen bestehen“323. Für diese Definition sei entscheidend, ob „auf einen Streitfall Rechtsnormen oder Normen anderer Art anzuwenden sind, unabhängig von jedem politischen Beigeschmack oder Nachgeschmack“324. Häberle zeigt sich über diese Auffassung skeptisch, weil rechtliche Bindung nicht mit richterlicher Kontrolle identisch ist, d. h., „die Verneigung der Justiziabilität bedeutet nicht das Fehlen materiellrechtlicher Normen“325. E. Kaufmann macht ferner nicht deutlich, wann eine Norm Rechtsnorm ist, und ob alle Normen der Verfassung echte Rechtsnormen im strengen Sinne und deshalb auch justiziabel sind, oder ob es nicht vielmehr Verfassungsnormen geben kann, die lediglich politische Direktiven an den Gesetzgeber darstellen, hier erinnert Bachof etwa an die Ursprungsfassung von Art. 72 Abs. 2 GG.326 Ähnlich wie Ehmke,327 der für die 318

5 U.S. (1. Cranch) 137 (1803). Vgl. Tribe, S. 96 ff. 320 E. Kaufmann, VVDStRL 9/1952, S. 1 ff. 321 Müller/Christensen, Rn. 130, berücksichtigen die political-question-Doktrin als funktionell-rechtliches Interpretationsprinzip. 322 E. Kaufmann, VVDStRL 9/1952, S. 1, 4. 323 E. Kaufmann, VVDStRL 9/1952, S. 1, 5. 324 E. Kaufmann, VVDStRL 9/1952, S. 1, 4. 325 Häberle, DVBl 1973, S. 388, 389. 326 Bachof, VVDStRL 9/1952, S. 118 f.: „Die Frage, ob eine ,Ermessungsüberschreitung‘ des Gesetzgebers vorliegt, scheint mir ihrerseits wieder eine eminent politische Frage zu sein“. 327 Ehmke, VVDStRL 20/1963, S. 53, 75 f., 102: „Die ,political question‘-Doktrin (kann auch für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von Bedeutung sein“; ders. (1961), S. 463; s. auch Ipsen, VVDStRL 20/1963, S. 120, 121. Anders Hopfauf, in: SchmidtBleibtreu u. a. (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 61: „Die Annahme der political question-Doktrin wäre nach dem Grundgesetz eine Justizverweigerung“; Schlaich/Korioth, Rn. 505: „Es besteht weithin Einverständnis darüber, daß die amerikanische political question-Doktrin […] auf das BVerfG nicht übertragbar ist“; Benda/Klein/Klein, Rn. 28: „Es entspricht allgemeiner Ansicht, dass eine Übertragung dieser Theorie auf die Jurisdiktion des BVerfG nicht in Betracht kommt“; Haratsch, in: Sodan (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 93 Rn. 3: „Die aus dem US-amerikanischen 319

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Übernahme der political-question-Doktrin plädiert,328 glaubt Dolzer, dass sich diese Doktrin sicherlich auch im Schema der Gewaltenteilung des Grundgesetzes findet.329 Leibholz unterscheidet zwischen politischen Streitigkeiten und politischen Rechtsstreitigkeiten. Politische Streitigkeiten könnten nach Rechtsregeln nicht beurteilt werden, „weil es sich bei ihnen um ,Streit um Schaffung neuen oder Aufrechterhaltung alten Rechts, also um Streit um das Recht und nicht nach dem Recht‘, handelt“330. Sie seien Fragen, die Entschlüsse von Wertekonflikten verlangen und die gefundenen Werte weithin unwägbar sind.331 Eine politische Rechtsstreitigkeit sei demgegenüber eine solche, die anhand einer mithilfe der üblichen Interpretationsmethode inhaltlich näher bestimmbaren Norm rechtlich entschieden werden kann.332 Thoma geht von drei Elementen aus,333 damit ein Streit als politisch bezeichnet wird: 1. wenn er politisch wichtig erscheint, 2. bei der Bewertung verschiedener gegenüberstehender Prinzipien sowie 3. bei Lücken in der Kompetenzverteilung.334 Da der Unterschied zwischen politischen Streitigkeiten und politischen Rechtsstreitigkeiten unklar und umstritten ist, und die political-question-Doktrin mit dem Grundgesetz und der Stellung und den Befugnissen des BVerfG unvereinbar ist,335 lehnt die deutsche Literatur diese Doktrin überwiegend ab,336 obwohl man glaubt, dass der Verfassungsprozessrecht bekannte ,political question-doctrine‘ ist dem deutschen Verfassungsrecht fremd“; Voßkuhle, in: Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, Art. 93 Rn. 22; Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Art. 93 Rn. 11: „Eine Political-Question-Doctrin ginge am Wesen der grundgesetzlichen Verfassungsgerichtsbarkeit vorbei“; Piazolo, S. 17 ff.; Rinken, in: Denninger u. a. (Hrsg.), AK-GG, Vorbemerkungen zu Art. 93 und 94 Rn. 91: „Die Doktrin ist aus den besonderen Zusammenhängen der amerikanischen Verfassungsunwelt nicht in die Verfassungsordnung des GG übertragbar“. 328 Häberle (2002), S. 50. 329 Dolzer (1972), S. 108 f.: „Die Einwände, die gegen eine Anwendbarkeit der politicalquestion-Doktrin im Rahmen des Grundgesetzes vorgetragen worden sind, überzeugen demgegenüber nicht“; ders. (1982), S. 27 ff. 330 Leibholz, JöR 6/1957, S. 120, 125; Klein (1966), S. 20 f., 35, meint: Politische Rechtsstreitigkeiten sind Rechtsstreitigkeiten, die nach justiziablen Normen entschieden und einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterstellt werden können, rein politische Streitigkeiten sind Streitigkeiten, die nach Rechtsregeln nicht entschieden und verfassungsgerichtlich deswegen nicht kontrolliert werden können. Lediglich können reine Rechtsstreitigkeiten und politische Rechtsstreitigkeiten überprüft werden. 331 Leibholz, JöR 6/1957, S. 120, 125. 332 Leibholz, VVDStRL 20/1963, S. 117, 118. 333 Thoma, VVDStRL 5/1929, S. 104, 107. 334 Zuck, JZ 1974, S. 361, 365. 335 Landfried, S. 153 f.: „Für das Bundesverfassungsgericht gibt es diese Möglichkeit, die Entscheidung einer hochpolitischen Frage abzulehnen, nicht“. 336 „Die Ablehnung der political-question-Doktrin für das Bundesverfassungsgericht hat nichts damit zu tun, daß das Gericht seiner Entscheidung nur justiziable Normen zugrunde legen darf und Gesetze nur dann verwerfen sollte, wenn ihre Verfassungswidrigkeit evident ist. Für den ,judicial self-restraint‘ bin ich seit jeher theoretisch und praktisch eingetreten. Aber eben die Frage, ob das Handeln der politischen Staatsorgane verfassungsrechtlich gebunden ist, oder ob es sich in dem verfassungsrechtlich der freien Gestaltungsmöglichkeit überlassenen Bereich

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Gedanke der political-question-Doktrin in der Rechtsprechung des BVerfG – etwa Kalkar-337 und Hess-Beschluss338 – implizit angewandt worden ist.339 Das BVerfG und das deutsche Verfassungsprozessrecht haben ein eigenständiges Verständnis der political-question-Doktrin, da das deutsche Recht die in der Rechtsprechung des USSupreme Court entwickelte political-question-Doktrin, die einen solchen Rechtsprechungsverzicht anerkennt, nicht kennt.340

4. Häberle’sche Ansicht der Verfassungsstreitigkeiten a) Begriff der Verfassungsstreitigkeiten Befasst Häberle sich mit dem Verständnis der Verfassungsstreitigkeit, so versteht er sie auch materiell: „Gefordert ist, dass die streitigen rechtlichen Beziehungen entscheidend vom Verfassungsrecht geformt und die Streitpartei unmittelbar am Verfassungsleben beteiligt sind“341. Es geht um die sogenannte doppelte VerfassungsUnmittelbarkeit-Theorie. In dem gleichen Sinn sprach auch Hesse. Für ihn bezeichnet Verfassungsstreitigkeit diejenigen verfassungsrechtlichen Streitigkeiten, in denen oberste Staatsorgane des Bundes oder der Länder als Parteien eines Streitverhältnisses einander gegenüberstehen, sie ist also durch die verfassungsrechtliche Stellung der Beteiligten, nicht nur durch den Gegenstand des Streits bestimmt.342 Der materielle Begriff der Verfassungsstreitigkeit ist somit rechtlich durch Partei und Gegenstand bestimmt.343 b) Political-question-Doktrin und self-restraint Darüber hinaus beschäftigt sich Häberle mit der political-question-Doktrin344 im Rahmen des klugen Wechselspiels von judicial activism und judicial self-restraint.345 bewegt, und welchen normativen Gehalt die Bestimmungen des Grundgesetzes haben, das ist letztlich vom Bundesverfassungsgericht und von ihm allein verbindlich zu entscheiden“, vgl. Friesenhahn, ZRP 1973, S. 188, 193. 337 BVerfGE 49, 89. 338 BVerfGE 55, 349. 339 Landfried, 1984, S. 153 f. 340 Lechner/Zuck, S. 44 Rn. 52. 341 Häberle, in: Häberle, (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 9 Anm. 34b. 342 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 674. 343 Bachof, AöR 1953/1954, S. 107, 115; Bethge, in: Maunz u. a. (Hrsg.), BVerfGG Kommentar, Bd. I, vor § 17 Rn. 73. 344 Häberle (2014), S. 208: „Die in den USA entwickelten einschlägigen Doktrinen wie die ,preferred freedoms doctrine‘ oder die ,political question-Frage‘ machten im alten Europa erst nach dem 2. Weltkrieg Karriere, standen aber sozusagen für schöpferische Rezeptionsprozesse, auch wenn sie nur modifiziert übernommen oder auch zurückgewiesen werden“; ders. (2006), S. 590.

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D. Verfassungsgerichtsbarkeit im Kern des Rechts und der Politik

Es gehe um eine flexible Sicht ihres Zusammenspiels.346 Aus zwei Gründen ist das zutreffend: Einerseits steht judicial self-restraint mit der political-question-Doktrin in engem Zusammenhang,347 andererseits zeigen sich Auswirkungen des Verhältnisses von Recht und Politik überall in den Forderungen nach self-restraint des BVerfG.348 Für Häberle bilden sie keine allgemeinen Regeln. Phasen des judicial activism und des judicial restraint dürfen im Lichte eines gesellschaftsvertraglichen Verständnisses des BVerfG einander ablösen.349 Das BVerfG sollte sich befleißigen, zwischen judicial self-restraint und judicial activism vernünftig zu pendeln, dies wäre höchst angebracht.350 Das BVerfG verliere damit nicht seine politische Kraft, auch wenn es sich zurückhält; es agiere stets sowohl juristisch als auch politisch, so erweise sich Recht oder Politik als Scheinalternative.351 Bloßer judicial self-restraint als Faustregel wäre eine voreilige und unzureichende Antwort des BVerfG.352 Auch für das Verfassungsprozessrecht und nicht nur für die außenpolitischen Fragen ist das Problem des self-restraint von Belang. In der Auslegung und Praxis der Normen des Verfassungsprozessrechts zeigt sich, ob und wie stark sich das BVerfG des self-restraint befleißigt oder sich judicial activism leistet.353 Der self-restraint, der sich spezifisch über und durch das Verfassungsprozessrecht geltend macht, hat sein Gegenstück in dessen flexibler Anwendung, um zur materiellen Seite, zur Sache selbst zu kommen.354 Self-restraint des BVerfG ist nicht zwangsläufig mit Abdankung seiner Zuständigkeiten zu assoziieren. Die von Häberle vorgeschlagene Flexibilität in der Anwendung von self-restraint und judicial activism ist deshalb bemerkenswert. Auch wenn sich das BVerfG zurückhalt, handelt es politisch. Selfrestraint und judicial activism sind nicht mehr als zwei Wesensarten des BVerfG. Das Politische erscheint sowohl als richterliche Zurückhaltung als auch als richterlicher Aktivismus. An sich sind sie weder gut noch schlecht. Es bedarf Takt, Feingefühl und 345 Häberle, (2014), S. 240; ders., in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 35, 44 f. 346 Häberle (1998), S. 519. 347 Zuck, JZ 1974, S. 361, 365. 348 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 4 f. 349 Häberle (2014), S. 253. 350 Häberle (1998), S. 549. 351 Häberle (1980), S. 60, 72 f. 352 Hesse (1984), S. 314 f.; Morlok/Michael, S. 399 Rn. 62; Seifert, in: Tohidipur (Hrsg.), Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik, S. 116 ff. Dagegen schlägt Birk, in: Roellecke (Hrsg.), Zur Problematik der höchstrichterlichen Entscheidungen, S. 340, 364 f., folgende Regel vor: „Richterliche Selbstbeschränkung (judicial self-restraint) bei der Weiterentwicklung der Rechtsordnung ist rechtlich nur dort geboten, wo formal das Gewaltenteilungsprinzip als Grundsatz der Teilung der Staatsfunktionen ernsthaft tangiert oder in Frage gestellt oder wo materiale Grundentscheidungen von weittragender Bedeutung gefällt werden würden“. 353 Häberle (1998), S. 641: „Das Problem stellt sich allgemeiner: in den unterschiedlichsten Zusammenhängen zeigt sich, wie durch einzelne Prozeßrechtsnormen ,hindurch‘ sich das BVerfG zur Zurückhaltung selbst-diszipliniert“. 354 Häberle (1998), S. 651.

V. Zwischenergebnis

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politischer Sensibilität der Verfassungsrichter.355 Wann richterliche Aktivität angezeigt ist, wann sich richterliche Zurückhaltung empfiehlt, kann das Verfassungsrecht kaum sagen.356 Auf jeden Fall kommt es darauf an, wie sich das BVerfG des selfrestraint und des judicial activism bedient.

V. Zwischenergebnis Übersieht man das Verhältnis von Recht und Politik, so ist das Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht zu bestimmen. Recht und Politik lassen sich im demokratischen Verfassungsstaat nicht mehr als Gegenpole bezeichnen. Sie sind Teilelemente des ganzen res publica und als solche dienen sie dem Gemeinwohl. Deshalb ist das Politische kein Zusatz der Verfassungsgerichtsbarkeit, ganz im Gegenteil wohnt es der Verfassungsgerichtsbarkeit inne. Diese führt daher ein unumstrittenes politisches Wesen, denn Recht und Politik zeigen sich stets untrennbar. Das reine Recht und die pure Politik bestehen nicht. Die Verfassung, die die Verfassungsgerichtsbarkeit interpretiert und konkretisiert, hat großen politischen Gehalt und damit wird das Verfassungsrecht zum echten politischen Recht. Die Verfassungsstreitigkeiten schließen stets – in geringem oder größerem Ausmaß – eine politische Frage ein, daher ist gleichzeitig die Interpretation der Verfassung ein rechtlicher und politischer Vorgang. Die Entscheidungen des BVerfG haben allzu häufig bedeutende Auswirkungen nicht nur auf den Bereich des Rechts, sondern auch der Politik, was die Verfassungsrichter, die als Menschen auch eine unvermeidliche politische Dimension haben (homo politicus), nicht übersehen dürfen. So steht die Verfassungsgerichtsbarkeit weder zwischen noch im Spannungsfeld des Rechts und der Politik, da das Politische von vornherein zu ihrem Kern gehört. Mit vollem Recht sagt daher Häberle, dass das viel verwendete Motto Verrechtlichung der Politik oder Politisierung des Rechts – im Verfassungsstaat der Gegenwart – „nicht viel besagt: allenfalls die Warnung vor einem Zuviel an ,judicial activism‘“357.

355 356 357

Häberle (2014), S. 217; ders., EuGRZ 2004, S. 117, 122. Häberle (2014), S. 253. Häberle (2014), S. 245.

E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld des Staats und der Gesellschaft I. Staat und Gesellschaft 1. Allgemeines Als Triepel1 und Kelsen2 ihr Verständnis der Verfassungsgerichtsbarkeit erläuterten, dachten sie an die Aufgaben einer Verfassung, die im Kern als rechtliche Ordnung des Staates aufgefasst wurde; eine Verfassungsgerichtsbarkeit – so sagt etwa Kelsen –, die den Zweck hat, die Rechtmäßigkeit der Staatsfunktionen zu sichern und die Rechtmäßigkeit der Rechtsakte zu garantieren.3 Eine solche Denkweise beeinflusste weithin die ständigen Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, wobei man sich eingehend mit dem Wesen, den Grenzen,4 der Deutungsmacht sowie dem Status des BVerfG tief auseinandersetzte. Gleichwohl blieben grundsätzliche Fragen offen, insbesondere hinsichtlich der nichtpositivierten Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit. Eine exzessive Aufmerksamkeit für die rein rechtlichen Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit hatte ihre gesellschaftliche Größe vergessen lassen.5 Dies war jedoch für Häberle von großer Bedeutung; er befasste sich 1978 zum ersten Mal mit der Frage nach der Rolle des BVerfG im Gesellschaftsvertrag.

1

Triepel, VVDStRL 5/1929, S. 2, 6: „Verfassung ist Ordnung, rechtliche Ordnung. Sie ist ein in sich geschlossenes System der Rechtssätze, die den Versuch machen, das staatliche Leben zu regeln […]. Sie ist also das Recht, das sich des Wesentlichen im staatlichen Leben zu bemächtigen strebt“. 2 Kelsen, VVDStRL 5/1929, S. 30, 36: Verfassung sei Fundament des Staates, „auf dem sich die übrige Ordnung aufbaut“. 3 Kelsen, VVDStRL 5/1929, S. 30, 43 ff. 4 Scheuner, in: FG aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des BVerfG, Bd. I, S. 1, 50 ff. 5 Etwa Spanner, S. 9: Aufgaben einer Gerichtsbarkeit sind, „staatliche Akte am Maßstab der Verfassung zu messen und maßgeblich über Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit zu entscheiden“; Friesenhahn (1963), S. 7: Das BVerfG ist ausschließlich berufen, „über Fragen der Auslegung und Anwendung der Verfassung zu entscheiden“; Wintrich, in: FS Nawiasky, S. 191, 193: Die Hauptaufgabe des BVerfG ist „auf die autoritative Wahrung, Auslegung und ,Entfaltung‘ der Verfassungsordnung und die Kontrolle der innerstaatlichen Willensbildung auf der Ebene des Verfassungsrechts ausgerichtet“.

I. Staat und Gesellschaft

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2. Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft Man kann die gesellschaftliche Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht verstehen, wenn die Frage nach den heutigen Zusammenhängen von Staat und Gesellschaft unklar bleibt.6 Die Art der Beziehungen zwischen ihnen bestimmt die Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit hinsichtlich der gesellschaftlichen Ordnung. So ist nunmehr zu fragen, wie sich Staat und Gesellschaft verfassungsrechtlich zuordnen lassen und welche Rolle das BVerfG in der Gesellschaft spielt. Über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft bestehen unterschiedliche Ansichten (s. Teil C. II. 1.).7 a) These des Dualismus „Was nicht ,Staat‘ ist, ist ,Gesellschaft‘ und umgekehrt“8. Nach der Theorie des Dualismus versteht man, dass Staat und Gesellschaft getrennte und unabhängige Kreise sind; beide Begriffe werden als Gegensatz gesehen. Die Mitte des 19. Jahrhunderts ist als totale Konfrontation von Staat und Gesellschaft geprägt.9 Indem der Staat mit der vom Monarchen beherrschten Staatsorganisation identifiziert und das Bürgertum als die Gesellschaft bezeichnet wurde, wurde der Zusammenhang von Staat und Gesellschaft von Anfang an auf das Modell eines naturgegebenen Gegensatzes festgelegt.10 Die strikte Trennung von Staat und Gesellschaft erscheint als Voraussetzung und Bedingung individueller Freiheitsübung.

6 Im Allgemeinen s. Koellreutter, S. 69 ff.; G. Jellinek (1966), S. 84 ff.; Salomon, S. 65 ff.; Laski, S. 28 ff.; Krüger (1966), S. 526 ff.; Kelsen (1923, 2. Neudruck 1984), S. 162 ff.; Kriele (1988), S. 292 ff.; Leibholz (1973), S. 112 ff.; Pernthaler, S. 69 ff.; Fleiner/Basta Fleiner, S. 18 ff.; Zippelius (2010), S. 17 ff. 7 Möllers (2008), S. 47; zur Theorie von Staat und Gesellschaft als Elemente eines ständigen Integrationsprozesses, s. Preuß (1969), S. 106 ff. 8 Brunner, in: Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, S. 20 ff.; s. auch Mayer, S. 137. 9 Leibholz (1973), S. 112 f.: „Für das traditionelle preußisch-deutsche Staatsdenken stand die Gesellschaft außerhalb des Staates und damit außerhalb der eigentlichen Sphäre des Politischen. Die Gesellschaft erschien als nichts anderes als die Summe der partikularen, meist rein wirtschaftlich ausgerichteten Kräfte. Darum wurde die Gesellschaft bis in das 20. Jahrhundert hinein bei uns als in einem notwendigen Gegensatz zum Staate stehend betrachtet. Dieser Antagonismus zwischen Staat und Gesellschaft hat noch in der Weimarer Verfassung seinen Ausdruck in der verbreiteten Auffassung gefunden, daß die Gesellschaft ihren Charakter dem Staate aufzudrücken und diesen damit zugleich des ihm eigenen politischen Charakters zu entkleiden versucht hat“. 10 Herzog, S. 52 f.: „Ausgangspunkt dieser neuen Sicht der Dinge war […] die durch eine zumindest der Theorie nach absolute, auf Beamtenschaft, Armee und Kirche gestützte monarchische Staatsgewalt auf der einen Seite und durch ein aufstrebendes, die zunehmend an Bedeutung gewinnende Wirtschaft beherrschendes und folgerichtig auch nach politischem Einfluß verlangendes Bürgertum auf der anderen Seite geprägt war“.

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

Anders aber Hegel, bei dem sich die erste gedankliche Fassung und Ausarbeitung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft findet,11 unterschied Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat.12 Der Staat sei „das an und für sich Vernünftige“, in dem „die Freiheit zu ihrem höchsten Recht“ komme;13 die bürgerliche Gesellschaft, die durch Willkür und Beliebigkeit beherrscht sei, biete „das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens“ dar.14 Deshalb machte er auf die Verwechslung des Staates mit der bürgerlichen Gesellschaft aufmerksam,15 die zwischen die Familie und den Staat trete.16 Diese Dichotomisierung war bei den Physiokraten – wie Quesnay, Turgot, Du Pont de Nemours – auch klar.17 Die wichtigste Folge ihrer Lehren war, dass sie Gesellschaft – ordre naturel – und Staat – ordre positif – „in Nacheinander“ trennten; die Gesellschaft war eine von der Natur abhängige physische Ordnung, der Staat dagegen eine vernünftige Organisation der ausgereiften sozialen Beziehungen auf einer bestimmten Stufe.18 Der Staat sei also der Kreis der Vernünftigkeit und der Freiheit, die Gesellschaft dagegen der des Naturzustands der Menschen. Aus anderer Sicht der Fragestellung nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft erscheine der Staat primär als Machtapparat, dessen Gegenspielerin die freie Gesellschaft sei.19 Das Leben der Gesellschaft reguliere sich in diesem Sinne prinzipiell selbst, der Staat sollte nur die Voraussetzungen dieses eigengesetzlichen Ablaufs gewährleisten und im Falle von Störungen sollte er eingreifen.20, 21 Dies sei Ausdruck der Beziehungen der sich in monarchischer Regierung und Beamtenapparat verkörpernden staatlichen Gewalt und einer von politischer Bestimmung und Gestaltung weithin ausgeschlossenen Gesellschaft gewesen, deren Leben sich prinzipiell selbst regulierte, während der Staat nur die Voraussetzungen dieses eigengesetzlichen Ablaufs zu gewährleisten und im Falle von Störungen einzugreifen hatte.22 Eine solche totale Trennung von Staat und Gesellschaft lässt sich dennoch in 11

Böckenförde, in: Staatslexikon, Bd. 5, S. 228 ff. Zur Marx’schen Auffassung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft s. Basso, in: Pozzoli (Hrsg.), Rahmenbedingungen und Schranken staatlichen Handelns, S. 9 ff. 13 Hegel, S. 398 ff. 14 Hegel, S. 341; Riedel, S. 135 ff. 15 Hegel, S. 399. 16 Hegel, S. 399. 17 Dazu Heffter S. 41 ff. 18 von Stein, S. XXIII; s. auch Gneist, S. 1 ff.; von Mohl (1858, Nachdruck 1960), S. 88 ff. 19 Briefs, in: Staatslexikon, Bd. III, S. 817, 840. 20 Pernthaler, S. 70 ff. 21 Herzog, S. 48 ff. 22 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 11: „Dieser Dualismus wurzelt noch in vordemokratischen liberalen Vorstellungen der Zeit vor 1918“. Dazu Heller (1970), S. 125 ff.; Brunner, S. 187 ff.; Angermann, ZfP 1963, S. 89 ff.; Conze, in: Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, S. 37 ff. Statt der Begriffe „Staat“ und „Gesellschaft“ bevorzugt Ehmke (1981), S. 320, die Kategorien „politisches Gemeinwesen“ und „government“. 12

I. Staat und Gesellschaft

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der Gegenwart nicht vertreten, denn die sozialen und politischen Bedingungen haben sich geändert.23 b) These der Unterscheidung Forsthoff hat nicht nur eine prinzipielle Scheidung von Staat und Gesellschaft hervorgehoben, sondern auch die „Priorität und Superiorität des Staates gegenüber der Gesellschaft“24 (Stichwort: liberaler Nachtwächterstaat). Er meint, dass die freiheitsstiftende rechtsstaatliche Verfassung mit der Unterscheidung25 von Staat und Gesellschaft steht und fällt.26 Er postuliert, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft sei eine sinnvolle und „notwendige dialektische Zuordnung von zwei Modi mitmenschlichen Seins“27. Die Herausbildung – nach Böckenförde in Anlehnung an Heller28 – der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft lasse sich als eine Wechselbeziehung dialektischer Art bestimmen. „Der Staat (als organisatorische Wirk- und Entscheidungseinheit) gibt und erhält der Gesellschaft ihre (Rechts-) Ordnung, wirkt in sie hinein und erbringt Leistungen für die Gesellschaft“29. Der Staat sei hier kein Verband, sondern lediglich Organisation bzw. organisierte Wirkeinheit, die als politische Entscheidungseinheit oder Herrschaftsorganisation „für die Gesellschaft oder, wenn man will, über ihr“ bestehe;30 der Staat „bestimmt […] die Verfassung der Gesellschaft“31; die Gesellschaft wird erst durch den Staat heraufgeführt. „Nur als staatlich geordnete Gesellschaft kann sie in dieser Weise existieren, sie ist auf Staat und Staatlichkeit notwendig verwiesen“32. Für die These der Unterscheidung sei diese eine Bedingung der individuellen Freiheit. Historisch und systematisch stehe die Funktionsreduzierung des Staates am Anfang der ge-

23

Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 11. Forsthoff (1976), S. 4, bedauert zugleich die Entthronung des Staates von der Ordnung des sozialen Ganzen her. Er sagt: „Die Bundesrepublik als Staat ist zur Funktion der Gesellschaft geworden. Die Ordnung des sozialen Ganzen ist nicht mehr das Werk des Staates allein. An ihr sind vielmehr alle durch die Selbstorganisation der Gesellschaft formierten Kräfte beteiligt, also neben dem Staat und den Parteien auch die Verbände“. 25 Zu den Folgen der Verwechselung der Bedeutung von Unterscheidung und Trennung (bzw. Dichotomie) in der rechtsphilosophischen Auseinandersetzung, s. Llompart, in: FS Schambeck, 1994, S. 35 ff. 26 Forsthoff (1971), S. 21. 27 Gleichwohl ist diese Unterscheidung nicht an die Philosophie Hegels gebunden, wie Forsthoff (1971), S. 21, präzisiert. 28 Heller (1970), S. 237: „Der Staat ist keine Normordnung; er ist auch nicht das ,Volk‘; er besteht nicht aus Menschen, sondern aus menschlichen Leistungen“. 29 Böckenförde, in: Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, S. 395, 409; ders., in: Staatslexikon, Bd. 5, S. 228 (228 ff.); ders. (1999), S. 127; s. auch Klein (1972), S. 34 ff. 30 Böckenförde (1973), S. 24 ff. 31 Böckenförde (1973), S. 30. 32 Böckenförde (2011), S. 54. 24

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

sellschaftlichen Freiheit; „der Staat kann nicht geben, ohne auf der andern Seite zu nehmen“33. Die These der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft findet auch in der Auffassung Isensees einen Platz.34 Staat bedeute, „die Organisation mit der Befugnis, unwiderstehliche Gewalt auszuüben“, und Gesellschaft bilde „die komplementäre Größe, die als Inbegriff aller sozialen Erscheinungen unterhalb jener Instanz zu erfassen ist“35. Er hebt hervor, dass nicht der Dualismus von Staat und Gesellschaft unter den Auspizien von Demokratie und Sozialstaat infrage gestellt werde, nicht ihre Existenz in einer verwandelten Welt neu bestimmt werden müsse, sondern ihre Essenz.36 Staat und Gesellschaft seien daher nicht mehr autarke Ordnungen, sondern eine dialektische Einheit. „In dieser dialektischen Zuordnung, die Diversität und Identität umschließt, bildet der Staat die Antithese zur Gesellschaft und die umgreifende einheitstiftende Synthese“37. c) Die politische Gemeinwesenslehre Hinsichtlich der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ist Scheuner vorsichtiger. Für ihn habe eine Beibehaltung des Unterschieds von Staat und Gesellschaft „keine Berechtigung mehr als artikulierte Trennung zweier sozialer Reiche, als Gegensatz von Freiheit und Zwang, Autonomie und Herrschaft, sondern nur als beschreibende Abbreviatur zweier Sphären des Gemeinwesens, zwischen dem engeren Raum der Institutionen der Leitung und Administration auf der einen und dem weiteren Kreis der vielgliedrigen Gruppen und Gebilde auf der anderen Seite“38. Trotzdem sei auch dieser letztere Bereich auf das Ganze bezogen und bilde einen Teil des politischen Prozesses, der Willensbildung der Gesamtheit; in dieser Funktion werde er deshalb als der Bereich des Öffentlichen verstanden und Prozesse wie die öffentliche Meinungsbildung würden hier ihren Platz haben.39 Den Ausgangpunkt des Blickwinkels von Ehmke bildet der Verzicht auf die Kategorien Staat und Gesellschaft, weil mit ihnen – seiner Ansicht nach – die modernen Probleme der Staats- und Verfassungstheorie gedanklich nicht bewältigt werden könnten.40 Stattdessen verwendet er das Begriffspaar politisches Gemein33

Böckenförde, in: Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, S. 395, 430. Isensee (1968), S. 149. 35 Isensee (1968), S. 149. 36 Isensee (1968), S. 154. 37 Isensee (1968), S. 154. 38 Scheuner (1978), S. 33 f. 39 Scheuner (1978), S. 34. 40 Ehmke, in: Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, S. 241, 243, 264: „Es ist wichtig, festzuhalten, daß gerade die idealistische Staatstheorie nicht in der Lage gewesen ist, die Trennung von ,Staat‘ und ,Gesellschaft‘ zu überwinden, und daß der staatsrechtliche Positivismus selbst nur ein Zerfallsprodukt dieser Trennung war“. 34

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wesen – civil society – und government.41 Aus dieser Perspektive muss das Verhältnis von Staat und Gesellschaft nur weitergedacht werden, wenn an die Stelle von „government“ „governance“ tritt.42 Der Begriff government vereinige dabei institutionelle und personelle Momente, Grundbegriff seines Verhältnisses zur civil society sei der trust.43 Die wesentliche Kritik von Ehmke an der Theorie der Trennung von Staat und Gesellschaft liegt darin, dass sie zu einer unnötigen und ungerechtfertigten Verdoppelung oder Teilung des menschlichen Verbandes führe,44 denn Staat und Gesellschaft seien bestimmte Funktionen des einheitlichen politischen Gemeinwesens, d. h.: „Es gibt eine Verfassung und das ist die des politischen Gemeinwesens“45.

3. Staat und Gesellschaft in Häberles Denken Das Problem des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft ist für Häberle bekannt. Er hat dieses Thema aus unterschiedlichen Perspektiven behandelt, etwa hinsichtlich der Wissenschaft als Produktivkraft,46 der Beziehungen von Zeit und Verfassung,47 des Verfassungsbegriffs, der Grundwertdiskussion,48 des Grundrechtsverständnisses,49 des konstitutionellen Religionsrechts, der Diskussion um die Konstitutionalisierung der Gesellschaft,50 des Kulturverfassungsrechts51 sowie des Rechts der politischen Parteien.52 Er hat nicht nur die Dichotomie Staat – Gesellschaft kritisiert, sondern auch eine fruchtbare Alternative vorgeschlagen.

41

Ehmke, in: Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, S. 241, 269. Zum „Governancebegriff“, s. Schuppert, in: Schuppert/Zürn (Hrsg.), Governance in einer sich wandelnden Welt, S. 13 ff.; ders. (2014), S. 21 ff.; Pilniok, S. 7. 43 Ehmke, in: Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, S. 241, 244. 44 Ehmke, in: Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, S. 241, 268: „Es handelt sich um einen menschlichen Verband, zu seiner Verdoppelung oder Teilung in ,Staat‘ und ,Gesellschaft‘ besteht keinerlei Anlaß“. 45 Ehmke, in: Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, S. 241, 269; s. die Kritik bei Böckenförde (1973), S. 22, und bei Isensee (1968), S. 151. 46 Häberle (1998), S. 55. 47 Häberle (1998), S. 59 ff. 48 Häberle, S. 16 ff. 49 Häberle (1980), S. 163 ff. 50 Häberle (1998), S. 360. 51 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, S. 1, 6, 46 ff.; ders. (1992), S. 652 Anm. 105. 52 Häberle (1979), S. 173 ff. 42

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

a) Die Kritik an der Identitäts-, Dualismusund Unterscheidungstheorie Die Auseinandersetzung über den Dualismus von Staat und Gesellschaft, die sich am Ausgang des 18. Jahrhunderts entwickelte,53 bildet einen Grundzug des deutschen Staats- und Verfassungsdenkens.54 Gleichwohl sind im Rahmen des gegenwärtigen Verfassungsstaats sowohl die Ineinssetzung als auch der Dualismus von Staat und Gesellschaft, der gelegentlich in der These der Unterscheidung verdeckt ist, unhaltbar. Nicht nur die Identität, sondern auch der Dualismus und die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft sind nicht frei von Gefahren, „auch wenn diese einer auf die Gefahr des Ausgriffs in eine neue Totalität gerichteten Betrachtung weniger in den Blick kommen mögen“55. Daher distanziert sich Häberle von diesen Theorien, die Staat und Gesellschaft total identifizieren – wie in den totalitären Regimen56 –, und allen Ansätzen, die sie völlig zu trennen versuchen. Dort, wo die Staatlichkeit relativiert wird – etwa durch supranationale Organisationen wie die EU –, ist auch das Verhältnis von Staat und Gesellschaft weiterzudenken. Das dualistische Modell Staat/Gesellschaft ist nicht zur sachgemäßen Erklärung des komplexen Verhältnisses von Staat und Gesellschaft in der Lage. Sie sind auch nicht in das Objekts-/Subjektschema zu bringen, ebenso wenig in das von Statik und Dynamik.57 Im Dualismus erscheint der Staat als der große Antipode der Freiheit, als ob nur dort Freiheit sei, wo der Staat nicht wirkt oder abwesend ist, und dort Freiheit von selbst bestehe, wo das Private, die Gesellschaft sich selbst überlassen sei.58 Diese Auffassung ist für Häberle irreführend und defizitär, weil die konstituierende Bedeutung der Verfassung für die Zusammenordnung von Staat und Gesellschaft unberücksichtigt bleibt.59 Der Staat ist nicht nur potenzieller Feind der Freiheit, auch aus dem gesellschaftlichen Bereich können Freiheitsgefährdungen kommen.60 Gleichwohl hat die Freiheit ihren Ort im demokratischen Staat und in der verfassten Gesellschaft.61 Darüber hinaus lehnt Häberle die dualistische These ab, weil sie mit einem Öffentlichkeitsdefizit einher geht. Der Dualismus und die ihm zugehörige Methode des staatsrechtlichen Positivismus sind als historische Hintergründe, Ur53

Dazu Scheuner (1978), S. 33. Ehmke (1961), S. 5. 55 Hesse, in: Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, S. 484, 491. 56 Arndt (1976), S. 226: „Staat, der Gesellschaft gar nicht anerkennt, sondern der sie absorbiert, wie das totalitäre Regime, pflegt auch ungehemmt zu sein in der Gewaltenanwendung und sich keine Grenze der Gewaltenanwendung zu setzen, sie auch nicht anzuerkennen“. 57 Häberle (1998), S. 262. 58 Häberle, JuS 1967, S. 64, 70. Für Scheuner, VVDStRL 22/1965, S. 1, 30, beruht die Demokratie nicht auf einem prinzipiellen Gegensatz von Staat und freier Gesellschaft, sondern auf der Mitwirkung und Mitbestimmung des Volks an der Regierungsaufgabe, auf Konsens, Auftrag und Kontrolle. 59 Häberle (1979), S. 177 f. 60 Häberle, JuS 1967, S. 64, 74. 61 Häberle (1998), S. 259. 54

I. Staat und Gesellschaft

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sache und Charakteristika jenes Defizits zu erkennen,62 ebenso wie die falsche Identifizierung von öffentlich und staatlich.63 Auch die These der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit überzeugt nicht,64 einerseits, weil sie als Ausdruck einer funktionellen Differenzierung Überreste der früheren Anschauung transportiert,65 andererseits liegt das eigentliche Problem nicht in der Notwendigkeit einer Reduzierung staatlicher Funktionen,66 sondern in der konkreten und differenzierten Zuordnung von Staat und Gesellschaft durch Verfassung und Gesetz, „bei der es darauf ankommt, das ,richtige‘ Maß von Trennung und Verbindung“67 zu finden, abgesehen davon, dass das Grundgesetz die Verfassung des sozialen Rechtsstaats geschaffen hat.68 Dies hat zur Folge, dass sich der Staat in Bereiche ausdehnt, die bisher „nichtstaatlicher“ Selbstregulierung überlassen waren69 (etwa das Internet und die sozialen Netzwerke70); die Gesellschaft dehnt sich in Bereiche, die bislang „staatlicher“ Regelung und Entscheidung vorbehalten waren (z. B. soziale Sicherung, sozialer Ausgleich, Umweltschutz, Bauplanung).71 b) Republikanische Bereichtrias als Häberle’sche Alternative der Antinomie Staat – Gesellschaft Wie schon gesehen, tritt Häberle weder für einen strengen Dualismus noch für eine wirkliche oder vermutete Ineinssetzung72 noch für eine Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ein, denn die Dualismus-Doktrin versperrt von vornherein den Zugang zur Freiheit als einheitliches Problem der res publica.73 Durch Begriff und Bereich des Öffentlichen, das der Bereich der Integration der res publica ist,74 hat er indes das Trennungsmodell von Staat und Gesellschaft infrage gestellt.75 Die Ver62

Häberle (2006), S. 712. Häberle (1980), S. 127. 64 Böckenförde (1973), S. 21 ff.; s. auch Karpen, in: Karpen (Hrsg.), Grundlagen von Staat und Recht, S. 1 ff. 65 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 11. 66 Hesse, in: Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, S. 484, 495: „Die Reduzierung staatlicher Funktionen ist zwar Grundbedingung eines nicht-totalitären politischen Systems, aber sie vermag nicht gegen eine Beseitigung dieses Systems zu schützen“. 67 Hesse, in: Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, S. 484, 501. 68 Häberle (1998), S. 262 Anm. 67. 69 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 210. 70 Dazu s. Schuppert (2014), S. 158 ff.; Trottier/Fuchs, S. 3 ff. 71 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 210. 72 Hesse, in: Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, S. 484, 485. 73 Häberle (1998), S. 267. 74 Häberle, JuS 1967, S. 64, 73. 75 Häberle, JuS 1967, S. 64, 67 Anm. 39; Möllers (2008), S. 49: Das Öffentlichen „als eines Vermittlungsbegriffs zwischen staatlicher und privater Organisationsform“. 63

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

fassung der res publica verfasst den Staat einerseits und strukturiert auch die Gesellschaft im freiheitlichen Sinne andererseits.76 Es gibt daher „keine politische Freiheit ohne reale gesellschaftliche Freiheit“77. Da die Verfassung die rechtliche Ordnung konstituiert, sind Staat und Gesellschaft einander zuzuordnen,78 daher lassen sie sich gedanklich und praktisch nicht isolieren, ebenso wie von den Leistungszusammenhängen her kein „Gegenüber“ zwischen ihnen besteht.79 Der Staat ist darüber hinaus keine bloße Herrschaftsorganisation, der auf die Gesellschaft weder von außen noch von oben trifft. Obschon wahr ist, dass die Gesellschaft kein staatsfreier Raum ist, ist ihr Wirkungszusammenhang unabhängig vom Staat undenkbar. Mit Recht sagt Häberle: „Gesellschaft ist immer organisiert und nicht selbstreguliert“80. Jedoch stehe der Staat weder über noch unter der verfassten Gesellschaft.81 Gerade die Internationalisierung und die Europäisierung belegt, dass das hierarchische Zuordnungsmodell nicht mehr trägt. Statt des nicht hilfreichen Modells Staat – Gesellschaft greift Häberle auf sein eigenes Bild der „republikanischen Bereichtrias“ zurück82. Es handelt sich dabei um einen Vorschlag, der die drei Bereiche des politischen Gemeinwesens eines Verfassungsstaats zurückzubinden versucht. Als Rahmen der republikanischen Bereichtrias erscheint die verfasste res publica83 und diese umschließt das Private, das Öffentliche und das Staatliche.84 Das Private bezeichnet keinen ausgegrenzten Bereich von Kommunikationszusammenhängen der Menschen in einem politischen Gemeinwesen, obschon man auch – wie Häberle behauptet – die Möglichkeit des „ohne mich“ anerkennen sollte; es handelt sich zumindest um einen Schutz der Privatheit (right to privacy), die jedoch nicht natürliche, sondern kulturelle und verfasste Freiheit ist.85 Sie ist paradoxerweise Grenze für die demokratische und rechtsstaatliche Öffentlichkeit und zugleich Voraussetzung für Demokratie als politische Verfassung.86 Die Privatheit als grundrechtliche Freiheit hat einen privaten 76 Häberle (1998), S. 83 Anm. 119: „Denn die gesellschaftliche Wirklichkeit ist von vornherein verfassungsgeprägt, die Verfassung der res publica strukturiert auch die sog. Gesellschaft“; s. auch Suhr, Der Staat 17/1978, S. 369, 385 f. 77 Häberle (1998), S. 278. 78 Häberle, VVDStRL 30/1972, S. 43, 56. 79 Häberle, VVDStRL 30/1972, S. 43, 58: „Öffentliche Aufgaben werden teils vom Staat, teils von der Gesellschaft und in vielerlei Kooperationsformen als Gemeinschaftsaufgaben wahrgenommen“. 80 Häberle (1998), S. 278. 81 Häberle (1998), S. 538. 82 Häberle (2013), S. 42. 83 Der Begriff res publica besagt in Häberles Denken auch öffentliche Freiheit, öffentliches Wohl, öffentliches Recht in einem tieferen nicht-technischen Sinne, denn es sind republikanische Begriffe, vgl. Häberle (2013), S. 42. Über die Republik als Verfassungsprinzip s. Nowrot, S. 76 ff. 84 Häberle (1998), S. 621. 85 Häberle (2013), S. 42 ff. 86 Häberle (1980), S. 140.

I. Staat und Gesellschaft

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und einen öffentlichen Aspekt,87 obwohl evident ist, dass ihre öffentliche Seite nicht unbegrenzt ist. Gerade in einer Zeit, in der die Veröffentlichung des Privaten – etwa in den sozialen Netzwerken – überhand zu nehmen droht.88 Das Öffentliche, das übrigens die Verfassung bestimmt,89 hat hier einen doppelten Sinn. Einerseits meint es räumlich den Bereich zwischen Staat und Privatem, vielfach auch als Zivilgesellschaft90charakterisiert,91 die teilweise als öffentlicher Bereich gekennzeichnet wird;92 andererseits bezieht es sich inhaltlich auf eine wertgezogene Dimension: „Es geht um salus publica, um das ,Kräfteparallelogramm‘ eines politischen Gemeinwesens, aus dem sich pluralistisch Kräfte bündeln, miteinander in Dissens und Konsens“93. Die Bürger nehmen auch an der Öffentlichkeit durch die öffentliche Seite ihrer Grundrechte teil. „In einer Demokratie“ – wie Arndt gelehrt hat – „gibt es an Staat nicht mehr, als seine Verfassung zum Stehen bringt“94, d. h. im Verfassungsstaat „gibt es nur so viel Staat, wie die Verfassung konstituiert“95. Unter diesen Postulaten geht die Verfassung, die sich die Bürger selbst geben, dem Staat vorweg. Die Menschenwürde wird hier „kulturanthropologische Prämisse“ des Verfassungsstaats,96 in dem es keinen Raum für vor- oder extrakonstitutionelle Staatsgewalt gibt; damit verschwimmen alle feudalen oder monarchistischen Restbestände.97 Auf diese Weise umfasst das Staatliche sowohl die Staatsorgane als auch die staatlichen Kompetenzen und Funktionen des Parlaments, der Regierung, der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit.98 Solche Kompetenzen und Funktionen „sind zwar mit dem ,gesellschaftlich‘ Öffentlichen, der Zivilgesellschaft vielfältig verschränkt, wie etwa in Fragen der

87

Häberle (1980), S. 140. Fast, S. 25 ff., 171 ff. 89 Fast, S. 131. 90 Offene Gesellschaft und Zivilgesellschaft sind Begriffe, die Häberle gerne verwendet. Zivilgesellschaft bzw. Bürgergesellschaft sei ein Schlagwort unserer Tage, die vor allem aus Frauen, Jugendlichen sowie vielerlei (auch religiösen) Gruppierungen, etwa NGOs wie Amnesty International, Transparency International, Human Rights Watch, Umweltverbänden und weiteren Zusammenschlüssen bis hin zu einzelnen Bürgern bestehe, vgl. Häberle (2013), S. 18, 765. Zum Begriff „Zivilgesellschaft“, s. Möllers (2012), S. 36 f. 91 Häberle (1980), S. 137. 92 Häberle (1980), S. 137. 93 Häberle (2013), S. 44. 94 Arndt, NJW 1963, S. 24, 25. 95 Häberle (1998), S. 620. 96 Häberle, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, § 20 Rn. 56; s. auch Kotzur, in: Liber Amicorum für Häberle, S. 289, 298 ff.: „Jede politische Gemeinschaft hat die Würde des Menschen zur ,anthropologischen Prämisse‘“. 97 Häberle (2013), S. 45. 98 Häberle (2013), S. 45. 88

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

Öffentlichkeitsarbeit der Parlamente und der Regierungen, selbst des BVerfG, erkennbar wird, aber sie sind doch ,für sich‘ eingerichtet und unverzichtbar“99. So versucht die von Häberle entwickelte republikanische Bereichtrias die drei Seiten der res publica – privat, öffentlich und staatlich – zusammenzusehen, auch wenn es immer wieder Konflikte und Reibungen geben mag.100 Sie setzt zudem den Kontrapunkt zu allen Formen von totalitären Staaten, sie schützt vor allem die Freiheit und privaten Bürgerpositionen – die als öffentlicher Prozess konzipierte Verfassung verkennt den Schutz des Privaten nicht.101 Der Wert von Häberles Theorie liegt darin, dass bei ihm die Verfassung – im Vergleich zu anderen Auffassungen – eine bedeutsame Rolle spielt. Die Verfassung bezieht sich nicht nur auf die Staatsorgane im Sinne der klassischen Staatsfunktionen, sondern sie konstituiert auch die Gesellschaft.102 Wie Recht und Politik können Staat und Gesellschaft im Werk Häberles als Teilaspekte oder Teilfunktionen der ganzen res publica gekennzeichnet werden;103 dies besagt, dass Staat und Gesellschaft Seiten derselben res publica sind.104 Sie koinzidieren sogar teilweise, denn es handelt sich um denselben menschlichen Verband.105 Staat und Gesellschaft sind immerhin „politische Gemeinwesen“106. Gewiss unterscheiden sie sich auch durch die Art und Weise, wie sie im Rahmen der Verfassung der res publica agieren, dennoch stehen sie etwa im Blick auf das Gemeinwohl nicht in Konfrontation, sondern in Koordination und Kooperation.107 Dies zeigt sich bei Hesse besonders deutlich: „,Gesellschaftliches‘ Leben ist ohne die organisierende, planende, verantwortliche Gestaltung durch den Staat nicht mehr möglich. Umgekehrt konstituiert sich der demokratische ,Staat‘ erst in ,gesellschaftlichem‘ Zusammenwirken. Auch 99

Häberle (2013), S. 45. Häberle (2013), S. 46. 101 Häberle (2002), S. 317. 102 Etwa durch die Drittwirkung von Grundrechten, die Einbindung des privaten Fernsehens, die Sozialstaatsklausel oder die Grenzen für den ungebändigten Markt, vgl. Häberle (2002), S. 358. 103 Häberle (2013), S. 19: Die Verfassung schließt die verfasste Gesellschaft ein, „freilich nicht im Sinne von Identitätsvorstellungen; d. h.: nicht nur der Staat ist verfasst (Verfassung ist nicht nur ,Staats-‘Verfassung). Dieser weite Verfassungsbegriff umschließt die Grundstrukturen der – pluralen – (Zivil-)Gesellschaft, etwa das Verhältnis von gesellschaftlichen Gruppen untereinander bzw. zum Bürger“; s. auch Ermacora (1970), S. 331 ff. 104 Häberle (1998), S. 142. 105 Scheuner, in: FS Smend, S. 225, 258: „Der Staat ist die menschliche Wirkungseinheit, der in einem Raume in höchster Instanz die Wahrung von Ordnung und Frieden aufgetragen ist“; Schmitt Glaeser, S. 11, 16 ff.: Gemeinschaft und Staat „sind Produkte menschlicher Ideen und menschlichen Verhaltens“, er ist eine „Form menschlicher Gemeinschaft“, er ist „Schicksalsgemeinschaft mit gegenseitigen Einstandspflichten seiner Bürger“. 106 Ehmke, in: FS Smend, S. 23, 44: „Es handelt sich um einen menschlichen Verband, zu seiner Verdoppelung oder Teilung in ,Staat‘ und ,Gesellschaft‘ besteht keinerlei Anlaß“. 107 Zur Notwendigkeit einer neuen Koordination von Staat und Gesellschaft, Ladeur (2006), S. 297 ff., 388 ff. 100

II. Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit im Rahmen des Pluralismus

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gesellschaftliches Leben steht in mehr oder minder engen Zusammenhängen mit dem staatlichen Leben im Vorgang politischer Einheitsbildung. Die heutige Bedeutung des Staates für das wirtschaftliche oder soziale Leben wie die ,gesellschaftliche’ Einflußnahme auf das staatliche Wirken oder sogar die ,gesellschaftliche’ Beteiligung an ihm schließen eine unverbundene Gegenüberstellung aus“108.

II. Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit im Rahmen des Pluralismus Anlässlich des 30. Jahrestages der Bundesrepublik Deutschland fand 1978 in Augsburg eine Veranstaltung statt, in der Häberle seinen pionierhaften Vortrag über „Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft“ hielt.109 Der von ihm verfasste Vortrag hatte und hat große Relevanz in der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland. Dort wurde das BVerfG zum ersten Mal als „gesellschaftliches Gericht eigener Art“ qualifiziert.110 Bis dahin hatte niemand das BVerfG als „Regulator in den kontinuierlichen Prozessen der Garantie und Fortschreibung der Verfassung als Gesellschaftsvertrag“ begriffen.111 Ferner stellte er im zweiten Teil seines Vortrags eine provokative Frage, die lautete: „Was soll, was kann das BVerfG im Rahmen der politischen Kultur leisten?“112. Die Beantwortung durch Häberle beruhte auf der unzweifelhaften Betrachtung des BVerfG als gesellschaftliches Gericht bzw. als „Bürgergericht“113 und als am Gesellschaftsvertrag beteiligt.

1. Verfassungsgerichtsbarkeit und Zivilgesellschaft a) Verfassungsgerichtsbarkeit als „gesellschaftliches Gericht“ Die Verfassung ist rechtliche Grundordnung sowohl des offenen Staates als auch des verfassten Gemeinwesens; dies bedeutet, dass sie nicht nur das Handeln des Staates, sondern auch die Macht der Gesellschaft rationell regelt und beschränkt. Verfassung ist – nach Kotzur – „Begründung und Begrenzung“ der demokratischen Gewalt.114 Die so verstandene pluralistische Verfassung entfernt sich auch von der

108 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 11; ders. (1984), S. 45 ff.; ders., DÖV 1975, S. 437 ff. 109 Häberle (1979), S. 425. 110 Häberle (1980), S. 66 ff. 111 Häberle (1980), S. 68 ff.; Kotzur (2001), S. 122 f. 112 Häberle (1980), S. 65. 113 Häberle (2016), S. 19. 114 Kotzur, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 260 Rn. 2.

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

oben gesehenen dogmatischen Trennung von Staat und Gesellschaft.115 Aus einer rein formellen Sicht ist der Charakter des BVerfG als staatlich zu kennzeichnen. Es handele sich um ein staatliches Gericht, weil es einerseits auf einem staatlichen Gesetz beruht, andererseits der Staat die Bundesverfassungsrichter bestellt.116 Als solches beschäftige es sich allein mit der Begrenzung und Kontrolle staatlicher Gewalt. Aber dieses formelle Verständnis ist irreführend. Das BVerfG ist weit mehr, denn die Verfassung schränkt zudem die gesellschaftliche Macht ein. Somit wird das BVerfG vor allem ein echtes Verfassungsgericht, das kompetent für enumerativ aufgezählte materielle Verfassungsstreitigkeiten ist,117 jenseits der Trennung von Staat und Gesellschaft.118 Daher spricht nun Häberle vom BVerfG als „gesellschaftliches Gericht“119. Dies besagt grundlegend, dass das BVerfG sein Verfassungsprozessrecht – verstanden als offenes und öffentliches Forum der Information und der Partizipation – für die Vielfältigkeit der Ideen und Interessen der verfassten Gesellschaft öffnet120 und dass es sich der Gesellschaft auf zweifache Weise nähert. Auf der einen Seite steuert allmählich das BVerfG die Gesellschaft durch seine ausladende Rechtsprechung, auf der anderen strukturiert und macht es die verfasste Gesellschaft.121 Dem BVerfG kommen damit Aufgaben zu, die über bloße Rechtsanwendung hinausweisen: Es soll im Rahmen der Verfassungskonkretisierung neue soziale Probleme rechtlich steuern und so zur alltäglichen Erneuerung des Konsenses der Bürger im Sinne einer Integration des politischen Gemeinwesens im ganzen beitragen.122 Diese Leistung des BVerfG wird von Häberle so formuliert: „Je mehr das BVerfG in die Prozesse der Steuerung der Gesellschaft eingreift, desto mehr wendet sich diese Gesellschaft ihm 115

Häberle (1980), S. 66: Das BVerfG „als politische Kraft wirkt von vornherein jenseits des Trennungsdogmas Staat/Gesellschaft“. 116 Häberle (1980), S. 66. 117 Häberle (1980), S. 66: „Das volle Gewicht dieser Aussage erhellt erst aus einer Klärung des Verfassungsbegriffs. ,Verfassung‘ ist rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft; sie ist nicht nur Beschränkung staatlicher Macht (H. Ehmke), sondern auch Beschränkung gesellschaftlicher Macht und sie ist Ermächtigung zu staatlicher Macht. Sie umgreift Staat und Gesellschaft.“ 118 Häberle (1980), S. 68. 119 Da die Verfassung des Pluralismus Staat und Gesellschaft umgreift, wirkt die Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft von vornherein jenseits des genannten Trennungsdogmas, dadurch wird das BVerfG ein echtes Verfassungsgericht der ganzen res publica. 120 Wichtiges Mittel der Partizipation des Bürgers an der Verfassungsgerichtsbarkeit ist z. B. die Verfassungsbeschwerde. 121 Collings, S. 288: Das BVerfG als „,motor of development‘ in social legislation“; Rüthers (2014), S. 125: Das BVerfG als „Motor der Gesellschaft“. 122 Schulze-Fielitz, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 111, 120; Schumann (1963), S. 19 ff., stellt fest, dass der Richter im besonderen Maße dazu bestimmt ist, den Ausgleich sozialer Interessen selbst zu finden: „Ausgleichsfunktion statt Streitentscheidung“, „soziale und politische Gestaltung statt richterliche Wertneutralität“.

II. Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit im Rahmen des Pluralismus

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zu, will sie sich Gehör ,in Karlsruhe‘ verschaffen“123 – sie will sich gerade auch vor dem EuGH in Luxemburg oder dem EGMR in Straßburg Gehör verschaffen. Mithin gewinnt das BVerfG einen intensiven Bezug zur gesamten offenen Gesellschaft, namentlich dort, „wo das Parlament versagt hat“124. Auf diese Weise verliert die Verfassungsgerichtsbarkeit ihren herkömmlichen staatlichen Charakter zugunsten einer „gesellschaftlichen“ Größe des BVerfG.125 b) Verfassungsgerichtsbarkeit als „Beteiligte am Gesellschaftsvertrag“ Die Verfassung des Pluralismus lässt sich als tatsächlicher oder fiktiver „Gesellschaftsvertrag“ begreifen. Nach Locke: „§ 95. Da die Menschen, wie schon gesagt wurde, von Natur aus alle frei, gleich und unabhängig sind, kann niemand ohne seine Einwilligung aus diesem Zustand verstoßen und der politischen Gewalt eines anderen unterworfen werden. Die einzige Möglichkeit, mit der jemand diese natürliche Freiheit aufgibt und die Fesseln bürgerlicher Gesellschaft anlegt, liegt in der Übereinkunft mit anderen, sich zusammenzuschließen und in eine Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel eines behaglichen, sicheren und friedlichen Miteinanderlebens, in dem sicheren Genuß ihres Eigentums und in größerer Sicherheit gegenüber allen, die nicht zu dieser Gemeinschaft gehören. § 99. […] So ist der Anfang und die tatsächliche Konstituierung einer politischen Gesellschaft nichts anderes als die Übereinkunft einer für Bildung der Mehrheit fähigen Anzahl freier Menschen, sich zu vereinigen und sich einer solchen Gesellschaft einzugliedern“126. In der Doktrin Rousseaus gibt sich jeder an alle und gibt sich somit niemandem, jeder hat das gleiche Recht und jeder verliert das Äquivalent.127 Die von ihm vorgestellte Formel des Gesellschaftsvertrags lautet daher: „Jeder von uns stellt seine Person und seine ganze Kraft gemeinschaftlich unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens; wir nehmen jedes Mitglied in einen Körper als untrennbaren Teil des Ganzen auf“128. Gegen Hobbes hatte Kant seine Idee des Gesellschaftsvertrags folgendermaßen konzipiert: „Unter allen Verträgen, wodurch eine Menge von Menschen sich zu einer Gesellschaft verbindet (pactum sociale), ist der Vertrag der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung unter ihnen (pactum unionis civilis) von so eigentümlicher Art, daß, ob er zwar in Ansehung der Ausführung vieles mit jedem anderen (der eben sowohl auf irgend einen beliebigen gemeinschaftlich zu beför-

123 124 125 126 127 128

Häberle (1980), S. 67. Häberle (1980), S. 67. Häberle (1980), S. 68. Locke, S. 260 ff. Rousseau, S. 60 f. Rousseau, S. 61.

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

dernden Zweck gerichtet ist) gemein hat, er sich doch im Prinzip seiner Stiftung (constitutionis civilis) von allen anderen wesentlich unterscheidet“129. Rawls kommt auf die herkömmlichen Theorien des Gesellschaftsvertrags von Locke, Rousseau und Kant zurück.130 Er spricht nun von einer „Gerechtigkeit als Fairness“ als Beispiel für das, was er auch Gesellschaftsvertragstheorie nennt, obwohl sie keine vollständige Vertragstheorie ist.131 Die Gerechtigkeit als Fairness beginne mit der allgemeinsten Entscheidung der ersten Grundsätze einer Gerechtigkeitsvorstellung: des Grundsatzes der Gleichheit von Grundrechten und Grundpflichten einerseits und des Grundsatzes andererseits, dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten gerecht sind, wenn sich aus ihnen Vorteile für jedermann ergeben, vor allem für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft.132 Ausgehend von diesen Theorien des Gesellschaftsvertrags formuliert Häberle einerseits seine These der Verfassung als „gesellschaftlichen Vertrag“. Unter diesem Paradigma ist die Verfassung „tägliches ,Sich-Vertragen und Sich-Ertragen aller Bürger‘“133. So ist dieses Paradigma „ein Denkmodell, ein heuristisches Prinzip zum Zweck der Verbürgung personaler Freiheit und öffentlicher Gerechtigkeit“134. Die so ausgedachte Verfassung hat andererseits bedeutsame Auswirkungen auf die Verfassungsgerichtsbarkeit. „Das BVerfG hat eine spezifische gesamthänderische Verantwortung in der Garantie und Fortschreibung der Verfassung als Gesellschaftsvertrag; es steuert ihre kontinuierlichen Prozesse mit; es ist dabei dem Pluralismus verpflichtet“135. Das BVerfG erscheint hier weniger als bloß kontrollierendes Verfassungsgericht als eher als echter Beteiligter am Vorgang der Verfassung und des politischen Gemeinwesens. Zum einen ist es an der Einhaltung, täglichen Bekräftigung und Fortschreibung des gesellschaftlichen Vertrages beteiligt, zum anderen ist es an der Entwicklung der Verfassung als öffentlicher Prozess mit engagiert.136 Dadurch nimmt das BVerfG an der Schaffung des Grundkonsenses einer offenen Gesellschaft teil.137

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Kant (1964), S. 143 f. Rawls, S. 27 ff. 131 Rawls, S. 34. 132 Rawls, S. 29 ff. 133 Häberle, EuGRZ 2004, S. 117, 121. 134 Häberle (2013), S. 323. 135 Häberle (2009), S. 130. 136 Häberle, EuGRZ 2004, S. 117, 121. 137 Das BVerfG sei ein „Konsensstifter“, vgl. Ladeur, Der Staat 21/1982, S. 391, 403; als „gesellschaftliches Gericht“ soll „gruppenspezifisch konkretisierte Wertungen abgleichen, aufeinander abstimmen, unter Berücksichtigung der Folgen ihrer Durchsetzung hemmen, verstärken etc.“; ders., KJ 1986, S. 197, 200. Für von Beyme (1997), S. 300, ist das BVerfG „Hüter des demokratischen Regelkonsenses“. 130

II. Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit im Rahmen des Pluralismus

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c) Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassung als Generationsvertrag Das große Problem des klassischen Gesellschaftsvertragsmodells ist, dass er nachfolgende Generationen bindet, obwohl sie an seiner Aushandlung nicht beteiligt waren. Verfassung als Gesellschaftsvertrag besagt deshalb auch „Generationsvertrag“, in dem die jungen und älteren Generationen im Verbund arbeiten. Dieser Grundgedanke von Häberle will besagen, dass weder die Jungen über Gebühr belastet, noch die Alten in ihrem Vertrauen auf die junge Generation als Vertragspartner enttäuscht werden: „Es geht um Gerechtigkeit der Leistung und Gegenleistung zwischen den Generationen“138. Heute bezeichnet das der Begriff der Nachhaltigkeit. Die Verfassungsgerichtsbarkeit handelt hier durch die Interpretation und die Konkretisierung der Verfassung als reale Beteiligte am Generationsvertrag, denn Partner des Gesellschaftsvertrages sind auch die noch Ungeborenen und deren Bindung ist gerade problematisch; gewiss handelt es sich nicht um eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die alles machen muss, sondern sie hat Mitverantwortung neben dem demokratischen Gesetzgeber für den konstitutionellen Gesellschafts- und den Generationsvertrag.139 Häberle macht dies deutlich: „Ein Verfassungsgericht, ein ,gesellschaftliches Gericht im weiteren Sinne‘ muß die Verfassung ,als Vertrag’ so auslegen, daß sich möglichst alle Bürger als solche verstanden fühlen, keiner über Gebühr belastet wird und zwischen den Gruppen und Generationen keine Risse oder Brüche entstehen. Nur dann ist die Verfassung […] Rahmen für das notwendige ständige immer neue ,Sich-Vertragen‘ aller. Der Contrat constitutionnel darf keine Gruppen oder einzelne Generationen verlieren“140. Zusammenfassend kann man sagen, wenn die Verfassungsgerichtsbarkeit jenseits der dogmatischen Trennung von Staat und Gesellschaft betrachtet wird, dann erscheint das BVerfG als „gesellschaftliches Gericht“ nicht mehr utopisch.141

2. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gemeinwohl a) Das Gemeinwohl nach der Theorie Häberles Man hat festgestellt, dass mit dem Verständnis der Verfassungsgerichtsbarkeit als gesellschaftliches Gericht eigener Art sie teilweise ihren reinen staatlichen Charakter verliert. Dies geschieht auch, wenn die Verfassungsgerichtsbarkeit als eine „öf-

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Häberle, 2009, S. 131. Häberle, 2009, S. 131. 140 Häberle (1980), S. 69. 141 Häberle, in: van Ooyen/Möllers, (Hrsg.): Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 35, 45; Ladeur (2006), S. 105; Lepsius, in: Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, S. 159, 167. 139

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

fentliche Gemeinwohlfunktion“142 bzw. „Gemeinwohljudikatur“143 gekennzeichnet wird.144, 145 Diese Betrachtungsweise von Häberle muss vertieft werden. aa) Republikanische Idee des Gemeinwohls Häberle vertritt einen republikanischen Begriff des Gemeinwohls. Er stellt die monarchische Tradition des Gemeinwohls infrage und lehnt die Idee seiner Oktroyierung „als Emanation einer ,höchsten‘ öffentlichen Gewalt“146, wie in einer geschlossenen Gesellschaft, ab; das Verständnis einer außerrechtlichen extrakonstitutionellen Größe habe zu einer falschen Alternative „(objektives) Recht oder (subjektives) Nicht-Recht“ geführt.147 Dagegen spricht er von einer demokratischen Bestimmung des Gemeinwohls (s. Teil B. I. 3.), in der neben bestimmten, sachlichen öffentlichen Gemeinwohlgütern das Verfahren, der verfassungs- und verwaltungsrechtliche due process entscheidend werde.148 Nun lässt sich nicht sagen, dass es in der res publica keine extrakonstitutionelle Öffentlichkeit gibt, sondern nur eine demokratische, pluralistische und konstitutionelle Bestimmung des Gemeinwohls.149 Häberle stellt von vornherein fest, dass das Gemeinwohl, das mit den öffentlichen Interessen gleichgesetzt wird,150 sich nicht definieren lässt, sondern es ist nur der jeweiligen materiell-, funktionell-, kompetenz- und verfahrensrechtlichen Problemlage entsprechend besonders und partiell zu konkretisieren, es ist nicht „aus sich heraus“ bestimmbar.151 Nur ist zu sagen, Gemeinwohl ist teils sozialethische Aussage und wertintensive Forderung, teils handfester juristischer Begriff, sei es als Generalklausel, sei es mit speziellem Inhalt.152 Da das Gemeinwohl bzw. öffentliche Interesse ebenso wie die öffentliche Meinung Teil am Kraftfeld des Öffentlichen hat,

142 Zum Unterschied zwischen „Staatsräson“, „Gemeinwohl“ und „öffentlichem Interesse“, s. Häberle, DÖV 1969, S. 150, 151. 143 Häberle (2006), S. 375. 144 Im demokratischen Verfassungsstaat wird eine juristische Gemeinwohltheorie möglich und notwendig. Verstanden als rechtliche Ordnung von Staat und Gesellschaft gibt die Verfassung „inhaltliche Direktiven für das Gemeinwohl, sie eröffnet aber auch eine Vielfalt von Verfahren zu einer Konkretisierung und Revidierung: im Spektrum der ,republikanischen Bereichtrias‘“, vgl. Häberle (2006), S. 372. 145 Denn vielfältige Gemeinwohlimpulse kommen im Verfassungsstaat aus der offenen und verfassten Gesellschaft, in der die Pluralgruppen aller Art Gemeinwohlaspekte formulieren, die sie in die staatliche Gemeinwohlbestimmung einbringen wollen, vgl. Häberle, (2006), S. 373. 146 Häberle (2006), S. 17. 147 Häberle (2006), S. 26. 148 Häberle (2006), S. 17. 149 Häberle (2006), S. 709 ff. 150 Häberle (1997), S. 323. 151 Häberle (2006), S. 31 Anm. 57. 152 Häberle (1997), S. 343.

II. Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit im Rahmen des Pluralismus

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lebt es aus dem Kraftfeld der res publica.153 Das Gemeinwohl ist für Häberle „ein Stück tradierter Kultur so wie die ,Gerechtigkeit‘“154; er hebt ferner hervor, dass sich das Gemeinwohl „als eine das menschliche Zusammenleben (mit-)konstituierende Formel“ erweist.155 Gemeinwohl ist daher keine Leerformel.156 Spricht Häberle von Gemeinwohl, so wird es grob als „verfassungsstaatliches Gemeinwohlverständnis“ charakterisiert.157 bb) Gemeinwohl und staatliche Funktionen Gemäß der Ausgangsthese Häberles sind Gesetzgebung, Exekutive, Rechtsprechung und ihre entsprechenden Verfahren in einer demokratisch verfassten res publica an erster Stelle öffentliche Funktionen.158 Alle staatlichen Funktionen haben ihren Gemeinwohlbezug.159 Sie arbeiten tagtäglich mit dem Begriff Gemeinwohl,160, 161 was die Gefahr in sich birgt, den Gemeinwohlbegriff überzustrapazieren. Diese drei Staatsfunktionen werden zudem nicht nur demokratisch, sondern auch rechts- und sozialstaatlich sowie republikanisch begründet. (1) Gemeinwohlfunktion der Gesetzgebung Die Gesetzgebung ist nach wie vor eine öffentliche Funktion und ihre Tätigkeit muss gemeinwohlorientiert sein. Zum einen geschieht der Gesetzgebungsprozess schon in der Vergangenheit wie in der Gegenwart im engen permanenten Austausch mit der Öffentlichkeit; ihre Glaubwürdigkeit hängt prinzipiell „von der Transparenz der politischen Willensbildungs- und Entscheidungsvorgänge“ ab.162 Damit wird das Parlament zu einem Forum der öffentlichen Diskussion und das Parlamentsrecht bildet das Recht der Öffentlichkeit par excellence.163 Zum anderen lassen sich die 153

Häberle (1997), S. 341. Häberle (1997), S. 324. 155 Häberle (2006), S. 372. 156 Häberle (1997), S. 343, betont, dass das Gemeinwohl keine „Schönwetter-Formel“, aber auch kein spezifisch nur der Not- und Ausnahmesituation zugeordneter Begriff sei, er gehöre zur Normalität und Normativität eines politischen Gemeinwesens, er habe rechtlich begrenzte Funktionen, dies aber auch in schwierigen Zeiten. 157 Oder als salus publica ex constitutione, pluralistisches und prozessuales Gemeinwohlverständnis, salus publica ex processu (Gemeinwohl als Prozess), vgl. Häberle (1997), S. 340 f. 158 Häberle (1980), S. 132. 159 Häberle (1997), S. 341 f. 160 Häberle (2006), S. 371. 161 Auch die Rechtswissenschaften sind täglich mit dem Gemeinwohl konfrontiert und die Juristen müssen es unweigerlich deuten, vgl. Häberle, 1997, S. 323. 162 Häberle (1980), S. 133. 163 Häberle (1980), S. 133 f. 154

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

Gesetze nach den Gemeinwohlorientierungen modifizieren,164 denn die Funktion des Gemeinwohls vom Gesetzgeber her dient als Verfassungsdirektive.165 Der Gesetzgeber normiert nicht im luftleeren Raum, er ist bei seiner tatbestandlichen Ausformung des Gemeinwohls an einschlägige Leitvorstellungen seiner Zeit gebunden und ihnen mehr oder weniger stark bewusst verpflichtet; auch greift er auf ihm in anderen Gesetzen vorgegebenes Material zum Gemeinwohl zurück;166 Gesetzgebung ist deshalb „geronnenes Gemeinwohl“167. (2) Gemeinwohlfunktion der Exekutive Zunächst einmal hebt Häberle das „Negativverhältnis“ der Exekutive zur demokratischen Öffentlichkeit infolge ihrer monarchischen Arkantradition hervor, in der öffentlich mit staatlich gleichgesetzt worden war168. In jüngerer Zeit ist jedoch von einer Verstärkung der Öffentlichkeit vor allem durch die parlamentarische Kontrolle der Regierung zu sprechen.169 Tendenzen der Entparlamentarisierung bergen deshalb auch das Risiko von Öffentlichkeitsdefiziten. Auch die Exekutive ist eng verknüpft mit dem Gemeinwohl, sie gilt als Gemeinwohlverwaltung par excellence.170 So wichtig ist hier die treffende Bemerkung von Häberle, dass die Verwaltung das traditionelle, monarchisch begründete Monopol auf das Gemeinwohl zugunsten einer kooperativen Artikulierung mit der öffentlichen Gemeinwohlgesetzgebung und -rechtsprechung verloren habe; dennoch hat sie einen spezifischen, verfassungsrechtlich begründeten Gemeinwohlauftrag, der von den anderen Gemeinwohlfunktionen respektiert werden muss.171 Die Stellung des Gemeinwohls hinsichtlich der Exekutive lässt sich in einer bestimmten Kompetenz der Verwaltung begründen oder es könnte als Zielformel dienen.172 (3) Gemeinwohlfunktion der Rechtsprechung Besonders wertvoll sind hier die Überlegungen Häberles. Die Rechtsprechung erweist sich, nach ihm, als klassische öffentliche Funktion, denn die Richter sind öffentliche Richter um öffentlicher Gerechtigkeit willen; eine private Gerechtigkeit wird ausgeschlossen.173 Da Erkenntnis und Interesse im richterlichen Auslegungs164 165 166 167 168 169 170 171 172 173

Häberle (1997), S. 342. Häberle (1997), S. 343. Häberle (2006), S. 33. Häberle (1997), S. 325. Häberle (1980), S. 134. Häberle (1980), S. 135 f. Häberle (2006), S. 33. Häberle (2006), S. 713 f. Häberle (1997), S. 343. Häberle (1980), S. 136.

II. Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit im Rahmen des Pluralismus

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vorgang miteinander verbunden sind, muss dieser daher transparent werden. Die Öffentlichkeit der Verhandlung ist sowohl eine demokratische Forderung als auch eine grundlegende rechtsstaatliche Einrichtung,174 obwohl in bestimmten Ausnahmen „die gerichtliche Öffentlichkeit den Rang eines zwingenden Verfassungsgebots“ hat.175 Die Aktualisierung des Gemeinwohls durch die Rechtsprechung ergibt sich aus der richterlichen Unabhängigkeit, der Publizität und Offenheit des Rechtsprechungsverfahrens, sie werden als institutionelle Voraussetzungen für die normierende Kraft des öffentlichen Interesses erachtet.176 Die Rolle des Gemeinwohls für die Rechtsprechung darf zudem nicht unterschätzt werden. Einerseits kann es selbst Gegenstand der Auslegung sein (z. B. bei der Abwägung der Interessen als Voraussetzung einer Enteignung, Art. 14 Abs. 2 Satz 1 GG) oder es fungiert andererseits als prätorisches Interpretationsinstrument, „indem es der Richter mehr oder weniger ,frei‘ einführt, um das ,law in public action‘ als solches zu interpretieren“177. Insgesamt ist festzustellen, dass das Gemeinwohl als Rechtsprinzip, Rechtssatz oder Rechtstopos nicht nur in allen Ebenen der Normenhierarchie und in allen Rechtsbereichen, sondern auch im Kontext aller Staatsfunktionen erscheint.178 Gewiss gilt dies auch für die Verfassungsgerichtsbarkeit. b) Das BVerfG als Gemeinwohljudikatur aa) Gemeinwohljudikatur und ihr Häberle’scher Sinn Die Grundprämisse von Häberle lautet: Die Verfassungsgerichtsbarkeit hat ihren funktionellrechtlichen Anteil an den Prozessen der Gemeinwohlkonkretisierung und insofern ist sie Gemeinwohljudikatur; sie arbeitet ebenso wie die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit den öffentlichen Interessen in sehr vielgestaltiger Weise.179 Von diesem Ausgangspunkt her lassen sich zumindest zwei wichtige Konsequenzen ableiten: auf der einen Seite eine interpretatorische Folge, auf der anderen eine Konsequenz von der Stellung und Qualität des BVerfG. Nach der Sicht der Auslegung bildet das Gemeinwohl zugleich Gegenstand und Werkzeug der verfassungsrechtlichen Interpretation. Zu Recht meint Gemeinwohljudikatur die vielen Interpretationstechniken bzw. die richterliche Konkretisierung von Gemeinwohltexten

174 Die Öffentlichkeit der richterlichen Funktion ist zur selben Zeit eine Forderung der Demokratie und des Rechtstaats, vgl. Häberle (1980), S. 136. 175 Häberle (1980), S. 136. 176 Häberle (2006), S. 714. 177 Häberle (1997), S. 343. 178 Häberle (2006), S. 371: So gibt es auch bestimmte Funktionen, in denen das Gemeinwohl auftritt und erfüllt, etwa als Kompetenzbegründung, als grundrechtsbeschränkender und pflichtenbegründender Titel, als Ausnahmeklausel und Titel für staatliche Geheimhaltung. 179 Häberle (1997), S. 342; Gunst, S. 148.

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

sowie den offenen und verdeckten freien Einsatz des öffentlichen Interesses durch die Judikatur des BVerfG.180 Das BVerfG hat nicht nur eine Verfassungsorganqualität, sondern auch einen Öffentlichkeitsstatus. Die Qualität als Verfassungsorgan verleiht dem BVerfG als Institution einen spezifischen Öffentlichkeitsstatus, der weit über die herkömmliche Gerichtsöffentlichkeit hinausgeht; diese Öffentlichkeit des BVerfG ist unmittelbar von der Öffentlichkeit der Verfassung selbst geboten.181 Dies gilt auch für die einzelnen Verfassungsrichter, „die sich jedenfalls teilweise zu öffentlichen Stellungnahmen herausgefordert sehen: Sie geben diese sowohl zu allgemeinpolitischen wie zu verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Fragen ab vor dem Hintergrund von Erwartungen der Öffentlichkeit an ihre Eigenschaft als Verfassungsrichter, nicht als Privatpersonen“182. Auf diese Weise werden die Verfassungsrichter im Rahmen ihrer spezifischen Funktionen und ihrer Grenzen in den Vorgang der Konkretisierung der öffentlichen, aber auch der privaten Interessen und damit des Gemeinwohls materiell und prozessual eingeschaltet; die Verfassungsrichter sind von der Gemeinwohlverantwortung nicht frei.183 Auch die Öffentlichkeit des BVerfG spiegelt sich in der demokratischen Möglichkeit der richterlichen Minderheit, zur Mehrheit zu werden, vor allem mithilfe der öffentlichen und wissenschaftlichen Kritik.184 bb) Deutung und Konkretisierung des Gemeinwohls Die Auslegung und Konkretisierung des Gemeinwohls bedeutet für die Verfassungsgerichtsbarkeit eine große verfassungsrechtliche Herausforderung185 und eine bedeutsame Aufgabe, weil es einerseits um den Plural des öffentlichen Interesses geht, andererseits, weil das öffentliche Interesse stets von vornherein hinsichtlich der Verfassung konkretisiert werden soll.186 Wie bereits gesagt wurde, ist das Gemeinwohl Gegenstand und Instrument der Interpretation des BVerfG. Es handelt sich dabei jedoch um keine vollständige Trennung. Es liegt auf der Hand, dass es zwischen beiden Erscheinungsformen des Gemeinwohls Übergänge gibt. Häberle macht dies deutlich: Zum einen wird es dort, wo der Verfassungsrichter das öffentliche Interesse als Interpretationshilfe argumentatorisch einsetzt, in seiner Hand zum 180

Häberle (2006), S. 375. Schulze-Fielitz, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 111, 121. 182 Schulze-Fielitz, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 111, 121. 183 Häberle, AöR 1970, S. 86, 87 f. 184 Häberle (1980), S. 136. 185 Häberle, AöR 1970, S. 86, 87: Der sachliche Gegenstand Verfassungsrecht verlangt wie kaum ein anderer auch vom Richter die Konkretisierung der öffentlichen Interessen; s. auch Anderheiden, S. 50 ff.; Schefold, S. 265. 186 Häberle, AöR 1970, S. 86, 90. 181

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Interpretationsgegenstand, denn er muss diesen Rechtsprechungstopos im Rahmen seiner Kunstregeln über mehr oder weniger geglückte dogmatische Hilfsbrücken konkretisieren, zum anderen ist es dort, wo das öffentliche Interesse als Interpretationsgegenstand normativ vorgegeben erscheint, oft durch komplexe Interpretationsvorgänge zu konkretisieren.187 Interpretationsgegenstand und -instrument sind auf diese Weise zwei Bekundungsformen des Gemeinwohls. (1) Gemeinwohl als Interpretationsgegenstand Das Gemeinwohl als Interpretationsgegenstand betrachtet meint, dass die Verfassungsrichter es tatbestandlich vorfinden und aus dem Kontext der Norm und ihrer Sach- und Zweckzusammenhänge zu konkretisieren haben.188 Das Grundgesetz enthält unterschiedliche Gemeinwohlgüter, die seit langem offen oder versteckt in den juristischen Argumentationsvorgängen vielfältig erscheinen189 – etwa Grundrechte190 (Art. 1 ff. GG), Demokratie, Republik, sozialer Rechtsstaat (Art. 20 GG) usw. Infolge dieses Inhalts wird die Verfassung „öffentliche normative Gemeinwohlordnung“, d. h. eine rechtliche Grundordnung, „die vor allem einmal die öffentlichen Prozeduren und Verfahrenstechniken normiert, die in einer pluralistischen Demokratie einen offenen Interessensausgleich ermöglichen und zu einem Gemeinwohlkonsens a posteriori, nicht a priori führen“191. Daher stellt die Verfassung, wo sie als öffentlicher Prozess begriffen wurde (salus publica ex constitutione), gleichzeitig eine normative Gemeinwohlordnung dar.192 (2) Gemeinwohl als Auslegungshilfe Interpretationsinstrument ist die andere Äußerungsform des Gemeinwohls für das BVerfG. Das öffentliche Interesse wird zur Auslegungs- und Argumentationshilfe, wenn es von den Verfassungsrichtern im hermeneutischen Geschäft interpretativ eingeführt wird, um versteckt gemeinwohlbezogene Rechtsbegriffe auszulegen oder im Wege schöpferischer Deutung einen Gemeinwohlbezug autonom herzustellen.193 Doch fordert dies von der Verfassungsgerichtsbarkeit eine prätorische Interpretationstätigkeit, die rechtsschöpferisch wie Gemeinwohlgesetzgebung wirkt, denn das öffentliche Interesse zeigt sich als freier verfassungsrechtlicher Topos in den unterschiedlichsten Sachzusammenhängen, in sehr verschiedenen Auslegungsmethoden und mit entsprechend unterschiedlichen Interpretationsergebnissen und Inhal187

Häberle (2006), S. 240 f. Häberle (2006), S. 240. 189 Häberle, DÖV 1969, S. 150, 151. 190 Nach Häberle (1980), S. 140, sind die Grundrechte öffentliche und private Gemeinwohlgüter, sie sind mitkonstituierend für die res publica; ders., AöR 1970, S. 86, 112 ff. 191 Häberle, AöR 1970, S. 86, 87. 192 Von Beyme (2010), S. 73. 193 Häberle (2006), S. 240. 188

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ten.194 Sie „steht in Parallele zu den Gemeinwohlleitbildern und -techniken des Gesetzgebers“195 und die Verfassungsgerichtsbarkeit steht damit „in bester Tradition richterlicher Rechtsfindung“196. Häberle spricht daher von der Verfassungsauslegung als „Stück Gemeinwohlkonkretisierung und Öffentlichkeitsaktualisierung“197. c) Gemeinwohl und prätorisches Verhalten des BVerfG Das Gemeinwohl ist freier Rechtsprechungstopos. Das BVerfG benutzt es im Rahmen der Interpretation, um ein bestimmtes Ergebnis zu begründen. Allerdings leistet das Gemeinwohl mehr, als das herkömmliche Verständnis der historischen und der teleologischen Interpretationsmethode wahrnehmen kann; das Gemeinwohl stellt auch den Interpreten und das Gesetz in den Öffentlichkeitszusammenhang der res publica, daher kann man von einer normierenden Kraft des Gemeinwohls sprechen.198 So taucht das Gemeinwohl in den unterschiedlichsten Zusammenhängen, Auslegungsmethoden, Interpretationsergebnissen und Inhalten auf.199 Aber Rechtsprechungstopos besagt keine richterliche Bindungslosigkeit, sondern lediglich eine relativ freie Auslegungstätigkeit des BVerfG. Nach den Worten von Häberle ist die Interpretation nur insofern frei, als im Gesetz nicht ausdrücklich Tatbestände normiert sind, die auf öffentliche Interessen Bezug nehmen; erst die richterlichen Interpretationstechniken heben die öffentlichen Interessen ans Licht.200 Bei diesem Vorgang geht es allerdings nicht um ein Lückenproblem, sondern um das Auslegungsbedürfnis des Gesetzes. Dieses muss fast immer interpretiert werden, selbst dort, wo es anscheinend klar ist. Sein Inhalt muss im wechselnden Spannungsfeld zu dem hinter anderen Gemeinwohlgesetzen stehenden öffentlichen und privaten Interesse abgesteckt werden; das Gemeinwohl ist deswegen von seinem Entstehungsvorgang bis zu seiner Umsetzung in die Lebenswirklichkeit durch Interpretation in der Zeit (law in public action) ein stillschweigender und latenter Begleiter des Gesetzes.201 Erneut wird damit das BVerfG echte Gemeinwohlrechtsprechung und die Interpretation unbestreitbare Gemeinwohlkonkretisierung. Aber da Gesetzgebung, Exekutive und selbst die Rechtsprechung Gemeinwohlfunktionen ausüben, ist es nötig, die Stellung und Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit im Rahmen der Gewaltenteilung zu bestimmen.

194 195 196 197 198 199 200 201

Häberle, AöR 1970, S. 260, 272 ff. Häberle, AöR 1970, S. 260, 263. Häberle, AöR 1970, S. 260, 272. Häberle, AöR 1970, S. 86, 88. Häberle, AöR 1970, S. 260, 273. Häberle, AöR 1970, S. 260, 273. Häberle (2006), S. 241. Häberle (2006), S. 241.

III. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilungsprinzip

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III. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilungsprinzip 1. Gewaltenteilungsprinzip im Verfassungsstaat Art. 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung von 1789 lautet: „Eine Gesellschaft, in der die Garantie der Rechte nicht zugesichert und die Teilung der Gewalten nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung“. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG geht von drei Arten staatlicher Tätigkeit aus: Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und rechtsprechende Gewalt. Man kann die Bedeutung des Gewaltenteilungsprinzips in der besonderen Ausprägung der Funktion der Rechtsprechung sehen.202 Diese wurde – nach Tsatsos203 – von Montesquieu für „die schrecklichste unter den Menschen“ gehalten, da sie am weitesten in den Lebensbereich der einzelnen Menschen eingreife; daher wollte Montesquieu sie als Institution „gewissermaßen auf Null“ reduzieren, nämlich häufig wechselnden und daher ohne langfristigen Einfluss ausübenden Laienrichtern anvertrauen. So lag die Rechtsprechung lange Zeit abseits der verfassungstheoretischen Betrachtungen. Heute steht allerdings die richterliche Funktion im Mittelpunkt der Problematik der Gewaltenteilung, zumal weil die Rechtsprechung die Entwicklung einer Gesellschaft beeinflusst und weil sie also inhaltlich auch politisch ist.204 Deshalb ist im demokratischen Verfassungsstaat ferner nicht mehr von der richterlichen Funktion als „dritte Gewalt“ zu sprechen. Es gibt keine „erste“ oder „zweite Gewalt“. Zu Recht hält Arndt jenes Schlagwort für unglücklich,205 denn wenn in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG von der Rechtsprechung die Rede ist, so kann dies nur im Zusammenhang mit dem Fundamentalsatz, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, gelesen und verstanden werden. Besonders problematisch sind bisher die Stellung und das Gewicht der Verfassungsgerichtsbarkeit im System der Gewaltenteilung. Ihre Betrachtung als Rechtsprechung und Verfassungsorgan stellt nicht nur das klassische Verständnis der Gewaltenteilung infrage, sondern auch ihre Rolle hinsichtlich des Gewaltenteilungsprinzips.

2. Theorien des Verhältnisses Verfassungsgerichtsbarkeit – Gewaltenteilungsgrundsatz a) Verfassungsgerichtsbarkeit als Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips Die These der Durchbrechung geht von einem Begriff des Gewaltenteilungsprinzips aus, in dem die Verfassungsgerichtsbarkeit im herkömmlichen System der 202 203 204 205

Dazu Rausch (1969); Kägi (1937). Tsatsos (1976), S. 106. Tsatsos (1976), S. 106. Arndt (1976), S. 326.

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Gewaltgliederung keinen Platz findet, bald wegen einer Einmischung in fremde staatliche Funktionen, bald wegen einer Verletzung des Gewaltenteilungsgrundsatzes selbst. So meinte Schmitt: „Ein Gericht als Hüter der Verfassung erhält vor allem eine überragende legislative Funktion“206, was das Gewaltenteilungsprinzip in Zweifel ziehe, denn „ein Gesetz ist kein Richterspruch, ein Richterspruch kein Gesetz, sondern Entscheidung eines ,Falles‘ auf ,Grund eines Gesetzes‘“207. Eindringlich stellt Forsthoff fest, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit „die eklatante Durchbrechung der Gewaltenteilung [ist], welche das Grundgesetz selbst vorgesehen hat“208. Sie bilde zudem „einen anschaulichen Beleg dafür, daß eine emanzipierte Gerichtsbarkeit zugleich eine expandierende Gerichtsbarkeit ist“209, was eine symptomatische Bedeutung für den Staat habe. Für Böckenförde lässt sich die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht mehr im klassischen Gewaltengliederungsschema,210 sondern nur im Rückgriff auf ihre Funktionen erfassen, die sich aus den ihr rechtlich zugewiesenen Kompetenzen ergeben. Roellecke behauptet seinerseits, da die Verfassungsgerichtsbarkeit einerseits Rechtsprechung sei, andererseits aber die Gesetze kontrollieren könne, sprenge sie das klassische Gewaltenteilungsschema; die älteren Bemühungen, die Verfassungsgerichtsbarkeit in das Gewaltenteilungssystem zu pressen, „werden daher als gescheitert betrachtet“211. b) Verfassungsgerichtsbarkeit als Auflösung des Gewaltenteilungsprinzips Eine solche von Marcic vertretene Stellungnahme lässt sich als Auflösung des Gewaltenteilungsprinzips durch die Verfassungsgerichtsbarkeit betrachten.212 Seine 206

Schmitt (1985), S. 106. Schmitt (1996), S. 37. 208 Forsthoff (1971), S. 132, 134. 209 Forsthoff (1971), S. 144. 210 Böckenförde, NJW 1999, S. 9, 13: „Welche Stellung kommt nach alledem der Verfassungsgerichtsbarkeit im System der Gewaltgliederung zu? In die herkömmliche Dreiteilung oder Vierteilung der staatlichen Funktionen: Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung, Rechtsprechung fügt sie sich schwerlich ein. Einerseits entscheidet sie Rechtsstreitigkeiten in Anwendung der Gesetze, einschließlich der Verfassung, andererseits prüft und kontrolliert sie die Gesetze, erhebt sich damit über die Gesetze und nimmt teil an Verfassungsgesetzgebung“. 211 Roellecke, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II, § 53 Rn. 34; ders., in: Schäfer/Roellecke (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, S. 24, 32: „Die Verfassungsgerichtsbarkeit läßt sich nicht in das übliche Gewaltenteilungsschema einordnen, weil die Rollenverteilung zwischen Rechtsprechung, Gesetzgebung und Regierung im Verhältnis zur Verfassungsgerichtsbarkeit nicht funktioniert“. 212 In seiner Arbeit (1957), S. 336 ff., meint Marcic, dass die Gewaltenteilung nur mehr im Verhältnis der richterlichen Gewalt zur gesetzgebenden und regierenden Gewalt einen Sinn habe, denn eine Abgrenzung der Staatsmacht zwischen Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung sei infolge des Strukturwandels der Demokratie in der Richtung des Parteienstaates 207

III. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilungsprinzip

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Theorie lautet: „Der Richterstaat ersetzt nach und nach den Gesetzesstaat“213. Staaten mit eigener Verfassungsgerichtsbarkeit „setzen das Verfassungsgericht als den zweiten Gesetzgeber ein, dessen Entscheidung erga oder inter omnes, nicht nur inter partes wirkt“214. Wo die Rechtsgebundenheit auf den Verfassungsgesetzgeber, namentlich den ausführenden, übergreift, wo selbst der Verfassungsgeber an unwandelbare Normen gebunden ist wie z. B. nach Art. 79 Abs. 3 GG, dort sei das Verfassungsgericht Verfassungsgesetzgeber und Verfassungsgeber. Auch wo eben einfache Gesetze und ausführende Verfassungsgesetze nur mit der verneinenden, auflösenden Bedingung rechtlich binden, dass das Verfassungsgericht sie nicht als verfassungswidrig oder für nichtig von allem Anfang an erklärt, da sei „das Verfassungsgericht der eigentliche supremus“215. Verfassungsgerichtsbarkeit sei insofern Gesetzgebung. Ebenso werde die Verfassungsgerichtsbarkeit ein Schattenkabinett, weil sie an der Regierungsgewalt teilnehme, wenn das Verfassungsgericht individuelle Akte der Regierung einschließlich des Staatsoberhauptes und der nachgeordneten Organe prüft und kassiert oder gar indirekt reformiert. Hinsichtlich der „ordentlichen“ Gerichtsbarkeit sagt Marcic: „Wo […] die ordentliche, die Verwaltungs- und sonstige Gerichtsbarkeit der Kontrolle des Verfassungsgerichts anheimgegeben sind, dort hat es an der übrigen Gerichtsbarkeit teil, einerlei, ob man sich terminologisch auf ,Superrevision‘, ,Superkassation‘ oder ähnlich festlegt“216. Das Verfassungsgericht sei so Aeropag und Hüter des Geistes der Verfassung.217 Für Marcic ist die Verfassungsgerichtsbarkeit mithin nicht eine Institution unter anderen, nicht eine der Provinzen des Gerichtswesens und nicht eine Angelegenheiten für Spezialisten, sondern sie steht im Mittelpunkt des Verfassungslebens.218 c) Gewaltenteilungsprinzip als Wurzel der Verfassungsgerichtsbarkeit Unter diesem Aspekt finde die Verfassungsgerichtsbarkeit ihre Wurzel im Prinzip der Gewaltenteilung.219 Man könnte sich – so erläutert Triepel – nämlich darauf stützen, dass die richterliche Gewalt als solche schon von Hause aus dazu bestimmt unmöglich geworden. Diese Auffassung Marcics ist allerdings in seinem Werk (1963), S. 204 ff., radikalisiert, im Sinne, dass mit der Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit der Grundsatz der Gewaltenteilung verschwindet. Dazu s. Ermacora, DÖV 1964, S. 826; Hamann, DVBl 1964, S. 288 f. 213 Marcic (1957), S. 340. 214 Marcic (1963), S. 204. 215 Marcic (1963), S. 204 f. 216 Marcic (1963), S. 206. 217 Marcic (1963), S. 206. 218 Werner, NJW 1965, S. 384. 219 Triepel, VVDStRL 5/1929, S. 2, 14: „Es gab aber auch noch andere Wege, um von dem Prinzip der Gewaltenteilung ausgehend zu einer Verfassungsgerichtsbarkeit zu gelangen“.

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

sei, ein Gegengewicht sowohl zur Legislative als auch zur Exekutive zu bilden; man könnte „ihr folglich von vornherein die Rolle eines pouvoir modérateur zuweisen, um die andern Gewalten in dem Rahmen zu halten, der allen Gewalten durch die Verfassung gezogen war, allerdings in erster Linie, soweit es galt, die Exekutive zur Verfassungstreue zu zwingen“220. Die Ansicht Triepels trifft überwiegend auf Zustimmung, vor allem wenn er sagt, dass der Hauptzweck der Gewaltenteilung im Schutz der Freiheit des Bürgers und in der Garantie der Menschenwürde besteht221 und gerade nicht in der Sicherung der Größe, Ehre und Macht des Staates.222 Für Wieland223 setzt die These Triepels voraus, dass man Gewaltenteilung eher im Sinne einer Gewaltentrennung versteht, die nicht so sehr die Selbstständigkeit der drei Staatsgewalten betont, sondern mehr auf die Einheit des Staates abhebt. In der jüngeren Literatur hat Möllers festgestellt,224 dass das Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit hinsichtlich des Prinzips der Gewaltentrennung offensichtlich sei: Ein unabhängiges politisches Gericht entscheidet über verfassungsrechtliche Fragen, für die demokratische Legitimation erforderlich ist. d) Gewaltenteilungsgrundsatz als Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit Grenzfragen sind stets von entscheidender Bedeutung.225 Die Frage nach der Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit wird dogmatisch auch als Frage nach den Grenzen des BVerfG gestellt und unter dem Aspekt der Gewaltenteilung diskutiert.226 Als Grundlage einer differenzierten Kompetenzordnung sei das Gewaltenteilungsprinzip der zentrale Ansatzpunkt für eine verfassungsrechtliche Bestimmung der Stellung und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit.227 Das Verfassungsgericht muss sich – wie Hesse darlegt – im Rahmen der ihm von der Verfassung aufgetragenen Funktionen halten, es darf bei seiner Kontrolle der anderen staatlichen Gewalten nicht so weit gehen, dass es der Sache nach deren Funktionen wahrnimmt, also etwa selbst zum Gesetzgeber wird, selbst statt der Regierung politische Entscheidungen trifft oder selbst statt der ordentlichen Gerichte einen Zivilstreit entscheidet.228 Da das BVerfG die Kompetenzverteilung anderer verfas-

220 221 222 223 224 225 226 227 228

Triepel, VVDStRL 5/1929, S. 2, 14 ff. Triepel, VVDStRL 5/1929, S. 2, 15. Kägi, in: Rausch (Hrsg.), Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 286, 288. Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. III, Art. 93 Rn. 1. Möllers (2013), S. 128. Kaufmann, VVDStRL 9/1952, S. 1, 2. Roellecke, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II, § 53 Rn. 17. Rinken, in: Denninger u. a. (Hrsg.), AK-GG, Vorbemerkungen zu Art. 93 und 94 Rn. 85. Hesse (1984), S. 312.

III. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilungsprinzip

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sungsrechtlicher Organe respektieren muss, sei die Gewaltenteilung für das BVerfG das entscheidende kompetenzbegrenzende Kriterium.229 Die Gewaltenteilung als Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit sei jedoch keine starre Grenze, sie sei fließend,230 eine funktionelle Grenze des BVerfG.231 Hesses Auffassung beruht zum einen auf dem Gewaltenteilungsprinzip, zum anderen auf dem Inhalt der Aufgabe des BVerfG, d. h. der Wahrung der Verfassung im objektiven und subjektiven Sinne.232 „Je mehr das Verfassungsgericht bereit ist, die Rolle des Gesetzgebers und der Regierung zu respektieren, und je mehr es bei seiner Kontrolle Zurückhaltung wahrt, desto eher wird der Konfliktfall vermieden werden können, in dem seinen Entscheidungen die Befolgung verweigert wird, desto sicherer ist gewährleistet, daß in der verfassungsmäßigen Ordnung der staatlichen Funktionen und des Zusammenwirkens der staatlichen Organe keine Verschiebung zugunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit eintritt“233. Betrachtet man die Gewaltenteilung als funktionelle Grenze, so lässt sich die Gestaltungsfreiheit der Gesetzgeber, der Regierung und der ordentlichen Gerichtsbarkeit gewährleisten.

3. Gewaltenteilung und Verfassungsgerichtsbarkeit in Häberles Denken a) Begriff und Erscheinungsformen Dieser Grundsatz bildet für Häberle ein konstituierendes Prinzip des Verfassungsstaats und -rechts.234 Demokratie und Gewaltenteilung, die gleichrangig sind, sind immer Mittel zur Freiheitssicherung und -verwirklichung.235 Es handelt sich jedoch nicht um eine totale Trennung der Trias Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung, sondern um drei Ebenen bzw. Erscheinungsformen, in denen es zahlreiche und wechselseitige Überschneidungen und Befruchtungen gibt (Stich229

Boldt, in: FS Bartlsperger, 2006, S. 199, 201. Dies besagt nicht, dass es sie nicht gibt; vielmehr handelt es sich darum, die Maßstäbe und Gesichtspunkte herauszuarbeiten und einsichtig zu machen, nach denen sich Umgang und Intensität der verfassungsgerichtlichen Kontrolle jeweils richten müssen, vgl. Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 570. 231 Hesse (1984), S. 311 ff.; s. auch Simon, in: Benda u. a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1994, § 34 Rn. 48 ff. 232 Hesse (1984), S. 316. 233 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 567. 234 Häberle (2013), S. 387; Badura, S. 365 Rn. 47: „Die Gewaltenteilung ist das Kernstück der rechtsstaatlichen Verfassung, wie sie im Grundgesetz verwirklicht ist“. 235 Häberle, AöR 1975, S. 645, 647: Die Demokratie selbst bedarf gewaltenteilender Struktur – etwa in der Ausgewogenheit plebiszitärer und repräsentativer Momente – und die Gewaltenteilung bedarf demokratischer Elemente – z. B. innergewerkschaftliche Demokratie. 230

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

wort: Funktionengliederung als Gewaltentrennung).236 Er unterscheidet die Gewaltenteilung im engeren und weiteren Sinne. Im engeren Sinne bedeutet sie die Teilung der staatlichen Gewalten. Hier ist es noch möglich, horizontale von vertikaler Gewaltenteilung zu differenzieren. So befinden sich die drei klassischen staatlichen Gewalten – Legislative, Exekutive und Judikative – in einer horizontalen Teilung. Der Kanon ist gleichwohl offen und schließt im Verfassungsstaat auch andere Gewalten (etwa das BVerfG oder die deutsche Bundesbank) ein. Die vertikale Teilung beruht ihrerseits auf dem Bundesstaat, der Bund und Länder umfasst. Vertikale und horizontale Gewaltenteilung sichern die politische Freiheit237 und rechtfertigen besonders den Föderalismus.238 Häberle begrenzt das Anwenden des Grundsatzes der Gewaltenteilung nicht auf die staatliche Sphäre. Er plädiert für seine Stärkung im Rahmen der Wirtschaft bzw. Gesellschaft. „Der offene demokratische Willensbildungs- und Entscheidungsprozess und die bürgerlichen Grundrechte können durch übergroße Marktmacht und Machtansammlungen in der Wirtschaft gefährdet sein bzw. gefährdet werden“239. In diesem Sinne bezieht sich die Gewaltenteilung im weiteren Sinne auf den gesamten gesellschaftlichen Bereich.240 Häberle spricht hier etwa von der Teilung zwischen privater Presse und öffentlichem Rundfunk und Fernsehen, zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden – Tarifvertragsparteien –, zwischen den bürgerlichen Vertragsparteien. In diesen Fällen gehe es um einen Ausgleich der gesellschaftlichen Gewalten, um die Gefahr des Machtmissbrauchs zu vermeiden.241 b) Verfassungsgerichtsbarkeit: Teil und Garant der Gewaltenteilung Die Rechtsprechung – wie Häberle formuliert – hat als Institution und Funktion im Verfassungsstaat der Gegenwart eine unvergleichliche Aufwertung erfahren.242 Der Abschied vom Rechtsprechungsbild als der Mund des Gesetzes ist deutlich und das Bild des Verfassungsstaates als Richterstaat243 ist eine Übertreibung. Positiv wird

236

Häberle (2013), S. 387 f. Häberle (1998), S. 475. 238 Häberle (2013), S. 389. 239 Häberle, VVDStRL 35/1977, S. 121, 122. 240 Häberle, AöR 1975, S. 645, 648: Gewaltenteilung im weiteren Sinne ist heute höchst unzulänglich verwirklicht. „Man denke an die Konzentrationsvorgänge in der Wirtschaft. Marktmacht bleibt ohne Gegenmacht, zum Nachteil des Verbrauchers; man denke an den verzweifelten Kampf des Bundeskartellamts“. 241 Häberle (2013), S. 388. 242 Häberle (2013), S. 406. 243 Marcic (1963), S. 78: „Der Richter ist weniger ein Amt; das Gericht ist Funktion, und zwar Rechtserzeugung als Rechtsanwendung bei alleiniger Abhängigkeit vom objektiven Sinn der Norm ohne irgendein Dazwischentreten irgendeines Befehls als Einzelweisung, die ein 237

III. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilungsprinzip

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demgegenüber die prätorische und schöpferische Funktion der Judikatur insofern bewertet, dass das Richterrecht seit einiger Zeit eine eigene Rechtsquelle ist. Dies stellt nicht die Position der Rechtsprechung als Teil der Gewaltenteilung infrage, obwohl sie das Prinzip funktionellrechtlicher Grenzen zu beachten hat.244 Im Bereich des Grundsatzes der Gewaltenteilung wird die Verfassungsgerichtsbarkeit als Krönung des Verfassungsstaates und des Grundrechtsschutzes gesehen.245 Gleichwohl übersieht Häberle nicht, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Doktrin als Problem der Gewaltenteilung berücksichtigt wird, vor allem in Bezug auf den Gesetzgeber.246 Für ihn steht indes die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht im Widerspruch zum Grundsatz der Gewaltenteilung. Daher lehnt er die These der Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips ab, denn „diese Auffassung, Ausdruck eines klassischen Gewaltenteilungsverständnisses, berücksichtigt nicht zureichend die Einbindung des BVerfG in das vielfältig gesponnene Netz von ,checks and balances‘ heutiger Gewalten(ver)teilung unter dem GG“247. Das BVerfG hat sich nicht nur als rechtsprechende Gewalt verstanden, sondern auch als eine neue Gewalt selbst erfunden: „als maßstabssetzende Gewalt“248. Es handele sich um eine Entdogmatisierung der Gewaltenteilungslehre.249 Damit stellt sich die Frage nach der Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit im System der Gewaltenteilung. Ausgehend von dieser Prämisse beantwortet Häberle knapp, aber präzis diese Frage: „Das BVerfG ist selbst ein Stück Gewaltenteilung und es sichert diese durch seine Verfahren und seine Rechtsprechungstätigkeit“250. Mit dieser Idee will er auf der einen Seite ausdrücken, dass das BVerfG weder über dem Grundsatz noch außerhalb des Grundsatzes der Gewaltenteilung steht. Es ist dagegen innerhalb des verfassungsrechtlichen Systems und deshalb bildet es selbst einen wesentlichen Teil der Gewaltenteilung im engeren und im weiteren Sinne, d. h. von der Staats- und Gesellschaftsgewalt her. Die Verfassungsgerichtsbarkeit selbst ist insofern „praktizierte Gewaltenteilung“251. Auf der anderen Seite besagt die These von Häberle die Sicherung pluralistischer Gewaltenteilung durch den Auslegungsvorgang und das Verfassungsprozessrecht des BVerfG. Obschon die Verfassungsgerichtsbarkeit das ,Vorgesetzter‘ erteilt. In diese Richtung bewegt sich in der Gegenwart auch die sogenannte Verwaltung. Das ist der Sinn des Wortes vom ,Richterstaat‘“. 244 Hesse (1984), S. 311 ff. 245 Kumulierte wirtschaftliche Macht, Medienmacht und politische Macht gefährden den Kern einer offenen Gesellschaft, vgl. Häberle, EuGRZ 2004, S. 117, 120; ders. (2013), S. 405. 246 Häberle (2014), S. 25. 247 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 12. 248 Lepsius, in: Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, S. 159, 167 f. 249 Häberle (1998), S. 122 Anm. 10; Kägi, in: FS Huber, 1961, S. 151 ff. 250 Häberle (2014), S. 25; ders., in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 12. Auch Smend, in: Das Bundesverfassungsgericht, S. 23, 24, hatte gesagt, dass „die Verfassungsgerichtsbarkeit als Teil der rechtsprechenden Gewalt des Grundgesetzes ein Stück des Systems der Gewaltenteilung“ sei. 251 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 14.

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

überkommene System der Gewaltenteilung wesentlich verändert,252 bedeutet ihre Einbettung keine Unterbrechung oder Auflösung des Prinzips der Gewaltenteilung. Demgegenüber verstärkt das BVerfG jedenfalls die konstituierende, rationalisierende und stabilisierende Wirkung des Gewaltenteilungsprinzips.253 Die Verfassungsgerichtsbarkeit handelt im Grunde „im Interesse des Gleichgewichts des gesamten Gewaltenteilungssystems“254.

IV. BVerfG, politischer Prozess, Verfassungspolitik und Kulturpolitik 1. BVerfG als politische Kraft a) Begriff politischer Prozess Auf die Frage nach der Rolle des BVerfG im demokratisch-politischen Prozess lassen sich drei Aspekte nennen: zuerst der Begriff politischer Prozess, dann, was das BVerfG als politische Kraft im politisch-demokratischen Prozess machen kann und soll, schließlich seine Beschränkungen als Teilnehmer an diesem Prozess. Im Allgemeinen bedeutet ein politischer Prozess – nach Möllers – „einen ergebnisoffenen Willensbildungsprozess, der zu einer verbindlichen Rechtserzeugung führen kann, jedenfalls auf eine solche bezogen ist, und der seinerseits durch verbindliche Regeln organisiert wird“255. Unter politischem Prozess versteht Starck die Tätigkeit der politischen Verfassungsorgane in Bund und Ländern, zu ihnen gehören aber auch die auf die Politik einwirkende Tätigkeit von Verbänden und Einzelnen und die zwischen Gesellschaft und Verfassungsorganen vermittelnden Aktivitäten der politischen Parteien.256 Für Laufer müsse sich der politische Prozess „nicht mehr in Freund-Feind-Kategorien erschöpfen,257 sondern von einem institutionell wirksamen consensus der Gesellschaft getragen werden, dem sich im Zweifelsfalle Institutionen, soziale Gruppen und Bürger beugen“258. Der Häberle’sche Begriff politischer Prozess geht von einer engen Beziehung zu ihrer Idee der Verfassung aus. Der politische Prozess wird einerseits von der Ver252

Hesse (1984), S. 311. Dazu s. Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 549 ff. 254 Häberle (2014), S. 26. 255 Möllers, in: Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 227, 254. 256 Starck (2009), S. 130: Dieser Prozess sei „in Deutschland nicht nur ein nationaler; es gibt zahlreiche außen- und europapolitische Einflüsse, zunächst von ,außen‘ auf den politischen Prozess in Deutschland, aber auch deutsche außen- und europapolitische Aktivitäten, die den internen politischen Prozeß mitprägen“. 257 Wintrich, in: FS Nawiasky, S. 191, 202. 258 Laufer, S. 15 f.; Eschenburg, S. 770. 253

IV. BVerfG, politischer Prozess, Verfassungspolitik und Kulturpolitik

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fassung nicht ausgegrenzt, sondern er ist einer ihrer wesentlichsten Lebens- und Funktionsbereiche, ein Herzstück im wahren Sinne des Wortes, hier kommt es zu Bewegungen, zu Innovationen, zu Änderungen, aber auch zu Bekräftigungen.259 Daher hat Ehmke Recht,260 wenn er sagt, dass eine Verfassung „ein Ergebnis, aber kein Ende politischen Handelns“ ist. Andererseits ist politischer Prozess kein verfassungsfreier Raum; er „formuliert Gesichtspunkte vor, er setzt Entwicklungen in Gang, die auch dort verfassungsrelevant sind, wo der verfassungsrichterliche Interpret später sagt, es sei Sache des Gesetzgebers, im Rahmen der verfassungskonformen Alternativen so oder anders zu entscheiden“261. Politischer Prozess ist also – nach den Ansichten von Scheuner262 und Hesse263 – verantwortliches, ethisch und verfassungsrechtlich gebundenes und begrenztes Handeln. Ferner bildet den politischen Prozess ein offener und öffentlicher Vorgang, in dem ein Kommunikationsprozess aller mit allen entwickelt wird,264 weshalb er grundsätzlich so offen wie möglich sein und bleiben soll.265 Bei Häberles Konzept des politischen Prozesses handelt es sich um einen Vorgang, der im demokratischen Verfassungsstaat immer innerhalb der Verfassung stattfindet. Ein politischer Prozess außerhalb der Verfassung, der zugleich öffentlicher Prozess ist, und ihres objektiven Wertsystems, das die ganze politische Ordnung ausstrahlt, erscheint deswegen als undenkbar, denn einer Verfassung – wie Hollerbach darlegt – kommt die Aufgabe zu, die politische Existenz eines Gemeinwesens zu legitimieren und zu normieren.266 Ferner wird Offenheit und Pluralismus für Häberle grundlegender Grundzug eines politischen Prozesses.267 Dieser wird im Alltag nicht nur durch Abstimmungen im Parlament, Vertragsschlüsse oder Wahlen, sondern auch durch politische Äußerungen der politischen Akteure bestimmt.268 Hier kann man zu Recht von einem politischen Prozess als offenen und pluralistischdemokratischen Prozess sprechen, als Handeln der freien Diskussion. Die Partizipation der Bürger und Bürgerinnen, individuell oder organisiert, ist in diesem Prozess von großer Bedeutung.

259

Häberle (1998), S. 163. Ehmke (1981), S. 479. 261 Häberle (1998), S. 163. 262 Scheuner (1978), S. 78. 263 Hesse (1984), S. 112 f. 264 Häberle (2009), S. 225: In diesem Prozess der Kommunikation soll die Verfassungstheorie versuchen, sich Gehör zu verschaffen, ihren eigenen Standort zu finden und ihre Funktion als kritische Instanz wahrzunehmen. Dennoch warnt Häberle, ein Zuwenig an academical self-restraint könne auch zu einem Autoritätsverlust führen. Sie hat auch eine angedeutete demokratische Verantwortung im politischen Prozess. 265 Häberle (1998), S. 180. 266 Hollerbach, in: Maihofer (Hrsg.), Ideologie und Recht, S. 37, 43; ders. (2006), S. 138. 267 Dazu s. Rath, JöR 33/1984, S. 131, 148. 268 Ipsen, in: FS Starck, S. 263, 266. 260

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

b) Das BVerfG und der politische Prozess Formell gesehen hat das BVerfG kein ausdrückliches Mandat – wie alle anderen Gerichte – zum politischen Handeln.269 Simon meint, das BVerfG habe im Unterschied zu anderen Verfassungsorganen weder Befugnisse noch Möglichkeiten zu aktiver politischer Gestaltung; politische Führungsmacht und politische Zielbestimmungen würden nach wie vor eindeutig bei den anderen Organen liegen, zumal sei die Stellung des BVerfG eher instabil und davon abhängig, dass „seine Entscheidungen nicht nur (zähneknirschend) respektiert, sondern von allen gesellschaftlichen Kräften im Wesentlichen akzeptiert werden“270. Von einem materiellen Standpunkt aus hat das BVerfG dennoch mit politischem Prozess zu tun.271 Die Verwirklichung des Grundgesetzes durch die Verfassungsinterpretation ist keine bloße juristische, sondern auch politische Aufgabe. Die Verfassungsgerichtsbarkeit hat sowohl die Kompetenz und Kraft zur Steuerung, zur begrenzten Verbesserung politischer Wirklichkeit,272 als auch zur Schaffung politischen Grundkonsenses.273 Es dient damit im Staatsbereich der politischen Integration.274 Die Praxis des BVerfG ist einerseits ein positiver, produktiver und geschichtlich-politischer Vorgang, in dem Stein um Stein zum tieferen Fundament des Grundgesetzes für die innere Lebenskraft der Bundesrepublik hinzugefügt wird; andererseits entfalten seine Aufgaben eine fruchtbare politische Erziehungswirkung,275 aus der die Bürger und Bürgerinnen lernen können und letzten Endes lernen.276 Da die Politik grundsätzlich für alle und alles offen ist, bedarf sie nicht nur der verfassungsrechtlichen Stabilisierung, sondern auch der konkreten Entscheidungs-

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Ehmke (1981), S. 471. Simon in: Benda u. a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 34 Rn. 30. 271 Marcic (1957), S. 351: „Soll die Verfassungsgerichtsbarkeit ihre Wirkung tun, muß ein bestimmter, tatsächlicher, politischer Gesamtzustand walten: Die widerstreitenden politischen Kräfte müssen auf dem Boden der in der Verfassung ausgedrückten gemeinsamen Grundüberzeugungen stehen und ihr Ringen nach den Spielregeln eines freien und fairen Wettbewerbes, nicht eines Vernichtungskampfes austragen. Das setzt eine artbestimmte Auffassung vom Wesen des Politischen voraus. Dieses ist nicht von einer extremen Grenzsituation her als Freund-Feind-Verhältnis zu erfahren; es muß vielmehr aus seiner normalen Funktion erkannt werden: das soziale Leben zu Ordnung (Eunomia) und Frieden (Isonomia) zu gestalten. So kann politisches Handeln rechtlich normiert und gerichtlich geprüft werden, justiziabel sein“; Schuppert (1980), S. 15 ff. 272 Häberle (1980), S. 76. 273 Häberle (1998), S. 261. Selbst historisch und politisch sagt man, dass „das BVerfG zum Geburtshelfer der zweiten deutschen Demokratie wurde. Das bleibt seine zentrale Leistung“; vgl. Schönberger, in: Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, S. 9, 27. 274 Maunz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. VI, Art. 94 Rn. 5. 275 Häberle (1981), S. 9 ff. 276 Smend, in: Das Bundesverfassungsgericht, S. 23, 31. 270

IV. BVerfG, politischer Prozess, Verfassungspolitik und Kulturpolitik

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prämisse.277 Man könnte sagen, dass das BVerfG für den politischen Prozess eine hohe Leistung erbringt.278 Das BVerfG erfüllt eine dreifache Aufgabe im politischen Handeln, nämlich: 1. Es schafft Ordnung in dem weiten Bereich verfassungsrechtlicher Fragen, 2. es verstärkt die Fundamente des politischen Daseins und 3. es kämpft um die Herrschaft des Rechten und Guten.279 c) Grenzen der Partizipation des BVerfG im politischen Handeln Dass die Verfassungsgerichtsbarkeit einen herausragenden Faktor im politischen Prozess bildet,280 bedeutet aber keine Einrichtung eines Richterstaats.281 Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist kein Ersatz für eine gewachsene Demokratie.282 Das BVerfG ist weder Ersatz des Parlaments noch der Regierung noch der politischen Parteien. Es trifft nicht direkt politische Entscheidungen, die der Regierung oder dem Parlament verfassungsrechtlich vorbehalten worden sind.283 Dies widerlegt jedoch nicht die Tatsache, dass auch politische Entscheidungen rechtlich gestaltet und richterlich beurteilt werden können, sofern für sie inhaltliche oder wenigstens eingrenzende rechtliche Regeln bestehen284 und dass die Urteile des Gerichts eine politisch-gestalterische Kraft entfalten. Obwohl das BVerfG politische Richtlinien durch die Verfassungsinterpretation einbringen kann, hat es im politischen Handeln 277 Roellecke, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II, § 53 Rn. 25: „Das wird deutlich an dem oft beobachteten Umstand, daß die mögliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes bei politischen Entscheidungen antizipiert wird und daß der Gesetzgeber dazu neigt, Probleme auf das Bundesverfassungsgericht abzuwälzen oder sich zur Abwehr politischer Forderungen auf verfassungsgerichtliche Entscheidungen zu berufen. Diesem Bedürfnis der Politik muß das Bundesverfassungsgericht genügen“. 278 Häberle (1980), S. 78. 279 Smend, in: Das Bundesverfassungsgericht, S. 23, 37. 280 Limbach (1999), S. 132. 281 Richterstaat bedeutet für Forsthoff (1976), S. 243 ff., einerseits Verunsicherung des Rechts, andererseits stärkere staatspolitische Rücksichten als das Recht in Entscheidungen des BVerfG. Hinsichtlich der Bindung der Richter an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) sagt Forsthoff, DÖV 1959, S. 41, 42: „Darüber wann er an das Gesetz gebunden ist, wann er unter Berufung auf das Recht von der Gesetzgebundenheit frei ist, entscheidet heute der Richter selbst. Diese Tatsache ist für die gesamte Struktur der Bundesrepublik von zentraler Bedeutung. Sie erweist die Überlegenheit der Rechtsprechung über Gesetz und Gesetzgebung. Sie macht die Bundesrepublik zum Justizstaat im prägnanten Sinne“. Dazu s. die Kritik Hollerbachs (2006), S. 116 f. 282 Drath, VVDStRL 9/1952, S. 17, 133. 283 Wintrich, in: FS Nawiasky, S. 191, 201, ist der Meinung, dass die Verfassungsgerichte unmittelbar, und zwar durch ihre Rechtsprechung, an dem Prozess der staatlichen Willensbildung teilnehmen, indem sie die Normen, die die verfassungsmäßig intendierte „Balance der Gewalten“ gewährleisten sollen, verbindlich auslegen und anwenden und damit bei Verletzung durch ein oberstes Staatsorgan das Gleichgewicht wieder herstellen. 284 Scheuner (1978), S. 493.

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

nur eine begrenzte Mitverantwortung.285 Die Frage ist nunmehr, ob und inwiefern das BVerfG sich und das verfassungsrechtliche Gesamtsystem im Rahmen des politischen Handelns überfordert.286 Häberle sieht das BVerfG sowohl „als Teil der Verfassungskultur Deutschlands“287 als auch „der politischen Kultur“288. Diese Wechselbeziehung von politischer Kultur und BVerfG ist in Häberles Denken kein Zufall. Das BVerfG spielt einerseits für die politische Kultur,289 die ein langsamer Wachstumsprozess ist, eine bedeutsame Rolle insbesondere durch die Verfassungsbeschwerde;290 andererseits lässt sich eine „starke bürgerethische und bürgeröffentliche Verwurzelung der Verfassungsgerichtsbarkeit“ beobachten.291 Diese bürgerliche Verwurzelung des BVerfG könnte indes ein negatives Element enthalten. Die „Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem GG kann auch unpolitisches Misstrauen gegen die Demokratie und unverhältnismäßig großes Vertrauen in die Rechtsprechung indizieren. Der deutsche Glaube an die Verfassungsgerichtsbarkeit darf nicht zum Unglauben an die Demokratie umschlagen“292. Hier gibt es auch eine Grenze des BVerfG im politischen Prozess, da die „Verfassungsgerichtsbarkeit letztlich weder eine juristische noch eine politische Lebensversicherung“ ist.293 Weder soll die Politik dem BVerfG misstrauen noch soll das BVerfG seine begrenzte Partizipation im politischen Prozess überfordern.294

285

Häberle (1980), S. 71. Häberle (1980), S. 78. 287 Häberle, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, S. 311, 312. 288 Häberle (2014), S. 69. 289 Die politische Kultur umfasst zum einen „die subjektiven Vorstellungen, Erfahrungen und Erwartungen der Bürger hinsichtlich der Institutionen ihres Systems“, zum anderen das objektivierende Verhalten, d. h. das Handeln der politisch Verantwortlichen, die Parlamentspraxis, die Funktion der Gerichte, den Realitätsgrad der individuellen Freiheit und gelebten Pluralismus usw. Vgl. Häberle (1980), S. 79; ders. (1998), S. 34, 693. 290 Lübbe-Wolff, S. 7. 291 Häberle (1998), S. 260; ders. (1980), S. 79. 292 Häberle (2014), S. 69; s. auch Schlaich, VVDStRL 39/1981, S. 99, 118 Anm. 63. 293 Häberle (2014), S. 68. 294 Limbach (1999), S. 139: „Das Bundesverfassungsgericht muß sich davor hüten, eine Aufgabe zu übernehmen, die zum Verantwortungsbereich des Gesetzgebers gehört. Denn es ist nicht dazu bestimmt, als Nothelfer eines zu zögerlichen und zerstrittenen oder unweisen und endherzigen Gesetzgebers zu dienen“. 286

IV. BVerfG, politischer Prozess, Verfassungspolitik und Kulturpolitik

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2. BVerfG und Verfassungspolitik a) Häberle’scher Begriff der Verfassungspolitik Überlegungen zur Verfassungspolitik sind nicht fremd in Häberles Werken,295 etwa in Sachen Grundrechte – Grundrechtspolitik –,296 Rechtsquellenlehre,297 Verfassungssprache,298 Staatsgebiet,299 Verbände,300 Präambeln,301 Verfassungsinterpretation302 und Verfassungsgebung,303 Altern und Alter,304 Übergangsbestimmungen,305 Staatsaufgabe,306 Erziehungsziele,307 Kulturverfassungsrecht,308 Europarecht,309 Marktwirtschaft,310 Sport311 sowie in Sachen der Verfassungsgerichtsbarkeit.312 Verfassungspolitik ist auch Kunst des Möglichen,313 daher assoziiert Häberle die Verfassungspolitik mit seiner Verfassungstheorie des Möglichkeitsdenkens.314 Er definiert sie als die „bewusste Gestaltung bzw. Fortentwicklung einer Verfassung“315, 295 Der Einfluss von Arndt, Esser, Hesse und Ehmke ist hier erkennbar. Übrigens berücksichtigt Häberle, dass die Studien Ehmkes ein Stück Verfassungspolitik bilden; vgl. Häberle (2002), S. 41. 296 Häberle, VVDStRL 30/1972, S. 43, 90 ff.; ders. (1980), S. 187 ff. 297 Häberle (1998), S. 341 f.; ders. (1996), S. 518: „Aufgabe einer Verfassungslehre ist es auch, behutsam verfassungspolitische Maximen, am besten in Gestalt von Alternativen, vorzuschlagen“. 298 Häberle (1998), S. 552 ff. 299 Häberle (1996), S. 559 f.; ders. (1998), S. 650 f. 300 Häberle (1998), S. 689 ff. 301 Häberle (1998), S. 940 ff. 302 Häberle (1998), S. 88 ff. 303 Häberle (1998), S. 182 ff. 304 Häberle (1996), S. 777 ff.; ders. (1998), S. 1041 f. 305 Häberle (1998), S. 1059 f. 306 Häberle (1992), S. 583 ff. 307 Häberle (1981), S. 9 ff. 308 Häberle (1996), S. 218 ff. 309 Häberle (1997), S. 144 ff.; ders. (1996), S. 472 ff. 310 Häberle (1996), S. 709: „Verfassungstheoretische Erkenntnisse müssen praktisch werden können, d. h. sie sollten zu konkreten verfassungspolitischen Folgerungen führen. Das gilt auch für Markt und Marktwirtschaft“. 311 Häberle (1996), S. 747. 312 Häberle (2013), S. 332. 313 Rehbinder, S. 21. 314 Häberle (2013), S. 698. 315 Häberle (2013), S. 698. Für Ehmke (1981), S. 522, hat Verfassungspolitik mit den Voraussetzungen und den Strukturen einer mündigen Gesellschaft zu tun. Gusy (1983), S. 2, meint: „Verfassungspolitik ist demnach Bewahrung und Ausbau der Verfassung in der Zeit“. Verfassungspolitik meint laut Gunst, S. 9, „die Gestaltung der verfaßten Rechtsgrundlage für das öffentliche Leben der Bundesrepublik“. Schmitt Glaeser, AöR 1982, S. 335, 338, begreift die Rechtspolitik als „Forum der Initiativen und Impulse zur Rechtssetzung im weitesten Sinne

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

die sich formal und inhaltlich unterscheiden lässt. Auf der formalen Seite zeigt sich die Verfassungspolitik z. B. im erstmaligen Erlass einer Verfassung – wie 1787 in den USA oder 1791 in Frankreich –, in der Total- und Teilrevision einer Verfassung, aber auch in der Verfassungsauslegung und in den Sondervoten.316 Auf der inhaltlichen Seite „richtet sich Verfassungspolitik auf das Ganze bzw. auf Ensembleteile einer verfassungsstaatlichen Verfassung, wobei sie sich an deren (völkerrechtsoffenem) Typus orientiert, aber auch nationale (im Bundesstaat gliedstaatliche) Varianten gestaltet“317. Häberle unterscheidet ferner zwischen guter und schlechter Verfassungspolitik.318 In guter Verfassungspolitik kommen stets Verfassungsziele und -werte in Betracht. Zu ihr gehören auch verfassungsrechtlich vorgesehene Verfahren, etwa das Verfahren der Verfassungsänderungen (Art. 79 Abs. 2 GG). Deshalb mündet ein Teil der guten Verfassungspolitik in Verfassungsänderungen; Beispiele für gute Verfassungsänderungen – so Häberle – seien „die Einführung der Notstandsverfassung als solcher (unbeschadet einer Kritik an einzelnen Artikeln), Art. 93 Ziff. 4 a, 45 b, 91 a, 104 a GG“319. Verfassungspolitik, die dagegen Verfassungsverstöße mit einschließt, müsse als schlechte Verfassungspolitik berücksichtigt werden,320 aber auch wenn die Verfassungsänderungen aus dem materialen Ganzen der Verfassung nicht erforderlich sind, etwa Art. 20 Abs. 4 GG.321 b) Verfassungsrecht und -lehre als Verfassungspolitik Verfassungsrecht ist stets Verfassungspolitik.322 Texte einer Verfassung machen im lebenden Verfassungsstaat noch nicht die Verfassung.323 Sie bleiben toter Buchstabe und bewirken nichts, wenn der Inhalt jener Anforderungen nicht in menschliches Verhalten eingeht; die Verwirklichung einer Verfassung hängt davon ab, inwiefern sie menschliches Verhalten motiviert und bestimmt, d. h. inwieweit ihre Normen nicht nur hypothetisch, sondern real gelten.324 Aber die Wirklichkeit von der Verfassunggebung über die Verfassungsgesetzgebung, dem Erlaß einfacher Gesetze bis hin zu Verordnungen, Satzungen, Verwaltungsvorschriften und öffentlich-rechtlichen Verträgen“. Nach Rehbinder, S. 21 f.: Rechtspolitik „fragt und entscheidet, welche sozialen Ziele mit welchen rechtlichen Mitteln und auf welchen rechtlichen Wegen erreicht werden sollen“. 316 Häberle (2013), S. 698. 317 Häberle (2013), S. 698. 318 Häberle (1996), S. 368. 319 Häberle (1998), S. 88 Anm. 135. 320 Dazu s. Schmitt Glaeser, AöR 1982, S. 335, 346 ff. 321 Häberle (1998), S. 88 Anm. 135. 322 Scholz, S. 76. 323 Häberle (1992), S. 410: „Hinzu kommen gelebte Verfassungspraxis, die sog. Verfassungswirklichkeit, mit ihren ,Faktoren‘ der Dogmatik und Rechtsprechung, das Selbstverständnis der Beteiligten u. a. m.“. 324 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 41.

IV. BVerfG, politischer Prozess, Verfassungspolitik und Kulturpolitik

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eines Gemeinwesens könnte in Widerspruch zur Verfassung stehen, dafür bedürfen die rechtliche Betrachtung und Argumentation, die an die Normativität der Verfassung gebunden sind, der Ergänzung durch verfassungspolitische Erwägungen.325 Die Verfassungspolitik regeneriert so – nach Grimm – die normative Kraft der Verfassung.326 Sogar wenn die Verfassung ihre Aufgabe unter den veränderten Bedingungen der Zukunft erfüllen soll, muss sich das Verfassungsrecht in verstärktem Maße der Verfassungspolitik zuwenden.327 In diesem Sinne wird das Verfassungsrecht auch Verfassungspolitik. Komplementär hat Häberle die Rolle der Verfassungslehre von der Verfassungspolitik her präzisiert. Für ihn ist Verfassungstheorie ein Stück Verfassungspolitik – Verfassungslehre als Verfassungspolitik.328 Die Verfassungspolitik bleibt – nach ihm – so lange ein Teilbereich der Verfassungslehre,329 wie sie sich mit möglichen Alternativen zufrieden gibt, statt verbindliche Forderungen zu stellen.330 Daher besitzt die Verfassungslehre „nur die Kompetenz der Verfassungspolitikberatung, nicht mehr und nicht weniger“331; sie befasst sich allein mit einem alternativen Programm für die Gestaltung einer guten Verfassung.332 Auf diese Weise sollte eine solche Verfassungslehre auch Direktiven für die Verfassungspolitik entwerfen, etwa in Sachen Staatsaufgaben.333 Wie beim Verfassungsrecht lässt sich behaupten, dass die Verfassungslehre gleichsam Verfassungspolitik ist. c) BVerfG als Verfassungspolitikjudikatur Wesentliche Ausgangsfrage ist nunmehr, ob die Verfassungsgerichtsbarkeit Beteiligte der Verfassungspolitik ist. Zunächst kann man sagen, dass Verfassungspolitik zur Verwirklichung des Grundgesetzes freiheitlich-demokratische Verfassungspolitik ist, und daher sind ihre Beteiligten dementsprechend pluralistisch aufgefächert.334 Um mit Häberle zu sprechen, es gibt auch in der Verfassungspolitik eine offene Gesellschaft der Verfassungspolitiker.335 Alle, die an einer offenen Zivilgesellschaft teilnehmen – etwa Bürger, Verbände, politische Parteien, die Kirche, 325

Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 48. Grimm (1991), S. 338. 327 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 708. 328 Häberle (1998), S. 215. 329 Die Verfassungslehre schließt die Dimension der Verfassungspolitik in einem letzten Schritt ein, vgl. Häberle (1992), S. 173 f. 330 Häberle (1992), S. 478. 331 Häberle (1996), S. 9 f.; ders. (1992), S. 703: Im Rahmen der offenen Gesellschaft gibt die Staatsrechtslehre Entscheidungshilfe und formuliert Varianten, was Ausdruck des Alternativdenkens ist. 332 Häberle (1992), S. 687. 333 Dazu Häberle (1992), S. 583 ff. 334 Schmitt Glaeser, AöR 1982, S. 335, 342. 335 Häberle (1981), S. 13; ähnlich Schmitt Glaeser, AöR 1982, S. 335, 346 f. 326

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E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

NGOs, Medien, Staatsorgane usw. –, können Verfassungspolitiker sein. So ist auch Tagespolitik ein Stück Verfassungspolitik, es geht um „eine ständige Aktualisierung und Konkretisierung der Verfassungsgrundsätze“336, die jeden Bürger angehen. Zudem sind Staatsorgane nicht nur Entscheidungsorgane, sondern auch Organe der Verfassungspolitik.337 Trotzdem sei die richterliche Gewalt „nicht ,politisch‘, in keiner ihrer Ausformungen; sie ist an ,Recht und Gesetz‘ gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG) und ihre Aufgabe besteht in erster Linie in Vollzug, Erfüllung, Entfaltung und differenzierender Verfeinerung der Gesetze und ihres Rechtsgehalts“338. Diese Auffassung zieht indes nicht in Betracht, dass die Rechtsprechung auch verfassungspolitischen Charakter besitzt,339 nicht nur weil Recht und Politik untrennbar sind, sondern auch weil das Bild der Justiz340 als eines politikleeren Raums ein Trugbild ist, die Politik allgegenwärtig ist.341 Niemand entkommt den Armen der Politik. Der Appell an Art. 20 Abs. 3 GG ist daher unzulänglich, da Recht auch Politik besagt und umgekehrt. Die Verfassungsgerichtsbarkeit selbst hat auch politischen Charakter und insofern nimmt sie an der Verfassungspolitik teil. Sie kann und muss – laut Esser – „Entwürfe für die Gesamtordnung von Zwecken, Zielen und Mitteln“ liefern.342 Vom verfassungsrechtlich-interpretatorischen Standpunkt aus wird die Verfassungsgerichtsbarkeit zum Träger der Verfassungspolitik. Es gibt keine eindeutige Grenze zwischen Verfassungsinterpretation und Verfassungsgebung; zeitlich, sachlich und personell einander näher gerückt, stehen sie in Wechselwirkung, selbst in Teilidentität, zueinander: „Momente konstituierender Verfassunggebung im weiteren Sinn finden sich auch in der tagtäglichen Verfassungsinterpretation, und: Vorgänge und Verfahren der Verfassungsinterpretation finden sich in der Verfassunggebung“343. Verfassungspolitik und Verfassungsinterpretation stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Sowohl die Verfassungspolitik als auch die Verfassungsauslegung 336

Häberle (1981), S. 23. Schmitt Glaeser, AöR 1982, S. 335, 344 ff.: „Verwaltungsplanung, Regierungs-, Ressort-, Parlamentsplanung, politische Planung in einem weit verstandenen Sinn als ,Vorausschätzen, Vorbereiten, Auswählen und Festlegen zukünftiger Entscheidungsrichtung‘ haben (auch) rechtspolitischen Charakter, ebenso Regierungserklärungen des Bundeskanzlers und der Ministerpräsidenten der Länder sowie die Arbeit der Ministerialbürokratie im Vorfeld des Erlasses und der Novellierung von Gesetzen, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften“. 338 Schmitt Glaeser, AöR 1982, S. 335, 345. 339 Anders Schmitt Glaeser, in: AöR 1982, S. 335, 345. 340 Arndt (1976), S. 325 ff. 341 Vogel, in: Arndt, Gesammelte juristische Schriften, S. IX, XIX. Nach Gunst, S. 147, ist eine strenge Trennung zwischen Verfassungsrechtsprechung und Politik nicht aufrechtzuerhalten. 342 Esser (1970), S. 198. 343 Häberle (1998), S. 184; so auch Steinberger, JZ 1980, S. 385 Anm. 8. 337

V. Zwischenergebnis

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haben einen besonderen Stellenwert, um die Verfassung fortzubilden. Für Häberle werden Dauer und Stabilität einer Verfassung noch nicht per se durch ein Minimum an Verfassungsänderungen gewährleistet.344 Sie hängen nicht nur von den Umweltbedingungen und -veränderungen ab, sondern auch von dem, was die Verfassungsauslegung – vor oder nach einer Verfassungsänderung – bewirken kann. Die Interpretation des BVerfG lässt sich als gutes Zeichen zu einer Verfassungsänderung ansehen. So beginnt die Rolle der Verfassungspolitik – hinsichtlich der Verfassungsänderungen – dort, wo die Verfassungsinterpretation keine geeignete Antwort mehr geben kann, ohne dass die Verfassung Schaden nimmt.345 Diese Behauptung muss jedoch relativiert werden, weil weite Teile der verfassungspolitischen Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes durch die Rechtsprechung des BVerfG bereits als geltendes Verfassungsrecht entwickelt worden sind.346 Nach einer Verfassungsänderung muss das BVerfG durch die Verfassungsinterpretation die Fortbildung und Verwirklichung der spezifischen Verfassungsänderung sichern. Erinnert sei, dass die zentrale Rolle des BVerfG nicht nur für die Auslegung, sondern vor allem auch für die Fortbildung des Grundgesetzes unbestritten ist.347 Nicht minder bedeutsam ist die Aufgabe des BVerfG, die Verfassungsmäßigkeit der verfassungsändernden Gesetze zu kontrollieren (Art. 93 Abs. I Ziff. 2, Art. 100 GG) und ihre Grenzen zu finden.348 Die Verfahrenskonturen von Verfassungsänderung und Verfassungsinterpretation müssen dennoch nicht verwischen. Der „organisationssoziologisch begründete funktionell-rechtliche Unterschied zwischen Verfassungsänderung und Verfassungsinterpretation“349 bleibt.350 Unbeschadet dieser Differenzierung erscheint die Rechtsprechung des BVerfG als Judikatur der Verfassungspolitik.

V. Zwischenergebnis Verfassungsgerichtsbarkeit in der pluralistischen Lehre Häberles ist weit mehr als Kontrollfunktion der staatlichen Gewalt, vielmehr ist die Verfassungsgerichtsbarkeit heutzutage weniger eine Staatsfunktion als eine öffentliche bzw. gesellschaftliche

344

Häberle (1998), S. 88. Dies schließt natürlich nicht aus, dass interpretativ auch Gesichtspunkte für die verfassungspolitische Auseinandersetzung entwickelt werden können, vgl. Steinberger, JZ 1980, S. 385. 346 Zutreffend Schulze-Fielitz, in: Hesse u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen, S. 65, 104. 347 Schmitt Glaeser, AöR 1982, S. 335, 345 f. 348 Ehmke (1981), S. 21 ff. 349 Häberle (1998), S. 89. 350 Steinberger, JZ 1980, S. 385, 386. 345

126

E. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld Staat und Gesellschaft

Gemeinwohlfunktion.351 Da die Verfassung sowohl rechtliche Grundordnung des Staates als auch der Gesellschaft ist und das Verfassungsrecht als politisches Recht die politische Ordnung eines Gemeinwesens regelt und den Grundkonsens einer Zivilgesellschaft sucht, nimmt sich das BVerfG eine Mitverantwortung hinsichtlich der verfassten Zivilgesellschaft. Der hervorragende Wert von Häberles Theorie liegt darin, dass er neue Funktionen des BVerfG für die Gesellschaft früh bemerken konnte. Das treffende Bild des BVerfG als gesellschaftliches Gericht, als Gemeinwohljudikatur, als Teil und Garant des Gewaltenteilungsgrundsatzes, als Teilnehmer am politischen Prozess zeigt uns das visionäre Denken von Häberle. Es handelt sich nicht um eine bloße Darstellung der normativen Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern um eine echte Verfassungstheorie, die von scharfsinnigen Überlegungen hinsichtlich des komplexen Charakters des BVerfG selbst und seiner Funktionen in einer offenen und immer wechselhafteren Zivilgesellschaft begleitet ist. Damit eröffnet er zudem den Weg zu einer entsprechenden Verfassungsinterpretationslehre. Die Auslegung der Verfassung bildet die Grundlage aller Aufgaben des BVerfG.352

351 Anders Menzel, in: Menzel/Müller-Terpitz, (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, S. 29: Das BVerfG „ist eben kein gesellschaftliches, sondern ein strikt staatsorganisationsrechtliches Regulativ“; es „pluralisiert das System strikt staatsrechtlich, nicht ,gesellschaftlich‘“. 352 Lembcke, S. 125: „Die Funktion des Verfassungsgerichts besteht in der Auslegung der Verfassung“.

F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik I. Fundamente der Häberle’schen Verfassungsauslegungslehre 1. Allgemeines Wer sich mit der Interpretation der Verfassung befasst, assoziiert sie üblicherweise mit der Tätigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit. Das ist richtig, denn die Auslegung der Verfassungsbestimmungen liegt allen Kompetenzen des BVerfG – vgl. auch Art. 100 GG – zugrunde. Die Interpretation ist das wichtigste Instrument einer Verfassungsgerichtsbarkeit, sie gehört unbestreitbar zu ihrer Essenz. Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit ist an sich kein Zweck, sondern nur ein Mittel, damit das BVerfG seine ihm vom Grundgesetz zugewiesenen Aufgaben durchführen kann. Dennoch steht das BVerfG mit diesem verfassungsrechtlichen Auftrag nicht allein. Hier stellt sich dann die Frage: Wer interpretiert die Verfassung? Diese Frage, die von Häberle vor fast vierzig Jahren formuliert wurde, stellt sich heute wie nie zuvor. Die Frage nach den Aufgaben und Methoden der Verfassungsauslegung musste sich mit der Frage nach ihren Subjekten bzw. Beteiligten ergänzen. Mithin erlangt das Problem der Beteiligten große Relevanz, genauso wie das Ziel und die Methoden der Verfassungsinterpretation. Die Theorie von Häberle der Verfassungsinterpretation als öffentlichem Prozess1 und der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten entbehrt schon auf den ersten Blick nicht jeder Grundlage.2 Sie geht kohärent von seinem schon analysierten Begriff der Verfassung als öffentlichem Prozess,3 seiner Theorie des Möglichkeitsdenkens4 sowie seinen Vorschlägen über die Rolle der Zeit in der Verfassungsinterpretation aus und wendet sich den Akteuren der Auslegung der Verfassung zu.5 Es liegt auf der Hand, dass Häberles Verfassungsinterpretationslehre von seiner Vorstellung des normativ-prozessualen öffentlichen Charakters der Verfassung erfüllt ist.6 Die Integration der Wirklichkeit, Möglichkeiten und Notwendigkeiten im Vorgang der Verfassungsinterpretation 1 2 3 4 5 6

Häberle (1998), S. 130 ff. Häberle (1998), S. 125 ff. Häberle (1998), S. 225 ff. Häberle (1998), S. 17 ff. Häberle (1998), S. 59 ff. Häberle (2013), S. 289.

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

spiegelt die Theorie des Möglichkeitsdenkens deutlich wider. Schließlich lässt sich der Einfluss der Zeit vor allem – obgleich nicht nur – in den Methoden der Verfassungsauslegung sehen.

2. Verfassung als law in public action Die Verfassung als öffentlicher Prozess muss sich in vielfältigen öffentlichen Prozessen hic et nunc bewähren, sie organisiert selbst öffentliche Prozesse und ist ein öffentlicher Prozess.7 Häberle denkt deshalb an eine Idee der Verfassung, die sich nicht mit dem Naturrecht, sondern mit dem konkreten, geltenden, gegenwärtigen und lebenden Verfassungsrecht rechtfertigen lässt. So steht die Verfassung als öffentlicher Prozess in einer ständigen Transformation und zugleich hat sie notwendige Augenblicke von Bewegungslosigkeit.8 Die Verfassung wird insofern law in public action. Sie steht viel zu sehr im Kontinuum ihrer und der allgemeinen Entwicklung der Prozesse von trial and error.9 Doch dieser Prozess ist indes – nach Esser – nicht als ruhendes Kontinuum zu betrachten, sondern vom Richterberuf her als jeweils in statu nascendi befindlich, so, wie es im Moment wirkt.10 Aus diesem Grund gilt heute das Grundgesetz, wie es die verfassungsrechtliche Praxis anwendet und zwar die Praxis von heute, nicht die von 1949. Damit gewinnt der gemischte Verfassungsbegriff Verbindung mit der Wirklichkeit und somit ist Verfassungsinterpretation stets Verfassungsaktualisierung. Verfassung als öffentlicher Prozess meint auch lebende Verfassung.11 Die amerikanische Doktrin der lebenden Verfassung meint im ursprünglichen Sinne, dass bei der Gründung der Verfassung ihre Autoren eine Basis legten, um Kontrolle über die Zukunft auszuüben; diese Kontrolle muss flexibel genug sein, um eine Entwicklung der Verfassung zu erlauben.12 Große Wichtigkeit hat in der Gegenwart auch die kanadische Doktrin der Verfassung als lebender Baum, die mit der lebenden Verfassungsdoktrin jedoch nicht verwechselt werden darf.13 Gemäß dieser Doktrin äußert sich das Leben einer Verfassung nicht im Auferlegen alter verfassungsrechtlicher Prinzipien auf neue Umstände. Ihre Lebendigkeit bedeutet dagegen, alten verfassungsrechtlichen Grundsätzen modernen Inhalt zu geben.14 Das ist die Idee 7

Häberle (1998), S. 98. Laut Hesse (1995, Neudruck 1999) Rn. 36, ist die Frage nach der Starrheit und Beweglichkeit des Grundgesetzes keine Frage einer Alternative, sondern eine richtige Zuordnung beider Momente. 9 Häberle (1998), S. 77. 10 So treffend hinsichtlich des Gesetzes Esser (1990), S. 19 ff., 70 Anm. 215. 11 Häberle (1998), S. 284. 12 Barak, S. 390 f. 13 s. aber Hirschl, in: Ginsburg (Hrsg.), Comparative Constitutional Design, S. 164, 178. 14 Barak, S. 390 f. 8

I. Fundamente der Häberle’schen Verfassungsauslegungslehre

129

hinter der Metapher von Lord Chancellor Sankey,15 der die Verfassung als lebenden Baum betrachtet, eine Verfassung, „deren Wurzeln fest und stabil sind und deren Äste im Laufe der Zeit wachsen und sich entwickeln“16, eine Verfassung, die ihre Wurzeln freilich nicht vergisst und gleichzeitig zukunftsorientiert ist. Sie steht zwischen Verwurzelung – Tradition – und Wandel. Für die Interpretation der Verfassung verbindet Sankeys Doktrin die gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Entscheidungen mit der Vergangenheit, was eine organische Idee der Verfassungsinterpretation überträgt, obwohl sie ihre eigenen Grenzen hat.17

3. Die Lehre des Möglichkeitsdenkens Eine andere Prämisse der Häberle’schen Verfassungsauslegungstheorie ist seine Lehre des Möglichkeitsdenkens (s. Teil B. I. 4., Teil F. I. 3.). Nach dieser Theorie orientiert sich das Denken konkreter Menschen und ihrer Gruppen, die Verfassungstheorie von bestimmten sozialen Zusammenhängen, Verfahren und Funktionen aus reflektieren und praktizieren, an Möglichkeiten, Notwendigkeiten und an der Wirklichkeit, wenn auch in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen Ergebnissen.18 Es handelt sich nicht um „beliebige Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Wirklichkeit, sondern um solche besonderer Art: um solche im Kraftfeld der Verfassung, von ihr aus bewertet (,verfassungstheoretischer Input‘)“19. So sollen die Möglichkeiten und Grenzen der normativen Kraft der Verfassung mithilfe dieser drei Arten des Denkens erschlossen werden. „Gute“ Interpretation der Verfassung ist eine Art Resultante des Gegen- und Miteinanders von Möglichkeits-, Notwendigkeitsund Wirklichkeitsdenken, ohne dass es irgendeine Automatik gibt. Die Relevanz der Lehre des Möglichkeitsdenkens ist offensichtlich. Im Grunde genommen beruht die Deutung der Verfassung auf den verschiedenen Interpretati15 Lord Sankey verglich in Edwards v. A.G. of Canada (1930) A.C. 124, 136 (P.C.), die Verfassung mit „a living tree capable of growth and expansion within its natural limits“. 16 Waluchow, in: Dyzenhaus u. a. (Hrsg.), Law and Morality, S. 533 ff. 17 Dazu s. Kotzur, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 260 Rn. 6; Jackson, Fordham L. Rew. 75 (2006), S. 921, 926: „The idea of a ,living tree‘ may better embrace the multiple modalities-text, original intentions, structure and purpose, precedent and doctrine, values and ethos, prudential or consequentialist concerns – of contemporary constitutional interpretation. It suggests that constitutional interpretation is constrained by the past, but not entirely. Unlike the less tethered ,living constitution‘, it captures the idea of constraint, the role of text and original understanding in the roots of the constitutional tree and the role of precedent and new developments in its growth. Yet all metaphors mislead; they can obscure as much as they illuminate; and the tree metaphor understates the effects of major constitutional change and the role of human agency in that process. Nonetheless, moving the metaphor to the Constitution as a ,living tree‘ may emphasize commonalities in interpretive approaches and thus support the idea of legitimate constitutional disagreement as an ordinary part of adjudication, not a symptom of ,lawless‘ judges engaged in ,naked political judgment‘“. 18 Häberle (1998), S. 17. 19 Häberle (1998), S. 18.

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

onsmöglichkeiten und -alternativen der Verfassungsbestimmungen. Dies betrifft nicht nur die heutige, sondern auch die zukünftige Interpretation. Das gilt auch für das hoch umstrittene Problem der Methodenwahl.20 Auch das Prinzip der verfassungskonformen Auslegung zeigt in besonderem Maße, wie weit die von Häberle entwickelte Lehre des Möglichkeitsdenkens eine bedeutsame Rolle im Vorgang der Auslegung spielt.21 Zu Recht spricht er von einer offenen Verfassungsinterpretation.22 Darüber hinaus lässt die Theorie der Verfassungsauslegung die Wechselwirkung von Interpretation und Wirklichkeit nicht übersehen. „Erinnert sei an die wirklichkeitsbezogene Verfassungsauslegung mit dem Ziel der Hereinnahme der Wirklichkeit in Norminhalt und -grenze, an den abgestuft freien Einsatz des öffentlichen Interesses in der Gemeinwohlrechtsprechung, an alle Formen folgen- bzw. gemeinwohlorientierter Auslegung“23. Der Begriff des Notwendigen und seiner Folgen ist im Interpretationsvorgang auch sichtbar, vor allem im Abwägungsvorgang. Wer die Verfassung interpretiert, „muss sich überlegen, wie er die Norm nicht nur wirklichkeits- und möglichkeitsorientiert auslegt, sondern auch welche funktionellrechtlichen Notwendigkeiten gerade er als solche berücksichtigen kann und darf“, d. h. „welche interpretatorischen Konsequenzen aus den neuen Verfahren der Ermittlung des Notwendigen zu ziehen sind“24. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich jede Interpretation der Verfassung im Rahmen des Möglichen, Wirklichen und Notwendigen entwickelt. Häberle hat daher treffend festgestellt: „Juristisches Möglichkeitsdenken ist Ausdruck und Folge, Voraussetzung und Grenze für ,offene Verfassungsinterpretation‘“25.

4. Zeitfaktor und Verfassungsauslegung Die dritte Prämisse ist die Zeit. Wenn Häberle behauptet, dass es „keine Rechtsnormen“ gibt, sondern „nur interpretierte Rechtsnormen“, oder „ob sich eine Interpretation in der Zeit gleich bleibt bzw. bleiben soll, ist das Problem und Ergebnis von Interpretation“26, erscheint dieser Faktor deutlich in den wesentlichen Elementen seiner Lehre der Verfassungsinterpretation. Um zu beginnen, definiert er die Zeit als „die Dimension, in der Veränderungen möglich und notwendig sind“27. Da Häberles Begriff der Verfassung offen und weit verstanden werden kann, muss sie sich durch die Interpretation ändern können, in stärkerem Maße sogar als Gesetze, die sich 20 21 22 23 24 25 26 27

Häberle (1998), S. 22. Häberle (1998), S. 26. Häberle (1998), S. 26. Häberle (1998), S. 34 f. Häberle (1998), S. 41 f. Häberle (2013), S. 85. Häberle (1998), S. 79. Häberle (1998), S. 66.

I. Fundamente der Häberle’schen Verfassungsauslegungslehre

131

möglicherweise einfach ändern lassen.28 Ausgehend von dieser Ansicht ist ihm immer alle Verfassungsauslegung Interpretation in der Zeit,29 mithin heißt Interpretieren, dem Verfassungsrecht eine Verwirklichungsebene in der Zeit (Aktualisierung) verschaffen, Konfliktsituationen bewältigen und Konsens begründen.30 Ferner ist der Auslegungsprozess ein Vorgang, der sich nicht im luftleeren und zeitlosen Raum, sondern in der unvermeidlichen Zeitdimension erledigt. Sowohl die Interpreten als auch ihre Prozesse selbst können sich der Zeit nicht entziehen. Die Relevanz des Zeitfaktors für die Deutung der Verfassung wirkt ferner auf die Interpretationsmethoden und ihre Beziehung zueinander ein. Bei den Methodenfragen geht es darum, Zeit und Verfassung aufeinander abzustimmen: „Methoden sind Instrumente im und zum zeitgebundenen Interessensausgleich“31. „Alle Interpretationsmethoden haben denselben sachlichen Bezugspunkt: die – in der Zeit wirkende – Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung: ,republikanische Auslegung‘. Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung lassen sich nur durch offene Auslegung einfangen!“32. Dies besagt, dass sich alle Auslegungsmethoden, die Bezug zur Öffentlichkeit und Wirklichkeit haben, nur durch verschiedene Zeitperspektiven unterscheiden.33 Es handelt sich darum, wie die Zeit organisiert wird und wie die Methoden die Zeit verarbeiten.34 Etwa bezieht sich die wirklichkeitsorientierte Methode auf die Gegenwart, denn sie versucht, der gegenwärtigen Wirklichkeit gerecht zu werden. „Es geht freilich nicht um die Norm äußerlich hinzugedachter Wirklichkeit, nicht um ,entzeitete‘ Norm und zeitabhängige Wirklichkeit, sondern um die ,Norm in der Zeit‘ selbst bzw. die ,Wirklichkeit der Norm‘“35. Die öffentlichkeits-, gemeinwohl- und folgenorientierten Methoden „suchen ihre Inhalte im Blick auf die antizipierte Zukunft“36. Die historische Methode hat ihrerseits einen entsprechenden zeitlichen Aspekt, denn sie verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart und auch mit der Zukunft. Sie gewinnt so eine neue Perspektive, indem eine gedankliche Transformation der entstehungsgeschichtlichen Bedingungen in die Gegenwart und Zukunft erfolgt.37 Genau deshalb spricht Häberle von einer historischen Auslegung, die transformieren muss.38 Auch subjektive und objektive Methoden relativieren sich in der Zeit. Die objektive (geltungszeitliche) Methode ist 28

Häberle (1998), S. 73. Häberle (1998), S. 73. 30 Häberle (1998), S. 75. 31 Häberle (1998), S. 75. 32 Häberle (1998), S. 71. 33 Häberle (1998), S. 72. 34 Häberle (1998), S. 72 f. 35 Häberle (1998), S. 75. 36 Häberle (1998), S. 72. 37 Häberle (1998), S. 78. 38 Häberle (1998), S. 75: „Damit gewinnt der Begriff der Transformation seine Schlüsselstellung. Er wird heute viel gebraucht: in Bezug auf liberales Denken, Demokratie, Öffentlichkeit, Grundrechte“. 29

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

die Methode von der Gegenwart aus.39 Sie beantwortet die Frage, was die Gesetze im Zeitpunkt ihrer Anwendung bedeuten; es geht daher um eine „aktualisierende Interpretation“40, weil das Gesetz derzeit einen Sinn haben oder erhalten könne, den der Gesetzgeber gar nicht gewollt habe.41 Die subjektive (entstehungszeitliche)42 Methode bezieht sich auf die Vergangenheit,43 denn sie fragt danach, was der Gesetzgeber zu gegebener Zeit gewollt hat, das heißt „welche ursprüngliche Wertentscheidung hinter einer Bestimmung steht“44. Je nach der ausgewählten Methode wird die Verfassungsinterpretation so zum Teil retrospektiv und zum Teil prospektiv, ohne dass die Interpretation von der Gegenwart befreien kann.

5. Demokratisierung der Verfassungsinterpretation Häberle plädiert nicht nur für einen offenen Katalog der Methoden und Prinzipien der Verfassungsauslegung, sondern auch für eine Offenheit der Interpretationsprozesse selbst.45 Diese Anforderung geht von einem Begriff der Demokratie aus, der mit dem Rousseau’schen Volksbegriff nichts zu tun hat.46 Das Volk wird nicht absolut und gottgleich gesetzt; es ist vor allem „ein Zusammenschluss von Bürgern“, die Demokratie ist „Herrschaft der Bürger, nicht des Volkes“ im Sinne Rousseaus47 – Demokratie nicht als Volksdemokratie, sondern als Bürgerdemokratie,48 die organisatorische Konsequenz der Menschenwürde ist.49 Das ist jedoch kein bloßes Wortspiel. Bürgerdemokratie liegt nahe an einem Denken, das die Demokratie von den Grundrechten her sieht, nicht von Vorstellungen, in denen das Volk als Souverän 39

Mayer-Maly/Honsell, S. 95. Mayer-Maly, S. 21. 41 Otte, in: Grimm (Hrsg.), Einführung in das Recht, S. 172, 186. 42 Mayer-Maly/Honsell, S. 95. 43 Mayer-Maly/Honsell, S. 77 Anm. 97. 44 Sauer, in: Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, § 9 Rn. 28. 45 Häberle (2013), S. 297 ff.; ders. (1998), S. 131: „Den theoretischen Hintergrund für Verfassungsinterpretation als pluralistisch-öffentlicher Prozeß bildet die gleichermaßen demokratische wie grundrechtliche Fundierung des freiheitlichen Gemeinwesens. Sie läßt sich als ,Bürgerdemokratie‘ umschreiben und ist als solche eine Absage an ,volks-demokratische‘ Konzeptionen jeder Art“. 46 Etwa sagt Häberle (2013), S. 368: „Der Bürger wird anstelle des Volkes zum Verfassunggeber! (ein Abschied von Rousseau)“. 47 Dies bedeutet gleichwohl keine Entthronung des Volkes, s. Häberle (2013), S. 279. 48 Schachtschneider, S. 208. 49 Die Kritik von Häberle (2013), S. 378, an der Unterscheidung von unpolitischer Menschenwürdegarantie und politischer Demokratie ist genau richtig. Er stellt treffend fest: „In Wahrheit wird der Mensch als Bürger im Kern getroffen, wenn er keine Möglichkeit hat, seine Wahl- und Abstimmungsrechte praktisch auszuüben oder Meinungs- und Demonstrationsfreiheit auch zu politischen Zwecken effektiv zu nutzen (,Bürgerdemokratie‘)“. 40

I. Fundamente der Häberle’schen Verfassungsauslegungslehre

133

eigentlich nur den Platz des Monarchen eingenommen hat.50 Der Volksbegriff relativiert sich so zugunsten der Bürgerfreiheit und des Pluralismus:51 „Grundrechtliche Freiheit (Pluralismus), nicht ,das Volk‘ wird zum Bezugspunkt für demokratische Verfassung“52. Diese Auffassung ist zu bestätigen. Herrschaft des Volkes impliziert nicht zwangsläufig eine echte Demokratie. „Volksdemokratie“ kann auch eine totalitäre „Demokratie“ sein,53 während die Bürgerdemokratie stets Inbegriff nicht nur einer guten Staatsordnung,54 sondern auch einer gewaltenteilenden, wertgebundenen, freiheitlichen und pluralistischen Demokratie ist.55 Konstitutionelle Bürgerdemokratie lebt auf diese Weise von eröffneter politischer Mitgestaltung der Bürger, der Konkurrenz unterschiedlicher Ideen und Interessen, der Selbstbestimmung oder Selbstregulierung der Zivilgesellschaft, deshalb ist die Bürgerdemokratie der große Antipode aller totalitären Staaten.56 Es lässt sich selbst sowohl von Demokratiebürgern sprechen, die zu einer kooperativen, gemeinwohlorientierten, selbstorganisatorischen Zivilgesellschaft gehören, als auch von der Bürgerdemokratie, die stets für die bürgerschaftliche Partizipation offen bleibt.57 Der Begriff der Bürgerdemokratie beeinflusst tief die Idee Häberles von der Verfassungsauslegung. Er beruht auf der folgenden Ausgangsthese: „Der ,Verfassung des Pluralismus‘ entspricht eine ,offene‘ Verfassungsinterpretation, die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten ist Konsequenz der ,Bürgerdemokratie‘“58. Aber auch die Gesellschaft ist in dem Maße frei und offen, wie sich der Kreis der Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne öffnet.59 Hierauf lässt sich behaupten, dass die Verfassung des Pluralismus kein ausschließliches „Erbe“ weder der Juristinnen und Juristen noch der Richterinnen und Richter ist.60 Sie ist kein „heiliges Buch“, das nur wenige Privilegierte lesen und auslegen dürfen.61 Die Verfassung als Grundordnung des Rechts wendet sich an alle Akteure der Gesellschaft und des Staates, ein 50

Dazu s. Scheuner (1978), S. 146. Die Bürgerdemokratie sei realistischer als die Volksdemokratie, vgl. Häberle (2013), S. 386. 52 Häberle (2013), S. 279. In diesem Sinne gibt es für Häberle kein Zurück zu Rousseau. 53 Etwa die sogenannte Volksdemokratie der sozialistischen Regime wie im Osten Deutschlands bis 1989, vgl. Häberle (2013), S. 378. 54 Für Häberle (2013), S. 376, ist die Bürgergesellschaft auch ein Element des Verfassungsstaates. 55 Häberle (2013), S. 378; s. auch Henke (1988), S. 386. 56 Häberle (2013), S. 339; ders., in: Ehrenzeller u. a. (Hrsg.), Vom Staatsbürger zum Weltbürger, S. 93, 95: „Der Bürger ,gehört‘ doch nicht dem Staat“. 57 Häberle (2013), S. 377. 58 Häberle (2013), S. 298. 59 Häberle (2013), S. 280. 60 Die Verfassung muss nicht nur Gegenstand der Erörterung berufsmäßiger Interpreten, also der Juristen, sein, sie ist vielmehr Sache aller Bürger, vgl. Morlok/Michael, S. 53 Rn. 19. 61 Möllers (2009), S. 9 f. 51

134

F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

jeder, der die Verfassung anwendet, muss zuerst ihren Sinn ermitteln.62 Auch die Verfassung erlangt demokratische Legitimation, wenn die Bürger die Verfassung nicht passiv leben, sondern wenn sie an ihrer Interpretation aktiv partizipieren.63 Die Verfassung ist damit nicht durch den einmaligen Akt ihrer Gebung legitimiert, sie bedarf und erfährt immer neuere Legitimation im täglichen Prozess ihrer Anwendung. „Möglichkeit und Wirklichkeit freier Diskussion von Einzelnen und Gruppen ,über‘ und ,unter‘ den Verfassungsrechtsnormen und ihr pluralistisches Wirken ,in‘ ihnen vermittelt sich dem Interpretationsvorgang vielfältig“64. Es gibt somit keinen offenen Kreis der Verfassungsinterpreten ohne die Bürgerdemokratie und umgekehrt.

6. Kritischer Rationalismus „Eine Stärke der offenen Gesellschaft bzw. des Verfassungsstaates liegt darin, dass er weder eine ,offizielle‘ noch eine ,Hausphilosophie‘ hat. Die Verfassung des Pluralismus erlaubt innerhalb gewisser ,Toleranzgrenzen‘ alle Ideologien, Weltanschauungen, Philosophien, Religionen und Wissenschaften sowie Künste. Gleichwohl gibt es eine Philosophie, die dem Pluralismus jenen zentralen Rang einräumt, die den m. E. besten Theorie-Rahmen für den Verfassungsstaat bereit hält: es ist der kritische Rationalismus Poppers“65. Dieser kritische Rationalismus ist auch in Häberles Methodenlehre ein wichtiger Grundsatz,66 was sich auch in seiner Theorie der Verfassungsauslegung deutlich widerspiegelt. Für Popper hat sich das alte Wissenschaftsideal, das absolut gesicherte Wissen als ein Idol erwiesen, „die Forderung der wissenschaftlichen Objektivität führt dazu, daß jeder wissenschaftliche Satz vorläufig ist. Er kann sich wohl bewähren – aber jede Bewährung ist relativ, eine Beziehung, eine Relation zu anderen, gleichfalls vorläufig festgesetzten Sätzen. Nur in unserem subjektiven Überzeugungserlebnis, in unserem Glauben können wir ,absolut sicher‘ sein“67. Im kritischen Rationalismus gibt es daher keine wahrheitsverbürgende Methode: „Wir wissen nicht, sondern wir raten“68, „unser Wissen ist ein kritisches Raten; ein Netz von Hypothesen; ein Gewebe von Vermutungen“, nur „eine Annährung an die Wahrheit ist möglich“69. In-

62 63 64 65 66 67 68 69

Heuschling, in: Lienbacher (Hrsg.), Verfassungsinterpretation in Europa, S. 37, 49. Häberle, JZ 1977, S. 360, 366. Häberle (2013), S. 387. Häberle (1994), S. 103. Kritisch Henke (1974), S. 3 ff.; Kellmann, Rechtstheorie 6/1975, S. 83 ff. Popper (1989), S. 225. Popper (1989), S. 223. Popper (1989), S. XXV.

I. Fundamente der Häberle’schen Verfassungsauslegungslehre

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terpretation ist daher „hauptsächlich ein Gesichtspunkt“70. Der kritische Rationalismus als Methode ist dennoch keineswegs für die Philosophie allein charakteristisch, er ist „die Methode aller rationalen Diskussion“71. Es handelt sich um die Methode, dass man sein Problem klar formuliert und die verschiedenen vorgeschlagenen Lösungsversuche kritisch untersucht: „Wann immer wir nämlich glauben, die Lösung eines Problemes gefunden zu haben, sollten wir unsere Lösung nicht verteidigen, sondern mit allen Mitteln versuchen, sie selbst umzustoßen“72. Der kritische Rationalismus überwindet die Neutralität des analytischen Denkens und das totale Engagement theologischer und quasitheologischer Denkweisen mit seinen antiliberalen Implikationen; er geht dagegen von einem kritischen Engagement für rationales Denken und für die unvoreingenommene Suche nach der Wahrheit und nach offenen Problemlösungen aus, die im Lichte neuer Gesichtspunkte jeweils revidierbar sind.73 Der kritische Rationalismus ist keine bloße Methode, sondern ein Entwurf einer Lebensweise, einer sozialen Praxis, und hat daher ethische und politische Bedeutung, er stellt eine Verbindung „zwischen Logik und Politik“ her.74 Wesentlicher Bestandteil der Methode der kritischen Prüfung ist der theoretische Pluralismus. Albert, Autor des von ihm benannten Münchhausen-Trilemmas75 und des Brücken-Prinzips,76 sagt dazu: „Wenn es, wie sich aus der kritischen Analyse des Begründungspostulats ergab, niemals sicher sein kann, dass eine bestimmte Theorie wahr ist, auch dann, wenn sie die ihr gestellten Probleme zu lösen scheint, dann lohnt es sich stets, nach Alternativen zu suchen, nach anderen Theorien, 70

Popper (1992), Bd. I., S. 205; Bd. II, S. 312: „Interpretationen sind wichtig, denn sie geben uns einen Gesichtspunkt“. 71 Popper (1989), S. XV. 72 Popper (1989), S. XV. 73 Albert (1975), S. 6. 74 Albert (1975), S. 41. 75 Albert (1975), S. 13: „Wenn man für alles eine Begründung verlangt, muß man auch für Erkenntnisse, auf die man jeweils die zu begründende Auffassung – bzw. die betreffende Aussagen-Menge – zurückgeführt hat, wieder eine Begründung verlangen. Das führt zu einer Situation mit drei Alternativen, die alle drei unakzeptabel erscheinen […]. Man hat hier offenbar nämlich nur die Wahl zwischen: 1. einem infiniten Regreß, der durch die Notwendigkeit gegeben erscheint, in der Suche nach Gründen immer weiter zurückzugehen, der aber praktisch nicht durchzuführen ist und daher keine sichere Grundlage liefert; 2. einem logischen Zirkel in der Deduktion, der dadurch entsteht, daß man im Begründungsverfahren auf Aussagen zurückgreift, die vorher schon als begründungsbedürftig aufgetreten waren, und der, weil logisch fehlerhaft, ebenfalls zu keiner sicheren Grundlage führt; und schließlich: 3. einem Abbruch des Verfahrens an einem bestimmten Punkt, der zwar prinzipiell durchführbar erscheint, aber eine willkürliche Suspendierung des Prinzips der zureichenden Begründung involvieren würde“. 76 Dieses Prinzip sei eine Maxime zur Überbrückung der Distanz zwischen Soll-Sätzen und Sachaussagen und damit auch zwischen Ethik und Wissenschaft. Seine Funktion bestehe darin, eine wissenschaftliche Kritik an normativen Aussagen zu ermöglichen; vgl. Albert (1975), S. 76 f.

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

die möglicherweise besser sind, weil sie größere Erklärungshaft haben, bestimmte Irrtümer vermeiden oder überhaupt Schwierigkeiten irgendwelcher Art überwinden, die von bisherigen Theorien nicht bewältigt werden“77. Es geht nicht nur um die Suche nach konträren Tatbeständen, sondern vor allem auch um die Suche nach Alternativen; der theoretische Pluralismus ist also ein Mittel, die Dogmatisierung von theoretischen Auffassungen und damit ihre Verwandlung in kritikimmune metaphysische Lehrgebäude zu verhindern.78 Wie Popper ist Häberle auch ein Pluralist. Beide glauben, „daß ein ganzes Spektrum von verschiedenen Ansichten, auch methodischer und grundsätzlicher Natur, nebeneinander Platz haben und miteinander in intellektueller Konkurrenz stehen sollen“79. Der Verfassungsstaat, den Häberle vertritt, gründet sich auf pluralistische und offene Demokratie, die sich „als Gegentypus zu totalitären Staaten jeder couleur und allen fundamentalistischen Wahrheitsansprüchen, Informationsmonopolen und geschlossenen Ideologien“ darstellt.80 Seine praktische Verfassungstheorie, deren Grundlagen, Prinzipien und Verfahren unabhängig vom Naturrecht sind,81 weiß sich dem kritischen Rationalismus verpflichtet, sie hat „die Aufgabe, Alternativen ,auf Vorrat‘ zu entwickeln. Sie kennt keine absoluten Wahrheiten, sondern sie sucht relative Wahrheiten (den Konsens) in Verfahren, deren Organisation zum entscheidenden Problem wird“82. Wie die Popper’sche Methode beruht die Verfassungstheorie von Häberle auf keiner ewigen und vorgegebenen Wahrheit; diese sei stets vorläufig und revidierbar, es gehe jedenfalls um „Wahrheiten“, niemals um „die Wahrheit“83. Ausgehend von diesen Prämissen findet der kritische Rationalismus seinen Stellenwert im Geschäft der Verfassungsinterpretation.84 Einerseits hat er „die Arbeit immer neuer ,Entdogmatisierung‘ zu unterstützen“, andererseits neue interpretatorische Alternativen vorzuschlagen. Die Verfassungsinterpretation, die methodologisch vom kritischen Rationalismus ausgeht, fragt auf diese Weise stets nach möglichen und nötigen praktischen Alternativen; sie ist offene Interpretation, die immer wieder gegen Dogmen geleistet werden muss.85

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Albert (1975), S. 49; ders. (1973), S. 11 ff.; s. auch Ebeling, S. 13 ff. Albert (1975), S. 52 ff. 79 Popper, Rechtstheorie 4/1973, S. 88. 80 Häberle (1995), S. 79. 81 Häberle (1998), S. 93 ff. 82 Häberle (1998), S. 106. Häberle spricht hier von Verfassungstheorie der Verfahren und Alternativen. 83 Häberle (1995), S. 79. 84 Der kritische Rationalismus liefere auch wichtigste Einsichten für die Fortentwicklung gewaltenteilender Momente in den öffentlichen Bereichen, aber auch für die Bewährung der privaten Seite der Grundrechte sowie für eine Theorie der Verfassungsänderung und -wandlung, vgl. Häberle (1998), S. 105. 85 Häberle (1998), S. 116. 78

II. Grundfragen der Verfassungsinterpretation

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II. Grundfragen der Verfassungsinterpretation 1. Materielle Verfassungstheorie als eigentliche verfassungsrechtliche Hermeneutik Man kann die Verfassungsinterpretation nicht einfach als „einen Unter- und Sonderfall der Gesetzesinterpretation“ berücksichtigen,86 denn dies würde bedeuten, dass sich die Probleme der Deutung der Verfassung – trotzt ihrer Eigenständigkeiten – nach der Lehre der Gesetzesinterpretation lösen ließen. Freilich sind die bisher vorgeschlagenen Theorien der Auslegung des Gesetzes nach wie vor nicht in der Lage, weder methodologisch noch demokratietheoretisch befriedigende und praktische Antworten auf die Verfassungsinterpretation zu bieten. Dies spiegelt sich schon etwa in der begrenzten Rolle der herkömmlichen Methoden im Rahmen der Verfassungsinterpretation wider, aber auch bezüglich des Problems der Subjekte der Verfassungsinterpretation – einem Forschungsgebiet, dem sich Häberle87 als Pionier widmet.88 Die Antworten auf diese Grundfragen müssten daher nicht in der Lehre der Gesetzesinterpretation zu finden versucht werden, sondern in der „materiellen Verfassungstheorie“89 als „Anker zur Lösung der Auslegungsproblematik“90. Doch sind Probleme der Verfassungsinterpretation – wie das sogenannte „MethodenChaos“ –91 keine Sache des BVerfG, sondern der Verfassungsrechtswissenschaft,92 die zur Aufgabe hat, kontrollierbare Interpretationsergebnisse zu ermöglichen.93 Mithilfe der Hermeneutik sollte die materielle Verfassungstheorie die oben genannten Probleme der Verfassungsauslegung lösen können. Aber Hermeneutik in welchem Sinne? Ihre Bedeutung als Kunst oder als Verfahren der Interpretation ist 86

So aber Borowski, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 274 Rn. 1: „Die Verfassungsinterpretation bildet einen Unter- und Sonderfall der Gesetzesinterpretation“; Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 271 Rn. 18: „Fragen der Verfassungsauslegung werden in Deutschland schon seit Beginn dieses Jahrhunderts als Sonderprobleme der Gesetzauslegung behandelt und von einigen Autoren ganz von der Gesetzauslegung abgehoben erörtert“; Dreier, in: Dreier/Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, S. 13: Verfassungsinterpretation ist „in erster Linie Interpretation des Verfassungsgesetzes. Sie teilt damit die Probleme der Gesetzesinterpretation überhaupt. Das gilt unbeschadet der Vieldeutigkeit des Verfassungsbegriffs“. 87 Häberle, JZ 1975, S. 297 ff. 88 Aus der jüngsten Literatur s. etwa Röhl, VVDStRL 74/2015, S. 7, 8 ff.; von Arnauld, VVDStRL 74/2015, S. 39, 40 ff.; Borowski, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 274; Kreuter-Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 272 Rn. 52 ff. 89 Ehmke, VVDStRL 20/1963, S. 53, 71; Leibholz, VVDStRL 20/1963, S. 117 f., plädiert auch für „eine materiale Verfassungstheorie“. 90 Stern, in: FS Schambeck, S. 381, 395. 91 Schlothauer, S. 70. 92 Dazu Drath, VVDStRL 20/1963, S. 106, 107; für Bleckmann, S. 37, müsste in Sachen Interpretation vor allem die Rechtsprechung des BVerfG rational-systematisch weiter untersucht werden. 93 Ehmke, VVDStRL 20/1963, S. 53, 115 f.

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

ziemlich unverändert von der Antike bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts.94 Nach der Auffassung von Schleiermacher ist das Auslegen eine Kunst und daher wird die Hermeneutik „Kunst des Verstehens“95, während Dilthey die „Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen“ Hermeneutik nennt.96 Heidegger versteht das Wort Hermeneutik „im Sinne der Ausarbeitung der Bedingungen der Möglichkeiten jeder ontologischen Untersuchung“97. Gadamer– einer der Hauptvertreter der Hermeneutik98 –, unterscheidet Hermeneutik in Kunst der Verständigung und in philosophische Hermeneutik, die „nicht ein Können zum Regelbewußtsein erheben“ wolle, dagegen reflektiere diese „über dieses Können und über das Wissen, auf dem sie beruht“99. A. Kaufmann begreift die Hermeneutik einerseits als Transzendentalphilosophie,100 d. h. sie sage nur, „unter welchen Voraussetzungen man irgend etwas in seinem Sinn verstehen kann“101; andererseits spricht er ferner von einer „juristischen Hermeneutik“. Für ihn besage die Hermeneutik einen Kampf gegen alle Dogmen des Naturrechts und Positivismus, nämlich: der objektivistische Erkenntnisbegriff (das Subjekt-Objekt-Schema – der Erkennende erkenne den Gegenstand in seiner reinen Objektivität ohne Beimischung subjektiver Elemente), der subtanzontologische Rechtsbegriff (Gesetzbegriff), die Subsumptionsideologie und die Idee eines geschlossenen Systems102. Gleichzeitig werden gegen diese Hermeneutik einige Einwände erhoben, sie sei etwa ein vermeintlicher Irrationalismus, Subjektivismus und eine Unwissenschaftlichkeit.103 Indes ist „die Hermeneutik […] rational, sie beschäftigt sich nur mit (ganz oder teilweise) irrationalen Vorgängen (wie das bei der Rechtsfindung der Fall ist) nach der Devise: möglichst rational mit dem Irrationalen umgehen“104. Genau dies ist Sinn und Zweck eines „hermeneutischen Verständnisses der juristischen Methode“105. Ausgehend von dieser philosophisch-juristischen 94

Klaus/Buhr, S. 233. Schleiermacher, S. 7 f., 16: Das „volle Geschäft der Hermeneutik ist als Kunstwerk zu betrachten, aber nicht als ob die Ausführung in einem Kunstwerk endigte, sondern so daß die Tätigkeit nur den Charakter der Kunst an sich trägt, weil mit den Regeln nicht auch die Anwendung gegeben ist, d. i. nicht mechanisiert werden kann“. 96 Dilthey (1957), S. 332 f.; ders. (1958), S. 216 ff. 97 Heidegger, S. 37. 98 Schreiter, in: Sandkühler (Hrsg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. II, S. 538, 545. 99 Gadamer (1986), Bd. II, S. 254; ders. (1986), Bd. II, S. 3. Für den aktuellen Stand der Verfassungsinterpretation, s. Röhl, VVDStRL 74/2015, S. 7, 8 ff.; von Arnauld, VVDStRL 74/ 2015, S. 39, 40 ff. 100 A. Kaufmann (1999), S. 67. 101 A. Kaufmann (1997), S. 44 f. 102 A. Kaufmann (1997), S. 44 f. 103 Akzeptiert man diese Einwände, so würden sie für alle juristischen Methoden gelten, denn sie sind weder exakt noch eindeutig. 104 A. Kaufmann (1997), S. 48. 105 A. Kaufmann (1999), S. 67. 95

II. Grundfragen der Verfassungsinterpretation

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Hermeneutik könnte man gerade die Grundlinien der Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik vorschlagen:106 – Preisgabe der Identitätsthese von Recht und Gesetz: Gesetz und Recht sind nicht dasselbe, daher stimmt der Deduktionsmechanismus der rationalistischen Naturrechtslehre wie des Gesetzpositivismus nicht, und deshalb stimmt es auch nicht, dass die Interpretation der Verfassung nur das Verständlichmachen von rational Erfahrund Mittelbarem ist.107 – Unfertigkeit des Verfassungstextes: Die Unfertigkeit des Textes der Verfassung ist keineswegs eine Unvollkommenheit, ein Mangel, sondern sie begründet das Wesen der Verfassung selbst; eben wegen der Vielfalt und Veränderlichkeit der Lebenssachverhalte darf die Verfassung gar nicht abschließend und eindeutig formuliert werden, selbst wenn es möglich wäre. – Überwindung des Sein-Sollen-Dualismus: Der Methodendualismus von Sein und Sollen ist das Ergebnis einer Abstraktion,108 in der Wirklichkeit, der Verfassungsrechts- und Rechtswirklichkeit, besteht diese Trennung nicht, denn „es gibt weder wertfreie Sachverhalte noch von Sein losgelöste Werte“109. – Zum Vorverständnis: Dies bedeutet die Erkenntnis der Bedingung, dass der Text der Verfassung niemals aus sich heraus verstanden werden kann, dass vielmehr zum Verstehenkönnen immer schon ein Vorverständnis vonnöten ist. Daher befasst sich die Verfassungstheorie als eigene verfassungsrechtliche Hermeneutik „mit der Frage, mit welchem ,Vor-Verständnis‘ wir an die Auslegung einer geschriebenen Verfassung herangehen sollen“110. Man sagt deshalb ferner: „Es gibt keine Rechtsnormen, es gibt nur interpretierte Rechtsnormen!“111 oder „es werden also nicht eigentlich Texte, sondern Kontexte interpretiert“112. – Verfassungsauslegung bildet keinen rein rezeptiven Vorgang: Hermeneutisch verstanden und im Gegensatz zum Positivismus ist Interpretation nicht etwas rein Rezeptives, sondern ein praktisches, gestaltendes Handeln;113 sie schließt schon von vornherein eine unvermeidliche Veränderung der Verfassung ein, da die Auslegung kein bloßer deduktiver Vorgang ist. – Relativierende Rationalität der Verfassungsinterpretation: Das Verfassungsrecht steht nicht auf einem völlig rationalen Fundament, zumal der Mensch eben kein 106 Karpen (1987), S. 41: Die Methode der Grundgesetzinterpretation gehört als Kunstlehre zur Verfassungstheorie. 107 Dazu A. Kaufmann (1972), S. 135 ff. 108 Corzillius, in: Böhl u. a. (Hrsg.), Hermeneutik, S. 277, 345. 109 A. Kaufmann (1984), S. 84. 110 Häberle (2013), S. 298. 111 Häberle (1998), S. 79. 112 Leicht, in: Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, S. 71, 72. 113 Neumann, in: Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, S. 49, 55.

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

rationales Wesen ist und daher auch nicht in der Lage ist, sein Verhalten rational zu beurteilen. – Offener Katalog der Auslegungsmethoden: Es gibt weder einen geschlossenen Katalog des Verfassungsauslegungskanons noch eine begrenzte Zahl von Argumenten, mit denen die Interpretation der Verfassung begründet werden kann. Die Zahl der möglichen Interpretationsmethoden und Argumente ist grundsätzlich unbegrenzt.114 – Schöpferische Natur der Verfassungsinterpretation: Die Aufgabe der Verfassungsinterpretation bezieht sich nicht nur auf das Verstehen der geltenden Gebote der Verfassung, sondern auch auf die Rechtsfindung. Verfassungsauslegung ist stets ein „rechtsschöpferisches Tun“115. – Keine absolute „Richtigkeit“ der Verfassungsinterpretation: Es muss anerkannt werden, dass es im Interpretationsverfahren116 „keine einzige richtige Antwort“ geben kann117 und dass die vermeintliche „Richtigkeit“ der Verfassungsauslegung nicht absolut ist.118 Das Ergebnis einer Interpretation muss pluralistisch durch „Reflexion und Argumentation, durch Intersubjektivität und Konsens unter den Beteiligten“119 hergestellt werden.120 – Problemorientierte Verfassungsauslegung: Interpretation der Verfassung bedeutet, dass ihr Verfahren so wie jedes interpretatorische Verfahren topisch ist.121 – Pluralistische Ziele und Aufgaben der Deutung der Verfassung: Dass Ziele, Aufgaben und Methoden der Verfassungsinterpretation von den Beteiligten, Organen, Funktionen, Verfahren, Qualifikationen, Umständen, Interessen abhängen, liegt auf der Hand. Aus diesem Grund gibt es nicht ein einziges, sondern eine Reihe von pluralistischen Zielen, Aufgaben und Methoden in der Interpretation der Verfassung.122

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A. Kaufmann (1997), S. 47. Gadamer (1986) Bd. II, S. 399. 116 Betti, S. 11, unterscheidet zwischen Auslegen und Verstehen. Auslegen sei als ein Verfahren zu kennzeichnen, dessen Erfolg und zielgemäßes Ergebnis ein Verstehen sei. 117 Hruschka, S. 10 f. 118 Häberle (2013), S. 287. 119 A. Kaufmann (1984), S. 88. 120 Dies gilt auch für die Interpretation des BVerfG. Ein Verfassungsgericht tut freilich gut daran, nicht stets einer Theorie als der allein richtigen zu folgen, sondern um eine pragmatische Integration von Theorieelementen zu ringen: Das entspricht dem Geist der Verfassung des Pluralismus, vgl. Häberle (2013), S. 309. 121 Coing, S. 22 f. 122 Häberle (2013), S. 286 ff. 115

II. Grundfragen der Verfassungsinterpretation

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2. Begriff der Verfassungsinterpretation a) Verfassungsauslegung im engeren Sinne Herkömmlicherweise wird mit Interpretation nur eine Tätigkeit bezeichnet, die bewusst und intentional123 auf das Verstehen und Auslegen einer Norm gerichtet ist.124 Von Verfassungsinterpretation im engeren Sinne lässt sich sprechen, „wenn eine verfassungsrechtliche Frage zu beantworten ist, die sich an Hand der Verfassung nicht eindeutig entscheiden läßt“125, d. h. wenn ein spezifisches verfassungsrechtliches Gebot „mehrere Deutungen zuläßt und nicht sicher ist, welche richtig ist“126. Insofern gebe es Verfassungsinterpretation nur dort, wo Zweifel bestehen.127 Verfassungsauslegung sei so „die Ermittlung des Inhalts einer Vorschrift mit Blick auf einen bestimmten Sachverhalt“128. Häberle hält diesen Begriff der Verfassungsauslegung für sinnvoll, weil die Fragen nach der Methode z. B. nur dort zu stellen seien, wo bewusst interpretiert werde; gleichwohl könne für eine realistische Untersuchung des Zustandekommens der Verfassungsinterpretation ein weiterer Auslegungsbegriff erforderlich sein.129 b) Verfassungsinterpretation im weiteren Sinne Gemäß der Idee von der Verfassungsinterpretation als offener Prozess lässt sich die Interpretation im engeren und weiteren Sinne unterscheiden, obwohl sich Häberle für ein weites Verstehen der Verfassungsinterpretation entscheidet. Dieser Begriff „umschließt neben der üblichen im engeren Sinne, der juristischen, insbesondere durch die Gerichte, die weitere, an der viele aktiv und passiv Betroffene, letztlich alle im politischen Gemeinwesen beteiligt sind“130. Es geht um einen kohärenten Ansatz von Häberle, der sowohl theoretische als auch realistische Grundlagen hat. Theoretisch liegt es auf der Hand, dass dieser weite Begriff der Verfassungsinterpretation einerseits einer offenen und pluralistischen Gesellschaft entspricht und andererseits einer offenen Gesellschaft der Interpreten der Verfassung selbst. Realistisch sucht die Verfassungsinterpretation im weiteren Sinne, eine Brücke zwischen dem Bürger – auch als Interpreten – und dem juristischen Fach123

Es gibt aber Verfassungsgebote, die „eindeutig“ und „klar“ betrachtet werden können, etwa Art. 102 GG: „Die Todesstrafe ist abgeschafft“. Keine methodisch noch so geschickte Argumentation wird plausibel machen können, dass der Wortlaut dieser Norm tatsächlich die Norm ausdrückt: „Die Todesstrafe ist erlaubt“, so Mahlmann, § 7 Rn. 21. 124 Häberle (2013), S. 265. 125 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 49. 126 Alexy, S. 73. 127 Dazu Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 49. 128 Kotzur, in: Geiger/Kahn/Kotzur, EUV/AEUV, Art. 267 Rn. 7. 129 Häberle (2013), S. 265. 130 Häberle (1980), S. 47.

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

interpreten zu schlagen, d. h. „zwischen dem juristisch relevanten Verhalten (der gelebten Interpretation) des Bürgers und der ,gekonnten‘ und ,wissenden‘ (d. h. rational begründeten und konsenstauglichen) Interpretation des ,Zünftigen‘ und ,Berufenen‘. Das von ihnen gemeinsam erreichte Gesamtergebnis ist pluralistische Verfassungsinterpretation“131. Der Verfassungsinterpretation im weiteren Sinne entspricht das Paradigma der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. Das ist dennoch mehr als bloßes Etikett oder mehr als „nur terminologisch ,Interpreten‘“132. Verfassungsinterpreten sind dagegen auf der einen Seite grundrechtlich und demokratisch legitimierte Interpreten in der Bürgerdemokratie, auf der anderen Seite legitimieren sie mit ihrer Partizipation den Interpretationsvorgang selbst und zugleich sein Ergebnis. Häberle lässt daher richtig erkennen, dass sogar der Kreis der Verfassungsinterpreten im engeren Sinne theoretisch und praktisch offen sein muss; ein offener Kreis der Interpreten im weiteren Sinne wäre nicht hilfreich, wenn der Kreis der Verfassungsinterpreten im engeren Sinne zur selben Zeit geschlossen bleibt und beide Kreise von- und gegeneinander total abgegrenzt sind.133 Dies ist an sich gerechtfertigt, denn dieselbe Person ist zugleich Interpret im weiteren und engeren Sinne. Beispielsweise bilden Verfassungsrichter auch Interpreten der Verfassung im weiteren Sinne, weil sie auch Bürger sind.134 Ehrenamtliche Richter, die keine Juristen sind, führen beide Arten von Interpreten zusammen, damit dienen sie „der Öffnung der Gesellschaft der Verfassungsinterpreten im engeren Sinne und der gemeinsamen Arbeit aller an der Verfassung. Die Urteilsformel ,Im Namen des Volkes‘ gewinnt dadurch einen tieferen Sinn“135. Insofern erfolgt die Vermittlung zwischen beiden Interpretationsarten zum Teil über verschiedene Personen, zum Teil über dieselben bzw. in denselben konkreten Personen.136 Die Verfassungsinterpretation im weiteren Sinne ist kein Synonym der Politik, auch wenn die Politiker die Verfassung deuten; andererseits lässt sich die Koordination der Verfassungsauslegung im engeren und weiteren Sinne sowohl sachlichfunktionell als auch personal sehen.137 Die so konzipierte Verfassungsinterpretation will freilich den Richter nicht verunsichern; ganz im Gegenteil versucht sie, dass die Richter die Lebens- und Wirkzusammenhänge ihres öffentlichen Amtes klarer machen.138 Die Legitimation der Verfassung liegt nicht nur in ihrem eigenen offenen 131

Nach Häberle (1998), S. 124, ist dieser Begriff der Verfassungsinterpretation nicht primär juristischer Natur, denn die Mehrzahl der Bürger sind Nicht-Juristen; allerdings ist dieses Verständnis, das die Bürger und pluralistischen Gruppen von ihrem Gemeinwesen haben, die wahre Verfassung des Landes. 132 Häberle (1998), S. 127 Anm. 29. 133 Häberle (1980), S. 47 f. 134 Häberle (1998), S. 127: „Das ,Richterleben‘ ist eben ein ,Bürgerleben‘“. 135 Häberle (1980), S. 48. 136 Häberle (1998), S. 127. 137 Häberle (1998), S. 128. 138 Häberle (1998), S. 128.

II. Grundfragen der Verfassungsinterpretation

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Charakter, sondern auch in der Offenheit und Öffentlichkeit ihrer Interpretation, denn wer die Norm lebt, interpretiert sie auch mit.139 Die Verfassungsauslegung im weiteren Sinne bildet deshalb eine demokratische und pluralistische Form, die Bürger der Verfassung näherzubringen. c) Interpretation der Verfassung als öffentlicher Prozess Die Interpretation der Verfassung ist „ein öffentlicher Prozess, d. h. sie ist ein offener Vorgang und soll ein solcher sein“140. Dieser Begriff spiegelt die Idee der Verfassung als öffentlichen Prozess wider (s. Teil B. I. 4.). Dies besagt, dass die Verfassungsauslegung zu einem weiten Prozess dazugehört, in dem sie nicht als statische Aufgabe, sondern als ein offener Vorgang, der von Innovation und Wandel ausgeht, zu betrachten ist. Sie findet so „in komplexen öffentlichen Prozessen, von denen die konkrete Verfassungsprozesse betreffenden Kontroversen der wissenschaftlichen (juristischen) Öffentlichkeit (und Gemeinschaft) nur einen Ausschnitt bilden“141, statt. Darüber hinaus erlaubt das Einfügen der Öffentlichkeit im Prozess der Verfassungsauslegung, von einer pluralistischen Interpretation zu sprechen. Die Einfügung einer solchen Öffentlichkeit kann durch die Abwägung von privaten und öffentlichen Interessen gelingen.142 Damit reicht das Spektrum der Interpretation von der Gewalt der organisierten Interessen bis zur Ohnmacht der nicht organisierten Interessen, etwa gesellschaftlicher „Randgruppen“, die „um so stärker auf Berücksichtigung durch die und ,in‘ der Verfassungsinterpretation angewiesen sind, als sie Minderheiten, aber auch ,allgemeine Interessen‘ ohne Macht darstellen“143. Grundlegende Bestandteile der Verfassungsauslegung sind die von Häberle richtig geprägten Öffentlichkeitskristallisationen.144 Sie können als Anhaltspunkte für pluralistische und öffentlichkeitsbewusste Verfassungsinterpretation definiert werden. Es handelt sich nicht nur um Anhaltspunkte, die amtliche Institutionen geben können (etwa Verfassungsdebatten, Regierungserklärungen oder Festreden), sondern auch um Verständnis und Vorverständnis der politischen Parteien, Gewerkschaften, Berufsverbände, Presse und anderer Medien, selbst der Bürger, auch fallen Lehrmeinungen und Schulkontroversen ins Gewicht.145 Trotzdem sind die Öffentlichkeitskristallisationen hoch komplex und lassen sich nicht abschließend systematisieren; jedenfalls gelten sie als vorläufiges interpretatorisches Material für

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Häberle, JZ 1975, S. 297, s. auch Maack, Rn. 112. Häberle (1998), S. 133. 141 Häberle (1998), S. 133. 142 Häberle (1970), S. 67 ff. 143 Hier bezieht sich Häberle (1998), S. 129, auf gesellschaftliche „Randgruppen“, wie etwa Zeugen Jehovas, Gastarbeiter und Behinderte, oder Verbraucher und Sparer usw. 144 Häberle (1998), S. 130. 145 Häberle (1998), S. 130 f. 140

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die spätere Verfassungsauslegung des BVerfG.146 Andererseits bilden öffentliche Sitzungen des BVerfG und Sondervoten verfahrensmäßige Ausdrücke und Folgen des öffentlichen Verfahrenscharakters der Verfassungsinterpretation, während Abwägungsvorgänge, Auslegungen von Begriffen wie öffentliche Aufgaben der Presse, Wertungen der pluralistischen Gruppen, Fachkreise, aber auch der Gesetzgeber, und Folgen einer bestimmten Auslegung der Verfassung als materiellrechtlich gelten.147 Welche Grenze und Gefahren kann die Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess beinhalten? Häberle bemerkt,148 dass sie in der denkbaren zu starken Dynamisierung des geschriebenen Verfassungsrechts liegen würden. Gleichwohl ist das Verfassungsrecht freilich weit mehr ungeschrieben als gemeinhin gesehen wird, mithin kommt die Verfassungsinterpretation prinzipiell im Spannungsfeld zwischen „(verfassungsrechtlichem) Grundsatz und (,unterverfassungsrechtlicher‘) Norm“ zustande.149 Die von ihm genannte Gefahr ist ohnehin begrenzt, da Häberles Begriff der Verfassung auch nicht reiner Prozess wird, sie hat ebenfalls wesentliche Momente der Konstanz als Rahmenordnung des Staates und der Gesellschaft. Diese Augenblicke von Stabilität sind von großer Bedeutung und bilden die Grenzen der Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess. Eine andere Gefahr liege in der Hegemonie des Öffentlichen. Häberle macht dies so deutlich: „Bei der Verfassungsinterpretation geht es freilich nicht nur um das (verfaßt) Öffentliche. Das Private ist auch als solches vielfältig geschützt, nicht nur durch Grundrechte; es ist Korrelatbegriff, Bedingung für Innovation des Öffentlichen“150. Infolgedessen müssten die Verfassungsinterpreten dem Schutz des Privaten Rechnung tragen,151 weil Verfassungsinterpretation auch Privatrechtsschutz bedeute.152 Zuletzt dürfe sich die Verfassungsauslegung nicht in dem Auf und Ab der Tagespolitik auflösen, daher müsse sich die Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess durch ihre pluralistischen und herkömmlichen Methoden schützen.153 Also ist die Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess die Deutung der Verfassung einer offenen Gesellschaft. Es handelt sich um ein normativ-prozedurales pluralistisches Verständnis der Interpretation, das die relative Fähigkeit der herkömmlichen Methoden für die Interpretation des Grundgesetzes hervorhebt. Diese Unfähigkeit muss deshalb mit verfeinertem „Spektrum und Instrumentarium um die 146

Häberle (1998), S. 131. Häberle (1998), S. 132 f. 148 Häberle (1998), S. 134. 149 Häberle (1998), S. 134. 150 Häberle (1998), S. 134. 151 Dazu s. Google-Fall des EuGH, Rs. C-131/12 (Recht auf Vergessen). 152 Häberle (1998), S. 135: „Erinnert sei an Probleme der Vorschulerziehung, des Sexualkundeunterrichts, des Datenschutzes oder der Abtreibung. Zu diesem Privatrechtsschutz gehört auch der Gedanke, in Ruhe oder ,allein gelassen zu werden‘, sich durchaus im Sinne des Ohne-mich-Standpunktes zurückzuziehen. Insofern ist Ruhe ,Bürger-Recht‘ (nicht aber erste Bürgerpflicht)“. 153 Häberle (1980), S. 53. 147

II. Grundfragen der Verfassungsinterpretation

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öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogene pluralismusorientierte Auslegung“ ergänzt werden.154 Zudem können sich die Bürger selbst in der Aufgabe der Interpretation als öffentlicher Prozess engagieren – z. B. durch Verfassungsbeschwerde, Kritik an den Entscheidungen des BVerfG, Demoskopie, Demonstrationen und zunehmend über neue Formen der Meinungsbildung im Internet –,155 um die Freiheit in Staat und Gesellschaft zu sichern.156 Die pluralistische Verfassungsauslegung ist deswegen Aufgabe aller.

3. Ziel der Verfassungsinterpretation a) Herkömmliches Ziel der Verfassungsauslegung: Verfassung oder Verfassungsgeber? Das herkömmliche Ziel der Verfassungsinterpretation geht von der Theorie des Willens,157 die für die Auslegung des Gesetzes entwickelt worden war, aus.158 Ziel der Interpretation sei „das Verstehen des Textes, das Erfassen seiner geistigen Bedeutung seines Sinnes“159 oder „den Sinn von Rechtssätzen zu ermitteln“160. Nach der subjektiven Auslegungszieltheorie bestehe das Ziel der Verfassungsinterpretation in der Ermittlung des Willens des Verfassungsgesetzgebers;161 laut der objektiven Auslegungszieltheorie162 habe der Verfassungsinterpret den vernünftigen,163 richtigen oder gerechten Sinn eines Gebots der Verfassung zu ermitteln.164 Beide Theorien hätten 154

Häberle (1980), S. 54. Gramm/Pieper, S. 44. 156 Häberle (1998), S. 137. 157 Schenke, in: Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, S. 51, 57; zur Bedeutung der Willenstheorie im amerikanischen und deutschen Verfassungsrecht, s. Heun, AöR 1991, S. 185 ff. 158 Brugger, AöR 1994, 1, 19, 21, spricht von einer Kombinationstheorie des Willens, weil Auslegungsziel der Interpretation „die Ermittlung sowohl des subjektiven Willens des Gesetzgebers als auch des objektiven Willens des Gesetzes“ sei. 159 Coing, S. 13. 160 v. Münch/Mager, S. 5 Rn. 10. 161 Krüger, in: Dreier/Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, S. 142 ff.: „Der Rückgriff auf den ,Willen des Gesetzgebers‘ ist ein Auslegungsbefehl“. 162 Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Einführung Rn. 37: „Ziel der Auslegung ist der auch zur Anwendung auf neuartige Fragestellungen geeignete obj. Sinngehalt der Norm, nicht der subj. Wille (des historischen) Normsetzers, der aber als Auslegungsmittel […] berücksichtigt werden kann“. 163 Dieser „vernünftige“ Regelungsgehalt werde jedoch vom entscheidenden Gericht danach bestimmt, was seine Richter subjektiv für vernünftig halten, vgl. Rüthers, JZ 2008, S. 446, 449. 164 Hinsichtlich der juristischen Interpretation allgemein, s. Alexy, S. 82 f. Ihm kompliziere sich der Streit zwischen beiden Theorien dadurch, dass diese sachliche Dichotomie durch eine zeitliche überlagert werde, und zwar die zwischen den Zeitpunkten der Normsetzung und der 155

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

nicht nur einen juristischen, sondern auch einen politischen Hintergrund. So haben Engisch165 und A. Kaufmann166 auf den Zusammenhang der subjektiven Theorie mit der absoluten Monarchie und dem nationalsozialistischen Führerstaat hingewiesen, in denen dem Richter nur die Rolle eines Dieners des Souveräns, dessen Wille eben Gesetz war, zukam. Der Richter – so Forsthoff – judiziere primär aus der Autorität des Gesetzes, „zu welcher die Autorität des Richters nur ergänzend hinzutreten kann“167. Von der objektiven Theorie her argumentieren sie, dass diese Theorie für jedes parlamentarische und demokratische Verfassungssystem die einzig mögliche sei,168 denn eine zu geringe Einschätzung der politisch-dezisionistischen Bedeutung der Gesetzgebung berge auch in der Demokratie die Gefahr des Missbrauchs in sich.169 Aber sowohl die subjektive als auch die objektive Theorie setzen einen vorgegebenen Willen voraus. So lässt sich nur von der Ermittlung des Willens der Verfassung oder des Verfassungsgebers als Ziel der Verfassungsdeutung sprechen, wenn der subjektive oder objektive Wille eindeutig und endgültig vorbestimmt worden ist.170 Damit erscheint die Rolle des Verfassungsinterpreten prinzipiell als bloßer Vollzieher eines vermeintlichen präexistenten Willens. Indes sind die Verfassungsvorschriften häufig keine eindeutigen Maßstäbe.171 Daher bedeutet die Willenstheorie nichts anderes als eine Verschleierung der wirklichen Sachlagen, denn dort, wo nichts Eindeutiges gewollt ist, kann kein wirklicher, sondern allenfalls ein vermuteter oder fiktiver Wille172 – der als eine Verbindung von idolum fori und idolum theatri und eine suppositio phantastica zu bezeichnen ist – ermittelt werden.173 In diesem Kontext, da der subjektive Wille des Verfassungsgebers oder der objektive

Normauslegung. „Darauf ergeben sich vier mögliche Auslegungsziele: (1) ein subjektiv-entstehungszeitliches (der faktische Wille des historischen Gesetzgebers), (2) ein objektiv-entstehungszeitliches (der vernünftige Sinn des Gesetzes im Zeitpunkt seiner Entstehung), (3) ein subjektiv-auslegungszeitliches (der hypothetische Wille des gegenwärtigen Gesetzgebers) und (4) ein objektiv-auslegungszeitliches (der vernünftige Sinn des Gesetzes im Zeitpunkt der Auslegung). Praktisch bedeutsam sind vor allem die Versionen (1) und (4)“. 165 Engisch, S. 170. 166 A. Kaufmann (1984), S. 46. Nach ihm ist z. B. von diesem autoritären Geist auch noch im geltenden Recht zu spüren, wenn es da heißt, der Richter sei dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG, § 1 GVG, § 25 DRiG). 167 Forsthoff (1940), S. 28. 168 Engisch, S. 170 f. 169 A. Kaufmann (1984), S. 46. 170 Und daher sollte man nicht ohne Weiteres versuchen, die Willenstheorie auf die Verfassungsinterpretation zu übertragen. 171 Der Grund dafür ist nach Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 56, dass die Verfassung oder der Verfassungsgeber in Wahrheit noch nicht entschieden hätten; sie hätten „nur mehr oder weniger zahlreiche unvollständige Anhaltspunkte für die Entscheidung gegeben“. 172 Dazu Schmitt (1969), S. 30 Anm. 3. 173 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 56.

II. Grundfragen der Verfassungsinterpretation

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Wille der Verfassung174 tatsächlich inexistent ist,175 verschwindet das Ziel der Verfassungsinterpretation und damit die Problematik der Verfassungsinterpretation selbst.176 b) Pluralistische Ziele der Verfassungsauslegung Der sogenannte Dualismus subjektive-objektive Auslegung ist nur „begrenzt aussagefähig“177. Er „relativiert sich in der Zeit“. Etwa ex post betrachtet ist die objektive Auslegung selbst in einem bestimmten Zeitpunkt insofern subjektiv, als die Interpreten ihre zeitgeschichtlichen Vorstellungen in die Verfassungsinterpretation mit eingebracht haben.178 Worin liegt dann das Ziel der Verfassungsinterpretation? Für Häberle ist das Ziel der Verfassungsauslegung weder die Ermittlung der subjektiven Absicht des Verfassungsgebers noch des objektiven Willens der Verfassung. Diese ist für ihn nicht nur die hochrangige Norm der Rechtsordnung, die Staat und Gesellschaft verfasst, sondern auch und vor allem ein offener und öffentlicher Prozess (s. Teil B. I. 4., Teil F. I. 2.). Als solcher enthält die Verfassung keinen eindeutigen, endgültigen, objektiven Willen, denn es handelt sich um die Verfassung des Pluralismus, in der nichts vorab determiniert ist. Die Verfassung bietet – unbeschadet ihrer normativen Kraft – nur mehr oder weniger „unvollständige Anhaltspunkte“ für die Entscheidung eines spezifischen Falls.179 Daher ist die Interpretation, in der Zeitdimension gedacht, weniger Auslegung von etwas Vorgegebenem als selbst ein Geben; der Text einer Norm erscheint oft mehr als Aufhänger von und für Verfassungsdeutung.180 Auch die Verfassungsgebung im weiteren Sinne betrachtet ist pluralistisch, vielseitig und ständig,181 abgesehen davon, dass der Verfassungsgeber stets eine Vielfalt von Interessen und Ideen, Bewegungen und Wandlungen, Objektivationen und Subjektivismen, Wirklichkeiten und Möglichkeiten transportiert.182 Aus dieser pluralistischen und offenen Auffassung ist das Ziel aller Verfassungsinterpretation – im Gegensatz zur Willenstheorie – „ein (zukunfts-) offenes Verfassungsverständnis und in ihm ein gerechter, ,vernünftiger‘ Interes-

174 Nach P. Schneider, VVDStRL 20/1963, S. 1, 40, dient die Verfassungsinterpretation der Beseitigung von Unklarheiten, die verfassungsrechtlichen Vorschriften von Anfang an oder ex post anhaften, mit dem Ziel, das, was die Vorschrift eigentlich ausdrücken soll, zur Geltung zu bringen. 175 Sauer (1970), S. 299: Die Normen könnten „keinen Willen haben“, deshalb beruhe ein solcher Wille „auf einer Fiktion“. 176 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 56. 177 Häberle (1998), S. 77. 178 Häberle (1998), S. 77. 179 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 56. 180 Häberle (1998), S. 75 Anm. 87. 181 Häberle (1998), S. 195 ff. 182 Häberle (1998), S. 198 ff.

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sensausgleich.183 Es findet in der entsprechend ,offenen‘ Auslegung verfassungsrechtlicher Prinzipien seinen Ausdruck“184.

4. Aufgabe der Verfassungsinterpretation a) Herkömmliche Aufgaben der Verfassungsauslegung Die herkömmlichen Aufgaben der Verfassungsinterpretation werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln begriffen. Für P. Schneider ist die Aufgabe der Verfassungsinterpretation, Divergenzen oder Unvollkommenheiten zwischen Ausdruck und Auszudrückendem zu beseitigen.185 Brugger beschränkt sie auf die Probleme und Unvollkommenheiten, wie Lücken, Unsicherheit, Widersprüchlichkeit, ursprüngliche und nachträgliche Illegitimität oder Unzweckmäßigkeit.186 Zippelius und Würtenberger stellen fest, dass die Aufgabe einer Auslegung der Verfassung in der Präzisierung liegt, „welche Bedeutung dieses oder jenes Wort in einer bestimmten Verfassungsnorm hat“187. Nach Hopfauf ist Aufgabe der Verfassungsinterpretation, „die verschiedenen Funktionen einer Verfassungsnorm zu erschließen“188. Hesse bündelt dagegen diese Aufgabe in der Richtigkeit des Ergebnisses der Verfassungsdeutung. So sei Aufgabe der Interpretation, „das verfassungsmäßig ,richtige‘ Ergebnis in einem rationalen und kontrollierbaren Verfahren zu finden, dieses Ergebnis rational und kontrollierbar zu begründen und auf diese Weise Rechtsgewißheit und Voraussehbarkeit zu schaffen – nicht etwa nur, um der Entscheidung willen zu entscheiden“189. b) Pluralistische Aufgaben der Verfassungsauslegung Es ist kein Zufall, dass im Häberle’schen Denken ein methodologisches und ein materielles Element der Aufgabe der Verfassungsdeutung zu unterscheiden ist. Unter dem ersten Aspekt ist Aufgabe der Interpretation, „die juristische und die sozialwissenschaftliche Methodenkontroverse am Gegenstand ,Verfassung‘ zusammen183

Anders Depenheuer, in: Hillgruber (Hrsg.), Gouvernement des juges, S. 79, 90: „Interpretation ist Dienst an der Verfassung, aber nicht Auftrag zur Sozialgestaltung oder zur Kompensation von Politikversagen“. 184 Depenheuer, in: Hillgruber (Hrsg.), Gouvernement des juges, S. 72; Larenz, S. 363, ist der Meinung, dass Häberles Ansicht die „stabilisierende Funktion der Verfassung und deren Bedeutung für die Auslegung“ unterschätze. 185 P. Schneider, VVDStRL 20/1963, S. 1, 44. 186 Brugger, AöR 1994, 1, 19. 187 Zippelius/Würtenberger, S. 60 Rn. 2; Stein/Frank, S. 35. 188 Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu u. a. (Hrsg.), GG, Einleitung Rn. 213. 189 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 51; Katz, S. 48 Rn. 109; Sodan/Ziekow, S. 5 Rn. 5; Kloepfer, S. 26 Rn. 140; Maak, Rn. 113.

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zuführen, der als Verfassung der Freiheit die Zukunft offenhält, das Mögliche und das Notwendige (im Normativen) zur Wirklichkeit werden läßt“190. In Hinsicht auf den materiellen Aspekt steht sie im Zusammenhang mit der Verwirklichung bestimmter Grundwerte. Als Aufgaben der Verfassungsinterpretation werden so genannt: „Gerechtigkeit, Billigkeit, Interessensausgleich, befriedendes und befriedigendes Ergebnis, Vernünftigkeit […], Praktikabilität, Sachgerechtheit, Rechtssicherheit, Berechenbarkeit, Transparenz, Konsensfähigkeit,191 Offenheit, Einheitsbildung, ,Harmonisierung‘ […], normative Kraft der Verfassung, funktionelle Richtigkeit, effektive grundrechtliche Freiheit, soziale Gleichheit, (gemeinwohl)gerechte (,gute‘) öffentliche Ordnung“192. Ausgehend von dieser pluralistischen Absicht könnte man sagen, dass die Aufgabe der Verfassungsinterpretation die Effektuierung des Ordnungsgehalts der Verfassung im Hinblick auf die gegenwärtige und zukünftige Gestaltung der Zivilgesellschaft bildet.193 Dies führt nicht zu einer positivistischen Aufgabe der Verfassungsinterpretation, die sich nur entweder auf die Präzisierung der Bedeutung des Verfassungsgebots oder der „Richtigkeit“ der Interpretation konzentriert. Diese sind jedoch auch bedeutsam. Aber offenbar ist, dass sich die Aufgabe der Deutung der Verfassung nicht auf den inneren Vorgang der Auslegung beschränkt. Sie transzendiert die Grenzen des engeren Begriffs der Verfassungsinterpretationsaufgabe, um die Auslegung der Verfassung mit der Zivilgesellschaft und den demokratischen Grundwerten zu verbinden. Diese Verbindung kann durch die Öffnung der Methoden der Verfassungsinterpretation erreicht werden, aber vor allem durch die Verwirklichung einer echten offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. Eben deshalb ist Häberles Auffassung eine hermeneutische, pluralistische – nicht positivistische – Berücksichtigung der Verfassungsinterpretation und ihrer Aufgabe.

5. Methoden der Interpretation der Verfassung a) Die begrenzte Rolle der herkömmlichen Interpretationsmethoden Diejenigen, die für die Verfassungsinterpretation die herkömmlichen Methoden anwenden, haben der „Pandekten-Wissenschaft des 19. Jahrhunderts“ viel zu verdanken.194 Nach Savigny muss man in der Auslegung der Gesetze „vier Elemente

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Häberle (1998), S. 72. Morlok/Michael, S. 61 Rn. 38: „der Konsensbezug des Verfassungsrechts bildet einen legitimen Gesichtspunkt der Verfassungsauslegung“, der Verfassungsinterpret „wird auch für die ,integrierende Wirkung‘ der Verfassungsauslegung schauen“. 192 Häberle (1998), S. 155 Anm. 1. 193 Wimmer, S. 95. 194 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 56. 191

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unterscheiden: ein grammatisches, logisches, historisches und systematisches“195; mit diesen vier Elementen sei „die Einsicht in den Inhalt des Gesetzes vollendet. Es sind also nicht vier Arten der Auslegung, unter denen man nach Geschmack und Belieben wählen könnte, sondern es sind verschiedene Tätigkeiten, die vereinigt wirken müssen, wenn die Auslegung gelingen soll“196. Thibaut nannte seinerseits „mehrere verschiedenartige Theile der Auslegung“; so seien die „Hauptgattungen nämlich: grammatische und logische Auslegung. Diese letzte zerfällt in die Auslegung nach dem Grunde des Gesetzes und der Absicht des Gesetzgebers, welche Absicht denn wieder eine besonders erkannte oder eine gesetzlich zu supponirende (sic) ist“197. Im Gegensatz zu Savigny hatte er einige Regeln hinsichtlich des Rangverhältnisses zwischen seinen Methoden festgelegt.198 Die Anwendung der genannten Methodenlehre im Bereich der Verfassungsinterpretation lässt sich etwa in Forsthoffs Denken bemerken. Ihm seien die von Savigny vorgeschlagenen Methoden „nicht mehr und nicht weniger als das organon, das Werkzeug jedes Juristen“199. Forsthoff geht von der Verfassung als bloßes Gesetz aus und als solches werde „die Verfassung den für die Gesetze geltenden Regeln der Auslegung unterstellt“; nur mit diesen Methoden werde „die Verfassung erweisbar und in ihrem Vollzug kontrollierbar“ und daher sei die Gesetzauslegung „die Ermittlung der richtigen Subsumption im Sinne des syllogistischen Schlusses“200. In der Gegenwart beruft sich die herrschende Meinung aber gerne unkritisch auf die sogenannten herkömmlichen Methoden der Gesetzinterpretation.201 Die allgemeine 195

Savigny (1840), S. 213. Savigny (1840), S. 215. 197 Thibaut, S. 124. 198 Thibaut, S. 124 ff. 199 Forsthoff (1961), S. 39 f. 200 Forsthoff (1976), S. 131 ff.; s. auch Dreier (1981), S. 106: „Wo es, wie in der Bundesrepublik, eine geschriebene Verfassung gibt, ist Verfassungsinterpretation in erster Linie Interpretation des Verfassungsgesetzes. Sie teilt damit die Probleme der Gesetzinterpretation überhaupt“. 201 So Papier/Krönke, Rn. 64: „Im Grundsatz lassen sich die genannten klassischen Auslegungsmittel gewiss auch auf die Stellung von verfassungsrechtlichen Normtexten übertragen und anwenden“; Stern (1984), S. 123; Degenhart, Rn. 20: „Die Verfassung ist Gesetz, wenn auch höheren Ranges. Deshalb sind für die Verfassungsinterpretation zunächst die klassischen Methoden der Gesetzinterpretation heranzuziehen“; Arndt/Fetzer, Rn. 66 ff.; Battis/Gusy, Rn. 27: „Die […] Eigenarten einer Verfassung ändern aber nichts daran, dass die Verfassung ein Gesetz ist […]. Für die Verfassung gelten daher auch die Regeln der Gesetzauslegung“; Maurer, S. 18 Rn. 49: „Grundsätzlich gelten für die Auslegung der Verfassung dieselben Auslegungsprinzipien wie für die Auslegung einfacher Gesetze und sonstiger Rechtsnormen“; Kämmerer, Rn. 29: „Als Verfassung wird das GG nach den gleichen Interpretationsmethoden ausgelegt wie andere Gesetze auch“; Kloepfer, S. 27 Rn. 143: „Die Auslegung von Verfassungsnormen folgt grundsätzlich den gleichen Regeln wie die Auslegung anderer hoheitlich gesetzter Rechtsnormen“; Katz, Rn. 110: „Grundsätzlich ist davon ausgehend, dass auch für die Auslegung der Verfassung als Verfassungsgesetz die Prinzipien und Methoden zugrunde zu legen sind, die allgemein für die Interpretation von Rechtsnormen gelten, wenngleich bereits hier ausdrücklich darauf hingewiesen werden muss, dass die besondere Bedeutung und Eigenart 196

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Lehre der juristischen Auslegungskunst – wie Badura sagt –, die vor allem in der Privatrechtswissenschaft entwickelt worden ist, sei auch für das Verfassungsgesetz gültig, trotz der Besonderheiten der Verfassungsinterpretation.202 Bleckmann stimmt partiell mit dieser Auffassung überein.203 Die herkömmlichen Auslegungsmethoden offenbaren sich jedoch im Bereich der Verfassungsinterpretation als begrenzt. Sie kommen nur eingeschränkt in Betracht, da die Struktur der Verfassungsnormen ganz anders als sonstige juristische Regeln sind, sie haben den stärkeren Charakter von Prinzipien (bzw. Werten) im Gegensatz zu Regeln (bzw. Programmen); „Prinzipien wie Regeln zu behandeln, führt auf einen Irrweg“204. Angesichts seines Mangels ist der logische Syllogismus nicht in der Lage, eine geeignete Auslegung für die häufig abstrakten Verfassungsgebote zu bieten.205 Die bislang ungelösten Probleme der „Reihenfolge“206 bzw. Rangfestlegung und des unklaren Verhältnisses der klassischen Methoden zueinander bilden ein ernstes Hindernis, damit beispielweise ein Fall von Kollision der Prinzipien entschieden werden kann.207 Selbst die einzelnen Methoden der Gesetzesinterpretation – wie Hesse gezeigt hat – geben für sich betrachtet keine ausreichenden Richtlinien;208 der Verfassung es erfordern, dass die allgemeinen Auslegungsgrundsätze teilweise wesentlich zu modifizieren sind“; nach v. Münch/Mager, Rn. 16, „sind die klassisch hermeneutischen Auslegungsmethoden auch auf die Normen des Verfassungsrechts anwendbar“; Püttner/ Kretschmer, S. 12: „Auch die Verfassung ist ein Gesetz und deshalb gelten an sich die – freilich vielfach umstrittenen – Regeln der Gesetzauslegung auch für die Verfassung“; Zippelius/ Würtenberger, S. 60 Rn. 2: „Die Methoden der Verfassungsinterpretation sind aus der allgemeinen, auf Savigny zurückgehenden Methodenlehre hervorgegangen und bleiben ihr auch weiterhin verpflichtet“; Rohr, Rn. 55: „Die Auslegung der Verfassung erfolgt zunächst nach den vier Methoden, die für die Auslegung jedes Gesetzes gelten“; Maack, Rn. 119: „Die positive Geltung des GG als Verfassungsgesetz bindet seine Auslegung an die herkömmlichen allgemeinen Methoden und Grundsätze der Interpretation von Rechtsätzen“; Windthorst, S. 34 Rn. 31; Merk, VVDStRL 20/1963, S. 112: „Für die Auslegung der Verfassung gelten keine anderen Grundsätze als bei Rechtsätzen anderer Art“. 202 Badura, S. 23 Rn. 14. 203 Bleckmann, Rn. 71. 204 Morlok/Michael, S. 61 Rn. 38. 205 Als ob die Normen schon vor ihrer Anwendung fertig wären, vgl. Pestalozza, in: Dreier/ Schwegmann, (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, S. 211 ff. 206 Für Forsthoff (1976), S. 173, sollen die Methoden Savignys in dieser Reihenfolge angewandt werden: das Grammatische, das Logische, das Historische und das Systematische. 207 Die von Brugger, AöR 1994, S. 1, 22 ff., und Gern, VerwArch. 1989, S. 415, 421 ff., vorgeschlagene Systematisierung der herkömmlichen Interpretationsmethoden überzeugt aber nicht. Brugger vertritt die These, dass die klassischen vier Methoden, richtig verstanden, fast alle faktisch vorfindbaren Auslegungsmethoden und Auslegungstheorien abdecken würden und sie systemimmanent einordnen könnten. Gern versucht eine Ergänzung der vier herkömmlichen Methoden um die topische Auslegungsmethode. 208 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 57: „Der Wortlaut sagt häufig noch nichts Eindeutiges über die Wortbedingung und läßt die Frage entstehen, wonach – etwa dem allgemeinen oder einem speziellen juristischen Sprachgebrauch, der jeweiligen Funktion des Begriffes – sich diese Bedeutung bestimmt. ,Systematische Interpretation‘ kann unterschiedlich gehandhabt werden, je nachdem, ob der formale Zusammenhang der Einordnung der Norm an einer be-

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zudem ist fragwürdig, welches Ergebnis der Interpretation sich durchsetzen muss, wenn die verschiedenen Methoden zu unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten führen.209 Dieses Problem bleibt auch ungelöst, sogar wenn man sagt, dass bei der Entscheidung für eine bestimmte Auslegung die unterschiedlichen Methoden zu berücksichtigen sind,210 oder wenn man behauptet, dass alle Methoden wichtig sind und sie zusammenwirken müssen.211 Es ist deshalb nicht erstaunlich, wenn ein Teil der Verfassungsrechtslehre die herkömmlichen Methoden für unanwendbar hält. Nach Huber würden, da „eine Verfassung keine Kodifikation“ ist, für die Auslegung der Verfassung nicht die gleichen Methoden gelten, insbesondere nicht die privatrechtlichen, zum Teil in der Pandektistik gewonnenen Regeln.212 Rohr ist der Meinung, dass die genauen Inhalte von Verfassungsbestimmungen mit den herkömmlichen Auslegungsmethoden oft nur schwer zu erfassen sind, denn Verfassungsauslegung sei nicht nur rein juristische Auslegung, sondern oft auch politische Entscheidung und Rechtsgestaltung.213 Mit diesen Methoden kommt man – laut Püttner und Kretschmer – bei der Auslegung der Verfassung nicht aus und die Auslegungsbegründungen können die wirklichen Motive einer Entscheidung nicht belegen, wenn nicht gar verschleiern;214 vor allem werden sie ineffektiv bei der Konkurrenz einander widerstreitender Verfassungsnormen. Die Verfassungsinterpretation muss insofern anders als sonstige Rechtsnormen bearbeitet werden. Im Vorgang der Interpretation der Verfassung spielen die herkömmlichen Methoden nur eine begrenzte Rolle. Ihre Anwendung wird jedenfalls entscheidend dadurch bestimmt, welches Verfassungsverständnis, welches Vorverständnis der Interpret hat, welcher Verfassungstheorie er sich verpflichtet fühlt.215 Sehr bewusst hat Häberle daher den Stellenwert einer Neufassung jener Methoden analysiert, von einer demokratischen und offenen Theorie der Verfassungsinterpretation an.

stimmten Stelle des Gesetzes oder ihr sachlicher Zusammenhang ins Auge gefaßt wird. ,Teleologische Interpretation‘ ist kaum mehr als ein Blankett, weil mit der Regel, daß nach dem Sinn eines Rechtssatzes zu fragen ist, nichts für die entscheidende Frage gewonnen ist, wie dieser Sinn zu ermitteln sei“. 209 Würtenberger, in: FS Hollerbach, 2001, S. 223, 229 f. 210 Arndt/Fetzer, Rn. 74. 211 Ermacora, VVDStRL 20/1963, S. 111. 212 Huber, VVDStRL 20/1963, S. 116. 213 Rohr, Rn. 60. 214 Püttner/Kretschmer, S. 13 f. 215 Battis/Gusy, Rn. 30.

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b) Pluralistische Auffassung der herkömmlichen Methoden – die Offenheit des Interpretationskanons In Häberles Verfassungstheorie bleiben Methoden und Prinzipien der Verfassungsinterpretation unverzichtbar.216 Sie schließt die von Savigny entwickelten Methoden nicht aus, obwohl er auch nicht für eine bloße Übertragung plädiert. Es handelt sich vielmehr darum, die klassischen Methoden, die für das Privatrecht entwickelt wurden, mit einer offenen Theorie der Verfassungsinterpretation in Einklang zu bringen.217 Wie bereits dargelegt, haben alle Interpretationsmethoden ihren sachlichen Bezugspunkt in der in der Zeit wirkenden Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung. Zur Öffentlichkeit und Wirklichkeit müssen die Interpretationsmethoden immer neue Brücken schlagen.218 Zutreffend spricht Häberle somit von einer republikanischen Auslegung, weil sich Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung nur durch offene Interpretation einfangen lassen.219 Damit greift er nicht auf die Lehre der Gesetzesinterpretation zurück, sondern auf seine eigene Verfassungstheorie, die für ihn als die eigentliche verfassungsrechtliche Hermeneutik gilt, und aus dieser Verfassungstheorie versucht er, die Grundprobleme der Verfassungsinterpretation zu bewältigen. aa) Offener Katalog der Interpretationsmethoden Der Methodenkanon der Verfassungsinterpretation sollte für das Phänomen und Problem des sozialen Wandels, dessen Bedingungen und Formen sich rascher oder langsamer, radikaler oder milder ändern können, geöffnet bleiben.220 Die Offenheit des Katalogs der Interpretationsmethoden wird so für Häberle „zur Garantie der Gerechtigkeitsgewinnung in der Zeit, unter Berücksichtigung von Wandel und Entwicklung“221. Republikanische Verfassungsinterpretation erzwingt „eine Öffnung des Methodenkanons“ und enthält deshalb eine unbegrenzte Zahl der möglichen Argumente, sie schließt insofern einen geschlossenen Katalog der Methoden der Verfassungsinterpretation aus.222 Neben dem herkömmlichen Kanon bestehen andere Methoden,223 wie die staatlichen und nicht staatlichen Organe in der Interpretation des Grundgesetzes angewandt werden können. Häberle schlägt als Bei-

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Häberle (2013), S. 297. Häberle (2013), S. 298. 218 Häberle (1998), S. 73. 219 Häberle (1998), S. 71. 220 Häberle (1998), S. 209 Anm. 121. 221 Häberle (2013), S. 302. 222 Häberle (1998), S. 73. 223 Stern (1984), S. 125 f., nennt die folgenden Auslegungsmethoden: die grammatische, logische, systematische, historische, genetische, komparative und teleologische. 217

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

spiele die folgenorientierte,224 wirklichkeitsorientierte,225 öffentlichkeitsorientierte226 und gemeinwohlorientierte Methode vor.227 Bemerkenswert ist dennoch vor allem Häberles Beitrag über die Verfassungsvergleichung als fünfte Interpretationsmethode.228 Es handelt sich jedenfalls nicht nur um eine ausschließlich „juristische“ Vergleichung, sondern auch um eine kulturelle Vergleichung,229 die jedoch für die Interpretation230 des geltenden Verfassungsrechts hilfreich wird.231 „Rechtsvergleich meint“ – so Kotzur – „einen Modus der Konfliktlösung durch Kommunikation, ist zweifelnd, grüblerisch, lernbereit, aber nicht selbstvergessen“232. Vor allem im Bereich der Grundrechte ist die Verfassungsvergleichung eine der wichtigsten Auslegungsmethoden. Die Verfassungsvergleichung als Methode der Interpretation vermag z. B. zu erklären, warum gleichlautende Verfassungstexte im Laufe der Zeit oder von Anfang an einer unterschiedlichen Deutung zugänglich und bedürftig sind. Dafür darf der kulturelle Kontext nicht übersehen werden, „die kulturell faßbare Individualität des einzelnen Verfassungsstaates darf nicht über das ,Medium‘ bzw. Vehikel der Verfassungs- bzw. Grundrechtsvergleichung interpretatorisch eingeebnet werden. Vielfalt drohte sonst 224 Dazu auch Bachof, in: Summum ius summa iniuria, S. 41, 43 f.; Dürig, VVDStRL 20/ 1963, S. 115: „Der Richter muss primär eine gerechte Einzelfallentscheidung finden, d. h. der konkrete Fall müsste vernünftig entschieden werden, ohne Rücksicht darauf, wie man später aus diesem Fall abstrakte Regeln entwickeln würde, das bedeutet keine „Bankrotterklärung“ der Methodenwissenschaft“; Deckert, S. 5 ff.; Coles, S. 17 ff. 225 Häberle (1998), S. 75; ders., DÖV 1969, S. 150, 151; ders., DÖV 1966, S. 660, 661 f. 226 Häberle (1998), S. 75. 227 Häberle (2014), S. 28. 228 Häberle (2016), S. 120, 180; ders. (2013), S. 301; so auch Michael (1997), S. 221: Die rechtvergleichende Methode kann „in den Kanon der Auslegungsmethoden eingereiht werden“; Maurer, in: Liber Amicorum für Peter Häberle, S. 551. Kritisch Hillgruber, JöR 63/2015, S. 367 ff. 229 Grundlegend Baer, JöR 63/2015, S. 389 ff.; dies., ZaöRV 2004, S. 735, 739 ff. 230 Nach Strebel, ZaöRV 1964, S. 405, könnten Zwecke der Rechtsvergleichung sein: Schaffung neuen Rechts, dogmatische Aufhellung, Interpretation, Systematisierung usw. Für Bernhardt, ZaöRV 1964, S. 431, 443 f., erwartet man allzu viel von der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht für die Auslegung der eigenen Rechtsordnung; im Gegensatz sei sie hilfreich, wenn es um die Neuschaffung von Verfassungs- und Gesetzesrecht gehe. 231 Sommermann, DÖV 1999, S. 1017, 1025, spricht von einer impliziten Anerkennung der Rechtsvergleichung in den Entscheidungen des BVerfG. Mössner, AöR 1974, S. 193, 241: „Die Verfassungsrechtsprechung bedient sich zu Recht der komparativen Methode zur Auslegung des Grundgesetzes“. Nach Starck, JZ 1997, S. 1021, 1024, kann die Rechtsvergleichung auch gute Dienste bei der Auslegung der Gesetze leisten, wenn die herkömmlichen Methoden zunächst keine eindeutige oder keine brauchbare Lösung zeitigen, obwohl sie in Wahrheit „ein Element der Teleologie“ sei. Die Rechtsvergleichung, nach Krüger, in: FS Kriele, S. 1393, 1404 f., gewinne zum Zwecke der richterlichen Rechtsfortbildung und Gesetzauslegung (vor allem des EG-Rechts) stark an Bedeutung. Bydlinski, S. 386: Wissenschaftliche Diskussionen und praktische Übung bestätigen, „daß Rechtsvergleichung für die Auslegung und Rechtsfortbildung sinnvoll eingesetzt werden kann“. 232 Kotzur, JöR 63/2015, S. 355, 359.

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zur Uniformität zu verarmen“233. Der kulturelle Kontext helfe der Interpretation, Beliebigkeiten der Interpreten zu vermeiden,234 denn es gehe um textuelle Rechtsvergleichung der Ähnlichkeiten und Unterschiede in einem aktiven Rezeptionsprozess. Häberle verfolgt mit der Kanonisierung der Verfassungsrechtsvergleichung als fünfte Methode der Deutung der Verfassung weder eine Methodenrangfolge235 noch einen Abschied oder Ersatz der herkömmlichen Auslegungsmethoden.236 Verfassungsrechtsvergleichung müsse „plastisch“237 in Verbindung mit anderen Methoden arbeiten,238 denkbar sogar sei, „dass die Rechtsvergleichung ein Aspekt bei allen anderen Auslegungsmethoden ist“239. bb) Offenes Zusammenspiel klassischer Interpretationsmethoden Schon an erster Stelle erfordert dies, das Problem der Organisierung oder des Zusammenspiels der Interpretationsmethoden in Angriff zu nehmen. Im Gegensatz zu anderen Ansichten, die von einer abstrakten und starren Rangfolge der Methoden ausgehen, basiert Häberles Verfassungstheorie auf einem offenen Zusammenspiel der herkömmlichen Methoden.240 Die offene Auslegung integriert so nicht nur die bisherigen Interpretationsmethoden, sondern sie erzwingt auch eine Öffnung des Methodenkanons.241 Dies hat zur Folge, dass es im Verhältnis der herkömmlichen Auslegungsmethoden abstrakt betrachtet keine Rangfolge geben kann,242 da keine unbestreitbare allgemeine Regel besteht, um diese Methoden zu ordnen. Hingegen 233

Häberle (1992), S. 40. Das von Häberle formulierte Wort „Wer keine fremden Verfassungen bzw. Rechtsordnungen kennt, kennt auch nicht seine eigene“ müsste man vielleicht so ergänzen: Wer keine fremden Verfassungen bzw. Rechtsordnungen und ihren kulturellen Kontext kennt, kennt auch nicht seine eigene. Denn Verfassungen als Kultur leben immer in und aus dem kulturellen Kontext, vgl. Häberle (2013), S. 307. 235 Häberle (2013), S. 307: „Im Einzelfall kann es durchaus sein, dass die Rechtsvergleichung etwa in Verbindung mit der teleologischen Auslegung ganz im Vordergrund steht“. Für Zemanek, ZaöRV 1964, S. 453, 471, kommen auch „die historische, die institutionelle und die funktionelle Methode“ in Frage. 236 Häberle (2013), S. 307; ähnlich Zweigert, RabelsZ 1949/50, S. 5, 17: „Die aus der Rechtsvergleichung schöpfende Auslegungsmethode, die ich hier vertrete, will nun nicht so verstanden werden, als ob sie der bisher entwickelten Methodik den Abschied geben und an ihre Stelle treten wollte“. 237 Pawlowski, Rn. 227 Anm. 105. 238 Zum Verhältnis von Rechtsvergleichung und historischer Interpretation, s. Müller/ Christensen, Rn. 349. 239 Damit habe „die rechtevergleichende Dimension Annexcharakter“, vgl. Häberle (2013), S. 307. 240 Häberle (2013), S. 307: Eine Rangfolge gibt es „ja schon unter den klassischen Methoden nicht“; Austermann, DÖV 2011, S. 267, 268: „Eine Rangfolge zwischen ihnen besteht ebenfalls nicht“. 241 Häberle (1998), S. 73. 242 Bydlinski, S. 553 ff., spricht von einem „relativen Rang der juristischen Methoden“. 234

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stellt man einen flexiblen Zusammenhang her, „der sich meist als Prinzipienstruktur, seltener als Regelsystem beschreiben lässt“243. Für dieses biegsame Verhältnis der Interpretationsmethoden schlägt Häberle drei Kriterien vor, nämlich: 1. die vernünftige Tätigkeit des Richters, 2. die anpassende Kraft der Verfassungsprinzipien und 3. die Abhängigkeit der Methodenwahl von den Subjekten der Interpretation. Der Richter, der ein „praktisches öffentliches Handeln“ entwickelt,244 kann im Einzelfall „von seinem ,Judiz‘ her, genauer vom durch Erfahrung geschulten Gerechtigkeitsmaßstab aus begründen, wie und warum die eine über die andere Auslegungsmethode siegt bzw. mehrere ein Ergebnis ,tragen‘“245. Damit wird das offene und pluralistische Ansehen der klassischen Methoden zur Garantie der Gerechtigkeitsgewinnung in der Zeit, unter Berücksichtigung von Wandel und Entwicklung.246 Gleichzeitig sind die Auslegungsmethoden in Qualität und ihrem Verhältnis untereinander ihrerseits von den Verfassungsprinzipien abhängig. Verfassungsprinzipien wie Republik als Bezugnahme auf res und salus publica, Grundrechte, Sozialstaat, pluralistische Demokratie, Öffentlichkeit usw. wirken auf die Interpretationsmethoden und ihr Verhältnis zueinander ein.247 Im Rahmen der republikanischen Verfassungstheorie der Verfassungsauslegung bestimmen Wirklichkeit und Öffentlichkeit den Stellenwert der herkömmlichen Interpretationsmethode. Demzufolge werden diese Interpretationsmethoden selbst in der offenen Verfassungstheorie auch ausgelegt (Stichwort: Interpretation der Interpretationsmethoden),248 denn sie haben keine eindeutige Bedeutung. Mit Recht kann gefragt werden: Die Bedeutung des einzelnen interpretationsbedürftigen Wortes ergibt sich aus seiner umgangssprachlichen oder seiner fachspezifischen, aus seiner semantischen oder syntaktischen, aus seiner alten oder aktuellen Bedeutung des Wortes?249 Wortbedeutungen können sich im Laufe der Zeit wandeln (z. B. der Begriff „Familie“ des Art. 6 Abs. 1 GG).250 Bezüglich der systematischen Auslegung ist fraglich, ob sich das zutreffende Verstehen des Gebotsinhalts einer Norm aus ihrer Stellung im Zusammenhang einer Normengruppe, eines Teilgebietes oder der Gesamtrechtsordnung ergibt; welches System ist gemeint, wenn von systematischer Auslegung gesprochen wird: „formales“ System oder „inneres“ System?251 Um welche Personen handelt es sich, wenn man nach dem Willen oder nach den Normvorstellungen des „Gesetzgebers“ fragt? 243

Häberle (2013), S. 301 ff. Spannende Beispiele finden sich in Michael (1997), S. 205 ff., insbesondere S. 207 ff. 244 Wieacker, in: Bubner u. a. (Hrsg.), Hermeneutik und Dialektik, Bd. II, S. 311. 245 Häberle (2013), S. 302; Brugger, AöR 1994, S. 1, 32; Lipphardt, in: Schneider/Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst, S. 67. 246 Häberle (2013), S. 302. 247 Häberle (1998), S. 67. 248 Häberle (1998), S. 74: „Die ,Auslegung der Auslegungsmethoden‘ ist durch die materiellen und formellen Verfassungsprinzipien präjudiziert“. 249 Otte, in: Grimm (Hrsg.), Einführung in das Recht, S. 172, 190. 250 Sauer, in: Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, § 9 Rn. 24. 251 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 741, 750 f.

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In den demokratischen Staaten ist der Gesetzgeber keine Einzelperson, sondern in der Regel eine Versammlung, das Parlament, mitunter sogar die Gesamtheit der abstimmungsberechtigten Bürger.252 Angesichts der Vielfalt von den sogenannten „Gesetzmaterialien“ ist auch in der historischen Auslegung nur mit „Wahrscheinlichkeiten“ zu arbeiten.253 Schließlich ist offenbar, dass z. B. Antragssteller und Antragsgegner im Verfassungsprozessrecht verschiedene Ziele verfolgen und logischerweise verschiedene Auslegungsmethoden wählen und ihre Inhalte in solche unterschiedlichen Methoden kleiden werden.254 cc) Vor- und Nachverständnis im Verfassungsinterpretationsvorgang Die Hermeneutik bzw. der hermeneutische Zirkel255 begreift das „Vorurteil“256 oder „Vorverständnis“257 – das aber nicht, wie es freilich oft geschieht, mit dem vorweggenommenen, möglicherweise falschen Urteil im psychologisch-deskriptiven Sinne verwechselt werden darf258 – als eine Bedingung des Verstehens.259 Der Vorgang der Verfassungsinterpretation ist nicht etwas rein Rezeptives, sondern ein praktisches, gestaltendes Handeln,260 das dennoch von einem bestimmten Vorverständnis gesteuert wird.261 Der Interpret tritt an den Prozess der Auslegung mit einer bestimmten Erwartung an die Lösungsmöglichkeit von Konfliktfragen heran; diese Erwartung, die durch die lebensweltlichen Prägungen und die beruflichen Erfahrungen des Interpreten bestimmt wird,262 begrenzt und erschließt die Interpretati252

Larenz/Canaris, 1995, S. 149. Bydlinski, S. 449. 254 Häberle (2013), S. 286. 255 Dazu Heidegger, S. 148 ff.; Esser (1970), S. 136: „Der ,hermeneutische Zirkel‘ liegt dabei in dem Verhältnis von Fragestellung und Antworten qua Normverständnis, also in der Tatsache, daß ohne Vorurteil über die Ordnungsbedürftigkeit und Lösungsmöglichkeit die Sprache der Norm überhaupt nicht das aussagen kann, was erfragt wird: die gerechte Lösung“; s. auch Betti, S. 42. 256 Gadamer (1986), Bd. I, S. 270 ff., 275: „An sich heißt Vorurteil ein Urteil, das vor der endgültigen Prüfung aller sachlich bestimmenden Momente gefällt wird […] Vorurteil heißt also durchaus nicht notwendiges falsches Urteil. In seinem Begriff liegt, dass es positiv und negativ gewertet werden kann“. 257 Esser (1970), S. 136 ff. 258 A. Kaufmann (1984), S. 92; Larenz/Canaris, S. 32 f. 259 Hier geht es um einen Zirkel, der nicht als circulus vitiosus berücksichtigt werden kann; es handelt sich vielmehr um einen Prozess, der niemals zum Abschluss kommt und auch gar nicht zum Abschluss kommen soll, sich aber, wenn er gelingt, in jeweils höhere Ebenen windet. Daher spricht Hassemer (1968), S. 107, zutreffend nicht von einem Zirkel, sondern von einer hermeneutischen Spirale; s. auch A. Kaufmann (1984), S. 77; Larenz/Canaris, S. 28. 260 A. Kaufmann (1984), S. 63. 261 Häberle (2013), S. 298. 262 Alexy, S. 76. 253

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onsmöglichkeiten,263 prägt aber auch die Methodenwahl.264 Nur wenn der Interpret mit einem Vorverständnis an den Normtext herangeht, wird er „den Text zum Sprechen bringen können“265. Hier hat Häberle bemerkenswerte Präzisierungen gegeben. Er stellt fest, dass das Vorverständnis nicht nur mit der richterlichen Praxis zu tun hat, denn im Vorgang der Verfassungsauslegung arbeiten auch sowohl Parlamentarier als auch Verwaltungsbeamte mit Vorverständnissen, obwohl fraglich sei, wie diese Vorverständnisse einander angenähert werden könnten, ohne dass die staatlichen Funktionen identifiziert würden.266 Ferner hätten alle Interpreten in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten ihre eigenen und vielfältigen Vorverständnisse, die den Prozess der Auslegung bereichern. Freilich hält Häberle den Begriff Vorverständnis für unzureichend, da sich viele Vorbedingungen der juristischen Interpretation von vornherein nicht dem Begriff „Verständnis“ zuordnen ließen; so sei etwa das „Umfeld“, aus dem heraus die Norm interpretiert werde, keine subjektive, sondern eine objektive Frage, sie verändere sich im Laufe der Zeit.267 Daher argumentiert er für eine „Theorie der Praxis über das Vorverständnis, die genügend prospektiv ist, eine Zukunftsorientiertheit, die sich auf alle sog. klassischen und die neu zu entwickelnden Auslegungsmethoden wie die explizit öffentlichkeits- und folgenorientierte Auslegung auswirken muß“268. Dafür hat Häberle völlig richtig das Wort „Nachverständnis als Vorverständnis der Zukunft“ geprägt.269 Es ist einerseits ein Versuch, „die Zeit im Interpretationsvorgang ,festzumachen‘“270 und bildet andererseits „den Inbegriff aller zeitlich bedingten Faktoren, auf Grund derer eine Norm ,nachträglich‘ verstanden wird. Was Zeit und Entwicklung, insbesondere die Erfahrung, der Wandel des Selbstverständnisses, die Sozialisationsprozesse und die normierende Kraft der Öffentlichkeit dem Interpreten der Norm ,nachliefern‘, gehört zum Nachverständnis“271. Eben deshalb entfaltet sich der Prozess der Verfassungsauslegung zwischen Vor- und Nachverständnis.272 Diese stehen darüber hinaus in einem dialektischen Verhältnis, 263

Esser (1970), S. 136. Häberle (2013), S. 298. Für Müller/Christensen, Rn. 273, sind Methodenwahl und Vorverständnis nur insoweit Elemente kontrollierbarer Arbeit, wie sie im Einzelfall mit methodischen Elementen begründbar sind; andernfalls seien sie irrational oder würden mit verdeckten Karten arbeiten. 265 A. Kaufmann (1997), S. 46. 266 Häberle (1998), S. 80 Anm. 105. 267 Häberle (1998), S. 81. 268 Häberle (1998), S. 80. 269 Häberle (1998), S. 80: „Nachverständnis ist das Vorverständnis im Zeitpunkt der ,späteren‘ Entscheidung“. Schmitt Glaeser (2004), S. 286, spricht von „prä- und postlegislativem Vorverständnis“. 270 Häberle (1998), S. 78. 271 Häberle (1998), S. 78 f. 272 Häberle (1998), S. 80. 264

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das von der Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung bestimmt wird. Nachverständnis ist für die interpretierten Normen nicht minder konstituierend als Vorverständnis; der Stellenwert des Vorverständnisses für die Verfassungsinterpretation wird so relativiert, denn das „alte“ Vorverständnis ist nur ein Element bei der Bildung des „neuen Vorverständnisses“273. c) Häberle und das topische Denken Die These Häberles über das Möglichkeitsdenken ist, wie schon gesagt, eine Grundlage der republikanischen Theorie der Verfassungsinterpretation und der Verfassungstheorie als eigentliche verfassungsrechtliche Hermeneutik. Häberle bemerkt, dass Alternativen als Möglichkeitsdenken vor allem im Interpretationsvorgang – etwa bei der Methodenwahl – relevant werden; in diesem Punkt verbindet er die Auslegung der Verfassung mit der Topik in dem Maße, dass das topische Denken „nach möglichen Interpretationsgesichtspunkten“ sucht.274 Die Topik ist ein Teil der Rhetorik.275 Sie ist – nach Viehweg – „eine von der Rhetorik entwickelte Techne des Problemdenkens“276. Die Topik wolle „Winke geben, wie man sich in einer solchen Situation verhält, um nicht rettungslos zu bleiben“277. So sei ein Problem für die Topik „jede Frage, die anscheinend mehr als eine Antwort zuläßt, und setzt man notwendigerweise ein vorläufiges Verständnis voraus, nach dem irgend etwas überhaupt als ernstzunehmende Frage erscheint, wird eben nun eine Antwort als Lösung gesucht“278. Um die Lösung zu finden, bedürfe man Gesichtspunkten bzw. Topoi, die im Dienste der Problemerörterung stehen, und deren Kenntnis die Aufgabe habe, „une sorte de répertoire facilitant l’invention zu bieten“279. Ehmke280 und Esser281 haben ausführlich gezeigt, wie das topische Denken bedeutende Auswirkungen für die Verfassungsinterpretation hat.282 273

Häberle (1998), S. 79. Häberle (2013), S. 84. 275 Da Häberle für eine verfassungsrechtliche Hermeneutik argumentiert, muss man fragen, ob es eine Beziehung zwischen ars inveniendi (Rhetorik) und ars interpretandi (Hermeneutik) gibt. Gadamer (1986), Bd. II, S. 232 ff., hat diese Frage positiv beantwortet. Die theoretischen Mittel der Auslegungskunst seien weitgehend aus der Rhetorik entlehnt; ferner sagt er: „Es gäbe keinen Redner und keine Redekunst, wenn nicht Verständigung und Einverständnis die menschlichen Beziehungen trügt – es gäbe keine hermeneutische Aufgabe, wenn das Einverständnis derer, die ,ein Gespräch‘ sind, nicht gestört wäre und die Verständigung nicht gesucht werden müßte“. 276 Viehweg (1974), S. 14; ders. (1995), S. 191 ff. 277 Viehweg (1974), S. 31. 278 Viehweg (1974), S. 32. 279 Viehweg (1974), S. 37. 280 Ehmke, VVDStRL 20/1963, S. 53, 99 f. Nach ihm: – das verfassungsrechtliche Denken sei Problemdenken und die Einheit der Jurisprudenz liege in ihrer topischen Grundstruktur, 274

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Gleichwohl hat Böckenförde die Anwendung der Topik auf die Verfassungsinterpretation infrage gestellt.283 Der Primat des Problems vor der Norm und dem System führe zur Infragestellung der Normgeltung der Gesetze; die Verfassung werde damit in ihren Grundentscheidungen und Einzelnormierungen zu einer Zusammenstellung von relevanten Problemlösungsgesichtspunkten neben anderen, deren Relevanz im konkreten Fall aber nicht mehr von ihr selbst, sondern vom jeweiligen konsensgetragenen Vorverständnis bestimmt wird.284 Die Anwendung der Topik im Rahmen der Deutung der Verfassung wäre somit hoch problematisch, weil der Text des Rechtssatzes nur eine unter anderen Topoi sei und die Grenzen der Interpretation überschritten seien. Gerade deshalb hat Böckenförde Häberles Stellungnahmen heftig kritisiert.285 Er stellt fest, dass Häberle die topisch-problemorientierte Methode radikalisiert habe und damit zu einer nahezu vollständigen Auflösung der Verfassung als Norm gelange. Nach Starcks Ansicht verwische die Häberle’sche These „den Rahmencharakter der Verfassung“ und „den Begriff der Verfassungsinterpretation“286. Diese Kritiken entbehren jeder Grundlage. Erstens behauptet Häberle nirgends, dass das topische Denken die einzige Methode der Verfassungsinterpretation sei; hingegen plädiert er ständig für einen offenen Katalog der Auslegungsmethoden. Zweitens besagt eine Radikalisierung der topischen Methode, dass es in Häberles Denken eine Rangfolge der Methoden der Interpretation geben würde; freilich lehnt er diese Theorie ausdrücklich ab. Drittens basiert die Kritik der Auflösung der Verfassung auf der Vermutung, dass der Normtext eine bloßer Topos sei und mithin nicht verbindlich. Das stellt er nicht fest;287 jede Interpretation der Verfassung muss von ihrem Text, wenn er existiert, ausgehen, aber sie erschöpft sich nicht in ihm, – die Rechtsordnung bilde kein geschlossenes System, sondern eine grundsätzlich offene Struktur, in der das Problemdenken die Vielfältigkeit des Rechtsmaterials und das Rechtsfortbildungsmoment der Rechtsprechung aufzeige, - die herkömmlichen Interpretationsmethoden würden nur als partielle Interpretationsgesichtspunkte erscheinen, – der sogenannte Methodenpluralismus tue nicht mehr, als bestimmte allgemeine Gesichtspunkte, die für juristische Problemlösungen relevant seien, in gewisser Auswahl zusammenzustellen, – eine feste Rangordnung zwischen den partiellen Gesichtspunkten lasse sich nicht aufstellen, – die Jurisprudenz erschöpfe sich nicht in Kasuistik. Vielmehr falle gerade der das Vorverständnis juristischer Probleme begründenden und die Problemlösungen zusammenordnenden Theorie oder – rechts verstandenen – Systematik die entscheidende hermeneutische Aufgabe zu. 281 Esser (1970), S. 158 f. 282 Vgl. Hesse (1995, Neudruck 1999), S. 30 Rn. 78. 283 Böckenförde, NJW 1976, S. 2089, 2092. 284 Böckenförde, NJW 1976, S. 2089, 2093. 285 Böckenförde, NJW 1976, S. 2089, 2093. 286 Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 271 Rn. 28. 287 Häberle (1998), S. 222.

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vielmehr ist der Normtext der Ausgangspunkt der Auslegung, freilich niemals das Ende. Das topische Denken ist – wie andere Methoden – auch von Bedeutung. Es wendet sich dem konkreten Problem zu und sucht mögliche Gesichtspunkte oder Alternativen für die Verfassungsinterpretation. Es ist auch mit der Trial and ErrorMethode des kritischen Rationalismus vereinbar,288 weil beide Methoden auf dogmatisierte Gesichtspunkte verzichten und die Lösung der Interpretation immer revidierbar ist.

6. Prinzipien der Verfassungsinterpretation a) Unterschied zwischen Prinzipien und Methoden Das Unterscheiden zwischen Prinzipien und Methoden (auch Elemente, Kriterien, Kanons genannt) der Verfassungsinterpretation ist für die richtige Bewertung der Interpretationsprinzipien basal. Nach Ehmkes Kriterium sind Prinzipien der Verfassungsauslegung „im technischen Sinne Hilfsmittel im hermeneutischen Geschäft der Verfassungstheorie“ und im Gegensatz „zu den gegenüber der Sache verselbständigten ,Auslegungsmethoden‘ stellen sie am Problem entwickelte sachliche Regeln für Problemlösungen dar“, sie seien „Ausdruck des verfassungstheoretischen Vorverständnisses bestimmter verfassungsrechtlicher Probleme“ und würden einen „materiellen Charakter“ haben.289 Dies muss analysiert werden. Wenn man die Interpretationsprinzipien als „Hilfsmittel“ benennt, hat man nicht viel gesagt, da auch Methoden Hilfsinstrumente der Verfassungsinterpretation bilden.290 Ob Prinzipien im Vergleich zu Methoden Regeln für die Lösung eines Problems darstellen könnten, ist auch fragwürdig, denn Methoden könnten dafür – wenn auch nur begrenzte – Kriterien bieten. Sinnvoll ist indes Ehmkes Berücksichtigung der Interpretationsprinzipien als Ausdruck des Vorverständnisses und als Prinzipien materiellen Charakters. Häberle hebt den materiellen Charakter der Interpretationsprinzipien hervor. Für ihn unterscheiden sich die Prinzipien der Verfassungsinterpretation von den Methoden „als interpretatorische Zugangswege zu den Inhalten der Verfassung dadurch, dass sie selbst Inhalte darstellen, wenn auch mitunter mit formellen Seiten“291. So stehen Prinzipien der Verfassungsinterpretation im Gegensatz zu den Auslegungsmethoden einerseits in enger Verbindung zum materiellen Inhalt der Verfassung; sogar sind einige Prinzipien der Verfassungsinterpretation – wie etwa das sogenannte

288 Esser (1970), S. 152: „Der Topik als Argumentationsstil entspricht eine Topik als Forschungsstil, nämlich im Sinne der erwähnten Trial and Error-Methode“. 289 Ehmke, VVDStRL 20/1963, S. 53, 72. 290 Müller/Christensen, Rn. 95. 291 Häberle (2013), S. 314.

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Prinzip der Einheit der Verfassung – ein Charakteristikum der Verfassung selbst.292 Andererseits bedürfen die Methoden, da sie keine vorausbestimmte Organisation haben, der Interpretationsprinzipien; diese erscheinen hier als „Regeln“ jener Organisation.293 Ferner könnten die Interpretationsprinzipien konditionieren, wann und wie die verschiedenen Interpretationsmethoden im Einzelfall zu verwenden und wie jene Methoden im Fall unterschiedlicher Ergebnisse zu gewichten seien.294 b) Offener Kanon der Prinzipien der Verfassungsinterpretation Prinzipien der Verfassungsinterpretation sind vor allem wertvoller Beitrag der verfassungsrechtlichen Doktrin. Sie wurden „erstmals in Deutschland auf der Staatsrechtslehrertagung 1961“ behandelt.295 Dort sprach Ehmke von materiellrechtlichen und funktionell-rechtlichen Interpretationsprinzipien.296 Zur ersten Gruppe gehören das Prinzip der Einheit der Verfassung und die Prinzipien der Interpretation der Grundrechte, nämlich: a) Interpretation der Grundrechte „aus einem vorausgesetzten Grundrechts-,System‘“, b) in dubio pro libertate und c) Prinzip der Grundrechtseffektivität. Zur zweiten Gruppe gehören der Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung, die political question-Doktrin und die sogenannte preferred freedoms-Doktrin. Aus Hesses Blickwinkel sind Prinzipien der Verfassungsinterpretation die folgenden Grundsätze: das Prinzip der Einheit der Verfassung, der praktischen Konkordanz, der funktionellen Richtigkeit, der integrierenden Wirkung und der normativen Kraft der Verfassung.297 Lerche prägte seinerseits das Prinzip des „erforderlichen schonenden Ausgleichs“298. Von Bedeutung ist auch der Vorschlag von Scheuner, der das Prinzip der Harmonisierung als „grundlegende Gebote aller Verfassungsauslegung“ berücksichtigte.299 Zu einer richtigen Würdigung des Prinzips der verfassungskonformen Auslegung empfahl Simon seine Unterscheidung vom Prinzip der verfassungsorientierten Auslegung.300

292 Ehmke, VVDStRL 20/1963, S. 53, 77: Das Prinzip der Einheit der Verfassung ist der Ausdruck „der konkreten materialen Einheit einer Verfassung“. 293 Alexy, S. 89. 294 Hinsichtlich der juristischen Interpretation im Allgemeinen, s. Alexy, S. 89. 295 Häberle (2013), S. 314. 296 Ehmke, VVDStRL 20/1963, S. 53, 72 ff. 297 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 70 ff. 298 Lerche (1971), S. 56; ders. (1961), S. 130 ff. 299 Scheuner, VVDStRL 20/1963, S. 125 f.: „Da eine moderne Verfassung ein einheitliches Ganzes ist und als solches interpretiert werden muß, sollen Widersprüche und Gegensätze innerhalb des Textes von der Auslegung ausgeglichen, weggeräumt, kurz ,harmonisiert‘ werden“. 300 Simon, EuGRZ 1974, S. 85 ff.: „In der verfassungsgerichtlichen Praxis ist diese verfassungsorientierte Auslegung für alle Verfahren bedeutsam, in denen zu prüfen ist, wie eine Norm im Einzelfall im Lichte der Verfassung richtig auszulegen und anzuwenden ist“.

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Die Prinzipien der Verfassungsinterpretation in Häberles Denken sind von zwei Arten: a) „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“ im engeren Sinne und b) „Prinzipien zu den Grenzen der Verfassungsinterpretation“301. Diese Unterscheidung ist von Bedeutung. Zum einen, weil die Verfassungsauslegung eine Tätigkeit ist, die mit dem materiellen Inhalt der Verfassung in Verbindung steht, zum anderen, weil die Interpretation als Verfahren begrenzt ist. Es bedarf Grundsätzen, die sie rationalisieren und begrenzen müssen. Häberle nimmt die Einheit der Verfassung, die praktische Konkordanz und die verfassungskonforme Auslegung als angemessene Prinzipien an, um die Verfassung auszulegen. Er geht jedoch noch weiter. Es handelt sich um eine Ausweitung hin auf den europäisch-integrierten Verfassungsstaat, denn europäisches und nationales Verfassungsrecht bilden eine materielle, funktionale und institutionelle Einheit.302 Seiner Meinung nach soll das Prinzip der Einheit der Verfassung modifiziert werden, weil nationale Verfassungen in Europa Teilverfassungen sind;303 in demselben Sinne werde das Prinzip der verfassungskonformen Auslegung auf eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts projiziert.304 Im Rahmen seiner These der kooperativen Staaten fügt er die Interpretationsgrundsätze der Europarechtsfreundlichkeit bzw. Völkerrechtsfreundlichkeit und der menschenrechtsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes hinzu; er berücksichtigt auch selbst die Verfassungsvergleichung als einzigartiges Interpretationsprinzip vor allem auf dem Felde der Grundrechte.305 In diesem Sinne spricht Häberle visionär von einer „gemeineuropäischen Hermeneutik“306. c) Das Problem der Grenzen der Verfassungsinterpretation Wie gesagt, sind die anderen Grundsätze der Verfassungsinterpretation die sogenannten „Prinzipien zu den Grenzen der Verfassungsinterpretation“. Häberle erwähnt an erster Stelle das Prinzip der funktionellen Richtigkeit,307 nach dem Prinzip: „Wenn die Verfassung die jeweilige Aufgabe und das Zusammenwirken der Träger staatlicher Funktionen in einer bestimmten Weise ordnet, so hat das auslegende Organ sich im Rahmen der ihm zugewiesenen Funktionen zu halten; es darf nicht durch Art und Weise und das Ergebnis seiner Interpretation die Verteilung der Funktionen verschieben“308. Es gehe besonders um die Grenzen im Verhältnis zum demokratischen Gesetzgeber sowie im Verhältnis zu den übrigen Gerichtsbarkei301

Häberle (2013), S. 314. Pernice, VVDStRL 60/2001, S. 148, 153; Tomuschat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XI, § 226 Rn. 59. 303 Häberle (2006), S. 92. 304 Häberle (2013), S. 314. 305 Häberle (1997), S. 65: „Entscheidend bleibt, daß die Verfassungsvergleichung vor allem bei den Grundrechten bewußt und offen praktiziert wird“; ders. (2013), S. 315. 306 Häberle (1997), S. 93. 307 Häberle (2013), S. 315. 308 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 73; Ehmke, in: VVDStRL 20/1963, S. 53, 73 ff. 302

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

ten.309 An zweiter Stelle erscheint die sogenannte gesetzeskonforme Auslegung der Verfassung.310 Häberles These will sagen, wenn das BVerfG ein Gesetz am Maßstab der Verfassung überprüft, dann legt es auch das Gesetz aus; es komme zu „einer Wechselwirkung zwischen Verfassungs- und Gesetzinterpretation“311. Sie mißt sich an der Einheit der Verfassung.312 Da der materiell- wie funktionellrechtliche Zusammenhang in die Richtung einer Aufrechterhaltung des Gesetzes weist, wird verfassungskonforme Auslegung die zu interpretierende Verfassungsnorm nach Möglichkeit in dem Sinne auslegen, in dem der Gesetzgeber sie konkretisiert hat; „verfassungskonforme Auslegung ist daher in ihrer Rückwirkung auf die Verfassungsinterpretation gesetzeskonforme Auslegung der Verfassung“313. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn ein Artikel der Verfassung selbst für die Interpretation eines bestimmten Begriffs auf seinen Gebrauch im einfachen Recht verweist, etwa der Steuerbegriff.314 Doch handelt es sich nicht um eine Unterwerfung der Verfassung unter die einfachen Gesetze, sondern nur um die Wechselbezogenheit von Verfassung und Gesetz und damit – wie Hesse betont – um den Gedanken der Einheit der Rechtsordnung.315 Man sollte nicht vergessen, dass auch der demokratische Gesetzgeber die Verfassung konkretisiert. Überdies fragt sich Häberle, ob der Wortlaut der Norm eine Grenze der Interpretation sein kann.316 Wer diese Frage bejaht, geht von zwei irrtümlichen Prämissen aus. Einerseits setzt man voraus: „Wo Zweifel nicht bestehen, wird nicht interpretiert und bedarf es auch oft keiner Interpretation“317. Offenbar ist, dass dieser Blickwinkel der grammatischen Methode höhere Priorität einräumt und damit eine Rangfolge – die indes abstrakt nicht existiert – besteht. Ob der „Wortlaut“ wirklich klar ist, lässt sich nur nach Prüfung durchaus anderer Methoden feststellen; aber der Interpret hat kein Recht, Auslegungskriterien im Voraus und willkürlich außer Betracht zu las-

309 Häberle (2013), S. 315, beklagt sich zu Recht über das Wort „Fachgerichte“, das das BVerfG ständig verwendet. Da die anderen Gerichte an die Verfassung gebunden und sogar an ihrer interpretatorischen Weiterentwicklung beteiligt sind, werden sie in einem tieferen Sinne zu Verfassungsgerichten. 310 Häberle (2013), S. 315. 311 Häberle (2013), S. 315. 312 Häberle, JöR 48/2000, S. 399, 417. 313 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 85; so auch Haltern, Rn. 771; Fischer, S. 426 f.; Baldus, Der Staat 35/1996, S. 145, 149; Schilling, S. 458 ff.; von Mutius, S. 141; Huber, AöR 1967, S. 550, 552; Ehmke, VVDStRL 20/1963, S. 53, 74 f. 314 Sacksofsky, S. 108: „Lange Jahre hat das Gericht den Begriff Steuer im Grundgesetz durch einen Rückgriff auf den Steuerbegriff des § 1 RAO definiert“. Kritisch Müller (1968), S. 34: „Die grundrechtliche Normbereiche hindern damit vielfach eine Entwicklung, die skeptisch als gesetzeskonforme Auslegung der Verfassung bezeichnet wird“; Steiner, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR IV, § 108 Rn. 5. 315 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 85. 316 Dazu s. Klatt, S. 40 ff. 317 Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 49.

II. Grundfragen der Verfassungsinterpretation

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sen.318 Andererseits beziehen sich die Vertreter dieser Ansicht auf die fragwürdige Auffassung, dass der Ausdruck „Wortlaut“ unproblematisch ist, ohne Erwägung folgender Fragen: Umgangssprachlicher oder juristischer Wortlaut? Tatsächlicher oder möglicher Wortlaut? Allgemeiner juristischer oder spezieller juristischer Wortlaut? Bedeutungsverständnis des Interpreten oder gefestigte Wortbedeutung? Entstehungszeitlicher oder geltungszeitlicher Wortlaut?319 Auch für das ungeschriebene Verfassungsrecht320 ist der Wortlaut nicht fruchtbar.321 Häberle lehnt ihn daher als „Grenze“ der Verfassungsinterpretation ab.322 Er könne nur entweder Gegenstand der Verfassungsinterpretation sein oder deren Grenze markieren, beide Funktionen zusammen können nicht sinnvoll gedacht werden.323 Freilich ist der Wortlaut stets Gegenstand, nicht Grenze der Verfassungsauslegung.324

7. Verfassungsauslegung und Verfassungsgebung Verfassungsinterpretation und Verfassungsgebung sind öffentliche Prozesse, die sich weit näher, als üblicherweise angenommen wird, stehen, wenn die Verfassung materiell verstanden wird und das Volk als pluralistisch und als verfasste Größe berücksichtigt wird.325 Mit dieser grundsätzlichen Idee versucht Häberle, das pluralistische und offene Verhältnis zwischen Auslegung der Verfassung und Verfassungsgebung zu erläutern.326 Dafür unterscheidet er Verfassungsgebung im engeren und im weiteren Sinne. Während die erste ein geregeltes und zeitlich begrenztes Verfahren ist, bildet die Verfassungsgebung im weiteren Sinne einen pluralistischen, vielseitigen und ständigen Vorgang.327 Dies impliziert deutlich eine Entfernung von der herkömmlichen Theorie328 und der rechtspositivistischen Auffassung der Ver318

Vgl. Wank, S. 51. Wank, S. 39. 320 Dazu Smend, in: FG Mayer, 1916, S. 245, 247 ff.; ders. (1994), S. 39 ff.; Wolff, S. 139 ff.; Schröcker, Der Staat 5/1966, S. 137 ff.; s. auch die Berichte von von Hippel und Voigt, VVDStRL 10/1952, S. 1 ff. 321 Ehmke, VVDStRL 20/1963, S. 53, 58. 322 Häberle (2013), S. 302. 323 Depenheuer, S. 58. 324 Jestaedt (1999), S. 150 Anm. 71. 325 Häberle (1998), S. 199. 326 Zur Theorie und Praxis der Verfassungsgebung in Deutschland, s. Steiner, 25 ff., und von Wedel, S. 85 ff.; vom Art. 146 GG her s. Klein, in: Calliess u. a. (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und soziale Rechte in der Europäischen Union, S. 97 ff. 327 Häberle (1998), S. 184: Die Verfassungsgebung „beginnt nicht auf eine ,tabula rasa‘ in der Stunde Null“. 328 Sieyes (1975), S. 250: „Die Verfassungsgebende Gewalt kann in dieser Beziehung alles. Sie ist nicht von vornherein einer bereits gegebenen Verfassung unterworfen“. Zur Verfassungsgebung als „politischer Wille“, s. Schmitt (1970), S. 75 ff.; Henke (1957), S. 25: „Die verfassunggebende Gewalt des Volkes kann weder rechtlich geregelt noch organisiert werden. 319

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

fassungsgebung,329 die sie als einen oktroyierten Prozess330 und einmaligen Akt auffasst.331 Gemäß des Dogmas der Einzigartigkeit (Stichwort: Dezisionismus) lässt sich die Verfassungsgebung nur historisch erklären, wie 1789 in der französischen Revolution; nach dem Dogma der Punktualität ist sie mit dem Abschluss des förmlichen Prozesses der Inkraftsetzung der Teil- oder Totalrevision einer Verfassung beendet. Stattdessen argumentiert Häberle für einen Abschied von beiden Dogmen,332 denn republikanisch gesehen mag die „Verfassunggebung einen zeitlichen Anfang haben – greifbar besonders 1789 – aber sie hat, einmal in Gang gekommen, kein Ende.333 Sie ist ein dauernder, evolutionärer Vorgang, kein einmaliger Akt“334. Es geht um die offene Finalität der Verfassung. Darüber hinaus geschieht die Verfassungsgebung – ähnlich wie die Verfassungsinterpretation – „als öffentlicher Prozeß mit vielen Beteiligten335 und in vielen (pluralistischen) Verfahren“336. Verfassungsinterpretation und Verfassungsgebung im weiteren Sinne sind sachlich nur schwer und vielleicht graduell voneinander abzugrenzen. Die Verfassungsauslegung hat die Aufgabe, „die Verfassunggebung ,vor-‘ und ,nachzubereiten‘, sie ,fortzuschreiben‘“337. Damit besteht Teilidentität zwischen den Verfassungsinterpreten und den Verfassungsgebern im weiteren Sinne. Selbst die Verfassungsgebung im engeren Sinne hat mit der Verfassungsinterpretation zu tun, weil die Verfassungsgebung weder „normativ aus dem Nichts“ entscheidet noch „ohne Anfang ist“338. Das Gleiche gilt für die totale Revision, denn „jede neue Verfassung baut auf dem weiter, was einst gewesen und geworden ist“339. Diese – ob man will oder Ihre Betätigung ist an keine Form und an kein Verfahren gebunden. Sie ist ,immer im Naturzustand‘“. 329 Lemke, S. 24 ff. 330 Von Beyme (1968), S. 26 ff. 331 Häberle (1998), S. 202: „Nicht die einseitige Setzung oder ,Gabe‘, der Erlaß ,von oben‘ (Monarch!) oder ,unten‘ (Volk!) ist typisch“ für einen republikanischen Begriff der Verfassungsgebung. 332 Für Anhänger des Rechtspositivismus gebe es keine rechtliche Befugnis zur Verfassungsgebung, sie gingen davon aus, dass mit dem verfassungsgeberischen Akt die staatliche Rechtsordnung erst begründet werde und vorher kein Recht, auch kein vorstaatliches Recht, existiere. Die verfassungsgebende Gewalt sei deshalb lediglich ein sozialer Machtfaktor, vgl. Winterhoff, S. 138; dazu s. auch Boehl, 1997, S. 127 ff. 333 Häberle (1998), S. 202. 334 Häberle (1998), S. 203. 335 Wichtiger Beteiligter der Verfassungsgebung ist nach Häberle die Verfassungsrechtswissenschaft. Sie habe als Wissenschaft die konkurrierenden Beiträge der pluralistischen Verfassungsgeber im weiteren Sinne zu steuern, zu systematisieren oder sogar zu provozieren. Dies ändere aber nichts an der Tatsache, dass die Beziehung von Verfassungsgebern und Verfassungstheorie höchst komplex sei. „Es finden sich Kooperations-, aber auch Konkurrenzund Konfliktverhältnisse“, vgl. Häberle (1998), S. 212 ff. 336 Häberle (1998), S. 202. 337 Häberle (1998), S. 210. 338 Häberle (1998), S. 208. 339 Haas, zitiert nach Breunig, S. 30.

III. Beteiligte am Verfassungsinterpretationsvorgang

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nicht – geht von der bisherigen Verfassung, die oft die Regeln für dieses Verfahren enthält, und ihren Interpretationen aus: „Die neue Verfassung erhält Anregungen aus der Interpretation der alten, die alte wirkt in neuer Gestalt fort, sie wird sogar eine Art ,Geburtshelfer‘ der neuen Verfassung“340. Nicht jede Verfassungsinterpretation ist Verfassungsgebung, aber sie bewegt sich immer latent im Hintergrund der Verfassungsauslegung. Die These von Häberle enthält eine Relativierung der Verfassungsgebung. Der republikanische Begriff der Verfassungsgebung von der Verfassungsinterpretation her bedeute weder ihre Unterschätzung noch ihre Banalisierung.341 Aber dieser Vorgang muss offen, pluralistisch, zeitlich ständig sein, um „das Wachstum einer geltenden Verfassung“ zu garantieren. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt die Verfassungsgebung Glaubwürdigkeit und Annäherung an die Wirklichkeit. Ob dies eine Dynamisierung oder eine Auflösung der Verfassung bedeuten würde, ist zweifelhaft. Nur als öffentlicher – nicht als geschlossener – Prozess lässt sich in der Gegenwart sein Rang als Strukturelement einer demokratischen Verfassungslehre und der Demokratie selbst rechtfertigen.342 Die republikanische Verfassungsgebung ist mithin ein öffentlicher Prozess, an dem große Gruppen, Minderheiten, einzelne Persönlichkeiten und die Verfassungsrechtswissenschaft teilhaben; sie bedient sich häufiger, als angenommen wird, der offenen Verfassungsinterpretation, ihr Wechselspiel ist flüssig. Verfassungsgebung und Verfassungsinterpretation sind daher teilweise koinzident.343

III. Beteiligte am Verfassungsinterpretationsvorgang 1. Der geschlossene Kreis der Verfassungsinterpreten Justinian stellte in seiner Constitutio Tanta ein Interpretationsverbot auf und führte eine Vorlagepflicht für die Erklärung unklarer Gesetze ein.344 Die Verfasser des „Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794“345 lösten den

340

Häberle (1998), S. 202. Häberle (1998), S. 196. 342 Häberle (1998), S. 224: „Verfassunggebung ist ein genuin öffentlicher – pluralistischer – Vorgang, der jeden Bürger angeht, ihm eine Chance gibt und ihn zugleich in die Kontinuität früherer Generationen und die Solidarität mit künftigen stellt“. 343 Vgl. Haller, DÖV 1980, S. 465, 469. 344 Schröder, S. 17. 345 „§. 46. Bey Entscheidungen streitiger Rechtsfälle darf der Richter den Gesetzen keinen andern Sinn beylegen, als welcher aus den Worten, und dem Zusammenhange derselben, in Beziehung auf den streitigen Gegenstand, oder aus dem nächsten unzweifelhaften Grunde des Gesetzes, deutlich erhellet. 341

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

Streit um die „richtige“ Auslegung durch Gesetz.346 Es ging um einen Normtext mit der Verpflichtung der Richter zur „Rückfrage an die königliche Gesetzgebungskommission“347. „Juristenmonopol“ bedeutet „die Existenz einer gesellschaftlichen Eliteschicht in Justiz, Verwaltung, Wirtschaft und Politik, die durch Herkunft und Ausbildung privilegiert werde“348. Dieses „Juristenprivileg“ befindet sich für Forsthoff seit Jahren im Abbau. Eine kräftige Front der „Sachverständigen“ schicke sich heute an, den Verfassungsjuristen aus seinem angestammten Bereich zu verdrängen.349 Interessenvertreter und Experten als Sachwalter der modernen Industriegesellschaft werden nicht müde, ihre durch den Sachverstand, der sich bei näherem Hinsehen meist als Gruppenverstand entpuppt, legitimierten Forderungen in die Verfassung hineinzutragen.350 Die Verfassungsinterpretation werde legitime Aufgabe der Rechtswissenschaft, ja die Hauptaufgabe der Juristen.351 Diejenigen, die explizit oder implizit für eine geschlossene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten sprechen,352 argumentieren, dass die Normativität der Verfassung nur gewährleistet werden könne, wenn ihre Auslegung nicht in die Hände der zahlreichen Interpreten gelegt werde; andernfalls trage man – nach Böckenförde – im Ergebnis zum Abbau der Normativität des Grundgesetzes bei, d. h. zur „vollständigen Auflösung der Verfassung als Norm“353. In ähnlichem Sinne nahm Starck Stellung; so sei die geschlossene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten – im Gegensatz zur offenen Gesellschaft – vereinbar „mit dem Rahmencharakter des §. 47. Findet der Richter den eigentlichen Sinn des Gesetzes zweifelhaft, so muß er, ohne die prozeßführenden Parteyen zu benennen, seine Zweifel der Gesetzcommißion anzeigen, und auf deren Beurtheilung antragen. §. 48. Der anfragende Richter ist zwar schuldig, den Beschluß der Gesetzcommißion bey seinem folgenden Erkenntniß in dieser Sache zum Grunde zu legen; den Parteyen bleiben aber die gewöhnlichen Rechtsmittel dagegen unbenommen. §. 49. Findet der Richter kein Gesetz, welches zur Entscheidung des streitigen Falles dienen könnte, so muß er zwar nach den in dem Gesetzbuche angenommenen allgemeinen Grundsätzen, und nach den wegen ähnlicher Fälle vorhandnen Verordnungen, seiner besten Einsicht gemäß, erkennen. §. 50. Er muß aber zugleich diesen vermeintlichen Mangel der Gesetze dem Chef der Justitz so fort anzeigen. (…) §. 60. So wenig durch Gewohnheiten, Meinungen der Rechtslehrer, Erkenntnisse der Richter, oder durch die in einzelnen Fällen ergangenen Verordnungen neue Gesetze eingeführt werden können; eben so wenig können schon vorhandne Gesetze auf dergleichen Art wieder aufgehoben werden“. 346 Roth-Stielow, S. 35. 347 Müller/Christensen, Rn 509. 348 Bleek, S. 11. 349 Forsthoff (1976), S. 227. 350 Wimmer, S. 92. 351 Dazu Schäffer, S. 42 ff. 352 Blankenburg/Treiber, JZ 1982, S. 543 ff. 353 Böckenförde, (1991), S. 66 ff.

III. Beteiligte am Verfassungsinterpretationsvorgang

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Verfassungsrechts“, „Rechtsdogmatik und Präjudizien verflüchtigen sich“ nicht, der Begriff der Verfassungsauslegung verschwimme nicht ins Unfassbare und gehe damit als wissenschaftlicher Gegenstand nicht verloren.354 Ausgehend von Kriterien wie Zuständigkeit und Verbindlichkeit stellt Borowski fest, dass nur wer implizit oder explizit befugt ist, sei in der Lage, die Verfassung verbindlich auszulegen. Mithin könnten nur das BVerfG, der Gesetzgeber, die Fachgerichte und sonstige öffentliche Gewalt Subjekte der Verfassungsinterpretation sein; Auffassungen der Privaten und der Staatsrechtslehre gelten nicht als Interpretation, da ihnen „keine bindende oder autoritative Kraft“ zukommen würde.355 Blankenburg und Treiber sprechen von einer „relativ geschlossenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“356 ; nach ihnen würde eine soziologische Analyse des BVerfG zeigen, dass sie nur relativ offen sei und dass die Erwartung einer aufgeschlossenen Gesellschaft „teils unrealistisch, teils im Ansatz falsch“ sei. So gebe es „eine Gesellschaft der ,primären Verfassungsinterpreten‘, zu denen Mitglieder der ,forensischen Arbeitsgruppe‘ zählen, d. h. die Träger jener Rollen, in die sich die Fallbearbeitung vor Gericht ausdifferenziert hat. Dieser ,Kern‘ der ,primären Verfassungsinterpreten‘ ist beim BVerfG wie bei anderen Gerichten auch umgeben von einem ,Hof‘ der ,sekundären Verfassungsinterpreten‘, zu denen kommentierungsfreudige Praktiker, vor allem aber die Rechtslehrer an den Universitäten zählen. Die Rechtslehrer übernehmen mit ihrer Kommentierungsarbeit eine wichtige Funktion: sie entdramatisieren den Fall“357. Für den österreichischen Sektor der Doktrin bestehe nicht nur ein geschlossener Kreis der Verfassungsinterpreten, sondern sogar eine gewisse Rangstufe. Den ersten Rang nehme der Verfassungsgerichtshof ein, an zweiter Stelle stehe der Verfassungsdienst, an dritter Stelle sei die Doktrin und auf der letzten Rangstufe würden die sonstigen Verfassungsorgane sein. Damit sei „die Liste der Mitglieder der Gesellschaft der Verfassungsinterpreten auch schon erschöpft. Bürger und Intellektuelle reden bei ihrer Auslegung nicht mit“358.

354

Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 271 Rn. 28. Borowski, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 274 Rn. 45: „Private können den interpretativen Standpunkt einnehmen. Den von ihnen vorgeschlagenen Verfassungsinterpretationen kommt aber keine bindende oder autoritative Kraft zu.“ „Trotz ihrer enormen Bedeutung für das Verständnis und die Pflege des Verfassungsrechts ist der Einfluß der Staatsrechtslehre grundsätzlich mittelbarer Art, da sie niemals selbst rechtsetzend tätig werden oder mit normativem Verbindlichkeitsanspruch das Recht interpretieren kann“. 356 Blankenburg/Treiber, JZ 1982, S. 543. 357 Blankenburg/Treiber, JZ 1982, S. 543, 547. 358 Wiederin, in: Lienbacher (Hrsg.), Verfassungsinterpretation in Europa, S. 81, 94 ff. 355

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

2. Häberle und die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten bildet eine Lehre Häberles aus dem Jahre 1975.359 Bis dahin war die Lehre der Verfassungsauslegung unvollkommen geblieben.360 Die Dogmatik hatte nicht über das Problem der Interpreten der Verfassung theorisiert,361 sondern sie hatte sich nur üblicherweise auf die Frage der Aufgaben, Ziele und Methoden der Verfassungsinterpretation begrenzt.362 Der gleichnamige Aufsatz handelt von einer pluralistischen Theorie der Subjekte, die sich am öffentlichen Prozess der Verfassungsinterpretation beteiligen. Freilich wäre es ein großer Irrtum zu glauben, dass dieser Beitrag „inhaltlich weniger methodologische Fragen als vielmehr die Vielfalt der Subjekte“ behandelt, „die am Prozeß der Verfassungskonkretisierung teilhaben“363. In Wahrheit zeigt Häberle auch, wie sich die Theorie der Verfassungsinterpreten mit den Zielen, Aufgaben und Methoden der Deutung der Verfassung verknüpft. Seine Überlegungen zu den Interpreten der Verfassung werden ständig mit einer Reihe von spezifischen methodologischen Ausführungen ergänzt. Insofern geht es um eine pluralistische und demokratische Lehre der Verfassungsinterpretation, die sich folglich auf die Subjekte, Ziele, Aufgaben und Methoden der Auslegung der Verfassung gründet. a) Ausgangsthese „In die Prozesse der Verfassungsinterpretation sind potentiell alle Staatsorgane, alle öffentlichen Potenzen, alle Bürger und Gruppen eingeschaltet. Es gibt keinen numerus clausus der Verfassungsinterpreten!“, denn „wer die Norm ,lebt‘, interpretiert sie auch (mit)“364. Diese Worte Häberles bilden den Kern seiner berühmten 359

Häberle, JZ 1975, S. 297 ff.; Schulze-Fielitz (2013), S. 236. Gewiss sind ja Ziele und Methoden wesentliche Fragen der Verfassungsinterpretationslehre, jedoch nicht die einzigen. 361 Fast vier Jahrzehnte nach dem Erscheinen des Beitrags von Häberle beinhaltet endlich das Handbuch des Staatsrechts, das Isensee und Kirchhof herausgegeben haben, einen eigenen Beitrag über die Subjekte der Verfassungsinterpretation, vgl. Borowski, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 274. 362 Hinsichtlich des Subjekts der Interpretation in der allgemeinen Rechtslehre, s. Alexy, S. 74. Subjekte der Interpretation seien – nach ihm – der Gesetzgeber und die Rechtsprechung durch die authentische Interpretation; die Rechtswissenschaft durch die Doktrinalinterpretation; die Bürger durch die Laieninterpretation und das Gewohnheitsrecht durch die Usualinterpretation. Nur die Interpretation des Gesetzgebers und der Rechtsprechung würden „institutionellen Charakter“ haben und dies erkläre „die besondere Rolle der richterlichen oder gerichtlichen Interpretation“. 363 Etwa Dreier, in: Dreier/Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, S. 13, 47 Anm. 151. 364 Häberle (2013), S. 264; kritisch Roellecke, in: FG aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des BVerfG, Bd. II, S. 22, 49. Jüngst spricht Ladeur (2006), S. 367, von einem „Interpretationsnetzwerk“. 360

III. Beteiligte am Verfassungsinterpretationsvorgang

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und pionierhaften Lehre der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, die er vor vier Jahrzehnten entwickelte.365 Mit dieser Auffassung öffnet er ein neues wissenschaftliches Feld für die Behandlung der Verfassungsinterpretationslehre, was im Folgenden deutlich wird. b) Verfassungswirklichkeit und Verfassungsauslegung Als Erbe der konstitutionellen Monarchie erschienen Verfassung und Wirklichkeit als dichotomisch; die geschriebene Verfassung würde sich einerseits gegenüber der Wirklichkeit als macht- und kraftlos entpuppen, die Wirklichkeit bzw. das factum brutum der politischen Faktizität andererseits als geist- und prinzipienlos.366 Eine solche Ansicht ist heute nicht nur anachronistisch, sondern auch unhaltbar. Verfassung und Wirklichkeit können nicht isoliert, getrennt367 oder als notwendige Gegensätze368 gesehen werden.369 Die Verfassung „hat kein eigenes, von der Wirklichkeit unabhängiges Sein“370 – was aber nicht bedeutet, dass sie bloße Deskription der tatsächlichen Machtverständnisse ist –371 und „vermöge ihres normativen Elements ordnet und gestaltet sie ihrerseits die politische und soziale Wirklichkeit“372. So verstanden kann ein Wandel der Wirklichkeit die Auslegung der Verfassung maßgeblich affizieren.373 Wenn in der Wirklichkeit neue politische, soziale, ökonomische Probleme auftauchen oder bestehende Konstellationen in neuem Licht erscheinen, ergeben sich zugleich für die Verfassungsinterpretation neue Herausforderungen – „die Wirklichkeit fragt, das Recht antwortet“374. Mit anderen Worten: In der Auslegung vermag sich das Grundgesetz dem Wandel der Gegebenheiten anzupassen und auf neue Fragen angemessen zu antworten, so verwirklicht und erneuert sich die Verfassung durch Interpretation.375 Der Verfassungsinterpret seinerseits hat sich auf die Wirklichkeit zu beziehen und sich offen für Neuentwicklungen zu halten.376 365

Häberle, JZ 1975, S. 297 ff. Hennis (2000), S. 183 ff. 367 Heller, S. 250: „So wenig Dynamik und Statik, so wenig dürfen Normalität und Normativität, Sein und Sollen im Begriff der Verfassung völlig getrennt gedacht werden“. 368 Doehring, S. 24. 369 Die Zusammenschau von Verfassung und Wirklichkeit besagt weder die Kapitulation der Verfassung als Norm vor der Kraft des Faktischen noch die passive Beschreibung der Verfassungswirklichkeit als faktisches Ergebnis der Effektuierung der Verfassung, vgl. Wimmer, S. 15. 370 Hesse (1959), S. 8. 371 Bryde, S. 35. 372 Hesse (1959), S. 16. 373 Leibholz (1974), S. 278. 374 Maurer, S. 27 Rn. 74. 375 Isensee/Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, S. VII. 376 Morlok/Michael, S. 61 Rn. 38. 366

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

Man sagt zu Recht, dass sich jedes Problem der Verfassungsinterpretation hauptsächlich aus der Wirklichkeit ergibt und alle Interpretation der Verfassung im Feld von Norm und Wirklichkeit geschieht.377 Daher überrascht es nicht, dass Häberle seine These mit dem Hinweis auf einen wichtigen Teilaspekt des Problems Verfassungsrecht-Verfassungswirklichkeit verbindet,378 weil die Interpretationstheorien in besonderer Weise die Wirklichkeit thematisieren, „aber auch die Grenzen dieses Wirkens der Wirklichkeit auf die Auslegung der Rechtsnormen“379. Aus dieser These leiten sich nicht nur methodologische Fragen der Verfassungsauslegung her, sondern auch wichtige Konsequenzen für das konkrete Problem der Subjekte der Interpretation, das nur aus einer realistischen, soziologischen und erfahrungswissenschaftlichen Betrachtung bestimmt werden kann.380 Schon Ehmke hatte im Rahmen der Prinzipien der Verfassungsinterpretation von Vernünftig- und GerechtDenkenden gesprochen;381 zu den ersteren würden vor allem die Rechtslehrer und die Richter gehören, zu den zweiten gehöre das ganze Gemeinwesen. Aber am Verfassungsinterpretationsprozess beteiligen sich nicht nur die Vernünftig- und GerechtDenkenden, sondern auch die Vernünftig- und Gerecht-Handelnden.382 In der Wirklichkeit bemerkt Häberle so einen sehr weiten, pluralistischen, oft diffusen Kreis der Verfassungsinterpreten.383 Betrachtet man eingehend den interpretatorischen Vorgang der Verfassung, so springt unverzüglich ins Auge, dass das BVerfG nicht der einzige Interpret des Grundgesetzes ist, sondern nur einer von mehreren.384 Auf diese Weise lässt sich von einem numerus apertus der Interpreten des Grundgesetzes sprechen.385 Einerseits bestätigt der offene Kreis der Verfassungsinterpreten die Offenheit und den Pluralismus der Gesellschaft; andererseits spiegeln sich diese offenbar in der Frage der Interpreten der Verfassung. Habermas, der Häberles These bestätigte, verankert so die Verfassungsinterpretation in einer Vielfältigkeit von Interpreten statt „im Persönlichkeitsideal eines Richters, der sich durch Tugend und privilegierten Zugang zur Wahrheit auszeichnet“386. Eine geschlossene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten gefährdet sowohl die Offenheit als auch die Öffentlichkeit der Gesellschaft

377

Zum Problem der Verfassung und Wirklichkeit, s. Hennis (1973), S. 53 ff. Yersin, JA 1975, ÖR, S. 129. 379 Häberle (1998), S. 34. 380 Häberle (2013), S. 268. 381 Ehmke, VVDStRL 20/1963, S. 53, 71 f. 382 Häberle (2013), S. 264 Anm. 28. 383 Häberle (2013), S. 264 Anm. 28. 384 Häberle (2013), S. 281: „Der Verfassungsrichter interpretiert schon im Verfassungsprozess nicht ,allein‘: mehrere sind am Verfahren beteiligt, die Verfahrensbeteiligungsformen dehnen sich aus“. 385 Heuschling, in: Lienbacher (Hrsg.), Verfassungsinterpretation in Europa, S. 37, 41, spricht zu Recht von einer „Vielzahl der Verfassungsinterpreten“. 386 Habermas (1994), S. 274. 378

III. Beteiligte am Verfassungsinterpretationsvorgang

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als demokratische Strukturprinzipien.387 Der Kreis der Interpreten muss insofern möglichst so offen sein, wie die Gesellschaft selbst pluralistisch ist. c) Relativierung und Personalisierung der Verfassungsinterpretation Mit der Theorie der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten erfährt der Begriff der juristischen Interpretation selbst eine bedeutende Veränderung. Zunächst einmal ist von einem Interpretationsmonopol des BVerfG nicht mehr zu sprechen. Da die Verfassung einen offenen und öffentlichen Prozess bildet, dürften die Bürger – individuell oder in der Gruppe – in der Lage sein, die Verfassung pluralistisch und offen auszulegen. Mit Recht spricht Häberle von einer Relativierung der juristischen Auslegung, weil im Vorfeld der Verfassungsinterpretation der Richter potentiell alle öffentlichen pluralistischen Kräfte interpretieren; damit relativiert sich auch „der Begriff ,am Verfassungsprozess Beteiligte‘ in dem Maße, wie sich die Kreise der an der Verfassungsinterpretation Beteiligten erweitern“388. Denn an der Auslegung des Grundgesetzes wirken alle Akteure des Gemeinwesens mit: Staatsorgane und Bürger, Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, Wirtschaft und Gesellschaft.389 Im Wesentlichen handelt es sich um eine Einbindung im Vorgang der Interpretation der Verfassung aller „interpretatorischen Produktivkräfte“390. Zweitens verwirklicht sich die Verfassungsinterpretation als kein exklusiver staatlicher Vorgang. Dies besagt, da die Normen nicht als simpel, fertig vorgegeben verstanden werden können, bedürfen sie auch der Auslegung der konkreten Bürger und der Gruppen, die sich als Aktivkräfte des law in public action kennzeichnen lassen. In diesem Sinne hat Häberle für die Personalisierung und Pluralisierung der Verfassungsinterpretation argumentiert.391 Von hier an ist es nicht mehr möglich, die Deutung der Verfassung allein als amtlichen Prozess zu betrachten. Man kann dagegen sagen: „Es gibt keine Interpretation der Verfassung ohne die erwähnten Aktivbürger und öffentlichen Potenzen“392. Damit ist der Interpretationsbegriff als eine republikanische Lehre der Verfassungsinterpretation zu bezeichnen.

387 388 389 390 391 392

Bleek, S. 11. Häberle (2013), S. 281. Isensee/Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, S. VII. Häberle (2013), S. 265. Häberle (2013), S. 274. Häberle (2013), S. 265.

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

d) Stellung der Verfassungsinterpreten Um die systematisierende Zusammenstellung der an der Verfassungsauslegung Beteiligten deutlich zu machen, stellt Häberle ein „Tableau“ auf, das in vier Gruppen aufgeteilt ist:393 1. Die staatlichen Funktionen

a) In letztverbindlicher Entscheidung: das BVerfG (freilich durch das eigene Minderheitsvotum „relativiert“ und eben dadurch „offen“) b) Vom GG zu verbindlicher, aber überprüfbarer Entscheidung aufgerufen: die Rechtsprechung, die Legislative, (je nach Sachbereich in unterschiedlichem Maße), die Exekutive, besonders bei der (Vor-) Formulierung öffentlicher Interessen

2. Die Verfahrensbeteiligten an 1. a) und b) a) Antragsteller und Antragsgegner, Beschwerdeführer (z. B. Verfassungsbeschwerde), Kläger und Beklagter, die ihr Vorbringen begründen und das Gericht zur Stellungnahme (zum „Rechtsgespräch“) zwingen b) sonstige Verfahrensbeteiligte, Äußerungsund Beitrittsberechtigte nach dem BVerfGG (z. B. §§ 77, 85 Abs. 2, 94 Abs. 1 bis 4 bzw. 65, 82 Abs. 2, 83 Abs. 2, 88, 94 Abs. 5), vom BVerfG „zugezogene“ (etwa § 82 Abs. 4 BVerfGG), jetzt neu § 27a BVerfGG c) Gutachter (z. B. in Enquete-Kommissionen, § 73 a GeschOBT – heute § 56a (1) GeschOBT) d) Sachverständige und Interessenvertreter in öffentlichen Anhörungssitzungen § 73 Abs. 3 GeschOBT (heute § 70 (1) Abs. 1 GeschOBT, § 40 Abs. 3 GeschOBR), Sachverständige im Gericht, Verbände (Anlage 1a – heute Anlage 2 GeschOBT: Registrierung von Verbänden und deren Vertretern), politische Parteien (Fraktionen – sie wirken speziell auch über den „langen Arm“ der Richterwahl ein) e) Lobbyisten, „Deputationen“ (§ 10 GeschOBReg.) f) Beteiligte in partizipatorisch ausgestalteten Verwaltungsverfahren

393

Häberle (2013), S. 268 ff.

III. Beteiligte am Verfassungsinterpretationsvorgang

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3. Die demokratische – pluralistische – Öffentlichkeit, der politische Prozess als „großer Anreger“

Medien (Presse, Rundfunk, Fernsehen) – die nicht im engeren Sinne verfahrensbeteiligt sind, professioneller Journalismus einerseits, Lesererwartungen, Leserbriefe andererseits, Bürgerinitiativen, Verbände, politische Parteien außerhalb ihrer organisatorischen Beteiligung (vgl. 2. d), Kirchen, Theater, Verlage, Volkshochschulen, Pädagogen, Elternvereine

4. Die Verfassungslehre

(in noch zu klärender Weise zwischen 1., 2., 3. einzuordnen) die Verfassungsrechtslehre hat eine Sonderstellung der anderen Kräfte thematisiert, selbst aber auch auf verschiedenen Ebenen beteiligt ist

aa) Das BVerfG – kein interpretatorisches Monopol, kein letztes Wort Die Existenz einer Verfassungsgerichtsbarkeit hat qualitative Auswirkungen auf die Deutung der Verfassung; in der „Sache Verfassungsinterpretation“ hat sie eine Führungsstellung.394 Freilich übertreibt Vorländer, wenn er betont: „Das BVerfG ,verkörpert‘ die Verfassung, ihren Wandel und ihre Interpretationsnotwendigkeit“395. Häberle stellt dagegen zutreffend fest, dass die Auslegung der Verfassung „weder theoretisch noch praktisch ,exklusiver‘ staatlicher Vorgang“ ist.396 Die besondere Position des BVerfG bei der Deutung des Grundgesetzes steht nicht in Widerspruch zur offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. Das Grundgesetz enthält buchstäblich keine ausschließende interpretatorische Vorbehaltsklausel zugunsten des BVerfG,397 was jedoch nicht mit seinen ausschließenden Kompetenzen des Art. 93 GG verwechselt werden darf. Entscheidungsmonopol bedeutet kein Interpretationsmonopol. Das BVerfG ist zur autoritativen Entscheidung über die konkrete verfassungsrechtliche Streitigkeit berufen, aber nicht zur alleinig authentischen Interpretation der streitentscheidenden Normen.398 Schon die „Streitparteien“ machen in ihren Schriftsätzen Interpretationsangebote, die die Interpretation durch das Gericht notwendig beeinflussen. Im demokratischen und pluralistischen Verfas394

Häberle (2014), S. 27. Vorländer, in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 189, 195. 396 Häberle (2013), S. 268 ff. 397 Burkiczak, in: Burkiczak u. a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 1 Rn. 19. 398 Jestaedt (1999), S. 372; Scheuner, DÖV 1980, S. 473, 477; anders Böckenförde, in: Guggenberger/Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, S. 44, 54: Die Kompetenz zur Verfassungsinterpretation liegt „in der Bundesrepublik letztlich und authentisch beim Bundesverfassungsgericht“. 395

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sungsstaat gibt es kein Verbot, damit alle die Verfassung auslegen können.399 „Formell gesehen hat der Verfassungsrichter das letzte Wort, materiell gesehen haben alle das Wort, weder das Bundesverfassungsgericht noch der Gesetzgeber usw. haben ,an und für sich‘ das letzte Wort“400. Selbst innerhalb des BVerfG ist die letztverbindliche Verfassungsauslegung durch abweichende Meinungen relativiert und sie bleibt dadurch für interpretatorische Neuentwicklungen offen. bb) Die anderen staatlichen Funktionen Andererseits ist es zweckmäßig zu betonen, dass das BVerfG in der Aufgabe der Verfassungsinterpretation nicht allein steht. Es übernimmt die Verantwortung der Interpretation neben anderen staatlichen Funktionen. Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung leisten Verfassungsinterpretation und tragen entsprechende Verantwortung; Häberle spricht deshalb von einer „Gesamtverantwortung“401. Die Funktion der Gesetzgebung ist größer als die eines bloß die Verfassung vollziehenden Organs,402 denn jedes Gesetz stellt im Grunde eine Auslegung der Verfassung dar, sei es, dass es sich mit der Verfassung im Einklang hält, sei es, dass es sich als von der Verfassung gefordert versteht.403 In einem weiteren Sinne lässt sich die Gesetzgebung aus diesem Grund auch als Verfassungsauslegung verstehen, freilich mit dem Risiko behaftet, dass eine Interpretation des Gesetzgebers nicht zwangsläufig die Anerkennung oder Bestätigung des BVerfG finden könnte.404 Gleichwohl, da es in der Verfassungsinterpretation als offener und öffentlicher Prozess keinen ersten oder letzten Interpreten,405 keinen Erst- und Zweitinterpreten406 des Grundgesetzes gibt,407 399

Schneider, in: Schneider/Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst, S. 39, 46. 400 Häberle (2014), S. 27 f. 401 Häberle (2014), S. 27. 402 Scheuner, VVDStRL 20/1963, S. 125. 403 Ehmke, VVDStRL 20/1963, S. 53, 68 f. 404 Scheuner, VVDStRL 20/1963, S. 125; Lange, S. 215: „Nach dem Modell einer konkurrentiellen Interpretation kommt anderen Verfassungsorganen, insbesondere dem Gesetzgeber, eine Mitverantwortung für die Verfassungsinterpretation zu“. Nach G. Jellinek (1906), S. 9, interpretiert der Gesetzgeber die Verfassung durch Einzelgesetze. 405 Trotzdem spricht Bickenbach, S. 282, vom Gesetzgeber als „Erst-“ und vom BVerfG als „Letztinterpret“ der Verfassung; ähnlich Kreuter-Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 272 Rn. 52 ff.; Jestaedt (1999), S. 378. 406 Eindringlich Häberle (2013), S. 306. 407 Laut Kirchhof, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 5, 16: „Der Gesetzgeber ist von Verfassungs [sic] wegen der Erstinterpret des Grundgesetzes, die Rechtsprechung ihr Zweitinterpret“. Seinerseits meint Borowski, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 274 Rn. 35, wenn „der Gesetzgeber als ,gestaltender Erstinterpret‘ der Verfassung bezeichnet wird, so ist daran zunächst richtig, daß die Verfassungsinterpretation durch den Gesetzgeber chronologisch vor der kontrollierenden Zweitinterpretation des Bundesverfassungsgerichts erfolgt. Insoweit die Bezeichnung als ,gestaltende Erstinterpretation‘ auch ausdrücken soll, daß die Interpretation durch den Gesetzgeber etwas

III. Beteiligte am Verfassungsinterpretationsvorgang

177

täte das BVerfG gut daran, die Auslegung der Gesetzgebung nicht zu verschmähen. Es ist richtig zu behaupten, dass alle staatlichen Funktionen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Verfassung auslegen, sie beziehen sich in der Verfassungsinterpretation aufeinander. Dadurch besteht ein pluralistischer, demokratischer, wechselseitiger und ständiger Dialog, unbeschadet der qualitativ erheblichen Unterschiede, die im interpretatorischen Spielraum bestehen müssen.408 cc) Verfahrensbeteiligte an den Entscheidungen staatlicher Funktionen und demokratisch-pluralistische Öffentlichkeit Alle Beteiligten, die an den staatlichen Funktionen und Verfahren teilhaben, werden Interpreten der Verfassung im weiteren Sinne. Dies gilt nicht nur für das Verfassungsprozessrecht. Die Interpretation der Verfassung findet auch in anderen staatlichen Verfahren statt, etwa in der Gesetzgebung, der Regierung und der Verwaltung. Aus ihrer Stellung heraus dürfen die Verfahrensbeteiligten mögliche Interpretationsgesichtspunkte der Verfassung vorschlagen. Im Zuge einer offenen und pluralistischen Verfassungsauslegung geht es nicht um eine bloße und isolierte Partizipation der Verfahrensbeteiligten, sondern um eine kontinuierliche und entscheidende Teilhabe an der Deutung der Verfassung, die zur demokratischen Legitimation und Transparenz der staatlichen Entscheidungen einen Beitrag leistet. Von Neuem zeigen sich hier die Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess und der Katalog der Verfassungsinterpreten als immer geöffnet. Die demokratischpluralistische Öffentlichkeit ist der Kern der Häberle’schen Theorie der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. „Hier kommt es zu Bewegungen, zu Innovationen, zu Änderungen, aber auch zu ,Bekräftigungen‘, die mehr als nur ,objektives Material‘ für (spätere) Verfassungsinterpretation bilden“, in deren Rahmen, Medien – Presse, Rundfunk, Fernsehen -, Bürgerinitiativen, Verbände, politische Parteien, Kirchen, Volkshochschulen, Pädagogen, Elternvereine usw., „öffentliche Wirklichkeit geschaffen und oft unmerklich verändert wird“409. Die demokratischpluralistische Öffentlichkeit formuliert auch hier Gesichtspunkte vor, „sie setzt Entwicklungen in Gang, die auch dort verfassungsrelevant sind, wo der verfassungsrichterliche Interpret später sagt, es sei Sache des Gesetzgebers, im Rahmen der verfassungskonformen Alternativen so oder anders zu entscheiden“410.

Letztgültiges hat, trifft auch dies etwas Richtiges, denn das Bundesverfassungsgericht hat diese Interpretation ein Stück weit zu respektieren“. 408 Häberle (2013), S. 271. 409 Häberle (2013), S. 271. 410 Häberle (2013), S. 271 f.

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

dd) Die Verfassungsrechtswissenschaft Für Häberle erscheint die Verfassungsrechtswissenschaft „als wesentlicher Faktor und Aktivbeteiligter“ der Verfassungsinterpretation411. Ihre Sonderstellung liegt darin, dass sie die Beteiligung der anderen pluralistischen Kräfte thematisiert und sie selbst auf verschiedenen Ebenen beteiligt ist.412 Die kritische Begleitung der Verfassungsauslegung des BVerfG ist nur eine Seite der Rolle der Verfassungsrechtswissenschaft.413 Diese trägt pluralistisch weitaus mehr dazu bei, wenn sowohl „neue“ Interpretationsmöglichkeiten der Verfassungsvorschriften als auch eigene Verfassungsauslegungsmethoden in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen vorgeschlagen werden.414 In diesem Sinne haben die Verfassungsrechtswissenschaft und die Verfassungsjuristen in der Gegenwart einen besonderen Auftrag und eine große Verantwortung in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten.415 Da sie zu diesem pluralistischen Interpretationskreis gehören, sollten sie sich auch um eine authentische Demokratisierung der Verfassungsdeutung bemühen.416 Hier ist Häberle ein paradigmatisches Beispiel. e) Legitimation der Interpreten der Verfassung Begreift man die Verfassungsinterpretation als öffentlichen Prozess, so stellt sich unverzüglich die grundlegende Frage nach der verfassungsrechtlichen Legitimation der Interpreten der Verfassung. Hier nuanciert Häberle das Problem der Legitimation je nachdem, in welchem Ausmaß die Interpreten an die Verfassung gebunden sind, sodass sich die Legitimationsfrage „nur für alle „nicht ,formell‘, ,offiziell‘, ,kompetenzmäßig‘ zu Verfassungsinterpreten ,bestellten‘ Kräften“ stellt.417 Auch wenn politische Parteien, Gruppen und Bürger an die Verfassung gebunden sind, ist diese Verfassungsbindung in unterschiedlichem Maße und unterschiedlich unmittelbar,418 deshalb „scheint einem geringeren Maß an Bindung zunächst auch ein geringeres

411

Häberle (2013), S. 270. Häberle (2013), S. 272; Yersin, JA 1975, ÖR, S. 129, 130. 413 Zum Verhältnis von Staatsrechtslehre und BVerfG, s. Oppermann, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, S. 421 ff.; Jestaedt, in: Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, S. 77, 124 ff. 414 Etwa Ehmke und Schneider, VVDStRL 20/1963. 415 Häberle (2010), S. 13. 416 „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten lebt von (und in) vielen Arten von ,Kommentierungen‘ und von vielen Personen als Interpreten“, vgl. Häberle, in: Häberle/Kilian/ Wolff (Hrsg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, S. 893, 905. 417 Häberle (2013), S. 272 f. Formelle Kompetenzen haben etwa die Staatsorgane – Art. 20 Abs. 2, 3 GG – und Ämter, die an die Verfassung gebunden sind und die in einem vorgeschriebenen Prozess vollziehen sollen, aber auch die Abgeordneten – Art. 38 Abs. 1 GG. 418 Meist, nach Häberle (2013), S. 273, „nur auf dem Umweg über die – sanktionierende – Staatsgewalt“. 412

III. Beteiligte am Verfassungsinterpretationsvorgang

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Maß an Legitimation zu entsprechen“419. Bei den zuletzt genannten Verfassungsinterpreten unterscheidet man drei Arten von Legitimation: Legitimation aus Gesichtspunkten der Rechts-, Norm- und Interpretationstheorie, aus verfassungstheoretischen und zuletzt aus demokratietheoretischen Überlegungen. Aus dem ersten Blickwinkel behauptet Häberle, dass das Korrespondenzverhältnis von Bindung an die Verfassung und Legitimation zur Verfassungsinterpretation aber an Aussagekraft verliert, je mehr neuere Erkenntnisse der Interpretationslehre berücksichtigt werden. Die Überwindung der Subsumptionstheorie durch die Lehre der Interpretation als öffentlicher Prozess bietet stets Alternativen und neue Möglichkeiten. Dafür erscheinen die Theorie der Subsumption und ihr enger Spielraum als unzureichend.420 Da die Verfassungsinterpretation keine passive Unterwerfung, kein Befehlsempfang, sondern ein offener Prozess ist, wird Bindung „zur Freiheit in dem Maße, wie das neuere Interpretationsverständnis die Subsumptionsideologie widerlegt hat“421. Offen ist auch der Kreis der Verfassungsinterpreten, die Konsequenz der allseits befürworteten Einbeziehung der Wirklichkeit in den Interpretationsprozess;422 sie konstituieren „ein Stück dieser pluralistischen Wirklichkeit“423. Diese ist ein basales Element der Verfassungsinterpretationslehre als öffentlicher Prozess. Etwa lässt sich nicht kaschieren, dass die Richter in der Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung interpretieren und sie gleichzeitig den Beeinflussungen, Erwartungen und sozialen Zwängen ausgesetzt sind; solche Einflussnahmen auf die Richter bilden indes keine Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit, stattdessen enthalten sie auch „ein Stück Legitimation und verhindern eine Beliebigkeit richterlicher Auslegung“424. Daher hat hier die Einheit der Verfassung bessere Chancen für ihre Verwirklichung, weil die Einheit niemals verordnet sein kann, sondern Ergebnis „der ,Bündelung‘ der Verfahren und Funktionen vieler Verfassungsinterpreten“425 ist. Auch die vermeintliche Gefahr einer Auflösung der Verfassungsinterpretation verschwindet hier. Aus der Verfassungstheorie liegt die Legitimation der politischen Parteien, Gruppen und Bürger in der Tatsache, dass diese pluralistischen Kräfte ein Stück

419 420

125 f. 421

Häberle (2013), S. 273. Hase, in: Hase/Ladeur, Verfassungsgerichtsbarkeit und politisches System, S. 103,

Häberle (2013), S. 273. Für Häberle (2013), S. 274, wird jeder Interpret von der Theorie und Praxis angeleitet, diese Praxis aber wird wesentlich gerade nicht nur von den „offiziellen“ Verfassungsinterpreten gestaltet. 423 Häberle (2013), S. 274. 424 Häberle (2013), S. 274: „Die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit ist nur erträglich, weil andere Staatsfunktionen und die pluralistische Öffentlichkeit Material ,zum‘ Gesetz liefern“. 425 Häberle (2013), S. 274. 422

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung selbst sind.426 Die offene Verfassung, die sich im Spannungsfeld des Möglichen, Wirklichen und Notwendigen entwickelt, erlaubt die mindestens mittelbare Einbeziehung der res publica in den Vorgang der Verfassungsinterpretation; selbst die Bereiche des Privaten werden nicht als Objekte, sondern als Subjekte einbezogen. So schließt man alle pluralistischen Kräfte ein, die tatsächlich für die Verfassungsauslegung Relevanz haben.427 „Da diese Kräfte ein Stück konstitutioneller Wirklichkeit und Öffentlichkeit begründen, haben sie auch teil an der Interpretation der Wirklichkeit und Öffentlichkeit der Verfassung“428. Die Legitimation der nicht staatlichen Interpreten der Verfassung liegt ferner in der Tatsache, dass die Phantasie und Schöpferkraft der „nicht-zünftigen“ Interpreten die Verfassungsauslegung bereichern; wenn sich diese dagegen auf die „zunftmäßigen“, funktionell-rechtlich ausgewiesenen staatlichen Interpreten beschränkt, hieße die Verfassungsinterpretation Verarmung oder Selbstenttäuschung.429 Häberle befasst sich ferner besonders mit der Legitimation der Verfassungsrechtswissenschaft. Er erkennt auf dem Weg des Art. 5 Abs. 3 GG, dass sie vor allem eine Katalysatorfunktion habe und auf alle Bereiche der Verfassungsinterpretation einwirken würde; um ihre Beiträge kritisieren und angemessen beurteilen zu können, müssen sie zugänglich sein.430 Nach der traditionellen Theorie der Demokratie haben weder die Verfassungsrechtswissenschaft noch die Bürger noch die Gruppen die Legitimation zur Deutung der Verfassung. Häberle entfernt sich von dieser Auffassung, denn die Demokratie entfaltet sich nicht nur in formalisierten Verfahren und durch die Staatsorgane, sondern auch durch die offene Gesellschaft. Die demokratische Legitimation liegt auch in „den ,feineren‘ mediatisierten Formen des pluralistischen öffentlichen Prozesses täglicher Politik und Praxis, insbesondere in der Grundrechtsverwirklichung“, und durch „das wissenschaftliche ,Konzert‘ über Verfassungsfragen, in dem es kaum ,Pausen‘ und ,Fermaten‘ und keine Dirigenten gibt und geben darf“431. Man geht von der Idee des „Volks“ nicht als einheitliche und nur am Wahltag emanierende Größe, sondern als pluralistische Größe aus, die nicht minder im Vorgang der Verfassungsinterpretation – als politische Partei, als wissenschaftliche Meinung, als Interessengruppe, als Bürger (Art. 33 Abs. 1 GG) – präsent und legitimierend ist. In diesem Sinne ist die Verfassungsinterpretation ein Ausdruck der Demokratie, da sie 426

In der Wirklichkeit und Öffentlichkeit der Verfassung wirkt das „Volk“ im Ausgangspunkt diffus, im Endpunkt aber konzertiert, „die Praxis wird hier zur Legitimierung der Theorie, nicht nur umgekehrt“, vgl. Häberle (2013), S. 276. 427 Sogar die vom BVerfG zu verbietenden und dann etwa verbotenen politischen Parteien haben etwas zu sagen, gerade „diese zwingen zur Reflexion über den Verfassungsinhalt und beeinflussen durch ihre Existenz die Entwicklung des Selbstverständnisses des freiheitlichdemokratischen Gemeinwesens“, vgl. Häberle (2013), S. 276. 428 Häberle (2013), S. 276. 429 Häberle (2013), S. 276. 430 Häberle (2013), S. 277. 431 Häberle (2013), S. 277 f.

III. Beteiligte am Verfassungsinterpretationsvorgang

181

„zu einem Stück Bürgerdemokratie durch die interpretatorische Entwicklung der Verfassungsnorm“ wird.432 Über die Ausübung des Wahlrechts (Art. 38 Abs. 2 GG) und die Teilnahme an Volksabstimmungen (Art. 29 Abs. 2 ff.) nehmen Bürger und Bürgerin an der Verwirklichung der Verfassung teil, sofern bestimmte Anforderungen – etwa Lebensalter – erfüllt sind. Daher kann nicht jeder an dieser politischen Willensbildung teilhaben. Hingegen ist der Vorgang der Verfassungsinterpretation demokratischer als die Instrumente der sogenannten direkten Demokratie, weil jeder die Verfassung frei und ungehindert deuten kann. Hier ist eine Verbindung zwischen Demokratietheorie und Interpretationslehre wahrnehmbar.433 f) Folgen der Häberle’schen Theorie für die Verfassungsauslegung Häberles Theorie der Verfassungsinterpretation hat wichtige Auswirkungen nicht nur auf die Subjekte der Auslegung, sondern auch auf das Ausmaß und die Intensität der richterlichen Kontrolle und die Ausgestaltung und Handhabung des Verfassungsprozessrechts. Hinsichtlich der Subjekte der Interpretation ist offenbar, dass sich der „Interpretationsradius der Norm erweitert“ dank aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft. Im von trial und error charakterisierten Prozess der Rechtsfindung sind sie wesentliche Beteiligte; insofern interpretieren Verfassungsrichter das Grundgesetz nicht allein und der Verfassungsjurist ist nur „ein Zwischenträger“434. Die verschiedenen Interpreten handeln sowohl im Vorfeld der juristischen Verfassungsinterpretation als auch im Verfassungsprozessrecht selbst durch die vielfältigen Formen der Beteiligung. Sogar im Vorfeld der Interpretation der Verfassung lebt das materielle Verfassungsrecht „ohne Verfassungsinterpretation durch den Richter“, sodass auch das Verfassungsprozessrecht nicht der „einzige Zugang zu den Verfahren der Verfassungsinterpretation“ ist.435 Darüber hinaus spielen Prinzipien und Methoden der Verfassungsinterpretation eine neue Rolle. Auf der einen Seite sind sie „Filter“ der normierenden Kraft der Öffentlichkeit, auf der anderen disziplinieren und kanalisieren sie die unterschiedlichen Formen der Einwirkung aller Beteiligten.436 Hinsichtlich Ausmaß und Intensität der richterlichen Kontrolle konzentriert sich Häberle natürlich auf die Tätigkeit des BVerfG. Sein Ausgangspunkt ist: „Ein Gericht wie das BVerfG, das die Verfassungsinterpretation einer anderen Stelle überprüft, soll verschiedene Methoden anwenden, je nachdem, wer bei der ersten (zu

432 433 434 435 436

Häberle (2013), S. 278. Häberle (2013), S. 280. Häberle (2013), S. 281. Häberle (2013), S. 276. Häberle (2013), S. 282.

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

überprüfenden) Interpretation beteiligt war“437. Man unterscheidet zwischen Gesetzen, denen die Öffentlichkeit großes Interesse entgegenbringt, die ständig in der öffentlichen Auseinandersetzung stehen, die unter weitgehender Beteiligung und unter der wachen Kontrolle der pluralistischen Öffentlichkeit zustande gekommen sind, und Gesetzen, die weniger in der öffentlichen Diskussion stehen, weil sie scheinbar uninteressant oder schon vergessen sind.438 Nach Häberle müssen die ersteren Gesetze nicht so intensiv überprüft werden, weil besonders viele am demokratischen und pluralistischen Verfahren der Verfassungsinterpretation beteiligt waren. Im Gegensatz dazu sollte die richterliche Kontrolle streng sein, wenn es um Gesetze der zweiten Gruppe geht, d. h. diejenigen Gesetze, die zu großer Kontroverse oder starkem Dissens geführt haben.439 Daher lautet Häberles Regel: Je mehr ein Gesetz nicht öffentlich, pluralistisch und demokratisch interpretiert worden ist, desto strenger soll die verfassungsrechtliche Überprüfung des Gesetzes sein.440 Schließlich sollte das BVerfG die „faire Beteiligung verschiedener Gruppen bei den Verfassungsinterpretationen auch insofern überwachen“441, bei seiner Entscheidung muss es auch der Interpretation der Nichtbeteiligten Rechnung tragen (Stichwort: minderheitenschutzrechtlicher Aspekt). Nicht weniger bedeutend sind die Folgen für die Ausgestaltung und Handhabung des Verfassungsprozessrechts. Zum einen lassen sich die Informationsinstrumente des Verfassungsrichters erweitern und verfeinern.442 Zu diesem Zweck müssen neue Formen der Partizipation der pluralistischen öffentlichen Potenzen als Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne entwickelt werden.443 Es geht um eine biegsame Handhabung und Ausgestaltung des Verfassungsprozessrechts. Da das Verfassungsprozessrecht in enger Beziehung zum Verfassungsrecht steht, verliert es seine bloße prozessuale Eigenart, um „ein Stück demokratisches Partizipationsrecht“ zu werden.444 Es wäre aber unvermeidlich, dass eine Ausdehnung der verfassungsrichterlichen Tätigkeit des BVerfG eine Beschränkung des Interpretationsspielraums der Gesetzgeber verursachen würde. Deshalb plädiert Häberle für eine optimale gesetzgeberische Ausgestaltung und eine interpretatorische Verfeinerung des Verfassungsprozessrechts, damit sei die demokratietheoretische Legitimation der Verfassungsrechtsprechung in der Realität genügend abgesichert.445 437

Häberle (2013), S. 283, 284: „Die Intensität verfassungsrechtlicher Kontrolle ist variabel, je nachdem welche Partizipationsformen möglich sind oder waren“. 438 Häberle (2013), S. 283 f. 439 Häberle (2013), S. 284. 440 Häberle (2013), S. 284: „Ein Minus an faktischer Partizipation führt zu einem Plus an verfassungsrichterlicher Kontrolle“; kritisch Ossenbühl, in: FG aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des BVerfG, Bd. I, S. 458, 510 f.; ders., DÖV 1977, S. 801, 809 Anm. 47. 441 Häberle (2013), S. 284. 442 Häberle (2013), S. 284 f. 443 Häberle (2013), S. 285. 444 Häberle (2013), S. 285. 445 Häberle (2013), S. 286.

III. Beteiligte am Verfassungsinterpretationsvorgang

183

g) Europäische offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten Eine Übertragung der Theorie der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten in Europa hält man für möglich.446 Eine solche ist auch wichtig, denn nationale Verfassungsgerichte und internationale Gerichte sind heutzutage wesentliche Teile einer „universellen Gerichtsbarkeit“, die vor allem auf der universellen Gültigkeit der Menschenwürde und den Menschenrechten basiert. Dies spiegelt sich z. B. in der Europarechts-447 und Menschenrechtsfreundlichkeit als Verfassungsinterpretationsprinzipien wider.448 Auch in Europa gibt es „eine Vielzahl von Akteuren, die an der Interpretation des Unionsrechts beteiligt sind“449. Häberle bietet einen formalen und materialen Katalog der europäischen offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten an. Aus einer formellen Ansicht sind Beteiligte an der europäischen Verfassungsauslegung450 das EuGH und der EGMR,451 nationale Verfassungsgerichte der EU-Mitgliedsländer mit den sich öffnenden und wegen der Beitrittsbedingungen von Kopenhagen europäisierenden weiteren europäischen Staaten sowie die nationalen „Verfassungsgerichte“ der 47 Europarats- bzw. EMRK-Mitgliedsländer, sodann alle Gerichte dieses weiteren europäischen Raumes; wo wie in Straßburg am EGMR Sondervoten möglich sind, seien diese als potenzielle „Motoren“ der Verfassungsinterpretation einbezogen,452 zudem die europäischen Gesetzgeber in Straßburg bzw. Brüssel, die europäischen und nationalen Exekutiven, einschließlich des Ausschusses der Regionen (Art. 305 bis 307 AEUV) und der Bürgerbeauftragte gemäß Art. 228 AEUV. Unter materiellem Blickwinkel werden Verfassungsinterpreten des Europarechts die Bürger, politischen Parteien (Art. 10 Abs. 4 EUV), Verbände, Pluralgruppen, NGOs, Medien, Kirchen, Weltanschauungsgemeinschaften und die „offene Gesellschaft der europäischen Staatsrechtslehrer“453. Sie sind – wie Häberle sagt – wesentliche Teile der Zivilgesellschaft und bilden die europäische Öffentlichkeit.454 446

Häberle (2006), S. 247; ders. (2016), S. 114. Das Prinzip Europarechtsfreundlichkeit als Auslegungsprinzip bildet eine glückliche und wertvolle Rechtsschöpfung von Häberle; es wurde 2001/2002 vorgeschlagen, vgl. Häberle (2006), S. 93. 448 Häberle (2013), S. 291. 449 Griller, in: Lienbacher (Hrsg.), Verfassungsinterpretation in Europa, S. 115, 124. 450 Wertvolle Überlegungen zu Mechanismen der Konfliktvermeidung und Konfliktlösung zwischen nationalen Verfassungsgerichten und EuGH und EGMR finden sich in Oeter, VVDStRL 66/2007, S. 361, 381 ff. 451 Auch für die demokratische Legitimation internationaler Gerichte ist Häberles Theorie der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten wegweisend, wie zu Recht v. Bogdandy/ Venzke (2014), S. 217 Anm. 11, behaupten. Dieses Werk bestätigt ferner Häberles Theorien und Ideen, wie die Forderung nach Öffentlichkeit des Verfahrens, demokratische Wichtigkeit mündlicher Verhandlungen, Sondervoten, amicus curiae usw. 452 Häberle (2013), S. 291 f. 453 Dazu Schulze-Fielitz, DVBl 1994, S. 991 ff. 454 Häberle (2013), S. 292. 447

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F. Verfassungstheorie als verfassungsrechtliche Hermeneutik

Auch in diesem Bereich trägt die Theorie der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten zur demokratischen pluralistischen Legitimation des Europarechts bei. Darüber hinaus macht diese Theorie von Häberle den Weg frei für eine weltweite offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, die vor allem von einer „universalen Verfassungstheorie“ und der Verfassungsrechtsvergleichung ausgeht.455

IV. Zwischenergebnis Die von Häberle entwickelte Auslegungstheorie der Verfassung verlangt sowohl eine Offenheit der Ziele, Aufgaben, Methoden und des Interpretationsverfahrens selbst als auch eine Erweiterung des Kreises von Interpreten. Damit entfernt sich seine Theorie von der herkömmlichen Interpretationslehre. Spricht Häberle von der Verfassungstheorie als eigentliche verfassungsrechtliche Hermeneutik, so wird offenbar, dass er für eine Interpretationslehre plädiert, die mit dem Wesen und den Funktionen einer pluralistischen Verfassung vereinbar ist. Unter diesem Blickwinkel besagt hier „verfassungsrechtliche Hermeneutik“ etwas anderes als das bloße Ermittlungsverfahren eines Normtextes. Sie setzt wiederum „eine intensive und extensive prätorische Tätigkeit“ voraus, deshalb ist die Verfassungsinterpretation in einem solchen Maße auch für „ein Stück ,punktueller Verfassunggebung‘“ zu halten.456 Die Grundzüge der Häberle’schen verfassungsrechtlichen Hermeneutik lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: die Preisgabe der Identitätsthese von Recht und Gesetz; die Erkenntnis, dass die Unfertigkeit des Verfassungstextes kein Mangel ist; die Überwindung des Sein-Sollen Dualismus; das Vorverständnis und Nachverständnis als innewohnendes Element der Verfassungsinterpretation; die Verfassungsauslegung als kein passives, sondern als praktisches und gestaltendes Handeln; die relative Rationalität der Verfassungsinterpretation; die Existenz eines offenen Katalogs der Auslegungsmethoden; die Verfassungsinterpretation ist immer eine schöpferische Tätigkeit; die Inexistenz absoluter Richtigkeit der Verfassungsinterpretation; die Existenz pluralistischer Ziele und Aufgaben der Verfassungsinterpretation; die Einbindung aller als Interpreten der Verfassung. Verfassungsinterpretation ist vor allem problemorientierte Auslegung.

455 Häberle (2013), S. 6: „Der ,universalen‘ Verfassungslehre könnte es gelingen, aus einem Ensemble von nationalen Teilverfassungen und den Teilverfassungen des Völkerrechts zu entstehen. Alle Teilverfassungen wirken oft in osmotischen Vorgängen zusammen“; Häberle (2016), S. 34 ff. 456 Häberle (2014), S. 254.

G. Grundlagen des Verfassungsprozessrechts als Pluralismus- und Partizipationsrecht I. Stellung des Verfassungsprozessrechts in der Rechtswissenschaft 1. Juristische Natur des Verfassungsprozessrechts – Theorien Seitdem Häberle seine materielle Theorie des Verfassungsprozessrechts vorgestellt hat, gibt es in Deutschland eine unabgeschlossene Diskussion über das Problem der Fundamente des Verfassungsprozessrechts. Die zentrale Frage dieser Auseinandersetzung lautet: Hängt das Verfassungsprozessrecht von den sonstigen Prozessrechten ab oder bildet es eine eigenständige und materielle Prozessordnung? Die Antwort auf diese Frage hat wichtige Konsequenzen, nicht allein für das Verständnis der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern auch für die Stellung und Fundamente des Verfassungsprozessrechts und zudem für die Tätigkeit des BVerfG selbst.1 Umstritten ist in der Doktrin die Stellung des Verfassungsprozessrechts. Zum einem wird vertreten, dass das Verfassungsprozessrecht Bestandteil des allgemeinen Prozessrechts sei. Zum anderen erkennt man, das Verfassungsprozessrecht habe bestimmte Besonderheiten, trotzdem bleibt es im gesamten Verfahrensrecht eingebettet. Im Gegensatz zu solchen Theorien betont man auch die Eigenständigkeit des Verfassungsprozessrechts. Im Folgenden sollen diese Theorien analysiert werden.

1

In der Literatur findet man sowohl Kommentare zum BVerfGG (z. B. Burkiczak/Dollinger/Schorkopf (2015); Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, (Stand: Dezember, 2014); Umbach/Clemens/Dollinger (2005); Lechner/Zuck (2011); Lenz/Hansel (2013); Lechner (1973); Leibholz/Ruprecht (1968); Geiger (1952), als auch Lehr- und Handbücher zum Verfassungsprozessrecht, die sich hauptsächlich auf eine ausführliche Analyse der jeweiligen Artikel des GG, des BVerfGG oder auf die Kommentierung der Entscheidungen des BVerfG beschränken (etwa Schlaich/Korioth (2015); Fleury (2012); Benda/Klein/Klein (2012); Hillgruber/Goos (2015); Schmidt (2010); Gersdorf (2014); Sachs (2010); Robbers (2005); Pestalozza (1991); ders. (1976)). Die jüngsten Monografien befassen sich auch mit bestimmten Bereichen des Verfassungsprozessrechts (etwa Pohl (2005); Yang (2003); Seyfarth (1998); Ehlers (1998); Pieper (1998); Baumgarten (1996); Posser (1993); Warmke (1993); Hein (1988); Rühmann (1982)). Die verfassungsprozessualen Details werden häufig untersucht (vgl. Klein, AöR 1983, S. 410, 412. Jedoch wie Häberle, Vorwort, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. XI, XVII f., betont hat, gibt es bisher keine juristischen Überlegungen zu Stellung und Fundamenten des Verfassungsprozessrechts.

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G. Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht

a) Verfassungsprozessrecht als Bestandteil der allgemeinen Prozessrechtslehre Diese Theorie geht von der Prämisse der Einheit des Prozessrechts aus.2 Das Verfassungsprozessrecht, das „über die Grundlage des schon geltenden sonstigen Prozeßrechts entwickelt“ worden sei,3 ist daher als Teil des allgemeinen Prozessrechts gekennzeichnet. Als solches teile es mit sonstigen Prozessrechten seine Funktion und Aufgabe, Prinzipien und juristischen Begriffe.4 So vertreten Schlaich und Korioth die Idee, dass das Verfassungsprozessrecht wie jedes Prozessrecht eine dienende und stützende Funktion im Verhältnis zum materiellen Verfassungsrecht habe.5 Auch die Aufgabe des Verfassungsprozessrechts lasse sich nach dem Zivilprozessrecht beantworten.6 Die allgemeinen Grundsätze des Prozessrechts seien ebenso für das Verfassungsprozessrecht verbindlich, zumindest sei das BVerfG befugt, auf allgemeine Grundsätze und Vorschriften des sonstigen Prozessrechts zurückzugreifen bzw. darauf rechtsvergleichend Bezug zu nehmen7 – z. B. Regelungen zur Sitzungspolizei enthält das BVerfGG nicht, daher muss hierzu vollständig auf die §§ 176 bis 183 GVG zurückgreifen werden; die Prozesskostenhilfe wird im BVerfGG gar nicht angesprochen, das BVerfG bezieht sich dabei auf die Vorschriften der §§ 114 ff. ZPO; ebenso anerkannt ist die entsprechende Anwendung der §§ 221 ff. ZPO zu Fristen, usw.8 Selbst „einfache Dinge wie Rechtskraft und innerprozessuale Gebundenheit, Zwischenentscheidung und Prozessurteil, Antragsprinzip und amtswegiges Vorgehen, Neutralität und Befangenheit des Richters lassen sich nur durch einen Rückgriff auf die in den großen Kodifikationen niedergelegten Wertungen erfassen“, andernfalls: „Eine Befreiung des Verfassungsprozeßrechts vom prozessualen Denken wäre das Ende einer Gerichtsbarkeit in Verfassungssachen“9. Konsequenterweise sei die systematische Behandlung des Verfassungsprozessrechts „nur im Rahmen einer allgemeinen Verfahrenslehre sinnvoll“10. 2

Vgl. Schumann, JZ 1973, S. 484 ff.; Fröhlinger, S. 76 ff. Lechner, S. 167. 4 Dazu Hagen, S. 14 ff.; Sachs, BayVBl. 1979, S. 385 ff. 5 Schlaich/Korioth, Rn. 57; s. auch Papier, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, S. V: „Vor allem ist […] das Verfassungsprozessrecht in einer dienenden Funktion auf die Durchsetzung des materiellen Verfassungsrechts im jeweiligen Verfahren bezogen“. 6 Grunsky, S. 10 f. 7 Bethge, in: Maunz u. a. (Hrsg.), BVerfGG Kommentar, Bd. I, vor § 17 Rn. 13; Robbers, S. 4: „Die näheren Bestimmungen über Aufbau und Verfahren des BVerfG enthält das BVerfGG. Soweit in ihm keine Normierungen enthalten sind, kommen die allgemeinen Grundsätze des gerichtlichen Verfahrens zur Anwendung, wie sie insbesondere im GVG enthalten sind“. 8 Lenz/Hansel, § 17 Rn. 15 ff. 9 Schumann, JZ 1973, S. 484, 489. 10 Hagen, S. 9; Klein, AöR 1983, S. 410, 414: „Prozeßrecht ist stets auch Kompetenzrecht. Es weist hoheitliche Aufgaben zu und grenzt Funktionen voneinander ab. Es etabliert eine Funktionenordnung innerhalb der Judikative, regelt aber auch das Verhältnis zwischen den 3

I. Stellung des Verfassungsprozessrechts in der Rechtswissenschaft

187

b) These der Eigenart des Verfassungsprozessrechts Diese These besagt, dass sich das Verfassungsprozessrecht, trotz seiner spezifischen Besonderheiten, in die allgemeine Prozessrechtslehre einordnet. So stellt Stern beispielsweise fest, das „Verfassungsprozessrecht muß […] in das allgemeine Prozeßrecht eingebettet bleiben. Richtig ist jedoch, daß jede Heranziehung von Rechtsgrundsätzen aus der allgemeinen Prozeßrechtslehre oder anderen Verfahrensordnungen nur zulässig ist, wenn den Eigentümlichkeiten der Verfassungsgerichtsbarkeit Rechnung getragen wird“11. Anders formuliert: Die maßgeblichen Strukturen müssen Strukturanalogien auch zulassen. Ähnlich äußern sich Leibholz und Rupprecht, wenn sie berücksichtigen, dass „für die Ergänzung der fehlenden Verfahrensvorschriften“ des BVerfGG „zunächst andere, detailliertere Verfahrensordnungen in Betracht“ kommen würden; freilich „dürfen Grundsätze aus anderen Verfahrensarten auf die Verfassungsgerichtsbarkeit wegen deren Besonderheiten und Eigenart nicht ohne weiteres angewendet“ werden.12 Benda und Klein sprechen auch für die „Einbindung des Verfassungsprozessrechts in das allgemeine Prozessrecht“, insofern verweise diese Einbindung „das BVerfG primär auf Schließung der (bewussten) Lücken seines Verfahrensrechts durch Rückgriff auf die Regelungen der anderen Prozessordnungen, allerdings nicht um jeden Preis“, sondern unter Berücksichtigung der „Besonderheiten des Verfassungsprozessrechts im Einzelfall“13. Zusammenfassend ist zu sagen, nach der These der Eigenart gehört das Verfassungsprozessrecht zur allgemeinen Verfahrensrechtslehre mit dem Vorbehalt, dass jede entsprechende Anwendung allgemeinen Prozessrechts auf das BVerfG seiner besonderen Stellung und seinen besonderen Aufgaben Rechnung tragen muss.14 c) Häberles These des Verfassungsprozessrechts aa) Verfassungsprozessrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht Häberles Verständnis des Verfassungsprozessrechts enthält mehrere Schnittlinien – ein Charakteristikum seines Denkens. Er konzipiert das Verfassungsprozessrecht nicht nur als materielles Verfassungsrecht, sondern auch als PluralismusGewalten. Dieser Gesichtspunkt, gültig für das Prozeßrecht insgesamt, ist für das Verfassungsprozeßrecht von besonderer Bedeutung, weil sein Gegenstand, der Verfassungsprozeß, heute auch die Tätigkeit des parlamentarischen Gesetzgebers, des gesamtstaatlichen Repräsentativorgans, unmittelbar berühren kann“. 11 Stern (1980), S. 1029. 12 Leibholz/Rupprecht, vor § 17 Rn. 1. 13 Benda/Klein/Klein, Rn. 195; Hillgruber/Goos, Rn. 22; Lechner/Zuck, vor § 17 Rn. 3; Kunze, in: Umbach u. a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, vor §§ 17 ff. Rn. 1: Das Verfassungsprozessrecht sei durch die Eigenart seines Gegenstandes geprägt, allerdings sei dem Verfassungsgericht die Möglichkeit eröffnet, vom sonstigen Prozessrecht abweichende Wege zu beschreiten. 14 Sachs (2010), Rn. 56.

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G. Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht

und Partizipationsrecht. Unter dem Motto „Verfassungsprozessrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“ hat er seine eigene Theorie des Verfassungsprozessrechts entwickelt. Danach sei das Verfassungsprozessrecht „in doppelter Hinsicht Konkretisierung des GG: es ist selbst konkretisiertes Verfassungsrecht und es dient dem BVerfG dazu, das GG zu konkretisieren“15. Mit dieser Idee versucht Häberle, „eine verfassungstheoretische Fundierung des Verfassungsprozeßrechts“ vorzuschlagen.16 Das erste Element dieser Theorie bildet die spezifisch verfassungsrechtlich-materielle Interpretation der Verfassungsprozessnormen, d. h. zwischen den Normen des Grundgesetzes und des BVerfGG sollte eine konkordante verfassungsrechtliche Auslegung bestehen. Das Verfassungsprozessrecht sei „stärker material vom – politischen – Verfassungsrecht, seinem (Vor-)Verständnis, seinen Prinzipien […] und seinen Interpretationsmethoden […] her zu deuten“17. Die „Enge“ der prozessualen Normen werde durch ihre spezifische verfassungsrechtliche Interpretation überwunden.18 Das zweite Element ist die Eigenständigkeit des Verfassungsprozessrechts, die Konsequenz der spezifisch verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des BVerfGG bzw. seine Auslegung hinsichtlich des Grundgesetzes sei,19 vielmehr „aus der Eigenart der ,Sache Verfassung‘“20. Als konkretisiertes Verfassungsrecht sollte sich so das Verfassungsprozessrecht von den sonstigen Prozessordnungen distanzieren, diese Emanzipation bedeute freilich „weder Selbstzweck noch Dogma“21. Das BVerfG darf sich des Erfahrungsschatzes der Prinzipien des allgemeinen Prozessrechts bedienen, sofern die spezifische verfassungsrechtliche Auslegung des Verfassungs15 Häberle, JZ 1976, S. 377, 378; ders. (1998), S. 633; ders. (1979), S. 405 ff.; ders., AöR 1973, S. 119, 128, Anm. 43; ders., JZ 1973, S. 451 ff.; ders., DÖV 1969, S. 150, 151; ders., DÖV 1966, S. 660, 661; Engelmann, S. 122 ff. 16 Häberle (1998), S. 634. 17 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 23. 18 Häberle (1998), S. 634 f. 19 Konkrete Auswirkungen der Eigenständigkeit des Verfassungsprozessrechts werden die Konstitutionalisierung der allgemeinen Prozessgrundsätze, die eigene Geschäftsordnung und Verfahrensautonomie des BVerfG, die normierende Kraft der Verfahrenswirklichkeit, die im Vergleich zu anderen Prozessordnungen restriktive Auslegung der Befangenheitsvorschriften zur Sicherung optimaler gesellschaftlicher pluralistischer Präzens und Repräsentanz, vgl. Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 24 f. Unter Eigenständigkeit versteht Zuck, Rn. 377, eine in doppelter Hinsicht „funktionale Eigenwertigkeit“ des Verfassungsprozessrechts: „Zum einen durch die Zuordnung an das zu verwirklichende materielle Verfassungsrecht, soweit dieses konkrete Konsequenzen vorschreibt; zum anderen eine Zuordnung an allgemeine Prozessrechtsgrundsätze, weil nur über diese, nicht aber über einzelne andere Verfahrensordnungen Lücken geschlossen werden können“. Damit erhalte die Eigenständigkeit eine dritte Funktion: „Das Verfassungsprozessrecht ist auch eigenständig gegenüber dem BVerfG selbst“. 20 Häberle (2014), S. 33. 21 Häberle (1998), S. 639; ders. (2014), S. 8: „Der Verf. ist damit einverstanden, dass statt der scharfen These von der Eigenständigkeit des Verfassungsprozessrechts (1973/1976) sanfter von der ,Eigenart‘ und den ,Besonderheiten‘ dieser Materie die Rede ist“.

I. Stellung des Verfassungsprozessrechts in der Rechtswissenschaft

189

prozessrechts nicht infrage gestellt wird. Deshalb schließt Häberles Theorie „behutsame ,Anleihen‘ beim übrigen Prozeßrecht nicht aus“22. Als drittes Element erscheint die ganzheitliche – integrierende – Auslegung der Normen des Verfassungsprozessrechts. Die zentralen Ideen sind: a) Das Verfassungsprozessrecht lässt sich ganzheitlich auslegen23 und b) es ist im Gesamtzusammenhang der materialen Verfassung zu interpretieren und zu integrieren.24 Auch das ist Konsequenz des spezifisch verfassungsrechtlichen Verständnisses des Verfassungsprozessrechts und Teil seiner schrittweisen Verselbständigung gegenüber den anderen Prozessordnungen,25 denn es gibt in der Tat keine verfassungsprozessualen Normen, die nicht nach Maßgabe der Verfassung ausgelegt werden können.26 Dafür bedient sich das BVerfG z. B. der „Kunst innerprozessualer Rechtsvergleichung“ oder der Parallelisierungen zwischen den verfassungsgerichtlichen Verfahren.27 Darüber hinaus könnte das BVerfG auf Prinzipien des allgemeinen Prozessrechts verweisen, solange jene Verweisung der geforderten ganzheitlichen Auslegung nicht widerspricht und die Eigenheit des Verfassungsprozessrechts gewahrt bleibt.28 bb) Verfassungsprozessrecht als Pluralismusund Partizipationsrecht Das Verfassungsprozessrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht muss mit konkreten Überlegungen zu seiner Rolle in einer offenen Gesellschaft ergänzt werden. Es ist nicht nur sozusagen „das Grundgesetz“ des BVerfG, sondern es ist auch fundamental für jede Zivilgesellschaft.29 In dem Maße, wie das Verfassungsprozessrecht prozessuales Vehikel und begrenztes Steuerungsinstrument für die Aktualisierung der Verfassung ist, konkretisiert es auch Verfassungswerte wie Pluralismus und Partizipation30 durch die verschiedenen Verfassungsprozesse und durch die „Erweiterung und Verfeinerung der Informations- und Partizipationsin-

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Häberle (1998), S. 639. Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 24. 24 Häberle (2014), S. 33. 25 Häberle (1998), S. 639. 26 Zu Recht sagt Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 23 ff., dass das Verfassungsprozessrecht „ganzheitlich zu interpretieren“ sei und „es im Gesamtzusammenhang der materialen Verfassung zu interpretieren“ sei. „Im Verfassungsprozessrecht gibt es kaum ein bloßes ,technisches‘ isolierbares Einzelproblem“. 27 Häberle (1998), S. 639 f. 28 Häberle (1998), S. 641. 29 Häberle, in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 35, 40. 30 Nach Engelmann, S. 58, besagt Partizipation nicht unmittelbare Teilnahme am Entscheidungsbeschluss, sie begrenzt auf den Vorgang der Entscheidungsfindung. 23

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G. Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht

strumente“31, denn in verfassungsrechtlichen Prozessen müssten alle pluralistischen Stimmen gehört und alle Meinungen bewertet werden. Es gibt in jenen Prozessen darüber hinaus eine starke Forderung nach Transparenz und Information. Partizipation fordert den Informationsstand des Verfassungsgerichts, Information wiederum bedingt die Einbeziehung pluralistischer Gruppen in den Gang des verfassungsgerichtlichen Prozesses.32 Je transparenter der verfassungsgerichtliche Prozess ist, desto höher ist die demokratische Legitimation des BVerfG. Es legitimiert auch demokratisch durch Öffnung und Erweiterung seinen Partizipationskreise.33 Mündliche Verhandlung34 als Faustregel, nicht als Ausnahme, Anhörungen, Umfragen, Teilnahme von „Dritten“, amicus curiae briefs35 und Sondervotum führen zu einem echten Pluralismus-, Partizipations- und Informationsrecht.36 Die pluralistische Interessenvielfalt einer Zivilgesellschaft vermag über diese Partizipationsinstrumente zur Sprache kommen und damit auch ein Stück Öffentlichkeit; das Verfassungsprozessrecht fängt so „ein Stück pluralistischer Öffentlichkeit“37 ein und gleichzeitig wird das BVerfG zum Teilnehmer am politischen Prozess.38

II. Begriff des Verfassungsprozessrechts 1. Allgemeines Ein Teil der Verfassung des Pluralismus manifestiert sich im Verfassungsprozessrecht handgreiflich.39 Verfassung und Verfassungsprozessrecht stehen in einem engen Zusammenhang. Was man unter Verfassung versteht, bestimmt das Verständnis des Verfassungsprozessrechts. Obwohl diese Beziehung evident ist, lässt man sie jedoch häufig außer Acht. Während das BVerfG die Besonderheiten des

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Häberle (1998), S. 642. Engelmann, S. 58. 33 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 1, 34 f. 34 Kommers, S. 180: „The main function of oral argument, it seems, is not to refine legal issues, but to uncover additional facts that bear upon the issues. Oral arguments may also be used on occasion to add legitimacy to a proceeding by giving all sides, especially in disputes involving the highest organs of government, an opportunity to make their cases in an open forum“. 35 Dazu Kühne, S. 291 ff. 36 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 39: „Das Verfassungsprozessrecht wird so zur Pluralismus- und Partizipationsgarantie“; ders. (1998), S. 648. 37 Häberle (1998), S. 648. 38 Häberle in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 4; Schulze-Fielitz, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 111, 120. 39 Häberle (1980), S. 65. 32

II. Begriff des Verfassungsprozessrechts

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verfassungsgerichtlichen Prozesses herausgehoben hat,40 hat es keine Definition des Verfassungsprozessrechts vorgeschlagen. Ebenso geben weder das Grundgesetz noch das BVerfGG noch das GOBVerfG eine Begriffsbestimmung von ihm. In der Literatur41 begreifen Benda und Klein es als „alle Rechtsnormen, die das Verfahren von und vor Verfassungsgerichten regeln, in dem materielle Verfassungsfragen entschieden werden sollen“42. Für Umbach und Clemens ist das Verfassungsprozessrecht „mehr als technisches Recht“, denn das beste materielle Verfassungsrecht tauge wenig ohne ein adäquates Prozessrecht.43 Nach Schlaich und Korioth ist das Verfassungsprozessrecht eine „geschlossene Prozeßordnung“, denn mit der „,offenen‘ Verfassungsordnung muß also nicht die offene, sondern die präzise Verfahrensordnung korrespondieren“44. Pestalozza berücksichtigt seinerseits das Verfassungsprozessrecht als selbstständig, jedoch soll es „strikt“ angewendet werden.45 Häberle definiert das Verfassungsprozessrecht überhaupt als eigenständiges materielles Recht des BVerfG46 bzw. als Recht für die Arbeit des BVerfG.47 Unter diesem Gesichtspunkt ist das Verfassungsprozessrecht im weiteren und im engeren Sinne auseinanderzuhalten. Dieser Unterschied ist jedoch nicht beliebig, sondern logische Konsequenz eines umfassenden, pluralistischen und offenen Verständnisses der Verfassung.

2. Verfassungsprozessrecht im weiteren Sinne Verfassungsprozessrecht bedeutet in diesem Sinne, dass es sich auf die vorherige Phase der formellen Einleitung des Verfassungsprozesses bezieht.48 Es beschäftigt sich auch mit den Normen, die Verfassungsrichterwahl, Inkompatibilität, Qualifi40 BVerfGE 32, 288 (291); BVerfGE 46, 321 (326); BVerfGE 81, 387 (389); BVerfGE 88, 382 (383). 41 Trotz seines Stellenwerts bieten sie keine Definition des Verfassungsprozessrechts an: Hillgruber/Goos; Fleury; Schmidt; Sachs; Lechner/Zuck; Gersdorf; Robbers. 42 Benda/Klein/Klein, Rn. 29. Individuell betrachtet Klein, AöR 1983, S. 410, 415 ff., das Verfassungsprozessrecht als „Kompetenz-, Status- und Funktionsrecht“. 43 Umbach/Clemens, in: Umbach u. a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, S. X. 44 Schlaich/Korioth, Rn. 57. 45 Pestalozza, S. 2 Rn. 3. 46 Anders Benda/Klein/Klein, Rn. 29: „[A]lle Rechtsnormen, die das Verfahren von und vor Verfassungsgerichten regeln, in dem materielle Verfassungsfragen entschieden werden sollen, bilden das Verfassungsprozessrecht“. 47 Häberle (1998), S. 642. 48 „Zu ihm gehören […] auch die prozessualen Normen im ,Vorfeld‘: zur Verfassungsrichterwahl, die Inkompatibilitätsbestimmungen, Normen zur Qualifikation, Amtsdauer, Zahl und Nebentätigkeit von Verfassungsrichtern oder die Normen des Parlamentsrechts, die Auswirkungen auf das Prozeßrecht haben (Minderheitenschutz), also Normen, die einem konkreten Verfassungsprozeßrecht vorausgehen, z. B. über die Richterwahl […]“, vgl. Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 24.

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G. Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht

kation, Amtsdauer, Zahl und Nebentätigkeit der Verfassungsrichter regeln. Das Verfassungsprozessrecht befasst sich hier nicht mit den Normen, die das verfassungsgerichtliche Verfahren selbst regeln. Sie normieren in diesem Fall keinen bestimmten Verfassungsprozess. Aber aus diesem Grund stärken sie die materiellen Normen. Darüber hinaus können hier auch Verbindungen vom Verfassungsprozessrecht zu anderen juristischen Disziplinen gezogen werden. Die Verhältnisse zwischen Verfassungsprozessrecht, Parlamentsrecht49 und politischem Parteienrecht sind deutlich.50 Das Verfassungsprozessrecht begrenzt sich also genau genommen nicht auf die Regulierung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens.

3. Verfassungsprozessrecht im engeren Sinne Der Verfassungsprozess selbst bildet im engeren Sinne den Gegenstand des Verfassungsprozessrechts. Dazu gehören alle verfassungsgerichtlichen Normen, die „von Beginn bis Ende eines konkreten Verfahrens reichen“51. Das Verfassungsprozessrecht in diesem engeren Sinne legt die Verfahrensnormen zur Antragsbefugnis, Beteiligtenfähigkeit, Richterablehnung, Vollstreckung sowie Wiederaufnahme fest. Die Tätigkeit des BVerfG ist hier wesentlich für den Gang der Verfassungsprozesse, dessen Prinzipien und Bestimmungen einer materiellen und flexiblen verfassungsrechtlichen Interpretation bedürfen.52 Das BVerfG nimmt den Verfassungsprozess in Anspruch, damit die Ziele des Verfassungsprozessrechts konkretisiert werden. Sowohl ein prätorisches und schöpferisches Verhalten des BVerfG als auch eine eigenständige Anwendung der Verfassungsprozessnormen müssen hier nicht als gegensätzlich betrachtet werden.

III. Aufgaben des Verfassungsprozessrechts 1. Allgemeines Die Aufgaben des Verfassungsprozessrechts dürfen nicht mit den Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit verwechselt werden. Nach Häberle ergeben sich die 49 Achterberg, S. 516 ff.; von Westphalen, S. 184 f.; Gusy, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 60 Rn. 1 ff. 50 Tsatsos/Morlok, 1982, S. 124 ff. 51 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 24. 52 „Ebenso ergeben sich aus dem angedeuteten Spannungsverhältnis Besonderheiten des Verfassungsprozesses gegenüber etwa dem Zivil-, Straf- und Verwaltungsprozeß. Denn wenn die verfassungsrechtlichen Normen, die der Verfassungsrichter zur Anwendung zu bringen hat, sich gegenständlich auf das Politische selbst beziehen, so dürfen dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nicht zu enge Schranken auferlegt werden“, Leibholz, in: Das Bundesverfassungsgericht 1951 – 1971, S. 37.

III. Aufgaben des Verfassungsprozessrechts

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konkreten Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit aus den positiven Verfassungen bzw. ihren Kompetenzregelungen (Art. 93 GG):53 genereller Schutz der Verfassung, Sicherung ihres Vorrangs und Wahrung der Grundrechte.54 Ferner hat die Verfassungsgerichtsbarkeit weitere Aufgaben wie den Bürgerschutz, die Integration der Verfassungsorgane, den Schutz der Minderheiten,55 aber auch die Integration und den Konsens der Gesellschaft.56 Demgegenüber regelt das Grundgesetz, das BVerfGG und die GOBVerfG keine Aufgabe des Verfassungsprozessrechts. Sie sind grundsätzlich Ergebnis der verfassungswissenschaftlichen Überlegungen. Diese Aufgaben des Verfassungsprozessrechts sind allmählich mithilfe der Entscheidungen des BVerfG skizziert worden. Es ist möglich, die traditionellen Aufgaben des Verfassungsprozessrechts von den Aufgaben des Verfassungsprozessrechts des Pluralismus zu unterscheiden.

2. Traditionelle Aufgaben Der Ausgangspunkt der traditionellen Aufgaben des Verfassungsprozessrechts sei, dass es einerseits ein Teil des allgemeinen Verfahrensrechts sei und es andererseits als bloßes Prozessrecht nur eine Hilfsfunktion habe.57 Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich diese Aufgaben in drei Bereiche einordnen: a) Die erste Aufgabe sei es, das materielle Verfassungsrecht zu realisieren; hier habe das Verfassungsprozessrecht eine dienende Funktion bei der Durchsetzung des Verfassungsrechts.58 Ebenso wie die anderen Verfahrensrechte stehe auch das Verfassungsprozessrecht in einer existenziellen Abhängigkeit vom materiellen Verfassungsrecht.59 b) Die zweite Aufgabe beziehe sich auf die Sicherung des Status des BVerfG und seiner Kompetenzen. Das Verfassungsprozessrecht regele zum einen die Stellung des BVerfG, es sichere seinen Funktionsbereich im Verhältnis zu den anderen Verfassungsorganen ab,60 insbesondere zum Gesetzgeber.61 Zum anderen begründe und begrenze es die Kompetenzen des BVerfG. Das Verfassungsprozess53 Häberle, EuGRZ 2004, S. 117, 121; Spanner, S. 12; Rinken, in: Denninger u. a. (Hrsg.), AK-GG, Vorbemerkungen zu Art. 93 und 94 Rn. 72. 54 Zippelius/Würtenberger, S. 518 Rn. 25 ff.; Degenhart, Rn. 809. 55 Häberle, EuGRZ 2004, S. 117, 121. 56 Dies ist möglich, da die Bürger dem BVerfG vertrauen. Erhalten einzelne staatliche Institutionen einen Machtzuwachs, reagieren die Bürger vielfach misstrauisch, „nicht so im Falle des Bundesverfassungsgerichts“, vgl. von Beyme (2013), S. 75, 139. 57 Aus dem allgemeinen Verfahrensrecht schreibt man den Verfassungsprozessen die Aufgaben der „Durchsetzung subjektiver Rechte verfassungsrechtlicher Art“ zu und die „Durchsetzung des objektiven Rechts“, vgl. Grunsky, S. 10 f. 58 Lechner/Zuck, vor § 17 Rn. 3; Papier, in: Umbach u. a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, S. V. 59 Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 35. 60 Papier, in: Umbach u. a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, S. V. 61 Benda/Klein/Klein, Rn. 37.

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G. Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht

recht führe eine Abgrenzung gegenüber dem Aufgabenbereich anderer Verfassungsorgane aus und stecke zumindest mittelbar die Arbeitsteilung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit ab.62 c) Die dritte wesentliche Aufgabe des Verfassungsprozessrechts sei die Sicherung der Funktionsfähigkeit des BVerfG.63 Diese Funktion umfasse die Wahrung der Einheitlichkeit seiner Rechtsprechung, des Vertrauens der Verfahrensbeteiligten in seine Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit, die Wiederherstellung des Rechtsfriedens sowie den Schutz vor Überlastung.64

3. Pluralistische Aufgaben des Verfassungsprozessrechts Die traditionellen Aufgaben des Verfassungsprozessrechts betreffen den Status, die Kompetenz und die Sicherung der Funktionsfähigkeit des BVerfG. Da das Verfassungsprozessrecht, wie gezeigt, konkretisiertes Verfassungs-, Pluralismusund Partizipationsrecht ist, erschöpft sich allerdings seine Aufgabe nicht im Feld des BVerfG, sondern erstreckt sich auch auf den Bereich des materiellen Verfassungsrechts, der Gesellschaft und der Politik. Das Verfassungsprozessrecht bringt sich nicht nur mit dem BVerfG in Zusammenhang, sondern auch mit der Gesellschaft und der Politik, wo ein Verfassungsgericht und „sein“ Recht umfassend Sinn machen. a) Verfassungsrechtliche Aufgabe Die verfassungsrechtliche Aufgabe des Verfassungsprozessrechts schlägt sich in zwei Erscheinungsformen nieder: Erstens kontrolliert das Verfassungsprozessrecht jede bloße und voreilige Anwendung anderer Prozessordnungen, wodurch ausgeschlossen wird, dass Regelungen anderer Verfahrensgesetze ohne Weiteres und allgemein übernommen werden.65 Diese besondere Aufgabe ist maßgebend, damit das Grundgesetz selbst konkretisiert wird und Zwecke der Verfassungsprozesse auf diese Weise gesichert werden. Hier spielt das BVerfG eine bedeutsame Rolle, da es die Aufgabe hat, das BVerfGG im Einklang mit der Verfassung auszulegen und zu konkretisieren. Zweitens gewährleistet es die Interpretation und Harmonisierung der Bestimmungen des BVerfGG im Hinblick auf Artikel des Grundgesetzes.66 Es handelt sich ferner darum, angemessene Grundsätze und Auslegungsmethoden, die mit der materiell-prozessualen Theorie der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit vereinbar sind, zu finden.67 62 63 64 65 66 67

Bethge, in: Maunz u. a. (Hrsg.), BVerfGG Kommentar, Bd. 1, Vorbemerkung Rn. 202. Papier, in: Umbach u. a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, S. V. Benda/Klein/Klein, Rn. 38. Lechner/Zuck, vor § 17 Rn. 3. Häberle (1998), S. 634. Häberle (1979), S. 409.

III. Aufgaben des Verfassungsprozessrechts

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b) Gesellschaftliche Aufgabe Wie schon gesagt, meint die Verfassung des Pluralismus eine verfassungsrechtliche limitierende Grundordnung für Staat und Gesellschaft. Das BVerfG wird insofern ein „gesellschaftliches Gericht“68. Dadurch gewinnen das BVerfG und das Verfassungsprozessrecht „eine einzigartige Gesellschaftsbezogenheit“69. So öffnet sich das Verfassungsprozessrecht „der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, es wird ihr ,Medium‘, zumal dort, wo das Parlament versagt hat“70. Das Verfassungsprozessrecht wird auf diese Weise nicht nur Recht des BVerfG, sondern auch Instrument des verfassten Gemeinwesens, damit seine Stimmen und Meinungen durch die verfassungsgerichtlichen Verfahren gehört werden. Als „gesellschaftliches“ Medium erlaubt das Verfassungsprozessrecht eine echte Annährung des Grundgesetzes und des BVerfG an die Bürger und umgekehrt. Dank der Partizipations- und Informationsinstrumente des Verfassungsprozessrechts (etwa: mündliche Verhandlung Art. 25 Abs. 1 und 2 BVerfGG, Beweiserhebung Art. 26 BVerfGG, Rechts- und Amtshilfe Art. 27 BVerfGG, Stellungnahmen sachkundiger Dritter Art. 27 a BVerfGG usw.) wird das Grundgesetz nicht als Geheimnis, das nur einige entziffern können, gesehen. Insoweit verbindet das Verfassungsprozessrecht sowohl das Grundgesetz mit dem Gemeinwesen als auch das BVerfG mit den Bürgern.71 Damit verliert das Verfassungsgericht etwas von seiner herkömmlichen Staatlichkeit, gewinnt hingegen aber „zu einem Gran den Charakter eines ,(gesamt) gesellschaftlichen Gerichts‘ eigener Art“72. c) Politische Aufgabe Smend stellte fest: „Das Kriterium, das die Verfassung von der übrigen Rechtsordnung unterscheidet, ist immer wieder der ,politische‘ Charakter ihres Gegenstandes“73. Verfassungsrecht als politisches Recht besagt, dass es die Zuständigkeit, Formen und Institute sowie die Verfahrens- und Entscheidungsmechanismen der politischen Organe regelt.74 Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit führen daher eine politische Existenz;75 in diesem Sinne sind unpolitisches Verfassungsrecht und politisch-befreite Verfassungsgerichtsbarkeit zumindest eine Illusion, ein

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Häberle (2014), S. 147 ff. Häberle (1980), S. 67. 70 Häberle (1980), S. 67. 71 Lietzmann, S. 135. 72 Häberle (1980), S. 68. 73 Smend (1928), S. 133; ders. (1994), S. 238. 74 Stern (1977), S. 90. 75 Verfassungsgerichtsbarkeit lässt sich dem politischen Prozess nicht gegenüberstellen, sie ist, wenn auch in spezifischen Verfahren, Teil dieses Gesamtprozesses, vgl. Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 32. 69

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G. Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht

Dogma, eine Selbsttäuschung.76 Da das Verfassungsrecht politischen Charakter hat, hat das Verfassungsprozessrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht auch dieselbe Natur. So bilden etwa die Wahl der Bundesverfassungsrichter, die eventuelle Anwendung der Zurückhaltungsdoktrin, die Berücksichtigung der politischen Folgen einer Entscheidung, der politisch-juristische Charakter der Verfassungsstreite, der Appell an den Gesetzgeber, die Kontrolle von Prognosen des Gesetzgebers usw. politische Bestandteile, die durch das Verfassungsprozessrecht als politisches Recht institutionell kanalisiert und rationell entschieden werden.77 Für das Verfassungsprozessrecht fordert man nun, seine politischen Aufgaben zu erkennen.78 Das BVerfG erlangt durch das Verfassungsprozessrecht nicht nur eine „Neutralisierung politischer Machtkämpfe“79, sondern auch eine Erhöhung der politischen Konsenschancen. Das politische Element des Verfassungsrechts und der Verfassungsgerichtsbarkeit zeigt sich so auch im Verfassungsprozessrecht selbst und seinen Aufgaben,80 obwohl es im Übrigen auch Grenzen der politischen Belastbarkeit des Verfassungsprozessrechts gibt.81

IV. Grundsätze des Verfassungsprozessrechts 1. Allgemeines Wenn Häberle von Prinzipien des Verfassungsprozessrechts spricht, denkt er nicht nur an eine konkrete verfassungsgerichtliche Ordnung, sondern auch an Grundsätze, die als „universale Prinzipien des Verfassungsprozessrechts“ betrachtet werden können.82 Ein solcher Gesichtspunkt ist völlig kohärent und vereinbar mit seinem Programm und jetzt Wirklichkeit universaler Verfassungstheorie, die sich allmählich auf eine „internationale Verfassungsgerichtsbarkeit“ und ein universales „Verfassungsprozessrecht“ projiziert.83 Im Vergleich zur geläufigen Literatur meint er, dass bestimmte Verfassungsprinzipien ihre Entsprechungen im Verfassungsprozessrecht und seinen Grundsätzen hätten.84 So sei die Tätigkeit des BVerfG durch prozessuale Verfassungsgrundsätze geleitet, aber auch stets durch Verfassungsprinzipien; Hä76

Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 4. Nach Schlaich (1972), S. 62: „Die eminent politischen Auswirkungen der Entscheidungen wie auch gewisse politische Aktivitäten des Bundesverfassungsgerichts ändern als solche noch nichts daran, daß es sich auch bei der Verfassungsrechtsprechung zunächst um eine neutrale Rechtsprechung im traditionellen Sinne handelt“. 78 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 4 f. 79 Doering, Der Staat 3/1964, S. 201, 213. 80 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 30 Anm. 115. 81 Häberle (1979), S. 410 Anm. 15. 82 Häberle (2014), S. 12. 83 Häberle (2014), S. 12. 84 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 26. 77

IV. Grundsätze des Verfassungsprozessrechts

197

berle unterscheidet deshalb zwischen konstitutionellen und prozessualen Prinzipien85 des Verfassungsprozessrechts, deren „Übersetzung“ und „Fortsetzung“ Aufgabe des BVerfG und des Gesetzgebers sei.86

2. Konstitutionelle Prinzipien a) Grundsatz der Öffentlichkeit Obwohl die Öffentlichkeit des Verfahrens nur ein Aspekt der Gerichtsöffentlichkeit ist,87 hat der konstitutionelle Grundsatz der Öffentlichkeit für den Verfassungsprozess einen hohen Rang, er ist Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips und entspricht dem allgemeinen Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie.88 Als konstitutionelles Prinzip des Verfassungsprozessrechts gilt auch die Bekundung der Öffentlichkeit der Verfassung.89 Sie wirkt auf das BVerfG selbst und den einzelnen verfassungsgerichtlichen Prozess,90 aber sie gewinnt auch ihre materiell-rechtliche Relevanz bei der Auslegung des BVerfGG. Man versteht unter Öffentlichkeit „den Zutritt von am Verfahren unbeteiligten Personen zum Sitzungssaal, um in der Gerichtsverhandlung den Verfahrensablauf verfolgen zu können“91 oder dass „grundsätzlich jedermann Zutritt zum Gerichtssaal haben muss“92. Während nach § 169 Satz 2 GVG etwa Rundfunk- und Fernsehaufnahmen von Gerichtsverhandlungen generell verboten sind, lockert § 17 a Abs. 1 des BVerfGG dieses Verbot der Medienöffentlichkeit.93 Das Prinzip der Öffentlichkeit – gemäß § 17 a Abs. 1 Nr. 2 und § 30 Abs. 1 Satz 3 – gilt auch für die Urteilsverkündung und mündliche Verhandlungen, die laut § 17 und § 25 Abs. 1 BVerfGG Regel sind, die Umsetzung dieses Prinzips ist freilich die seltene Ausnahme.94 Allerdings ist diese Praxis des BVerfG nicht so recht mit dem Prinzip der Öffentlichkeit vereinbar. Man muss in Betracht ziehen, dass das berechtigte Interesse auch der technisch nicht am Prozess beteiligten 85

Konstitutionelle und prozessuale Prinzipien des Verfassungsprozessrechts spiegeln in besonderer Deutlichkeit politische Grundvorstellungen einer Gesellschaft wider, sie dienen dem Gesetzgeber als Richtschnur, der Rechtswissenschaft als Orientierung für die Theorie- und Systembildung und der Rechtsprechung als Interpretationshilfe und Handlungsanweisungen, wenn es um die Auslegung von Verfahrensnormen geht, vgl. Gilles, in: Grimm (Hrsg.), Einführung in das Recht, S. 244, 280. Zum Verhältnis zwischen den Verfahrensgrundsätzen des Zivilprozesses und der Verfassung, s. Stürner, in: FS Baur, S. 647, 648 ff. 86 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 26. 87 Kotzur (2001), S. 203. 88 Kunze, in: Umbach u. a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 17 Rn. 15. 89 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 31. 90 Sachs (2010), Rn. 72 ff. 91 Klein, in: Maunz u. a. (Hrsg.), BVerfGG Kommentar, Bd. 1, § 17 Rn. 3. 92 Lechner/Zuck, § 17 Rn. 3. 93 Schmidt, S. 25; Benda/Klein/Klein, Rn. 291 ff.; Lenz/Hansel, § 17 a Rn. 1. 94 Schlaich/Korioth, Rn. 69.

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Öffentlichkeit daran, das Gericht „in Aktion zu erleben“, so groß und wichtig ist, dass jedenfalls die Frage der zusätzlichen Belastung des BVerfG durch eine mündliche Verhandlung keine Rolle spielen sollte.95 Neben der mündlichen Verhandlung und der Urteilsverkündung sind auch der Vorgang der Richterwahl und Sondervoten Äußerungen des Öffentlichkeitsgrundsatzes. Einerseits verlangt das Prinzip der Öffentlichkeit etwa für die Wahl der Bundesverfassungsrichter öffentliche Anhörungen.96 Daher wirkt das bisher vorhandene Defizit97 der Öffentlichkeit negativ auf die Verfassung zurück.98 Andererseits sind Sondervoten (§ 30 Abs. 2 BVerfGG) ein Stück Öffentlichkeit und zugleich dadurch ein Vorteil der Öffentlichkeit, dass sie als „Kontrapunkt“ für manchen Betrachter womöglich deutlicher machen, warum die Mehrheit so und nicht anders entschieden hat.99 b) Grundsatz des Pluralismus Wie im Verfassungsrecht ist der Pluralismus als konstitutionelles Prinzip im Bereich des Verfassungsprozessrechts von Bedeutung. Pluralismus meint hier „Vielfalt von Ideen und Interessen“100. Da hinter Rechten Interessen stehen, führt das zu pluralistischer Verfassungsinterpretation und hat Folgen für die Ausgestaltung des Verfassungsprozessrechts.101 Jeder Verfassungsprozess rührt von einer Diskrepanz bestimmter Grundrechte oder von einer Uneinigkeit über die Interpretation des Textes der Verfassung. Ein verfassungsgerichtliches Verfahren lebt deshalb von und 95

Pestalozza, S. 59 Rn 52. Dazu jüngst Höreth, S. 54 ff.; s. auch Benda/Klein/Klein, Rn. 134. Zu öffentlichen Anhörungen gaben eine ehemalige Präsidentin und ein ehemaliger Präsident des BVerfG gegensätzliche Stellungnahmen ab. Limbach, in: FS Herzog, 2009, S. 273, 278, meint: „Aus der kritikwürdigen politischen Praxis in den USA gilt es Lehren zu ziehen. Worauf sich die Wissbegier der Abgeordneten richten darf, darüber wird man sich vorher verständigen müssen. Der Vorsitzende des Ausschusses wird auf die Sachlichkeit der Fragen zu achten haben. Ob eine Anhörung hält, was sie verspricht, wird nicht zuletzt davon abhängen, was Gegenstand der Auskunft sein darf und sein sollte. Das soziale und politische Problembewusstsein des Richters, die Anteilnahme der Richterin an den politischen Fragen und der gesellschaftlichen Entwicklung ihres Landes, dürften zulässige Gegenstände der Wissbegier der Abgeordneten sein“. Papier, DRiZ 2009, S. 130, 132, sagt: „Öffentliche Anhörungen bergen die Gefahr einer Art ,Vorwegbindung‘ der Richter, die dann später im Rahmen konkreter Entscheidungen ihrerseits zu Zweifeln an deren Unvoreingenommenheit führen kann. Das deutsche System der Wahl der Verfassungsrichter hat sich nach meiner Beobachtung im Großen und Ganzen bewährt, ich habe jedenfalls bislang kein Besseres erblicken können“. 97 Dennoch lautet Art. 112 Abs. 4 Satz 4 der Verfassung des Landes Brandenburg: „Vor der Wahl findet eine Anhörung in einem vom Landtag bestimmten Ausschuß statt“. 98 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 31. 99 Pestalozza, S. 292 Rn. 41. Nach Schlaich/Korioth, Rn. 52, könnten Sondervoten die Intention haben, die Öffentlichkeit auf innere Widersprüche und Brüche in der Rechtsprechung aufmerksam zu machen. 100 Häberle (2014), S. 5. 101 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 28. 96

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in der Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte. Nimmt das BVerfG dies genau wahr, so ist es in der Lage, eine angemessene Lösung einer konkreten Verfassungsstreitigkeit – im weiteren Sinne verstanden – anzubieten. Dafür bedarf das BVerfG der Erweiterung seiner Erkenntnismöglichkeiten, selbst jenseits der konventionellen regelnden Formen.102 Das Verfassungsprozessrecht des Pluralismus könnte so noch gerechter werden, die verfassungsrechtliche „Wahrheit“ lässt sich als „Wahrheit durch Pluralismus“ ausdrücken.103 c) Grundsatz des Minderheitsschutzes Der Schutz der Minderheiten ist eine „genuine Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit“ und das Verfassungsprozessrecht mithin sein wesentliches Werkzeug.104 Dieses Prinzip ist Ausdruck des Pluralismus und ein Kennzeichen der Demokratie sowie der grundrechtlichen Freiheit.105 Minderheiten spielen im Verfassungsprozessrecht aktiv und passiv eine bedeutsame Rolle. Unter dem aktiven Gesichtspunkt nehmen z. B. politische Minderheiten an der Wahl der Verfassungsrichter und an der abstrakten Normenkontrolle teil. Dies muss das Verfassungsprozessrecht sichern. Einerseits bedeutet das Erfordernis der ZweiDrittel-Mehrheit106 bei der Wahl der Richter des BVerfG107 „ein klassisches Instrument des Minderheitsschutzes“108. Andererseits bezieht sich § 76 Abs. 1 des BVerfGG auf „ein Viertel des Bundestages“ gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, dies zielt offenbar auf einen Minderheitsschutz im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle.109 Beide Vorschriften bilden zweifellos materielles Verfassungsrecht, denn sie siedeln sich zum „Schutz der Opposition“110 und zum Zwang des Kompromisses zwischen Mehrheit und Minderheit an.111 Unter der passiven Auffassung bilden die Minderheiten einen Schutzgegenstand des Verfassungsprozessrechts. Minderheits102

Etwa durch Auskünfte nicht staatlicher Stellen wie Verbände, Verfeinerung der Sachverständigen-Hearings, Erweiterung des Kreises der Beteiligten, abgestufte Partizipationsformen von der bloßen Gelegenheit zur Äußerung bis zum formellen Beitritt, vgl. Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 27. 103 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 26. 104 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 29. 105 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 29. 106 Heun, S. 126: „Zudem verdienen in markanten Fällen Minderheiten erhöhten Schutz, der dadurch verbessert werden kann, dass im Zuge einer Zwei-Drittel-Mehrheit zumindest die Zustimmung eines Teils der Minderheit notwendig wird, die wenigstens dieser Gruppe insoweit das Selbstbestimmungsrecht gewährleistet“. 107 Dazu Billing, S. 132 ff. 108 Schlaich/Korioth, Rn. 44; anders Benda/Klein/Klein, Rn. 129. 109 Sowohl Benda/Klein/Klein, Rn. 669, als auch Söhn, in: FG aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des BVerfG, Bd. I, S. 292, 298, denken daran, dass die Antragsberechtigung einer Minderheit nicht eigentlich Ausdruck von Minderheitsschutz sei. 110 Dazu s. Medearis, S. 129 ff.; Nassehi, S. 25 ff.; Freytag, S. 12 ff. 111 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1, 26.

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gruppen bedürfen vor allem eines besonderen verfassungsgerichtlichen Schutzes. Hier zeigt sich das BVerfG als „Hüter der Rechte der Minderheit“112. d) Grundsatz der „partizipativen“ Gewaltenteilung Häberle postuliert, dass die Gewaltenteilung als Verfassungsprinzip ihre vielfältigen Entsprechungen im Verfassungsprozessrecht hat, die sich nicht nur im Pluralismus und beim Minderheitsschutz zeigen, sondern auch in Einzelnormen des BVerfGG.113 So habe das BVerfG nur einen begrenzten Anteil an der obersten Staatsleitung und damit seien die Institute des Verfassungsprozessrechts weniger technisch als materiell und funktional zu verstehen.114 Dies ermöglicht, dass auch andere Verfassungsorgane am Verfassungsprozessrecht teilnehmen können. Dies zeigt sich deutlich z. B. in der gesetzlichen Verpflichtung des BVerfG, von der Einleitung des Verfahrens dem Bundespräsidenten, dem Bundestag, dem Bundesrat und der Bundesregierung Kenntnis zu geben (§ 65 Abs. 2 BVerfGG), in der Befugnis des BVerfG, um Mitteilung zu ersuchen (§ 82 Abs. 4, § 88 BVerfGG), in der Gelegenheit zur Äußerung (§ 77, § 82 Abs. 1, § 84, § 88, § 94 Abs. 1 und 2 BVerfGG) und schließlich im Beitritt zum Verfassungsprozess (§ 82 Abs. 2, § 65 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 88, § 94 Abs. 5 BVerfGG). Hier wird das Gewaltenteilungsprinzip als Partizipation im materiellen Sinne – nicht rein formellen – und als Kooperation verstanden. Auf diese Weise bildet der Gewaltenteilungsgrundsatz ein offenes und flexibles Prinzip des Verfassungsprozessrechts in dem Maße, dass das BVerfG alle Interpretationsmöglichkeiten nutzen muss, damit haben auch die anderen Verfassungsorgane am Rechtsfortbildungsprozess teil.115 So ist das BVerfG im Verfassungsprozessrecht „Partner der anderen Verfassungsorgane“, weil die Verfassungsgerichtsbarkeit „keine antiparlamentarische und keine Antiparteien Institution“ ist.116 Gewaltenteilung besagt insofern Partizipation und Kooperation, ohne dass die Stellung und Zuständigkeiten des BVerfG oder der anderen Verfassungsorgane infrage gestellt werden. Das Bild des BVerfG des Pluralismus ist nicht das Bild eines isolierten Gerichts, sondern eines Gerichts der Öffnung und des Dialogs.117 Die Verfassungsrichter haben – um mit Arndt zu sprechen – die „Pflicht zum ,Rechtsgespräch‘ mit den Beteiligten“118.

112 113 114 115 116 117 118

Schlaich/Korioth, Rn. 44. Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 30 f. Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 31. Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 31. Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 38. Dazu s. Kotzur (2001), S. 203. Arndt (1976), S. 363.

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3. Prozessuale Prinzipien a) Das Prinzip des Verbots der ex-officio-Prüfung Der Gewaltenteilungsgrundsatz hat eine seiner Entsprechungen im Verbot der exofficio-Prüfung des BVerfG. Dies trägt zur Gewaltenteilung unter den Verfassungsorganen bei, erleichtert dem BVerfG die Bewahrung beobachtender Neutralität und gibt dem Gesetzgeber ein Regulativ zur Entlastung des Gerichts, freilich auch zur Disziplinierung der am Verfassungsleben streitig Beteiligten an die Hand.119 Das BVerfG bewahrt so durch das Verbot der ex-officio-Prüfung das Gewaltenteilungsprinzip, es steht weder als Gericht noch als Verfassungsorgan über diesem Grundsatz, das BVerfG selbst ist – wie jedes Verfassungsorgan – an die Gewaltenteilung gebunden. Gemäß des Prinzips des Verbots der ex-officio-Prüfung bzw. dem Antragsprinzip120 ist die Einleitung eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens stets an einen Antrag von außen gebunden121 – „Wo kein Kläger, da kein Richter“122. Trotz seiner Qualifikation als Verfassungsorgan123 und seiner Kennzeichnung als „Herr des Verfahrens“ kann das BVerfG in keinem Fall, auch wenn offensichtliche Verfassungswidrigkeiten zutage treten,124 ein Verfahren ohne Antrag dritter Personen oder Stellen eröffnen.125 Selbst wenn es um die abstrakte Normenkontrolle geht,126 wird ein eigenständiges Initiativrecht des BVerfG ausgeschlossen.127 Ausnahmen von diesem Grundsatz werden gleichwohl in der Literatur genannt. Einerseits vertritt man die These, dass das Verbot der ex-officio-Prüfung nicht für den außergewöhnlichen Verfassungsprozess zur Beendigung des Amts eines Richters des BVerfG nach § 105 II 2 BVerfGG gelte, denn das Plenum kann die Einleitung des Verfahrens „ohne einen Anstoß von Außen entscheiden“128. Es handele sich hier „um den Sonderfall der ,Selbstreinigung‘ des Gerichts“129. Andererseits spricht man von den einstweiligen Anordnungen (§ 32 BVerfGG) als Ausnahme vom Antragsprinzip. 119

Pestalozza, S. 47 Rn. 31. Zur Wichtigkeit der Anträge im Verfassungsprozessrecht, s. Schmitz, S. 1 ff. 121 Lechner, vor § 17 B II 1); Engelmann, S. 36 f.: „Zur Einleitung eines verfahrensgerichtlichen Verfahrens bedarf es in allen Fällen eines verfahrenseinleitenden Antrages durch einen Antragsberechtigten“; Schmidt, S. 27; Pestalozza, S. 47 Rn. 31; Sachs (2010) Rn. 69; Fleury, Rn. 35. 122 Benda/Klein/Klein, Rn. 103. 123 Pestalozza, S. 38 Rn. 13. 124 BVerfGE 13, 54 (94). 125 Lechner/Zuck, § 17 Rn. 9. 126 Lechner, vor § 17 B II 1): „Dies gilt auch für das abstrakte Normenkontrollverfahren“. 127 Bethge, in: Maunz u. a. (Hrsg.), BVerfGG Kommentar, Bd. 1, vor § 17 Rn 21. 128 Leibholz/Rupprecht, vor § 17 Rn. 3; so auch Benda/Klein/Klein, Rn. 203 Anm. 4: „Eine Ausnahme ist das Verfahren nach § 105 BVerfGG (Vorgehen gegen Richter des BVerfG)“; Rn. 1233: „Berechtigt zur Einleitung des Ermächtigungsverfahrens ist allein das Plenum des BVerfG (§ 105 Abs. 2 BVerfGG)“; Lechner/Zuck, § 105 Rn. 7; Lenz/Hansel, § 105 Rn. 1 ff. 129 Pestalozza, S. 48 Rn. 33. 120

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Obwohl eine einstweilige Anordnung grundsätzlich einen Antrag voraussetzt130 – auch wenn § 32 den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht ausdrücklich an einen Antrag knüpft –,131 lässt sie sich nach Auffassung des BVerfG132 aber auch von Amts wegen erlassen.133 b) Das Prinzip des non-liquet-Verbots Das non-liquet-Verbot gilt im Verfassungsprozessrecht als wesentlicher Grundsatz, der vom Grundgesetz und Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit selbst ausgeht. Nach diesem Prinzip muss alles, was dem BVerfG zur Entscheidung zugewiesen ist, entschieden werden,134 vielmehr: „Das Bundesverfassungsgericht entscheidet“ (Art. 93 Abs. 1 GG). Darüber hinaus verhindert schon das bloße Bestehen einer Verfassungsgerichtsbarkeit mögliche non liquet.135 Schließt das Grundgesetz die non-liquet-Doktrin aus,136 so hat das BVerfG eine Verpflichtung öffentlich-rechtlicher, sozusagen gerichtsverfassungsrechtlicher Natur, eine Entscheidung zu treffen; es geht um „eine richterliche Pflicht“137. Dass die non-liquet-Doktrin in allen Verfahrensarten – insbesondere im Verfassungsrecht und Verfassungsprozessrecht – unbefriedigend ist, liegt auf der Hand; aus diesem Grund ist ihr Gerechtigkeitswert offenbar schwer zu akzeptieren.138 Das BVerfG als Verfassungsorgan und als Gericht kann seine Kompetenzen und Funktionen niemals abtreten; es ist immer verpflichtet, eine Entscheidung zu fällen, auch wenn der Sachverhalt vermeintlich „nicht aufklärbar“ ist,139 die political-question-Doktrin140 abgerufen wird oder der Ver-

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Lechner/Zuck, § 32 Rn. 24; Hillgruber/Goos, Rn. 818. Benda/Klein/Klein, Rn. 1317; Lenz/Hansel, § 32 Rn. 116. 132 BVerfGE 1, 74 (75), 35, 12 (14). 133 Schlaich/Korioth, Rn. 463; Berkemann, in: Umbach u. a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 32 Rn. 62; Leibholz/Rupprecht, vor § 17 Rn. 3; Lechner, § 32 S. 237; Graßhof, in: Maunz u. a. (Hrsg.), BVerfGG Kommentar, Bd. 1, § 32 Rn. 28. Nach Pestalozza, S. 48 Rn. 34: „Ein derartiges ,Initiativrecht‘ des Gerichts läßt sich mit der begrenzten richterlichen Aufgabe des BVerfG nicht in Einklang bringen, insbesondere wenn noch kein Hauptverfahren anhängig ist“. Anders Geiger (1952), § 32 Abs. 5: „Schließlich ist eine einstweilige Anordnung, die von Amts wegen ergeht, nicht unvereinbar mit der Aufgabe des Gerichts, insbesondere nicht mit seiner Aufgabe, Hüter der Verfassung zu sein“. 134 Ridder, in: FS Arndt, 1969, S. 323, 326. 135 Böckenförde, NJW 1976, S. 2089, 2092. 136 Im Verfassungsrecht bezieht sich ein non liquet nicht nur auf Tatsachenfragen – also in der Beweiswürdigung –, sondern auch auf rechtliche Fragen, vgl. Riehm, S. 105. 137 Baur, S. 113. 138 Arens, FS Müller-Freienfels, 1986, S. 13. 139 Baur, S. 113: „Reichen nämlich die im Prozeß zugelassenen Beweismittel nicht aus, um eine zweifelsfreie Entscheidung zu ermöglichen, so ist die Überbindung des non liquet durch ein der Beweislast entsprechendes Urteil eine dem Gericht eingeräumte, gewohnheitsrechtliche, prozeßrechtliche Pflicht und Befugnis“. 131

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gleichsvorschlag des BVerfG angewandt wird.141 Sogar die Stimmengleichheit (§ 15 BVerfGG) führt zu einer Entscheidung und nicht zu einem non liquet.142 Insofern ist dem Verfassungsgericht eine Entscheidung abverlangt, ihm ist kein non liquet erlaubt.143 Das Prinzip des non-liquet-Verbots zeigt sich selbst in jenen Fällen, in denen sich das BVerfG einer „Nicht-Entscheidung“ zuwendet, etwa wenn es „im Ringen um den Grundkonsens die Verantwortung an die staatlichen und gesellschaftlichen Kräfte zurückdelegiert, die nach Funktion, Kompetenz und politischen Teilhabemöglichkeiten dazu besser in der Lage sind“144, oder wenn das BVerfG nach seiner Funktion und nach seinem Selbstverständnis eine gewisse Mediatorenrolle145 – „tentatio amicae compositionis“ – übernimmt.146 In der Tat geht es hier nicht um eine „Nicht-Entscheidung“, sondern im Gegenteil – wie Kotzur zutreffend erläutert – um eine Entscheidung, die die Integrations- und Konsensfunktion des BVerfG äußert,147 vielmehr „desintegrative Effekte“148 zu vermeiden.149 c) Der Grundsatz der Unabhängigkeit der Verfassungsgerichte „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen“ (Art. 97 Abs. 1 GG). Damit will die Verfassung vorschreiben, dass der Richter unabhängig sein soll, 140 Kotzur (2004), S. 508; Schneider, NJW 1980, S. 2103, 2104: „Das Verfassungsrecht gilt trotz seiner Weite und Offenheit nicht nur insgesamt als justiziabel; auch soweit dem BVerfG im Rahmen seiner Zuständigkeiten Anträge vorgelegt werden, muß es über die beanstandete Verfassungsverletzung im konkreten Fall entscheiden und kann sich nicht unter Berufung auf mangelnde Justitiabilität in die Fluchtburg eines ,non liquet‘ zurückziehen. Deswegen läßt sich auch die ,political question doctrine‘ nicht in die deutsche Entscheidungspraxis übertragen“. Nach Bachof, DÖV 1982, S. 462, ist die Anwendung der political question doctrine „keine Nicht-Entscheidung, sondern eine Entscheidung für ein Nicht-Tätigwerden des Gerichts, weil die außerrechtlichen Faktoren von solch großer Relevanz sind, daß die rechtlichen Maßstäbe eine Entscheidung nicht tragen können“. Ähnlich Eisenblätter, JöR 29/1980, S. 63, 79. Zur Nicht-Entscheidung und zum allgemeinen Gleichsatz, s. Dopatka, S. 170 f. 141 Dazu s. Wolff, EuGRZ 2003, S. 463 ff. 142 Eschelbach, in: Umbach u. a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 15 Rn. 116. 143 Starck (2009), S. 148. 144 Kotzur, JZ 2003, S. 73, 78. 145 Dazu s. Höpker, S. 115 ff.; Papier, ZRP 2002, S. 134 ff.; Wolff, EuGRZ 2003, S. 463 ff.; Lhotta, ZPol 3/2002, S. 1073 ff.; Schindler, in: FG Hömig, S. 87 ff.; Poscher: RdJB 4/2002, S. 380 ff.; Schmidt, NVwZ 2002, S. 925 ff.; Wolf, KJ 2002, S. 250 ff.; Janz, LKV 2003, S. 172; Renck, 2003, S. 173. 146 Kotzur, JZ 2003, S. 73, 76 f., 78. 147 Kotzur, JZ 2003, S. 73, 78. 148 Lhotta, ZPol 3/2002, S. 1073, 1092. Seine Mediatiorenrolle und Schiedsrichterfunktion muss das BVerfG aber mit Umsicht erfüllen, so von Beyme (2013), S. 76. 149 Schneider, FS. Zeidler, Bd. I, S. 293, ist der Meinung, dass die Verfassungsgerichtsordnungen keinen Vergleich kennen, da im Verfassungsprozessrecht das Verfassungsrecht nicht zur Disposition der Beteiligten steht und ein Verfassungsgericht nicht davon absehen oder abweichen darf.

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sie möchte nicht etwa einen bereits tatsächlich bestehenden Zustand beschreiben.150 Deshalb ist das Ringen um die sachliche und persönliche151 Unabhängigkeit des Richters152 eine dauerhafte Aufgabe.153 Für den Rechtsstaat154 und die Verfassungsgerichtsbarkeit ist dieser Unabhängigkeitsgrundsatz von großer Bedeutung,155 auch wenn er kein Wert an sich ist und eine dienende Funktion hat.156 Das Prinzip der Unabhängigkeit bedeutet nach Arndt „richterliche Freiheit“157. Diese richtet sich nicht nur gegenüber mögliche Beteiligte eines verfassungsgerichtlichen Prozesses, sondern auch gegenüber Exekutive und Legislative, die übrigen Organe der rechtsprechenden Gewalt und die politischen und sozialen Machtgruppen im Staat, aber auch gegenüber jene Freiheiten, die aus der Person des Richters selbst erwachsen.158 Vor allem sichert die Unabhängigkeit die richterliche Freiheit gegen politische Partien,159 da sie an den Wahl- und Bestellungsverfahren des Bundesverfassungsrichters teilnehmen. Um ihre Unabhängigkeit zu garantieren, müssten die Verfassungsrichter den vom französischen Politiker und Verfassungsrichter Badinter geprägten „le devoir d’ingratitude“ praktizieren.160 Dies ist gewiss kein positives menschliches Verhalten, für die Verfassungsrichter bildet es jedoch eine Tugend, eine unvermeidliche Pflicht gegenüber politischen Parteien. Eine Einflussnahme könnte auch aus der öffentlichen Kritik stammen. Ist sie begrenzt, so schafft sie Transparenz und trägt zum Vertrauen der Rechtsgemeinschaft 150

Simon (1975), S. 1. Sachliche Unabhängigkeit besagt einerseits, dass keinem Richter für die Erledigung seiner Aufgaben Anweisungen gegeben werden dürfen, andererseits, dass kein Richter solche Anweisungen im Falle ihrer verfassungswidrigen Erteilung beachten darf. Persönliche Unabhängigkeit bedeutet ihrerseits Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit, sie dient „der Sicherung der sachlichen Unabhängigkeit der Richter, die nicht nur in Gefahr ist, wenn dem Richter Weisungen erteilt werden, sondern auch dann, wenn er wegen seiner Entscheidungen Nachteile für seine persönliche Rechtsstellung befürchten muß und wenn die Besetzung der Gerichte nicht nur bei der erstmaligen Anstellung planmäßiger Richter, sondern schlechthin von der vollziehenden Gewalt gesteuert werden könnte“; vgl. Hesse (1995, Neudruck 1999), Rn. 554 f. 152 Nach Arndt (1976), S. 315: „Unabhängig ist niemals der Richter als Person, als Beamter, sondern das Gericht als Institution, als Amt. Unabhängigkeit ist dem Richter nicht um seiner selbst willen verliehen, sondern wegen seiner Abhängigkeit vom souveränen Volke, das ihn legitimiert hat, in seinem Namen zu urteilen“. Deshalb sei „der politische Gehalt der Unabhängigkeit die Abhängigkeit“ vom Volk. 153 Baur, S. 1 ff. 154 Oppermann, S. 35. 155 Häberle (2013), S. 752; s. auch Limbach (1999), S. 92 ff. 156 Lamprecht, S. 31. 157 Arndt (1976), S. 315 f., diese Freiheit sei freilich keine formale, denn „das Problem der richterlichen Unabhängigkeit ist wie alle Verfassungsprobleme ein politisches Problem und sein Verständnis darum nicht möglich, wenn man nach dem politischen Sinngehalt dieser Begriffsbildung sucht“. 158 Billing, S. 90. 159 Eichenberger, S. 161 f. 160 Dazu D. Rousseau, S. 21 ff.; Cassia, S. 9 ff. 151

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in die Rechtspflege bei; dagegen sei eine öffentliche Kritik unzulässig, deren Äußerung zu bestimmten Entscheidungen mit dem Ziel ihrer Beeinflussung, bevor diese vom Gericht getroffen worden sind, gemacht worden sei.161 Darüber hinaus besagt Unabhängigkeit nicht Freiheit von Verantwortlichkeit,162 sie lässt sich in einer Demokratie keineswegs absolut auffassen.163 Diese Verantwortlichkeit des Verfassungsrichters steht nicht im Widerspruch zu seiner Unabhängigkeit, sondern sie ist im Gegenteil ihre Folge.164 d) Das Prinzip der Verfahrensgerechtigkeit Häberle hat die „Verfahrensgerechtigkeit“ als universales Prinzip des Verfassungsprozessrechts vorgeschlagen.165 Im Verfassungsprozess sind die formalen Garantien zugunsten der rechtsuchenden Parteien nicht vermindert, zugleich sind indes die Mittel verstärkt, die es dem BVerfG gestatten, seine Aufgabe im Dienste der objektiven Rechtsordnung zu erfüllen.166 Verfahrensgerechtigkeit umfasse die bereits entwickelten Grundsätze der Unabhängigkeit des Gerichts und der Öffentlichkeit der Verfassungsprozesse. Relevant sind auch ferner Prinzipien wie rechtliches Gehör, Unschuldsvermutung, angemessene Verfahrensdauer und faires verfassungsgerichtliches Verfahren.167 Der Grundsatz vom rechtlichen Gehör ist im Verfassungsprozessrecht gültig, auch wenn seine Anwendbarkeit Besonderheiten besitzt, die man nicht übersehen kann. Morlok hebt richtig hervor, dass dieses Prinzip zum guten Teil nicht im Art. 103 Abs. 1 GG wurzeln würde, denn bei der Interpretation und Anwendung des Grundgesetzes im Verfassungsprozessrecht sind andere Verfassungsorgane und pluralistische Gruppen der Zivilgesellschaft zu hören oder zu beteiligen.168 In verfassungsgerichtlichen Verfahren ist der Inhalt dieses Grundsatzes insofern umfassender als in anderen Prozessordnungen. Der Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer gilt zweifellos auch in Verfassungsprozessen. Das BVerfG hat zwar immer wieder unter Beweis gestellt, dass es in dringlichen Fällen auch binnen kurzer Zeit – zumindest vorläufig durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfG) – zu entscheiden in der Lage ist; gleichwohl lässt sich eine Prognose der Verfahrensdauer der Prozesse vor dem BVerfG im Regelfall nicht wagen.169 Ohnehin 161

Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. III, Art. 97 Rn. 46. Heyde, in: Benda u. a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 33 Rn. 81. 163 Billing, S. 89. 164 Arndt (1976), S. 320 ff.: „Ein absoluter Richter würde eine Aufhebung der Demokratie bedeuten“. 165 Häberle (2014), S. 13. 166 Wintrich/Lechner, in: Bettermann u. a. (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. III/2, S. 643, 699. 167 Häberle (2014), S. 12 f. 168 Morlok (1993), S. 201 f.; anders Starck (2009), S. 129. 169 Kleine-Cosack, S. 33. 162

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könnte sich die Angemessenheit der Verfassungsprozessdauer nach den Umständen des Einzelfalles, dem prozessualen Verhalten der Beteiligten oder der Belastung des BVerfG richten. Faires Verfahren als prozessuales Prinzip des Verfassungsprozessrechts gehört zu den wesentlichen Grundsätzen des Verfassungsstaats. Es ergibt sich aus Art. 2 Abs. 1 GG – in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip – und schützt die Person grundsätzlich vor ihrer Objektivierung in einem Prozess. Nach diesem Grundsatz müsste sie die Möglichkeit haben, zur Wahrung ihrer Rechte auf Gang und Ergebnis des Prozesses Einfluss zu nehmen, prozessuale Befugnisse selbstständig auszuüben und Übergriffe des Staates oder anderer Verfahrensbeteiligter abzuwehren.170 Faires Verfahrens- und Unschuldsvermutungsprinzip verdient vor allem in den sogenannten „quasi-strafprozessualen Verfahren“171 (etwa Grundrechtsverwirkungsverfahren, Art. 18 Satz 2 GG; Parteiverbotsverfahren, Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG; Bundespräsidentenanklagen, Art. 61 GG; sowie Richteranklage, Art. 98 Abs. 2 und 5 GG) besondere Beachtung.172 e) Das Prinzip der Verfahrensautonomie Ob das BVerfG in der Lage ist, prozessuale Regeln zu schaffen, wird bislang in der Literatur diskutiert. Zum einen behauptet Zembsch, dass die Verfahrensautonomie „richterliche Erkenntnisse zu prozessualen Fragen“ sei, deren Beantwortung der Gesetzgeber bewusst dem BVerfG zugewiesen habe, da sie nicht mit den herkömmlichen Methoden richterlicher Rechtsbindung – insbesondere Auslegung und Rechtsfortbildung praeter legem – bewältigt werden können.173 Zum anderen ist Schlaich nicht überzeugt, die vermeintliche prozessuale Freiheit des BVerfG als „Autonomie“ zu kategorisieren.174 Denn das BVerfG, das – wie jedes andere Gericht – nicht nur an die Verfassung, sondern auch an die einfachen Gesetze gebunden sei, müsse sich im Übrigen auf Lückenfüllung im Wege der Analogie zum sonstigen deutschen Verfahrensrecht beschränken; die Lückenfähigkeit des BVerfGG sei so lediglich ein Mangel, nicht Ausdruck einer „Verfahrensautonomie“ des BVerfG.175 Häberle ist der Auffassung:176 „Ein Verfassungsgericht sollte nach eigenen, auf seine besonderen Funktionen zugeschnittenen Verhaltensregeln leben und es kann sie z. T. selbst schaffen“177. Das Prinzip der Verfahrensautonomie des BVerfG erscheint hier als evidente Bekundung des Verfassungsprozessrechts als konkreti-

170 171 172 173 174 175 176 177

Niemöller, in: Umbach u. a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, S. 107, 113 f. Wintrich/Lechner, in: Bettermann u. a. (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. III/2, S. 643, 699. Sachs (2010), Rn. 107. Zembsch, S. 67. Schlaich, ZZP 1973, S. 227, 230. Schlaich/Korioth, Rn. 57. Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 24 f. Häberle (2014), S. 218.

IV. Grundsätze des Verfassungsprozessrechts

207

siertes Verfassungsrecht.178 Unter diesem Grundsatz habe das BVerfG die Fähigkeit, „sein Verfahren selbstständig und unabhängig zu regeln“179. Um die Verfahrensautonomie zu verfechten, greift er nicht nur auf die besonderen Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit zurück, sondern auch auf die Verfassungsorganqualität des BVerfG. Dies kann akzeptiert werden. Häberle tut recht daran, seine These der Verfahrensautonomie im Wesentlichen weder in der Theorie der impliziten Befähigung der Gesetzgeber180 zugunsten des BVerfG noch in der viel zitierten Ansicht der Lückenfähigkeit des BVerfGG zu fundamentieren.181 Die erstere ist eine Fiktion, die nicht einfach gerechtfertigt werden kann; die zweite, die vom Begriff der „Lücke“ – „ein eigentliches und beliebtes Thema des Positivismus“182 – ausgeht, ist, wie Esser behauptet hat, eine Selbsttäuschung.183 Das Verfassungsprozessrecht im Sinne von Häberle verfällt „nicht der verbreiteten Lückenideologie“184. Er appelliert dagegen an den Propria der Funktionen des Verfassungsgerichts und des verfassungsgerichtlichen Verfahrens.185 Die Verfahrensautonomie des BVerfG rechtfertigt sich nicht in Verbindung mit Art. 94 Abs. 2 GG, sondern mit Art. 93 Abs. 1 GG. Dieser ist die Magna Charta des BVerfG, durch ihn erhält es seine Verfassungsorganqualität und durch ihn werden seine Kompetenzen gesichert.186 Auf diese Weise erscheint die Verfahrensautonomie als Annex der Zuständigkeiten des BVerfG; so könnte es sich auch gegebenenfalls gegen die einengende Verfahrensregelung des einfachen Gesetzes (Art. 94 Abs. 2 GG) auf Art. 93 Abs. 1 GG berufen: „Denn der Bundesgesetzgeber darf die verfassungsrechtlich gegebenen Kompetenzen, deren weite oder enge Interpretation Sache des BVerfG ist, nicht einengen“187.

178

Kritisch Achterberg, DVBl 1985, S. 649, 658. Zembsch, S. 109; Lechner, vor § 17 A. Hingegen verstehen Hillgruber/Goos, Rn. 23 unter Verfahrensautonomie die Herrschaft des BVerfG, „den Ablauf des Verfahrens nach seinem eigenen Willen“ zu bestimmen. 180 Dazu s. Brodführer, S. 24 ff. 181 Dazu s. Canaris, S. 15 ff. 182 Sauer (1970), S. 281. 183 Esser (1970), S. 175; Sauer (1970), S. 281: „,Lücken‘ gibt es aber nicht im Recht überhaupt“. 184 Häberle (2014), S. 152. Nicht zu verwechseln ist dieses abzulehnende Problem der Rechtslücke mit der Frage, ob das Recht alle Lebensverhältnisse, und wie weit, regeln soll, kann und will, vgl. Sauer (1970), S. 281. 185 Häberle (2014), S. 218. 186 Laufer, S. 296 ff. 187 Schlaich, ZZP 1973, S. 227, 232. Offen bleibt andererseits die Frage, ob das BVerfG durch seine Verfahrensautonomie zum „Gesetzgeber“ wird. Das Gesetz im weitesten Sinne – so Lenz, S. 135 – sei nicht nur Norm, sondern auch Urteil; daher seien Gesetzgebung und Rechtsprechung nicht prinzipiell voneinander zu trennen. „Das Gesetz enthält Urteilselemente, sowie das Urteil gesetzgeberische Elemente enthält“. So erweise sich die Annahme, dass jede Funktion die ausschließliche Kompetenz bestimmter Organe darstelle, als unhaltbar. 179

208

G. Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht

V. Interpretation des Verfassungsprozessrechts 1. Das Verfassungsprozessrecht: bloßes „technisches“ Recht? Das Problem der Interpretation des BVerfGG wird bisher in der Literatur wenig behandelt. Man nimmt ausdrücklich oder stillschweigend an, dass die herkömmlichen Auslegungsmethoden auch für das Verfassungsprozessrecht gelten.188 Unter diesem Gesichtspunkt richte sich die Auslegung des Verfahrensrechts nach den allgemeinen Grundsätzen und herkömmlichen Interpretationsmethoden, denn die prozessuale Betrachtungsweise sei keine besondere Methode, sondern betone lediglich die sachlichen Kriterien, die Zielsetzung und die Natur des Verfahrens, um zu einer gerechten Lösung prozessualer Fragen zu gelangen.189 So sei die Methode des Prozessrechts „nicht anders als in den übrigen Bereichen des Rechts“190. Darüber hinaus werde die „Gesellschaft der Anwender und Interpreten“191 des BVerfGG eingeengt, der Vorgang der Interpretation dürfe niemals zur Rechtsschaffung,192 geschweige denn zur Rechtsänderung führen, der Richter habe im Gegenteil auch hier das Recht lediglich „anzuwenden“193. Der Richter untersucht – nicht subsumiert – in den meisten Fällen die Behauptungen der Parteien dahingehend, „ob die beiderseits prätendierte Rechtsstellung dem Gesetze gemäß ist“194. Im Vorwort zur 1. Aufl. seines Grundrisses des Zivilprozessrechts und des Konkursrechts stellte Stein fest: „Ganz dagegen an rechtsphilosophischen Betrachtungen: der Prozeß ist für mich das ,technische Recht‘ in seiner allerschärfsten Ausprägung, von wechselnden Zweckmäßigkeiten beherrscht, der Ewigkeitswerte bar“195. Diese „technische“ Auffassung des Prozesses zeigt sich auch, wenn der verfassungsgerichtliche Prozess lediglich als „geordneter Rechtsgang“ definiert wird und das Verfassungsprozessrecht allein als „alle Rechtsnormen, die das Verfahren von und vor Verfassungsgerichten regeln“196, konzipiert wird. Wer 188

Auf dem Gebiet des Prozessrechts besteht die Neigung zu formalistischer Behandlung in ganz besonders starkem Maße, vgl. Hellwig, S. 14. 189 So Rosenberg u. a., S. 41 Rn. 8; Menger, 106 ff.; Wach, S. 254 ff. 190 Brehm, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, vor § 1 Rn. 46; Prütting, in: Prütting/Gehrlein (Hrsg.), ZPO Kommentar, Einleitung Rn. 55: „Das Verfahrensrecht unterliegt den allg. methodischen Regeln und Grundsätzen. Eine eigenständige zivilprozessuale Methodik und Hermeneutik gibt es nicht“; Baumbach u. a., Zivilprozessordnung, III. Anwendungshilfe Rn. 38. 191 So Böckenförde, in: Umbach u. a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, S. VII. 192 Wach, S. 255. 193 Lenz, 1940, S. 9 f. 194 Lenz, 1940, S. 9 f. 195 Stein, S. XIV. 196 Benda/Klein/Klein, Rn. 29; Stern, in: Kahl u. a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Ordner 13, Art. 89 – 104, Art. 94 Rn. 115: „Zum Verfahren wird man alle Normen zu rechnen haben, die das Procedere, den verfahrensmäßigen Ablauf, der dem BVerfG zugewiesenen Angelegenheiten betreffen“.

V. Interpretation des Verfassungsprozessrechts

209

so denkt, befasst sich nicht wirklich mit dem Problem der Interpretation des Verfahrensrechts. Bei der Gestaltung, Auslegung und Anwendung des Prozessrechts würde keine wissenschaftliche Methode greifen, denn es sei nur reine Praxis, also reine Routine.197 Philosophischen, ethischen oder politischen Elementen des Prozessrechts würde nicht Rechnung getragen.198 Zudem würden die materiell-rechtlichen Wertkategorien der Rechtsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit im prozessualen Raum keine Kraft besitzen, da sich aus der Prozesszielbestimmung „die Wertneutralität der prozessualen Normen als Verfahrensnormen“ eindeutig ergebe.199 Um die prozessuale Textnorm auszulegen, halten Verfechter dieser These allein die teleologische Auslegung für angemessen;200 sie setzen insofern ausschließlich eine teleologische Betrachtungsweise voraus und damit verbindet sich oft ein Hinweis auf Wertfreiheit oder „Wertneutralität“ der prozessualen Vorschriften und ihrer Interpretation,201 es sei denn, dass die teleologische Methode im Hinblick auf Gemeinwohl, Gerechtigkeit und Pluralismus Anwendung findet.202 Das Problem ist indes wesentlich komplexer, als es den Anschein hat, denn es hat mit der Frage zu tun, ob das allgemeine Prozessrecht und das Verfassungsprozessrecht eine eigene Methodik haben.203

2. Häberle und die Interpretation des Verfassungsprozessrechts Der Prozess ist keineswegs bloß eine formal-juristische Angelegenheit, er ist eher eine soziale und kulturelle Erscheinung, die eine sozial-ethische Aufgabe zu erfüllen hat, und bildet eine Konkretisierung des Gemeinwohls, des öffentlichen Interesses, 197 „Man sagt oft ebenso primitiv wie irreführend, das Prozeßrecht gehöre nicht in den Universitätsunterricht, man lerne es erst aus der Praxis der Gerichte. Das kann sich nur beziehen auf die rein formalen, technischen Vorschriften des bloßen Verfahrens. Wer sich hierauf beschränkt, wird zum Formalisten und Routinier, der in den Prozeßordnungen nur ,Geschäftsanweisungen‘ sieht“, vgl. Sauer (1951), S. IX f.; ders. (1929), S. 2 ff. 198 Dazu Weber, Studium Generale 1960, S. 182 ff.; s. auch Fenge, in: FS Weber, S. 135 ff.; Bruns, in: Thiel (Hrsg.), Enzyklopädie der geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden, S. 190 ff. 199 Sax, ZZP 1954, S. 21, 49, 51. 200 Zur vorrangigen Anwendung des teleologischen Kriteriums, s. Vogel (1969), S. 35 f. Schumann, in: FS Kerameus, Bd. I., S. 1209, 1224: „Die Antwort auf die Frage, welchen Sinn und welchen Zweck eine prozessuale Vorschrift hat, leitet maßgeblich die Interpretation“ des Prozessrechts. 201 Hagen, S. 12 f. 202 Sauer (1970), S. 296. 203 Schumann, in: FS Kerameus, Bd. I., S. 1209 f., meint: „Methodologische Überlegungen zum Prozessrecht gehen von der Erkenntnis aus, dass es eine eigene prozessuale Methode nicht gibt“.

210

G. Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht

der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit.204 Von hier aus erscheint – im Sinne von Sauer – der Prozess „nicht bloß als Rechtsprechung, sondern als Rechtsgestaltung; nicht bloß als Rechtsanwendung, sondern als Rechtssetzung; nicht bloß als Rechtsfindung, sondern als Rechtsschöpfung“205. Unter diesen Prämissen wird die Interpretation im Bereich des Verfassungsprozessrechts von großer Bedeutung.206 Auch verfassungsprozessuale Normen lassen sich interpretieren. Häberle207 spricht von „Auslegungsmethoden und Topoi im Verfassungsprozessrecht“ in dem Sinne,208 dass zwischen der Auslegung des Grundgesetzes und der Auslegung des BVerfGG enge Wechselbeziehungen beständen; eine sachliche Folge sei das Dominieren der beiden argumentativen Topoi in beiden Gebieten, die Auslegung des Verfassungsprozessrechts orientiere sich demnach am materiellen Verfassungsrecht.209 Die Entwicklung des Verfassungsprozessrechts als konkretisiertes Verfassungsrecht vermag eine materielle Behandlung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens vor der Gefahr einer allzu formellen und inhaltsleeren Betrachtungsweise zu bewahren.210 Da diese Normen materielles Verfassungsrecht bilden, sind die herkömmlichen Interpretationsmethoden nicht in der Lage, eine befriedigende Antwort anzubieten. Der Interpretation der verfassungsprozessualen Normen entsprechen dieselben Prinzipien und Methoden der Auslegung des Verfassungsrechts, insbesondere die verfassungskonforme Auslegung, die nicht mit dem Prinzip der materiellrechtsfreundlichen Auslegung des Prozessgesetzes zu verwechseln ist.211 Diese letzte Richtschnur zwingt den Interpreten der Verfahrensgesetze, bei mehreren möglichen Ergebnissen dasjenige Resultat zu wählen, das dem materiellen Recht am besten entspricht; als materiellrechtsfreundliche Prozessrechtsauslegung ist das Orientieren der Interpretation der Prozessgesetze an den Wertungen und Geltungsanordnungen des materiellen Rechts zu bezeichnen.212 Aber die Interpretation der 204

Sauer (1951), S. IX. Sauer (1951), S. 3. 206 Häberle (1998), S. 643: „Angesichts des fragmentarischen Charakters der Prozeßrechtsnormen und der Dynamik der Sache Verfassungsgerichtsbarkeit kommt den Auslegungsmethoden besondere Bedeutung zu“. 207 Häberle (1998), S. 643. 208 Wie z. B. „Aufgabe“ und „Autorität“ des BVerfG, sein Ansehen, der Wunsch nach seiner Entlastung, Arbeits- und Prozessökonomie usw., vgl. Häberle (1998), S. 644. 209 Tsatsos/Morlok, S. 125. 210 Weber, Studium Generale 1960, S. 183, 184 ff. 211 Verfassungsgerichtliche Normen müssen auch nach dem Ansatz der grundrechtskonformen und grundrechtsfreundlichen Auslegung interpretiert werden. Zur menschenrechtskonformen und menschenrechtsfreundlichen Interpretation, s. Kotzur (2001), S. 292. 212 Nach Schumann, in: FS Larenz, S. 571 ff., werden jedoch beide Prinzipien – verfassungskonforme Auslegung und materiellrechtsfreundliche Interpretation – nicht verwechselt. Die verfassungskonforme Auslegung sei Ausdruck der Hierarchie der Rechtsquellen, weil der Interpret gar nicht anders könne, als nur die verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes zu wählen, wolle er sich nicht den Vorwurf einhandeln, eine nichtige Norm anzuwenden; die materiellrechtsfreundliche Interpretation sei Ausdruck der Einheit der Rechtsordnung. Da 205

VI. Offener Beteiligtenkreis im Verfassungsprozessrecht

211

Normen des BVerfG bedarf auch eigener Methoden,213 die Häberle scharfsinnig als „Objektivierungstechniken“ bezeichnete:214 etwa die Orientierung an dem Einzelfall, die Angemessenheit der prozessualen Formalien an Ziel und Zweck des verfassungsgerichtlichen Verfahrens, die Auslegung und Umdeutung der Anträge, die antragsfreundliche Auslegung, die einschränkende Auslegung der Kompetenznormen. Selbst diese Deutungsmethoden sind je nach verfassungsgerichtlichem Prozess zu ändern.215 Darüber hinaus muss man sagen, dass nicht nur materielle, sondern auch prozessuale Normen rechtspolitische Zielsetzungen verwirklichen können;216 damit wird der prozessuale Rechtspositivismus sowohl mit seiner vermeintlichen „Wertneutralität“ der prozessualen Normen als auch mit seiner interpretatorischen „Wertfreiheit“ der Verfassungsprozessrechtsnormen unhaltbar. Das Verfassungsprozessrecht ist selbstverständlich „mehr als nur ein interessantes technisches Recht“217.

VI. Offener Beteiligtenkreis im Verfassungsprozessrecht – „Beteiligte“ statt „Parteien“ 1. Verfassungsgerichtlicher Prozess ohne prozessuale Parteien Im Hinblick auf den Beteiligtenkreis zeigt sich auch, inwiefern das Verfassungsprozessrecht eigenständig von sonstigen Verfahrensordnungen und dem materiellen Verfassungsrecht ist. Im Unterschied zu anderen Prozessrechtsordnungen spricht das BVerfGG treffend nicht von Parteien des Verfahrens, sondern von Beteiligten; diese nehmen in den verfassungsgerichtlichen Verfahren eine besondere Stellung ein,218 obwohl es im BVerfGG an einer allgemeinen, für alle Verfahrensarten gleichermaßen geltenden Regelung fehlt.219 Der Kreis der Beteiligten ist nicht für alle Verfahren einheitlich festgelegt, sondern richtet sich nach den Bestimmungen

zwischen dem materiellen Recht und dem Prozessrecht kein Rangverhältnis, sondern ein Gleichordnungsverhältnis bestehe, fehle hier das Motiv, um ein ungültiges oder rechtswidriges Auslegungsresultat zu sprechen. 213 Schumann, JZ 1973, S. 484, 499: „Die Auslegung des BVerfGG hat sich insgesamt stets verpflichtet gefühlt, den Besonderheiten der Verfassungsgerichtsbarkeit Rechnung zu tragen, ohne die Sinn- und Wertungszusammenhänge mit dem übrigen Prozeßrecht zu verlieren“. 214 Häberle (1998), S. 645. 215 Häberle (1998), S. 645 f. 216 Weber, in: Studium Generale 1960, S. 183, 184 ff., s. auch de Boor, S. 7 ff. 217 Geiger (1981), S. 40. 218 Pestalozza, S. 45 Rn. 27. 219 Schmidt, S. 38.

212

G. Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht

über die einzelnen Verfahrensarten.220 Die Vielfalt der verfassungsgerichtlichen Verfahren erlaubt deshalb keine einheitliche Aussage.221 Wichtig ist es nunmehr, beide Begriffe sorgfältig zu unterscheiden. Aus einem rein terminologischen Blickwinkel versteht man unter dem Begriff Beteiligte „jemanden, der an etwas beteiligt ist; Mitwirkende[r], Betroffene[r]: eine für alle -n befriedigende Lösung“222, während eine Partei „einer der beiden Gegner in einem Rechtsstreit“ ist.223 D. h., Beteiligte setzen Zusammenarbeit oder Mitwirkung voraus; es ist nicht nötig, dass ein Streit oder eine Gegnerschaft besteht. Im Gegensatz dazu verlangt der Begriff Partei sowohl einen Gegner als auch einen Streit. Rechtlich seien Beteiligte, „wer – ohne das Verfahren zu führen – eine bestimmte Funktion wahrnimmt und deshalb berechtigt ist, Anträge zu stellen, Rechtsmittel einzulegen und sonstige Verfahrenshandlungen vorzunehmen“224. Partei werde „derjenige, von dem oder gegen den bei Gericht Rechtsschutz begehrt wird“225. Parteien seien so „diejenigen Personen, von welcher (,Kläger‘) und gegen welche (,Beklagte‘) die staatliche Rechtsschutzbehandlung im eigenen Namen begehrt wird“226. Der Beteiligte verfolgt nicht unbedingt, sein eigenes und persönliches Interesse zu vertreten oder zu befriedigen, er führt keinen Prozess, sondern er wirkt lediglich in ihm mit. Die Partei bezieht sich immer (z. B. in der ZPO) auf einen Kläger und einen Beklagten.227 Der Prozess wird durch das Rechtsschutzbegehren einer Partei eingeleitet, im Interesse der Parteien geführt und entschieden.228 Nach dem „Zweiparteienprinzip als Verbot sogenannter Insichprozesse“229 stehen in „einem Prozess […] stets zwei Personen – nicht mehr und nicht weniger –“230, die das Verfahren beherrschen,231 d. h. der Prozess „hat zur Voraussetzung, dass zwei Parteien einander gegenüberstehen, von denen die eine angreift, die andere den Angriff abwehrt“232. Für das Modell des kontradiktorischen Verfahrens ist ein Prozess ohne Kläger oder

220 Sachs (2010), Rn. 64; Umbach/Dollinger, in: Umbach u. a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 20 Rn. 10. 221 Benda/Klein/Klein, Rn. 216. 222 Duden: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 1, S. 373. 223 Duden: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 5, S. 1954. 224 Creifelds/Weber, S. 202. 225 Creifelds/Weber, S. 945. 226 Schreiber, in: Lüke/Prütting (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, Ordner 7, 18/260, S. 1. 227 Dazu Henckel, S. 15 ff. 228 Lindacher, in: Krüger/Rauscher (Hrsg.), Münch-Komm-ZPO, Bd. 1, vor § 50 ff. Rn. 1. 229 Lindacher, in: Krüger/Rauscher (Hrsg.), Münch-Komm-ZPO, Bd. 1, vor § 50 Rn. 4 ff.; Jauernig/Hess, S. 67 Rn. 3. 230 Gehrlein, in: Prütting/Gehrlein (Hrsg.), ZPO Kommentar, § 50 Rn. 3. 231 Schellhammer, Rn. 1163. 232 Vollkommer, in: Zöller (Hrsg.), ZPO, vor § 50 Rn. 2.

VI. Offener Beteiligtenkreis im Verfassungsprozessrecht

213

Beklagten nicht denkbar,233 die Partei bildet daher einen Schlüsselbegriff des Prozessrechts.234

2. „Beteiligte“ als angemessene Kategorie des Verfassungsprozessrechts Für die Abgrenzung des Partei- und Beteiligtenbegriffs ist auch wichtig, ob es sich um ein kontradiktorisches Verfahren handelt oder nicht. Offensichtlich ist aber, dass das Zweiparteienprinzip des Zivilprozesses für das verfassungsgerichtliche Verfahren nicht gilt. Die Parteien im allgemeinen Verfahrensrecht verfechten ein eigenes und privates Interesse; die Beteiligten im Verfassungsprozessrecht bringen dagegen das öffentliche Interesse der Verfassung vor,235 sogar wenn sie sich auf ein konkretes Grundrecht berufen.236 Leibholz hat daher richtig hervorgehoben, dass der Verfassungsprozess „kein Parteienstreit wie der Zivilprozess“ ist.237 Aus diesem Grund ist der Begriff Partei – als prozessuale Kategorie – auf das Verfassungsprozessrecht nicht anwendbar. Sein Inhalt passt nicht zum öffentlichen, offenen und pluralistischen Wesen des Verfassungsprozesses. Dies bedeutet jedoch keine Besonderheit oder Eigenart des Verfassungsprozessrechts. Stattdessen handelt es sich um einen strukturellen und substanziellen Unterschied zwischen dem Verfassungsprozessrecht und dem sonstigen Prozessrecht. Dies verstärkt die Eigenständigkeit des Verfassungsprozessrechts. Es ist daher kein Zufall, dass das BVerfGG von Beteiligten, nicht von Parteien spricht. Im Verfassungsprozessrecht ist Beteiligte ein breiterer Begriff als die Partei im sonstigen Verfahrensrecht. Materiell ausgelegt umfasst der Begriff Beteiligte nicht nur diejenigen, die formell und nach dem BVerfGG an einem Verfassungsprozess teilnehmen können, sondern auch alle,238 die in der öffentlichen Meinung, die ein Faktor der Legitimation ist,239 mitwirken: z. B. die Bürger, die Presse, die Politiker, die Behörden, die Fachleute, die Verbände usw. Alle sind am Ablauf und am Ausgang des verfassungsgerichtlichen Verfahrens interessiert. Deshalb bemüht sich das Verfassungsprozessrecht des Pluralismus, alle Stimmen zu hören und alle Meinungen zu bewerten, denn es gibt hier keinen geschlossenen Beteiligtenkreis. Zu Recht haben Wintrich und Lechner festgestellt, dass der Verfassungsprozess zur 233

Lorenz, in: Krause (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, Bd. 4, 9/430, S. 1. Gehrlein, in: Prütting/Gehrlein (Hrsg.), ZPO Kommentar, § 50 Rn. 1. 235 Daneben freilich auch Individualinteresse. 236 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1, 14 ff. 237 Leibholz, in: Das Bundesverfassungsgericht 1951 – 1971, S. 37. 238 Anders Möllers, in: Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, S. 281, 318. 239 Schulze-Fielitz, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 115, spricht von verschiedenen Funktionen der öffentlichen Meinung: Integrationsfunktion, Funktion der Kontrolle und Funktion der Legitimation. 234

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G. Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht

Ausweitung der Prozessteilnahme tendiert.240 Das gilt sowohl für das Verfassungsprozessrechtsverständnis im weiteren Sinne (z. B. bei der Verfassungsrichterwahl) als auch im engeren Sinne. Bei der abstrakten Normenkontrolle ist Beteiligter beispielsweise der Antragsteller,241 bei der Verfassungsbeschwerde ist er der Beschwerdeführer. Es gibt in beiden Verfahren keine Antrags- bzw. Beschwerdegegner.242 Auch wenn man den Verfahrensorganstreit für einen „kontradiktorischen Vorgang“ hält, kennt er auch keine Parteien, sondern Beteiligte.243 Während im Organstreit Antragsteller und Antragsgegner Beteiligte sind, kennt die konkrete Normenkontrolle keine Beteiligten.244

VII. Rechtsquellen des Verfassungsprozessrechts – Pluralität und Offenheit 1. Allgemeines In der Literatur ist das Problem der Rechtsquellen des Verfassungsprozessrechts kaum analysiert worden.245 Als wichtigste Rechtsquellen werden das Grundgesetz, das BVerfGG und die Geschäftsordnung des BVerfG verstanden;246 nur selten ist über 240

Wintrich/Lechner, in: Bettermann u. a. (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. III/2, S. 700. In der abstrakten Normenkontrolle existieren keine prozessualen Parteien und sie selbst ist kein kontradiktorischer Prozess. Der Antragsteller stellt nur die Verfassungsfrage vor dem BVerfG, ob eine bestimmte Norm verfassungsmäßig ist. Der Gegenstand des Prozesses bildet nicht das Interesse des Antragstellers und nicht dessen Antrag, sondern die Norm als solche in ihrer Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. So erscheint hier der Antragsteller als bloßer Beteiligter, als Mitwirkender in der Sache des Schutzes der Verfassung. 242 Schlaich/Korioth, Rn. 61. 243 Das Organstreitverfahren ist oft als ein „kontradiktorisches Verfahren“ bezeichnet worden, in dem sich Verfassungsorgane gegenüberstehen würden, und daher sei es kein objektives Verfahren. Gegenstand dieses Verfahrens bilde die gegenseitige Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen. Dies hält man freilich für irrig. Erstens ist das Organstreitverfahren kein kontradiktorischer Prozess, weil die Verfassungsorgane in Wahrheit kein eigenes und subjektives Interesse haben, so sehr das Grundgesetz auch von „Rechten und Pflichten“ spricht. Es handelt sich eher darum, die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung zu sichern, dies ist offenbar eine objektive Verfassungsfrage. Antragsteller und Antragsgegner sind Mitwirkende. In diesem Fall vertreten sie das Interesse der Verfassung selbst. Zutreffend hat Rupp-v. Brünneck, S. 247 festgestellt, dass „auch bei den kontradiktorischen Verfassungsstreitigkeiten im engeren Sinne […] das Gericht weniger im Dienst subjektiver Rechtsverfolgung“ steht, „es soll vielmehr die Verfassung mit letzter Verbindlichkeit auslegen und ihre Einhaltung als objektive normative Ordnung wahren“. Zweitens gehören beide Beteiligte ein und demselben Rechtssubjekt „Staat“ an, was dieses Verfahren tatsächlich zu einem In-sichProzess macht, der mit dem Zweiparteienprinzip unvereinbar ist. Vgl. Schlaich/Korioth, Rn. 79. 244 Pestalozza, S. 45 Rn. 27. 245 Bethge, in: Maunz u. a. (Hrsg.), BVerfGG Kommentar, Bd. 1, Vorbemerkung Rn. 203 ff.; Benda/Klein/Klein, Rn. 30 ff.; Sachs (2010), Rn. 1 ff. 246 Ritterspach, EuGRZ 1976, S. 57 ff. 241

VII. Rechtsquellen des Verfassungsprozessrechts

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andere Rechtsquellen diskutiert worden: Etwa ob die Rechtsprechung des BVerfG selbst eine Rechtsquelle des Verfassungsprozessrechts bildet.247 Gegen die etatistische Rechtsquellenlehre hält Häberle an einer pluralistischen Theorie der Rechtsquellen fest; beide Theorien werden in ihren Grundzügen nun zusammengefasst.

2. Etatistische Theorie der Rechtsquellen „Alles Recht ist staatsgeschaffen“248. Das ist die Ausgangsthese dieser Theorie, die von der Metapher der Quellen ausgeht.249 Das Recht sei vor allem ein Produkt staatlicher Entscheidung, andere Formen der Rechtsentstehung seien kaum noch vorstellbar.250 Das Recht wäre als eine Kraft oder als ein Wille aufzufassen, der vom Staat – und nur vom Staat – ausgeht. Das Recht bilde auf diese Weise ein fertiges Produkt des Staates.251 Nach dieser naiven positivistischen Betrachtung könnten alle anderen Quellen nur in Betracht kommen, soweit sie direkt oder indirekt dem obersten Staatswillen Ausdruck verleihen.252 Man lehnt auch die Vielfalt von Rechtsordnungen und ihre Beziehungen untereinander ab,253 oder wenn diese Vielfalt angenommen wird, sei es nötig, ihre Rangfolge zu bestimmen und festzulegen.254 Etwa beziehe sich das Problem der Rechtsquellen – nach Radbruch – auf einen „Kampf zwischen Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht um den Vorrang“255, es handle sich um „keinen Rechtsstreit, sondern eine Machtprobe“, die sich meist zugunsten des staatlichen Rechts entscheiden werde. So bestehe nicht nur eine äußerliche Rangfolge zwischen Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht, sondern auch eine Hierarchie innerhalb des Gesetzesrechts, die durch die Starrheit der Rechtsquellenhierarchie gesichert werden müsse.256 Darüber hinaus hält die etatistische Theorie das Gewohnheitsrecht für „fast bedeutungslos“257, denn der Staat erscheint hier als das einzige Organ des Rechts bzw. als der einzige Rechtschöpfer.258

247

Benda/Klein/Klein, Rn. 33; Bethge, in: Maunz u. a. (Hrsg.), BVerfGG Kommentar, Bd. 1, Vorbemerkung Rn. 212. 248 Ross, S. 297. 249 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) HStR V, § 100 Rn. 1 ff. 250 Grimm, in: Grimm (Hrsg.), Einführung in das Recht, S. 41. 251 Kritisch Romano, S. 88 ff. 252 Ross, S. 296. 253 Romano, S. 88 ff. 254 Grimm, in: Grimm (Hrsg.), Einführung in das Recht, S. 71. 255 Radbruch, S. 47 f. 256 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) HStR V, § 100 Rn. 1 ff. 257 Radbruch, S. 47 f. 258 Romano, S. 90.

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G. Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht

3. Pluralismus und Öffnung der Rechtsquellen Häberle hat die Metapher der Rechtsquelle und ihre traditionell-etatistische Theorie infrage gestellt. Seiner Ansicht nach suggeriere das Sprachbild „Rechtsquelle“, dass das Recht mehr oder wenig fertig, vorhanden und vorgegeben aus einer Ursache folge,259 dass das Recht ein „law in action“ ist bzw. erst durch und in der Auslegung „wird“260. Der dogmatische Begriff eines völlig abgeschlossenen Rechts sei deshalb nicht mehr als „eine Illusion“261. Zudem bestehe im gegenwärtigen Verfassungsstaat kein geschlossener Katalog von Rechtsquellen;262 ihre Aufzählung sei nur exemplarisch und der Staat habe nicht mehr das Rechtsquellenmonopol.263 Dem steht schon die heutige Erfahrungswelt des Rechtspluralismus entgegen und es hält keine adäquaten Erklärungsangebote für diese rechtspluralistische Vielfalt bereit. Zu Recht vertritt Häberle – in Anlehnung an Esser264 – den pluralistischen Charakter der Rechtsquellen, die nicht vom bloßen „Stufenbau“ ausgehen.265 Nur durch eine Beobachtung des realen Vorgangs aktueller Rechtsbildung lassen sich daher alle Einzelfragen der Rechtsquellen- und Interpretationslehre erläutern.266 Darüber hinaus hat die offene und pluralistische Theorie der Rechtsquellen das simple Stufenbau-Denken der Rechtsordnung unterbrochen;267 vielmehr ist der Stufenbau der Rechtsordnung (das Bild der Hierarchie) nur eine Seite des Wirkens der Rechtsquellen; in der Praxis ist die Rechtsanwendung aber dynamisch,268 „so findet neben der verfassungskonformen Auslegung der Gesetze eine ,gesetzeskonforme Auslegung der Verfassung‘ statt“269. Für Häberle ist ferner fraglich,270 ob die übliche Unterscheidung zwischen formalen – Rechtserkenntnisquellen – und materiellen Rechtsquellen – Rechtserzeugungsquellen – aufrecht erhalten werden kann,271 denn das Richterrecht,272 das kein „pathologischer Sonderfall, sondern eine 259

Häberle, ARSP 1995, S. 127, 138; s. auch Michael (1997), S. 21 f. Häberle (1996), S. 513; ders., ARSP 1995, S. 127, 138. 261 Esser (1990), S. 300. 262 Häberle (1998), S. 164 f. 263 Häberle (1998), S. 91 f., 234, 759. 264 Esser (1949), S. 115 ff.; ders. (1990), S. 14. 265 Häberle (1996), S. 514; ders., ARSP 1995, S. 127, 139. 266 Esser (1990), S. 14, 137 ff. Laut Esser seien reale Rechtsquellen „der intentionale Rechtsschöpfungsakt sozialen Handels mit Rechtserfolg“, nur das „fait social, mit dem die neue Rechtsnorm Wirksamkeit erhält, nicht aber das Produkt dieses Aktes, die so geschaffene Norm selbst“. 267 Esser (1990), S. 291. 268 Häberle (2013), S. 166 f.; ders. (1998), S. 377 Anm. 58a, 412 f., 436. 269 Häberle (1996), S. 516 f.; ders., ARSP 1995, S. 127, 140 f. 270 Häberle (2013), S. 164. 271 Dazu Meyer-Cording, S. 50 ff. 272 Dazu Ipsen (1975), S. 60 ff.; Schneider (1968), S. 7 ff.; Hillgruber, JZ 2008, S. 745 ff.; ders., JZ 1996, S. 118 ff.; nach Starck, VVDStRL 34/1976, S. 43, 77, sei Richterrecht keine 260

VIII. Zwischenergebnis

217

notwendige Erscheinungsform des Rechtssystems“ sei,273 habe sich längst „zwischen“ diesen Kategorien etabliert.274 Damit wird die alte Alternative Gesetzes- oder Richterrecht275 im Verfassungsstaat immer mehr zu einem „Sowohl-als-auch“ beider Rechtsquellen und zu einer Offenheit gegenüber neuen Rechtsquellen.276 Diese Pluralität und Offenheit der Rechtsquellenlehre gilt auch für das Verfassungsprozessrecht. Jenseits des Grundgesetzes, des BVerfGG und der GOBVerfG müssen allgemeine Rechtsprinzipien, europäisches Verfassungsprozessrecht, Richterrecht,277 Rechtsvergleiche278 und Sondervoten279 als Rechtsquellen des Verfassungsprozessrechts in Betracht gezogen werden.

VIII. Zwischenergebnis Das Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht ist kein bloßes technisches Recht. Es ist selbst materielles und konkretisiertes Verfassungsrecht. Die Konstitutionalisierung seiner Aufgaben, Prinzipien, Interpretationen, Subjekte und Rechtsquellen nähert das Verfassungsprozessrecht mehr an das Verfassungsrecht als an die Prozessrechtslehre dermaßen, dass die Eigenständigkeit des Verfassungsprozessrechts auf die allgemeine Verfahrensrechtstheorie hin festgestellt werden kann. Nicht nur das BVerfG, sondern auch die Beteiligten finden im Verfassungsprozessrecht ein pluralistisches, offenes und öffentliches Forum, in dem die Bürger und Bürgerinnen an öffentlichen Fragen teilnehmen können. Die Verfassungsgerichtsbarkeit legitimiert sich nicht nur durch ihre konstitutionelle Einrichtung oder die „Rationalität“ ihrer Entscheidungen, sondern auch im Wesentlieigenständige Rechtsquelle, „weil dem Richter eine Kompetenz zur abstrakt-generellen Rechtssetzung fehlt“. Rüthers (2014), S. V, behauptet: „Die Bundesrepublik hat sich vom demokratischen Rechtsstaat zum ,Richterstaat‘ gewandelt. Große Bereiche aller Teilrechtsgebiete sind nicht mehr überwiegend durch Gesetze, sondern durch ,Richterrecht‘ geregelt. In diesen Bereichen gilt die weithin unbestrittene Tatsache: Recht ist das, was die zuständigen obersten Gerichtsinstanzen rechtskräftig für geltendes Recht erklären, – bis zur nächsten Änderung dieser Rechtsprechung. Das gilt auch für das Verfassungsrecht. Das Bundesverfassungsgericht ist zur obersten nationalen Rechtsquelle geworden“. 273 Schönberger, VVDStRL 71/2012, S. 296, 332. 274 Dazu s. Kotzur (2004), S. 518 f. 275 Zum Unterschied zwischen Richterrecht und „Rechtsprechungsrecht“, s. Albers, VVDStRL 71/2012, S. 257, 286 f., 367. 276 „Neue“ Rechtsquellen besagt hier für Häberle (1998), S. 165, alte Rechtsquellen in neuer Gestalt, neue Rechtsquellen (etwa international anerkannte Menschenrechte, andere als die schon geschriebenen vorhandenen Grundrechte) und gelegentlich auch Naturrecht; so auch Kotzur (2004), S. 517 ff. 277 Benda/Klein/Klein, Rn. 33: „Zu den Rechtsquellen des Verfassungsprozessrechts muss man aber auch die Rechtsprechung des BVerfG zählen, soweit sie sich mit verfassungsprozessualen Fragen befasst“. 278 Häberle, VVDStRL 71/2012, S. 348, 349. 279 Häberle, VVDStRL 71/2012, S. 348.

218

G. Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht

chen durch Partizipationsmöglichkeiten an den verfassungsgerichtlichen Verfahren. Wie in keiner anderen Prozessordnung sind daher im Verfassungsprozessrecht die öffentlichen Anhörungen, das Institut des amicus curiae briefs, die Beteiligung von Dritten – dies nicht im herkömmlichen und eingeschränkten Sinne der Prozessrechtslehre, sondern im Sinne einer offenen und demokratischen Partizipationsmöglichkeit aller im Verfassungsprozessrecht – und das Sondervotum von großer Bedeutung280. Das Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht ist das Verfahrensrecht der Verfassung als öffentlicher Prozess, der offenen Zivilgesellschaft und der Verfassungsgerichtsbarkeit, die Häberle glücklicherweise als „Pluralismusrechtsprechung“ benannt hat.281

280 Das Sondervotum ist auch „eine Form der Absorption von politischer Opposition“, so Ladeur, in: Hase/Ladeur, Verfassungsgerichtsbarkeit und politisches System, S. 189, 316. 281 Häberle (2014), S. 195.

H. Schlussbemerkungen 1. Häberles Verfassungsverständnis geht von einem „gemischten Verfassungsbegriff“ aus, der den öffentlichen Prozess des Sich-Verfassens und dessen kulturelle Verwurzelung in den Mittelpunkt rückt (Kotzur). Die pluralistische Verfassungstheorie von Häberle ist kein Zufall. In allen von ihm geleisteten Beiträgen steht offen oder versteckt eine stichhaltige und kohärente Entwicklung eines bestimmten verfassungsrechtlichen Problems, das stets von einem multidisziplinären Ansatz behandelt wird. Die Verfassungstheorie des Pluralismus bildet heutzutage eine der wichtigsten Theorien der Verfassung (De Vega), deren Absicht es ist, Verfassung, Staat und offene Gesellschaft miteinander zu verbinden. Daher kommt es nicht selten vor, dass der Begriff „Pluralismus“ im Rahmen des öffentlichen Rechts der Gegenwart zunehmend mit ihr assoziiert ist. Häberles Verfassungsbegriff hat sehr wenig mit einem streng formalistisch-rechtsstaatlichen Verfassungsverständnis zu tun. 2. Das Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit ist nur zu bestimmen, wenn man dem Verhältnis von Recht und Politik Rechnung trägt. In der Literatur verabsolutiert man allzu oft entweder Herrschaft, Konflikt sowie Irrationalität oder Wohlfahrt und Glück als innewohnende Elemente der Politik. Solcher Manichäismus wird in Häberles Theorie überholt. In der Politik geht es nicht um die Technik zum Machterwerb und zur Machtbewahrung für beliebige Zwecke, sie ist weder bloße „Beeinflussung der Leitung eines politischen Verbandes“ (Weber) noch die Kunst der Machtausübung unter der Unterscheidung von Freund und Feind (Schmitt). Politik ist demgegenüber die Kunst des Möglichen und des Notwendigen; die verantwortliche und rationale Ausübung der Macht, die kein Zweck an sich ist, mit dem Ziel einen demokratischen Konsens zu erzielen; die gute Ordnung einer offenen und pluralistischen Gesellschaft, an der alle Bürger, verfassungsrechtlichen Organe und Institutionen teilhaben. 3. Während im dualistischen Trennungsdenken Recht und Politik als Gegenpole erscheinen, bringen sie sich für Häberle dermaßen in Verbindung, dass sie sich nicht säuberlich voneinander trennen lassen. Er vertritt daher weder einen Dualismus noch eine völlige Identifizierung von Recht und Politik. Sie sind dagegen partielle Elemente der res publica, die gemäß dem Kriterium der Arbeitsteilung organisiert werden müssen. Zwischen beiden existieren Koinzidenzen, aber auch Spannungen, die gleichwohl gelöst werden können. Zwischen Recht und Politik gibt es keinen Beginn und kein Ende. Das derzeitige Recht ist das Ergebnis der Politik von gestern. Die Politik von heute schafft das Recht von morgen. Eine Vorrangstellung des einen gegenüber dem anderen existiert deshalb nicht. Insofern stellen sie sich in Häberles Theorie nicht mehr als zwei autarke Kreise dar, die sich in einem Punkte, dem Gesetz,

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H. Schlussbemerkungen

berühren, wobei der Norminhalt als politisch, Normgewinnung und Normanwendung als der Rechtssphäre zugehörig erscheinen. Recht und Politik stehen sich also im demokratischen Verfassungsstaat nicht gegenüber, sie sind – wie Häberle sagt – „Teilaspekte, Teilfunktionen der ganzen res publica“. Sie dienen kooperativ dem Gemeinwohl. 4. Unpolitisches Verfassungsrecht ist nicht nur ein Selbstbetrug, sondern auch eine Unmöglichkeit. Das Verfassungsrecht nach Häberle „führt eine politische Existenz“. Daher liegt seine Eigenart in seiner Natur als politisches Recht. Dennoch zeigt sich das Politische in Häberles Denken auch in seiner Anschauung des Verfassungsrechts als Recht der Öffentlichkeit und als Konflikt- und Kompromissrecht. Demokratisches Verfassungsrecht lässt sich als „Recht der Öffentlichkeit par excellence“ begreifen. Dies besagt, dass die Öffentlichkeit das Gesetz ist, unter dem die Verfassung angetreten ist und unter dem sie sich weiterzuentwickeln hat. In der Öffentlichkeit liegen die Voraussetzungen und Bahnen der Fortentwicklung der Verfassung. Die Wirklichkeit der Verfassung wird die Wirklichkeit ihres Verfassungsrechts als Recht der Öffentlichkeit bzw. als Recht der res publica. Das Politische schließt unvermeidlich Streite und Konsense ein, aber auch (Gestaltungs-)Möglichkeiten. Der Konflikt enthält schon von vornherein den Samen des Konsenses. Man könnte nicht von Konsens sprechen, wenn es im Voraus nicht einen Streit gibt. Da das Verfassungsrecht die politische Ordnung eines Gemeinwesens regelt, sucht es den Grundkonsens einer Zivilgesellschaft. In diesem Sinne, argumentiert Häberle zutreffend, wird das Verfassungsrecht auch Konflikt- und Kompromissrecht. 5. In der pluralistischen Verfassungstheorie bildet das Politische keinen Zusatz der Verfassungsgerichtsbarkeit, ganz im Gegenteil wohnt es der Verfassungsgerichtsbarkeit inne. Diese führt ein unumstrittenes politisches Wesen aus folgenden Gründen: Recht und Politik zeigen sich stets untrennbar, das reine Recht und die pure Politik bestehen nicht; die Verfassung hat große politische Gehalte; das Verfassungsrecht wird echtes politisches Recht; Verfassungsstreitigkeiten schließen immer eine politische Frage ein; die Interpretation der Verfassung ist gleichzeitig rechtlicher und politischer Vorgang; die Entscheidungen des BVerfG haben oft bedeutende Auswirkungen auf den Bereich der Politik; (Verfassungs-)Richter haben als vorverständnisgeleitete Menschen auch eine unvermeidliche politische Dimension. So steht die Verfassungsgerichtsbarkeit weder zwischen noch im Spannungsfeld des Rechts und der Politik, da das Politische von vornherein zu ihrem Kern gehört. Mit vollem Recht behauptet daher Häberle, dass das viel verwendete Motto Verrechtlichung der Politik oder Politisierung des Rechts im Verfassungsstaat der Gegenwart zu wenig besagt, allenfalls die Warnung vor einem Zuviel an judicial activism des BVerfG. 6. Wie schon gesehen tritt die Verfassungstheorie des Pluralismus weder für einen strengen Dualismus noch für eine wirkliche oder vermutete Ineinssetzung von Staat und Gesellschaft ein. Die Verfassung der res publica verfasst einerseits den Staat und strukturiert andererseits auch die Gesellschaft im freiheitlichen Sinne. Es gibt des-

H. Schlussbemerkungen

221

halb für Häberle keine politische Freiheit ohne reale gesellschaftliche Freiheit. Statt des nicht hilfreichen dualistischen Modells Staat/Gesellschaft greift Häberle auf sein eigenes Bild der „republikanischen Bereichtrias“ zurück. Es handelt sich dabei um einen glücklichen Begriff, dem die drei Bereiche des Gemeinwesens – das Private, das Öffentliche und das Staatliche – eines demokratischen Verfassungsstaats zu integrieren und zu harmonisieren gelingt. Diese republikanische Bereichtrias setzt ferner den Kontrapunkt zu allen Formen von totalitären Gesellschaften und Staaten. Da die Verfassung rechtliche Grundordnung des Staats und der Gesellschaft ist und das Verfassungsrecht die politische Ordnung eines Gemeinwesens regelt und den Grundkonsens einer Zivilgesellschaft sucht, nimmt sich die Verfassungsgerichtsbarkeit eine Mitverantwortung und neue Funktionen hinsichtlich der Zivilgesellschaft. Das treffende Bild des BVerfG als gesellschaftliches Gericht, als Gemeinwohljudikatur, als Teil und Garant des Gewaltenteilungsgrundsatzes, als Teilnehmer am politischen Prozess zeigt uns einen Wandel im Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Diese ist weniger eine Staatsfunktion als eine öffentliche Gemeinwohlfunktion. Das BVerfG ist vor allem ein „gesellschaftliches Gericht“. 7. Wegen der herkömmlichen Interpretationslehre – mit ihrer Subsumptionsideologie und ihren begrenzten Auslegungsmethoden –, mit der diese Offenheit und der Pluralismus der Verfassungsinterpretation nicht zu erfassen ist, verlangt die Verfassungsgerichtsbarkeit des Pluralismus nach einer geeigneten Theorie der Verfassungsinterpretation. Zu Recht plädiert Häberle für die Verfassungstheorie als eigentliche verfassungsrechtliche Hermeneutik, die mit dem Wesen und den Funktionen einer pluralistischen Verfassung vereinbar ist. „Verfassungsrechtliche Hermeneutik“ setzt selbstverständlich kein bloßes Ermittlungsverfahren eines Normtextes, sondern eine intensive prätorische Tätigkeit voraus. Die Grundzüge dieser Häberle’schen verfassungsrechtlichen Hermeneutik können so zusammengefasst werden: Preisgabe der Identitätsthese von Recht und Gesetz; die Erkenntnis, dass die Unfertigkeit des Verfassungstextes kein Mangel ist; die Überwindung des SeinSollen-Dualismus; das Vorverständnis als innewohnendes Element der verfassungsrechtlichen Hermeneutik; die Auslegung nicht als passives, sondern als praktisches und gestaltendes Handeln; die Relativität der Rationalität der Verfassungsinterpretation; die Existenz eines offenen Katalogs der Auslegungsmethoden; das schöpferische Wesen der Verfassungsinterpretation; die Relativität der Richtigkeit der Verfassungsinterpretation; die topische Interpretation der Verfassung; die Existenz pluralistischer Ziele und Aufgaben der Verfassungsinterpretation sowie die Einbindung aller als Interpreten der Verfassung. 8. Das Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht ist kein bloßes technisches Recht. Es ist selbst materielles und konkretisiertes Verfassungsrecht. Die Konstitutionalisierung seiner Aufgaben, Prinzipien, Interpretation, Subjekte und Rechtsquellen nähert das Verfassungsprozessrecht mehr dem Verfassungsrecht als der Prozessrechtslehre an, sodass die Eigenständigkeit des Verfassungsprozessrechts im Hinblick auf die allgemeine Verfahrensrechtstheorie festgestellt werden kann. Nicht nur das BVerfG, sondern auch die Beteiligten finden im

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H. Schlussbemerkungen

Verfassungsprozessrecht ein pluralistisches, offenes und öffentliches Forum, in dem die Bürger und Bürgerinnen an öffentlichen Fragen teilnehmen können. Die Verfassungsgerichtsbarkeit legitimiert sich auf diese Weise nicht nur durch ihre konstitutionelle Einrichtung oder die „Rationalität“ ihrer Entscheidungen, sondern auch im Wesentlichen durch die Partizipationsmöglichkeiten an den verfassungsgerichtlichen Verfahren. Wie in keinen anderen Prozessordnungen sind daher im Verfassungsprozessrecht die öffentlichen Anhörungen, das Institut des amicus curiae briefs, die Beteiligung von Dritten und das Sondervotum von großer Bedeutung. Das Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht ist daher das Verfahrensrecht der Verfassung als öffentlicher Prozess der offenen Zivilgesellschaft und der Verfassungsgerichtsbarkeit, die Häberle als „Pluralismusrechtsprechung“ bezeichnet hat. 9. Dass Häberles Theorien von Anfang an großen Widerhall in Deutschland und Europa gefunden haben – auch wenn er oft in der Rechtsprechung und in der Wissenschaft ungerechterweise nicht zitiert ist – steht außer Zweifel.1 Indes sind seine Theorien auch außerhalb Europas begeistert rezipiert worden.2 Nicht nur fremde Juristen verfolgen mit großem Interesse seine Gedanken. Viele Verfassungsgerichte anderer Länder haben sie in ihre Entscheidungen aufgenommen. Man denke z. B. nur an die Entscheidungen des peruanischen Verfassungsgerichts hinsichtlich der Häberle’schen Theorien der Wesensgehaltsgarantie der Grundrechte,3 der Menschenwürde als „anthropologische Prämisse“ des Verfassungsstaates,4 der Verfassung als Kultur,5 des Verfassungsprozessrechts als konkretisiertes Verfassungsrecht,6 der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten,7 des Verfassungsgerichts als „gesellschaftliches Gericht“8 und der sozialen Marktwirtschaft.9 Auch der oberste Gerichtshof in Brasilien hat die Theorie der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten gerne akzeptiert.10 Das kolumbianische Verfassungsgericht hat früh Häberles Theorie der Wesensgehaltsgarantie der Grundrechte bestätigt11 wie auch der oberste Gerichtshof Argentiniens vor kurzem die These der Verfassung als Kultur aufgegriffen hat.12 Nicht zuletzt soll auch das chilenische

1

Voßkuhle/Wischmeyer, JöR 63/2015, S. 401, 416 Anm. 105. Vgl. Häberle, Veröffentlichungen, S. 52 ff. 3 STC 1417 – 2005-AA/TC, 21. 4 STC 0042 – 2004-AI/TC, 1. 5 STC 0008 – 2003-AI/TC, 5. 6 STC 00025 – 2005-AI/TC, 15. 7 STC 00025 – 2005-AI/TC, 23. 8 STC 0048 – 2004-AI/TC, 6. 9 STC 04223 – 2006-AA/TC, 14. 10 ADI 4.096 von 7. 3. 2012, 2. 11 T-002/92, 4 und T-799/98, 3. 12 Pressekonzentration-Fall, G. 439. XLIX. REX von 29. 10. 2013, S. 192. 2

H. Schlussbemerkungen

223

Verfassungsgericht erwähnt werden mit seiner Umsetzung von Häberles Konzeption von Familie und Ehe.13 10. In diesem Kontext ist es kein Zufall, dass die Theorien von Häberle im Laufe der Zeit immer mehr an Bedeutung gewinnen. Dies liegt sicher in seiner Offenheit für unterschiedliche Denkströmungen, in seiner Fähigkeit, vorgeblich widersprüchliche und unversöhnliche Auffassungen zu integrieren,14 aber auch in seinem realistischen und immer optimistischen Blick in die Zukunft. Darin besteht auch das große künftige Potenzial der Ansätze Häberles für eine deutsche, europäische und universelle Verfassungslehre, wofür er von alters her arbeitet.

13

Entscheidung zu gleichgeschlechtlichen Ehen vom 3. 11. 2013, 3. Er nimmt gerne Traditionen in Anspruch, ohne in eine rein deutsche Perspektive oder einen Eurozentrismus zu verfallen. 14

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Sachwortverzeichnis amicus curiae briefs 190, 218, 222 Antragsprinzip 186 Auslegung – republikanische 131 Auslegungszieltheorie – objektive 145 – subjektive 145 Berechenbarkeit Beteiligtenbegriff Billigkeit 149 Brücken-Prinzip Bürgerdemokratie – konstitutionelle

149 213 135 133

civil society 91 Constitutio Tanta 167 constitutionis civilis 100 Demokratie – totalitäre 43 Demokratisierung – der Verfassungsinterpretation Dichotomisierung – von Recht und Politik 45 Dogma der Punktualität 166

28

Eigenständigkeit des Verfassungsprozessrechts 188 Einheitsbildung 149 Entdogmatisierung – der Gewaltenteilungslehre 115 Entpolitisierung 57 Entscheidungsmonopol 175 Erst- und Zweitinterpreten 176 Europäisierung 94 Europarechtsfreundlichkeit 163 ex-officio-Prüfung 201 Föderalismus Fortbildung

114

– der Verfassung 37, 125 Freund-Feind-Kategorien 116 Fundamentalismus 70 Funktionsfähigkeit des BVerfG 194 Gemeinwohl – als Gegenstand der Interpretation 106 – als Instrument der Interpretation 106 – als Rechtsprinzip 105 – als Rechtssatz 105 – als Rechtstopos 105 – republikanischer Begriff 102 Gemeinwohlfunktion – öffentliche 70 Gemeinwohljudikatur 21, 26, 102, 105, 126, 221 Gemeinwohlverantwortung 106 Generationsvertrag 39 – 41, 101 Gerechtigkeit 149 Gericht – gesellschaftliches 97 – isoliertes 200 – staatliches 98 Gesellschaft – bürgerliche 99 – offene 19 – 21, 28, 30 – 32, 34 – 37, 39, 41 – 44, 50 f., 55, 68, 70, 74, 86 – 102, 109, 114 – 116, 121, 123, 126 f., 133 f., 141 f., 144 f., 147, 149, 158, 168 – 173, 175, 177 f., 180 f., 183 f., 189, 193 – 195, 197, 208, 219 – 222 Gesellschaftsvertrag 86 Gesellschaftsvertragsmodell 101 Gewalt – maßstabssetzende 115 Gewaltenteilungsprinzip 109 government 91 Grundkonsens 7, 34, 39, 68, 98, 106, 126, 190, 203, 213, 220 f. Grundrechtseffektivität 162 Grundrechtspolitik 121

Sachwortverzeichnis Grundrechtsvergleichung 154 Grundrechtsverwirklichung 180 Hegemonie – des Öffentlichen 144 Hermeneutik – philosophisch-juristische 139 – verfassungsrechtliche 22, 127, 137 – 139, 153, 156 f., 159, 163, 184, 208, 221 hermeneutische Spirale 157 hermeneutischer Zirkel 157 Humanismus – konstitutioneller 20 Identifizierung – von Recht und Politik 56 innerprozessuale Rechtsvergleichung Integrationsfaktor 37 Interessensausgleich 149 Internationalisierung 94 Internet 93 Interpretation – offene 136 – topische 221 Interpretationsmonopol 173, 175 Interpretationstechniken 105 judicial activism 85 Judikatur – der Verfassungspolitik Juristenmonopol 168 Juristenprivileg 168

125

Katalysatorfunktion 180 Kompetenzverteilung 82 Kompromissrecht 220 Konfliktverbot 54 konkretisiertes Verfassungsrecht Konsensbedarf 54 Konsensfähigkeit 149 Kristallisationen – kulturelle 34 Kultur – politische 120 Kulturverfassungsrecht 121 Kulturwissenschaft 20, 29 – 34

188

189

267

law in public action 38, 105, 108, 128, 173 Leistung – prätorische 27 Lückenfähigkeit – des BVerfGG 206 Lückenfüllung 206 Mediatorenrolle 203 Medienmacht 70 Medienöffentlichkeit 197 Menschenrechtsfreundlichkeit 183 Menschenwürde 95 Methode – fünfte 31, 46 f., 58 – 60, 64, 92, 131 f., 134 – 136, 138 f., 141, 154 f., 160 f., 164, 208 f. Methodendualismus – von Sein und Sollen 139 Methodenpluralismus 160 Methodenwahl 130, 159 Minderheitsvotum 174 Möglichkeitsdenken 28, 44, 53 f., 130, 159 Münchhausen-Trilemmas 135 mündliche Verhandlungen 197 Nachverständnis 158 Netzwerke – soziale 93 Neutralität – des Rechts 56 NGOs 124 nicht-justiziable Doktrin 80 non-liquet-Verbot 202 Normalität 29, 103, 171 Normativität 29, 41, 51, 67, 103, 123, 168, 171 Offenheit 149 öffentliche Anhörungen 198 öffentliche Kritik 204 Öffentlichkeitsdefizit 92 Öffentlichkeitskristallisationen pactum unionis civilis 99 Pandektistik 152 Parteien – politische 49 Partizipationsinstrumente 190

143

268

Sachwortverzeichnis

Partizipationskreise 190 Partizipationsrecht 7, 21 f., 182, 185, 188, 189, 194, 217, 221 Pluralismusrecht 7, 20 – 22, 24, 27 – 29, 31, 33 – 39, 41 – 44, 53 f., 73, 97 – 100, 117, 120, 133 – 136, 140, 147, 172, 185, 187, 189 f., 193 – 195, 198 – 200, 209, 213, 216 – 222 Pluralismusrechtsprechung 222 political question 80 political-question-Doktrin 81, 202 Politik – als gute Ordnung 54 – als Kunst des Möglichen 53 – als Kunst des Notwendigen 55 – Begriff der 52 politische Frage 80 Politisierung 57 – des Rechts 46 Positivismus 59 Präjudizien 169 Praktikabilität 149 praktische Konkordanz 163 preferred freedoms-Doktrin 162 Prinzip der Harmonisierung 162 Prinzipien – der Verfassungsauslegung 161 – des Verfassungsprozessrechts 196 Privatrecht – als politisches Recht 68 Raisonnements – politische 47 Rationalisierung – der Macht 36 Rationalismus – kritischer 134 Realpolitik 65 Recht – der Öffentlichkeit 67 – für das Politische 66 – politisches 65 – unpolitisches 57 Rechtserkenntnisquellen 216 Rechtserzeugungsquellen 216 Rechtsfindung – richterliche 108 Rechtsgespräch 174, 200

Rechtsinterpretation 64 Rechtspolitik 65 Rechtspositivismus 64 – prozessualer 211 Rechtsprechung – formeller Begriff 71 – materieller Begriff 71 Rechtsquellenhierarchie 215 Rechtsquellenmonopol 216 Rechtsschaffung 208 Rechtssicherheit 149 Rechtsstreitigkeit – politische 82 Rechtstheorie – politische 51 republikanische Bereichtrias 94 res publica 21, 27, 38, 52 – 57, 67, 76, 85, 93 f., 96, 98, 102 f., 107 f., 180, 219 f. Rhetorik 159 Richterrecht 73 Richterstaat 111, 114 Richtigkeit – funktionelle 149 rule of law 43 Sachgerechtheit 149 salus publica ex constitutione 107 Sankeys Doktrin 129 Schiedsrichterfunktion 203 self-restraint 83 Sondervoten 183, 198, 217 Staat und Gesellschaft – politische Gemeinwesenslehre 90 – Theorie des Dualismus 87 – These der Unterscheidung 89 – Verhältnis 87 Staatsgerichtsbarkeit 69 Staatsrecht – und Politik 62 Subjekte der Interpretation 172 Subjektivismus 138 Subsumptionsideologie 179 Symbiose – von Recht und Politik 49 Tagespolitik 144 Techne des Problemdenkens Topik 159

159

Sachwortverzeichnis Topoi 159 Topos 27, 107, 160 Transparenz 149 Transzendentalphilosophie 138 Trennungstheorie – des Staats und der Gesellschaft trial and error 128 Trial and Error-Methode 161 Umweltschutz

35

93

Verantwortlichkeit 205 Verfahrensautonomie – des BVerfG 206 Verfahrensbeteiligte 174 Verfahrensdauer 205 Verfahrensgerechtigkeit 205 Verfahrensorganstreit 214 Verfahrensrechtstheorie 217 Verfassung – als Kultur 33 – des Pluralismus 7, 20 f., 24 f., 27 – 44, 49, 52, 55, 57, 59, 64 – 67, 69 f., 72, 74 – 79, 81, 84 – 87, 89, 91 – 102, 106 f., 109 – 113, 116 – 118, 121 – 123, 125 – 131, 133 f., 137, 139 – 153, 155, 159 – 173, 175 – 181, 184, 188 – 191, 193 – 195, 197 f., 202 f., 206, 213 f., 216, 218 – 222 Verfassungsänderung 125 Verfassungsauslegung – als öffentlicher Prozess 143 – Grenze der 165 – im engeren Sinne 141 – im weiteren Sinne 141 – pluralistische 32 – problemorientierte 140 Verfassungsgebung 124, 165 – republikanische 167 Verfassungsgericht – bürgerliches 7 – echtes 98 – gesellschaftliches 21 Verfassungsgerichtsbarkeit – im formellen Sinn 69 – im materiellen Sinn 69 Verfassungsgerichtsbarkeitsbegriff 74 Verfassungsinterpretation

269

– Besonderheiten der 151 – herkömmliche Aufgabe 148 – pluralistische 142 – pluralistische Aufgabe 148 – Theorie des Willens 145 Verfassungsinterpreten 178 – Kreis der 142 – offene Gesellschaft der 127 – sekundäre 169 Verfassungsjurist 181 Verfassungskonkretisierung 98 Verfassungslehre – universelle 223 Verfassungspolitik 116, 121 – 125 Verfassungspolitikjudikatur 123 Verfassungsprozessrecht 185 Verfassungsrecht – als Konflikt- und Kompromissrecht 67 – als politisches Recht 66 Verfassungsrichterwahl 191 Verfassungsstaat – kooperativer 7, 20 f., 31, 36 f., 39, 43, 45, 52, 57, 73, 85, 95, 102, 109, 114, 117, 122, 134, 136, 163, 176, 216 f., 220 Verfassungsstreit 77 Verfassungsstreitigkeiten 76 Verfassungstheorie – pluralistische 20 – 24, 27 – 29, 32, 52 f., 73, 90, 117, 121, 123, 126 f., 129, 136 f., 139, 152 f., 155 f., 159, 161, 166, 179, 184, 196, 219 – 221 – universelle 20 Verfassungsvergleichung 154 Verfassungswerte 39, 189 Vernünftigkeit 149 Verrechtlichung – der Politik 46 Vertragsgenerationen 40 Völkerrechtsfreundlichkeit 163 Vorverständnis 152, 139, 158 Wertneutralität

209

Zivilgesellschaft 7, 28, 68, 95, 97, 123, 126, 133, 149, 183, 189 f., 205, 218, 220 – 222 Zurückhaltungsdoktrin 196 Zweiparteienprinzip 212