Verfassunggebung im Bundesstaat: Ein Beitrag zur Verfassungslehre des Bundesstaates und der konstitutionellen Demokratie [1 ed.] 9783428490486, 9783428090488


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Verfassunggebung im Bundesstaat: Ein Beitrag zur Verfassungslehre des Bundesstaates und der konstitutionellen Demokratie [1 ed.]
 9783428490486, 9783428090488

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HENNER JÖRG BOEHL

Verfassunggebung im Bundesstaat

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 727

Verfassunggebung im Bundesstaat Ein Beitrag zur Verfassungslehre des Bundesstaates und der konstitutionellen Demokratie

Von Henner Jörg Boehl

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Boehl, Henner Jörg:

Verfassunggebung im Bundesstaat : ein Beitrag zur Verfassungslehre des Bundesstaates und der konstitutionellen Demokratie / von Henner Jörg Boehl. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 727) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1996/97 ISBN 3-428-09048-9

Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09048-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1996/97 von der Juristischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. als Dissertation angenommen. Das Manuskript war 1994 abgeschlossen. Spätere Publikationen konnten zum Teil noch bis Herbst 1996 berücksichtigt werden. Das Thema der Untersuchung wurde durch die berufliche Befassung mit den Verfassungsfragen der Wiedervereinigung und der Neukonstituierung der Länder im beigetretenen Teil Deutschlands angeregt. Diese hat 1991 einen ersten Niederschlag in einem Aufsatz in der Zeitschrift Der Staat zur „Landesverfassunggebung im Bundesstaat" gefunden, der zum Ausgangspunkt vertiefter Auseinandersetzung mit diesem Fragenkreis geworden ist. Der Stellenwert, der insbesondere der amerikanischen Frühgeschichte der Theorie demokratischer Verfassungsentstehung eingeräumt wurde, erklärt sich auch aus der weiter zurückreichenden Beschäftigung mit der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Während eines 1985/86 am Nuffield College, Oxford, verbrachten Forschungsaufenthalts war in dem von den Professoren David Butler und Richard Holmes veranstalteten Seminar „Politics of Constitutional Change" die Frage aufgebrochen, wie angesichts der britischen Lehre von der „Sovereignty of Parliament" im Vereinigten Königreich überhaupt eine Verfassung eine erhöhte Verbindlichkeit und Geltungskraft erlangen könnte. Der Hinweis auf die Lehre vom „pouvoir constituant" wurde damals von Prof. Vernon Bogdanor als „German concept" zurückgewiesen; Prof. Phillipp Bobbitt, Austin / Texas, hat mich mit dem unterstützenden Hinweis auf ähnliche Vorstellungen in der Gründungsphase der USA auf die Fährte gesetzt. Mein Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater, Prof. Dr. Rainer Wahl, der mir bei der Themenwahl und Bearbeitung große Freiheit gelassen und mich über eine lange Zeit in vielfältigerer Weise gefördert hat, als ihm wahrscheinlich bewußt ist. Herrn Prof. Dr. Thomas Würtenberger ist für die rasche Zweitbegutachtung zu danken. Darüber hinaus habe ich meinen akademischen Lehrern in Freiburg und Oxford sowie meinen Kollegen in der Verfassungsabteilung des Bundesministeriums des Innern und im Sächsischen Staatsministerium der Justiz zu danken, die in je unterschiedlicher Weise zur Ausbildung der hier vorgestellten Überlegungen beigetragen haben. Meine Studienfreunde aus Oxforder Tagen, Prof. Dr. Nicol C. Rae, Miami, und Michael Lind, New York, haben sich mit Fassung bemüht, die verfassungstheoreti-

6

Vorwort

sehen Überlegungen eines deutschen Juristen nachzuvollziehen und mir beim Einstieg in die amerikanische Literatur geholfen. Das Bundesministerium des Innern hat durch eine einjährige Beurlaubung die Untersuchung und durch einen Druckkostenzuschuß die Veröffentlichung in der vorliegenden Form ermöglicht. Meine Eltern, Dr. Dr. Heinz Wolfgang Boehl und Margita Boehl, haben mich über lange Jahre unterstützt und zum Durchhalten ermutigt, als sich das Promotionsprojekt durch Zweitstudium und Aufnahme der Berufstätigkeit hinzog. Ihnen gilt an dieser Stelle mein Dank ebenso wie meiner Ehefrau, Dr. Stefanie Stegemann-Boehl, die mir mit Rat und Tat beigestanden und bis heute mehr als ihre Hälfte der gemeinsamen Aufgaben getragen hat. Meine Töchter Anna Bernadette und Marie Antonia haben die Fertigstellung der Arbeit miterlebt und toleriert; ihnen ist die Arbeit gewidmet. Bonn, im Dezember 1996 Henner Jörg Boehl

Inhaltsverzeichnis Einführung

13

Α. Ausgangsfragen

13

Β. Französische und amerikanische Tradition

15

C. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

21

D. Gang der Untersuchung

22

1. Teil Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in der westlichen Verfassungstradition A. Der Ursprung der Vorstellung einer besonderen „constituent power" im anglo-amerikanischen Rechtsdenken I. Neues Verfassungsverständnis

24

25 27

II. Verfassunggebung durch Konvente

36

1. Das Institut der „Convention"

36

2. Verfassunggebung unter den Bedingungen der Volkssouveränität

39

3. Massachusetts als erster Fall „eigentlicher" Verfassunggebung?

46

III. Verfassunggebung und Föderalismus: die Bundesverfassung von 1787

52

IV. Zusammenfassung

61

B. Die Ausformung der Theorie des „pouvoir constituant" in Frankreich

62

C. Rezeption der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt in Deutschland

67

D. Zwischenergebnis

75

2. Teil Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt A. Fragestellung und Problem B. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes I. Begriff II. Subjekt und Permanenz

76 78 82 82 91

8

Inhaltsverzeichnis III. Bindungen

99

1. Bindung des demos an die Verfassung 2. Bindung des pouvoir constituant

99 104

IV. Verfahren

114

C. Verabschiedung oder notwendiger Begriff?

127

3. Teil Verfassunggebung und Bundesstaat A. Bundesstaat B. Verfassunggebung im Bund I. Föderalisierter Einheitsstaat II. Verdichteter Staatenbund

132 133 151 152 153

III. Neukonstituierung eines bestehenden Bundesstaates

157

IV. Insbesondere: Entstehung des Grundgesetzes

159

C. Verfassunggebung in den Ländern I. Problem und Lösungsalternativen II. Verfassungsrechtliche Vorgaben 1. Verfassungsautonomie oder Verfassungshoheit

164 164 171 171

2. Subjekt

175

3. Bindungen

183

a) Landesverfassunggebung und bundesstaatliche Einbindung

183

b) Das Regelungsmodell des Grundgesetzes aa) Art. 142 und Art. 31 GG bb) Art. 31 GG und Kompetenznormen cc) Zusammenfassung

186 187 190 196

c) Der Bereich landesautonomer Gestaltung aa) Staatsorganisationsrecht bb) Grundrechte cc) Staatszielbestimmungen, Programmsätze, Strukturprinzipien d) Folgerungen 4. Verfahren III. Zwischenergebnis: Landesverfassunggebung im Bundesstaat

196 197 206 217 222 224 231

Ergebnisse

235

Literaturverzeichnis

237

Personenregister

256

Sachregister

258

Abkürzungsverzeichnis A.A.

anderer Ansicht

a. a. Ο.

am angegebenen Ort

a.E.

am Ende

Abg.

Abgeordneter

Alt. Komm. GG

Alternativkommentar zum Grundgesetz

Anm.

Anmerkung

AÖR

Archiv des öffentlichen Rechts

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

Aufl.

Auflage

Bay.

bayerisch

BayVBl.

Bayerische Verwaltungsblätter

BB

Brandenburg

Bd.

Band

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BT-Drs.

Bundestags-Drucksache

BuZ

Bilder und Zeiten

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts

BW

Β aden-Württemberg

BY

Bayern

bzw.

beziehungsweise

d. h.

das heißt

d.i.

das ist

d.Verf.

der Verfasser

DDR

Deutsche Demokratische Republik

ders.

derselbe

DÖV

Das Öffentliche Recht

DVB1.

Deutsches Verwaltungsblatt

ebd.

ebenda

Einf.

Einführung

Erl.

Erläuterung

EV

f.

Einigungsvertrag (Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990) folgende

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Abkürzungsverzeichnis

10 ff.

fortfolgende

FG.

Festgabe für

Fn.

Fußnote

FS.

Festschrift für

GBL

Gesetzblatt (der DDR)

GG

Grundgesetz (Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom

gg·

23. Mai 1949) gegen

GS.

Gedächtnisschrift

GVB1.

Gesetz- und Verordnungsblatt

h.L.

herrschende Lehre

h.M.

herrschende Meinung

Hamb.

hamburgisch

HdbDStR

Handbuch des Deutschen Staatsrechts

Hess.

hessisch

Hrsg.

Herausgeber

hrsg.

herausgegeben von

HS

Halbsatz

HStR

Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland

HZ

Historische Zeitschrift

i.d.R.

in der Regel

i. S. d.

im Sinne des / der

i.ü.

im übrigen

JÖR NF

Journal des Öffentlichen Rechts (Neue Folge)

Jura

Juristische Ausbildung

Jus

Juristische Schulung

JZ

Juristenzeitung

KJ

Kritische Justiz

Komm.

Kommentar

LEG

Ländereinführungsgesetz (Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der Deutschen Demokratischen Republik vom 22. Juli 1990)

lit.

Buchstabe

M.M.

Mindermeinung

MV

Mecklenburg-Vorpommern

Nds.

niedersächsisch

NI

Niedersachsen

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NRW

Nordrhein-Westfalen

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

Rh.-Pf.

Rheinland-Pfalz

Rn.

Randnummer

S.

Seite

SBZ

Sowjetische Besatzungszone

Abkürzungsverzeichnis SH

Schleswig-Holstein

SN

Sachsen

sog.

sogenannte/r

ST

Sachsen-Anhalt

StWStP

Staatswissenschaft und Staatspraxis

Sten. Ber.

Stenographischer Bericht

StGH

Staatsgerichtshof

TH

Thüringen

ThürVBl.

Thüringer Verwaltungsblätter

USA

United States of Amerika

UTR

Umwelt- und Technikrecht

v.

von, vom

VB1BW

Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg

Verf.

Verfasser

VerfGH

Verfassungsgerichtshof

11

Verw. Rspr.

Verwaltungsrechtssprechung

Verw.A.

Verwaltungsarchiv

vs.

versus

VVDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

WPM

Wertpapier-Mitteilungen

WRV

Weimarer Reichsverfassung (Verfassung des Deutschen Reichs vom

z. B.

zum Beispiel

11. August 1919) ZaöRV

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

ZfP

Zeitschrift für Politik

ZG

Zeitschrift für Gesetzgebung

ZgStW

Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft

zit.

zitiert nach / bei

ZParl

Zeitschrift für Parlamentsfragen

Einführung Α. Ausgangsfragen Wie entsteht und warum gilt die Verfassung? Wem kommt es zu, die Verfassung zu erlassen? In welchem Verfahren wird eine Verfassung zustande gebracht? Wonach entscheiden sich die Zuständigkeit und Form, wenn es noch keine Verfassung gibt? Welche Schranken gelten für den Verfassunggeber? Wieso gilt die Verfassung mehr als andere Gesetze, und warum muß selbst der demokratisch legitimierte Gesetzgeber sich an die Verfassung halten? Die Fragen des Anfangs der Verfassungsordnung stellten sich 1990 den Sachsen im Prinzip in gleicher Weise wie 1776 den Angelsachsen in den englischen Kolonien in Nordamerika. Auch die Antworten fallen im Grundlegenden heute nicht wesentlich anders aus als bei der Errichtung der ersten modernen Demokratie in Amerika im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts und in der daran anknüpfenden Staatstheorie der französischen Revolution: Es ist das Volk in seiner Kapazität als verfassunggebende Gewalt, das über die Verfassung entscheidet. Es bedient sich dabei besonderer Repräsentanten. Die Befugnis des Volkes zur Disposition über seine Verfassung ist unverlierbar und kann jederzeit erneut betätigt werden. Bei der Entscheidung ist der Inhaber der verfassunggebenden Gewalt nach Inhalt und Verfahren frei und insbesondere nicht an die vorangegangene Rechtsordnung gebunden. Von der verfassunggebenden oder konstituierenden Gewalt (pouvoir constituant) sind die durch die Verfassung konstituierten Gewalten (pouvoirs constitués) zu unterscheiden. Sie operieren auf der Grundlage der Verfassung und sind einerseits an den durch die Verfassung gezogenen Rahmen gebunden, beziehen andererseits ihre Legitimation aus ihrer Einsetzung durch das Volk als Verfassunggeber. Es ist diese Kombination des Prinzips der Volkssouveränität mit der Unterscheidung von verfassunggebender und verfaßten Gewalten, von pouvoir constituant und pouvoirs constitués, mit der Verfassungslehre und Verfassungsrecht bis heute sowohl das Rätsel des Ursprungs der Verfassung als auch die anschließende Bindung des Volkes und seiner Repräsentanten erklären. Es handelt sich dabei um einen der Grundgedanken des demokratischen Verfassungsstaates und der trotz Anerkennung des Prinzips der Volkssouveränität rechtlich gebundenen, d. h. konstitutionellen Demokratie. Der Gedanke ist allerdings keineswegs selbstverständlich. Er stellte in der amerikanischen Revolution eine radikale Abkehr sowohl vom englischen Verfassungsverständnis und dem Dogma des souveränen Parlaments als auch von der aus der mittelalterlichen Welt überkommenen traditionalen bzw. göttlichen Begründung

14

Einführung

der Herrschaftsordnung dar. In Deutschland konnte sie sich endgültig erst nach 1945 durchsetzen; noch in der letzten Auflage des maßgebenden Kommentars zur Weimarer Reichsverfassung von 1933 hatte Gerhard Anschütz gegen vereinzelte Stimmen in der rechtswissenschaftlichen Literatur 1 festgestellt: „Der Gedanke einer besonderen, von der gesetzgebenden Gewalt verschiedenen und ihr übergeordneten verfassunggebenden Gewalt ist, im Gegensatz zu Nordamerika, dem deutschen Staatsrecht nach wie vor fremd. Die Verfassung steht nicht über der Legislative, sondern zur Disposition derselben ( . . . )" 2 . Wenn demgegenüber Klaus Stern 1984 in seinem Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland das Prinzip der Trennung des pouvoir constituant von den pouvoirs constitués als „allgemein akzeptiert" 3 bezeichnen kann, so wird die Durchsetzung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in der zweiten deutschen Republik deutlich. Durch ihre bis auf die ersten Fälle demokratischer Verfassunggebung der Neuzeit zurückgehende Geschichte ist die ursprünglich revolutionäre, anti-traditionalistische Lehre vom pouvoir constituant mittlerweile ihrerseits geradezu zum Bestandteil der Tradition des westlichen Verfassungsstaates geworden und strahlt heute bis nach Osteuropa4 und in das südliche Afrika 5 aus. Wir leben insofern - so die These - in der verfassungstheoretischen Tradition der Gründung von 1776 / 1787; die Ereignisse in Deutschland im Jahre 1990 könnten geradezu als Beleg der Vitalität dieser Tradition gelten. Aber in was für eine Tradition stellt sich damit eine heutige Verfassungslehre? Kann insbesondere die Lehre vom pouvoir constituant, die ihre klassische dogmatische Formulierung durch die Theoretiker der Französischen Revolution gefunden hat, mit ihren monistischen und zentralistischen Gehalten eine Grundlage zur Fundierung eines pluralistischen Bundesstaates im ausgehenden 20. Jahrhundert sein? Wie läßt sich unter den Bedingungen der Volkssouveränität ein Bundesstaat konstituieren, in dem die Gliedstaaten Staatsqualität haben, ohne daß das Ganze zu einem bloßen Staatenbund oder Bündnis unabhängiger Staaten gerät? Können staatstheoretische Begründungsansätze der Spätaufklärung für den Staat der Industriegesellschaft maßgebliche Antworten bereithalten? Handelt es sich bei der Erklärung

ι Insbesondere C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 21, 75 ff.; Heller, Staatslehre, S. 276, 314. Anschütz, Reichsverfassung, S. 401 (Art. 76, Anm. 1). 3 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. 1, § 51 (S. 151); vgl. auch Steiner, Verfassunggebung, S. 173 m.w.N. Nach E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 23, hat das Grundgesetz die Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoir constitué „bewußt aufgenommen". 2

4

Vgl. z. B. FAZ v. 30. 4. 93, S. 1 („Jelzin unterbreitet seinen Verfassungsentwurf / Verfassunggebende Versammlung"); Schweisfurth, FAZ v. 24. 9. 93, S. 10, der das Dekret des russischen Präsidenten vom 21. 9. 1993, das ohne verfassungsrechtliche Grundlage den Obersten Sowjet suspendiert, unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Legitimität und der verfassunggebenden Gewalt des Volkes untersucht und im Ergebnis für gerechtfertigt hält. Vgl. auch Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, S. 42. 5 Vgl. Karpen, FAZ v. 17. 5. 1994, S. 10 („Südafrika als Bundesstaat").

Β. Französische und amerikanische Tradition

15

der Ursprünge der Verfassung um einen Rückgriff auf mythische6 Erklärungsmuster? Tatsächlich steht der unerwarteten Revitalisierung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt im Zuge der deutschen Einigung von 1989/907 das Auftreten von Stimmen in der Wissenschaft gegenüber, die den Abschied von der Lehre vom pouvoir constituant fordern 8. Dieser Ansicht tritt die Arbeit im Ergebnis entgegen. Eine Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes erscheint vielmehr als notwendige und spezifische Theorie der konstitutionellen Demokratie. Wie die Demokratie· und Verfassungstheorie versteinert sie nicht auf dem Erkenntnisstand des 18. Jahrhunderts. Zeit- und situationsbedingte Anlagerungen müssen auf ihre theoretische Notwendigkeit und Kompatibilität überprüft werden und können als verzichtbar oder unvereinbar mit dem heutigen Stand politischen und verfassungstheoretischen Denkens aufgegeben werden, ohne von dem konstruktiven Grundschema des constituent power / pouvoir constituant Abschied zu nehmen. Die Funktion, welche die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes innerhalb einer Theorie des demokratischen Verfassungsstaates erfüllt, bleibt erhalten und muß ausgefüllt werden, auch wenn einzelne Bestandteile der überkommenen Lehre nicht mehr überzeugen.

B. Französische und amerikanische Tradition Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ist in Deutschland in der bis heute fortwirkenden Form vor allem durch die Vermittlung 9 Carl Schmitts in den zwanziger Jahren bekannt geworden. Schmitt hatte sich zuerst in einer 6 So ζ. B. die Kritik bei Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181; ähnlich neuerdings auch Isensee, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung Bd. III, S. 174 (175). 7 Vgl. ζ. B. Storost, Das Ende der Übergangszeit - Erinnerung an die verfassunggebende Gewalt, Der Staat 29 (1990), S. 321 ff.; Isensee, ZParl 1990, S. 309 (321); ders., VVDStRL 40 (1990) S. 39 (55); ders., in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. I, S. 63 (69); Tomuschat, VVDStRL 40 (1990), S. 70 (90); Bartlsperger, Verfassung und verfassunggebende Gewalt im vereinten Deutschland, DVB1. 1990, S. 1285 ff.; Rauschning, DVB1. 1990, S. 393 (400 f.); Wahl, StWStP 1990, S. 468 (475 ff.); Starck, JZ 1990, S. 349 (354); Sachs, Jus 1991, S. 985 (986); Boehl, Landesverfassunggebung im Bundesstaat, Der Staat 30 (1991), S. 572 (576 f.); Quaritsch, Eigenarten und Rechtsfragen der DDR-Revolution, Verw.A. 83 (1992), S. 314 (316, 319); Mahrenholz·, Die Verfassung und das Volk, S. 13; H.P. Schneider, Die verfassunggebende Gewalt, HStR VII, § 158; Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 15 ff.

s U.K. Preuß, Das Recht der Revolution, FAZ v. 29. 8. 1992; Henke, Das Ende der Revolution und die verfassunggebende Gewalt des Volkes, Der Staat 31 (1992), S. 265 (280); vgl. auch Roellecke, Verfassungsgebende Gewalt als Ideologie, JZ 1992, 929 (934). Ausführlich hierzu unten 2. Teil, Kapitel C. 9 Zu den Adaptionen und Veränderungen der klassischen Formulierung der Theorie bei Sieyès durch Schmitt vgl. Breuer, Nationalstaat und pouvoir constituant bei Sieyes und Carl Schmitt, ARSP 70 (1984), S. 495 ff; Steiner, Verfassunggebung, S. 216.

16

Einführung

1921, also nach der Novemberrevolution und der Verfassunggebung durch die Nationalversammlung von Weimar erschienen Schrift über den Souveränitätsbegriff 10 mit dem Gedankenkreis des pouvoir constituant im Zusammenhang der Staatstheorien der französischen Revolution auseinandergesetzt. Systematisch entfaltet und bis heute wirkmächtig wurde das Thema später vor allem in seiner Verfassungslehre von 192811. Schmitts Rezeption der Theorie des pouvoir constituant ist ganz von der französischen Staatstheorie und französischen Beispielen geprägt: Die Vorstellung eines pouvoir constituant ist von Sieyès während der französischen Revolution entwikkelt 1 2 und durch seine Schrift über den dritten Stand verbreitet worden 13 . Die Ursprünge in Amerika kommen bei Schmitt 1921 nur in einer Fußnote als Vorbilder der gemäßigten französischen Konservativen und Liberalen vor 1 4 , obwohl bereits Egon Zweig in seiner Monographie von 190915 ausführlicher auf die Bedeutung der amerikanischen Revolution für die Ausbildung der Lehre vom pouvoir constituant hingewiesen hatte. Auch in Schmitts „Verfassungslehre" bleibt es 1928 noch bei einzelnen Hinweisen, wie zum Beispiel, daß „bei den amerikanischen Unabhängigkeitserklärungen (?) von 1776" das ganz neue Prinzip „noch nicht mit voller Klarheit zu erkennen" sei und daß den amerikanischen Verfassungen des 18. Jahrhunderts eine „eigentliche Verfassungstheorie" gefehlt habe 16 . „Hauptquelle" der modernen Verfassungslehre und der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ist für ihn die Staatslehre der französischen Revolution 17 .

10 C. Schmitt, Die Diktatur - Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, S. 137 ff. h C Schmitt, Verfassungslehre, S. 75 ff., 91 ff. (§ 8 und § 10). ι 2 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 77. 13 C. Schmitt, Die Diktatur, S. 140. 14 C. Schmitt, Die Diktatur, S. 149, Fn. 1.

ι 5 E. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant - Ein Beitrag zum Staatsrecht der französischen Revolution, Tübingen 1909. Das Buch Zweigs wird von Schmitt sowohl in der Verfassungslehre (S. 49, 62, 85, 98), als auch in der Diktaturschrift (S. 131, 150) mehrfach zitiert, aber nicht in Bezug auf die amerikanischen Ursprünge der Vorstellung einer verfassunggebenden Gewalt ausgewertet. 16 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 78. Die amerikanische Bundesverfassung von 1787 wird bei Schmitt im Zusammenhang der Verfahren der Verfassunggebung als besondere Gestaltungsform im Bundesstaat erwähnt (ebd., S. 86); ein kurzer Hinweis auf die „Praxis der amerikanischen Staaten" findet sich ferner jeweils im Zusammenhang mit dem Institut des Verfassungskonvents (ebd., S. 85) und den ersten geschriebenen Verfassungen (ebd., S. 14, 40). Kritisch zu der nur beiläufigen Kenntnisnahme Schmitts von den im Zusammenhang der Diskussion um die Bundesverfassung von 1787 / 1789 - also vor den französischen Ereignissen! - erschienenen „Federalist Papers" v. Simson, AÖR 114 (1989), S. 185 (210 f.). Die Federalist Papers werden bei Schmitt tatsächlich nur abwertend („... gibt fast nur über praktische Organisationsfragen Auskunft.") auf S. 78 und im Zusammenhang der Bundesstaatslehre auf S. 389 erwähnt. 17 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 49 f.

Β. Französische und amerikanische Tradition

17

Die deutsche Staatsrechtslehre nach 1949 hat sich angesichts der Anrufung der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes in der Präambel des Grundgesetzes von Anfang an mit der Lehre vom pouvoir constituant auseinandersetzen müssen. Auch hier wurde aber wieder - sofern ideengeschichtliche Aspekte überhaupt thematisiert wurden - der Ursprung der Theorie einer besonderen verfassunggebenden Gewalt fast ausschließlich bei Sieyès und in der Verfassungstheorie der französischen Revolution verortet 1 8 . Auch i m internationalen Kontext präsentiert die deutsche Staatsrechtswissenschaft das dem Grundgesetz zugrundeliegende Prinzip der verfassunggebenden Gewalt des Volkes als Ableitung von Sieyès und ohne Hinweis auf die anglo-amerikanischen Ursprünge 1 9 . Demgegenüber erscheint es aus heutiger Sicht und nach dem heutigen Forschungsstand nötig, sich zum Verständnis der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in stärkerem Maße am amerikanischen Vorbild und den amerikanischen Ursprüngen der Vorstellung einer besonderen verfassunggebenden Gewalt zu orientieren 2 0 . In Nordamerika finden die ersten Fälle neuzeitlicher demokratischer Verfassunggebung statt und zugleich wird dort der erste moderne Bundesstaat errichtet 2 1 . Die Vorstellung einer besonderen verfassunggebenden Gewalt des Volkes ist damit also nicht unter den Bedingungen des Einheitsstaates entstan18

So zunächst Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 8, 25; ders., DÖV 1953, S. 645 („Die Verfassungen der französischen Revolution, in denen erstmals die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt bewußt geworden ist...") und Grewe, Rechtsgültigkeit des Art. 41 der Hessischen Verfassung, S. 16. In der ersten Monographie zu den Fragen der verfassunggebenden Gewalt nach 1949 führt Henke die Theorie vom pouvoir constituant allein auf Sieyès und die französischen Ursprünge zurück (vgl. Henke, Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 48 ff.). Noch 1980 heißt es bei Henke (Der Staat 31, S. 181 [208]): „Sieyès hatte den Begriff für die Revolution von 1789 geschaffen, Carl Schmitt hat ihn für die von 1918 neu belebt"; ein Hinweis auf das amerikanische Staatsrecht bei Anschütz (Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 76, Anm. 1.) wird von Henke (Der Staat 19 [1980], S. 181) bei der wörtlichen Wiedergabe der Stelle ausgespart; ähnlich auch wieder Henke, Der Staat 31 (1992), S. 265 (267). Auf die französische Tradition und Sieyès fixiert auch E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 12; Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 177; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 1.1. (S. 143 f.) und § 5 I.2.a (S. 146); Kriele, Staatslehre, S. 225, 260; Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 43; Evers, in: Bonner Kommentar zum GG, Zweitbearbeitung Art. 79 Abs. 3, Rn. 78; v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 5; Roellecke, JZ 1992, S. 929 (931 f.); Heckel, HStR VIII, § 197, Rn. 67; ders., Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 27 (Fn. 34); Sachs, Jus 1991, S. 985 (986); U.K. Preuß, FAZ v. 29. 8. 1992, BuZ S. 1; Steiner, Verfassunggebung, S. 120, 173 ff., 178 ff. (ein Hinweis auf die „Praxis der nordamerikanischen Bundesstaaten" allerdings auf S. 116). 19 Vgl. Schuppert, The Constituent Power, in: Starck (Hrsg.), The Main Principles of the German Basic Law - The Contributions of the Federal Republic of Germany to the First World Congress of the International Association of Constitutional Law, S. 37 ff. 20 Die Bedeutung gewisser Nuancierungen, die sich aus der stärkeren Orientierung am nordamerikanischen oder am französischen Modell ergeben, betont Hofmann, Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht-Politik-Verfassung, S. 261 (265). 21 Vgl. auch Isensee, AÖR 115 (1990), S. 248 (262 ff.); W. Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 254 (265 f.); Pieroth, NJW 1989, S. 1333.

2 Boehl

18

Einführung

den und muß nicht auf die besonderen Bedingungen im Bundesstaat erst nachträglich und künstlich übertragen und verändert werden, wie teilweise angenommen wird 2 2 , sondern sie hat ihren Ursprung in einem föderalistischen Kontext und bewährt sich dort, bevor sie zum Vorbild für die klassische Formulierung in der Staatstheorie der Französischen Revolution 23 wird. Vor allem, wenn - wie hier nach der „Verfassunggebung im Bundesstaat" gefragt werden soll, muß darum bei der Suche nach Vergleichs- und Orientierungspunkten der Blick in Richtung der nordamerikanischen Kolonien Großbritanniens und der späteren Vereinigten Staaten von Amerika gehen24. Die Bedeutung, die der Konstituierung der 13 Kolonien zu neuen Staaten auf der Grundlage der Volkssouveränität für den modernen Verfassungsstaat im allgemeinen und die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und des Bundesstaates im besonderen zukommt, ist - auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur in Deutschland - natürlich nicht unbemerkt geblieben. Zur Geschichte des Faches gehört die bekannte Kontroverse zwischen Jellinek und Boutmy über die Priorität der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte oder der Virginia Bill of Rights 25 . So wie damit für den Grundrechtsteil des Verfassungsrechts ist auch für den Bereich des Staatsorganisationsrechts der amerikanischen Entwicklung Aufmerksamkeit zuteil geworden. Georg Jellinek 26 und insbesondere Egon Zweig in seiner Untersuchung über „Die Lehre vom Pouvoir Constituant"27 haben frühzeitig auf die amerikanischen Ursprünge wichtiger Topoi unseres Verfassungsdenkens und auch speziell der Lehre vom pouvoir constituant hingewiesen. Dennoch erscheint es nützlich und sinnvoll, sich vor der Auseinandersetzung mit der Verfassungslage unter dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland erneut der amerikanischen Ursprünge der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes zu vergewissern. 22 In sich nicht folgerichtig ist es, wenn z. B. Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 45, gegenüber dem Messen einer Verfassungsentstehung an „den exakten Maßstäben", die in der Staatslehre der französischen Revolution entwickelt worden seien, konstatiert, daß „die Verfassung der USA schon vor der französischen Revolution und überdies nach etwas veränderten Vorstellungen zustande gekommen ist" (Hervorhebung vom Verf.); das Vorbild verändert nicht die erst nach ihm entwickelte Vorstellung, sondern setzt Maßstäbe. Vgl. auch Steiner, Verfassunggebung, S. 152. 23 Vgl. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 338, der gerade darauf hinweist, daß es für die Staatstheoretiker der französischen Revolution nur bundesstaatlich strukturierte Vorbilder für republikanische Staatswesen gab. Zur Vorbildfunktion der amerikanischen Entwicklung für Frankreich vgl. unten 1. Teil, Kapitel B. 24 Vgl. auch W. Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 254 (265, Fn. 39), der gegenüber der Lehre Carl Schmitts vom „Bundesstaat ohne bündische Grundlage" (Verfassungslehre, S. 389) gerade auf das Beispiel der USA verweist. 25 Vgl. dazu Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 1, 78; Kriele, Staatslehre, S. 149 f.; Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, S. 17. 2 6 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 515 ff. 27

Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 50 ff.

Β. Französische und amerikanische Tradition

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Denn zum einen kann der Blick auf Amerika aus dem Jahr 1994 auf eine wesentlich differenziertere Auseinandersetzung mit den Gründerjahren der amerikanischen Republik und deren ideengeschichtlichen und institutionellen Voraussetzungen in der amerikanischen Literatur zurückgreifen als zum Beispiel die 1909 erschienene Monographie von Egon Zweig. Die heutige Kenntnis über die den ersten Verfassungen in Nordamerika zugrundeliegenden verfassungsrechtlichen Vorstellungen geht über die noch von Carl Schmitt 1928 in seiner Verfassungslehre 28 als wichtigste geschichtliche Quelle angeführten „Federalist Papers" aus der Verfassungsdiskussion um die Bundesverfassung von 1787 deutlich hinaus. Insbesondere die umfassende Erschließung der für das Denken der Kolonisten so prägenden Broschüren- („pamphlet"29-)Literatur durch Bernhard Bailyn 30 und seinen Schüler Gordon S. Wood 31 , aber auch die Darstellungen von Edmund S. Morgan 32 und Willi Paul Adams 33 lassen die Ursprünge der Vorstellung einer besonderen „constituent power" in Nordamerika plastischer werden, als es auf der Grundlage der amerikanischen Verfassungsgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts möglich war. Diese hatte unter dem Einfluß der großangelegten Darstellung des amerikanischen Verfassungsinstituts der „Constitutional Convention" von John A. Jameson34 gestanden, die aber ganz von einem abwehrenden Impuls gegen die zeitgenössischen Auswüchse der Convention-Bewegung in den USA der zweiten Jahrhunderthälfte 35 und vor allem die Rolle der Konvente bei der Sezession der Südstaaten geprägt war. Zum anderen haben sich auch die Fragen, die aus juristischer Sicht an die amerikanischen Ursprünge im 18. Jahrhundert zu stellen sind, seit den noch vom Rechtspositivismus geprägten 36 Darstellungen von Zweig 37 und Jellinek natürlich verändert. 28 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 78; auch bei seiner ersten Auseinandersetzung mit der Lehre vom pouvoir constituant in der Schrift „Die Diktatur" von 1921 (S. 149, Fn. 1) tauchen lediglich die Autoren des Federalist auf. 29 Die häufig anzutreffende, scheinbar orginalgetreue Übersetzung als „Pamphletliteratur" erscheint angesichts der pejorativen Konnotation des Wortes „Pamphlet" im Deutschen der sowohl in Amerika, als auch in Europa in einer bestimmten Veröffentlichungsform erschienen politischen Theorie des späten 18. Jahrhunderts nicht angemessen. Vgl. zur äußeren Form der „pamphlet"-Literatur insbesondere Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, S. 1 -21. 30 Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, 1992 (1. Aufl. 1968). 31 Wood, The Creation of the American Republic 1776 - 1787, 1972. 32 Vgl. vor allem Morgan, Inventing the People - The Rise of Popular Sovereignty in England and America, 1989. 33 Adams, Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit - Die Verfassungen und politische Ideen der amerikanischen Revolution, 1973. 34 John A. Jameson, The Constitutional Convention - Its History, Powers, and Modes of Proceeding, 1867.

35 Vgl. dazu auch Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 60 (Fn. 1); Rodgers, Contested Truths, S. 93 ff. 36 Vgl. Henke, Der Staat 7 (1968), S. 165 (166); ders., Der Staat 19 (1980), S. 181 (181). 2=

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Einführung

Gerade in jüngster Zeit sind die amerikanischen Ursprünge wichtiger Institute und Grundgedanken unseres Verfassungssystems wieder verstärkt untersucht worden. Zu nennen sind insbesondere die Arbeiten von Stern 38, Steinberger 39, Pieroth 4 0 und Brugger 41, vor allem aber auch die Sammlung der seit den sechziger Jahren erschienenen Schriften von Gerald Stourzh 42. Bei den neueren Auseinandersetzungen mit den USA hat bisher allerdings die verfassunggebende Gewalt nicht im Zentrum gestanden, sondern allenfalls beiläufig (Stourzh, Stern) Beachtung gefunden; Häberles rechtsvergleichende Studie zur verfassunggebenden Gewalt 43 wiederum nimmt von den USA nur am Rande Kenntnis. In der Regel konzentriert sich das Interesse an den USA bei den Öffentlichrechtlern auf die Verfassungsgerichtsbarkeit (Stourzh, Steinberger, Stern) und die damit korrespondierende Lehre vom Vorrang der Verfassung (Wahl 44 ) sowie die konkrete Form der Gewaltenbalancierung mit Zwei-Kammer-Legislative und bundesstaatlicher Gliederung (Steinberger, Brugger, Isensee45). Wenn man der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes eine grundlegende Bedeutung für den modernen demokratischen Verfassungsstaat zuerkennt, dann muß aber gerade auch die in Amerika von Anfang an in einem föderativen Kontext 46 ausgeprägte Vorstellung einer besonderen verfassunggebenden Gewalt Gegenstand des den USA entgegengebrachten verfassungstheoretischen Interesses werden.

37 Zur Zeitbedingtheit und dem primär historischen Charakter von Zweigs Monographie vgl. Henke, Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 24 (Rn. 9); ders., Der Staat 19 (1980), S. 181 (181); Maunz., DÖV 1953, S. 645 (Fn. 1). C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 98, kritisiert den „fundamentalen Irrtum des Buches von E. Zweig", die verfassungsgesetzlich geregelte Revisionsbefugnis mit dem pouvoir constituant gleichzustellen. Positiver die Bewertung bei E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 8 (Fn. 3). 38 Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, 1984. 39 Steinberger, 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung - Zu Einflüssen des amerikanischen Verfassungsrechts auf die deutsche Verfassungsentwicklung, 1987. 40 Pieroth, Amerikanischer Verfassungsexport nach Deutschland, NJW 1989, S. 1333 ff. 41 Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 1993. 42 StourzK Wege zur Grundrechtsdemokratie - Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, 1989. 43 Häberle, AÖR 112 (1987), S. 54 (59). 44 Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 ff.; vgl. auch den Hinweis bei Steiner, Verfassunggebung, S. 100. 4 5 Isensee, AÖR 115 (1990), S. 248 (262 ff.). 4 6 Vgl. Isensse, AÖR 115 (1990), S. 248 (263: „Der Föderalismus erwuchs in Symbiose mit Volkssouveränität...").

C. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

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C. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Ein Neuansatz der Theorie vom pouvoir constituant soll im Rahmen dieser Arbeit nicht versucht werden. Was die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt anbelangt, wird also nicht wissenschaftliche Originalität angestrebt, sondern - bei aller unvermeidlichen Akzentuierung jeder Rezeption - versucht, unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Diskussionsstandes zu den Fragen der verfassunggebenden Gewalt die besonderen Bedingungen der verfassunggebenden Gewalt im Bundesstaat zu klären. Es soll auch nicht eine Geschichte der Theorie des pouvoir constituant oder eine Verfassungsgeschichte des Westens geschrieben werden. Die Arbeit beginnt zwar mit einem verfassungs- und ideengeschichtlichen Teil 47 . Die Beschäftigung mit den Meilensteinen auf dem Weg zum gegenwärtigen Verständnis der verfassunggebenden Gewalt des Volkes dient aber nur der Erhellung des Hintergrundes, vor dem sich die heute zu klärenden Fragen ergeben 48. Es wird gewissermaßen versucht, von heute aus den Suchscheinwerfer auf markante Punkte der gemeinsamen westlichen Verfassungs- und Ideengeschichte zu richten. Damit soll der Teil der Vorgeschichte der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland erhellt werden, der außerhalb Deutschlands stattgefunden hat 49 , und zwar gerade insofern, als er für das Verständnis der Frage nach der verfassunggebenden Gewalt im Bundesstaat relevant ist 50 . Die Arbeit will und kann nicht in Anspruch nehmen, einen Rechtsvergleich mit den USA und Frankreich durchzuführen. Zum einen entzieht sich das Problem der verfassunggebenden Gewalt des Volkes aufgrund seiner besonderen Natur als Grenzfrage des Verfassungsrechts 51 und offene Stelle zu den vorrechtlichen Bedingtheiten des Rechts der eigentlichen Rechtsvergleichung. Zum anderen sind in den beiden Ländern die Fragen der constituent power beziehungsweise des pouvoir constituant heute wenig präsent. Auch würde so das Konzept, die außerdeutschen Vorgeschichte der deutschen Vorstellungen zur verfassunggebenden Gewalt des Volkes aufzusuchen, verlassen und eine Arbeit über ausländische öffentlich-rechtliche Grenzbegriffe zu schreiben sein. Auch dies ist aber nicht beabsichtigt. Die Arbeit kann und will ferner keine neue Bundesstaatstheorie präsentieren. Auch insoweit muß sie auf den rechtswissenschaftlichen Erkenntnisstand, so wie er hier gesehen und geteilt wird, aufbauen. Nur an einem einzelnen - aber, wie es 47 Vgl. unten 1. Teil. 48 Vgl. ähnlich auch Wahl, HStR I, § 1, Rn. 1. 49 Vgl. ähnlich auch Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 9; Isensee, AÖR 115 (1990), S. 248 (265: „Die amerikanische Idee der Bundes-Republik führt auf die verfassungsstaatliche Identität der Bundesrepublik Deutschland zurück."). 50 Vgl. zu einer ähnlichen Form der Beschränkung der historischen Vorfrage auch Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, S. 99 (:„nur Verdeutlichung bestimmter Entwicklungslinien"). 51 Vgl. dazu unten 2. Teil, B.I.

22

Einführung

erscheint, nicht nebensächlichen, sondern theoretisch entscheidenden und grundlegenden - Punkt des Gebäudes der Bundesstaatslehre wird mit der Frage nach der Verfassunggebung im Bundesstaat angesetzt. Soweit es gelingt, an diesem Punkt Präzisierungen vorzunehmen, kann das möglicherweise seinerseits Rückwirkungen auf das Verständnis des durch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland konstituierten Bundesstaates haben. Die Arbeit zielt schließlich nicht auf eine allgemeine Theorie für alle Staaten und Staatsformen, wie es dem Programm der Allgemeinen Staatslehre entsprechen würde. Sie versteht sich in erster Linie als Beitrag zur Verfassungslehre beziehungsweise Verfassungstheorie der konstitutionellen Demokratie und des Bundesstaates und ist damit auf den durch das Grundgesetz verwirklichten Staatstypus bezogen. Sie berücksichtigt das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, ohne sich aber - angesichts der Natur der Fragestellung als die einer Grenzfrage - auf die Auslegung positiven Verfassungsrechts beschränken zu können. Insofern, als sie entsprechend dem Ansatz der Verfassungstheorie 52 die sich aus dem positiven Recht ergebenden Fragen in einem normativen Horizont - also nicht wie eine empirisch-sozialwissenschaftliche Arbeit - klärt, ist die Arbeit auf den Fragenhorizont der Rechtswissenschaft beschränkt 53.

D. Gang der Untersuchung Im Folgenden soll zunächst im 1. Teil zur Fundierung der anschließenden Darstellung der gegenwärtigen Theorie der Verfassungsentstehung (2. Teil) der Ursprung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in der angloamerikanischen, der französischen und der deutschen Verfassungsgeschichte aufgesucht werden. Soweit dabei das Schwergewicht auf die amerikanische Vorgeschichte gelegt wird (1. Teil, Kapitel A), geschieht dies im Hinblick auf die spätere Frage nach der Anwendbarkeit der Lehre vom pouvoir constituant auf ein föderatives Staatswesen im 3. Teil. Die beiden Kapitel über die Ausformung der Theorie vom pouvoir constituant in Frankreich und die Rezeption in Deutschland (1. Teil, Kapitel Β und C) führen demgegenüber in sehr viel knapperer Form die ideen- und institutionengeschichtliche Grundlegung im Hinblick auf die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in Deutschland weiter. Sie dienen dabei mehr der Verdeutlichung der These von der größeren Bedeutung der amerikanischen Vorgeschichte für eine bundesstaatliche Lehre der Verfassunggebung, als der Erarbeitung der in Deutschland ungleich bekannteren und besser aufgearbeiteten französischen und deutschen Geschichte der Lehre vom pouvoir constituant. 52 Vgl. dazu Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, S. 54 ff. 53 Insofern, als sie den gleichen Gegenstand und Theoriehintergrund behandelt, könnte sie für eine normativ orientierte Politikwissenschaft informativ sein.

D. Gang der Untersuchung

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Im 2. Teil wird versucht - zunächst noch unter Ausklammerung der besonderen, spezifisch bundesstaatlichen Fragestellungen - gewissermaßen in einem allgemeinen Teil die Fragen der Verfassungsentstehung und der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt darzustellen. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und ihre Bestandteile (2. Teil, Kapitel B) wird als spezifisch demokratische Antwort auf die Grundfragen der Verfassungssentstehung (2. Teil, Kapitel A) vorgestellt und gegenüber grundsätzlicher Kritik als notwendiger Bestandteil einer Verfassungstheorie der konstitutionellen Demokratie verteidigt (2. Teil, Kapitel C). Der 3. Teil schließlich wendet - nach einer Vergewisserung über den Begriff des Bundesstaates in der Ordnung des Grundgesetzes (3. Teil, Kapitel A) - die zuvor gewonnenen Ergebnisse auf die besonderen Bedingungen im Bundesstaat an. Dabei ist zwischen der - im wesentlichen den allgemeinen Lehren von der verfassunggebenden Gewalt entsprechenden - Verfassunggebung auf gesamtstaatlicher Ebene, der Verfassunggebung im Bund (3. Teil, Kapitel B), die darum weitgehend auf das im 2. Teil Gesagte verweisen kann, und der Verfassunggebung in den Ländern (3. Teil, Kapitel C) zu unterscheiden. Auf Landesebene ergibt sich die Besonderheit, daß bundes(verfassungs)rechtliche Ingerenzen eine nicht unerhebliche Rolle für den Prozeß der Verfassunggebung spielen und die Frage nach der Landesverfassunggebung darum nicht allgemein, sondern nur jeweils für den die Bedingungen der Verfassunggebung auf Landesebene bestimmenden konkreten Bundesstaat zu beantworten ist. Das Kapitel C des 3. Teils ist darum, nachdem im 1. Teil verfassungsgeschichtliche und im 2. Teil verfassungstheoretische Aspekte im Vordergrund gestanden hatten, vor allem verfassungsrechtlich geprägt. Abschließend werden die Ergebnisse der Arbeit thesenartig zusammengefaßt.

1. Teil

Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in der westlichen Verfassungstradition Die Erfinderehre in bezug auf die Lehre vom „pouvoir constituant" hat - bis heute vielfach wirksam 1 - der Abbé Sieyès in Anspruch genommen 2 . Wenn man einen „Erfinder" der Vorstellung der besonderen verfassunggebenden Gewalt des Volkes sucht, würde man nach heutigem Kenntnisstand wohl schon auf einzelne Theoretiker der englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts verweisen 3 . Jedenfalls ist die Vorstellung einer besonderen verfassunggebenden Gewalt des Volkes mit der Errichtung des ersten demokratischen Verfassungsstaates in Nordamerika voll ausgebildet 4 . Condorcet und Sieyès konnten die in den vorangegangenen eineinhalb Jahrzehnten in der amerikanischen Revolution entwickelten Vorstellungen und die amerikanische Praxis der Verfassunggebung zu einer zusammenhängenden Theorie fügen und haben sie - wie bereits Egon Zweig i m Einzelnen gezeigt hat 5 - wirkungsvoll auf das prägnante Begriffspaar von „pouvoir constituant" und „pouvoir constitué" gebracht 6 . ι Vgl. ζ. Β. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.a (S. 146: „Als wissenschaftlicher „Entdecker" der verfassunggebenden Gewalt gilt der Abbé Sieyès."); Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. \11\E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 12 („... wurde zuerst 1788 - 1789 vom Abbé Sieyès entwikkelt"); Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (208: „Sieyès hatte den Begriff für die Revolution von 1789 geschaffen, Carl Schmitt hat ihn für die von 1918 neu belebt"); ähnlich schon Henke., Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 48. Neuerdings betont auch Henke, Der Staat 31 (1992), S. 267 (Fn. 1), daß Sieyès die verfassunggebende Gewalt nicht erfunden habe, verweist aber nun auf Anklänge im römischen Staatsrecht; die Ursprünge der Vorstellung der verfassunggebenden Gewalt in Amerika kommen nach wie vor nicht ins Blickfeld. 2 Zu Sieyès' Anspruch vgl. schon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 1 und 185. 3 Edmund S. Morgan (Inventing the People - The Rise of Popular Sovereignty in England and America, S. 87, 89, 255 f.) hat neuerdings die während des Bürgerkriegs schreibenden Engländer George Lawson und Sir Henry Vane als die „Erfinder" einer ausgeprägten Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes vorgestellt; vgl. unten 1. Teil, A.II.2. 4 Ebenso schon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 1; Redslob, Die Staatstheorien der Französischen Nationalversammlung, S. 153; Loewenstein, Volk und Parlament, S. 30. Vgl. auch Wahl Der Staat 20 (1981), S. 485 (489); Dreier, JZ 1994, S. 741 (744). Vgl. i.E. unten 2. Teil, Kapitel A. 5 Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant - Ein Beitrag zum Staatsrecht der französischen Revolution, 1909.

Α. Ursprung im anglo-amerikanischen Rechtsdenken

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Im Zuge der auf Kontinentaleuropa ausgreifenden französischen Revolution, die im europäischen Denken bald die zuerst genau registrierte amerikanische Entwicklung überblendete7, ist die Lehre vom pouvoir constituant dann in der durch das französische Beispiel vermittelten Form in das deutsche Verfassungsdenken 8 eingeflossen 9. Mit der Rezeption der französischen Variante der Lehre vom pouvoir constituant sind neben der klaren theoretischen Durchbildung aber auch wesentliche Verluste, insbesondere was die Verbindung von verfassunggebender Gewalt und Bundesstaatslehre10 anbetrifft, verbunden.

A. Der Ursprung der Vorstellung einer besonderen „constituent power44 im anglo-amerikanischen Rechtsdenken Das Phänomen verfassunggebender Versammlungen und die Vorstellung einer besonderen verfassunggebenden Gewalt des Volkes haben ihren Ursprung in der anglo-amerikanischen Verfassungsgeschichte der jüngeren Frühneuzeit 11. Die Theorie und Praxis der „constituent power" ist in der neueren, stärker ideen- und institutionsgeschichtlich orientierten amerikanischen Geschichtsschreibung12 geradezu als der eigentlich revolutionäre und originäre Beitrag der amerikanischen Revolution zur Theorie des westlichen Verfassungsstaates in Anspruch genommen worden 13.

6 Vgl. i.E. unten 1. Teil, Kapitel B. 7 Vgl. dazu unten 1. Teil, Kapitel C. 8 Th. Würtenberger, Aufklärung 3 (1988), S. 53 (62); ders., in: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, S. 87 (96, 98), erkennt die Vorstellung einer verfassunggebenden Gewalt des Volkes in Deutschland bereits bei Justi und in Christian Wolffs Lehrbuch des Naturrechts von 1748, konstatiert allerdings (ebd. S. 105), daß diese frühen Ansätze in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten waren. 9 Vgl. i.E. unten 1. Teil, Kapitel C. 10

Vgl. Angermann, Der deutsche Frühkonstitutionalismus und das amerikanische Vorbild, HZ 219 (1974), S. 1 (10 ff., 31). 11 Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 50 f.; Morgan, Inventing the People, S. 91. 12 Diese steht im Gegensatz zu dem ökonomistisch-deterministischen Ansatz der „progressive historians" der Zwischen- und Nachkriegszeit; vgl. die kommentierte Übersicht zur amerikanischen Revolutionsgeschichtsschreibung bei Adams, Republikanische Verfassung, S. 364 ff., 372; Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 229. 13 Palmer , Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 213 - 215, 262, 489; Wood , Creation of the American Republic, S. 342; vgl. auch Kämmen, The Constitution in American Culture, S. 157; Adams, Republikanische Verfassung, S. 373; Angermann, HZ 219 (1974), S. 1 (17). Edmund S. Morgan ordnet die Entstehung der Theorie neuerdings stärker in den Gesamtzusammenhang des englischen Verfassungsdenkens seit dem Bürgerkrieg ein, anerkennt aber auch die amerikanische Priorität was die praktische Anwendung und Ausformung anbelangt; vgl. insbes. Morgan, Inventing the People, S. 91.

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

Der Begriff der „constituent power" taucht erstmals 1777 in den Debatten um die Konstituierung des späteren Staates Vermont auf 14 ; die amerikanische Vorstellung einer besonderen verfassunggebenden Gewalt entwickelt sich aber vor allem um die Begriffe der Volkssouveränität und der „Convention". Wichtig hierfür ist die revolutionäre Praxis und die Broschüren-Literatur der Revolutionszeit, die seit 1956 vor allem durch Bernhard Bailyn 15 und Gordon S. Wood 16 historisch erschlossen worden ist. Die Verfassungsbewegung in den Einzelstaaten hat sich als wichtiger für die Entwicklung des amerikanischen Konstitutionalismus erwiesen, als die spätere Diskussion um die Bundesverfassung von 178717. Die Verfassung von Massachusetts von 178018 wird häufig als die erste Verfassung genannt, der die Unterscheidung von verfassunggebender Gewalt und verfaßten Gewalten zugrundeliegt 19, doch ist die Vorstellung einer besonderen verfassunggebenden Gewalt bereits bei den vorher erlassenen Verfassungen der anderen Einzelstaaten präsent. Der Sache nach ist - wie zu zeigen sein wird - die Vorstellung einer besonderen verfassunggebenden Gewalt in der Zeit der Ablösung der nordamerikanischen Kolonien vom englischen Mutterland in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 entstanden. Nach 1780 kommt es in einer Reihe von Einzelstaaten zum Zweck der Totalrevision der ersten Revolutionsverfassungen und insbesondere bei der Ratifikation der Bundesverfassung zu Verfassungskonventen, denen bereits ausgeprägte Vorstellungen über legitime Formen demokratischer Verfassunggebung zugrundeliegen 20. Tocqueville spricht 1835 in seiner - auch in Deutschland einflußreichen - Darstellung der Demokratie in Amerika, also auf dem Kenntnisstand der seit 1789 entwickelten französischen Theorie des pouvoir constituant, ganz selbstverständlich von der amerikanischen Verfassunggebung von 1787 / 89 als einer „Anrufung des pouvoir constituant"21. Neben den Verfassungsneuschöpfungen für die jeweils hin14

Adams, Republikanische Verfassung, S. 70; Hofmann, Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht-Politik-Verfassung, S. 261 (288, Fn. 121); Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 39. 15

Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, 1992 (1. Aufl. 1968). 16 Wood, The Creation of the American Republic 1776 - 1787, 1972. 17 Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 18; vgl. auch Wood, Creation of the American Republic, S. 354. Insofern ist die „Geburtsstunde" der verfassunggebenden Gewalt des Volkes also nicht erst, wie zuletzt H.-P. Schneider, HSTR VII, § 158, Rn. 10, gelehrt hat, in den Jahren 1787 / 89 mit der Entstehung der amerikanischen Bundesverfassung anzunehmen. is Vgl. dazu i.E. unten 1. Teil, A.II.3.

ι 9 Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 59 (Fn. 4); Hofmann, Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht-Politik-Verfassung, S. 261 (279); Adams, Republikanische Verfassung, S. 20; Morgan, Inventing the People, S. 258; Rodgers, Contested Truths, S. 86; Graf Kielmansegg, Das Verfassungsparadox, in: FS. Hennis, S. 397 (408); Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 109. Vgl. aber auch Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 18. 20 Rodgers, Contested Truths, S. 80 ff.

Α. Ursprung im anglo-amerikanischen Rechtsdenken

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zukommenden westlichen Staaten der USA wurde die Einberufung von Verfassungskonventen zur Verfassungsänderung dann von 1829 bis 1880 zu einer gängigen Praxis des amerikanischen Verfassungslebens 22. Zwischen 1844 und 1853 wird in der Hälfte der Staaten ein Verfassungskonvent einberufen 23 und auch die Sezession der Südstaaten (1861) wird von „Conventions" beschlossen24. Die großangelegte Monographie von John A. Jameson über die „Constitutional Convention" versucht dieses Phänomen juristisch zu bewältigen25. Noch McLaughlin beschreibt die „Constitutional Convention" 1935 in seiner Verfassungsgeschichte der USA als eine vertraute Institution 26 . Die moderne Verfassungsgeschichte von Kelly, Harbison und Beiz spricht ganz selbstverständlich von „the people as constituent power" 27 . Diese Vorstellung einer besonderen verfassunggebenden Gewalt ist - wie gezeigt werden soll - aus der Fusion zweier Traditionsstränge des englischen Verfassungsdenkens in den nordamerikanischen Kolonien entstanden: neben der Institution der „Convention" ist dabei vor allem die Durchsetzung des modernen Verfassungsbegiffs wesentlich. Mit Verbindung beider Elemente unter den Bedingungen der Volkssouveränität zu einer ausgeprägten Theorie und Praxis der Verfassunggebung läßt sich von einer Theorie der verfassunggebenden Gewalt im spezifischen Sinne sprechen, die von Anfang an im Kontext eines föderativen Staatswesens entwickelt wird.

I. Neues Verfassungsverständnis Den Begriff der Verfassung / Konstitution 28 oder des Grundgesetzes (lex fundamentalis)29 kannte die abendländische Staatslehre und Philosophie vor der ameri21 Tocqueville , De la Démocratie en Amérique, S. 183 (Chapitre VIII): „.. .et en appela au pouvoir constituant." Die verbreitete deutsche Übersetzung von Zbinden (Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, hrsg. J.P. Mayer, Th. Eschenburg, H. Zbinden, S. 127: „ . . . und berief eine verfassunggebende Versammlung ein") modifiziert den Inhalt der Originalstelle, indem sie den Akzent von der Rückführung auf den pouvoir constituant zur Ereignisschilderung verschiebt. 22

Rodgers , Contested Truths, S. 93; Jameson, Constitutional Convention, S. 180 ff. 3 Rodgers , Contested Truths, S. 94; Sturm , Methods of Constitutional Reform, S. 114 f.

2

24

Rodgers , Contested Truths, S. 109; Zweig , Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 60,

Fn. 1. 25

John A. Jameson, The Constitutional Convention - Its History, Powers, and Modes of Proceeding, 1. Aufl. 1867; vgl. dazu unten 1. Teil, A.II.3. 26 McLaughlin , Constitutional History of the US, S. 110 („familiar American institution"). 2 7 Kelly / Harbison / Belz, American Constitution, S. 69, 80, 88, 91, 105. Vgl. ζ. Β. auch Bailyn , Ideological Origins of the American Revolution, S. 324; Morgan , Inventing the People, S. 255 f.; Palmer , Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 214 f., 224, 231. 28

G. Jellinek , Allgemeine Staatslehre, S. 506, führt den Begriff der Konstitution auf die lateinische Wendung des „rem publicam constituere" für die Festlegung der grundlegenden Gesetze im Staate zurück.

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

kanischen Revolution 3 0 . Auch geschriebene Verfassungsurkunden sind schon der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Welt nicht unbekannt 3 1 . I m Sinne der Gesamtheit der Grundgesetze des Staates wird der Begriff der Konstitution zuerst in England in den Auseinandersetzungen zwischen König und Parlament vor dem Bürgerkrieg und dann in der Glorious Revolution gebräuchlich 3 2 ; in dieser Bedeutung wird er mit dem vielfachen Lob der als vorbildlich empfundenen englischen Verfassung i m politischen Denken der Aufklärung verbreitet 3 3 . Auch wenn es sich bei diesen Grundgesetzen bzw. Konstitutionen um materielles Verfassungsrecht von grundlegender Bedeutung für die politische Organisation des Gemeinwesens handelt, so sind sie doch als Verträge zwischen Herrschern und Ständen oder königliche sanktionierte Gesetze noch ganz der alteuropäischen Welt verhaftet 3 4 und unterscheiden sich nicht unerheblich von dem, was eine Verfassung i m modernen Sinne ausmacht. Das entscheidende Kriterium des heutigen Verfassungsbegriffs ist nicht so sehr die Vereinbarung wichtiger Grundregeln über die politische Organisation des Gemeinwesens oder die Schriftlichkeit und der Kodifika29 Vgl. Grimm, Der Verfassungsbegriff in historischer Entwicklung, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 101 (102); Stern, FS. Eichenberger, S. 197 (198). 30 Vgl. hierzu z. B. Hofmann, Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht-Politik-Verfassung, S. 261 (269, 275 ff.); E.-W. Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in: ders., Staat-Verfassung-Demokratie, S. 29 ff.; Grimm, Der Verfassungsbegriff in historischer Entwicklung, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 101 (102 f.); C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 39 f., 43; Hsü Dau-Lin, in: M. Friedrich (Hrsg.), Verfassung, S. 34 (37 f.); G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 508 ff. 31 In diesem Sinne werden im deutschen Rechtskreis die Goldene Bulle (1356) und insbesondere der Westfälische Frieden (Instrumentum pacis Osnabrugense et Monasteriense, 1648) in Verbindung mit dem Jüngsten Reichsabschied des Regensburger Reichstags von 1654 als Reichsgrundgesetze genannt. Vgl. z. B. E.-W. Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in: ders., Staat-Verfassung-Demokratie, S. 29 (30 f.); Hofmann, Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht-Politik-Verfassung, S. 261 (270 f.); Wahl, HStR I, § 1, Rn. 8; Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 27; Würtenberger, Aufklärung 3 (1988), S. 53 (56). Aus der britischen Verfassungsgeschichte ist insbesondere an die Magna Charta (1215), die Petition of Rights (1628), die Habeas Corpus-Akte (1679) und den Act of Settlement (1701), der die Union mit Schottland zum Vereinigten Königreich festschrieb, zu erinnern. 32 Vgl. besonders Grimm, Der Verfassungsbegriff in historischer Entwicklung, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 101 (104 f.); Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 7; Gough, Fundamental Law in English Constitutional History, S. 99 ff., 163 ff.; Lutz, Origins of American Constitutionalism, S. 21. 33 Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 8; C. J. Friedrich , Der Verfassungsstaat der Neuzeit, S. 30 f. 34 Hofmann, Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht-Politik-Verfassung, S. 261 (269), spricht von den kontraktuellen Anfängen im mittelalterlichen Konstitutionalismus. Vgl. auch Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 6; Grimm, Der Verfassungsbegriff in historischer Entwicklung, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 101 (102 f.); ders., Enstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalimus, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 31 (35); Starck, Vorrang der Verfassung, in: ders., Der demokratische Verfassungsstaat, S. 33 (37 ff.); C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 45 f.

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tionscharakter durch Fixierung in einer Urkunde 3 5 . Seinen spezifischen und heute für die westlichen Verfassungsstaaten - mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland - geradezu selbstverständlichen Sinn als auch formell herausgehobenes und nicht auf gleichem Wege abänderbares, auch den Gesetzgeber bindendes, vorrangiges Recht, das gerichtlich selbst gegen das vom Parlament gesetzte einfache Recht durchgesetzt werden k a n n 3 6 , erhielt der Begriff der Verfassung erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Nordamerika37. Der ältere Begriff der Verfassung hatte noch den englischen Verfassungskämpfen des 17. Jahrhunderts zwischen König und Parlament um die Durchsetzung oder Verhinderung des monarchischen Absolutismus französischen Musters entsprochen 3 8 . Der König sollte durch Vertrag und Recht gebunden werden 3 9 ; die durch

35 Ebenso Stern, FS. Eichenberger, S. 197 (199); G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 508 ff., stellt dagegen noch auf die Schriftlichkeit der Verfassung oder die Verfassungsurkunde ab, wenn er von der Entstehung „des modernen Verfassungsbegriffs" spricht; bei der Schilderung der Bedeutung der kolonialen Charten und der ersten amerikanischen Verfassungen stellt er deren „höhere" Qualität (517, 519) bzw. „gesteigerte Gesetzeskraft" (520) heraus, um dann aber nur zu folgern, in Amerika sei „der Ursprung unserer heutigen geschriebenen Verfassung zu suchen" (521). In seiner noch ganz dem Verfassungsbegriff des deutschen Konstitutionalismus verhafteten - und damit nicht wirklich „allgemeinen" - Staatslehre spiegelt sich die relativ späte Durchsetzung des Prinzips des Vorrangs der Verfassung im deutschen Verfassungsrecht. Vgl. Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 (491 ff.). 3 6 Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (490 f.); ders., HStR I, § 1, Rn. 35; E.-W. Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in: ders., Staat-Verfassung-Demokratie, S. 29 (35 f.); Hofmann, Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht-Politik-Verfassung, S. 261 (280); Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 3 II.4. (S. 78); ders., Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, S. 9; ders., FS. Eichenberger, S. 197 (201 f.); Dreier, JZ 1994, S. 741 (742); Th. Würtenberger, Aufklärung 3 (1988), S. 53 (54); Wood, Creation of the American Republic, S. 291. 37 Hofmann, Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht-Politik-Verfassung, S. 261 (265, 280); G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 511; Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 (488: „Beginn des modernen Verfassungsstaats in der nordamerikanischen Verfassungsentwicklung im letzten Viertel des 18. Jh.s"); ders., HStR I, § 1 Rn. 2; Grimm, Der Verfassungsbegriff in historischer Entwicklung, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 101 (106); ders., Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 10; Dreier, JZ 1994, S. 741 (744); Th. Würtenberger, Aufklärung 3 (1988), S. 53 (59); Hsü Dau-Lin, in: M. Friedrich (Hrsg.), Verfassung, S. 34 (39); Wood, Creation of the American Republic, S. 260 ff., 277; Bailyn, Ideological Origins of the American Revolution, S. 175 - 184; Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, S. 13; ders., FS. Eichenberger, S. 197 (201); Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 6, 15, 20; Graf Kielmansegg, Das Verfassungsparadox, in: FS. Hennis, S. 397 (397); C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 14,40; Wade/ Bradley, Constitutional and Administrative Law, S. 5. 38 Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, S. 142 (am Beispiel Lockes); Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 334, zur Remonstranz des englischen Heeres von 1648, die er als Forderung nach einer modernen Verfassung und gegen das Modell des bloßen Vertrags zwischen Krone und Parlament interpretiert.

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die vertraglich vereinbarten Grundgesetze begründete Verfassung des Staates ist der einseitigen Veränderung durch den Herrscher entzogen 4 0 . Das ist auch die ratio, die noch der nach der Glorious Revolution vom Parlament dem neuen Königspaar in Art einer Wahlkapitulation 4 1 abverlangten englischen B i l l of Rights von 1689 zugrundelag 42 . Dieser Verfassungsbegriff bot aber den nordamerikanischen Kolonisten keinen Schutz, als es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Konflikt über das Besteuerungsrecht des Londoner Parlaments in den K o l o n i e n 4 3 kam. Der alte Verfassungsbegriff, dessen polemische Spitze gegen den Monarchen gerichtet gewesen w a r 4 4 , beschränkte nicht die Macht eines souveränen Parlaments. Der moderne Souveränitätsbegriff hat sich in Großbritannien i m 18. Jahrhundert aber gerade in der eigentümlichen Form der Suprematie oder Souveränität des Parlaments durchgesetzt 45 . Das Parlament, soeben noch Garant der Untertanenfreiheit gegen die Souveränitätsansprüche der Stuarts, hatte sich nach dem Sieg von 1688 selbst zum Souverän entwickelt. Das souveräne Parlament kann das Recht ändern; das spätere Recht derogiert das alte Recht, und jedes Parlament ist frei, das Recht zu 39 Vgl. Grimm, Der Verfassungsbegriff in historischer Entwicklung, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 101 (103); ders., Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 31 (60). 40 Grimm, Der Verfassungsbegriff in historischer Entwicklung, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 101 (103); Graf Kielmansegg, Das Verfassungsparadox, in: FS. Hennis, S. 397 (407); Hofmann , Herkunft der Menschenrechtserklärungen, in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, S. 3 (17). 41 Vgl. zur Wahlkapitulation als der deutschen Vorstufe von Grundgesetz und Verfassung ζ. B. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 48. 42 Morgan, Inventing the People, S. 117; Adams, Republikanische Verfassung, S. 23 f.; Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 35; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 237. 43 Insbesondere der Konflikt von 1765 um den „Stamp Act", der über den Versuch Londons entbrannte, die Kolonien durch zusätzliche Steuern für die Kosten des Siebenjährigen Krieges gegen Frankreich und Habsburg, dem „ersten Weltkrieg der Geschichte", heranzuziehen. 44 Diese Stoßrichtung des alten Verfassungsverständnisses betont E.-W. Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in: ders., Staat-VerfassungDemokratie, S. 29 (35). Hierin vor allem unterscheiden sich auch die von Th. Würtenberger, Aufklärung 3 (1988), S. 53 (55, 61 f., 78 f.), aufgezeigten Ansätze konstitutionellen Denkens in Deutschland vor 1789 von dem in der amerikanischen Revolution hervorgetretenen Verfassungsbegriff. 45 Vgl. Wood, Creation of the American Republic, S. 264; Bailyn , Ideological Origins of the American Revolution, S. 201; Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 30 (mit Hinweis auf James Wilson); Adams, Republikanische Verfassung, S. 22, 27. „Parlament" bedeutet dabei im technischen Sinne der englischen Verfassungsdogmatik „The King / Queen in Parliament", also das verfassungsmäßige Zusammenwirken des Monarchen und der „Lords" und „Commons", wobei tatsächlich aber die „Commons" das letzte Wort haben; vgl. Wade / Bradley, Constitutional and Administrative Law, S. 64; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 274 f.; Kriele, Staatslehre, S. 157; Kelly / Harbison /Beiz, American Constitution, S. 65.

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ändern, denn kein Parlament kann seinen - ebenfalls souveränen - Nachfolger binden46 Sollte diesem Effekt der lex posterior-Logik begegnet und Rechtssicherheit auch gegenüber einem souveränen Parlament erreicht werden, so war der Rekurs auf ein beständigeres, anderes, höheres Recht n ö t i g 4 7 . Die Nordamerikaner gingen als erste daran, die institutionellen und verfassungstheoretischen Folgerungen aus der Erfahrung der Möglichkeit einer Entartung parlamentarischer Souveräne 48 zu ziehen. Die von den nordamerikanischen Kolonisten in den Jahren der Entfremdung vom britischen Reich gesammelten Erfahrungen wurden prägend für deren Verfassungsverständnis 49 . Die Vorstellung einer Verfassung als eines unveränderlichen, höheren Gesetzesrechts hatte vereinzelte Vorbilder in der englischen Verfassungsgeschichte der Bürgerkriegszeit und des Interregnums 50 . Sie war nach dem englischen Bürgerkrieg und der Hinrichtung Karls I. (1649) in der Agitation der puritanischen Leveller für ein „Agreement of the People" 5 1 und bei dem von Oliver Cromwell erlassenen „Instrument of Government" 5 2 angeklungen. Beide Verfassungsprojekte hatten wäh46 Vgl. zum Problem „Can Parliament bind its successors?" noch aus heutiger Sicht ζ. Β. Wade / Bradley , Constitutional and Administrative Law, S. 72 f.; de Smith, Constitutional and Administrative Law, S. 85 ff., 89 f. Vgl. auch die Argumentation bei Jefferson , Notes on the State of Virginia, S. 124, der sich auf Lord Coke beruft; dazu auch Morgan, Inventing the People, S. 73. 47 Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 (489 f.); Grimm, Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 31 (55 f.); vgl. auch ders., Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 39; Hofmann, Herkunft der Menschenrechtserklärungen, in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, S. 3 (18); Kelly / Harbison / Beiz, American Constitution, S. 65, 90 („The basic purpose of the new American conception of constitutionalism was to limit legislative power"). 48 Vgl. E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 27; Kriele, Staatslehre, S. 158; Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 30; Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 38; Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 (490); Kelly / Harbison /Beiz, American Constitution, S. 65; Morgan, Inventing the People, S. 254 f. 49 Vgl. auch Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 (490), der die Übertragung der an einem „fremden" Parlament erlebten Erfahrung als „die große Leistung der amerikanischen Verfassungsbewegung" bezeichnet. 50 Vgl. Morgan, Inventing the People, S. 70 f., 83; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 35; de Smith , Constitutional and Administrative Law, S. 20 f.; Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, S. 11. 51 Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 38 ff., 41; Morgan, Inventing the People, S. 68, 72 ff., 255; Eichler, Verfassungswandel in England, S. 44, 47 f.; Badura, FS. Scheuner 25; Henke, Recht und Staat, S. 584 f.; Hsü Dau-Lin, in: M. Friedrich (Hrsg.), Verfassung, S. 34 (38); Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, S. 120 ff. 52 Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 43 ff.; Grimm, Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 31 (52); ders., Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 34; Morgan, Inventing the People, S. 81; Eichler, Verfassungswandel in England, S. 52 f.; Hsü Dau-Lin, in: M. Friedrich (Hrsg.), Verfassung, S. 34 (39); C. Schmitt, Die Diktatur, S. 133; ders., Verfassungslehre, S. 40.

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rend des Jahrzehnts der englischen Republik auf eine Neukonstituierung des Gemeinwesens auf der Grundlage der Volkssouveränität 53 gezielt. Die Leveller hatten, das von 1640 bis 1653 amtierende „Long Parliament" 5 4 bzw. (seit 1649) Rumpf-Parlament 55 vor Augen, eine Beschränkung des Parlaments durch ein „law paramount" 5 6 angestrebt. Cromwell wollte die Abstützung und Verstetigung seines Protektorats auf einer unveränderlichen Verfassungsgrundlage 57 . Der Gedanke eines formell abgehobenen höheren Rechts hat seit dem Scheitern der republikanischen Herrschaft und der Restauration der Stuarts durch das Parlament i m Jahre 1660 in der britischen Verfassungsgeschichte bis in die siebziger Jahre unseres Jahrhunderts keine Rolle mehr gespielt 5 8 . Der moderne Konstitutionalismus beginnt damit zwar in England, wird aber in Amerika vollendet 5 9 . In den nordamerikanischen Kolonien fand eine tiefgreifende Abkehr von der Tradition des englischen Verfassungsdenkens statt 6 0 . Eine wichtige Rolle kommt hierbei den kolonialen Charten z u 6 1 . Bei den Charten der englischen Kolonien han53 Vgl. insbes. Morgan, Inventing the People, S. 55 ff.; Starck, Vorrang der Verfassung, in: ders., Der demokratische Verfassungsstaat, S. 33 (36 f.); vgl. aber auch C. Schmitt, Die Diktatur, S. 131 ff., der von der Souveränität Chromwells spricht. 54 Morgan , Inventing the People, S. 65 ff. 55 Morgan , Inventing the People, S. 74 f. 56 Morgan , Inventing the People, S. 71, 83, 255; Zweig , Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 41. 57 Aufschlußreich das Cromwell-Zitat bei G. Jellinek , Allgemeine Staatslehre, S. 511: „In every Government there must be Somewhat fundamental, Somewhat like a Magna Charta, which should be standing, be unalterable". Vgl. auch C.J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, S. 149, der auf Art. X I I des Instrument hinweist, wonach die Wähler bei der Parlamentswahl schriftlich erklären sollten, daß die Gewählten nicht die Befugnis zur Änderung der Regierungsform / Verfassung haben sollten. 58

Vgl. N. Johnson, In Search of the Constitution, S. 53; Eichler, Verfassungswandel in England, S. 61. Zur jüngeren Diskussion um die Schaffung einer geschriebenen Verfassung bzw. einer Bill of Rights vgl. ζ. B. Lester , Fundamental Rights: The United Kingdom Isolated?, Public Law 1984, S. 46 ff.; de Smith, Constitutional and Administrative Law, S. 22 f. 59 Grimm, Der Verfassungsbegriff in historischer Entwicklung, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 101 (104 ff.); Starck, Vorrang der Verfassung, in: ders., Der demokratische Verfassungsstaat, S. 33 (37); C.J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, S. 31; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 14, 40; vgl. auch (aus britischer Sicht) Wade / Bradley , Constitutional and Administrative Law, S. 5 f.; Ν. Johnson, In Search of the Constitution, S. 53. 60 Wood , Creation of the American Republic, S. 260, 257 - 305; Bailyn, Ideological Origins of the American Revolution, S. 204 f.; Kelly / Harbison / Beiz, American Constitution, S. 64; Adams, Republikanische Verfassung, S. 30 f.; Lutz, Origins of American Constitutionalism, S. 1,5, 9; Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 30; Kämmen, The Constitution in American Culture, S. 158; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 61. 61 So bereits G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 515 - 517. Auch Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 55, attestiert bereits den kolonialen Charten den Charakter des „Grundgesetzes im formellen Sinne", ohne den kolonialrechtlichen Hintergrund zu berücksichtigen. Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 18, sieht sie als „Vorform einer geschriebenen Verfassung" an; ähnlich Kelly / Harbison / Beiz, American

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delte es sich um zum Teil noch aus elisabethanischen Handelsprivilegien entstandene Regelwerke, die von der Krone oder dem mit der Kolonisation beauftragten privaten Konzessionsnehmer zur Regierung der Kolonien erlassen worden waren 62 . „Höheres" Recht waren diese Charten aus der Sicht der Kolonisten, deren Selbstverwaltungskörperschaften sich in dem von den Charten gesetzten Rahmen bewegen mußten und deren in Selbstverwaltung gesetztes Recht von den englischen Gerichten am englischen Recht und den dazu gehörenden Charten überprüft wurde 63 . Über ein Jahrhundert lang, während dessen sich die Kolonisten loyal zur Krone innerhalb des englischen Empire und des englischen Rechts bewegten, war für sie also die Existenz eines für ihre Vertretungskörperschaften unverfügbaren Rechts, das insbesondere die Organisation des „Government" der Kolonie durch den Gouverneur und die Assemblies oder Councils der Abänderung durch die Vertretungskörperschaften der Kolonisten entzog, Normalität gewesen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen die nordamerikanischen Siedler, die englische Verfassung, also jenes Arrangement von Konventionen und Befugnissen, das sich seit der Glorious Revolution von 1688 eingespielt hatte 64 , in Analogie zur Normallage der Kolonien als bindendes und höheres Recht zu interpretieren 65. Und als mit der Unabhängigkeit das Unterordnungsverhältnis zum Recht des Mutterlandes entfiel, lag es für die Bewohner der neuen nordamerikanischen Staaten näher, die koloniale Situation unter geänderten Bedingungen und mit anderen Akteuren zu reproduzieren 66, als sich in die Normalität des nicht-kolonialen Engländers zu versetzen, Constitution, S. 12 („... foreshadowed ... the idea of limited government under positive fundamental law"), 66. Kritisch gegenüber einer Qualifizierung schon der kolonialen Charten als Verfassung äußert sich Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, S. 12. Ebenso Grimm, Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 31 (54); ders., Deutsche Verfassungsgeschichte 1776- 1866, S. 38. 62 Lutz, Origins of American Constitutionalism, S. 20, 35 ff. m.w.N.; Wood, Creation of the American Republic, S. 268, 283; Zweig , Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 54 f.; Morgan , Inventing the People, S. 122 - 135; Eichler, Verfassungswandel in England, S. 39 f. Instruktiv die Übersicht Jeffersons über die Frühgeschichte Virginias seit dem Freibrief Elisabeth I. vom 25. 3. 1584 an Sir Walter Raleigh in: Jefferson , Notes on the State of Virginia, S. 110 ff. (Query XIII.). Vertiefend Kelly / Harbison /Beiz, American Constitution, S. 2 ff. 63 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 519; Adams, Republikanische Verfassung, S. 28, 31; Grimm, Der Verfassungsbegriff in historischer Entwicklung, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 101 (106); Lutz, Origins of American Constitutionalism, S. 152. 64 Vgl. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 33; Adams, Republikanische Verfassung, S. 23. 65 Die Analogisierung der die Kolonisten bindenden kolonialen Charten mit einer das Parlament bindenden Verfassung in der Sicht der Amerikaner betont Adams, Republikanische Verfassung, S. 31. Ähnlich auch Grimm, Der Verfassungsbegriff in historischer Entwicklung, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 101 (106). 66 Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 56, beschreibt dies als ein Einrücken des souveränen Volkes in die Rechtsstellung des obersten Kolonialherren. Vgl. auch Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 38.

3 Boehl

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der gegenüber dem „ordinary law of the land" unmittelbar ist und für den es kein höheres und tieferes Recht und damit keine auch formell herausgehobene Verfassung geben kann 67 . Es wäre aber sicher überpointiert, das moderne Verständnis von Verfassungsrecht als Resultat einer falsch aufgelösten juristischen Analogie zum englischen Kolonialrecht erklären zu wollen. Zum einen war die Realität der transatlantischen Rechtsbeziehungen nicht so eindeutig, wie sie sich in der Konstruktion der englischen Kronjuristen 68 darstellen mochte. Zum anderen gehen einige Charten auch auf Vereinbarungen der Siedler selbst zurück, die wie der berühmte „Mayflower Compact" an der puritanischen Vorstellung der Gemeinde als „convenant" orientiert waren 69. Georg Jellinek 70 hat auf die Tatsache hingewiesen, daß die den Kolonisten oktroyierten Charten in manchen Fällen auch in Wirklichkeit identische Bestätigungen dessen waren, was die Siedler in der Wildnis jenseits des Atlantik zur Selbstregierung vereinbart hatten. Genannt werden dabei insbesondere die „Fundamental Orders of Connecticut" von 163971, welche die aus Massachusetts auswandernden Puritaner für ihre Neusiedlung vereinbart hatten und die später durch eine königliche Charta im wesentlichen bestätigt wurden 72 . In der neueren amerikanischen Geschichtsschreibung wird vielfach auf das Verblassen der kolonialrechtlichen Konstruktion und die allmähliche Gleichsetzung der kolonialen Charten mit Verfassungen hingewiesen73. Die Hinwendung zum modernen Verfassungsbegriff in Nordamerika fand zum anderen unter dem Einfluß der Naturrechtstheoretiker des europäischen Kontinents 67

Vgl. Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, S. 27; Boehl, Der Britische Bergarbeiterstreik von 1984 / 85, S. 154. 68 Vgl. Kelly /Harbison /Beiz, American Constitution, S. 22, 25. 69 Kelly / Harbison /Beiz, American Constitution, S. 8 ff.; Lutz, Origins of American Constitutionalism, S. 24 ff.; Hofmann, Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht-Politik-Verfassung, S. 261 (287). 70

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 515. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 515; Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, S. 4. Sehr weitgehend gesteht auch Bailyn, Ideological Origins of the American Revolution, S. 190, den „Fundamental Orders" Verfassungscharakter zu, allerdings ohne den modernen Verfassungsbegriff präzise herauszuarbeiten. Vgl. auch Morgan, Inventing the People, S. 123; Kelly / Harbison /Beiz, American Constitution, S. 10; Lutz, Origins of American Constitutionalism, S. 19, 42 ff.; Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, S. 113 f.; Hsü Dau-Lin, in: M. Friedrich (Hrsg.), Verfassung, S. 34 (40); Arendt, Über die Revolution, S. 217. 72 Die auf den „Fundamental Orders" beruhende Charter von Connecticut galt auch nach der Revolution noch bis 1818 in geänderter Fassung weiter, weil sie von den Kolonisten als Ausdruck des Volkswillens gedeutet werden konnte; vgl. Adams, Republikanische Verfassung, S. 20, 71; Arendt, Über die Revolution, S. 217; Lutz, Origins of American Constitutionalism, S. 47 f. 73 Wood, Creation of the American Republic, S. 269, 271; Bailyn, Ideological Origins of the American Revolution, S. 190; Kelly / Harbison / Belz, American Constitution, S. 7 f.; ebenso Adams, Republikanische Verfassung, S. 31. 71

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und Großbritanniens - insbesondere Pufendorf, Wolff, Vattel, Locke und Montesquieu - statt 7 4 . Insbesondere der schweizer Publizist Emer de Vattel, ein Schüler des in Halle lehrenden Christian Wolff, hatte in seinem 1758 erstmals erschienenen Lehrbuch des Völker- und Naturrechts, das auf das Denken der amerikanischen Kolonisten starken Einfluß gewonnen h a t 7 5 , die Besonderheit der die Verfassung bildenden politischen Grundgesetze und ihre erschwerte Abänderbarkeit herausgearbeitet und vertreten 76 . Bernhard Bailyn, der die Bedeutung der „pamphlet"-Literatur 7 7 in der formativen Periode der amerikanischen Revolution dargestellt hat, hat 1967 in seiner Untersuchung „The Ideological Origins of the American Revolution" den Einfluß Vattels insbesondere auf den bekannten Pamphletisten James Otis aufgezeigt 7 8 ; Vattel wurde später auch als entscheidende Autorität angeführt, als es um die Begründung des richterlichen Prüfungsrechts von Gesetzen am Maßstab der Verfassung g i n g 7 9 . Nicht nur durch die Prägung der insbesondere von den britischen Inseln und aus den deutschen Staaten stammenden und in ihrer Heimat häufig dem religiösen und politischen Dissent zuzurechnenden Neuankömmling e 8 0 , sondern auch durch die direkte Rezeption beeinflußten die europäischen Naturrechtslehren also die verfassungspolitische Vorstellungswelt der Nordamerika74 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 513; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 27 f.; Lutz, Origins of American Constitutionalism, S. 139 ff.; Arendt, Über die Revolution, S. 194 ff., 199; Bailyn, Ideological Origins of the American Revolution, S. 27; Wood , Creation of the American Republic, S. 284; Morgan , Inventing the People, S. 142 ff., 256; Stern , Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, S. 19, 29 m.w.N.; Corwin , The „Higher Law" Background of American Constitutional Law, S. 78; Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, S. 117 ff. 75

Bailyn , Ideological Origins of the American Revolution, S. 178; Wood, Creation of the American Republic, S. 355; Hofmann, Herkunft der Menschenrechtserklärungen, in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, S. 3 (17); G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 513 f. 76

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 513 f.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 43; Hofmann, Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht-Politik-Verfassung, S. 261 (277 f., 279, m.w.N. Fn. 75); Grimm, Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 31 (43); Th. Würtenberger, Aufklärung 3 (1988), S. 53 (59 ff., 79); ders., in: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, S. 85 (96); Isensee, HStR I, § 13 Rn. 139. Insbesondere Stern, FS. Eichenberger, S. 197 (200); ders., Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, S. 12, betont die entscheidende Bedeutung Vattels für die Entstehung des modernen Verfassungsbegriffs; dort auch der Hinweis, daß der Einfluß Vattels bei Zweig übersehen ist. 77 Vgl. dazu Bailyn, Ideological Origins of the American Revolution, S. 1 - 21. 78 Bailyn, Ideological Origins of the American Revolution, S. 176, 178; ihm folgend Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 16; Wood, Creation of the American Republic, S. 9. Zur Bedeutung von Otis für die Verbreitung des neuen Verfassungsverständnisses in den amerikanischen Kolonien vgl. auch Kelly / Harbison / Beiz, American Constitution, S. 65 f. 79 Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, S. 12, Fn. 18 m.w.N.; Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 20. 80 Kelly / Harbison /Beiz, American Constitution, S. 6 f.; Lutz, Origins of American Constitutionalism, S. 52 ff.; Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, S. 2 f.; Lundmark, DÖV 1992, S. 417, m.w.N. Fn. 2. 3*

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

ner. Eine gemeineuropäische81 beziehungsweise transatlantische82 Zivilisation ist im 18. Jahrhundert noch bewußte Realität. Die von den nordamerikanischen Siedlern seit der Auseinandersetzung mit dem Mutterland über das Besteuerungsrecht Londons in der „Stamp Act"-Krise von 176583 vorgebrachte Argumentation mit der Verfassung als einem höheren Recht 84 wurde zunächst politisch dadurch überholt, daß die Nordamerikaner seit den siebziger Jahren die Repräsentativität des Londoner Parlaments bestritten und 1776 aus dem britischen Staatsverband ausschieden. Wirksam wurde der neue Verfassungsbegriff nach der Unabhängigkeit bei der Verfassungsdiskussion in den neuen Staaten und der Union unter den neuen Bedingungen der Volkssouveränität und vor dem Erfahrungshintergrund eines souverän gewordenen, feindlichen Parlaments. Die Aufgabe der systematischen Begründung eines höheren Rechts über die feierliche Versicherung hinaus, daß es besonderes unverbrüchlich sei, stellte sich für die nordamerikanischen Siedler mit der Neugestaltung des eigenen Verfassungssystems seit der Unabhängigkeit85.

II. Verfassunggebung durch Konvente 1. Das Institut der „Convention"

„Conventions" wurden nicht zur Verfassunggebung und nicht in den nordamerikanischen Kolonien erfunden. Sie sind Teil der britischen Verfassungstradition, in der die Kolonisten über ein Jahrhundert ganz selbstverständlich gelebt hatten. „Convention" war in England üblicherweise ein defizientes Parlament genannt worden, ein Parlament insbesondere, das nicht dem Herkommen gemäß vom König versammelt worden war 86 . Die Parlamente, die 1660 mit der Krönung Karls II. die Restauration 87 der Stuarts nach Bürgerkrieg und Diktatur Cromwells und 1688 / 81

Hofmann , Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht-Politik-Verfassung, S. 261

(277). 82 Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 185; Arendt, Über die Revolution, S. 219, 222, 278. 83 Vgl. dazu Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 159 ff.; Adams, Republikanische Verfassung, S. 43. 84 Adams, Republikanische Verfassung, S. 30 f.; Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 16 f.; Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, S. 28. 85 Vgl. Wood, Creation of the American Republic, S. 275; Morgan , Inventing the People, S. 257; Wahl, HStR I, § 1, Rn. 2. 86 Wood, Creation of the American Republic, S. 310 ff.; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 48, 331 ; Jameson, Constitutional Convention, S. 7; Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 108 (Fn. 1). 87 Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 49; Morgan, Inventing the People, S. 94 ff.

Α. Ursprung im anglo-amerikanischen Rechtsdenken

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89 nach der „Glorious Revolution" 88 die Thronfolge Marias und Wilhelms von Oranien anstelle des geflohenen Königs Jakob II. beschlossen hatten, waren „Convention" bzw. „Convention Parliament" genannt worden. Diese außerordentlichen Parlamente sollten zum „precedent" der amerikanischen Entwicklung werden 89. Auch in Nordamerika war die „Convention" zunächst ein außerlegales Phänomen gewesen, das im Konfliktfall in Konkurrenz zu den vom Gouverneur der Krone ernannten „Assemblies" oder „Councils" trat 90 . In Massachusetts hatte es 1689 parallel zum Convention Parliament der Glorious Revolution in England eine „Convention" gegen die Kolonialadministration Jakobs II. gegeben91. „Conventions" organisierten den Widerstand gegen die Zollgesetze92 und im Moment des Konlikts und Abfalls vom Mutterland die Verteidigung der Siedler gegen die von England entsandten Truppen 93. Eine außerhalb des Kolonialrechts stehende Convention in diesem Sinne war der erste Continental Congress von 1774, in dem sich die aufständischen Kolonien koordinierten und repräsentiert fanden 94. Am 4. November 1775, also schon vor der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, sprach der von den aufständischen Kolonien gebildete zweite Continental Congress die Empfehlung an die einzelnen Kolonien aus, neue Verfassungen auf der Grundlage einer „full and free representation of the People" zu erlassen 95. Am 10. und 15. Mai 1776 folgte die Empfehlung an die Kolonien, die Regierungsgewalt zu übernehmen 96. Die Ausarbeitung der neuen Verfassungen bzw. die Umwandlung der alten kolonialen Charten in Verfassungen fiel überwiegend den „Provincial Congresses" oder „Conventions" zu, die seit der „Boston Tea Party" im Dezember 177397 in fast allen Kolonien in Konkurrenz zu oder anstelle der kolonialen „Assemblies" entstan88

Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 48; Morgan, Inventing the People, S. 107 ff. 89 Zweig , Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 331. 90 Wood, Creation of the American Republic, S. 312 f.; Morgan , Inventing the People, S. 258 f.; Adams, Republikanische Verfassung, S. 39 f.; Palmer , Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 170. 91

Jameson, Constitutional Convention, S. 8 f. Palmer , Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 170; Adams, Republikanische Verfassung, S. 45 f.; Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 107; Kelly / Harbison / Beiz, American Constitution, S. 47 f., 57. 93 Palmer , Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 197. 94 Morgan , Inventing the People, S. 257, 244; Adams, Republikanische Verfassung, S. 284 f.; Jameson, Constitutional Convention, S. 118, 144 ff.; Kelly / Harbison /Beiz, American Constitution, S. 58 f. 95 Adams, Republikanische Verfassung, S. 64, 69; Jameson, Constitutional Convention, S. 114. 96 Adams, Republikanische Verfassung, S. 68; Morgan, Birth of the Republic, S. 89; Jameson, Constitutional Convention, S. 115 (mit dem Wortlaut der Resolution). 97 Adams, Republikanische Verfassung, S. 42; Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, S. 5. 92

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

den waren 9 8 . Die „Convention" wird zunächst noch nicht als verfassunggebende Versammlung i m Besitz einer besonderen „constituent power" angesehen. Auch bei den ersten neuen Verfassungen der aufständischen Siedler war die Verfassung noch i m herkömmlichen Sinne nicht als höheres Recht und Schranke auch für die Legislative, sondern nur als Beschränkung der Exekutive aufgefaßt und als normales Gesetz erlassen worden 9 9 . So wurden in New Hampshire 1 0 0 , South Carolina 1 0 1 , V i r g i n i a 1 0 2 und New Jersey 1 0 3 noch vor der Unabhängigkeitserklärung Verfassungen i m normalen Gesetzgebungsverfahren als „statutes" beschlossen. Dementsprechend wurden auch dort, wo sich die Unabhängigkeitsbewegung zunächst noch in den Institutionen der kolonialen Regierung abspielen konnte, die alten Assemblies ebenso als zur Verfassunggebung kompetent behandelt 1 0 4 . In Connecticut 1 0 5 und Rhode Island interpretierten die unter den kolonialen Charten gebildeten Assemblies nach der Aufforderung des Continental Congress zur Neukonstituierung die alten Charten als Ausdruck des Volkswillens der amerikanischen Siedler und entfernten lediglich Hinweise auf die königliche Sanktion und kolonialrechtliche Bezugspunkte 1 0 6 . 98 Wood, Creation of the American Republic, S. 313 - 318; Morgan , Inventing the People, S. 257; Jameson, Constitutional Convention, S. 112; Adams, Republikanische Verfassung, S. 39 f. Ausnahmen waren Connecticut und Rhode Island sowie Delaware, Pennsylvania und Massachusetts, wo die kolonialen Assemblies zunächst weiteramtierten aber im Laufe des Jahres 1776 durch revolutionäre Conventions ersetzt wurden; vgl. Wood, Creation of the American Republic, S. 332, 334 f.; Adams, Republikanische Verfassung, S. 83; Kelly / Harbison/ Beiz, American Constitution, S. 57 f. 99

Wood, Creation of the American Republic, S. 273, 307; Adams, Republikanische Verfassung, S. 33, 69. Vgl. auch die Diskussion der Qualität der frühen Verfassung Virginias als Verfassung im modernen Sinne bei Jefferson, Notes on the State of Virginia, S. 122 ff. 100 (5. 1. 1776) Vgl. dazu Adams, Republikanische Verfassung, S. 19, 72; Jameson, Constitutional Convention, S. 118 ff. 101 (26. 3. 1776) Vgl. dazu Adams, Republikanische Verfassung, S. 73, 19; Wood, Creation of the American Republic, S. 307; Jameson, Constitutional Convention, S. 121 ff., 123. 102 (29. 6. 1776) Vgl. dazu Adams, Republikanische Verfassung, S. 75, 19; Wood, Creation of the American Republic, S. 307; Jefferson , Notes on the State of Virginia, S. 122; Jameson, Constitutional Convention, S. 124 f. 103 (2. 6. 1776) Vgl. dazu Adams, Republikanische Verfassung, S. 76, 19; Wood , Creation of the American Republic, S. 307; Jameson, Constitutional Convention, S. 125 ff. 104 Wood , Creation of the American Republic, S. 307, 333 (bzgl. Delaware). 105 Die Verfassung von Connecticut ging auf die von den Siedlern selbst erlassenen „Fundamental Orders of Connecticut" zurück (vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 515) und konnte darum besonders plausibel als Ausfluß des Volkswillens dargestellt werden, vgl. Jameson, Constitutional Convention, S. 82; Lutz, Origins of American Constitutionalism, S. 46 ff. In Rhode Island garantierte ein königlicher Freibrief den Kolonisten volle konstituierende und gesetzgebende Gewalt, vgl. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 55 Fn. 1. Die besondere Situation in Connecticut und Rhode Island wird auch dadurch gekennzeichnet, daß dort von den Kolonisten gewählte Gouverneure amtierten; vgl. Adams, Republikanische Verfassung, S. 261. 106 Adams, Republikanische Verfassung, S. 70 f., 20. Auch dies war selbstverständlich ein revolutionärer Akt, denn die Charten waren unter dem englischen Kolonialrecht für die

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2. Verfassunggebung unter den Bedingungen der Volkssouveränität Die Unabhängigkeitserklärung hatte das rechtliche Band zum Mutterland zerschnitten und an die Stelle des Pochens auf aus der englischen Verfassung abgeleitete Rechte den Souveränitätsanspruch eines eigenständigen amerikanischen Volkes 1 0 7 gesetzt. Zu den Wahrheiten, die die Unabhängigkeitserklärung als „self-evident" bezeichnete, gehörte auch „the Right of the People to alter or to abolish ... and to institute new Government, laying its foundations on such principles and organising its powers in such form, as to them shall seem most likely to effect their Safety and Happiness" 108 . Die Unabhängigkeitserklärung reklamiert also nicht nur die völkerrechtliche Unabhängigkeit des amerikanischen Volkes, sondern auch wie zuvor schon die Grundrechteerklärung Virginias 109 - das innerstaatliche Recht des Volkes, über seine Verfassung zu disponieren 110. Die Behauptung der äußeren Souveränität der Kolonien gegenüber dem Mutterland bedeutete im Kontext des britischen Empire zugleich die Lossagung von der geltenden englischen Verfassung und die Auswechselung der Legitimationsgrundlage staatlicher Herrschaft. Seit der Unabhängigkeit fand jede Verfassunggebung unter den Bedingungen der Volkssouveränität statt und mußte die spezifischen Probleme dieser Situation bewältigen. Eine Verfassung konnte nicht mehr mit dem Monarchen vereinbart und von diesem „gegeben" werden 111 . Die Legislative kam als neuer Verfassunggeber nicht in Frage. Waren die Kolonisten schon durch die Auseinandersetzungen mit dem Londoner Parlament von Skepsis gegenüber einer allmächtigen Legislative geprägt, so mußte mit der Unabhängigkeit das Problem, wie ein auf der Grundlage der Volkssouveränität basierendes Parlament zu beschränken sei, in das Zentrum der verfassungspolitischen Überlegungen rücken 112 . Wenn die Verfassung Selbstverwaltungskörperschaften in den Kolonien nicht verfügbar und die Änderungen erfolgten ohne Mitwirkung und Sanktion der Krone. Auch in Massachusetts betrachteten die nach der kolonialen Charta von 1691 gebildeten Organe diese bis Mai 1776 als der Aufforderung des Continental Congress genügende Verfassungsgrundlage, vgl. Adams, Republikanische Verfassung, S. 83 ff.; Wood, Creation of the American Republic, S. 317, 330; Lutz, Origins of American Constitutionalism, S. 6, 51. 107 Lutz, Origins of American Constitutionalism, S. 10. Zum Problem der Herausbildung der Vorstellung eines besonderen amerikanischen Volkes vgl. insbes. Morgan, Inventing the People, S. 235 ff., sowie unten 1. Teil, A.III. io» Spaeth /Smith, Constitution of the US, S. 175. 109 „That all power is vested in, and consequently derived from, the people;... That ( . . . ) a majority hath an indubitable, inalienable, and indefeasable right to reform , alter or abolish it, in such manner as shall be judged most conductive to the public weal." Vgl. Adams, Republikanische Verfassung, S. 126; McLaughlin , Constitutional History of the US, S. 115. Vgl. auch Wahl, Der Staat 18 (1979), S. 321; Schramm, Staatsrecht III, S. 60, Fn. 5, der auf Art. 2 der Verfassung Virginias von 1776 als ersten legislativen Niederschlag des Prinzips der Volkssouveränität verweist. 110 Vgl. auch Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 216. 111 Vgl. Adams, Republikanische Verfassung, S. 68; Lutz , Origins of American Constitutionalism, S. 152.

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

auch für die Repräsentanten des Volkes dauerhaft und bindend gemacht werden sollte 1 1 3 , dann durfte die Legislative nicht selber Urheber der Verfassung sein. Vielmehr mußte die Verfassung ihre Geltung auf eine höhere Autorität zurückführen114. Die Vorstellung eines höheren Gesetzgebers lag in der Konsequenz der Vorstellung eines höheren, die Legislative bindenen Rechts; der Unterscheidung von Recht und Verfassung entsprach in der Sprache der Gewaltenteilungslehre die zwischen gesetzgebender und verfassunggebender G e w a l t 1 1 5 . Hinweise auf eine von der Legislative unterschiedene höchste, konstituierende Gewalt finden sich bereits in John Lockes - für die Vorstellungen über „Government" und Gewaltenteilung in den nordamerikanischen Kolonien überaus w i c h t i g e n 1 1 6 - „Zweiten Abhandlung über die Regierung" 1 1 7 . Als verfassunggebende Gewalt konnte für die amerikani112

Vgl. Morgan, Inventing the People, S. 70; Stourzh , Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 30; Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 (490); Jameson, Constitutional Convention, S. 12 f. 113 Wood, Creation of the American Republic, S. 274, 276; Morgan, Inventing the People, S. 255. 114 Bailyn, Ideological Origins of the American Revolution, S. 182; Wood, Creation of the American Republic, S. 306; vgl. auch Adams, Republikanische Verfassung, S. 129, der die Instruktion des „county" Mecklenburg in North Carolina vom November 1776 zitiert: „Political power is of two kinds, one principal and superior, the other derived and inferior. The principal supreme power is possessed by the people at large ... Whatever is constituted and ordained by the principal supreme power can not be altered, suspended or abrogated by any other power." 115

Bailyn , Ideological Origins of the American Revolution, S. 184; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 67, meint, daß die Gewaltenteilungslehre Montesquieus den „formalen Typus" bereitgestellt habe, unter dem eine verfassunggebende Funktion gedacht und dargestellt werden konnte. 116 Corwin, The „Higher Law" Background of American Constitutional Law, S. 61, 74; Wood, Creation of the American Republic, S. 283 f.; Morgan , Inventing the People, S. 143, 255 f.; vgl. auch Kelly / Harbison / Beiz, American Constitution, S. 63, zur argumentativen und sprachlichen Anlehnung der von Th. Jefferson verfaßten Unabhängigkeitserklärung an John Lockes „Second Treatise on Government"; vgl. auch Lutz, Origins of American Constitutionalism, S. 81. 117 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, S. 290 (Kapitel 11, § 141). Die deutsche Übersetzung als „die Staatsform festsetzen" gibt den Bedeutungsgehalt nicht vollkommen wieder. Das Originalzitat lautet: „The people alone can appoint the form of the commonwealth, which is by constituting the legislative, and appointing in whose hands that shall be" CLocke, Two Treatises of Government, S. 189 [Hervorhebung vom Verf.]). Der Begriff „form of government" oder „form of the commonwealth" wird im 17. Jahrhundert auch für den späteren Begriff der „constitution" gebraucht (vgl. Jefferson, Notes on the State of Virginia, S. 122 [„Constitution or Form of government"]); Grimm, Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 31 (33), zu den älteren sog. „Regierungsformen"). Es ist der Sache nach also von einer verfassunggebenden Gewalt des Volkes die Rede. Vgl. auch Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Kapitel 13, § 149 (S. 294), wo im Original (Locke, Two Treatises of Government, S. 192) von der „supreme power (which remains in the people) to remove or alter the legislative" die Rede ist. Vgl. zu Lockes Theorie einer besonderen konstituierenden Gewalt insbesondere

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sehen Kolonisten nur das seine Souveränität behauptende amerikanische Volk bzw. seine dazu bestimmten besonderen Repräsentanten in Frage kommen 118 . Hannah Arendt hat es als „das Erstaunliche und Großartige an der amerikanischen Entwicklung" bezeichnet, „daß man nach der Unabhängigkeitserklärung sofort begriff, daß die verfassunggebende Gewalt jetzt an das Volk übergegangen war" 1 1 9 . Als außerordentliche Repräsentanz des Volkes, die über die Verfassung disponiert, war ihnen aus der anglo-amerikanische Verfassungstradition das Instrument der „Convention" bekannt 120 . In seiner Untersuchung der Ursprünge der amerikanischen Republik hat Gordon S. Wood darauf hingewiesen, daß die Perzeption der „Convention" als einer defizienten Form von Parlament schon in England vereinzelt in das - gedanklich naheliegende - Gegenteil gewendet worden war: wenn diese außerordentlichen Parlamente dazu dienten und in der Lage waren, Könige einzusetzen und Dynastien auszuwechseln, dann waren sie nicht weniger, sondern mußten mehr sein als ein normales Parlament 121, auch wenn der königliche „ w r i t " 1 2 2 oder das Siegel fehlten 123 . Neuerdings hat Edmund S. Morgan die Komponenten einer Theorie der verfassunggebenden Gewalt bereits bei den nach dem Bürgerkrieg in der Zeit des republikanischen Interregnums am Ende der fünfziger Jahre des 17. Jahrhunderts schreibenden englischen Autoren George Lawson 124 und Sir Henry Vane 125 und einigen Pamphletisten der Zeit des „Convention-Parliament" von 1689 126 nachgeauch Morgan, Inventing the People, S. 255, 258; Zweig , Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 58; C.J. Friedrich , Der Verfassungsstaat der Neuzeit, S. 146. E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 28 (Fn. 43), bezieht sich nur auf Nr. 149 der Second Treatise und bewertet darum die „supreme power to remove or alter the legislature" als Widerstandsrecht und nicht als verfassunggebende Gewalt im modernen Sinne. Demgegenüber scheint in Kapitel 11, § 141 der Zweiten Abhandlung die verfassunggebende Gewalt des Volkes jedenfalls angelegt; sie wird bei Locke auch schon in ihren Dimensionen des „appoint" und des „remove or alter" erkennbar. Vgl. auch Schramm, Staatsrecht III, S. 57, nach dem die Erkenntnis, daß das Volk Inhaber des pouvoir constituant ist, auf Locke zurückgeht. 118 Vgl. Rodgers, Contested Truths, S. 84 f.; Wood , Creation of the American Republic, S. 281 (zu T.T. Tucker, South Carolina), 309 (zu Th. Jefferson, Virginia); Adams, Republikanische Verfassung, S. 82 (Verfassungsausschuß New York, Bericht vom 27. 5. 1776); vgl. auch Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 57; Arendt, Über die Revolution, S. 193; Kelly / Harbison /Beiz, American Constitution, S. 61 f. 119 Arendt, Über die Revolution, S. 193. 120 Vgl. oben 1. Teil, A.II. 1. 121

Wood, Creation of the American Republic, S. 318 f., 338; vgl. jetzt auch Morgan, Inventing the People, S. 87 ff., 91. ι 2 2 Zur legitimierenden und zugleich begrenzenden („to be our Counsellors, not Commanders") Funktion des königlichen „writ" bei der Einberufung des englischen Parlaments vor der Glorious Revolution vgl. Morgan, Inventing the People, S. 62. 123 Vgl. Morgan, Inventing the People, S. 107. 124 Morgan, Inventing the People, S. 87, 89. 125 Morgan, Inventing the People, S. 89 f. 126

Morgan, Inventing the People, S. 108 ff.

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wiesen. In diesem Sinne ist das Institut der Convention von amerikanischen Pamphletisten rezipiert und verbreitet worden 127 . Bailyn konnte zum Beispiel eine direkte Beeinflussung der 1776 in Pennsylvania erschienenen Broschüre „The Genuine Principles of the Ancient Saxon or English Constitution", das erstmals eine Verbindung zwischen „a set of fundamental rules by which even the supreme power of the state shall be governed" mit der Forderung nach „a convention of the delegates of the people appointed for that express purpose" herstellt, durch ein Anfang der siebziger Jahre in London erschienenes Buch zur englischen Verfassungsgeschichte angeben128. Besondere Verbreitung 129 in Nordamerika fand die Idee vor allem durch Thomas Paines 1776 erschienene Schrift „Common Sense", in der dieser eine extra gebildete und danach aufzulösende amerikanische „Continental Conference" forderte, die eine „Continental Charta" ähnlich der englischen Magna Charta beschließen solle, welche Staatsorganisation und Freiheitsrechte der Bürger festschreibt 130 . So, wie die Kolonisten auch sonst im Konflikt mit dem Mutterland eine selektiv perzipierte Version der englischen Verfassungstradition gegen die Londoner Zentralregierung verteidigten, die jeweils radikalen, in Großbritannien nicht durchsetzungsfähigen Minderheitspositionen entsprach 131, so findet auch die Institution der „Convention" mit einer ins Positive gewendeten Bedeutung Eingang in das Verfassungsdenken der Kolonisten. Erst die nordamerikanischen Kolonisten verbanden die in England vereinzelt vorgedachten, aber niemals praktisch gewordenen 132 Vorstellungen des höheren Rechts und der „convention" zu einer zusammenhängenden Theorie und Praxis der Verfassunggebung. Die „Constitutional Convention" wurde dort zur akzeptierten Form der Betätigung des Volkes als „constituent power" 133 . 127 128

Wood , Creation of the American Republic, S. 316, 318.

Bailyn , Ideological Origins of the American Revolution, S. 184. 129 Die Broschüre wurde in einer Auflage von 120.000 Exemplaren in den Kolonien verbreitet; vgl. Kelly / Harbison /Beiz, American Constitution, S. 61; Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 198. 130 Paine , Common Sense, S. 96 f. Zu Paines Vorstellung einer auf der Volkssouveränität basierenden Verfassunggebung vgl. Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 110; Arendt, Über die Revolution, S. 188; Corwin, The „Higher Law" Background of American Constitutional Law, S. 1 f. 131 Es ist insbesondere die Tradition der sog. „commonwealthmen" oder „radical whigs", die in Nordamerika einen schließlich bestimmenden Einfluß auf das politische Denken gewonnen hat; vgl. Wood, Creation of the American Republic, S. 14 ff.; Bailyn , Ideological Origins of the American Revolution, S. 34 ff.; Adams, Republikanische Verfassung, S. 26; Vgl. auch Morgan, Inventing the People, S. 143, 86 ff.; Kelly / Harbison /Beiz, American Constitution, S. 39 f. 132 Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 303; Morgan, Inventing the People, S. 255 f. („... Americans had the benefit of English experience, though they sometimes were not fully aware that they were treading paths marked out (though not trodden) by their English predecessors. [ . . . ] The English people never, even fictionally, exercised their constituent power outside Parliament."), 91.

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Die Entwicklung der Konvente zu besonderen Organen der Verfassunggebung vollzog sich in dem Zeitraum seit der Unabhängigkeitserklärung (4. Juli 1776) bis in die achtziger Jahre 134 . Schon die ersten, noch 1776 erlassenen neuen Verfassungen von Delaware 135 , Pennsylvania136, Maryland 137 und North Carolina 138 wurden jeweils von zuvor neu gewählten „Conventions" beraten und verabschiedet. Zwar kann nicht allein aus der Tatsache einer Neuwahl geschlossen werden, daß in diesen Fällen eine bestimmte verfassungstheoretische Doktrin über die richtige Form der Verfassunggebung zugrundelag 139. Doch kam in den Verfassungsberatungen des Jahres 1776 deutlich die Vorstellung zum Durchbruch, daß zur Verfassunggebung ein besonderes Mandat erforderlich ist 1 4 0 . Den entscheidenen Wandel in der Bedeutung der „Convention" konstatiert Gordon S. Wood: „Already, as early as August 1776, the inferior Revolutionary conventions resorted to from expediency by many of the other colonies had come to assume an extraordinary character that made them seem to some to be an intentionally designed superior 'mode' of constitution-making, by,electing persons for the expressed purpose of forming the Plan of Government 4 " 141 . Insbesondere in den Auseinandersetzungen in Pennsylvania spielte, wie Wood im einzelnen aufgezeigt hat 1 4 2 , auf Seiten der Unabhängigkeitsbefürworter in zunehmendem Maße die Argumentation, daß ordentliche Legislativkörperschaften über die Verfassung nicht verfügen können und es deshalb einer besonderen Vertreterversammlung extra dafür bedürfe, eine Rolle 1 4 3 . Die Argumentation in den Broschüren der „radical whigs" spiegelt die neue Vorstellung der Verfassung als eines höheren Rechts und 133

Kelly / Harbison / Beiz, American Constitution, S. 69. Vgl. auch Bonwick, The American Revolution, S. 143. 135 (21. 9. 1776) Vgl. dazu Adams, Republikanische Verfassung, S. 76; Wood, Creation of the American Republic, S. 332 f.; Jameson, Constitutional Convention, S. 127 ff. 136 (28. 9. 1776) Vgl. dazu Adams, Republikanische Verfassung, S. 77 f.; Wood, Creation of the American Republic, S. 333 ff.; Jameson, Constitutional Convention, S. 129 ff. 137 (8. 11. 1776) Vgl. dazu Adams, Republikanische Verfassung, S. 79 f.; Jameson, Constitutional Convention, S. 131 f. 138 (18. 12. 1776) Vgl. dazu Adams, Republikanische Verfassung, S. 80; Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 217; Jameson, Constitutional Convention, S. 132 f. 139 Die Neuwahlen sind sicher auch auf erhoffte Positionsgewinne in der Auseinandersetzung zwischen Anhängern der alten Ordnung und Unabhängigkeitsbefürwortern sowie auf das Gefühl, für wichtige Entscheidungen in Zeiten schnellen Wandels ein erneuertes - also nicht unbedingt ein besonderes, höheres - Mandat der Wähler zu benötigen, zurückzuführen; vgl. Wood, Creation of the American Republic, S. 332. 140 Vgl. Wood , Creation of the American Republic, S. 332. 134

141

Wood , Creation of the American Republic, S. 340. Wood , Creation of the American Republic, S. 333 - 338, beschreibt die Kontroverse über die Legitimität der alten Assemby Pennsylvanias zwischen den Publizisten William Smith („Cato") und den conservative Whigs auf der einen und James Cannon („Cassandra") und den radical Whigs auf der anderen Seite. 143 Wood, Creation of the American Republic, S. 336 ff., 283 f.; vgl. jetzt auch Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 108. 142

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

einer besonderen verfassunggebenden Gewalt: „If the constitution were to be a ,sett of fundamental rules by which even the supreme power of the state shall be governed \ ( . . . ) it must be ,formed by a convention of the delegates of the people, appointed for the express purpose'" 144 . Die Convention Pennsylvanias wurde im Juli 1776 dann ausdrücklich „for the express purpose of forming a new government for this province, on the authority of the people only" gewählt 145 . Auch in Maryland hatte der Kongreß beschlossen, eine neue Convention „for the express purpose of forming a new government, by the authority of the people only" 1 4 6 zu wählen. Die neugewählte Convention in Delaware hatte die Aufgabe „to ordain and declare the future Form of Government" 147 . In North Carolina hatte der Council of Safety des Provinzialkongresses vor der Wahl im Oktober 1776 die Wähler ausdrücklich auf die besondere Funktion des neuen Kongresses hingewiesen, nicht nur Gesetze, sondern auch die Verfassung auszuarbeiten 148. Die Befestigung und Ausdifferenzierung der neuen Funktion der „Conventions" findet mit den späteren Verfassungen von Georgia 149 , New York 1 5 0 , der zweiten Verfassung von South Carolina 151 und insbesondere der Verfassung von Massachusetts152 sowie der Bundesverfassung von 1787 153 statt. Sowohl in New York 1 5 4 und Georgia 155 als auch in South Carolina 156 wurden von den Provinzialkongressen im Sommer 1776 nach der Unabhängigkeitserklärung Neuwahlen für „Conventions" mit einem besonderen Mandat zu Verfassunggebung durchgeführt. Massachusetts folgte 1777 zunächst diesem Beispiel und schrieb die 144

Demophilius (Pseudonym), The Genuine Principles of the Ancient Saxon, or English Constitution..., Philadelphia 1776, zit. Wood , Creation of the American Republic, S. 337; vgl. auch dazu Bailyn , Ideological Origins of the American Revolution, S. 183 f. 145 Resolution der ersten „Provincial Convention", zit. Jameson, Constitutional Convention, S. 129; vgl. auch Adams, Republikanische Verfassung, S. 79. 146 Wood, Creation of the American Republic, S. 332; Adams, Republikanische Verfassung, S. 79. 147

Adams, Republikanische Verfassung, S. 76. Adams, Republikanische Verfassung, S. 80 f.; Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 217 („... the voters knew that the assembly which they elected would draft a state constitution. There was no demand for a convention to act exclusively and temporarily as a constituent power"). 149 (5. 2. 1777) Vgl. dazu Adams, Republikanische Verfassung, S. 81; Wood, Creation of the American Republic, S. 332; Jameson, Constitutional Convention, S. 133 ff. 150 (20. 4. 1777) Vgl. dazu Adams, Republikanische Verfassung, S. 84; Wood, Creation of the American Republic, S. 331; Jameson, Constitutional Convention, S. 126 ff. 151 (19. 3. 1778) Vgl. dazu Adams, Republikanische Verfassung, S. 74; Wood, Creation of the American Republic, S. 279; Jameson, Constitutional Convention, S. 123. 152 (16. 6. 1780) Vgl. dazu Adams, Republikanische Verfassung, S. 83 ff. 148

153 Vgl. dazu unten 1. Teil, A.III. 154

Adams, Republikanische Verfassung, S. 82. 155 Adams, Republikanische Verfassung, S. 81. 156 Adams, Republikanische Verfassung, S. 74.

Α. Ursprung im anglo-amerikanischen Rechtsdenken

45

Neuwahl einer Versammlung mit einem besonderen Mandat zur Verfassunggebung aus 157 . Daß die „Conventions" in eine neue Rolle als besondere Organe der Verfassunggebung hineingewachsen waren, ist den Akteuren der Unabhängigkeitsbewegung durchaus bewußt gewesen. Thomas Jefferson, der Verfasser der Virginia Bill of Rights und der Unabhängigkeitserklärung, hatte sich schon 1776 bei den Verfassungsberatungen seines Heimatstaates Virginia vergeblich für ein besonderes Ratifikationsverfahren eingesetzt, um die besondere Qualität der Verfassung deutlich zu machen 158 . In seinen 1781 verfaßten „Notes on the State of Virginia" kritisiert er gerade unter diesem Aspekt die erste, noch vor der Unabhängigkeitserklärung erlassene Verfassung Virginias von 1776. Sie sei noch nicht von einem besonders dazu gewählten Verfassungskonvent geschaffen worden, habe darum keinen Anspruch auf höhere Geltungskraft und könne keine Schranke gegen die Allmacht der jeweiligen Legislative darstellen 159. Dem stellt er die seit der Unabhängigkeit gewachsene Praxis gegenüber: „The other states in the Union have been of opinion, that to render a form of government unalterable by ordinary act of assembly, the people must delegate persons with special powers. They have accordingly chosen special conventions to form and fix their governments". Diese Vorstellung liegt dann auch seinem Entwurf für eine Verfassung Virginas von 1783 zugrunde 160 . Jefferson drückt aus, was man als den Grundbestand der unter seinen Zeitgenossen in der Gründungsphase der Vereinigten Staaten gewachsenen Vorstellungen legitimer Verfassunggebung bezeichnen könnte: Die funktionelle Unterscheidung der verfassunggebenden Gewalt von der normalen Legislative, die Berufung auf die Legitimation durch ein besonderes Mandat des Volkssouveräns gerade zur Verfassunggebung und die institutionelle Sonderung in dem außerordentlichen Gremium der „Convention" stellen gewissermaßen den harten Kern der neuen Vorstellung von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes dar 1 6 1 . Die Verfassungen, die 157

Adams, Republikanische Verfassung, S. 85; Wood, Creation of the American Republic, S. 340 f. 158 Wood, Creation of the American Republic, S. 275, 309; vgl. auch Jeffersons spätere Einleitung zum Entwurf einer neuen Verfassung Virginias von 1783, in dem er die besondere Qualität des „constituent power" und die Folgerungen für die gesteigerte Geltungskraft explizit darlegt; abgedruckt bei Jefferson , Notes on the State of Virginia, S. 210. 159 Jefferson, Notes on the State of Virginia, S. 120 - 125. 160 Jefferson , Notes on the State of Virginia, S. 209 f.: „During the progress of that war ( . . . ) the legislature of the commonwealth of Virginia found it necessary to make a temporary organisation of government for preventing anarchy, and pointing our efforts to the two important objects of war against our invaders, and peace and happiness among ourselves. But this, like all other their acts of legislation, being subject to change by subsequent legislatures, possessing equal powers with themselves, it has been thought expedient, that it should receive those amendments which time and trial have suggested, and be rendered permanent by a power superior to that of the ordinary legislature. The general assembly therefore of this state recommended it to the good people thereof, to chuse delegates to meet in general convention, with powers to form a constitution of government for them, and to declare those fundamentals to which all our laws present and future shall be subordinate " (Hervorhebung vom Verf.).

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

in diesem Verfahren zustandegekommen sind, gelten in der Folge als legitim und sind nicht den Zweifeln wie die aus der Zeit vor der Unabhängigkeitserklärung stammenden Verfassungen von New Hampshire, South Carolina, Virginia und New Jersey ausgesetzt 162 .

3. Massachusetts als erster Fall „eigentlicher" Verfassunggebung? Massachusetts wird in der Literatur häufig als der erste Fall einer eigentlichen, einem vorausgesetzten Idealtypus entsprechenden Verfassunggebung angeseh e n 1 6 3 . Das erscheint indessen nur bedingt als gerechtfertigt. Dabei geht es weniger um die i m Grunde sekundäre Frage historischer Priorität als - vor allem für i m common law-Rechtskreis stehende Autoren - um die Frage des tauglichen Berufungsfalles bzw. des Ausschlusses der vorherigen Verfassungsgebungsprozesse als Präzedenzien 164 . Nicht immer ist bei den Autoren, die den Fall Massachusetts hervorheben, deutlich, unter welchen Gesichtspunkten sich gerade diese Verfassunggebung von denen in den anderen ehemaligen Kolonien unterscheiden soll. I m Hintergrund dürfte die Bewertung in der grundlegenden Arbeit John A. Jamesons stehen, der Masschusetts als den ersten Fall einer legitimen „Constitutional Convention" in dem von ihm definierten Sinne herausgestellt h a t 1 6 5 . Dabei ist al161

Das ist verkannt bei Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 118, der aus der Retrospektive das Erfordernis eines Plebiszits und gesteigerte Erfordernisse institutioneller Spezialität für erforderlich hält - was so auch heutiger Sicht nicht zutrifft (vgl. dazu unten 2. Teil, B.IV. und 3. Teil, C.II.4.) - und daran dann die damalige Vorstellung legitimer Verfassunggebung als defizient darstellt. Zudem wird übersehen, daß in dem von John A. Jameson 1867 begründeten Werk über Constitutional Conventions, auf das sich auch Heideking stützt (ebd., Fn. 33), ein ganz spezifischer, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt im heutigen kontinentaleuropäischen Sinne gerade ausschließender Begriff der Constitutional Convention zugrundegelegt ist; vgl. dazu unten 1. Teil A.II.3. 162 Zu diesen auch oben 1. Teil, A.II.l. Vgl. zu den Legitimitätsproblemen vor der Unabhängigkeit erlassenen Verfassungen Jameson, Constitutional Convention, S. 123, 126. 163 Adams, Republikanische Verfassung, S. 20, 33, 69; Morgan, Inventing the People, S. 258; ders., Birth of the Republic, S. 90 f.; McLaughlin , Constitutional History of the US, S. 110 - 112; Kelly / Harbison / Belz, American Constitution, S. 72 f.; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 59, Fn. 4; Graf Kielmansegg, Das Verfassungsparadox, in: FS. Hennis, S. 397 (408); Hofmann, Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht-Politik-Verfassung, S. 261 (279); Quaritsch, HStR VIII, § 193, Rn. 3 (Fn. 2); Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 108 f., 119. Demgegenüber relativiert den Prioritätsanspruch Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 18: „ . . . Ausbildung einer eigenen „konstituierenden" oder verfassunggebenden Gewalt des Volkes . . . , die sich schrittweise, am deutlichsten bei der Verfassungsbildung in Massachusetts von der gewöhnlichen gesetzgebenden Gewalt zu unterscheiden begann". Auch Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, S. 18, spricht nur von „am besten durchgebildet". Adams, Republikanische Verfassung, S. 85, wendet sich gegen die „sinnlos dramatisierende Weise", in der der Gemeindeversammlung von Concord, Mass. vom 21. 10. 1776 (von Hoar / McLaughlin) die „Erfindung" des Verfassungskonvents zugeschrieben wurde. 164 Vgl. Jameson, Constitutional Convention, S. 153 f.

Α. Ursprung im anglo-amerikanischen Rechtsdenken

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lerdings zu beachten, daß „Constitutional Convention" für Jameson gerade nicht eine Verfassunggebende Versammlung im heutigen Sinne ist. Der in seiner Zeit und insbesondere bei der vorausgegangenen Sezession der Südstaaten üblich gewordenen Identifikation der in vielen Verfassungen der Einzelstaaten zur Verfassungsänderung berufenen Konvente mit den „Conventions" der Revolutionszeit setzte Jameson die Unterscheidung von an die geltende Ordnung gebundenen „Constitutional Conventions" im Gegensatz zu ,/evolutionary Conventions" gegenüber. Die nur vor dem Hintergrund eines auf Präzedenzien beruhenden Rechtssystems verständliche, zeitbedingte und rechtspositivistische Absuche der ersten Verfassunggebungsprozesse danach, ob irgend ein Akt der vorangegangenen Ordnung die Convention legitimierte, ist aber - bei allem bleibenden Wert der gründlichen Studie Jamesons - vor dem Hintergrund der Fragestellung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes im Sinne von pouvoir constituant irrelevant. Verfassunggebende Gewalt im heutigen Sinne wird gerade von den nicht die vorherige Ordnung beachtenden „revolutionary conventions" ausgeübt. Eine Hervorhebung der Verfassunggebung in Massachusetts rechtfertigt sich von daher nicht. Richtig ist, daß in Massachusetts und dem ihm nachfolgenden New Hampshire teilweise weitergehende Vorstellungen darüber, wie eine Verfassung richtigerweise entstehen sollte, verwirklicht wurden. Diese waren schon in der Diskussion der siebziger Jahre aufgetaucht. Was die institutionelle Seite angeht wurde teilweise ein „reiner" Verfassungskonvent gefordert, der sich ausschließlich mit der Verfassunggebung beschäftigt und danach auflöst 166 . Die Sonderstellung der „Convention" als revolutionärer Institution wird nicht mehr als ausreichende institutionelle Sonderung der verfassunggebenden Gewalt angesehen. Zu einer Selbstauflösung der Verfassunggebenden Versammlung kam es tatsächlich aber nur in Georgia 167 und Delaware 168 ; nur mit einem Minimum an normaler Gesetzgebung beschäftigte sich neben Delaware lediglich der Konvent von Maryland 169 . In Massachusetts erklärte sich die noch auf der Grundlage der alten Charter zur Verfassunggebung neugewählte Versammlung, die in Neuwahlen neben den „ordinary powers of Representation" 170 ein Mandat zu Verfassunggebung erhalten hatte, lediglich jeweils beim Eintritt in Beratungen über die Verfassung zur „convention" und führte darüber ein separates Protokoll 171 . Eine Befragung der Gemeinden hatte im Oktober 1776 keine Forderung nach einem reinen Verfassungskonvent ergeben, und auch nach Ablehnung des ersten Verfassungsentwurfs blieb die Forderung 165

Jameson, Constitutional Convention, S. 144. 166 Vgl. Wood, Creation of the American Republic, S. 333, 338, 341; Adams, Republikanische Verfassung, S. 77, 86; Morgan, Birth of the Republic, S. 90 f. 167 168 169 170 171

Adams, Adams, Adams, Adams, Adams,

Republikanische Republikanische Republikanische Republikanische Republikanische

Verfassung, Verfassung, Verfassung, Verfassung, Verfassung,

S. 81. S. 77. S. 79. S. 85. S. 86.

48

1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

nach einer schärferen Unterscheidung des Verfassungskonvents von der normalen Legislative vereinzelt 172 ; nichtsdestoweniger wurden 1779 in Massachusetts Wahlen zu einem reinen Verfassungskonvent durchgeführt 173. Die sonstigen „Conventions" der Unabhängigkeitsperiode fungierten in aller Regel zugleich als Legislative 1 7 4 ; erst im 19. Jahrhundert setzte sich in den USA der ausschließlich zur Verfassunggebung bestimmte reine Verfassungskonvent durch, der dann - mit allen Abgrenzungs- und Legitimationsproblemen - auch neben der weiterbestehenden normalen Legislative auftreten konnte 175 . Zum anderen geht eine Richtung in bezug auf den legitimatorischen Aspekt über den von Jefferson skizzierten streng repräsentativen 176 Grundkonsens hinaus. Diese Tendenz wird besonders deutlich von dem Pamphletisten T.T. Tucker aus South Carolina artikuliert: „The constitution should be the avowed act of the people at large. It should be the first and fundamental law of the State, and should prescribe the limits of all delegated power. It should be declared to be paramount to all acts of the Legislature, and irreparable and unalterable by any authority but the express consent of a majority of the citizens collected by such regular mode as may be therein provided" 177 . Die zur Herstellung eines Vorrangs der Verfassung erforderliche Autorität wird also nur noch dem direkt handelnden Volk, nicht mehr seinen besonderen Repräsentanten zugeschrieben. Eine Ratifikation der Verfassung durch das Volk war zuvor vereinzelt in den Verfassungsberatungen in New York und Massachusetts gefordert worden 178 . Tatsächlich hat es Verfassungsplebiszite in den USA - auch bei den späteren Verfassungen der neuen Staaten im Westen - bis weit in das 19. Jahrhundert nicht gegeben179. In der Ratifikationsdebatte zur Bundesverfassung vertrat zum Beispiel 172

Adams, Republikanische Verfassung, S. 85, 86 f. Vgl. Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 223; Adams, Republikanische Verfassung, S. 87; Morgan , Inventing the People, S. 258, der diesen Konvent als den ersten reinen Verfassungskonvent bezeichnen. Vgl. zur Vorbildlichkeit des Verfahrens in Massachusetts auch McLaughlin , Constitutional History of the US, S. 110 ff.; Freund, Das öffentliche Recht der Vereinigten Staaten, S. 9. 173

174 Kelly / Harbison / Beiz, American Constitution, S. 72; Jameson, Constitutional Convention, S. 130 (zu Pennsylvania), 131 (zu Maryland), 132 (zu North Carolina) und 138 (zu New York). Vgl. auch Morgan, Birth of the Republic, S. 90; Palmer , Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 217. 175 Vgl. Rodgers , Contested Truths, S. 97 f. 176

Vgl. Adams, Republikanische Verfassung, S. 239 f. Zit. Wood, Creation of the American Republic, S. 280 f. (Hervorhebung vom Verf.); Tucker äußerte sich 1784 im Kontext der Diskussion über eine Revision der Verfassung South Carolinas. 178 Adams, Republikanische Verfassung, S. 82, 86; Wood, Creation of the American Republic, S. 331. 179 Vgl. Zweig , Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 390; Kelly / Harbison /Beiz, American Constitution, S. 72; Rodgers, Contested Truths, S. 87, der auch den Übergang zur neuen Demokratievorstellung der „Jacksonian democracy" oder „majoritanism" darstellt. 177

Α. Ursprung im anglo-amerikanischen Rechtsdenken

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die Gemeindeversammlung von Providence in Rhode Island ausdrücklich umgekehrt die Legitimität und Überlegenheit der Verfassunggebung durch Konvente gegenüber plebiszitärer Verfassunggebung 180. Nur in Massachusetts in den Jahren 1778 und 1780 181 und in New Hampshire 1778 und 1783 182 wurden von Verfassungskonventen erarbeitete Verfassungsentwürfe sogenannten „town meetings" zur Abstimmung vorgelegt 183 . Die Verfassung von Massachusetts ist auch die erste der amerikanischen Revolutionsverfassungen, die sich mit der - später in der amerikanischen Bundesverfassung von 1787 / 89 aufgegriffenen - Formulierung „We the people ordain and establish" ausdrücklich auf das Volk als Träger der verfassunggebenden Gewalt beruft 184 . Auch in Massachusetts wurde die Verfassung 1780 allerdings de facto durch den Verfassungskonvent in Kraft gesetzt, nachdem aus den Gemeindeversammlungen eine nicht übersehbare Zahl von Änderungswünschen und inkompatible Abstimmungsergebnisse zurückgemeldet worden waren 1 8 5 . Ganz so perfekt, wie McLaughlin noch 1935 meinte 186 , entsprach also auch das Verfahren in Massachusetts nicht dem späteren Idealbild der Verfassunggebung. Eher als auf eine besonders ausgefeilte Theorie der Verfassunggebung scheinen die Besonderheiten in Massachusetts und in dem ihm nachfolgenden New Hampshire auf eine besondere Gefährdetheit und gewandelte Grundstimmung 187 hinzuweisen, in welche die beiden letzten Fälle von Neukonstituierungen der ehemaligen Kolonien nach der Unabhängigkeit hineingeraten waren. Die wiederholten Neuwahlen von Repräsentanten und die Ablehnung der ersten Verfassungsentwürfe in Massachusetts und New Hampshire sind als Resultat einer fortschreitenden Erosion der Machtbasis der die Unabhängigkeitsbewegung tragenden Führungsschicht dargestellt worden 188 und signalisieren das Mißlingen tatsächlicher Repräsentation189 durch die gewählten Vertreter aus den Reihen der amerikanischen 180

Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 157. Wood, Creation of the American Republic, S. 340 f.; Adams, Republikanische Verfassung, S. 86 f.; Morgan, Inventing the People, S. 261. 182 Wood , Creation of the American Republic, S. 342; Adams, Republikanische Verfassung, S. 73; Morgan , Inventing the People, S. 261; Jameson, Constitutional Convention, S. 120 f. 181

183 In beiden Fällen wurden die Verfassungsentwürfe im ersten Anlauf nicht angenommen. Vgl. auch Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 119, zu zeitgenössischer Kritik an diesem Verfahren. 184 Palmer , Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 224; Rodgers , Contested Truths, S. 86. 185 Adams, Republikanische Verfassung, S. 87 f.; Morgan, Inventing the People, S. 258. 186 McLaughlin , Constitutional History of the US, S. 112; ähnlich wie dieser auch Freund, Das öffentliche Recht der Vereinigten Staaten, S. 9. is? Vgl. Wood , Creation of the American Republic, S. 393, 396. 188 Vgl. insbes. Wood, Creation of the American Republic, S. 284 - 289 und Adams, Republikanische Verfassung, S. 88, 125 zu separatistischen Tendenzen in den entlegenen Regionen von Massachusetts und New Hampshire. Ebenso Morgan, Inventing the People, S. 266.

4 Boehl

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

„Whigs" 1 9 0 . Die Suche nach quasi-plebiszitärer Legitimation in den „town-meetings" ist auch daraus zu erklären, daß es sich bei den Repräsentationskörperschaften in Massachusetts, anders als in den anderen Kolonien, bis 1779 noch um ein wenn auch neugewähltes - Repräsentantenhaus unter der alten Charter 191 , nicht um eine revolutionäre „Convention" handelte. Neues kündigte sich in der Verfassungsdiskussion in Massachusetts vor allem insofern an, als hier die ordnungstiftende, das „government" bzw. die Staatsgewalt konstituierende Dimension 192 , die neben der revolutionären Dimension in der Vorstellung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes angelegt ist, in den Vordergrund tritt. Die Verfassunggebung in Massachusetts war als letzte der 13 ehemaligen Kolonien in eine Phase193 geraten, in der ein Stimmungsumschwung und weitreichende Unzufriedenheit mit der realen Verfassungslage unter den ersten Revolutionsverfassungen 194 eingetreten waren. In Reaktion auf die Konfrontation mit Gouverneuren und Gerichten der englischen Krone war in diesen Verfassungen die Stellung der volksgewählten Legislative nach Ansicht der Kritiker übermächtig ausgefallen und hatte zu Machtmißbräuchen und „democratic despotism" 195 geführt. Insbesondere in den Auseinandersetzungen in Pennsylvania196 wurde von der gegen die Revolutionsverfassung gerichteten Partei um James Wilson die die Legislative begrenzende Funktion der auf der Volkssouveränität gründenden Verfassung 197 und das Recht des Volkssouveräns zur jederzeitigen Verfügung über die Verfassung 198 instrumentalisiert. Diese ursprünglich der „Convention"-Bewegung ablehnend gegenüberstehenden Kreise entdecken in der Auseinandersetzung mit den Revolutionären in der neuen Legislative das Mittel der Berufung auf die 189

Wood, Creation of the American Republic, S. 447 spricht in bezug auf New Hampshire für die Zeit seit 1781 von einem „breakdown of representativeness". Zu Massachusetts vgl. Wood, Creation of the American Republic, S. 363, 368 („Disintegration of Representation"). 190 Adams, Republikanische Verfassung, S. 70; vgl. Wood , Creation of the American Republic, S. 397 zum Zerfall der unangefochtenen Führungsposition der amerikanischen „Whigs" gerade in und seit den Auseinandersetzungen in Massachusetts. 191 Adams, Republikanische Verfassung, S. 83 f.; Morgan, Inventing the People, S. 258. 192 Den Aspekt der Etablierung und Konstituierung von staatlicher Macht hat vor allem Hannah Arendt, Über die Revolution, S. 191, 193, 206, als Charakteristikum gerade der amerikanischen Revolution hervorgehoben. Vgl. auch unten 2. Teil, B.I. 193 Die achtziger Jahre gelten seit dem gleichnamigen Buch von John Fiske als „The Critical Period of American History"; vgl. G. Dietze, Das Problem der Demokratie bei den amerikanischen Verfassungsvätern, ZStW 113 (1957), S. 301 (309); Wood, Creation of the American Republic, S. 391 ff. 1 94 Wood , Creation of the American Republic, S. 396 ff. 195 Wood , Creation of the American Republic, S. 403 f.; Kelly / Harbison / Belz, American Constitution, S. 88; vgl. auch Heideking , Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 133. 196 Wood, Creation of the American Republic, S. 439 - 446. 197 198

Wood , Creation of the American Republic, S. 437. Wood , Creation of the American Republic, S. 444 f.

Α. Ursprung im anglo-amerikanischen Rechtsdenken

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Volkssouveränität 199. Wood spricht von „outpopularizing the most popular party of the revolution" 200 . Die von 1777 bis 1780 umkämpfte Verfassung von Massachusetts wurde im Ergebnis zum Modellfall 201 dieser revisionistischen Richtung des amerikanischen „Whiggism" 202 : eine gegenüber der Legislative starke Stellung der Regierung wird ausdrücklich darauf gestützt, daß - anders als in der Abwehrsituation gegenüber der englischen Krone 203 - nunmehr alle Staatsfunktionen in gleicher Weise ihre institutionelle Legitimation aus der vom souveränen Volk gegebenen Verfassung ziehen 2 0 4 Gerade in Massachusetts und dem ihm folgenden New Hampshire 205 wird diese Instrumentalisierung der Vorstellung von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes durch betonte Trennung des Verfassungskonvents von Legislativfunktionen und eine quasi-plebiszitäre Ratifikation der Verfassung abgestützt206. Diese konservativen Implikationen 207 des Prinzips der Volkssouveränität, die Edmund S. Morgan bereits in der Reaktion der Roy allsten auf die im englischen Bürgerkrieg erstmals wirksam werdende neue Legitimitätsvorstellung nachgewiesen hat 2 0 8 , wurden bei den „Federalists", die in Massachusetts bestimmenden Einfluß hatten 209 , und in der von ihnen wesentlich geprägten Bundesverfassung wirksam.

199

Wood, Creation of the American Republic, S. 444, 442; Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 123. 200 Wood , Creation of the American Republic, S. 444. 201 Wood , Creation of the American Republic, S. 434; Heideking , Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 137; vgl. auch Jameson, Constitutional Convention, S. 120; Kelly/Harbison /Belz, American Constitution, S. 89. 202 Vgl. Wood , Creation of the American Republic, S. 438 ff. („Whiggism against itself). 203

Wood, Creation of the American Republic, S. 445 f. Wood, Creation of the American Republic, S. 448: It was impossible now, men argued, to „suppose the Governor a servant, and the Council and branches of the Legislature his masters, when they all equally derive their power from the same source." „All power residing originally in the people, and beeing derived from it," declared the new Massachusetts Constitution, „the several magistrates and officers of government, vested with authority, whether legislative, executive, or judicial, are their substitutes and agents and are at all times accountable to them." 204

205 Zu der zu Massachusetts weitgehend parallelen Entwicklung in New Hampshire vgl. Wood, Creation of the American Republic, S. 447, 451. 206 Morgan, Inventing the People, S. 261. 207 208 209

4*

Morgan, Inventing the People, S. 260. Morgan, Inventing the People, S. 63 f. Vgl. Jameson, Constitutional Convention, S. 167.

52

1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

I I I . Verfassunggebung und Föderalismus: die Bundesverfassung von 1787 Während es in den einzelnen Kolonien und späteren Einzelstaaten zur Ausarbeitung von Verfassungen auf der Grundlage der Volkssouveränität 210 gekommen war, haben die Vereinigten Staaten ihre politische Form zunächst in den von 1776 bis 1778 vom Continental Congress ausgearbeiteten und bis 1781 von den Einzelstaaten ratifizierten 211 Articles of Confederation 212 gefunden, die eine extrem föderalistische, eher staatenbündische Konstruktion darstellten 213. Das Spannungsverhältnis der konkurrierenden Entscheidungszentren wurde zunächst ganz in partikularer Richtung aufgelöst. Die Einzelstaaten verhielten sich im System der Articles of Confederation wie souveräne Staaten214. Seit Mitte der achtziger Jahre verfiel die Bedeutung des Gesamtstaats und des Continental Congress 215; verschiedene Reform versuche scheiterten 216 nicht zuletzt an der staatenbündischen Revisionsbestimmung der Articles of Confederation, die für jede Änderung die Ratifikation durch die Parlamente aller Einzelstaaten erforderte 217. Die in mehreren Einzelstaaten aufgetretenen Bestrebungen zur Revision der Revolutionsverfassungen 2 1 8 und Beschränkung der Macht der Einzelstaatenparlamente verlagerten sich in den achtziger Jahren auf die nationale Ebene 219 . 1787 wurde eine „Constitutional Convention" nach Philadelphia einberufen, die sich im Auftrag des Continental Congress mit der Reform der Articles of Confederation befassen sollte 220 . Indem die Convention den von James Madison ausgear210

Als Umsetzung einer Empfehlung des Continental Congress, vgl. oben 1. Teil, A.II. 1. Vgl. dazu Adams, Republikanische Verfassung, S. 289 f.; Ketcham, Anti-Federalist Papers and Constitutional Convention Debates, S. 9; Lutz, Origins of American Constitutionalism, S. 132; Loewenstein , Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, S.7. 211

2 2

^ Spaeth/Smith, Constitution of the US, S. 179 (Appendix C). 13 Vgl. Kelly / Harbison / Beiz, American Constitution, S. 80 ff.; Dietze, ZStW 113 (1957), S. 301 (310); Brinkmann, Verfassungslehre, S. 352; Annaheim, Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat, S. 25; Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 2; Angermann, HZ 219 (1974), S. 1 (12). Vgl. aber auch Jameson, Constitutional Convention, S. 40; Lundmark, DÖV 1992, S. 417 (418). 2

2 14 Wood, Creation of the American Republic, S. 356 f. m.w.N. Fn. 21, 372. Vgl. auch Millgramm, Föderalismus in den Vereinigten Staaten, Jura 1992, S. 17 (18); Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, S. 7. 215 Wood , Creation of the American Republic, S. 359, 464; Morgan , Inventing the People, S. 264 f.; Jameson, Constitutional Convention, S. 147. 216 Wood , Creation of the American Republic, S. 361; Jameson, Constitutional Convention, S. 147 f.; Kelly / Harbison / Belz, American Constitution, S. 86. 217 Wood , Creation of the American Republic, S. 533; Ketcham , Anti-Federalist Papers and Constitutional Convention Debates, S. 10; Adams, Republikanische Verfassung, S. 291. 2 18 Vgl. oben 1. Teil, A.II.3. 219 Wood , Creation of the American Republic, S. 463, 467.

Α. Ursprung im anglo-amerikanischen Rechtsdenken

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beiteten Vorschlag der Delegation aus Virginia (den sog. „Virgina-Plan" 221 ) als Diskussionsgrundlage akzeptierte, überschritt sie jedoch frühzeitig den Rahmen des Legalitätssystems der Articles of Confederation und zielte auf revolutionäre Neukonstituierung 222. Zur Rechtfertigung dieses Hinwegsetzens über die Articles of Confederation berufen sich die Sprecher der Mehrheit auf das Prinzip der Volkssouveränität 223. Die Mitglieder der Constitutional Convention von 1787 waren noch von den Einzelstaatenparlamenten entsandt worden 224 . Indem der Konvent von Philadelphia sich nicht mehr auf die Legitimation durch die Einzelstaaten, sondern auf das amerikanische Volk beruft, den Verfassungsentwurf mit der programmatischen Formel „We the people" - und nicht etwa „We the states" - beginnen läßt 2 2 5 , wird die zuletzt in Pennsylvania und Massachusetts angewandte226 Lehre, daß in einer „Convention" und der von dieser erlassenen Verfassung die Volkssouveränität zum Ausdruck kommt, zur Legitimierung der Überwindung des bisherigen Verfassungszustandes eingesetzt227. Ausdrücklich beruft sich zum Beispiel Madison in der Nr. 40 des „Federalist" auf das von den Kolonisten bereits in der Unabhängigkeitserklärung 228 gegen die britische Krone behauptete „right of the people to ,abolish or alter their government . . . ' " und auf die in den Einzelstaaten entwickelte Methode „that conventions were elected ... for establishing the constitutions" 229 . Und das Konvents-Mitglied Ellsworth konstatiert, „that a new sett of ideas seemed to have crept in since 220 Vgl. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, S. 8; Rossiter, The Federalist Papers, S. 247 (Nr. 40, Madison). 221

Abgedruckt bei Ketcham , Anti-Federalist Papers and Constitutional Convention Debates, S. 35 - 39. 222 Ketcham , Anti-Federalist Papers and Constitutional Convention Debates, S. 10; Heideking , Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 114; Jameson, Constitutional Convention, S. 37; Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 3. Vgl. auch Rossiter, The Federalist Papers, S. 251 (Nr. 40, Madison); Adams, Republikanische Verfassung, S. 291; Freund, Das öffentliche Recht der Vereinigten Staaten, S. 6; Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 230. 223 Jameson, Costitutional Convention, S. 151; Palmer , Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 230. 224 Morgan , Inventing the People, S. 267. 225 Vgl. Kelly / Harbison /Beiz, American Constitution, S. 93; Morgan , Inventing the People, S. 281 f.; vgl. auch Wood, Creation of the American Republic, S. 526. 22 6 Vgl. oben 1. Teil, A.II.3. 227 Dieser Zusammenhang wird nicht mehr erkannt, wenn ζ. B. Currie, Die Verfassung der Vereinigten Staaten, S. 1 (Fn. 2) nur noch mitteilt, „man (könne) argumentieren, daß die neue Verfassung verfassungswidrig war, wenn die Articles of Confederation bestimmten, daß sie nur von den Parlamenten aller dreizehn Staaten zu ändern seien", ohne dem deutschsprachigen Publikum mitzuteilen, wieso trotzdem die amerikanische Verfassung seit über 200 Jahren in ihrer Legitimität und Rechtsgeltung unbestritten ist. 22 8 Spaeth /Smith, Constitution of the US, S. 175. 22 9 Rossiter, The Federalist Papers, S. 253 (Nr. 40, Madison); vgl. auch ebd. S. 469 (Nr. 78, Hamilton).

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

the articles of Confederation were established. Conventions of the people, or with power derived expressly from the people, were not then thought o f ' 2 3 0 . R.R. Palmer resümiert in seiner Geschichte der Demokratischen Revolution: „The idea of the people as the constituent power, acting through special conventions, was so generally accepted and understood that a mere mention of the word convention', in the final article of the proposed constitution, was thought sufficient explanation of the process of popular endorsement" 231. Auch wenn die vorangegangene Verfassunggebung in den Einzelstaaten mit guten Gründen als wichtiger für die Entwicklung der Praxis und Theorie der Verfassunggebung angesehen werden kann 232 , so ist doch festzuhalten, daß in der Diskussion um die amerikanische Bundesverfassung die wesentlichen Bestandteile der Lehre vom pouvoir constituant erstmals zusammenhängend formuliert werden. Die Lehre von der Permanenz, Unveräußerlichkeit und Schrankenlosigkeit der überpositiven verfassunggebenden Gewalt des Volkes wird bereits von den Federalists in der Verfassungsdiskussion um die Bundesverfassung vertreten: „The power of the people, they said, was paramount to every constitution, inalienable in its nature, and indefinite in its extent" 233 ; „the supreme power is in them; and in them even when a constitution is formed, and government is in operation, the supreme power still remains" 234 . Zum anderen taucht hier - zur Überwindung der Änderungsbestimmungen der Articles of Confederation 235 - erstmals in aller Deutlichkeit die Argumentation auf, daß die besonderen Vertreter des souveränen Volkes an Verfahrensregeln einer alten Verfassung nicht gebunden sein können 236 : „The people were in fact the fountain of all power, and by resorting to them, all difficulties were got over. They could alter constitutions as they pleased" 237 . Auch die Verbindung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes mit dem Prinzip des Vorrangs der Verfassung ist bereits klar erkannt: „If the Constitution were to be considered a truly fundamental law against which ordinary statutory law could be declared by judges to be 'null and void', then it must be ,ratified in the most unexceptional form, and by the supreme authority of the people themselves'" 238 . Daß sie wegen der fehlen-

230 Ketcham, Anti-Federalist Papers and Costitutional Convention Debates, S. 128; Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 120. 231 Palmer , Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 231. 232 StourzK Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 18; vgl. auch Wood, Creation of the American Republic, S. 354. 233 Morgan , Inventing the People, S. 281. 234 Wood , Creation of the American Republic, S. 599 (zit. James Wilson). 235

Vgl. Wood , Creation of the American Republic, S. 532. Morgan , Inventing the People, S. 280 f.; Wood, Creation of the American Republic, S. 530, 532, 534; vgl. auch Rodgers , Contested Truths, S. 105. 237 Madison, zit. Wood , Creation of the American Republic, S. 533; vgl. auch Morgan , Inventing the People, S. 280; Heideking , Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 121. 236

Α. Ursprung im anglo-amerikanischen Rechtsdenken

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den Rückführbarkeit auf die Souveränität des Volkes keinen erhöhten Geltungsanspruch gegenüber einfachem Gesetzesrecht haben können, wird von Madison gerade als Defizit der Articles of Confederation angeführt 2 3 9 . Gleichzeitig entwickelten die Federalists eine eigentümliche Verschmelzung der Idee der Volkssouveränität mit der föderativen I d e e 2 4 0 zur Theorie der „federative republic", die amerikanische Bundesstaatstheorie 241 . Insbesondere James Madison, der i m Vorfeld des Konvents intensive Studien zum Thema Föderalismus betrieben h a t t e 2 4 2 , und James Wilson begründeten gegen die auf die Souveränität der Einzelstaaten und damit staatenbündische Strukturen pochenden Anti-Federalists 2 4 3 die theoretische Möglichkeit des demokratischen Bundesstaates 244 . Dem Bestreben der Federalists nach einer Stärkung des Zentralstaats hatten die Anti-Federalists - ganz auf dem Boden der zeitgenössischen Souveränitätslehren den Einwand der Unmöglichkeit eines „imperium in imperio" entgegengestellt 245 . Die Federalists stützten sich gegenüber dieser Argumentation wiederum auf die Idee der Volkssouvernität: souverän seien weder die Regierungen der Einzelstaaten

238 Wood, Creation of the American Republic, S. 533. Vgl. auch Corwin, The „Higher Law" Background of American Constitutional Law, S. 3 f.; Rossiter, The Federalist Papers, S. 466 ff. (Nr. 78, Hamilton). Vgl. auch schon Arendt, Über die Revolution, S. 379 (Anm. 9). 239 Rossiter, The Federalist Papers, S. 279 (Nr. 43, Madison); vgl. auch Wood, Creation of the American Republic, S. 532. 240

Kelly / Harbison / Belz, American Constitution, S. 106 („Thus a federal republic - a compound scheme embodying both the characterises of a confederation and a unitary government, was the American answer to the problem of sovereignty."), 110 („... they modified republican theory and infused federalism with a republican content."); vgl. auch Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, S. 14 („Verkoppelung der republikanischen Staatsgestaltung mit dem föderativen Prinzip"). 241

Deuerlein, Föderalismus, S. 47 ff., 64 f.; Adams, Republikanische Verfassung, S. 37, 284 ff.; Bailyn, Ideological Origins of the American Revolution, S. 228, 335, 362. Vgl. auch Isensee, AÖR 115 (1990), S. 248 (262 ff.); Arendt, Über die Revolution, S. 218, 198, 200; Angermann, HZ 219 (1974), S. 1 (11,31). 242 Wood , Creation of the American Republic, S. 472; Ketcham, Anti-Federalist Papers and Constitutional Convention Debates, S. 31; Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 315. 243 Vgl. zu diesen Ketcham, Anti-Federalist Papers and Constitutional Convention Debates, S. 16 ff.; Kelly / Harbison / Beiz, American Constitution, S. 107; Bailyn, Ideological Origins of the American Revolution, S. 331 ff.; Vorländer, JÖR NF 36 (1987), S. 451 (474 f.). 244 Vgl. Arendt, Über die Revolution, S. 218; Wood, Creation of the American Republic, S. 529 f. 245 Wood, Creation of the American Republic, S. 351 f., 527 f.; Bailyn , Ideological Origins of the American Revolution, S. 336, 358; Kelly / Harbison / Belz , American Constitution, S. 105. Die Anti-Federalists übernehmen damit die Argumentation der englischen Loyalisten gegen die von den amerikanischen Siedlern vertretene „Empire-Theorie" geteilter Souveränität mehrerer gleichberechtigter Parlamente unter einer Krone, vgl. dazu Bailyn, Ideological Origins of the American Revolution, S. 216 ff., 221; Kelly / Harbison / Belz, American Constitution, S. 48, 51; Adams, Republikanische Verfassung, S. 28 ff.

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

noch die Bundesregierung, sondern allein das Volk, von dem beide in ihrer jeweiligen Kompetenzsphäre ihre Staatsgewalt ableiteten246. Die Berufung auf die Souveränität des amerkanischen Volkes ist also sowohl für die Legitimation der Verfassunggebung von 1787 / 89 als auch für die Bundesstaatstheorie der Federalists von zentraler Bedeutung; die Anrufung des amerikanischen Volkes nimmt bei den Autoren der Federalist Papers eine zentrale Stellung ein 2 4 7 . Edmund S. Morgan hat argumentiert, Madison und die Federalists hätten im Zusammenhang mit der Diskussion um die Bundesverfassung das amerikanische Volk geradezu erfunden oder eingeführt 248 . Die Frage der Existenz eines amerikanischen Volkes hat auch in der berühmten Kontroverse zwischen Webster und Calhoun 249 über die Natur des amerikanischen Bundesstaates, die sich in Deutschland später in der Auseinandersetzung v. Seydels mit der von Waitz rezipierten Bundesstaatstheorie der Federalists 250 spiegelte, eine zentrale Rolle gespielt: Während Webster im Anschluß an die Argumentation der Federalists aus der Eingangsformel der US-Verfassung auf ihre Legitimation durch das amerikanische Volk und nicht einen Vertrag der Staaten schließt 251 , behaupten Calhoun und die - später die Sezession der Konföderierten (Süd-) Staaten legitimierende - „States Rights School" 252 die Souveränität der Einzelstaaten und eine vertragsmäßige Grundlage der USA 2 5 3 . 246 Wood, Creation of the American Republic, S. 530 f. (James Wilson), 600; vgl. auch Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 228; Rossiter, The Federalist Papers, S. 294 (Nr. 46, Madison); Morgan, Inventing the People, S. 281; Jameson, Constitutional Convention, S. 45 f.; Kelly / Harbison / Beiz, American Constitution, S. 105 („The solution was to transfer sovereignty to the people, ( . . . ) Regarding the people as sovereign, the convention denied sovereignty to both state and federal governments. ( . . . ) Created by the people, state and federal government could legislate and govern concurrently over the same population in the same territory".).

w Vgl. ζ. Β. Rossiter, The Federalist Papers, S. 37 f., 40 (Nr. 2, Jay), 46 f. (Nr. 46, Jay), 74 (Nr. 9, Hamilton), 151 (Nr. 22, Hamilton), 243 (Nr. 39, Madison), 294 (Nr. 46, Madison). Vgl. auch Kelly / Harbison / Belz , American Constitution, S. 113; W Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 254 (266, Fn. 40); Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 61. 24

» Morgan, Inventing the People, S. 262, 267. 9 Vgl. dazu Seydel, ZgStW 28 (1872), S. 185 (198 f., 210 ff.); Ο. Mayer, AÖR 18 (1903), S. 337 (353); C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 388, 374; vgl. auch Kämmen, The Constitution in American Culture, S. 53 ff.; unten 3. Teil, Kapitel A. 2 50 Vgl. dazu unten 1. Teil, Kapitel C und 3. Teil, Kapitel A. 24

2 51 O. Mayer, AÖR 18 (1903), S. 337 (352); Seydel, ZgStW 28 (1872), S. 185 (191 f., 216); vgl. auch Brinkmann, Verfassungslehre, S. 364; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 388. 252 Vgl. dazu Jameson, Constitutional Convention, S. 38; Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (16); Annaheim, Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat, S. 40 f.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 374, 388. 253 Vgl. Kämmen, The Constitution in American Culture, S. 53, 55; Deuerlein, Föderalismus, S. 55; Seydel, ZgStW 28 (1872), S. 185 (213, 216). Ähnlich auch Boutmy, zit. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 237 (Fn. 3), dem die amerikanischen Einzelstaaten als Träger des pouvoir constituant erscheinen.

Α. Ursprung im anglo-amerikanischen Rechtsdenken

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Tatsächlich ist die Frage, ob sich die USA nach der Loslösung von Großbritannien als eine Nation oder als 13 unabhängige Staaten etablierten, die Frage nach der Priorität der Einzelstaaten oder der Union schon vor Inkrafttreten der Bundesverfassung von 1787 / 89 nicht so eindeutig, wie es nach der geläufigen Sicht der Fortentwicklung vom Staatenbund zum Bundesstaat 2 5 4 scheinen könnte. Die Unabhängigkeit hatten die dreizehn vormaligen Kolonien nicht als einzelne, sondern in Gesamtheit durch ihre Vertreter i m Continental Congress erklärt 2 5 5 . Sie bezeichnen sich darin als „thirteen united States of A m e r i c a " 2 5 6 , was sowohl i m Sinne einzelner Staaten, als auch - angesichts der Großschreibung der Wendung i m Original - als Bezeichnung der Gesamtheit verstanden werden kann. A m Ende der Unabhängigkeitserklärung postulieren sie, „that these United Colonies are . . . Free and Indepentent States" 2 5 7 , begreifen sich dort also offenbar als eine Mehrzahl von Staaten, nicht als ein Staat. Andererseits spricht die Unabhängigkeitserklärung aber auch in ihrem ersten Satz von der Notwendigkeit, „for one people to dissolve the political bands which have connected them with another" 2 5 8 ; in der Abgrenzung zum Mutterland können sich die i m Continental Congress Versammelten also offenbar als ein V o l k 2 5 9 verstehen. Die Entstehung einer amerikanischen Nation wird auf die Unabhängig-

254 Deuerlein, Föderalismus, S. 50; Vorländer, JÖR NF 36 (1987), S. 451 (470); Angermann, HZ 219 (1974), S. 1 (12); Millgramm, Jura 1992, S. 17 (18); Freund, Das öffentliche Recht der Vereinigten Staaten, S. 4. 255 Vgl. Jameson, Constitutional Convention, S. 51 (zit. John Quincy Adams: „By the Declaration of Independence, the people of the United States had assumed and announced to the world their united personality as a nation, consisting of thirteen independent States."); ebd. S. 53 (zit. Chief Justice Jay: „The Revolution, or rather the Declaration of Independence, found the people already united for general purposes,..."). Vgl. auch Lutz , Origins of American Constitutionalism, S. 150 (zit. David Ramsay: „The act of independence did not hold out to the world thirteen sovereign States, but a common sovereign of the whole in their united capacity."). 256 Die Unabhängigkeitserklärung beginnt im Original mit den Worten: „In Congress, July 4, 1776. / The unanimous Declaration of the thirteen united States of America" (Der Abdruck bei Spaeth / Smith, Constitution of the US, S. 175 als Appendix Β gibt die Eingangsformel nicht wortgetreu wieder). 257 Spaeth / Smith, Constitution of the US, S. 178 (die Klein- und Großschreibung ist nach Faksimile der Originalurkunde korrigiert, der Verf. Vgl. auch die korrekte Wiedergabe bei Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 2); auf diese Formulierung verweisen auch Kelly / Harbison / Belz, American Constitution, S. 71, Wood, Creation of the American Republic, S. 356. 258

Spaeth / Smith, Constitution of the US, S. 175 (Hervorhebung vom Verf.). Die Schlußformel: „We, therefore, the Representatives of the united States of America, in General Congress, assembled, ... do, in the Name, and by authority of the good People of these Colonies" (Spaeth / Smith, Constitution of the US, S. 178 (die Klein- und Großschreibung ist nach Faksimile der Originalurkunde korrigiert, der Verf.) enthält zwar ebenfalls den Singular „People" und nicht „peoples" (=Völker), doch kann es sich dabei auch um eine Gesamtbezeichnung i.S.v. „Leute" handeln. Vgl. auch Jameson, Constitutional Convention, 5. 54; Lutz, Origins of American Constitutionalism, S. 116. 259

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

keitsbewegung datiert 260 ; gleichzeitig lassen sich aus der Unabhängigkeitszeit aber auch Belege für ein auf den jeweiligen Einzelstaat bezogenes Nationalgefühl anführen 261 . Ob der Gesamtstaat oder die Einzelstaaten am Anfang amerikanischer Staatlichkeit stehen, ist durchaus umstritten gewesen262. In der den nordamerikanischen Kolonisten nach der Unabhängigkeitserklärung vorgegebenen Situation existierten Ansätze von Staatlichkeit sowohl auf der Ebene der vormaligen Kolonien als auch auf zentraler Ebene. Mit der Unabhängigkeit waren nicht alle Befugnisse der ehemals die Kolonien verklammernden zentralen Kolonialadministration in London 2 6 3 an die revolutionären Konvente in den Kolonien gefallen 264 , die sich selbst in der Regel als „provincial !) congress" bezeichneten; der Continental Congress in Philadelphia handelte, nicht zuletzt indem er Krieg führte, Botschafter entsandte und Verträge mit auswärtigen Staaten abschloß, anfänglich wie die Zentralregierung eines amerikanischen Staates265, und ihm wurde von den die Unabhängigkeit anstrebenden Kolonien eine übergeordnete Autorität zuerkannt 266. Madison hat die Souveränität des Continental Congress behauptet und die der Einzelstaaten bestritten 2 6 7 . Das Verhältnis zwischen den Einzelstaaten und dem Continental Congress war in den ersten Jahren durchaus ambivalent 268 . Zwar konstituierten sich zuerst die ehemaligen Kolonien als Verfassungsstaaten, aber dies geschah auf Aufforderung durch den „Continental Congress" 269 und in der innerstaatlichen Diskussion zwischen Unabhängigkeitsbefürwortern und Loyalisten oft unter Berufung auf die Autorität des „Continental Congress". Die Versammlung von Massachusetts fragte zum Beispiel beim Continental Congress in 260 Vgl. z. B. Palmer , Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 156, 160; Jameson, Constitutional Convention, S. 36, 40 („And, yet, in my judgement, at the time the Confederation was formed, we were in fact a nation, though the process of fusion had not been completed."); vgl. auch Lutz , Origins of American Constitutionalism, S. 7 („Prior to the 1760s, there was no „people" that could properly be called American."); vgl. auch ebd. S. 171. 261 Wood , Creation of the American Republic, S. 356. 262 Wood , Creation of the American Republic, S. 355 m.w.N.; Heideking , Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 310; Deuerlein, Föderalismus, S. 48; Adams, Republikanische Verfassung, S. 57 zitiert Lincolns Behauptung: „The Union is older than any of the states and, in fact, it created the States." 263 Vgl. Deuerlein , Föderalismus, S. 47. 264 Adams, Republikanische Verfassung, S. 56. 265 Morgan , Inventing the People, S. 263; Wood , Creation of the American Republic, S. 355; Adams, Republikanische Verfassung, S. 285; Loewenstein , Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, S. 7; vgl. aber auch Kelly / Harbison /Belz, American Constitution, S. 80. 266 Adams, Republikanische Verfassung, S. 50. 267 Vgl. Jameson, Constitutional Convention, S. 52 (zit. Madison: „The States never possessed the essential rights of sovereignty. These were always vested in Congress."). 268 Morgan , Inventing the People, S. 261; Adams, Republikanische Verfassung, S. 57. 269 Adams y Republikanische Verfassung, S. 56.

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Philadelphia an, wie man in der Verfassungsfrage vorgehen solle 270 , und zeitweise wurde eine vom Continental Congress entworfene Musterverfassung für alle Einzelstaaten erwogen 271 . Dem Continental Congress fiel darüber hinaus auch die Bildung neuer Staaten zu 2 7 2 . Andererseits sprach der Continental Congress formal nur Empfehlungen an die Einzelstaaten aus und mehrere Staaten hielten 1776 eine Transformation der Unabhängigkeitserklärung in ihr einzelstaatliches Recht für nötig, um dieser Wirksamkeit zu verschaffen 273. Die Federalists haben dieser vielschichtigen Situation Rechnung getragen. Schon die Selbstbezeichung als „Federalists" weist auf die Richtung der Rücksichtnahme hin. Auch wenn die Bezeichnung für die Befürworter einer stärkeren Zentralgewalt ungewöhnlich ist und im gesamten englischsprachigen Raum eine Umwertung des Begriffs Föderalismus gegenüber der klassischen und der kontinentaleuropäischen Wortbedeutung zur Folge hatte, so treffen doch die vorgeschlagenen Bezeichnungen als „Nationalisten" 274 oder „Zentralisten" 275 den Sachverhalt ebenfalls nicht vollständig; am treffendsten würde man die amerikanischen „Federalists" wohl als Vertreter eines unitarischen Bundesstaates276 mit starker Zentralregierung bezeichnen. In den Federalist Papers bemüht sich Madison nachzuweisen, daß der Verfassungsentwurf nicht - wie der Vorwurf der Anti-Federalists lautete - eine Konsolidierung der Herrschaft auf gesamtstaatlicher Ebene, sondern eine Mischung föderaler und unitarischer Elemente darstellt 277 . Der Verfassungsentwurf der Federalists sieht nicht etwa eine Abschaffung der Einzelstaaten vor 2 7 8 ; das hergebrachte 279 Recht der Einzelstaaten zur Verfassunggebung, „the power, conceded by the existing Constitution to the people of the several States, to frame, each in a quasi sovereign capacity, its own Constitution" 280 , steht nicht in Frage, auch wenn

270

Adams, Republikanische Verfassung, S. 59; Jameson, Constitutional Convention,

S. 113. 271

Adams, Republikanische Verfassung, S. 61 f. Adams, Republikanische Verfassung, S. 88, 90; vgl. auch Rossiter, The Federalist Papers, S. 239 (Nr. 38, Madison). 273 Wood , Creation of the American Republic, S. 356. 272

274

Heideking, Die Verfassung vordem Richterstuhl, S. 113, 136. Adams, Republikanische Verfassung, S. 298. 276 Vgl. zu den Begriffen Unitarismus, Föderalismus und Bundesstaat unten 3. Teil, Kapitel A. 275

277

Rossiter, The Federalist Papers, S. 242 - 246 (Nr. 39, Madison); vgl. auch Kämmen, The Constitution in American Culture, S. 58. 27 8 Wood , Creation of the American Republic, S. 525, 529; Arendt, Über die Revolution, S. 215; Angermann, HZ 219 (1974), S. 1 (12 f.); Annaheim, Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat, S. 29. 279 280

Vgl. Adams, Republikanische Verfassung, S. 288. Jameson, Constitutinal Convention, S. 87.

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

die Staatenverfassungen durch die Inkraftsetzung der Bundesverfassung eine Änderung erfahren 281. Von einer Gemengelage föderaler und unitarischer Elemente ist auch das Verfahren der Verfassunggebung von 1787 - 8 8 2 8 2 bestimmt. Die Constitutional Convention von 1787 wird vom Continental Congress einberufen und von den Einzelstaaten beschickt, setzt sich aber über den Rahmen der Articles of Confederation hinweg und beruft sich auf die Souveränität des amerikanischen Volkes. Gleichwohl betätigt sie sich nicht als Verfassunggebende Versammlung, denn das Ergebnis ihrer Beratungen legt sie dem Continental Congress zur Weiterleitung 283 an die Parlamente der Einzelstaaten vor. Denen soll nach dem Entwurf allerdings nicht etwa die Ratifizierung der Verfassung, weil das zu einer staatenbündischen Konstruktion wie in den Articles of Confederation geführt hätte 284 , sondern nur die Einberufung von besonderen „Ratifying Conventions" 285 auf Staatenebene obliegen. Trotz der revolutionären Lösung von der bisherigen Legalität werden die beiden bisherigen verfassungsrechtlichen Größen also in den Prozeß der Neukonstituierung einbezogen, ohne daß ihnen aber das Entscheidungsrecht über die Verfassung und damit verfassunggebende Gewalt zuerkannt wird. Die Annahme soll vielmehr durch die besonderen Vertreter des amerikanischen Volkes, gegliedert in Staatenabschnitte286, erfolgen. Die Annahme erfolgt also weder - weil das dem unitarischen, bundesstaatlichen Prinzip zuwiderlaufen würde - durch die Staaten287 und 281

Ketcham , Anti-Federalist Papers and Constitutional Convention Debates, S. 128 f. Die Verfassung war am 17. 9. 1787 von der Constitutional Convention in Philadelphia verabschiedet und dem Continental Congress zugeleitet worden; sie wurde zwischen dem 7. 12. 1787 und dem 21. 6. 1788 von den erforderlichen 9 Staaten ratifiziert und war damit angenommen; die beiden Großstaaten Virginia und New York ratifizierten erst am 25. bzw. 26. 7. 1788; die Verfassung trat am 4. 3. 1789 mit dem Amtsantritt des ersten Präsidenten George Washington in Kraft; in North Carolina aber erst am 21. 11. 1789 und in Rhode Island erst am 29. 5. 1790, jeweils mit deren nachträglicher Ratifikation. Vgl. Hay , Einführung in das amerikanische Recht, S. 16 f. (Fn. 1); Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 5; Freund, Das öffentliche Recht der Vereinigten Staaten, S. 6. 282

283 Vgl. Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 130; Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 4 f. 284

Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 121. Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 137 ff.; Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 5. 286 Vgl. Steiner, Verfassunggebung, S. 154 (Fn. 43); Hay, Einführung in das amerikanische Recht, S. 16, der darauf hinweist, daß die Souveränität vom Volk in seiner Eigenschaft als Volk aller U.S.-Staaten und nicht als Volk der verschiedenen Einzelstaaten ausgeht. 285

287 Zu einseitig im Sinne der Interpretation Calhouns und der „States Rights School" darum E.-W Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in: ders., Staat-Verfassung-Demokratie, S. 29 (40), wenn er meint, die Verfassung der USA von 1787 sei als Bundesvertrag im Wege der Vereinbarung zwischen den beteiligten Staaten entstanden; auf die Differenz zwischen der „Zustimmung des Volkes in den Staaten (im Gegegensatz zu diesen Staaten selbst)" hat demgegenüber schon C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 86, hingewiesen.

Α. Ursprung im anglo-amerikanischen Rechtsdenken

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deren Parlamente 288, noch - weil das dem föderativen Prinzip zuwiderlaufen würde 2 8 9 - durch die Mehrheit des Volkes in einem nationalen Plebiszit oder durch eine Verfassunggebende Nationalversammlung. Durch die Annahme durch die Konvente in 9 von 13 Staaten soll die Verfassung in Kraft gesetzt werden - aber wiederum nur für Staaten, in denen sie durch die jeweilige Ratifying Convention angenommen wurde 290 . Die Legitimation der amerikanischen Bundesverfassung erfolgt damit über ein Geflecht alter und neuer, demokratischer und bündischer Legitimität. Sie nutzt die Institutionen der alten Ordnung zur Organisation der Entscheidungsfindung des Volkes, ohne ihnen die Entscheidung über die neue Verfassung zu überlassen. Sie ist abgestützt auf die verfassunggebende Gewalt des amerikanischen Volkes, vermeidet aber die unitarisierenden Konsequenzen einer Anrufung des nationalen pouvoir constituant durch die Respektierung seiner gewachsenen Gliederung nach Staaten auch im Verfahren der nationalen Verfassunggebung. Auf diese Weise kombinieren die amerikanischen Gründerväter die Prinzipien der Volkssouveränität und des Föderalismus bei der Konstituierung des amerikanischen Bundesstaates.

IV. Zusammenfassung Die Vorstellung einer besonderen verfassunggebenden Gewalt des Volkes entsteht als Verbindung des älteren Instruments der „Convention" mit dem modernen Verständnis der Verfassung als eines dem Zugriff des Parlaments entzogenen „higher law" unter den Bedingungen der Volkssouveränität. Die im englischen Mutterland vereinzelt vorgedachte, aber nie praktisch gewordene Theorie des Volkes als „constituent power" wird in den nordamerikanischen Kolonien entfaltet und angewendet, als dort erstmals ein Staat auf die Prinzipien der Volkssouveränität gegründet wird. Theorie und Praxis der verfassunggebenden Gewalt sind in Nordamerika in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts voll ausgeprägt. Zum Grundbestand der neuen Vorstellung legitimer Verfassungsentstehung gehört die institutionelle Sonderung eines von der ordentlichen Legislative unterschiedenen außerordentlichen Re288 Dieser entscheidende Unterschied - mit den daran anknüpfenden dogmatischen Folgen - wird häufig übersehen. Sachlich nicht zutreffend insoweit ζ. B. v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 41 („Ratifizierung ... durch die Staatenlegislaturen wie in den Vereinigten Staaten"), 42, wohl im Anschluß an Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, S. 9, der ebenfalls von einer Vorlage des Entwurfs zur Ratifikation durch die Staatenlegislaturen ausgeht. 289

Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 120. Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 122; Annaheim, Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat, S. 32. 290

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

präsentationsgremiums und die Berufung auf ein besonderes Mandat des Volkes zur Verfassunggebung. Darüber hinausgehende Vorstellungen über die Notwendigkeit institutioneller Spezialität oder direkter plebiszitärer Sanktion haben sich in der amerikanischen Revolution nicht durchsetzen können. Die konstitutionelle Entwicklung findet in den USA von vornherein in einem föderativen Kontext statt. Die Bundesverfassung von 1787 realisiert den neuen Staatstyp einer Bundesrepublik („federative republic") und stützt sich gegenüber den Souveränitätsansprüchen der Einzelstaaten und der vorangegangenen staatenbündischen Verfassung explizit auf die Souveränität und verfassunggebende Gewalt des amerikanischen Volkes. Im Inkraftsetzungsmodus werden Föderalismus und Volkssouveränität zu einer spezifisch bundesstaatlichen Form der Verfassunggebung verbunden.

B. Die Ausformung der Theorie des „pouvoir constituant" in Frankreich Die Vergewisserung über die Entwicklung der Lehre vom pouvoir constituant in Frankreich kann für die Zwecke dieser Arbeit gegenüber der Darstellung der amerikanischen Vorgeschichte wesentlich knapper ausfallen. Die französische Ausprägung der Theorie von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ist seit den Monographien von Egon Zweig 2 9 1 , Robert Redslob 292 und Karl Loewenstein293 sehr viel genauer bekannt als ihre amerikanischen Ursprünge; auch die Rezeption insbesondere in Carl Schmitts Verfassungslehre von 1928 294 setzt sich vor allem 295 mit der Lehre vom pouvoir constituant im Kontext der französischen Verfassungsgeschichte seit der Revolution auseinander. Die französische Revolution steht im unmittelbaren zeitlichen Konnex mit der amerikanischen Neukonstituierung von 1787 / 89. Die Beeinflussung des zeitgenössischen französischen Denkens durch die Ereignisse in den nordamerikanischen Kolonien und späteren Vereinigten Staaten, mit denen Frankreich seit 1778 gegen das englische Mutterland verbündet war 2 9 6 , ist vielfältig bemerkt und dokumentiert 291

Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant - Ein Beitrag zum Staatsrecht der französischen Revolution, Tübingen 1909. 292 Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung von 1789 - Ihre Grundlagen in der Staatslehre der Aufklärungszeit und in den englischen und amerikanischen Verfassungsgedanken, Leipzig 1912. 293 Loewenstein, Volk und Parlament nach der Staatsauffassung der französischen Nationalversammlung von 1789 - Studien zur Dogmengeschichte der unmittelbaren Volksgesetzgebung, München 1922. 294 c Schmitt, Verfassungslehre, 5. Aufl., Berlin 1970 (1. Aufl. 1928). 295 296

Vgl. dazu oben Einführung, Kapitel B. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, S. 6.

Β. Die Ausformung der Theorie in Frankreich

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worden 297 . Auch persönliche Einflüsse durch Franklin 298 , Adams 299 , Jefferson 300 und Thomas Paine 301 insbesondere auf Condorcet 302 , Lafayette 303 und Sieyès 304 und die Girondisten sind bekannt. Die amerikanische Revolution und Verfassung 305 hatten in vielfacher Weise für die französische Entwicklung Modellcharakter. In den Debatten der französischen Nationalversammlung von 1789 wurde dann auch häufig auf das amerikanische Beispiel Bezug genommen306. Egon Zweig hat auf die Bedeutung der Überlegungen und Flugschriften Condorcets, des späteren Autors des girondistischen Verfassungsentwurfs von 1793, für die Präsenz der Lehre vom pouvoir constituant im Frankreich der Revolutionszeit besonders hingewiesen307. Unter den Deputierten der Generalstände war die Theorie insbesondere durch die im Januar 1789 erschienene Schrift „Qu'est-ce que le Tiers-État?" des Abbé Sieyès 308 verbreitet worden. Sieyès hatte insbesondere das positivrechtlich ungebundene Recht der Nation zur Bestimmung der alle Zweige der Regierung bindenden Grundverfassung 309 gelehrt und den Willen der Nation mit demjenigen der besonderen Vertreter des Dritten Standes identifiziert 310 . 297 Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 189, 239 f., 262, 266 f.; H. Hintze , Staatseinheit und Föderalismus, S. 82 m.w.N.; Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 163; Hofmann, Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht-Politik-Verfassung, S. 261 (266 m.w.N.). 298

Vgl. Zweig , Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 91, 93; Palmer , Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 267. 299 Deuerlein , Föderalismus, S. 55; Palmer , Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 267, 271. 300 Vgl. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 103; Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 251, 276 f., 469, 487; Starch , JZ 1989, S. 601. 301

Vgl. Zweig , Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 353. 302 Vgl. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 91, 93, 103; H Hintze, Staatseinheit und Föderalismus, S. 81; Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 278, 280 f. 303 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 163; Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 251. 304 Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 137; Palmer , Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 281, 489; Starck , Der Vorrang der Verfassung, in: ders., Der demokratische Verfassungsstaat, S. 33 (48). 305

Hsü Dau-Lin, in: M. Friedrich (Hrsg.), Verfassung, S. 34 (41); Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 298, 311, 365; Starck, JZ 1989, S. 601 (602). 306 Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 864; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 233. 307 Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 91 - 105. 3 08 Sieyes, Was ist der Dritte Stand?, (Übers. J.G. Ebel [1796], hrsg. O. Dann), 1988. (Die Schreibweise des Autorennamens ist uneinheitlich; hier wird im Text die gegenüber der (Original-) Schreibweise in der von O. Dann herausgegebenen Übersetzung die in der Rechtswissenschaft übliche Schreibweise „Sieyès" beibehalten.) Sieyes, Was ist der Dritte Stand?, S. 80 f. Vgl. auch Arendt, Über die Revolution, S. 203, 211; C. Schmitt, Die Diktatur, S. 140; Pasquino , in: Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum, S. 371 (375); Dreier, JZ 1994, S. 741 (743 f.).

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

Am 17. Juni 1789 erklären sich die Abgeordneten des Dritten Standes der französischen Generalstände zur Nationalversammlung („Assemblée nationale") 311 , am 6. / 9. Juli 1789 konstituiert sich die Nationalversammlung als Konstituante („Assemblée nationale constituante") 312 und beschließt am 3. September 1791 die Verfassung der konstitutionellen Monarchie 313 . Die Lehre vom unveräußerlichen und durch die pouvoir constitués nicht beschränkbaren pouvoir constituant diente zunächst der Legitimation der Repräsentanten des Dritten Standes gegenüber dem Legalitätssystem der absolutistischen Monarchie. Schon in den Debatten der auf der Grundlage der Verfassung von 1791 gewählten Legislative („Assemblée législative") 314 ist dann ausdrücklich das unveräußerliche Recht der Nation, in jedem Augenblick auch ohne Rücksicht auf die - außerordentlich restriktiven und unpraktikablen - Revisionsvorschriften 315 der Verfassung von 1791 ihre Verfassung zu ändern, behauptet worden 316 . Mit dem Hinweggehen 317 über die von der NationlVersammlung beschlossene Verfassung der konstitutionellen Monarchie durch die Neuwahl des Konvents 318 („Convention nationale"), der die republikanischen Verfassungsentwürfe Condorcets 319 (für die Girondisten) und Saint Justs (für die Montagnards) sowie die Konvents-Verfassung von 1793 320 hervorbrachte, wird deutlich, daß der pouvoir constituant durch eine 310 Sieyes, Was ist der Dritte Stand?, S. 85. Vgl. dazu auch C. Schmitt, Die Diktatur, S. 144; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 340 (auch schon ebd. S. 60); Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 262; Pasquino, in: Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum, S. 371 (375); Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 23; Henke, Der Staat 31 (1992), S. 265 (267); Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 480, 491. 311 Hartmann , Französische Verfassungsgeschichte, S. 46; vgl. auch Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 96, 282; v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 33. 312 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte, S. 46; vgl. auch Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 109, zu Condorcets Begründung für die Funktion der Nationalversammlung als Konstituante; dagegen Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 262 f. 3 3 * G. Jellinek, Staatslehre, S. 523 f.; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 277 ff.; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte, S. 47; Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 501; Leisner, in: FS. Liermann, S. 96 (101); Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 267 ff.; Henke, Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 54 f. Vgl. auch E.-W. Böckenförde, HStR I, § 22, Rn. 6. 314 Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 333. 315 Vgl. Redslob, Die Staatstheorien der Französischen Nationalversammlung, S. 158 ff. 316 Vgl. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 326, 328, 333, 335. 317

Vgl. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 324 ff. Vgl. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 329, 333 ff.; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte, S. 51 ff.; H. Hinze, Staatseinheit und Föderalismus, S. 315 ff. 319 Vgl. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 327 f., 110; Leisner, in: FS. Liermann, S. 96 (112 ff.). 320 Vgl. hierzu Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 353 ff.; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte, S. 52 f.; Leisner, in: FS. Liermann, S. 96 (112). 318

Β. Die Ausformung der Theorie in Frankreich

65

Verfassung nicht irreversibel gebunden werden kann, sondern latent vorhanden bleibt und sich auch gegenüber einer auf demokratischer Grundlage errichteten Verfassung erneut zur Geltung bringen kann. „Un peuple a toujours le droit de revoir, de réformer et de changer sa Constitution" hieß es in der Rechteerklärung von 1793 321 . Andererseits waren sich die Akteure bewußt, daß eine ordentliche Legislative zur Verfügung über die Verfassung und Neukonstituierung des Gemeinwesens nicht befugt sein kann, sondern daß es hierzu eines besonderen Mandats des Volkes als pouvoir constituant bedarf 322 . Die Einberufung des Konvents von 1792 / 93 war deutlich durch das amerikanische Vorbild der „convention" 323 und deren Vorbilder, den englischen „convention Parliaments" von 1660 und 1689, inspiriert 324 . Der Begriff des Konvents hatte für die Akteure von 1792 bereits eine feststehende Bedeutung als besonderes Parlament mit Spezialmandat zur Verfassunggebung 325. Dem Beispiel der Verfassunggebung von Massachusetts326 und insbesondere der amerikanischen „Constitutional Convention" von 1787 327 folgend, hat der Konvent darüber hinaus, anders als noch die Konstituante, die Notwendigkeit direkter plebiszitärer Legitimation der Verfassung vertreten. Bereits am 21. 9. 1792 hatte der Konvent in der „Erklärung über das Recht des Volkes betreffend das Grundgesetz" beschlossen: „La Convention nationale déclare qu'il ne peut y avoir de constitution que celle qui est acceptée par le peuple" 328 . Die Verfassung von 1793 wurde dementsprechend als erste zur Volksabstimmung gestellt 329 . Zum Verfassungsprojekt des Konvents von 1793 gehört aber auch, daß er anschließend die plebiszitär vom Volk legitimierte Verfassung aus eigener Macht suspendierte und die souveräne Diktatur des Wohlfahrtsausschusses installierte 330 . Die französische Entwicklung der Lehre vom pouvoir constituant sollte schließlich noch über die plebiszitär legitimierte Verfassung des Direktoriums 331 , die Behauptung des pouvoir constituant durch Napoleon 332 zur

321

Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 380. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 329, 95; Redslob, Die Staatstheorien der Französischen Nationalversammlung, S. 152. 323 Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 330. Vgl. dazu oben 1. Teil, A.II.l. und A.II.2. 324 Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 331. Vgl. dazu oben 1. Teil, A.II.l. 325 Zweig , Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 329 f., 337 („une assemblée revetue par le peuple de l'autorité nécessaire pour faire et réformer sa Constitution"). 32 6 Vgl. oben 1. Teil, A.II.3. 32 7 Vgl. oben 1. Teil, A.III. 322

328 Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 334; Henke, Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 59. 329 Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 334 f., 389 f.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 85 f.; Henke, Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 59. 330 Vgl. v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 37; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 392; Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 282, 285; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 85 f.

5 Boehl

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

Konstruktion eines pouvoir constituant des Monarchen nach Restauration der Bourbonen 333 führen. Der entscheidende Unterschied der französischen Entwicklung gegenüber dem amerikanischen Vorbild bestand in der Haltung zur Föderalismus-Frage. Während die amerikanische Verfassungsbewegung von Anfang an in einem föderativen Kontext stattgefunden und im Verfassungswerk von 1787 / 89 einen bundesstaatlichen Abschluß gefunden hatte 334 , war die französische Entwicklung - nach einer ursprünglich weit verbreiteten Begeisterung für die Idee der Föderation nach amerikanischem Beispiel 335 - von einer immer schärferen zentralistischen Wendung gekennzeichnet, die schließlich in entschiedene Gegnerschaft zu jedem Ansatz föderativer Ideen geriet. Die Gliederung des Landes in Departments wurde an die Stelle der historischen Regionen und Provinzen als mögliche Kristallisationspunkte föderaler Eigenständigkeit gesetzt 336 . Gerade Sieyès, der Vordenker der Lehre vom pouvoir constituant und des französischen Konstitutionalismus, hat bereits in der Konstituante von 1789 eine entschiedene Position gegen eine föderative Neuordnung bezogen 337 . Der Konvent von 1792 nahm bereits fünf Tage nach seinem Zusammentreten das berühmte Dekret an, das die französische Republik für „einheitlich und unteilbar" erklärte 338 . Der Vorwurf des Föderalismus 339 wird danach zum entscheidenden Kampfmittel der Jakobiner um Robespierre und Saint Just gegen den von Condorcet verfaßten girondistischen Verfassungsentwurf und die Girondisten, gegen den sich die bürgerlich-gemäßigte Gironde, die ursprünglich gegen die befürchtete Diktatur der Hauptstadt tatsächlich föderalistische Konzepte verfolgt hatte 340 , zur Wehr setzen und den sie abstreiten muß 3 4 1 . Die Neugründung des französischen Staates auf die 331 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte, S. 57 ff.; Leisner, in: FS. Liermann 117 f.; v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 38. 332 Vgl. Arendt, Über die Revolution, S. 212; Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 214; Henke, Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 63; Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 57. 333 Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 114; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte, S. 76 ff.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 53. 334 Vgl. oben 1. Teil, A.III. 33 5 Vgl. insbesondere Η Hintze, Staatseinheit und Föderalismus, S. 78 ff., 142 ff., 252. 336

Η Hintze, Staatseinheit und Föderalismus, S. 184 ff. H. Hintze, Staatseinheit und Föderalismus, S. 182 ff., 184; vgl. auch Breuer, ARSP 70 (1984), S. 495 (501). 337

338 H. Hintze, Staatseinheit und Föderalismus, S. 316; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 338. 339 Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 379 f.; H. Hintze, Staatseinheit und Föderalismus, S. 316,318, 324. 340 H. Hintze, Staatseinheit und Föderalismus, S. 317, 322; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 371. 341 Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 371.

C. Rezeption in Deutschland

67

Volkssouveränität hat damit zugleich zur Durchsetzung der vom monarchischen Absolutismus begonnenen Entwicklung zum zentralistischen Staat geführt.

C. Rezeption der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt in Deutschland Die Diskussion der Berichte über den Unabhängigkeitskampf und der Errichtung der ersten demokratischen Verfassungsstaaten der Neuzeit in Nordamerika haben, wie Valjavec gezeigt hat 3 4 2 , wesentliche Bedeutung für das Entstehen der modernen politischen Strömungen und republikanischer Anschauungen in Deutschland zwischen 1770 und 1815 gehabt 343 . Die verfassungstheoretische Wirkung der amerikanischen Vorgänge in Deutschland scheint dagegen sehr begrenzt gewesen zu sein 344 : Zum einen war ein wichtiger Teil des deutschen Frühliberalismus und Frühkonstitutionalismus durch das Vorbild der englischen Verfassung und die dynastische Verbindung zwischen England und Hannover bestimmt, was auch die Position zu den gegen die englische Krone rebellierenden Kolonisten beeinflußte 345. Zum anderen überblendete bereits gut ein Jahrzehnt nach der Unabhängigkeitserklärung und unmittelbar nach der Neukonstituierung der USA von 1787 / 89 die Französische Revolution mit ihren das europäische Denken umfassend umgestaltenden Wirkungen die amerikanischen Ereignisse 346. Das Staatsdenken der Französischen Revolution kommt vor allem auch 347 in der Fassung der intensiv rezipierten Schriften Sieyès' 348 nach Deutschland. Die Beru342 Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770 - 1815, S. 147 ff., 150. 343 Vgl. auch Angermann, Der deutsche Frühkonstitutionalismus und das amerikanische Vorbild, HZ 119 (1974), S. 1 (3 [m.w.N. Fn. 4], 5 ff., 30); Pieroth, NJW 1989, S. 1333; Steinberger, 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung, S. 9; v. Unruh, DVB1. 1976, S. 455; Th. Würtenberger, Aufklärung 3 (1988), S. 53 (55, 72). 344 Skeptisch in bezug auf einen direkten Einfluß des amerikanischen Verfassungsdenkens des ausgehenden 18. Jahrhunderts auf die zeitgenössische deutsche Staatstheorie jetzt vor allem Dippel, Die amerikanische Verfassung in Deutschland, S. 12, 14. 345 Vgl. Valjavec, Entstehung der politischen Strömungen, S. 148 f.; Palmer, Age of the Democratic Revolution, Bd. I, S. 265. 346 Vgl. ζ. Β. Wahl, HStR I, § 1, Rn. 4 („... gerieten sozusagen ins Gravitationsfeld des französischen Geschehens und der Ideen von 1789"); Pieroth, NJW 1989, S. 1333; Steinberger, 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung, S. 13; E.-W. Böckenförde, HStR I, § 22, Rn. 3; Loewenstein, Volk und Parlament, S. 33; Dippel, Die amerikanische Verfassung in Deutschland, S. 15; Th. Würtenberger, Aufklärung 3 (1988), S. 53 (72). 347 Zu daneben auch fortwirkenden Kontinuitäten der verfassungpolitischen Diskussion in Deutschland seit der Rezeption des französischen Staatsdenkens der Aufklärung in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts vgl. Th. Würtenberger, Staatsverfassungen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, S. 85 (101).

5:

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

fung auf die Volkssouveränität hatte aber nach 1793 gewissermaßen ihre Unschuld verloren, bevor sie in Deutschland hatte praktisch werden können; die deutsche national-liberale Bewegung hatte sich auch in der Abgrenzung gegen die machtpolitische Expansion Frankreichs definiert und im Befreiungskrieg bewähren müssen. Das deutsche politische und konstitutionelle Denken war danach immer schon ein reflektiertes, auf den Gang der Französischen Revolution - das heißt auch deren Abirren in Terror und Diktatur - bezogenes Denken 349 . Für den deutschen Frühkonstitutionalismus wurde das französische Verfassungsdenken besonders über die Charte Constitutionelle von 18 1 4 3 5 0 wichtig 3 5 1 . Die monarchische Restauration der Bourbonen versuchte die Lehre vom pouvoir constituant zu instrumentalisieren und den Monarchen zum Träger des pouvoir constituant zu erklären 352 . Böckenförde hat - im Anschluß an Hermann Heller 353 - aufgezeigt, daß es sich hierbei um die künstliche Übertragung eines originär revolutionären, demokratischen Begriffs auf eine eigentlich auf gänzlich anderen Legitimitätsgrundlagen ruhende Ordnung handelt und daß die Theorie vom pouvoir constituant des Monarchen eher die prägende Kraft der in der Französischen Revolution hervorgetretenen Ordnungsprinzipien zeigt, als daß sie zur Erklärung der Verfassunggebung im Konstitutionalismus beitzutragen vermag 354 . Der Konstitutionalismus bezieht seine Legitimität gerade nicht aus einer einheitlichen Quelle, sondern lebt im und vom Dualismus von monarchischem Staat und bürgerlich-demokratischer Gesellschaft 355. Verfassunggebung durch eine konsti348 Vgl. Pasquino , Die Lehre vom „pouvoir constituant" bei Emmanuel Sieyès und Carl Schmitt, in: Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum, S. 372 (373, Fn. 6); Dann, Vorwort zu: Sieyes, Was ist der dritte Stand? S. 22. Zur Verfassungstheorie des Abbé Sieyès vgl. oben 1. Teil, Kapitel B. 349 Wahl, HStR I, § 1, Rn. 6; vgl. auch Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 293; Dippel, Die amerikanische Verfassung in Deutschland, S. 17; Starck, JZ 1989, S. 601 (605); Th. Würtenberger, Aufklärung 3 (1988), S. 53 (86); ders., Staatsverfassungen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Wendemarken deutscher Verfassungsgeschichte, S. 85 (99, 101 f., 106 f.); Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 - 1866, S. 631. 350 Vgl. Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte, S. 78. 351

Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866, S. 114; Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 198; Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 107 f.; Wahl, HStR I, § 1, Rn. 3. 352

Vgl. E.R. Huber, Legalität, Legitimität und Juste Milieu, in: ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat, S. 71 (83). 3 3 * Heller, Staatslehre, S. 278. 354 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 12 f.; vgl. auch Pasquino, Die Lehre vom „pouvoir constituant" bei Emmanuel Sieyès und Carl Schmitt, in: Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum, S. 372 (383). 3 55 Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 (494); ders., Der Staat 18 (1979), S. 321 (347); Wahl/Rottmann, Bedeutung der Verfassung, in: Conze/Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 339 (347, 351); E.R. Huber, Legalität, Legitimität und Juste Milieu, in: ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat, S. 71 (72, 74); Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 140.

C. Rezeption in Deutschland

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tuierende Volksvertretung war dem deutschen Frühkonstitutionalismus versperrt. Verfassungen kamen durch Oktroi des Fürsten oder durch Vereinbarung zwischen Monarch und Ständen zustande356. Besonders das der amerikanischen und französischen Theorie der Verfassunggebung zugrundeliegende Prinzip der Volkssouveränität fand in Deutschland keine Entsprechung 357: Art. 57 der Wiener Schlußakte schrieb vielmehr das monarchische Prinzip für alle Bundesglieder fest 358 . Unter den Bedingungen der konstitutionellen Monarchie entfaltet die Lehre vom pouvoir constituant ihre den Souverän begrenzende Wirkung mit geänderter Zielrichtung: wenn auch der Monarch als Inhaber des pouvoir constituant die Verfassung gibt, so ist er doch anschließend, so die dem Rücknahme verbot des Art. 56 der Wiener Schlußakte359 korrespondierende Lehre v. Rottecks, als pouvoir constitué an die von ihm gegebene Verfassung gebunden360. In der Zeit der Restauration ab 1820 wird Amerika zum Vorbild für die in Opposition stehende demokratische und nationale Bewegung 361 . Autoren wie Welcker und Mohl orientieren sich am amerikanischen Verfassungsdenken 362. Robert Mohls 1824 erschienenes „Bundesstaatsrecht der Vereinigten Staaten" vermittelt die amerikanische Vorstellung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und der Verfassunggebung durch Konvente 363 . Aus dem Gedankengebäude der amerikanischen Verfassungsbewegung und der Federalists findet aber vor allem die amerikanische Bundesstaatslehre Eingang in das deutsche Staatsdenken des Frühkonstitutionalismus 364 : Die frühe deutsche Bundesstaatstheorie wurde über das von Robert

356 Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866, S. 111, 145, 161; Wahl, HStR I, § 1, Rn. 9; vgl. auch Engelbert, Konstitutionalismus in den deutschen Kleinstaaten, in: E.W. Böckenförde (Hrsg.), Probleme des Konstitutionalismus, S. 103 (106); Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 198, 200; E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 642. 357 Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 113; Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 213; Starck, JZ 1989, S. 601 (606). 358 Vgl. Angermann, HZ 219 (1974), S. 1 (15); Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 114 f.; Engelbert, Konstitutionalismus in den deutschen Kleinstaaten, in: E.W. Böckenförde (Hrsg.), Probleme des Konstitutionalismus, S. 103 (114); E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 652 ff. 359 Vgl. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 115, 135. 360 Grimm, Der Verfassungsbegriff in historischer Entwicklung, in: ders., Zukunft der Verfassung, S. 101 (132 f.); vgl. auch E.-W. Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie, in: ders., Recht-Staat-Freiheit, S. 273 (279). 361 Pieroth, Amerikanischer Verfassungsexport nach Deutschand, NJW 1989, S. 1333; Angermann, Der deutsche Frühkonstitutionalismus und das amerikanische Vorbild; HZ 219 (1974), S. 1 (16); Steinberger, 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung, S. 14 f. 362 Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 (491); Angermann, HZ 219 (1974), S. 1 (19 f., 16 f.); v. Unruh, DVB1. 1976, S. 455 (456); Deuerlein, Föderalismus, S. 77 f. 363 Mohl, Bundes-Staatsrecht der Vereinigten Staaten, S. 133 ff.; vgl. dazu Angermann, HZ 219 (1974), S. 1 (17); Wahl / Rottmann, Bedeutung der Verfassung, in: Conze / Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 339 (349 f.).

70

1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

v. Mohl 3 6 5 und Georg Waitz 3 6 6 - bei diesem vermittelt durch Tocquevilles an den Federalist Papers orientierte 367 Untersuchung der amerikanischen Demokratie 368 rezipierte Modell der amerikanischen Bundesverfassung wesentlich beeinflußt 369 . Brie kann später von „der schon lange auch in Deutschland als Muster einer bundesstaatichen Ordnung gefeierten Unionsverfassung" 370 sprechen. Auf die verfassunggebende Gewalt des Volkes beruft sich in Deutschland erstmals die Verfassungsbewegung des Jahres 1848 371 . Das Frankfurter Vorparlament schreibt Wahlen zu einer „constituierenden (deutschen) Nationalversammlung" aus 372 . Den Auftrag und die Legitimation der Nationalversammlung beschreibt deren Präsident Heinrich v. Gagern in der Eröffnungssitzung ganz im Sinne der amerikanischen und französischen Lehre vom pouvoir constituant: „Wir sollen schaffen eine Verfassung für Deutschland, für das gesamte Reich ... Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung, sie liegen in der Souveränität der Nation" 3 7 3 . Die Reichsverfassung vom 28. 3. 1849 wird dann allein durch die Verfassunggebende Nationalversammlung auf der Grundlage der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ohne Volksabstimmung oder Ratifikation durch die Bundesstaaten beschlossen374; sie beginnt mit den Worten: „Die deutsche verfassunggebende Nationalversammlung hat beschlossen"375. Die Frage, inwieweit die Regierungen der 364 Angermann, HZ 219 (1974), S. 1 (13 f.); v. Unruh, DVB1. 1976, S. 455 (457); Deuerlein, Föderalismus, S. 50; Dippel, Die amerikanische Verfassung in Deutschland, S. 23; Steinberger, 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung, S. 15; Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 171. 365 Mohl, Das Bundes-Staatsrecht der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, 1824; vgl. dazu Dippel, Die amerikanische Verfassung in Deutschland, S. 27 ff. 366 Waitz, Grundzüge der Politik, S. 153 ff.; die dortigen Passagen gehen auf einen schon 1853 erschienen Aufsatz zurück, vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 92 Fn. 1.; Deuerlein, Föderalismus, S. 89 ff.; Bar schei, Staatsqualität, S. 14 f. 367 Brie, Der Bundesstaat, S. 95, 101 Fn. 35; vgl. auch Barschel, Staatsqualität, S. 13. 368 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 126 ff. (8. Kapitel); zum Vermittlungszusammenhang vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 93; W Schmidt, AÖR 87 (1962), S 254 (267); Kalkbrenner, in: FS. v.d. Heydte, S. 907 f.; Deuerlein, Föderalismus, S. 56, 59, 61 f. 369 Brie, Der Bundesstaat, S. 92 ff.; W. Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 254 (267). 370 Brie, Der Bundesstaat (1874), S. 94. 371 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 14; Starck, JZ 1989, S. 601 (608). 372 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 15 (Fn. 17). 373 zit. Dann, Nation, S. 122; E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 621; vgl. auch Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 - 1866, S. 613. 374 Vgl. Angermann, HZ 219 (1974), S. 1 (27); Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 201; E.R. Huber, HStR I, § 2, Rn. 11; vgl. auch Deuerlein, Föderalismus, S. 85, zur ablehnenden Stellungnahme der bayerischen Regierung; sowie Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 185, zur Note der preußischen Regierung, der sich 27 Kleinstaaten anschlossen. 375 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 15 (Fn. 17); vgl. auch Wahl, HStR I, § l,Rn. 17.

C. Rezeption in Deutschland

71

Einzelstaaten an der Verfassunggebung zu beteiligen gewesen wären, gehört schon 1848/49 zu den umstrittenen Fragen und ihre Ungelöstheit gehört mit zu den Bedingungen des Scheiterns der bürgerlichen Revolution in Deutschland376. Neben der Verfassunggebung beschäftigt sich die Frankfurter Nationalversammlung mit normalen Geschäften der Staatsleitung377. Sie setzt eine provisorische deutsche Regierung ein, der es freilich gerade im Verhältnis zu den fortbestehenden Einzelstaaten an Machtmitteln gebricht und die von den außerdeutschen Mächten - mit Ausnahme der USA - nicht anerkannt wird 3 7 8 . In den Debatten in der Paulskirche wird häufig auf das Beispiel der amerikanischen Verfassung Bezug genommen379. Insbesondere in der Frage der föderalistischen Ausgestaltung des Verhältnisses der fortbestehenden Gliedstaaten zum Reich ist eine Übernahme amerikanischer Verfassungselemente festzustellen 380. Parallel zum Geschehen in Frankfurt hatten auch auf der Ebene der Staaten Revolutionen stattgefunden und es war in Wien und Berlin zu eigenen Verfassunggebenden Versammlungen gekommen 381 . Die preußische Nationalversammlung beschloß einen eigenen, auf der Volkssouveränität basierenden Verfassungsentwurf, der aber durch die oktroyierte preußische Verfassung vom 5. 12. 1848 ersetzt wird 3 8 2 . Nach dem Scheitern der Revolution im Jahre 1850 hat die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in Deutschland bis zum Durchbruch des Prinzips der Volkssouveränität in der Revolution von 1918 und in der Weimarer Verfassunggebung von 1919 zunächst keine Bedeutung mehr erlangt 383 . Zwar kommt es 376

Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 182, 185; Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 204 f.; Dann, Nation, S. 121, 128; E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 620 ff. 377

Die Kritik von Angermann, HZ 219 (1974), S. 1 (28), beruht auf einer selektiven Rezeption der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und der amerikanischen Praxis der Verfassunggebung; vgl. dazu oben 1. Teil, A.II.3. 378 Forsthoff \ Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 121 f.; Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 182 f.; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 - 1866, S. 615, 623. 379 Pieroth, NJW 1989, S. 1333; Steinberger, 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung, S. 16; Deuerlein, Föderalismus, S. 82; Dippel, Die amerikanische Verfassung in Deutschland, S. 43; vgl. auch Ellwein, Der Einfluß des nordamerikanischen Bundesverfassungsrechts auf die Verhandlungen der Frankfurter Nationalversammlung, S. 129 ff. 3 »o Pieroth, NJW 1989, S. 1333 (1334); Steinberger, 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung, S. 17; Kalkbrenner, FS. v.d. Heydte, S. 871 (907); Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 183 f.; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 - 1866, S. 653; Dippel, Die amerikanische Verfassung in Deutschland, S. 43, der den tatsächlichen Einfluß des amerikanischen Vorbildes aber relativiert, vgl. ebd. S. 36 f., 45. 381

Vgl. Dann, Nation, S. 122; Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 253. 382 Vgl. Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 128 f.; Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 253, 255; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 - 1866, S. 647 ff. 383 Vgl. Wahl, Der Staat 30 (1991), S. 181 (204); Dippel, Die amerikanische Verfassung in Deutschland, S. 59.

7 2 1 .

Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

in Preußen 384, bei dem von Preußen 1849 / 50 betriebenen Projekt einer kleindeutschen Einigung unter monarchischem Vorzeichen in der Deutschen bzw. Erfurter Union 3 8 5 , 1867 im Norddeutschen Bund 3 8 6 und dann 1871 im Deutschen Reich 387 zu nachträglichen Beteiligungen der Volksvertretungen an der Verfassunggebung. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 kommt mit einem extra für die Verfassungsberatung gewählten Reichstag388 sogar in weitgehender äußerlicher Anlehnung an die Form und Spezialität einer Verfassunggebenden Versammlung zustande. Die preußische Verfassung vom 31.1. 1850 beruhte aber, wenn sie sich auch inhaltlich an die von der preußischen Nationalversammlung verabschiedetete „Charte Waldeck" anlehnte 389 , auf dem monarchischen Prinzip, nämlich auf dem Oktroi von 1848 sowie der königlichen Endredaktion und Sanktion des von den auf der Grundlage der oktoyierten Verfassung gebildeten Kammern revidierten Textes 390 Die 1850 vom Parlament der Erfurter Union beschlossene Verfassung hätte auf einer Vereinbarung, letztlich aber ebenfalls auf dem monarchischen Prinzip beruht 391 . Die nach dem militärischen Sieg von 1866 und der Auflösung des Deutschen Bundes vom preußischen Ministerpräsidenten entworfene Verfassung des Norddeutschen Bundes wurde aufgrund der Vereinbarung im Bündnisvertrag vom 18 . 8. 1866 392 zunächst einer Konferenz der einzelstaatlichen Regierungen vorgelegt 3 9 3 , danach vom verfassungsberatenden norddeutschen Reichstag in Einzelpunkten modifiziert und angenommen394 und trat in Kraft, nachdem die Landtage 384

Vgl. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 214; Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 130; Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 255 f.; vgl. auch Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 (495). 385

Vgl. Dann, Nation, S. 128; Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 212 ff.; Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 187. 386 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 - 1918, Bd. 2, S. 42; Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 271; Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 147; E.R. Huber, in: E.-W. Böckenförde (Hrsg.): Moderne deutsche Verfassungsgeschichte 1815 1914, S. 171 (176, 178 f.); v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 44. 387 Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 150; E.R. Huber, in: E.-W. Böckenförde (Hrsg.): Moderne deutsche Verfassungsgeschichte 1815 - 1914, S. 171 (176, 178 f.). 388 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 - 1918, Bd. 2, S. 42; Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 147. 389

Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 215. 0 Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 214 ff.; Wahl, HStR I, § 1, n. 20 f.; Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 255. 39

391

Gimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 212; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800- 1866, S. 671. 392 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 - 1918, Bd. II, S. 39; Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, S. 3. 393 Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 271; Forsthoff, schichte, S. 147; Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, S. 5.

Deutsche Verfassungsge-

C. Rezeption in Deutschland

73

der Mitgliedstaaten zugestimmt hatten 395 . Das Deutsche Reich entstand am 1. 1. 1871 mit dem Inkrafttreten der Beitrittsverträge 396 der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund, die auch die Umformung und Ergänzung der Verfassung des Norddeutschen Bundes zur neuen Bundesverfassung vorsahen 397. Bei allem Streit um den (staatenbündischen oder bundesstaatlichen398) Charakter des Staates von 1871 stand - trotz der Zustimmung des ersten Reichstages zur Verfassung 399 - außer Frage, daß diese jedenfalls nicht auf der verfassunggebenden Gewalt des Volkes beruhte 400 . Die erste deutsche Verfassung, die auf der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und der Volkssouveränität beruht, ist die Weimarer Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 401 . Sie wird durch eine im ganzen Deutschen Reich in freien, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen bestimmte Verfassunggebende Nationalversammlung beschlossen402; eine plebiszitäre Bestätigung wurde nicht für notwendig gehalten 403 . Nach der Präambel hat sich „Das Deutsche Volk ... diese Verfassung gegeben"; Artikel 181 WRV lautet: „Das deutsche Volk hat durch seine Nationalversammlung diese Verfassung beschlossen und verabschiedet". Die Revolution und das Ende der Monarchie im Reich hatten auch 1918 ihre Parallele in den Gliedstaaten gefunden 404. Über den von der Revolution nicht beseitigten Bundesrat wirken noch nach dem 9. 11. 1918 die Länder an der Willensbildung im Reich mit 4 0 5 . Auf einer Reichskonferenz des Rates der Volksbeauftrag394 Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 272; Forsthoff', Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 147; Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, S. 5. 395 Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 273; Forsthoff\ Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 148; Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, S. 6. 39 6 Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 149; Wahl, Der Staat 30 (1991), S. 181 (195 ff.); Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, S. 11 ff. 397 Vgl. Wahl, Der Staat 30 (1991), S. 181 (196 f., 203). 398

Vgl. dazu auch unten 3. Teil, Kapitel A. Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 150; Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, S. 14; vgl. auch E.R. Huber, Die Bismarcksche Reichsverfassung, in: E.W. Böckenförde (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, S. 171 (176, 178); ders., HStR I, § 2, Rn. 14 f., der hierauf seine Sicht der Reichsverfassung als einer „vereinbarten Verfassung" stützt. 400 Vgl. E.R. Huber, Die Bismarcksche Reichsverfassung, in: E.-W. Böckenförde (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, S. 171 (175 f., 181); jetzt auch ders., HStR I, § 2, Rn. 9 f., 13; Kriele, Staatslehre, S. 307; Wahl, Der Staat 30 (1991), S. 181 (204). 401 Vgl. E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 15; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 57 ff.; Quaritsch, HStR VIII, § 193, Rn. 3; Häberle, AÖR 112 (1987), S. 54 (65); E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, § 1 (S. 5 ff.). 4 02 Vgl. H Schneider, HStR I, § 3, Rn. 4, 6 f. 399

403

Vgl. ζ. Β. v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 39. 04 Vgl. ζ. B. Grawert, Der Staat 28 (1989), S. 481 (483 f.). 4 05 H. Schneider, HStR I, § 3, Rn. 5. 4

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1. Teil: Verfassunggebende Gewalt in der westlichen Verfassungstradition

ten mit den revolutionären Landesregierungen gewinnt Ebert am 25. 11. 1918 deren Unterstützung im Kampf für die Einberufung einer konstituierenden Nationalversammlung 406 gegen das konkurrierende Konzept einer Konsolidierung der Räterepublik 407 . Das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. 2. 1919 erkennt die Existenz der Länder formell an und sichert deren Mitwirkung an der Verfassunggebung über den Staatenausschuß408. Die in den Ländern beschlossenen Verfassungen berufen sich ihrerseits auf die verfassunggebende Gewalt des Volkes 4 0 9 Verfassungstheoretisch wird dagegen noch in der Weimarer Republik - entgegen vereinzelten Ansätzen 410 zur Überwindung des dem Konstitutionalismus verhafteten Staatsdenkens - von der positivistisch orientierten herrschenden Meinung der zeitgenössischen Staatsrechtslehre 411 die Existenz einer besonderen verfassunggebenden Gewalt und der Vorrang der Verfassung gegenüber den von der ordentlichen Volksvertretung beschlossenen Gesetzen bestritten 412 . Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 beruft sich dann ausdrücklich auf Legitimation durch die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes 413 . Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ist damit in der Ordnung des Grundgesetzes Bestandteil des geltenden Staatsrechts und der Verfassungstheorie geworden. Ihre Gehalte und die Verbindung dieser Lehre mit der föderativen Struktur der Bundesrepublik Deutschland werden im 2. und 3. Teil dargestellt.

406 H. Schneider, HStR I, § 3, Rn. 6. 407 H. Schneider, HStR I, § 3, Rn. 2. 408 Grawert, Der Staat 28 (1989), S. 481 (501 f.); H. Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, S. 256; Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 100; H. Schneider, HSTR I, § 3, Rn. 11; v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 44 f. 409 Vgl. Häberle, AÖR 112 (1987), S. 54 (66, Fn. 40). 410 Vor allem Heller, Staatslehre, S. 228 ff.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. XI; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 119 ff.; vgl. E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, § 2II.l.b (S. 16 f.). 411 Vgl. hierzu E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, § 1II.1. (S. 8 ff.); Dreier, JZ 1994, S. 741 (743). 412 Vgl. ζ. B. Anschütz, Reichsverfassung, S. 401 (Art. 76, Anm. 1); vgl. dazu auch Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 (492 f.).; Wahl/Rottmann, Bedeutung der Verfassung, in: Conze / Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 339 (355); Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 f.; Dreier, JZ 1994, S. 741 (743, 747). 413 Vgl. i.E. unten Vorb. zum 2. Teil und 3. Teil, B.IV.

D. Zwischenergebnis

75

D. Zwischenergebnis Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und die Verfassunggebung durch besondere Verfassunggebende Versammlungen gehört zum Gemeingut der westlichen Verfassungstradition. Sie ist mit der Konstituierung der ersten modernen Verfassungsstaaten auf der Grundlage der Volkssouveränität in Nordamerika voll ausgeprägt und steht dort von Anfang an in einem föderativen Kontext. Sie wird von der Verfassungstheorie der Französischen Revolution aufgenommen und in Deutschland vor allem in ihrer französischen Ausprägung rezipiert. Von dem in der nordamerikanischen Verfassungsbewegung vorhandenen engen Zusammenhang zwischen verfassunggebender Gewalt des Volkes und Föderalismus ist in der französischen Entwicklung die föderative, in Deutschland - bis 1918/19 - die demokratische Komponente in den Hintergrund getreten.

2. Teil

Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt Die Fragen der Verfassungsentstehung werden in der rechtswissenschaftlichen Literatur überwiegend unter Hinweis auf die verfassunggebende Gewalt des Volkes beantwortet1, soweit sie überhaupt gestellt und reflektiert werden und Verfassung nicht als etwas Gegebenes stillschweigend vorausgesetzt oder aber als etwas Aufgegebenes 2 betrachtet wird, das ständig zustande gebracht werden muß. In normalen Zeiten gesicherter Verfassungsgeltung scheint der Ursprung der Verfassung von nachrangigem Interesse zu sein3; das Nachdenken über Herkunft und Geltungsgrund der höchsten Norm der Rechtsordnung wandert aus dem Zentrum der staatsrechtlichen Argumentation in die Grundlagenfächer ab. Fenster der Aufmerksamkeit tun sich in Phasen grundlegenden Wandels auf 4: wenn die Grundlagen der Verfassungsordnung in Frage stehen, muß auch die Staatsrechtslehre und das Verfassungsrecht darauf befragt werden, ob es über seine eigenen Entstehungs- und Geltungsbedingungen etwas auszusagen hat oder ob es vor diesen Fragen aufhört. In der deutschen Rechtswissenschaft nach 1949 ist dem Nachdenken über die verfassunggebende Gewalt eine gewisse dauernde Beachtung in Kommentaren5 und Lehrbüchern 6 dadurch gesichert, daß die Präambel7 zum Grundgesetz für die 1

Vgl. die unten eingangs Kapitel B.I. genannten Stimmen in der Literatur. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, § lIII.5.a (Rn. 42); v. Wedel, Demokratische Verfassunggebung, S. 24 f. 2

3 Ebenso Roellecke, JZ 1992 (929); Badura, FS. Scheuner, S. 19 (21); Henke, Der Staat 7 (1968), S. 165 (165). 4 Vgl. hierzu Henke, Der Staat 7 (1968), S. 165; ders., Der Staat 31 (1992), S. 265 (268). 5 Vgl. z. B. Maunz, in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Präambel, Rn. 5 ff.; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG-Komm., Präambel, Rn. 8; v. Münch, in: v. Münch / Kunig, GG-Komm., Präambel, Rn. 19; Bryde, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 79, Rn. 3; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG-Komm., Art. 79, Rn. 1, und Art. 20, Rn. 4; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl., Präambel, Rn. 8; v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., Präambel, Anm. VIII.; Model/Müller, GG-Komm., Präambel, Rn. 3. 6 Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, § 61 (S. 33 ff.); Stein, Staatsrecht, § 2 III (S. 11 f.); Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, § 1 III.5.a (Rn. 42); Schramm, Staatsrecht III, S. 59; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I (S. 143 ff.). 7 Nach E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 23, hat das Grundgesetz darüberhinaus in Art. 79 Abs. 3 und Art. 146 die Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoir constitué „bewußt aufgenommen".

2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

Bundesrepublik Deutschland - sowohl in ihrer ursprünglichen, als auch in der durch den Einigungsvertrag geänderten Form - die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes anruft und dadurch zu einem Begriff auch des positiven Verfassungsrechts8 macht. Von großer Bedeutung für die Wirkung der Theorie der verfassunggebenden Gewalt innerhalb des Rechts der Bundesrepublik Deutschland war nicht zuletzt, daß es auch unabhängig von den positivrechtlichen Erwähnungen im Grundgesetz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgegriffen wurde 9. Bereits in der „Südweststaatsentscheidung" aus dem Jahre 1951, der ersten grundlegenden Entscheidung des Gerichts nach seiner Errichtung, wurden die Aspekte der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes beziehungsweise des pouvoir constituant in das deutsche Verfassungsrecht eingeführt und unmittelbar als Maßstab angewendet. Mit der Revolution in der DDR und der nachfolgenden Wiedervereinigung in den Jahren 1989 / 90 wurde das Thema der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ebenso unerwartet wie diese Ereignisse und gleich auf dreifache Weise aktuell: Als pouvoir constituant betätigten sich die Deutschen in der DDR, als sie den Staat der SED beseitigten und über den Verfassungszustand des sogenannt demokratischen Zentralismus hinweggingen10. Ob auf dem durch Artikel 146 GG (a.F.) vorgezeichneten Weg die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes in der Situation der Wiedervereinigung zu einer Neukonstituierung aufgerufen war oder ob sich diejenigen Deutschen, denen am Verfassungswerk von 1949 „mitzuwirken versagt war" 11 , mit der von den damals handelnden Teilen des gesamtdeutschen pouvoir constituant mit dem Anspruch, auch für sie treuhänderisch gehandelt zu haben, geschaffenen Verfassung identifizieren könnten, war die große verfassungspolitische und verfassungsrechtliche Frage des Jahres 199012. Schließlich wurde die Frage der Verfassunggebung in den mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 im beigetretenen Teil Deutschlands neugebildeten Ländern akut, sobald diese sich als Verfassungsstaaten zu konstituieren begannen13.

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Vgl. ζ. B. Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 14. 9 BVerfGE 1, 14 (61 f.) [Südweststaat]; 3, 225 (232) [Ausbürgerungen]; 83, 37 (51) [Ausländerwahlrecht Schleswig-Holstein]; 89, 155 (180) [Maastricht]. 10 Vgl. ζ. B. Quaritsch, Verw.A. 83 (1992), S. 314 (316, 319 f.); Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, S. 25; Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 19; ders., HStR VIII, § 197, Rn. 25 f.; Luchterhandt, HSTR VIII, § 185, Rn. 7, 10; Th. Würtenberger, HStR VIII, § 187, Rn. 33,41. 11 So die Formulierung der ursprünglichen Präambel zum Grundgesetz. 12 Vgl. Tomuschat, VVDStRL 40 (1990), S. 70 (74, 88); Isensee, VVDStRL 40 (1990) S. 39 (48); ders., ZParl 1990, S. 309 (316 ff.); Rauschning, DVB1. 1990, S. 393 (400 f.); E. Klein, NJW 1990, S. 1065 (1069); Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 20; ders., HStR VIII, § 197, Rn. 37. 13 Vgl. dazu bereits Boehl, Landesverfassunggebung im Bundesstaat - Zur Neukonstituierung der Länder im beigetretenen Teil Deutschlands, Der Staat 30 (1991), S. 572 (585 ff.).

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

Der unverkennbaren Aktualität und der Revitalisierung der Lehre vom pouvoir constituant in den letzten Jahren stehen aber auch kritische Stimmen gegenüber, die einen Abschied von dieser Vorstellung verlangen 14. Beides gibt Anlaß, sich mit dem rechtlichen Gehalt dieser Lehre in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes erneut auseinanderzusetzen und sie auf ihre Anwendbarkeit auf die besonderen Verhältnisse im Bundesstaat zu befragen. Im folgenden sollen zunächst - gewissermaßen als ein „allgemeiner Teil" zu den besonderen Fragen der Verfassunggebung im Bundesstaat - die im Zusammenhang mit der Verfassungsentstehung aufgeworfenen Fragen und die Antworten der Rechtswissenschaft, insbesondere die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes dargestellt und geklärt werden. Im 3. Teil werden dann die spezifisch bundesstaatlichen Fragen der Verfassunggebung untersucht.

A. Fragestellung und Problem Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes versucht, auf ein Bündel von Grundfragen und Theorieproblemen des demokratischen Verfassungsstaates eine zusammenhängende Antwort 15 zu formulieren. Zu den Grundfragen des Rechts- und Verfassungsstaates kommen demokratietheoretische Aspekte, die aus der Koppelung mit dem demokratischen Prinzip zum Typus der konstitutionellen Demokratie resultieren. Zielrichtung und Erklärungsleistung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes werden darum nur vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden Fragestellungen und Probleme deutlich. Bei der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt geht es zunächst um das, was als das „Rätsel des Anfangs und der nicht weiter ableitbaren Grundlage" 16, das „Wunder" der Verfassungsentstehung 17 und „das Rätsel der Entstehung und der verbindlichen Kraft der Gesetze"18 bezeichnet worden ist. Die Frage der Verfassungsentstehung wird dabei mit der Frage, woher die Verfassung ihre Geltungskraft und Wirkung hat 19 , dem „Ursprungsproblem der Rechtsgeltung"20, mit dem aufzuklärenden „Widerspruch zwischen dem Zuhöchstsein von Normen und der Notwendigkeit, Normen zu begründen" 21, verbunden. Sie wird zusammenhängend 14 Vgl. dazu unten 2. Teil, Kapitel C. ι 5 Den Antwortcharakter der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt betonen auch Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (194); ders., Der Staat 7 (1968), S. 165 (168); H.-P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 1; Roellecke, JZ 1992, S. 929 (933); ähnlich auch E.W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 8. 16 Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 (515). π Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (210). is Badura, FS. Scheuner, S. 19 (24); ähnl. auch Dreier, JZ 1994, S. 741 (713). » E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 7. 20 Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 150; Badura, FS. Scheuner, S. 19 (24); Haug, Grenzen der Verfassungsrevision, S. 88. 19

Α. Fragestellung und Problem

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als „Frage nach Ursprung und Geltungsgrund der rechtlichen Verfassung" 22 gestellt. Mit der Frage nach der Entstehung und derjenigen nach der Geltung und dem Geltungsgrund der Verfassung sind genaugenommen aber zwei verschiedene und gedanklich zu unterscheidende Grundfragen des Verfassungsstaates angesprochen. Die verfassungstheoretische 23 Frage nach dem Geltungsgrund der Verfassung ist nicht von vornherein identisch mit der genetischen Frage nach der Verfassungsentstehung, die ihrerseits je nach dem spezifischen Erkenntnisinteresse als eine verfassungsgeschichtliche oder als eine aktuelle, verfassungspolitisch-gesetzgebungstechnische gestellt werden kann. Die Frage nach dem Geltungsgrund als eine solche nach dem (legitimen) Ursprung 24 der Verfassung zu stellen, beinhaltet daher bereits eine theoretische Vorentscheidung, die für jene Theorien nicht nachvollziehbar oder jedenfalls nicht zwingend ist, welche den Geltungsgrund der Verfassung in deren ständiger Bewährung, Integrationsleistung und aktuellem Verfassungskonsens finden 25 . Auch die Theorien, für die die Frage nach dem Geltungsgrund nicht im Zusammenhang mit der nach dem Ursprung der Verfassung beantwortet werden kann, müssen aber die Frage nach legitimer Verfassungsentstehung jedenfalls im Zusammenhang einer Situation des Neubeginns beantworten 26. Andererseits stellen auch die neueren Lehren von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes die Frage nach dem Geltungsgrund und der Legitimität der Verfassung nicht allein auf den Ursprung, den Punkt der revolutionären Entstehung zusammengezogen27, sondern 21 Roellecke, JZ 1992, S. 929 (933); Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (192). 22 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 8. Auch bei Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 1.1 (S. 143 f.), werden die Frage, wem die Autorität „die Verfassung zu machen" zukommt, und die Frage der Legitimation zusammen angesprochen; vgl. auch Steiner, Verfassunggebung, S. 120 („eine Theorie der Verfassunggebung und Verfassungsgeltung"). 23 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 8, sieht die Frage nach dem Geltungsgrund als eine (auch) verfassungsrechtliche an. Zu den unterschiedlichen Aspekten, unter denen die Frage nach der verfassunggebenden Gewalt gestellt werden kann, vgl. E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 9; Henke, Der Staat 7 (1968), S. 165 (168); ders., Der Staat 19 (1980), S. 181 (191, 210). 24 Eine grundsätzliche Kritik der Argumentation mit dem „Ursprung" bei Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (194 - 198); vgl. auch ders., Recht und Staat, S. 605; vgl. ferner Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, S. 137, 141, zum geistesgeschichtlichen Hintergrund des Bezugs auf den Ursprung in der Staatsphilosophie des rationalistischen Naturrechts. 25 Vgl. Badura, FS. Scheuner, S. 19 (22, 37); ders., FG. BVerfG, S. 1 (9); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, § 1 III.5.a (Rn. 42 ff.); vgl. auch Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 74 ff., 53. 26 Oder sie setzen sich dem Vorwurf aus, wie der Positivismus ausgerechnet vor der entscheidenden Frage der Rechtsordnung „aufzuhören" und den grundlegenden Gegenstand ihrer eigenen Wissenschaft allein den realen politischen Mächten zu überantworten. 27 Kritisch zu dieser Vorstellung E.-W. Böckenförde, kes^. 17.

Verfassunggebende Gewalt des Vol-

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

fragen gerade auch nach dem Grund für das fortwährende „Getragensein" der ursprünglichen Verfassungsentscheidung durch die verfassunggebende Gewalt 28 . Daß es sowohl für die Frage der Verfassungsentstehung als auch für die Frage nach dem Geltungsgrund der Verfassung ein „Rätsel des Anfangs" gibt, ergibt sich aus dem Charakter der Verfassung als höchster Norm der Rechtsordnung. Wo es primär um die Frage der Entstehung geht, folgt das Problem aus der Sondersituation der Verfassunggebung, daß es vor und in Abwesenheit einer Verfassung keine Maßstäbe und Rechtserzeugungsregeln gibt, die für die einfache Rechtsetzung und für Verfassungsänderungen durch den verfassungsändernden Gesetzgeber aus der Verfassung folgen 29 . Sofern die Frage nach dem Geltungsgrund gestellt wird, ist das „Rätsel des Anfangs" ein Problem der Normenhierarchie. Das Normengefüge des einfachen Rechts steht auf der Grundlage der Verfassung. Es zieht seinen Geltungsanspruch aus der Setzung durch die kompetenten Verfassungsorgane in dem verfassungsrechtlich festgelegten Verfahren unter Beachtung verfassungsrechtlicher Grenzen und Inhaltsvorgaben 30. Gleiches gilt für punktuelle Änderungen des Verfassungsgesetzes durch den verfassungsändernden Gesetzgeber im verfassungsrechtlich vorgezeichneten besonderen Verfahren. Es handelt sich bei diesem Gebäude der Rechtsordnung um ein System von Ableitungen, welche letztlich auf die Verfassung und die von ihr statuierte materiale Wert- und formale Kompetenzordnung zurückführt. Die Begründungsmuster, die im Rahmen des Verfassungsstaates Legalität und damit normalerweise auch hinreichende Legitimität 31 vermitteln, versagen aber ausgerechnet - und notwendigerweise - wenn es um die Verfassung selber geht. Denn die Verfassung selber kann zur Begründung ihrer Legitimität nicht auf ihre Legalität, ihre Verfassungsmäßigkeit verweisen 32. Historisch vor und systematisch über der Verfassung als der höchsten Norm der Rechtsordnung gibt es kein positi28

E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 10, 11 (Fn. 8); ders., HStR I, § 22, Rn. 7; ähnlich auch Henke, Der Staat 31 (1992), S. 265 (270), wenn er als verfassunggebende Gewalt des Volkes „den Ort, von dem Zustimmung, Duldung, Ablehnung und Widerstand gegenüber der bestehenden Ordnung ausgehen" bezeichnet, wobei Zustimmung und Duldung offenbar keine einmalige Approbation, sondern fortdauerndes „Tragen" der Verfassung ist (vgl. auch schon Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (207) zur permanenten Wirkung der verfassunggebende Gewalt). Ähnlich auch Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 (515), der von den prekären Bedingungen der „Entstehung und Bewahrung" der Verfassung spricht. Vgl. auch Isensee, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. I, S. 63 (70: „auf stetige Erneuerung angewiesen"); Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 105 f. („immer neue Aktualisierung"). 29 Vgl. dazu Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (574 f.); Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (145); Haug, Grenzen der Verfassungsrevision, S. 87. 30 Vgl. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 30 f., 50, 53 ff., 58. 31 Vgl. z. B. Badura, FS. Scheuner, S. 19 (21 unter Hinweis auf Max Weber); vgl. auch Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 48 ff., 60; Kirchhof, HStR I, § 19, Rn. 20. 32 Vgl. Badura, FS. Scheuner, S. 19 (21); Roellecke, JZ 1992, S. 929 (932): „Die gesetzgebende Gewalt rechtfertigt sich aus der Verfassung. Aber woraus rechtfertigt sich die verfassunggebende Gewalt?"; ganz ähnlich zuvor schon Henke, Der Staat 7 (1968), S. 165 (169).

Α. Fragestellung und Problem

81

ves Recht, das die Entstehung der Verfassung regeln könnte und von dem diese ihren Geltungsanspruch ableiten könnte. Weder läßt sich die Verfassungsentstehung an einer vorangegangenen Verfassung messen, noch läßt sich von einer solchen ihre Legitimität herleiten bzw. ihre Rechtsgeltung ableiten33. Andernfalls würde es sich bei der Verfassunggebung lediglich um Verfassungsänderung der alten Verfassung handeln bzw. die Frage nach dem Geltungsgrund müßte für die vorhergegangene Verfassung, von der die Geltung abgeleitet werden soll, gestellt werden. Unter beiden Aspekten täte sich bei der Anknüpfung an den vorhergehenden Rechtszustand ein infiniter Regreß 34 auf, der in nachrevolutionärer, säkularisierter Zeit nicht durch den Hinweis auf unvordenkliche Tradition oder göttliche Stiftung zu beenden ist. Neben diesen sich aus der Verfassungsstaatlichkeit ergebenden Grundfragen sucht die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes eine Antwort auch auf die demokratietheoretische Grundfrage der konstitutionellen Demokratie zu geben. Die als „Verfassungsparadox" 35, „konstitutiven Widerspruch der Demokratie" 3 6 und „Grundaporie des Verfassungsstaates" 37 bezeichnete Frage resultiert aus dem Spannungsverhältnis von Demokratieprinzip und der im demokratischen Verfassungsstaat intendierten Dauerhaftigkeit und Verbindlichkeit der Verfassung. Wieso soll trotz der Anerkennung des Demokratieprinzips und angesichts des demokratischen Monismus 38 , der zwar noch die Unterscheidung und Balancierung verschiedener Staatsfunktionen („fonctions"), nicht aber eigentlich die Trennung realer, unterschiedlich gegründeter Gewalten („pouvoirs") im Montesquieuschen Sinne 39 kennt, die demokratische Mehrheit an die Verfassung gebunden sein bzw. nur eine numerisch qualifizierte Mehrheit die Verfassung ändern können40? Wieso steht die Mehrheit von gestern über der Mehrheit von heute, die Entscheidung der Vgl. auch Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 59; Isensee, Der Staat 20 (1981), S. 161 (161); Kirchhof HStR I, § 19, Rn. 8; Barbey, DÖV 1962, S. 566 (573). 33 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.d (S. 148 f.); Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Präambel, Rn. 5. 3 4 Vgl. auch Henke, Der Staat 7 (1968), S. 165 (172); Starck, FS. W. Geiger, S. 40 (42); Isensee, Der Staat 20 (1981), S. 161. 35

Graf Kielmansegg, FS. Hennis, S. 397 (397 ff.); vgl. auch Hofmann, Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht-Politik-Verfassung, S. 261 (292, 294 f.); Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (193); Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 (490); Dreier, JZ 1994, S. 741 (747 f.). 3 6 Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (193). 37 Badura, FS. Scheuner, S. 19 (25). 38 Vgl. Badura, FS. Scheuner, S. 19 (25); Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 (498); ders., HStR I, § 1, Rn. 39; Isensee, Der Staat 20 (1981), S. 161 (163). Vgl. auch Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.3.b (S. 151), zur Problematisierung der Tatsache, daß pouvoir constituant und pouvoir constitué auf dasselbe Volk zurückzuführen sind. 39 Vgl. E.-W. Böckenförde, HStR I, § 22, Rn. 87; ders., in: FS. F. Schäfer, S. 182 (188); Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 357 (Fn. 2). 40 Vgl. auch Dreier, JZ 1994, S. 741 (742).

6 Boehl

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

Gründerväter über der der Lebenden41? Die demokratietheoretische Grundfrage wird im demokratischen Verfassungsstaat, der das Demokratieprinzip als geltendes Verfassungsrecht positiviert, zugleich zu einer verfassungsdogmatischen Frage. Im Zusammenhang dieser Arbeit wird die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in erster Linie als eine Lehre von der Verfassungsentstehung befragt. Als Frage nach der richtigen Verfassungsentstehung wird diese Frage verfassungshistorisch und im Blick auf aktuelle und künftige Verfassungsentstehung gesetzgebungstechnisch, verfassungstheoretisch und teilweise auch - bei der Verfassunggebung auf Landesebene - verfassungsdogmatisch und verfassungsrechtlich zu stellen sein. Die verfassungstheoretische Frage nach dem Geltungsgrund der Verfassung und die demokratietheoretische nach der Möglichkeit einer Selbstbindung des „demos" in der Demokratie kommen dagegen nur als nachgeordnete Fragestellungen insofern in Betracht, als Verfassunggebung von vornherein vor dem Horizont stattfindet, daß sie nachfolgend daraufhin befragt werden wird, ob auf sie die Geltung der Verfassung abgestützt und ob über sie die Bindung der Mehrheit begründet werden kann. Soweit in der Literatur die verfassunggebende Gewalt des Volkes demgegenüber primär unter der verfassungstheoretischen Fragestellung nach dem Geltungsgrund der Verfassung behandelt wird, können wegen der Verknüpfung beider Fragestellungen in der Frage nach dem „Ursprung" der Verfassung Antworten auf das hier gestellte Problem erwartet werden. Die Frage nach der normativen Geltung der Verfassung geht „über die Erklärung des Zustandekommens hinaus" 42 , umfaßt aber die hier gestellte Frage der Verfassungsentstehung.

B. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes I. Begriff Die Rechtswissenschaft erklärt die Fragen der Verfassungsentstehung und des Geltungsgrundes der Verfassung ganz überwiegend anhand des Begriffs der verfassunggebenden Gewalt des Volkes43. Auch die Stimmen, die der Lehre von der ver41 Vgl. Graf Kielmansegg, FS. Hennis, S. 397 (398, 400); Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 26; Dreier, JZ 1994, S. 741 (748). 42 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 9; vgl. auch Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.3.a (S. 151: „ . . . vermag die Erzeugung der Verfassung ... zu erklären"). A.A. Badura, FG. BVerfG, S. 1 (9: „ . . . nicht eine Lehre von Kompetenzen zur Rechtserzeugung ... sondern eine ... Doktrin von der Legitimität einer Verfassung") demgegenüber ist aber zu bedenken, daß die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes von ihren amerikanischen Anfängen an und in ihrer Aktualisierung durch Sieyès in der französischen Staatstheorie seit der Revolution auf ganz konkrete rechtspraktische Bedürfnisse der Verfassunggebung orientiert war (vgl. dazu oben den 1. Teil, Kapitel A. und B.).

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

83

fassunggebenden Gewalt skeptisch oder ablehnend gegenüberstehen, erläutern die damit angesprochenen Grundfragen in der Regel unter (dann negativer) Bezugnahme auf den Begriff der verfassunggebenden Gewalt 4 4 . Das Grundgesetz gebraucht den Begriff ausdrücklich in der Präambel und implizit in seinem ursprünglichen Artikel 146 4 5 . Ebenso kennen einige Landesverfassungen dem Begriff oder der Sache nach die verfassunggebende Gewalt des Volkes 4 6 . Das Bundesverfassungsgericht hat den Begriff der verfassunggebenden Gewalt bzw. des pouvoir constituant gelegentlich aufgegriffen und seine rechtlichen Wirkungen näher bestimmt, ihn aber nicht definiert 4 7 . Was genau mit dem Begriff der verfassunggebenden Gewalt bezeichnet wird, der Gehalt der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des 43 Vgl. E.-W. Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1986; ders., Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR I, § 22, Rn. 5 ff.; Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978; Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1966, S. 67 ff.; Henke, Die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, 1957; ders., Die verfassunggebende Gewalt des Volkes in Lehre und Wirklichkeit, Der Staat 7 (1968), S. 165 ff.; ders., Staatsrecht, Politik und verfassunggebende Gewalt, Der Staat 19 (1980), S. 181 ff.; ders., Das Ende der Revolution und die verfassunggebende Gewalt des Volkes, Der Staat 31 (1992), S. 265 ff.; Maunz, Die verfassunggebende Gewalt im Grundgesetz, DÖV 1953, S. 645 ff.; ders., Deutsches Staatsrecht, S. 43 ff.; ders., in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Präambel, Rn. 5 ff.; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, § 61 (S. 33 ff.); Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I (S. 143 ff.); Stein, Staatsrecht, § 2 III (S. 11 f.); Isensee, HStR VII, § 166, R. 14; ders., in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. I, S. 63 (69). Bryde, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 79, Rn. 3; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG-Komm., Art. 20, Rn. 4, und Art. 79, Rn. 1; Kirchhof, Die Identität der Verfassung, HStR I, § 19, Rn. 15 ff.; Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, S. 13; H.-P. Schneider, Die verfassunggebende Gewalt, HStR VII, § 158; Häberle, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, AÖR 109 (1984), S. 54 ff.; Bartlsperger, Verfassung und verfassunggebende Gewalt im vereinten Deutschland, DVB1. 1990, S. 1285 ff.; Roellekke, Verfassungsgebende Gewalt als Ideologie, JZ 1992, S. 929 ff.; Storost, Das Ende der Übergangszeit - Erinnerung an die verfassunggebende Gewalt, Der Staat 29 (1990), S. 321 ff.; Sachs, Jus 1991, S. 985 (986); Schuppert, in: Starck (Hrsg.), Main Principles of the German Basic Law, S. 37 ff. Aus vorgrundgesetzlicher Zeit vgl. insbesondere: C. Schmitt, Verfassungslehre, § 8 (S. 75 ff.) und § 10 (S. 91 ff.); Heller, Staatslehre, 6. Aufl. 1983, S. 276, 314. 44

Evers, in: Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung Art. 79 Abs. 3, Rn. 77 ff., 88 f.; Badura, FS. Scheuner, S. 19 (25 ff.); vgl. jetzt ders., AÖR 115 (1990) S. 314, 320; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, § 1 III.5.a (Rn. 42); vgl. auch ders., Der unitarische Bundesstaat, S. 32; Grew e, Rechtsgutachten über die Rechtsgültigkeit des Artikels 41 der Hessischen Verfassung, S. 16 ff. Aus vorkonstitutioneller Zeit: Anschütz, Reichsverfassung, S. 401. 45 Zu dem durch den (verfassungsändernden) Einigungsvertragsgesetzgeber geschaffenen Art. 146 GG (n.F.) vgl. Isensee, HStR VII, § 166, Rn. 2, 7. 46 Die Verfassung des Landes Baden-Württemberg (1953) ist ausdrücklich vom Volk „kraft seiner verfassunggebenden Gewalt" erlassen worden; daß sich das jeweilige Landesvolk die Verfassung gibt, bringen zum Ausdruck die Verfassung des Freistaates Bayern (1946) und die Verfassung für Rheinland-Pfalz (1947). Die Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen (1950) haben sich „die Männer und Frauen des Landes" gegeben; vgl. dazu entstehungsgeschichtlich Grimm, in: ders. / Papier, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (14 f.). 4

? BVerfGE 1, 14 (61 f., 17 - Leitsatz 21 -) [Südweststaat]; 3, 225 (232) [Ausbürgerungen]; 83, 37 (51) [Ausländerwahlrecht Schleswig-Holstein]; 89, 155 (180) [Maastricht]. 6*

84

2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

Volkes und deren rechtliche Bedeutung wird in der Rechtswissenschaft durchaus unterschiedlich beurteilt. Die Verfassung verdankt - jedenfalls insofern besteht Einigkeit unter denjenigen, die mit dem Begriff der verfassunggebenden Gewalt operieren - ihre Entstehung und Geltung irgendwie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Gegenstand der verfassunggebenden Gewalt ist es, „Grundentscheidungen über die politische Existenz des Volkes" und die staatliche Ordnung zu treffen 48, die Verfassung zu schaffen, zu erzeugen 49, hervorzubringen 50, zu bestimmen51. Insbesondere für diejenigen Lehren von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, die in erster Linie nach dem Geltungsgrund der Verfassung fragen, geht es zudem darum, die Verfassung zu „tragen" 52 , um „das in der Zeit fortwährende und sich erneuernde seinsmäßige Getragensein der Grundentscheidungen der Verfassung" 53, um Zustimmung und Duldung der bestehenden Ordnung 54 beziehungsweise die stetige Erneuerung und Regeneration des Verfassungskonsenses aus dem plébiscite de tous les jours 55 . Neben dem Entstehungsaspekt und dem Geltungsaspekt hat der Begriff der verfassunggebenden Gewalt schließlich auch einen revolutionären Aspekt und bezieht sich insofern darauf, eine Verfassung „aufzuheben" 56, ein politisches System zum Zusammenbruch zu bringen 57 , Ablehnung oder Widerstand gegen eine bestehende politische Ordnung 58 bzw. die Erosion der Grundentscheidungen der Verfassung 59 zum Ausdruck zu bringen und ein System durch ein anderes zu erset48 Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 43; ders., Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 7; ders., DÖV 1953, S. 645; ders., in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 70, Rn. 4, jeweils in deutlicher Anlehung an die Definition Carl Schmitts (Verfassungslehre, S. 75), nach der durch die verfassunggebende Gewalt „die konkrete Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Existenz" getroffen wird. Auf die „staatliche Ordnung" sind die Grundentscheidungen gerichtet bei Maunz /Zippelius, Deutsches Staatsrecht, § 61.1 (S. 34). 49 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.a (S. 146); an anderer Stelle (§ 5 1.3.a, S. 151) wird der pouvoir constituant als „verfassungsschöpfend" bezeichnet; ähnlich Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 113; Steiner, Verfassunggebung, S. 83 f. 50

E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 11. Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 155. 52 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 11; Heckel, HStR VIII, § 197, Rn. 58. 53 E.-W. Böckenförde, HStR I, § 22, Rn. 7; ähnlich auch Kirchhof HStR I, § 19, Rn. 29. 54 Henke, Der Staat 31 (1992), S. 265 (270); andeutungsweise auch schon ders., Der Staat 19 (1980), S. 181 (205). 55 Isensee, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung Bd. I, S. 63 (70). 56 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 11; ähnlich Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 113. 57 v. Wedel, Demokratische Verfassunggebung, S. 24; vgl. auch Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 27 („Kampfbegriff gegen die bisher.geltende Verfassung"). 58 Henke, Der Staat 31 (1992), S. 265 (270). 59 E.-W. Böckenförde, HStR I, § 22, Rn. 7. 60 Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Präambel, Rn. 5. 51

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

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Unter verfassunggebender Gewalt wird auf der einen Seite in Anlehnung an die „klassische" Definition Carl Schmitts 6 1 ein politischer W i l l e 6 2 , eine tatsächliche politische M a c h t 6 3 oder Autorität 6 4 verstanden. A u f der anderen Seite wird unter verfassunggebender Gewalt eine (rechtliche) Befugnis verstanden 65 . Zwischen diesen beiden Definitionsansätzen bestehen grundsätzliche Unterschiede. A u f der einen Seite wird der verfassunggebenden Gewalt ihr Ort bei den Vorgängen der Verfassungsentstehung und -begründung i m Bereich des rechtlichen „Dürfens", auf der anderen Seite i m Bereich des faktischen „Könnens" angewiesen. Hier wird verfassunggebende Gewalt als ein Sollens-Begriff, dort als ein Seins-Begriff 6 6 einge-

61 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 75: „verfassunggebende Gewalt ist der politische Wille, dessen Macht oder Autorität imstande ist, die konkrete Gesamtentscheidung über Art und Form der eigenen politischen Existenz zu treffen, ...". Vgl. dazu Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 171, 173; E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 11 (Fn. 8). ΰ2 Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 43; ders., Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 7 f.; Isensee, HStR VII, § 162, Rn. 19; Kirchhof, HStR I, § 19, Rn. 17; Henke, Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 24 - nach langer Auseinandersetzung mit der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ist für Henke verfassunggebende Gewalt heute „der Ort, von dem Zustimmung, Duldung, Ablehung oder Widerstand gegenüber der bestehenden Ordnung ausgehen", Henke, Der Staat 31 (1992), S. 265 (270). 63 v. Wedel, Demokratische Verfassunggebung, S. 24; Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 34; H.P. Ipsen, FS. Raape, S. 423 (454); vgl. auch Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (144: „faktische Macht zur Verfassunggebung"); Dietlein, Jura 1994, S. 57 („die Macht zur Verfassungsgebung"). E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 7, versteht die verfassunggebende Gewalt auch als eine „Macht" , eine „(politische) Kraft, die in der Lage ist ..." (ebd., S. 11); die Definition rückt von Schmitt insofern ab, als sie nicht auf eine Entscheidung, sondern auf das Hervorbringen und Forttragen des normativen Geltungsanspruchs der Verfassung abstellt (vgl. a. a. O., Fn. 8). 64 Dieser Bestandteil von Schmitts Definition enthält einen Anknüpfungspunkt, der außerhalb des rein Voluntaristischen, auf faktische Macht Bezogenen liegt; er wird aufgegriffen bei E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 11, 7. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 143, weist zu Recht auf den Zusammenhang von Autorität und Konsens der Gewaltunterworfenen hin; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 87, bestimmt die Legitimität einer Verfassung ausdrücklich darüber, ob die verfassunggebende Gewalt „anerkannt" ist. Vgl. zu den mit den Definitionsbestandteilen „Macht" und „Autorität" angesprochenen unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen auch schon C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 75 (Fn. 1); Heller, Staatslehre, S. 278 f. Die Frage wird als eine nach der „Autorität", „eine Verfassung zu machen" bereits bei Hegel gestellt, vgl. zit. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, §5I.1(S. 143). 65 Maunz, DÖV 1953, S. 645; ders., in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Präambel, Rn. 5; Steiner, Verfassunggebung, S. 30 ff. m.w.N., 82 f.; Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 155, 151, 72; H.-P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 15; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 1.2 (S. 146); vgl. auch Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (205 f.), der die Befugnisformel für die verfassunggebende Gewalt „im Rechtssinn" verwendet, die letztlich Verfassungsänderung ist, während er sie für die verfassunggebende Gewalt als politische Erscheinung ablehnt: „Vor dem Recht... gibt es keine Befugnisse." 66 Vgl. Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 174; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 76 („Die verfassunggebende Gewalt ist politischer Wille, d. h. konkretes

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

führt; das eine Mal ist verfassunggebende Gewalt ein normativer Begriff, das andere Mal ein deskriptiver Begriff 67 für ein existentielles Phänomen, das normative Folgen haben soll. Die beiden Definitionsansätze stehen sich nicht unvermittelt gegenüber. Schon Hermann Heller hat in Auseinandersetzung mit der Schmittschen Definition auf die gegenseitige Bedingtheit von Existentialität und Normativität der verfassunggebenden Gewalt hingewiesen68. Theodor Maunz, der wesentlich zur Präsenz der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt in der Rechtswissenschaft seit 1949 beigetragen hat 69 , hat verfassunggebende Gewalt mehrfach als politischen Willen „und" rechtliche Befugnis vorgestellt 70. Wenn laut Stern 71 der verfassunggebenden Gewalt die Befugnis zur Verfassunggebung „zukommt", dann wird zwar auch verfassunggebende Gewalt über den Befugnisbegriff bestimmt, doch „ist" verfassunggebende Gewalt nicht eine Befugnis, sondern der pouvoir constituant ist Inhaber der Befugnis. Andererseits bestimmt Böckenförde verfassunggebende Gewalt zwar als „(politische) Kraft und Autorität" 72 , doch soll sich diese auf den normativen Geltungsanspruch der Verfassung beziehen; es soll - wie an späterer Stelle erläutert ist - eine dem Träger der verfassunggebenden Gewalt zukommende „vor-verfassungsmäßige Kompetenz"73 gemeint sein. Zum anderen entspricht der tatsächliche Gebrauch des Begriffs nicht immer der vorausgegangenen trennscharfen Definition. Wenn zum Beispiel bei Autoren, für die verfassunggebende Gewalt eine Befugnis ist, von der Rechtmäßigkeit von Akten des pouvoir constituant die Rede ist 7 4 , dann wird insoweit unter pouvoir constituant tatsächlich doch (auch) ein Akteur verstanden, die Verfassung entsteht - wie politisches Sein."); vgl. dazu auch Mehring, ZfP 1991, S. 200 (207); Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 142. 67 v. Wedel, Demokratische Verfassunggebung, S. 24. 68 Heller, Staatslehre, S. 278 f. 69 Insbesondere Maunz, Die Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, 1952; ders., Die verfassunggebende Gewalt im Grundgesetz, DÖV 1953, S. 645 ff.; ders., Deutsches Staatsrecht, S. 43 ff.; ders., in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Präambel, Rn. 5, und Art. 70, Rn. 4. 70 Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 43; ders., Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 7 f.; ders., in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 70, Rn. 4. 71 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 1.2. (S. 146). 72 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 11. 73 E.-W. Böckenförde, HStR I, § 22, Rn. 7. Für Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (205) ist demgegenüber der Befugnisbegriff auf die Rechtssphäre beschränkt: „Vor dem Recht... gibt es keine Befugnisse." 74 So z. B. Steiner, Verfassunggebung, S. 178; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 324 („eine Aktion des pouvoir constituant"). Vgl. auch Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, § 5 1.2. (S. 146: „Existenz eines wirklich handlungsfähigen pouvoir constituant"); H.P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 2 („... befindet die verfassunggebende Gewalt darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen die Verfassung abgelöst... wird.") und 35 („Aufgabe des pouvoir constituant beendet"), andererseits ebd. Rn. 15.

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

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bei Carl Schmitt - „durch einen Akt der verfassunggebenden Gewalt" 75 . Umgekehrt ist dort, wo verfassunggebende Gewalt als politischer Wille oder tatsächliche politische Macht definiert, aber davon gesprochen wird, daß ein Akteur seine verfassunggebende Gewalt betätige76 oder kraft seiner verfassunggebenden Gewalt handle, doch die Befugnisdimension des Begriffs der verfassunggebenden Gewalt mit im Spiel. Der Ambivalenz des staatsorganisationsrechtlichen Begriffs der „Gewalt" (des „pouvoir"), der einerseits ein Subjekt, andererseits die diesem zukommende Kompetenz bezeichnen kann 77 , scheint ein unausgesprochener Konsens zu entsprechen, daß verfassunggebende Gewalt sowohl den tatsächlichen verfassungschaffenden politischen Willen, als auch die Befugnis zur Verfassunggebung bezeichnet, daß verfassunggebende Gewalt also politischer Wille und rechtliche Befugnis 78 oder Befugnis und die dieser Befugnis korrespondierende Kraft und Autorität 79 ist. Wo verfassunggebende Gewalt ganz als „Befugnis" bestimmt wird, steht dahinter ein Bestreben, sie terminologisch in den Bereich des Rechts einzubeziehen80, ihr das - nicht nur für den Verfassungsjuristen beunruhigende - Moment des Vorrechtlichen und Außerrechtlichen zu nehmen. Die zugrundeliegende Problematik, daß es vor der Geltung der Verfassung keine verbindlichen Normen des positiven Rechts und damit auch keine positivrechtliche Befugnis geben kann 81 , wird damit allerdings nicht bewältigt. Mit Henke ist festzuhalten, daß es in der rechtswissenschaftlichen Annäherung an das Problem grundsätzlich nicht darum gehen kann, politische Kräfte „in den gedanklichen Synthesen juristischer Begriffe aufzuheben" 82 . Theorien, in denen der Begriff der verfassunggebenden Gewalt ausschließlich als positivrechtliche Befugnis zur Verfassungsrechtsetzung bzw. Verfassungsgesetzgebung83 erscheint, ist daher zu Recht der Vorwurf gemacht worden, einer 75

C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 21. So ist es ζ. B. durchaus zweifelhaft, ob die Aussage bei C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 82 („Das Volk betätigt seine verfassunggebende Gewalt durch irgendeinen erkennbaren Ausdruck seines unmittelbaren Gesamtwillens...") richtigerweise im Sinne von „das Volk betätigt seinen Willen durch irgendeinen Ausdruck seines Willens" oder nicht doch richtigerweise als „das Volk betätigt seine Befugnis zur Verfassunggebung durch irgendeinen Ausdruck seines Willens" gelesen werden muß. 76

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Vgl. dazu auch Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 155. Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 43; ders., Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 7 f. 7 9 In diesem Sinne Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (577). 8 0 Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (189). 78

si Vgl. oben 2. Teil, Kapitel A. 82 Henke, Der Staat 7 (1968), S. 165 (167); vgl. auch ähnlich Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 188. 83 Vgl. Steiner, Verfassunggebung, S. 22; dazu: Henke, Der Staat 7 (1968), S. 165 (170); Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 237 (Fn. 252). Für die Reduktion von Verfassunggebung auf Verfassungsgesetzgebung durch einen Verfassungsgesetzgeber vgl. exemplarisch Barbey , DÖV 1960, S. 566 (573 f.).

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

„positivistischen Illusion" 84 zu erliegen, zur eingeschränkten Fragestellung der positivistischen Staatsrechtslehre zurückgekehrt zu sein 85 . Andererseits kann seit 1949 eine juristische Annäherung an den Begriff der verfassunggebenden Gewalt auch nicht davon absehen, daß der Begriff im Grundgesetz vorkommt 86 und damit (zumindest auch) ein Begriff des positiven Verfassungsrechts ist. Nach der Arbeit Steiners 87 aus den sechziger Jahren hat insbesondere Murswiek den spezifisch verfassungsrechtlichen Begriff der „verfassunggebenden Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland"88 herausgearbeitet. Murs wiek bestimmt durch juristische Auslegung der einschlägigen Verfassungsbestimmungen als verfassunggebende Gewalt im Sinne des Grundgesetzes die rechtliche Befugnis, die Verfassung zu bestimmen89. Das Grundgesetz habe in der Präambel und in Artikel 146 (a.F.) die verfassunggebende Gewalt des Volkes als überpositive 90 rechtliche Befugnis oder Kompetenz vorausgesetzt und anerkannt 91. Trotz der Anerkennung als überpositive Norm entfalte sie ihre Rechtswirkung im Geltungshorizont des Grundgesetzes aber als Norm des positiven Verfassungsrechts 92, zu der sie über die Anerkennung durch den Verfassunggeber des Grundgesetzes geworden sei 93 . Murswiek hat diesen spezifisch verfassungsrechtlichen Begriff der verfassunggebenden Gewalt unter der verfassungsdogmatischen Frage nach der Grenze erlaubter Verfassungsänderung gewonnen94. Dann, wenn mit dem Begriff der verfas84 Badura, FS. Scheuner, S. 19 (36). 85 Henke, Der Staat 7 (1968), S. 165 (168 f.). 86 So aber noch Henke, Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 146, mit der Begründung, in (der ursprünglichen Fassung von) Art. 146 GG sei nicht von der „wirklichen verfassunggebenden Gewalt des Volkes ... die Rede"; vgl. dazu Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 102 (Fn. 3). 87 Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes, Berlin 1966. 88 Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978. 89 Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 155, 146, 99; vgl. auch die Definition des pouvoir constituant auf S. 151 als „das Recht des Volkes, über die Legalität zu entscheiden, ein Legalitätssystem zu begründen, das 'Verfassung' oder ,Konstitution' genannt wird". 90 Darauf, ob eine solche vom Grundgesetz vorausgesetzte überpositive Kompetenznorm „wirklich" existiere und ob sie intersubjektiv vermittelbar sei, also auf das erkenntnistheoretische Problem jeden Naturrechts, kommt es nach Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 139, angesichts der Positivierung solcher Normen im Grundgesetz für die rechtliche Betrachtung nicht an, weil es jedenfalls als positives Verfassungsrecht gelte. 91 Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 146 f., 169, 174, 178, 235. Ihm folgend z. B. Bartlsperger, DVB1. 1990, S. 1285 (1298). 92 Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 146 f. 93 Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 147, 149, 156. 94 Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 20 f.; vgl. dazu auch Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (191).

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

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sunggebenden Gewalt nach der Entstehung oder dem Geltungsgrund der Verfassung gefragt wird, kann er dagegen gerade nicht als Begriff des positiven Rechts angesprochen sein. Denn dann wird nach dem gefragt, was - unter dem Aspekt des Geltungsgrundes - Jenseits der Grenze des positiven Rechts liegt" 9 5 , beziehungsweise wird - unter dem Aspekt der Verfassungsentstehung - in den Bereich vor Inkraftsetzung der Verfassung zurückgefragt, in dem es noch kein Verfassungsrecht gibt 96 . Seine eigentliche und hier in Frage stehende Funktion erfüllt der Begriff der verfassunggebenden Gewalt also gerade nicht als positivrechtlicher Begriff. Murswiek hat klargestellt, daß der als Verfassungskompetenz „in die Verfassung hineingezogene"97 pouvoir constituant systematisch ein oberster pouvoir constitué98 sei; mit der Verrechtlichung des pouvoir constituant habe der Grundgesetzgeber eine weitere Stufe auf die Normenhierarchie gesetzt99. Die Konzentration auf diese positivrechtliche Dimension des Begriffs der verfassunggebenden Gewalt führt bei Murswiek damit nicht zur Ausblendung der jenseits des positiven Rechts liegenden Fragen der verfassunggebenden Gewalt des Volkes: hinter dem positi vierten pouvoir constituant besteht für ihn die ursprüngliche außerkonstitutionelle verfassunggebende Gewalt fort 1 0 0 . Nur diese vor- bzw. überpositive Dimension des Begriffs, nicht die von Murswiek offengelegte verfassunggebende Gewalt „als Rechtsbegriff des Grundgesetzes" 101 kann gemeint sein, wenn etwa Starck bei der Kommentierung des in der Präambel zum Grundgesetz enthaltenen Begriffs „verfassunggebende Gewalt des Deutschen Volkes" die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes nicht der Dogmatik des positiven Verfassungsrechts, sondern der Staats- und Verfassungstheorie zurechnen w i l l 1 0 2 . Ähnlich hatte Henke 1980 jede juristische Konzeption der verfassunggebenden Gewalt als untauglich verworfen und die Frage nach dem Ursprung der Verfassung mangels eines als Norm geeigneten Gegenstandes in den „Bereich der Wirklichkeit" jenseits der Grenze methodischer juristischer Ar-

95 Henke, Der Staat 7 (1968), S. 165 (169). 96 Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (576). 97 Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 149. 98 Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 156; vgl. dazu auch Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (192). Diesen Zusammenhang verkennt Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.3.b (S. 151), der meint, daß die in Art. 146 GG a.F. erwähnte Gewalt die außerrechtliche verfassunggebende Gewalt sei; ebenso H P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 17, 34. 99 Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 150. 100 Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 187, 201; vgl. dazu auch Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (193). 101 Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 155. 102 Starck in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Präambel, Rn. 8. Ähnlich Kriele, VVDStRL 29 (1970), S. 46 (59); Isensee, Der Staat 20 (1981), S. 161 (163: „pouvoir constituant ist mehr Prinzip der Staatstheorie als geschichtlich erfahrene und erfahrbare Staatsrealität").

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

beit verwiesen 1 0 3 und sie den Erfahrungssätzen und Empfehlungen der Politikwissenschaft überantworten w o l l e n 1 0 4 . In jüngster Zeit hat dagegen vor allem Böckenförde an der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Frage und des Begriffs der verfassunggebenden Gewalt festgehalten 1 0 5 , und zwar gerade auch insoweit, als damit der Bereich des positiven Rechts überschritten wird. Die Eigenart der verfassunggebenden Gewalt des Volkes soll durch die Formel vom „Grenzbegriff des Verfassungsrechts" 106 erfaßt werden. Ausdrücklich knüpft Böckenförde dabei an die ältere Position Henkes an, daß „auch der Grund des Rechts zum Recht g e h ö r t " 1 0 7 . Anders als i n späteren, stärker auf eine Scheidung der Bereiche des Rechts und der außerrechtlichen Wirklichkeit zielenden Stellungnahmen 1 0 8 , hatte Henke damit 1968 gegen die rechtspositivistische Position betont, daß Recht und Rechtswissenschaft nicht da enden, wo der staatsrechtlich-technische Bereich endet, weil die Methode nicht den Gegenstand der Staatsrechtslehre bestimmen d ü r f e 1 0 9 . Ähnlich hat jetzt auch Starck klarge103 Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (198 ff.); ähnlich auch Isensee, HSTR VII, § 162, Rn. 107. 104 Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (211, 202, Fn. 50); vgl. auch wieder ders., Der Staat 31 (1992), S. 265 (270). Daß dies problematisch ist, weil die heutige Politikwissenschaft von ihrem methodischen Verständnis her immer weniger in der Lage ist, die damit verbundenen normativen Fragestellungen zu beantworten und damit der Rechtswissenschaft als Hilfswissenschaft zu dienen, hat auch Henke gesehen (vgl. Henke, Der Staat 19 [1980], S. 181 [203, Fn. 50]). Letztlich wird es der Rechtswissenschaft nicht erspart bleiben, sich im Rahmen der Verfassungslehre über die nicht-rechtlichen Voraussetzungen des eigenen Gegenstandes zu orientieren. Ob das noch im Rahmen der Rechtswissenschaft möglich ist, oder ob - wie in der Sicht des staatsrechtlichen Positivismus - dort, wo die positiven Gesetze enden, auch das Ende der Rechtswissenschaft erreicht ist (so Henke, Der Staat 7 [1968], S. 165 [169]), ist dann die Frage. i° 5 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 8 ff., 15. Den rechtlichen Zusammenhang des pouvoir constituant mit der durch ihn begründeten Verfassung betonte zuerst C. Schmitt, Die Diktatur, S. 137, 145; vgl. dazu Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (183). Für Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Präambel, Rn. 5, ist die verfassunggebende Gewalt „ein in der Rechtsordnung wurzelnder Weg" ein System durch ein anderes zu ersetzen. Auch Steiner, Verfassunggebung, S. 29 ff., sucht gegen die positivistische Ausgrenzung die verfassunggebende Gewalt als rechtliche Gewalt zu bestimmen und führt diesen Ansatz auf die Staatstheorie der französischen Revolution zurück (ebd., S. 178, 180). Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 1.1 (S. 144), zählt die verfassunggebende Gewalt zu den Grundfragen „der Verfassungstheorie und des Verfassungsrechts". Zur rechtlichen Bedeutung der verfassunggebenden Gewalt vgl. auch Gusy, ZfP 1989, S. 264 (274). 106 E.-W. Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes - Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, 1986; ihm insofern folgend jetzt Heckel, HStR VIII, § 197, Rn. 47. 107 Henke, Der Staat 7 (1968), S. 165 (171); dazu E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 8. Henke, Der Staat 31 (1992), S. 265 (270, Fn. 8) bekennt sich unter Bezugnahme auf Böckenförde gegenüber seiner die Trennung der Bereiche betonenden Stellungnahme von 1980 (vgl. Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 [200, 204 f.]) jetzt wieder zu seiner Position von 1968, allerdings mit der Einschränkung, daß ein Rechtsinstitut den Grund des Rechts nicht vollständig erfassen könne, weil er in den außerrechtlichen Bereich hineinreiche. los Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (200, 204 f.).

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

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stellt, daß die Frage der Verfassunggebung, auch wenn die verfassunggebende Gewalt über das positive Recht nicht mehr erfaßbar ist, gleichwohl eine rechtswissenschaftliche Fragestellung darstellt, daß sich die Rechtwissenschaft nicht in der Behandlung des positiven Rechtsstoffes erschöpfe, sondern sich auf die Grundlagen des Rechts erstrecke 110. Zusammenfassend läßt sich für die Zwecke dieser Arbeit danach festhalten, daß es sich beim Begriff der verfassunggebenden Gewalt des Volkes um einen rechtswissenschaftlichen 111 Begriff handelt, der sowohl der Verfassungstheorie, als auch - als Grenzbegriff - dem Verfassungsrecht angehört, und zwar sowohl in seiner verfassungsimmanenten Bedeutung, als auch insoweit er ausgehend von der geltenden Verfassung in den Bereich vor Geltung des positiven Verfassungsrechts zurückfragt. Als grundgesetzimmanenter Begriff bezeichnet er eine besondere verfassungsrechtliche Befugnis, über die Verfassung des Gesamtstaates112 zu bestimmen. Als verfassungstheoretisch-verfassungsrechtlicher Grenzbegriff bezeichnet er die Kraft und Autorität sowie die dieser korrespondierende vor-verfassungsmäßige Kompetenz des Volkes, die Verfassung hervorzubringen (Entstehungsaspekt), zu tragen (Legitimationsaspekt) oder aufzuheben (Revolutionsaspekt)113.

II. Subjekt und Permanenz Die verfassunggebende Gewalt liegt in der Demokratie beim Volk. Nach dem Bundesverfassungsgericht ergibt sich aus dem demokratischen Prinzip, daß ein Volk über seine staatliche Grundordnung grundsätzlich selbst zu bestimmen hat 1 1 4 . Das Staatsvolk, der „demos" beziehungsweise - in der französischen Begriffstradition - die Nation 115 , wird heute geradezu selbstverständlich als das Subjekt bezie109 Henke, Der Staat 7 (1968), S. 165 (171); in einem Aufsatz von 1992 akzeptiert Henke jetzt ausdrücklich die Position Böckenfördes, die Bereiche außerhalb und innerhalb des Staatsrechts nicht als fest abgegrenzte Alternativen anzusehen, sondern im verfassungsrechtlichen Grenzbegriff der verfassunggebenden Gewalt die zur Politik hin offene Stelle der Verfassung zu bezeichnen; Henke, Der Staat 31 (1992), S. 265 (269 f.). Zustimmend auch Gusy, ZfP 1989, S. 264 (274, Fn. 39). no Starck, FS. Geiger, S. 40 (42). m Eine politikwissenschaftliche oder soziologische Bedeutung liegt außerhalb des Fragenbereichs dieser Arbeit. H2 Zur besonderen Problematik der verfassunggebende Gewalt auf Landesebene vgl. unten den 3. Teil, Kapitel C. 113 Ähnlich Heckel, HStR VIII, § 197, Rn. 51 ff. 114 BVerfGE 1, 14 (50) [Südweststaat]. 115 „Nation" verstanden als das seiner selbst als politisch handlungsfähige Einheit bewußt gewordene Volk (also gewissermaßen ein Volk, das „Wir sind das Volk" sagt). Vgl. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.b (S. 147); Bd. II, § 25 I.2.b (S. 7); E.W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 13; Isensee, FS. Mikat, S. 705 (712 f.); Grawert, HStR I, § 14, Rn. 10; Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Ver-

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

hungsweise der Träger der verfassunggebenden Gewalt angesehen 116 . Verfassunggebende Gewalt erscheint schon begrifflich als verfassunggebende Gewalt des Volk e s 1 1 7 . Das Grundgesetz bekennt sich ausdrücklich in der Präambel und in Artikel 146 a.F. dazu, daß es auf der verfassunggebenden Gewalt des Volkes beruht 1 1 8 . Genaugenommen läßt sich dabei natürlich nicht vom Subjekt der verfassunggebenden Gewalt „ i n " der Demokratie 1 1 9 sprechen. Wird Demokratie i m staatsrechtlichen Sinne als Staats- und Regierungsform 1 2 0 verstanden, so ist die Entscheidung für die Demokratie vielmehr ihrerseits ein A k t der verfassunggebenden Gewalt. Die Bestimmung des Trägers der verfassunggebenden Gewalt muß also jedenfalls der in der Verfassung dokumentierten Entscheidung über die Staats- und Regie-

fassung, S. 11; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 79, 50 f.; Heller, Staatslehre, S. 277; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte, S. 46. Zum Verhältnis von Volkssouveränität und Souveränität der Nation vgl. auch Leisner, Volk und Nation als Rechtsbegriffe der französischen Revolution, FS. Liermann, S. 96 (101 ff., 111 f.); Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 340. 116 Vgl. ζ. Β. E. Stein , Staatsrecht, S. 11; Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 72, 123, 156; ders., Der Staat 32 (1993) S. 161 (172); Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.b (S. 147), Bd. II, § 25 1.1 (S. 4), II.2. (S. 17); E.W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 13; ders., HSTR I, § 22, Rn. 5; Isensee, FS. Mikat, S. 705 (719); Grawert, HStR I, § 14, Rn. 21; Bartlsperger, DVB1. 1990, S. 1285 (1299); Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (145); Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 23; Schramm, Staatsrecht III, S. 57; Bar schei, Staatsqualität, S. 182; Kölble, DÖV 1962, S. 583 (584); Henke, Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 24; Steiner, Verfassunggebung, S. 30; Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 11, 13, 19; ders., Deutsches Staatsrecht, S. 44. Ebenso auch schon C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 238, 79, 23; vgl. dazu Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 146 („Das Volk erscheint [bei C. Schmitt, der Verf.] als pouvoir constituant schlechthin ..."); Pasquino , in: Quaritsch, Complexio Oppositorum, S. 371 (373). Vgl. aber auch Heller, Staatslehre, S. 244, 278; Henke, Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 32 ff. 117

E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 13; die Gegenposition bei Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 105, 94, 81; vgl. auch Steiner, Verfassunggebung, S. 83. us Vgl. ζ. B. Kriele, VVDStRL 29 (1971), S. 46 (58 f.); Isensee, FS. Mikat, S. 705 (719); Grawert, HStR I, § 14, Rn. 16, 18; Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, S. 9, 12. Für die Präambel der WRV: C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 25 m.w.N. Vgl. auch unten 3. Teil, Kapitel A. und B. h 9 So aber ζ. B. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 23, 238, wobei an diesen Stellen der Begriff Demokratie nicht als Staats- und Regierungsform, sondern im weiteren Sinne (synonym für Volkssouveränität) gebraucht wird, vgl. dazu ebd. S. 223. Vgl. aber auch Grewe, Rechtsgutachten über die Rechtsgültigkeit des Artikels 41 der Hessischen Verfassung, S. 20, der die rechtliche Besonderheit der Situation der Verfassunggebung durchgehend ignoriert und nicht der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes zugerechnet werden kann. 120 Vgl. ζ. B. E.-W. Böckenförde, HSTR I, § 22, Rn. 8; Isensee, FS. Mikat, S. 705 (706); U.K. Preuß, ZRP 1993, S. 131 (132). Ein anderer, allgemeinerer Sprachgebrauch liegt i.d.R. zugrunde, wenn von dem „demokratischen Prinzip" gesprochen wird; das „demokratische Prinzip" in diesem Sinne ist identisch mit dem, was hier das Prinzip der Volkssouveränität genannt wird.

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

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rungsform logisch und historisch vorausliegen und kann nicht umgekehrt aus ihr hergeleitet werden. Richtigerweise wäre daher zu sagen, daß das Volk Subjekt des pouvoir constituant unter den Bedingungen der Volkssouveränität ist, also in einem Staat, in dem anerkannt und durchgesetzt ist, daß das Volk letzte Legitimationsquelle aller Staatsgewalt 1 2 1 ist. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes ist geradezu der auf die Verfassunggebung bezogene Aspekt der Volkssouveränität; in der verfassungsrechtlichen Literatur wird sie als Ausfluß und wichtigster Anwendungsfall dieses Prinzips angesehen 1 2 2 . Die Unterscheidung von Volkssouveränität als Legitimationsprinzip und Demokratie als Staats- und Regierungsform liegt auch dem geltenden Verfassungsrecht zugrunde: das Grundgesetz drückt sie in Artikel 20 Abs. 2 mit der Unterscheidung zwischen Satz 1 ( „ A l l e Staatsgewalt geht vom Volke aus" - Volkssouveränität) und Satz 2 („Sie wird vom Volke . . . ausgeübt 1 2 3 ,, - Volksherrschaft / Demokratie) a u s 1 2 4 . Die verfassunggebende Gewalt des Volkes kann aber natürlich auch nicht aus dieser positivrechtlichen Normierung und Anerkennung 1 2 5 des Prin121 Vgl. E.-W. Böckenförde, HSTR I, § 22, Rn. 5; Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 225, 226; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. II, § 25 II.2.b (S. 22); Kirchhof HStR I, § 19, Rn. 75; Steiner, Verfassunggebung, S. 96; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GGKomm., Art. 20, Rn. 4. 122 Steiner, Verfassunggebung, S. 67 („wichtigster Anwendungsfall", „folgerichtige Anwendung"), 25 („spezielle Ausformung des allgemeinen demokratischen Prinzips"); E.W. Böckenförde, HSTR I, § 22, Rn. 6 („Ausfluß des Prinzips der Volkssouveränität"), 7 („notwendige Erscheinungsform der Volkssouveränität"); Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.3.b (S. 151: „Die verfassunggebende Gewalt liegt beim Volk kraft der Volkssouveränität."); Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 225, 113; Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 7; ders., DÖV 1953, S. 645; Isensee, Der Staat 20 (1981), S. 161 (163); Badura, FG. BVerfG, S. 1 (9); vgl. auch schon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 3 („bündigste programmatische Formel" der Theorie der Volkssouveränität). 123 Daß die Staatsgewalt nicht nur vom Volke ausgeht, sondern von ihm aus selbst oder durch von ihm bestellte Organe ausgeübt wird, also nicht nur für das Volk und zum Wohle des Volkes ausgeübt wird, ist die konsequente Fortentwicklung von der Anerkennung des Volkes als letzten Ursprungs der Legitimität staatlicher Herrschaft zur Selbstregierung des Volkes in der Demokratie; vgl. E.-W. Böckenförde, HStR I, § 22, Rn. 8. 124 Vgl. BVerfGE 83, 60 (71) [Ausländerwahlrecht Hamburg]; 83, 37 (50) [Ausländerwahlrecht Schleswig-Holstein]; E.-W. Böckenförde, HStR I, § 22, Rn. 2 und 8; Wahl, Demokratie, Demokratieprinzip, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 5 / 170, S. 1 f.; Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 225 f.; ders., VVDStRL 29 (1970), S. 46 (60); Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. II, § 25 II.2.b (S. 23); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, II. Rn. 2, 33, 36; Birkenheier, Wahlrecht für Ausländer, S. 46, 50. Vgl. auch Henke, Der Staat 25 (1986), S. 157, der aus Skepsis gegenüber dem Begriff der Volkssouveränität (vgl. ζ. B. Henke, Der Staat 31 [1992], S. 265 [242]) in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 das „demokratische Prinzip" (vgl. dazu oben Fn. 120) verankert sieht. Auf die weitergehende Frage, ob auch schon die verfassunggebende Gewalt ihrerseits als „Staatsgewalt" im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG zu qualifizieren ist (vgl. Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 74, 159, 164 ff.; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.3.b (S. 151 f.); Henke, Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 32; Steiner, Verfassunggebung, S. 44 ff., 176 f.) kommt es hier nicht an. 125 E.-W. Böckenförde, HSTR I, § 22, Rn. 4; Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 287.

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

zips der Volkssouveränität i m Grundgesetz abgeleitet werden, denn auch diese setzt jene voraus 1 2 6 . Der Träger der verfassunggebenden Gewalt kann logisch notwendigerweise nicht aus der Verfassung legitimiert werden, die er erst hervorbringen soll. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes setzt vielmehr die tatsächliche 1 2 7 Durchsetzung und Anerkennung der Volkssouveränität als vorrechtliches 1 2 8 , politisches Legitimationsprinzip voraus. Auch für das Bundesverfassungsgericht ergibt sich, daß ein Volk über seine staatliche Grundordnung selbst zu bestimmen hat, nicht aus der konkreten Normierung des Art. 20 Abs. 2 GG, sondern „aus dem demokratischen P r i n z i p " 1 2 9 . Die letzte Quelle der L e g i t i m i t ä t 1 3 0 der Rechtsordnung wird damit in einem legitimen S u b j e k t 1 3 1 beziehungsweise einem darauf bezogenen Legitimationsprinzip gefunden. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes sucht das ver126 Vgl. Henke, Der Staat 7 (1968), S. 165 (169); Steiner, Verfassunggebung, S. 44; Tosch,, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 86; Kirchhof HStR I, § 19, Rn. 17; Kölble, DÖV 1962, S. 583 (584); vgl. auch Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 2 (S. 519: Volkssouveränität ist dem Verfassunggeber vorgegeben). 127 Unberechtigt darum die Kritik von Quaritsch, Der Staat 17 (1978), S. 421 (427), an der Bestimmung der Volkssouveränität als verfassungsrechtlich anerkannte „politische Tatsache" bei Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 287: Insofern, als aus dem Prinzip der Volkssouveränität der Träger des pouvoir constituant abgeleitet wird, kann es sich logischerweise (noch) nicht wie in Artikel 20 Abs. 2 GG um ein positivrechtliches Prinzip handeln dieser Zusammenhang folgt notwendig aus der Situation der Verfassunggebung und nicht etwa aus „gut gemeinter Verfassungspsychologie". 128 Auch die Kritik von Henke daran, daß bei Steiner (Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 18, 33, 41 f.) die Konstruktion auf der unerörterten Prämisse beruhe, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (vgl. Henke, Der Staat 7 [1968], S. 165 [169]), bezieht sich darauf, daß diese Prämisse als Rechtssatz unterstellt wird und - trotz der Distanz Henkes zum Prinzip der Volkssouveränität im allgemeinen (vgl. Henke, Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 43 ff.; ders., Der Staat 31 [1992], S. 265 [274]) wohl nicht darauf, diese Voraussetzung überhaupt zu machen und auszuweisen. Vgl. auch Steiner, Verfassunggebung, S. 75, zu Henkes Ableitung der Volkssouveränität aus der vorgängigen Entscheidung des Volkes als verfassunggebende Gewalt; ferner Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 86. 129 BVerfGE 1, 14(50) [Südweststaat]. 130

Diese Begründung der Legitimität im Verfassungsstaat ist nicht selbstverständlich. Zum Ganzen vgl. insbes. H. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977. Zur Legitimitätsproblematik vgl. auch Habermas, Volkssouveränität als Verfahren, in: ders., Faktizität und Geltung, S. 610 ff.; ders., Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 96 ff., 131 ff.; Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 151 ff., 167 ff.; Matz, Politik und Gewalt, 1975; Hennis, Legitimität - eine Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Politik und praktische Philosophie, S. 198 (211, 222 ff.); Graf Kielmansegg, Legitimität als analytische Kategorie, PVS 1971, S. 367 ff.; Haug, Grenzen der Verfassungsrevision, S. 91. 131 Vgl. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 31, 48 f.; Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, S. 138 (zur Reduktion der Legitimitätsfrage auf die Frage nach dem Träger der Souveränität). Vgl. auch Hennis, Legitimität, in: ders., Politik und praktische Philosophie, S. 198 (224 ff.), der die Frage nach dem letzten Rechtsgrund als durch den Rekurs auf den Inhaber der Souveränität beantwortet sieht, aber von der nach der Legitimitätsfrage unterschieden wissen will.

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

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fassungstheoretische Problem der positivrechtlichen Unableitbarkeit der Verfassung als der höchsten Norm der Rechtsordnung 132 durch die Rückführung auf das als legitim anerkannte Subjekt Volk 1 3 3 bzw. das vorrechtliche Prinzip Volkssouveränität 134 zu lösen. Das Gebäude der Rechtsordnung wird für diejenigen Lehren, die verfassunggebende Gewalt als Befugnis definieren, letztlich in einer überpositiven 1 3 5 Kompetenz des Volkes zur Verfassunggebung verankert. Die Rückführung der Legitimität des Verfassungsstaates auf den Volkswillen ist für diejenigen Lehren, die auf die Befugnisformel verzichten, der letzte Halt, den die Rechtsordnung als System der Ableitung von Recht aus höherem Recht in der Wirklichkeit findet; die Rechtsordnung wird ebenfalls jenseits des positiven Rechts in vorrechtlichen, politischen Gegebenheiten, das Sollen also letztlich in einem Sein verankert 136 . Die praktischen Auswirkungen dieser beiden Begründungsansätze auf die Bestimmung des Trägers der verfassunggebenden Gewalt sind jedoch nicht gravierend: Durchsetzung und Anerkennung des Prinzips der Volkssouveränität ist (tatsächliche) Souveränität des Volkes; Souveränität des Volkes bedeutet, daß das Prinzip Volkssouveränität verbindlich und nicht nur politisches Postulat ist. Eine Theorie der Verfassunggebung, die auf diese Weise auf der Voraussetzung der Volkssouveränität aufbaut und in dieser die Legitimität der Rechtsordnung verankert, muß 1 3 7 davon ausgehen, daß die verfassunggebende Gewalt sich nicht mit dem Akt der Verfassunggebung verbraucht und mit der Inkraftsetzung der Verfassung erlischt, sondern neben oder über der Verfassung fortbesteht und unveräußerlich beim Volk verbleibt 138 . Ist die verfassunggebende Gewalt des Volkes notwen132 Vgl. oben 2. Teil, Kapitel A. 133 Isensee, HStR VII, § 162, Rn. 19, spricht vom „Legitimationsursprung der Verfassung im Willen des Volkes"; Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, S. 74, führt Rechtsgeltung auf die Setzung durch eine Instanz zurück, „deren Legitimität zur Rechtsetzung anerkannt ist"; vgl. auch Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 30 f., 75. 134 Isensee, AÖR 115 (1990), S. 248 (249: das demokratische Prinzip enthielte „die heute allein mögliche Legitimation der Staatsgewalt"); Badura, FG. BVerfG, S. 1 (9: verfassunggebende Gewalt als „Doktrin von der Legitimität einer Verfassung"); Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, S. 12. 135 Vgl. dazu kritisch Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 105. 136 Vgl. E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 8, 10; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.a (S. 146 f.); Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (210 f.). Der gleiche Lösungsansatz schon bei C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 9, 75 f.; vgl. zu diesem sich - gegen die Position Kelsens und des Positivismus - in die Tradition des deutschen Idealismus stellenden Konzept der Ableitung eines Sollens aus einer seinsmäßigen Größe insbesondere auch Mehring, ZfP 1991, S. 200 (207). 137 Im Sinne einer zwingenden Konsequenz aus der Voraussetzung der Volkssouveränität auch Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 105, der seinerseits eine Theorie der Verfassunggebung zu entwickeln sucht, die nicht auf dem Prinzip der Volkssouveränität basiert (vgl. ebd. S. 99, 88, 105 f.). 138 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 77, 91, 242; E.-W. Böckenförde, HSTR I, § 22, Rn. 5; Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (207); Isensee, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. I, S. 63 (70 f.); Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 9; ders.,

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

dig, um die Verfassung und ihren Geltungsanspruch fortdauernd zu legitimieren, so kann sie nicht mit dem Inkraftsetzen der Verfassung in ein Nichts verabschiedet werden; die Legitimation der Verfassung kann nicht allein auf den Punkt ihrer revolutionären Entstehung beschränkt werden 139 . Im Verfassungsstaat kann - und muß, soll die Legitimität der Verfassung gesichert bleiben - sich der pouvoir constituant darum durch den Äußerungsmodus des fortdauernden Tragens der ursprünglichen Verfassungsentscheidung zur Geltung bringen 140 . Ein Erlöschen der verfassunggebenden Gewalt des Volkes würde das Prinzip der Volkssouveränität selbst tangieren, denn dieses fordert, daß das Volk Inhaber der verfassunggebenden Gewalt ist und bleibt 1 4 1 ; und die Volkssouveränität gehört gerade zu jenen unantastbaren Grundprinzipien 142 , die in der Ordnung des Grundgesetzes auch vom positiven Verfassungsrecht, also verfassungsrechtlich verbindlich und auch für die Zeit nach dem Zustandekommen der Verfassung, anerkannt und geschützt sind (Art. 20 Abs. 2 Satz 1; Art 79 Abs. 3 GG). Nicht unproblematisch ist von daher die Konstruktion Krieles, der den pouvoir constituant „nur am Anfang oder am Ende des Verfassungsstaates" 143, bei seiner Konstituierung und bei seiner Abschaffung erkennt. Daß sich die verfassunggebende Gewalt des Volkes „im" Verfassungsstaat nicht durch Revolution oder Verfassunggebung äußern kann, ist im Grunde selbstverständlich, denn wo eines von beiden stattfindet, dort befindet man sich per se nicht mehr „im", sondern vor bzw. am Ende eines Verfassungszustandes. Die Konzentration der Wahrnehmung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes auf den Anfang und das Ende birgt indessen die Gefahr der Vernachlässigung des Volkssouveräns in der verfassungsstaatlichen Normallage. Insofern ist die Legitimation der Verfassung durch den Volkssouverän bei Kriele tatsächlich auf den Punkt ihres revolutionären Ursprungs zusammengezogen, wie Böckenförde ihm vorgeworfen hat 1 4 4 .

DÖV 1953, 645; vgl. auch Steiner, Verfassunggebung, S. 174; Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 60; Randelzhofer, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung Bd. I, S. 141 (153); Scheuner, DÖV 1953, S. 581 (583 f.); Haug, Grenzen der Verfassungsrevision, S. 150; a.A. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.3.c (S. 153); Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 105 f. (aufgrund anderer Grundannahmen, nämlich Ablehnung der Völkssouveränität). 139

E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 17. 140 E.-W. Böckenförde, HSTR I, § 22, Rn. 7; ders., Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 10, 11. Vgl. auch Kirchhof HStR I, § 19, Rn. 29: „Soweit das Staatsvolk ,kraft seiner verfassunggebenden Gewalt' das Verfassungsgesetz hervorgebracht hat, beansprucht diese legitimierende Charakterisierung einen fortdauernden Willen dieses Verfassungsgebers". Vgl. auch Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 25 f.; ders., HStR VIII, § 197, Rn. 58 f. 141 Vgl. E.-W. Böckenförde, HSTR I, § 22, Rn. 5; Quartisch, Der Staat 17 (1978), S. 421 (428). 142 Vgl. auch Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 224. ι 4 3 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 226. 144 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 17; vgl. auch schon E.W. Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in:

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

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Der Abstand der Positionen in der Kontroverse zwischen K r i e l e 1 4 5 und Böckenf ö r d e 1 4 6 über das Schicksal der verfassunggebenden Gewalt nach Errichtung der Verfassung ist allerdings tatsächlich geringer, als es auf den ersten Blick erscheinen muß. Für Kriele ist zwar der pouvoir constituant i m Verfassungsstaat „aufgeh o b e n " 1 4 7 , allerdings anerkennt er ausdrücklich, daß dies nur „bis zu erneuter Verfassunggebung" 1 4 8 so s e i 1 4 9 und identifiziert sich gerade nicht mit der Position, daß mit der Verfassunggebung die Volkssouveränität „ein für allemal verbraucht" s e i 1 5 0 ; die Möglichkeit der Aktivierung des pouvoir constituant in der Revolution ist also nicht „aufgehoben", sondern nur dessen Aktivität „ i m " verfassungsmäßigen Zustand 1 5 1 - „oberhalb" oder „ v o r " der Verfassung besteht der pouvoir constituant auch nach Krieles Ansicht f o r t 1 5 2 . Aufhebung ist also i m Sinne einer Suspendierung der aktiven Betätigung in Form von Verfassunggebung, nicht einer Eleminierung 1 5 3 zu verstehen. Andererseits trifft gerade auf das ständige Forttragen der ursprünglichen Verfassungsentscheidung die von Böckenförde konstatierte Probleders., Staat-Verfassung-Demokratie, S. 29 (44). Der Vorwurf muß in gleichem Maße auch die neue Darstellung zur verfassunggebenden Gewalt von H.-P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 35, treffen, für den mit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verfassung „die Aufgabe des pouvoir constituant beendet ist". 145 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 113, 225 f., 287 f.; ders., VVDStRL 29 (1971), S. 46 (58 f.). 146 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 17; ders., HStR I, § 22, Rn. 7. 147 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 225; so auch schon ders., VVDStRL 29 (1971), S. 46 (59). 148 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 225. 149 Das wird verkannt bei E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 17, wo als Belegstelle für die Ansicht Krieles dessen Darstellung der Lehre des Abbé Sieyès (Staatslehre, S. 260 ff.) angegeben wird, nicht aber Krieles eigene Entwicklung der Zusammenhänge von pouvoir constituant und Verfassung ebd., S. 225, 113. Vgl. auch die Darstellung der Ansicht Krieles bei Evers, in: Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung Art. 79 Abs. 3, Rn. 79. 150 Diese Ansicht der französischen verfassunggebenden Nationalversammlung von 1789 ist referiert bei Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 261. 151 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 225 f., besonders deutlich auch ebd., S. 113. Auch bei Isensee, Der Staat 20 (1981), S. 161 (163 f.), nach dem die Souveränität des pouvoir constituant im Akt der Verfassunggebung „untergeht", ist damit nur eine Selbstbindung gemeint, die durch Revolution abzuschütteln ist. In diesem Sinne dürften auch die Ausführungen von Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.3.C (S. 153), zu verstehen sein, der, etwas undeutlich, gleichermaßen die Anerkennung eines permanenten pouvoir constituant und die Ignorierung von Äußerungen des pouvoir constituant originaire für verfehlt erklärt und „für den Normalfall" eine rechtliche Kanalisierung der politischen Gewalten, durch die Einsetzung eines pouvoir constituant institué in Art. 79 Abs. 2 GG annimmt, der „daher heute Träger der verfassunggebenden Gewalt" sein soll. 152 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 113. 153 So aber Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 115, der zwar auch die Möglichkeit von Revolutionen anerkennt, aber ein Vorhandensein des pouvoir constituant während einer bestehenden Verfassung nicht anerkennt (vgl. ebd., S. 106).

7 Boehl

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

matik der Erkennbarkeit von Äußerungen des pouvoir constituant 154 in besonderem Maße zu, so daß es am Ende möglicherweise nicht mehr als die fortdauernde Kooperation 155 oder Abwesenheit von Revolution ist, was aber in der Wirklichkeit von einem im Verfassungsstaat im Zustand der Latenz bleibenden pouvoir constituant im Sinne Krieles 156 gar nicht so weit entfernt ist. Übereinstimmung besteht also bei allen Unterschieden der Konstruktion bzw. Benennung jedenfalls insofern, als entgegen positivistischen Verkürzungen davon ausgegangen wird, daß der pouvoir constituant nach seiner Betätigung nicht für immer erloschen ist und damit jederzeit in Form von Revolution wieder auftreten kann und daß andererseits die Lehre von der permanenten verfassunggebenden Gewalt des Volkes keine unbegrenzte Ermächtigung für irgendwelche Staatsorgane oder sonstige innerstaatliche Kräfte sein kann, über die bestehende Rechtsordnung hinwegzuschreiten, wie schon Maunz betont hatte 157 . Der pouvoir constituant ist also zwar permanent und unveräußerlich beim Volk; er wirkt sich aber in der Normallage des Verfassungsstaates nur als Potentialität aus, als das sich in der Kooperation, Duldung oder Abwesenheit von Revolution äußernde Forttragen der Verfassungsentscheidung. Diese Unveräußerlichkeit und Permanenz des pouvoir constituant ist grundsätzlich eine für den Verfassungsstaat nicht unproblematische Erscheinung 158; eine permanent zur Neuentscheidung über die Grundlagen des Gemeinwesens befugte Instanz kann die von ihr gestiftete Ordnung jederzeit in Frage stellen und eine dies behauptende Lehre kann leicht als destabilisierend erscheinen und scheint Revolution und Staatsstreich zu legitimieren 159 . Die angesprochene Problematik wird jedoch nicht durch eine mit ihr rechnende Theorie der verfassunggebenden Gewalt geschaffen, sondern sie folgt aus den Grundbedingungen eines auf der Volkssouveränität basierenden Staates. Erosion von Konsens und Revolutionen sind tatsächliche Möglichkeit und geschichtliche Erfahrung, nicht theoretisches Konstrukt oder durch jene Verfassungstheorie erzeugt, welche sie theoretisch zu erfassen und zu bewältigen sucht. Sie werden nicht aus der Welt geschafft, wenn das Denken über Staat und Verfassung sie ignoriert oder zu verbieten versucht 160 . 154 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 19. 155 in diesem Sinne Heckel, HStR VIII, § 197, Rn. 68.

156 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 226. 157 Maunz, DÖV 1953, S. 645 (646). 158 Vgl. insbesondere Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.3.c (S. 153); auch E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 18; Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 9; Scheuner, DÖV 1953, S. 581 (583); Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 59. 159 Vgl. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.3.C (S. 153), der sogar eine „Legalisierung jeder Revolution" befürchtet, ohne daß geklärt wird, wie eine Theorie Legalität erzeugen kann. !6o In diese Richtung dann auch Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.3.C (S. 153: „Gleichermaßen verfehlt wäre es, nach Erlaß der Verfassung einen pouvoir consti-

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

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Eine Theorie, die generell ein Recht des Volkes zur Abkehr von einem Verfassungszustand perhorreszieren würde, würde zudem, woran die Ereignisse in Mittel- und Osteuropa von 1989 / 90 1 6 1 erinnert haben, eine ihrerseits nicht unproblematische Option zugunsten politischer Stabilität um jeden Preis darstellen. Die legitime Sorge um die Stabilität eines konkreten Verfassungsstaates kann aber nicht dazu führen, die tatsächliche Möglichkeit und mögliche Legitimität revolutionären Wandels überhaupt auszuschließen162 oder auf dessen theoretische Erfassung zu verzichten 163 . Zudem wirkt gerade die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und die Unterscheidung des pouvoir constituant von den pouvoirs constitués im demokratischen Verfassungsstaat stabilisierend und vermag ihrerseits in gewissem Ausmaß - die Problematik der andauernden Verfügbarkeit der Verfassung für den Volkssouverän zu kanalisieren 164.

I I I . Bindungen 1. Bindung des demos an die Verfassung Die Bindung von Exekutive und Judikative an die Verfassung ist im Grunde bereits mit der Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit, der „rule of law", der „Herrschaft" oder genauer dem Vorrang des Gesetzes, also der Präponderanz der Äußerungsform des Gesetzgebers / Parlaments über die der Exekutive und Judikative, gegeben165. Die Bindung des Volkes und seiner Repräsentanten an die Verfassung 166 , der Vorrang der Verfassung gegenüber dem (damit nachrangigen und nur noch „einfachen") Parlamentsgesetz und seine Durchsetzung über den Begriff der „Verfassungswidrigkeit" eines Gesetzes erfordert demgegenüber einen besonderen, zusätzlichen Begründungsaufwand. tuant originaire schlicht zu ignorieren. Revolutionäre Akte sind niemals auszuschließen ..."); Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 106; Scheuner DÖV 1953, S. 581 (582). 161 Vgl. neuerdings auch Schweisfurth, FAZ v. 24. 9. 93, S. 10 („In Moskau hat sich etwas vollzogen, das man herkömmlich Staatsstreich nennt" - Jelzin und die Normen der Verfassung), zur demokratischen Legitimität des die vor-demokratische russische Verfassung mißachtenden Dekrets des russischen Präsidenten vom 21. September 1993 und dessen Berufung auf den „Grundsatz der vom Volk ausgehenden Gewalt" gegen den Legalität gegen Demokratie ausspielenden Obersten Sowjet. 162 Vgl. auch Heckel, HStR VIII, § 197, Rn. 66, zur Unverzichtbarkeit der revolutionären Dimension der verfassunggebenden Gewalt. 163 Vgl. unten 2. Teil, Kapitel C. 164 Vgl. E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 18 f.; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 II.l.c (S. 153). 165 Vgl. auch oben 1. Teil, A.I. 166 Vgl. hierzu Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (490); Wahl / Rottmann, Bedeutung der Verfassung, in: Conze / Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 339 (347). τ

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

Wieso die Mehrheit von heute an die Grundentscheidungen der Mehrheit von gestern gebunden sein soll, war oben als die demokratietheoretische Grundfrage des demokratischen Verfassungsstaates erschienen 1 6 7 . Gerade 1 6 8 diese Bindung sowohl des parlamentarischen, als auch des plebiszitären Gesetzgebers an die Verfassung und den normativen „Vorrang der Verfassung" sucht die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes zu begründen und ist darum geradezu als „Begleitinstitut" zu der dogmatischen Figur des Vorrangs der Verfassung bezeichnet w o r d e n 1 6 9 . Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes verbindet dabei die Antwort auf die Fragen nach Ursprung und Geltungsgrund der Verfass u n g 1 7 0 mit der auf die demokratietheoretische Grundfrage der konstitutionellen Demokratie. Als spezielle Ausprägung des Prinzips der Volkssouveränität 171 gilt sie als spezifisch demokratische Theorie 1 7 2 . Indem sie darauf angelegt ist, die Demokratie gerade als Verfassungsstaat zu konstituieren und das Staatsvolk an der einmal getroffenen Verfassungsentscheidung festzuhalten 1 7 3 , muß sie darüberhinaus als spezifische T h e o r i e 1 7 4 der konstitutionellen Demokratie 1 7 5 gelten. 167 Vgl. oben 2. Teil, Kapitel A. 168 Diese spezielle Zielrichtung wird verkannt, wenn, wie bei Stern (Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 1.3.a [S. 151]), „die Bindung der von der Verfassung eingesetzten Staatsorgane an die Verfassung" als Erklärungsleistung der Trennung von pouvoir constituant und pouvoirs constitués gesehen wird: An die Verfassung ist alle Staatsgewalt mit Ausnahme der Legislative auch ohne eine Theorie des Vorrangs der Verfassung oder der verfassunggebenden Gewalt des Volkes gebunden; diese werden nur nötig, wenn die Ungebundenheit der Legislative zum Problem wird. Vgl. auch oben 1. Teil, A.I. 169 Vgl. Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 (491). 170 Vgl. oben 2. Teil, Kapitel A. 171 Vgl. oben 2. Teil, B.II. 172

Vgl. ζ. Β .E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 12 f. („demokratischer und revolutionärer Begriff, der nur im Zusammenhang einer demokratischen Verfassungstheorie seinen Platz hat"); Steiner, Verfassunggebung, S. 25, 78, 83 („spezifischer Begriff des demokratischen Staatsrechts"); Maunz, DÖV 1953, S. 645 („der demokratische Grundcharakter der Institution", 648: „pouvoir constituant ... zur klassisch-demokratischen Lehre gehört"); ders., Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 9 („Der Gedanke der Volkssouveränität und die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes sind die Grundlagen des demokratischen Staatsdenkens."); ebenso auch schon C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 53, 80; O. Mayer, AÖR 18 (1903), S. 337 (356). Vgl. dazu Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 145 f. Die politikwissenschaftliche Untersuchung v. Beymes (Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1968) bezeichnet die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes im Untertitel als eine „demokratische Doktrin". Vgl. auch BVerfGE 1, 14 (50), wonach es sich „aus dem demokratischen Prinzip" ergibt, daß ein Volk über seine staatliche Grundordnung grundsätzlich selbst zu bestimmen hat. 173 Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Gehalten, HSTR I, § 19, Rn. 16. 174 Vgl. auch Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (593). 175 Zum Begriff der „konstitutionellen Demokratie" vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 216; Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 236; E.W. Böckenförde, Verfassungsprobleme und Verfassungsbewegung, in: ders., Recht-Staat-Freiheit, S. 244 (254); ders., Moderne deutsche Verfassungsgeschichte 1815 - 1914, S. 18;

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

101

Der Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetz wird damit begründet, daß sie vom Träger der verfassunggebenden Gewalt geschaffen wird 1 7 6 und damit auf dem Volks willen beruht 177 . Der besondere Kreationsprozeß unterscheidet die Verfassung vom einfachen Gesetz 178 . Dasjenige Gesetz, das zu seiner Errichtung einer besonderen Repräsentationskörperschaft mit Spezialmandat179 zur Verfassunggebung bedurfte, so kann man die ratio der Konstruktion zusammenfassen, kann auch nicht von den ordentlichen Repräsentanten ohne einen besonderen Auftrag des Volkssouveräns im politischen Alltag beseitigt werden. Auch das Bundesverfassungsgericht 180 leitet die besondere Kraft, also dem Vorrang der Verfassung, aus dem „höheren Rang" 1 8 1 einer verfassunggebenden Versammlung gegenüber dem Parlament und dem Besitz des pouvoir constituant ab. Die Errichtung der Verfassung durch besondere Repräsentanten dient der Stabilisierung einer Ordnung, der Begründung des besonderen Rangs der Verfassung und der Bindung der späteren Verfassungsorgane, insbesondere auch des Volkes selbst und des vom Volk gewählten Parlaments, an die Verfassung 182. Die Bindung des demos und des Volkswillens an die demokratisch gegebene Verfassung erreicht die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes gerade durch die Unterscheidung der Kapazitäten des Volkes als pouvoir constituant und als pouvoir constitué. Als pouvoir constituant ist das Volk Erzeuger der Verfassung, ansonsten ist es pouvoir constitué und damit selbst Adressat der Verfassung 183 . Dabei bleibt das Volk als pouvoir constituant und als pouvoir constitué zwar dasselbe Volk 1 8 4 - es handelt sich nicht um wirklich unterschiedliche AkteuHofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 58; Isensee, HStR VII, § 162, Rn. 29; Graf Kielmansegg, FS. Hennis, S. 397; Arendt, Über die Revolution, S. 186. 176 Herzog, DÖV 1962, S. 81 (82); dazu Steiner, Verfassunggebung, S. 108. 177 Maunz, HSTR IV, § 94, Rn. 25; Steiner, Verfassunggebung, S. 100, 107. 178 Dreier, JZ 1994, S. 741 (743). 179 Zur Spezialität der verfassunggebenden Versammlung gegenüber der normalen Volksrepräsentation vgl. ausf. unten 2. Teil, B.IV. 180 BVerfGE 1, 14 (61): „Eine verfassunggebende Versammlung hat einen höheren Rang als die auf Grund der erlassenen Verfassung gewählte Volksvertretung. Sie ist im Besitz des „pouvoir constituant". Sie schafft die neue, für den werdenden Staat verbindliche, mit besonderer Kraft ausgestattete Verfassungsordnung." Vgl. dazu auch Feuchte, VB1BW 1992, S. 287 (290).

181 Die Kritik an dieser Feststellung des BVerfG bei H.-P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 16, sowie die Wendung gegen einen höheren Rang und eine höhere Legitimität der verfassunggebenden Gewalt übersieht, daß darauf die Verbindlichkeit der Verfassung für den Gesetzgeber und der Vorrang der Verfassung ruht. Die Tatsache, daß der pouvoir constituant die Regeln für die pouvoirs constitués festlegt, „verschafft ihm noch keine erhöhte Legitimität" - aber ohne diese Legitimität könnte er nicht wirksam den Anspruch erheben, die Träger der Staatsgewalt zu binden. 182 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 1.3.a (S. 151); Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 26. 183 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.3.b (S. 151) m.w.N. Fn. 46, Bd. II, § 25 II.2.b (S. 23).

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

re, sondern um eine Verfahrensbesonderheit 185. Die Souveränität des Volkes wird aber exklusiv mit seiner Funktion als Verfassunggeber verbunden 186. Das Volk als Verfassunggeber ist dem Volk als Akteur im Rahmen der einmal gegebenen Verfassung, als Verfassungsorgan, vor- und übergeordnet. In der besonderen Rolle realisiert sich das besondere Recht 187 . Indem der Volkssouverän in seiner Kapazität als verfassunggebende Gewalt die Verfassung hervorbringt, bindet er die als pouvoirs constitués auf der Grundlage und in den von der Verfassung gezogenen Grenzen operierenden verfaßten Gewalten; zugleich bindet er damit sich selbst, sofern er als Verfassungsorgan, also als pouvoir constitué, im Rahmen der von ihm geschaffenen Verfassung tätig wird 1 8 8 . Im Akt der Verfassunggebung - so die Grundvorstellung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes - bindet sich das Volk 1 8 9 . Danach besteht keine Schrankenlosigkeit des Volkswillens mehr, sondern Bindung an die einmal gegebene Verfassung 190. Diese Selbstbindung kann zwar keine rechtliche Bindung sein 191 , weil eine vorrechtliche, Recht erst ermöglichende Macht durch Recht nicht gebunden werden kann. Der pouvoir constituant kann diese Selbstbindung - durch 1 QO

1 QO

Revolution - zerreißen ; die Tatsache der Möglichkeit von Revolution kann keine Rechtskonstruktion beseitigen194. Bis zu einer Revolution aber bleibt es bei der Selbstbindung an die Verfassung. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Murswiek, der die Möglichkeit einer Selbstbindung des (Volks-) Souveräns verneint 195 , ohne aber darum die Verfassung 184 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. II, § 25 II.2.b (S. 22 f.); E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 22. 185 Leisner., FS. Liermann, S. 96 (113). 186 Vgl. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. II, § 25 II.2.b (S. 23): „Das Volk handelt als wirklicher Souverän nur, wenn es als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt tätig wird". Vgl. auch Grawert, HStR I, § 14, Rn. 23, zur Unterscheidung des Volkes als pouvoir constitué vom Volk als Souverän. 187 Vgl. auch Graf Kielmansegg, FS. Hennis, S. 397 (408). 188 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 II.l.c (S. 153), Bd. II, § 25 II.2.b (S. 22 f.); U.K. Preuß, ZRP 1993, S. 131 (132); Bartlsperger, DVB1. 1990, S. 1285 (1299 f.); C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 98; vgl. aber auch E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 22, der zu Recht darauf hinweist, daß sich in der staatlich-politischen Wirklichkeit das Volk als Organ und das Volk als Souverän nicht so wie in der jurstischen Konstruktion voneinander trennen lassen, weil „letztlich beide dasselbe ,Volk'" sind. 189 Graf Kielmansegg, FS. Hennis, S. 397 (408); Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 24. 190 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. II, § 25 II.2.b (S. 23). 191 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 23. 192 Zum staatsrechtlichen Revolutionsbegriff vgl. Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 17 ff. 193 Vgl. hierzu Henke, Der Staat 31 (1992), S. 265 (269). 194 Vgl. insofern zustimmend auch Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 106; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.3.C (S. 153).

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

103

zu relativieren oder der jederzeitigen schrankenlosen Änderung oder Außerkraftsetzung durch sich als pouvoir constituant ausgebende196 politische Mächte anheimzugeben. Das Charakteristische seiner Konstruktion besteht darin, daß er die Entscheidung des Volkes als pouvoir constituant gleichsam gegen sich selbst wendet 1 9 7 . Das Volk als pouvoir constituant habe in der Verfassung seine Befugnis zur Verfassunggebung in einer zwar nicht für sich selbst, aber für die verfaßten Gewalten verbindlichen Weise beschränkt, indem es sie für illegal 1 9 8 erklärt hat und damit die verbindliche Anweisung an die verfaßten Gewalten gegeben hat, jede künftige Verfassunggebung zu verhindern 199 . Damit ist zwar Revolution nicht ausgeschlossen, die überpositive verfassunggebende Gewalt des Volkes nicht beseitigt, aber bis das Legalitätssystem der geltenden Verfassung beseitigt ist, ist jeder Anlauf zur Betätigung des pouvoir constituant illegal und den verfaßten Gewalten verboten 200 und von diesen in Ausführung der Anweisung des Verfassunggebers zu verhindern. Auch Murswiek betont die stabilisierende Wirkung, die daraus folgt, daß die theoretische Bedeutungslosigkeit der Legalität für einen überpositiven pouvoir constituant erst praktisch wird, wenn die Legalität der alten Verfassungsordnung bereits gebrochen ist 2 0 1 . „Der Staat" und die Verfassung und das auf ihr errichtete Gebäude der positiven Rechtsordnung, wie man Henkes Quintessenz der Murswiek-These wohl zu ergänzen hätte, „besteht fest und zu Recht bis zur Revolution" 202 . 195

Die rechtstheoretische Kontroverse, ob man von einer nicht rechtlichen und zerreißbaren Selbstbindung sprechen kann (E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 23), oder der Terminus Selbstbindung für eine rechtlich wirksame und sanktionierte Bindung - die es natürlich für den pouvoir constituant nicht geben kann - reserviert werden sollte CMurswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 174), kann, sofern es sich nicht ohnehin um einen erkenntnisneutralen terminologischen Streit handelt, hier aufgrund der Aufgabenstellung der Arbeit nicht weiter verfolgt werden. 196 Zum Problem „Anmaßung" der verfassunggebenden Gewalt durch eine politische Gruppe vgl. Henke, Der Staat 31 (1992), S. 265 (270). m Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (193). 198 Mit Ausnahme des Sonderfalles legaler Verfassunggebung im Fall der Wiedervereinigung gemäß Artikel 146 GG a.F. - Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 144. Ebenso Bartlsperger, DVB1. 1990, S. 1285 (1299 f.). 199 Diese spezifische Konstruktion, die man als „Murswiek-These" bezeichnen könnte, wird mehrfach durchgespielt vgl. Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 151 f.; 189, 235; andeutungsweise finden sich Überlegungen in diese Richtung schon bei Maunz, DÖV 1953, S. 645 (647). Die Funktion dieser Konstruktion wird verkannt bei Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsproblem, S. 26, 33. 200 Von diesem Standpunkt aus ist es dann allerdings nicht konsequent, wenn Murswiek (Der Staat 32 [1993], S. 161 [189]) die von ihm als verfassunggebenden Akt verstandene Entscheidung für den Vertrag von Maastricht (a. a. O., S. 164) über die Abhaltung eines Referendums legalisieren zu können meint: wenn das Referendum wirklich über das Grundgesetz hinausführen würde, wäre es nach seiner eigenen Lehre jeder deutschen Staatsgewalt, die ihre Legitimation vom Grundgesetz ableitet, verboten, ein derartiges Plebiszit zu dulden, geschweige denn anzustreben oder ein darauf zielendes Gesetz zu erlassen. 201

Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 190.

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes vermag also die Gebundenheit der Staatsorgane und insbesondere auch des Volkes und seiner Repräsentanten in der verfassungsstaatlichen Normallage zu begründen 203. Sie kanalisiert die Souveränität des Volkes und verwehrt ihm und seinen Repräsentanten in der Normallage den Zugriff auf den Kern der Verfassung 204. Das Problem der Bindung eines Souveräns verschiebt sie damit aber um eine Ebene nach vorne beziehungsweise nach oben, nämlich auf die Frage nach den Grenzen und Bindungen für die verfassunggebende Gewalt selbst, für das Volk gerade in seiner Eigenschaft als pouvoir constituant.

2. Bindung des pouvoir constituant Positivrechtliche Bindungen kann es für den Inhaber der verfassunggebenden Gewalt nicht geben. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer seiner ersten Entscheidungen festgestellt, daß es mit der besonderen Stellung einer verfassunggebenden Versammlung im Besitz des pouvoir constituant unvereinbar sei, daß ihr von außen Beschränkungen auferlegt werden 205 ; im Maastricht-Urteil von 1993 hat es wiederum festgestellt, daß selbst Art. 79 Abs. 3 GG die verfassunggebende Gewalt nicht normativ binden kann 206 . Die sogenannte „Bindungslosigkeit" des pouvoir constituant gehört seit der amerikanischen Revolution 207 zum Grundbestand aller Lehren von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes 208 . Sie ergibt 202 Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (194). Dort heißt es auch, das scheine eine zutreffende Wiedergabe der staatlichen und revolutionären Realität und überdies eine „geniale Kombination von Carl Schmitt und dem staatsrechtlichen Positivismus" zu sein. Kritisch dann wieder Henke, Der Staat 31 (1992), S. 265 (269). 203 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.3.a (S. 151). 204 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 18 f.; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. II, § 25 II.2.b (S. 23). 205 BVerfGE 1, 14 (61: „Mit dieser besonderen Stellung ist es unverträglich, daß ihr von außen Beschränkungen auferlegt werden. Sie ist nur gebunden an die jedem geschriebenen Recht vorausliegenden Rechtsgrundsätze ..."). 206 BVerfGE 89, 155 (180). 207 Vgl. oben 1. Teil, A.III. 208 Vgl. ζ. B. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.e (S. 150); Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Präambel, Rn. 8; E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 16, 26; Wahl, StWStP 1990, S. 468 (478); Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 169; Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 80; Steiner, Verfassunggebung, S. 121 f., 174; v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 66; Schramm, Staatsrecht III, S. 60; Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Präambel, Rn. 5; ders., DÖV 1953, S. 645; ders., Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 13, 17; vgl. dazu Scheuner, DÖV 1953, S. 581 (584); C. Schmitt, Rechtsstaatlicher VerfassungsVollzug, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 452 (482). Badura, FS. Scheuner, S. 19 (26) hält den Versuch, normative Grenzen der verfassunggebenden Gewalt zu finden, für eine „eigentlich paradoxe" Form des Gedankens der rechtlichen Bindung politischer Gewalt. Vgl. auch Rauschning, DVB1. 1990, S. 393 (402).

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

105

sich sowohl aus der besonderen Ausgangssituation der Verfassunggebung als auch aus den Folgerungen aus dem Prinzip der Volkssouveränität und den Grundannahmen der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Daß die verfassunggebende Gewalt positivrechtlichen Bindungen nicht unterworfen sein kann, folgt in erster Linie aus der verfassungsrechtlichen Sondersituation 2 0 9 der Verfassunggebung sowie der Funktion der verfassunggebenden Gewalt. Vor Schaffung und Inkraftsetzung der Verfassung kann es keine Bindung an die Verfassung geben. Die neue, vom pouvoir constituant erst zu schaffende Verfassung existiert rechtlich noch nicht; eine Verfassung gilt nicht vor ihrem Erlaß. Der Verfassunggeber bringt die die Staatsgewalt bindende Verfassung erst rechtlich hervor und setzt sie in Geltung; er ist verfassungsschöpfend 210 und liegt der Verfassung sowohl historisch als auch logisch-systematisch voraus. Erst die auf der Grundlage der von ihm geschaffenen Verfassung konstituierten Gewalten können verfassungsrechtlich gebunden sein. Das Volk in seiner Kapazität als verfassunggebende Gewalt ist keine verfaßte und verfassungsgebundene, sondern vorverfassungsmäßige211 Gewalt - gerade hierin unterscheidet sich der pouvoir constituant ja von den verfaßten Gewalten, den pouvoirs constitués. Die Befugnis zur Setzung der Verfassung als der höchsten Norm der positiven Rechtsordnung kann schon begrifflich nicht ihrerseits durch eine positivrechtliche ΟΛΟ

λιο

Norm gebunden sein - sonst wäre diese die höchste Norm der Rechtsordnung und die Verfassung wäre nicht, was sie zu sein behauptet. Insbesondere kann nicht die alte, vorangegangene Verfassung eine rechtliche Schranke für die verfassunggebende Gewalt darstellen 214. Andernfalls würde es sich bei der Betätigung der verfassunggebenden Gewalt nicht um Verfassunggebung, sondern um Verfassungsänderung im Rahmen des Legalitätsgebäudes der alten Verfassung handeln. Eine Bindung der verfassunggebenden Gewalt an die alte Verfassung zu postulieren, hieße, eine Neukonstituierung theoretisch auszuschließen. Damit aber würde letztlich das Recht des Volkes zur Disposition über die Verfassung des Staates und damit die verfassunggebende Gewalt des Volkes überhaupt verneint 215 und ge209 Vgl. oben 2. Teil, Kapitel A; dazu auch bereits Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (574 f.). 210 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.3.a (S. 151). 211 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.a (S. 146). 212 Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 80, unter Hinweis auf BVerfGE 6,331. 213 Vgl. Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 32. 214 Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 15; ders., DÖV 1953, S. 645; ders., in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Präambel, Rn. 5; Steiner, Verfassunggebung, S. 174; Isensee, HStR VII, § 166, Rn. 15; C. Schmitt Verfassungslehre, S. 88; Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 80; Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 33; ders. HStR VIII, § 197, Rn. 84. 215 Maunz, DÖV 1953, S. 645.

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

gen das Prinzip der Volkssouveränität verstoßen 216. Als der revolutionäre Aspekt 217 der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes begründet die Lehre von der Ungebundenheit durch das bisherige Recht die Möglichkeit einer grundlegenden Umgestaltung der staatsrechtlichen Verhälnisse 218, macht die Tatsache von Revolutionen für das Recht erklärbar und lenkt diese zugleich in die geordneten Bahnen des Verfassungsstaates. Die Anerkennung der Freiheit des pouvoir constituant von positivrechtlichen Bindungen bedeutet nicht ein Recht des Verfassunggebers auf Willkür 2 1 9 oder Inhumanität. Die sogenannte „Bindungslosigkeit" des pouvoir constituant beschränkt sich auf die Tatsache, daß es eine positivierte innerstaatliche rechtliche Gebundenheit 2 2 0 nicht geben kann; sie bedeutet also nicht, daß die verfassunggebende Gewalt rechtlich nicht gebunden ist 2 2 1 oder gar eine absolute und allseitige Bindungslosigkeit 222 der verfassunggebenden Gewalt oder gar einer verfassunggebenden Versammlung 223. Seit die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in der Staatsrechtslehre und vom Grundgesetz als verfassungsrechtlicher Begriff anerkannt ist, wird dabei vorausgesetzt, daß sie nicht als gänzlich ungebunden gedacht werden kann 224 . Schon die Anrufung der Verantwortung des Verfassunggebers vor Gott in der Präambel des Grundgesetzes gilt als Ausdruck der Absage an eine absolut gedachte Volkssouveränität 225. Zu berücksichtigen ist heute auch die völkerrechtliche - und damit unabhängig von der Existenz und ΒindungsWirkung nationalen Verfassungsrechts - bestehende Bindung des Verfassunggebers an die zwingenden Sätze des Völkerrechts 226. Insbesondere im Zusammenhang der Renaissance des Natur216 Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 13, 15. Zur Voraussetzung des Prinzips der Volkssouveränität vgl. oben 2. Teil, B.II. 217 Vgl. oben 2. Teil, B.I. 2

18 Vgl. Heckel HStR VIII, § 197, Rn. 66.

219

Vgl. auch E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 26; Kirchhof HStR I, § 19, Rn. 16; v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 66. 22 0 Darauf weist Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.e (S. 150), hin. 22 1 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.a (S. 146). 222 Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 13; vgl. auch ders., in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Präambel, Rn. 11. 223 Gegen die Identifikation von Souveränität des Volkes als pouvoir constituant mit der Souveränität der Vertreter des Volkes hat sich schon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 60, 340, gewendet. 224 Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 13; ders., in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Präambel, Rn. 11; vgl. auch Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 60; Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (147); Heckel, HStR VIII, § 197, Rn. 79 ff.; Sauerwein, Die „Omnipotenz" des pouvoir constituant, 1960. Vgl. auch Grewe, Rechtsgutachten über die Rechtsgültigkeit des Artikels 41 der Hessischen Verfassung, S. 6. 225 Vgl. v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Präambel, Anm. III (S. 42); v. Münch, in: v. Münch / Kunig, GG, Präambel, Rn. 8.

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

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rechtsdenkens in den ersten Nachkriegsjahrzehnten spielte zudem die Berufung auf Bindungen überpositiven Charakters 227 eine Rolle. Das Bundesverfassungsgericht nahm in der Südweststaatsentscheidung von 1951 eine Bindung an „die jedem geschriebenen Recht vorausliegenden überpositiven Rechtsgrundsätze" an 2 2 8 und hat noch im gleichen Jahr eine ausnahmslose Geltung des Grundsatzes, daß der ursprüngliche Verfassungsgeber alles nach seinem Willen ordnen kann, als „Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus" verworfen und über die Bindung auch eines „ursprünglichen Verfassungsgebers" an „äußerste Grenzen der Gerechtigkeit" nachgedacht229 sowie auf von der Positivierung durch den Verfassungsgesetzgeber unabhängige „übergesetzliche Normen" hingewiesen230. In seiner Entscheidung zu den Enteignungen in der SBZ zwischen 1945 und 1949 hat das Gericht unter Bezugnahme auf diese ältere Rechtsprechung in jüngster Zeit erneut festgestellt, auch der originäre Verfassunggeber dürfe „grundlegende Gerechtigkeitspostulate nicht außer acht lassen" 231 . Die Berufung auf naturrechtliche Bindungen des pouvoir constituant läßt sich bis auf die klassische Formulierung in der Lehre des Abbé Sieyès zurückverfolgen, der sich nicht auf den von Carl Schmitt in Anspruch genommenen Satz, wonach „es genügt, daß die Nation w i l l " 2 3 2 beschränkt, sondern durchaus „vor und über ihr das natürliche Gesetz" anerkennt 233. Die Behauptung überpositiver Bindungen lei226 Vgl. ζ. B. Tomuschat, VVDStRL 49 (1990), S. 70 (90); Magiern, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (149); H.-P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 32; Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235; Quaritsch, HStR VIII, § 193, Rn. 2; Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 32. 227 Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 13, 16; ders., DÖV 1953, S. 645 (646); ders., Deutsches Staatsrecht, S. 45; Grewe, Rechtsgutachten über die Rechtsgültigkeit des Artikels 41 der Hessischen Verfassung, S. 6; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.e (S. 150); Steiner, Verfassunggebung, S. 51 ff., 181; vgl. dazu auch E.W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 27 ff.; Heckel, HStR VIII, § 197, Rn. 82; Evers, in: Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung Art. 79 Abs. 3, Rn. 82. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 63, spricht von einem „naturrechtlichen Minimum". Vgl. auch Schuppert, in: Starck (Hrsg.), Main Principles of the German Basic Law, S. 37 (41). 228 BVerfGE 1, 14 (61). Dem waren 1950 / 51 Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs (BayVerfG, Verw. Rspr. 2, S. 273 ff.) und des Hessischen Staatsgerichtshofs (Hess StGH, AÖR 77, S. 469) vorausgegangen, die eine Bindung des Verfassunggebers an der Verfassung vorausliegendes Recht angenommen hatten. 229 BVerfGE 3, 225 (232). 230 BVerfGE 3, 225 (233). 231 BVerfGE 84, 90 (121), unter Hinweis auf BVerfGE 3, 225 (232) und 23, 98 (106). 232 Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, S. 83; zit. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 79. Zur Eleminierung der bei Sieyès mitgedachten Bindungen des pouvoir constituant in der Rezeption durch Carl Schmitt vgl. insbesondere Breuer, Nationalstaat und pouvoir constituant bei Sieyes und Carl Schmitt, ARSP 70 (1984) S. 495 (498 ff., 515). 233 Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, S. 80. Vgl. dazu aber auch die relativierenden Hinweise bei Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 13.

2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

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det jedoch unter der Problematik allen Naturrechts, nämlich nicht objektiv erkennbar und intersubjektiv beweisbar zu sein sowie in Geltung und Durchsetzung seiner Verbindlichkeit von (durchaus nicht überpositiven) staatlichen Instanzen und der Übersetzung in das positive Recht abhängig zu sein 234 . Die als Schranke des pouvoir constituant angesprochenen überpositiven Rechtsgrundsätze führen als solche 235 also zwar keine positivrechtliche Bindung herbei. Das heißt aber nicht, daß sie irrelevant und der pouvoir constituant völlig bindungslos und normativ leer ist 2 3 6 . Letzteres könnte nur eine völlig auf das positive Recht fixierte Betrachtung annehmen, für die gewissermaßen jenseits des Gesetzesrechts das Chaos 237 und ein ethisch-sittlich leerer Naturzustand beginnt. Das aber ist eine Vorstellung, die nicht der Realität entspricht. Auch die rechtswissenschaftliche Betrachtung ist nicht gezwungen anzunehmen, es gäbe außer dem Recht nichts; sie kann damit rechnen und sich darauf verlassen, daß es jenseits des positiven Rechts etwas gibt, auch wenn sie es nicht mit spezifisch juristischen Methoden 238 zu erfassen vermag. Der Bereich jenseits des positiven Rechts ist auch aus der Sicht der Rechtswissenschaft genauer zu bestimmen als das, was Henke 239 den „Bereich der Wirklichkeit" nennt. Henke selber spricht von den „Menschen in den kulturellen, politischen, wirtschaftlichen, ethischen, sprachlichen und sonstigen Ordnungen ihres Zusammenlebens"240. Andere haben auf die „überwiegend im Volke bestehenden Wert-, Gerechtigkeits- und SicherheitsVorstellungen" 241 und die „geistigen Ordnungsideen, ethisch-sittlichen Anschauungen und Grundsätze, politische Impulse . . . , die im Volk bzw. in der Nation lebendig und gegenwärtig sind" verwiesen 242. 234

Vgl. Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 137; E.W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 28; Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (148). Vgl. auch die Abstandnahme vom Naturrecht als Maßstab rechtlicher Prüfung in BVerfGE 10, 59 (81). 235 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 29: „Überpositive Rechtsgrundsätze sind, nimmt man sie als solche ernst, (noch) nicht Teil des positiven Rechts, sondern eben vor-positiv". 236 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 30; Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 62. 237 Vgl. auch Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (197 f.). 23 « Darauf weist Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (198) hin; vgl. aber auch ders., Der Staat 7 (1968), S. 165 (171), der darauf insistiert, daß die Methode nicht den Gegenstand der Staatsrechtslehre bestimmen dürfe, „so daß Recht und Rechtswissenschaft da enden würden, wo der „staatsrechtlich-technische" Bereich endet". 239 24

Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (198). 0 Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (198).

24 1 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.d (S. 149); Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (149). Vgl. auch Schuppert, in: Starck (Hrsg.), Main Principles of the German Basic Law, S. 37 (41). 242 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 30, unter Hinweis auf E. Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillens (1931), dort S. 9; vgl. auch Hofmann, Legi-

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Damit ist natürlich der gehegte Bereich juristisch definierter Begriffe und autoritativ vorentschiedenen Streits im Grundlegenden verlassen; daß dies nicht erwartet werden kann, wo in den Bereich vor Geltung des positiven Rechts zurückgefragt wird 2 4 3 , versteht sich allerdings von selbst. Aber auch wenn in der pluralistischen Gesellschaft normative Aussagen jenseits des positiven Rechts notwendig im Streit stehen, so ist dieser Streit zum einen doch kein unbegrenzter. Denn wo alles Grundlegende unbeschränkt strittig wäre, also nicht einem in anderen Bereichen vorhandenen Grundkonsens gegenüberstehen würde, da könnte auch eine positivrechtliche Verfassung keine Ordnung stiften. Zum anderen handelt es sich dabei nicht lediglich um, wie es bei Henke heißt 244 , „nur politische und das heißt: unverbindliche Positionen". Auch außerrechtliche Normativitäten 245 beanspruchen und entfalten Verbindlichkeit und Geltung 246 , auch wenn dies keine positivrechtliche Geltung ist, die gegebenenfalls justizförmig durchsetzbar und erzwingbar 247 ist. In der Bindung an derartige vor- oder außerrechtlichen Normen befindet sich der Verfassunggeber in einer Lage, die - nur, aber immerhin - der Verfassungslage eines Rechts- und Verfassungsstaates wie Großbritannien entspricht 248 , dessen Verfassung sich ja bis heute dadurch auszeichnet, daß sie nicht nur weitgehend ungeschrieben und unkodifiziert ist, sondern mit Ausnahme von zwei zentralen Grundentscheidungen 249 keine Rechtsqualität hat, sondern aus „Conventions", also bloßem Herkommen, Staatspraxis, Parlamentsbrauch besteht 250 . Derartige nicht-rechtliche Bindungen werden im deutschen Denken über Staat und Verfassung, das stark juridifiziert und auf trennscharfe rechtliche Abgrenzungen der Kompetenzen fixiert ist, leicht unterschätzt. Daß in einem Land, wo dies die konstitutionelle Normallage 251 dartimität und Rechtsgeltung, S. 70 f.; Kirchhof, HStR I, § 19, Rn. 16; Isensee, HStR I, § 13, Rn. 117. 243 Vgl. insofern auch E.-W. Böckenförde, in: FG. C. Schmitt, S. 423; Henke, Demokratie als Rechtsbegriff, Der Staat 25 (1986), S. 157 (160 f.). 244 So die in ihrer verkürzenden Gleichsetzung nicht zutreffende Formulierung bei Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (206). 245 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 29 im Anschluß an die Terminologie Hermann Hellers (vgl. Heller, Staatslehre, S. 222, 255). 246 So auch Henke, Der Staat 25 (1986), S. 157 (159). 247 Vgl. zu der Unterscheidung Henke, Der Staat 25 (1986), S. 157 (162); ders., Der Staat 31 (1992), S. 265 (277); vgl. auch Steiner, Verfassunggebung, S. 27. 248 Vgl. auch den Hinweis bei Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 274, der einen genetischen Zusammenhang zwischen den von der französischen Konstituante von 1791 für sich in Anspruch genommenen und den in unmittelbarer Anschauung beim zeitgenössischen englischen Parlament festgestellten Kompetenzen sieht. 249 Es handelt sich um das Prinzip der „Sovereignty of Parliament" / „Parliamentary supremacy" und die „Rule of Law", vgl. Wade / Bradley, Constitutional and Administrative Law, S. 7, 60 ff., 91 ff. 250 Vgl. dazu de Smith, Constitutional and Administrative Law, S. 27 ff., 37, 40 ff.; Wade / Bradley, Constitutional and Administrative Law, S. 4, 19 ff.; Boehl, Der britische Bergarbeiterstreik, S. 154, 157 m.w.N.; Haug, Grenzen der Verfassungsrevision, S. 153.

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

stellt, ein Abgleiten in Diktatur und Willkür nicht wahrscheinlicher ist als unter einer rechtlichen Verfassung des kontinentalen Typs, relativiert auch die theoretische Problematik der positivrechtlichen Ungebundenheit des pouvoir constituant. Zu den in der Gesellschaft vorhandenen Ordnungsideen, Grundsätzen und Impulsen gehören schließlich auch Rechtsgewohnheit, die positiven und negativen Erfahrungen mit Regelungen und Institutionen bisheriger Verfassungszustände, eingespielte Verfahrensweisen und rechtsstaatliches Denken 252 . Zum Beispiel wird, auch wenn (noch) keine Verfassung es anordnet und anordnen kann, eine Vertretungskörperschaft regelmäßig nach gewissen Grundregeln wie Priorität oder Mehrheit 253 verfahren. Auch die positiv-verfassungsrechtlichen Regelungen gelten nicht als sinnlose Befehle, sondern um einer jeweils zugrundeliegenden ratio willen, sie ordnen eine bestimmte Ordnungsidee als verbindlich an. Die den Regelungen zugrundeliegende ratio geht nicht mit ihrer Rechtsgeltung verloren; auch wenn ζ. B. noch keine Verfassung existiert, die ein konstruktives Mißtrauensvotum normieren könnte, so entfallen nicht die Vernunftgründe, mit denen es begründet wird, wenn es als Artikel 67 Abs. 1 einer Verfassung Rechtsgeltung hat. Ein verfassungsrechtlicher Neubeginn schöpft so in aller Regel aus dem Formenkanon der kollektiven Erfahrungen des Scheiterns oder der Bewährung der historischen überlieferten Institute 254 , auch wenn diese gegenüber dem Träger der verfassunggebenden Gewalt keine rechtliche Bindungswirkung 255 entfalten können. Der Verfassunggeber steht also in einer Situation des Neubeginns weder vor einer institutionellen, noch vor einer ethisch-sittlichen tabula rasa. So wie die verfas251 Vgl. aber auch den Hinweis auf das Erfordernis einer voraussetzungsvollen politischen Kultur als Funktionsbedingung des Theorems der Suprematie des Parlaments bei Wahl/Rottmann, Bedeutung der Verfassung, in: Conze / Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 339 (357). Gerade insofern läßt sich aber in Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts mit nicht unwesentlich geänderten Bedingungen rechnen. 252 Darauf hat überzeugend insbesondere Henke, Der Staat 31 (1992), S. 265 (275) hingewiesen. Vgl. auch Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 60 („Rückwirkung konstitutionellen Denkens auf die Vorstellung der Verfassunggebung"); Isensee, HStR I, § 13 Rn. 117 (Rechtskultur und politische Kultur als „Determinanten" für den Verfassunggeber); ähnlich auch ders., in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. I, S. 63 (69); Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.C (S. 150: „ . . . die Rechtsbindung kann sich nur auf oberste, allgemein anerkannte Rechtsprinzipien erstrecken, auf die wichtigsten unserer Rechtskultur gemeinsamen Rechtsgrundsätze."); Heckel, HStR VIII, § 197, Rn. 80, spricht von „Strukturen der politischen Entwicklung und der Rechtskultur".

253 Vgl. auch Quaritsch, Verw.A. 83 (1992), S. 314 (322), wonach die Respektierung der „in Deutschland herkömmlichen Zweidrittelmehrheit der Vorschriften über die Verfassungsänderung" die Vermutung für die Übereinstimmung mit dem Volkswillen und damit für die Legitimität einer Verfassunggebung begründen soll. Zu den zur Verfassunggebung erforderlichen Mehrheiten vgl. aber auch unten 2. Teil, B.IV. 254 Vgl. ζ. B. Isensee, HStR I, § 13 Rn. 120; Heckel, HStR VIII, § 197, Rn. 80. Vgl. auch oben 1. Teil, A.III, zur Anknüpfung an bestehende Institutionen und verfassungsrechtliche Größen bei der Neukonstituierung des amerikanischen Bundesstaats. 255 Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 81.

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

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sunggebende Gewalt nicht als positivrechtliche Befugnis ausgegeben und damit in der besonderen Situation vor Geltung der Verfassung verfassungsrechtliche Befugnisse fingiert werden dürfen, so dürfen auch nicht die von vorrechtlichen Rechtsgrundsätzen und sonstigen außerrechtlichen Normativitäten ausgehenden Bindungen des pouvoir constituant zu solchen rechtlicher Art stilisiert werden. Trotzdem sind sie nicht etwa sanktionslos. Es handelt sich um außerrechtliche Normen, „die niemand ohne nachteilige Folgen v e r l e t z t " 2 5 6 . Ihre Mißachtung in der prekären Situation der Verfassunggebung riskiert das Ausbleiben von Verfassungskonsens 257 und damit das Scheitern eines Verfassungsgebungsprozesses mit der möglichen Folge der Desintegration des Staates und der letzten Potentialität von Bürgerkrieg und Anarchie oder Diktatur - Drohungen, die in ihrer Zwangswirkung dem Risiko des Unterliegen in einem justizförmigen Rechtsstreit vor dem BVerfG wohl kaum nachstehen. Die Annahme einer Bindung der verfassunggebenden Gewalt an i m Volk vorhandene Wertvorstellungen bewegt sich freilich am Rande des Tautologischen. Wenn man mit der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes das Volk als Subjekt des pouvoir constituant annimmt, dann bedeutet sie eine Bindung des Volkes an die Wert- und Ordnungsideen, die i m Volk vorhanden s i n d 2 5 8 . Die Frage, wie eine Desorientierung des Volkes selber auszuschließen ist, ist auf diesem Wege nicht gelöst und nicht zu l ö s e n 2 5 9 .

256 Henke, Der Staat 31 (1992), S. 265 (275); ähnlich auch Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 81. 257 Zur zentralen Bedeutung des Zustandebringens von Mitarbeit der Bürger und des Ingangsetzens des Integrationsprozesses vgl. auch v. Wedel, Demokratische Verfassunggebung, S. 25; Magiern, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (147). 258 Wenn zum Beispiel bei Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.d (S. 149), der Einwand erhoben wird, im Verfassungsstaat der Gegenwart gewinne die verfassunggebende Gewalt „Legitimität nicht allein durch sich selbst", sondern „in der Übereinstimmung mit den überwiegend im Volke bestehenden Wertvorstellungen", so ist dabei offenbar nicht mehr berücksichtigt, daß nach den eigenen Voraussetzungen Träger der verfassunggebende Gewalt gerade das Volk ist (so zuvor Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.b [S. 147]); letztlich heißt der Einwand also, der Volkswille sei an die Wertvorstellungen gebunden, die er in seinen Willen aufgenommen hat, was das Problem aber nicht entschärft. Eigentlich wird also wohl eine Bindung der bei der Ausübung der verfassunggebenden Gewalt eingeschalteten Gremien an den Volkswillen intendiert. Anders das Konzept bei Tosch (Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers an den Willen des historischen Verfassunggebers, 1979), der ausdrücklich ablehnt, das Volk aufgrund der Voraussetzung des Prinzips der Volkssouveränität als Träger des pouvoir constituant anzusehen (a. a. Ο., S. 86, 99, 105); für Tosch ist darum „Träger der verfassunggebende Gewalt" derjenige, „der eine Verfassung setzt, die Wirksamkeit erlangt" (a. a. Ο., S. 94). Über dessen Bindung an den Volkswillen kann man nachdenken, ohne in Tautologien zu verfallen. 259 Der ursprüngliche revolutionäre Glaube an die Unfehlbarkeit des Volkes bei der Bestimmung in eigenen Angelegenheiten ist nach den Erfahrungen und Entartungen des 20. Jahrhunderts nicht wiederherstellbar. Insofern beruht die Lehre vom pouvoir constituant auf geistigen Voraussetzungen, die nicht mehr unzweifelhaft sind. Bei realistischer Betrachtung handelt es sich hierbei allerdings auch nicht um ein Problem des 20. Jahrhunderts, ein

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

Sowohl den Bedenken gegen die Lehre von der ungebundenen verfassunggebenden Gewalt des Volkes als auch den Antworten liegt häufig auch eine unbewußte Verwechselung von Träger des pouvoir constituant mit den bei der Ausübung der verfassunggebenden Gewalt eingeschalteten Repräsentanten beziehungsweise besonderen Vertretern zugrunde. Denn die Frage nach Bindungen stellt sich in der Realität vor allem als Frage nach den Bindungen der in die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes eingeschalteten Gremien 260 , also ζ. B. einer verfassunggebenden Versammlung. Denn das Volk als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt ist von sich aus nur begrenzt artikulations- und handlungsfähig 261. Seine Äußerungen sind eindeutig höchstens in der Ablehnung einer bestehenden Ordnung, dem revolutionären Aspekt 262 der verfassunggebenden Gewalt, und hinreichend deutlich in der fortwährenden Kooperation oder Duldung, im Tragen der getroffenen Verfassungsentscheidung, also in Hinblick auf den Geltungsaspekt263 der verfassunggebenden Gewalt. Im Positiven, also dem Entstehungsaspekt der verfassunggebenden Gewalt, bleiben sie dagegen über die Artikulation einer bestimmten Richtung hinaus vage und von der - von anderen vorgegebenen - Fragestellung abhängig 264 . Bei der Ausübung 265 der verfassunggebenden Gewalt, zur inhaltlichen Ausfüllung der grundlegenden Richtungsentscheidungen und insbesondere zur Ausarbeitung des Verfassungsgesetzes en detail bedient sich der Träger der verfassunggebenden Gewalt darum notwendigerweise besonderer Repräsentanten 266. Inhaber der verfassunggebenden Gewalt bleibt aber - bei aller Notwendigkeit der Repräsentation in der Ausübung - das Volk. Der pouvoir constituant geht nicht der Substanz nach auf die Repräsentanten des Volkes über 267 . Jeder Repräsentant leitet vielmehr seine Legitimation und Befugnisse vom Träger der verfassunggebenden Gewalt her und sein Handeln ist nur dann und insoweit als Akt des pouvoir

Problem der säkularisierten Welt oder der Staatskonstruktion auf der Grundlage der Volkssouveränitätsdoktrin, sondern letztlich jeder menschlichen Gemeinschaft. Insofern ist tatsächlich und unausweichlich - mit E.-W. Böckenfördes (Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 18) Anrufung des Napoleon-Wortes - „Politik unser aller Schicksal". 260 Vgl. zu den Formen und Verfahren der Ausübung der verfassunggebenden Gewalt unten 2. Teil, B.IV. 261 Vgl. auch Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.b (S. 148); U.K. Preuß, ZRP 1993, S. 131 (132 f.). 262 Vgl. oben 2. Teil, B.I. 263 Vgl. oben „. Teil, B.I. 264 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 19. 265 Vgl. Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 158. 266 Vgl. Gusy, ZfP 1989, S. 264 (266); C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 91 (aber auch S. 80!). 267 c. Schmitt, Verfassungslehre, S. 59, 91; vgl. auch Pasquino , in: Quaritsch, Complexio Oppositorum, S. 371 (375); a.A. Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 21.

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

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constituant legitimiert, sofern es sich - bei allen Problemen der Nachweisbarkeit im konkreten Fall - als Ausführung oder in Konkordanz mit den Grundentscheidungen des pouvoir constituant ausweisen kann 268 . Die Attritbute des pouvoir constituant kommen darum zum Beispiel einer verfassunggebenden Versammlung nicht als solcher, sondern nur insoweit zu, als sie sich auf das Mandat des Volkssouveräns, also des Trägers des pouvoir constituant berufen kann und diesen tatsächlich repräsentiert, d. h. Repräsentation und die verpflichtende Wirkung gegenüber dem Mandatar tatsächlich zustande kommt und gelingt 269 . Bindungen der besonderen Vertreter des Volkes ergeben sich dementsprechend vor allem auch aus den Grundentscheidungen des pouvoir constituant 270 . Auch wenn Entscheidungen des unorganisierten Volkes undeutlich, schwer erkennbar und in der Realität in vielen Punkten streitbefangen sind, so haben sie doch jedenfalls in der Negation von Alternativen eine elemantare Eindeutigkeit und besitzen auch im Positiven eine nicht unerhebliche Aussagekraft in fundamentalen Fragen 271 . So enthält schon die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung den Auftrag zur Verfassunggebung - die Arbeit der verfassunggebenden Versammlung ist damit auf die Selbstbindung des pouvoir constituant in einer Verfassung gerichtet, sie kann nicht souverän bleiben, will sie in Ausübung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes handeln und sich auf die Legitimation durch den Volkssouverän berufen. Der Rahmen einer verfassunggebenden Versammlung im Besitz des pouvoir constituant ist durch den Auftrag des Trägers des pouvoir constituant zur Verfassunggebung gesteckt. Wollte sie ihn überschreiten, müßte sie das gegen das Volk tun. Auch das Bundesverfassungsgericht hat insoweit festgestellt, daß der Auftrag einer verfassunggebenden Versammlung gerade dadurch gegenständlich beschränkt ist, daß sie dazu berufen ist, „aus dem verfassungslosen Zustand den verfassungsmäßigen Zustand herzustellen, also ,die Verfassung 4 ... zu schaffen" 2 7 2 . Ein gewisser inhaltlicher Rahmen ergibt sich zudem zwingend ex negativo 273 aus der Grundentscheidung des Trägers des pouvoir constituant: die nach einer re268 c. Schmitt, Verfassungslehre, S. 59; vgl. auch Gusy, ZfP 1989, S. 264 (270, 274). 269 Vgl. E.-W. Böckenförde, HStR II, § 30, Rn. 24 ff., allgemein zum Erfordernis des tatsächlichen Zustandekommens von Repräsentation. 270 E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 20; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 59. Insoweit übereinstimmend auch Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 101. 271 Ebenso auch Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 100 f. 272 BVerfGE 1, 14 (61); Grenzen aus der Funktion der Verfassunggebung sehen auch Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (147); Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 32. 273 Grimm, FAZ v. 5. 4. 1990, S. 35 (36), der in der Diskussion über die Notwendigkeit oder Gefährlichkeit einer Neukonstituierung der Bundesrepublik Deutschland anläßlich der Wiedervereinigung darüberhinaus die Möglichkeit einer positiven Begrenzung des Handlungsauftrages einer Verfassunggebenden Versammlung etwa durch eine Vorabentscheidung, daß das GG den Verfassungsberatungen zugundegelegt und seine Revision auf die unerläß8 Boehl

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

publikanischen Revolution gegen die Monarchie 274 eingesetzte verfassunggebende Versammlung ist nicht frei, eine Erbmonarchie zu installieren; das im Zuge einer friedlichen Revolution gegen ein bolschewistisches Regime frei gewählte Parlament kann auf diesem Mandat kein auf den Grundlagen des „demokratischen Zentralismus" beruhendes System errichten. Die direkte Wahl einer Verfassunggebenden Nationalversammlung mit überwältigender Wahlbeteiligung ist ein hinreichend klares Votum gegen ein dauerndes Regime der Arbeiter- und Soldatenräte 2 7 5 . Die Wahl von Repräsentanten zur Ausarbeitung der Staatsverfassung drückt den Willen des pouvoir constituant zum Verfassungsstaat aus und ist die Negation sowohl jeder Form eines Absolutismus der Macht 2 7 6 als auch von Anarchie. Die aus der Grundentscheidung des Trägers des pouvoir constituant abzuleitenden Folgen können zwar ihrerseits streitig sein 277 und sind sicher nicht trennscharf und wie Rechtsnormen einer juristischen Auslegung zugänglich; sie können aber im Einzelfall doch fundamentale Richtungsentscheidungen von eminenter Bedeutung darstellen. Bindungslosigkeit im Rahmen dieser Grundausrichtung ist also etwas anderes als Beliebigkeit.

IV· Verfahren Verfahrensregeln, durch welche die Betätigung der verfassunggebenden Gewalt (positiv-) rechtlich gebunden wäre, kann es nicht geben 278 , wenn - wie gezeigt 279 liehen Änderungen beschränkt wird, behauptete, bleibt eine Begründung dafür, von wem diese Vorabentscheidung ausgehen könnte und warum sie den Verfassunggeber binden soll, schuldig. Vgl. auch Rauschning, DVB1. 1990, S. 393 (402). 274

Vgl. zur Entscheidung für die Republik durch Negation der Monarchie C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 84. 275 Henke, Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 36 ff.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 58 ff.; Maunz, DÖV 1953, S. 645 (646); zustimmend insofern auch Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 100. 276 Vgl. E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 26 („Zum einen ist der pouvoir constituant, wie schon der Name sagt, durch den Willen zur Verfassung bestimmt. Verfassung meint aber rechtliche Ordnung und Organisation staatlich-politischer Macht. Sie meint damit zugleich deren Gliederung und Begrenzung; diese ist jeder rechtlichen Ordnung immanent, unabhängig davon, in welcher Weise diese Ordnung ausgestaltet ist. Absolute Macht, die absolut bleiben will, läßt sich nicht in Verfassung bringen."). 277 Vgl. ζ. B. die Folgerungen aus der Grundentscheidung des hessischen Verfassunggebers für eine rechtsstaatliche Ordnung für die Auslegung des Art. 41 Hess. Verf. bei C. Schmitt, Rechtstaatlicher Verfassungsvollzug, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 452 (482), und kritisch dagegen Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 33. 27 8 So wäre die - ζ. B. bei Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.c (S. 148), wörtlich übernommene - „ k l a s s i s c h e " Formulierung Carl Schmitts (Verfassungslehre, S. 82: „Ein geregeltes Verfahren, durch welches die Betätigung der verfassunggebenden Gewalt gebunden wäre, kann es nicht geben.") zu modifizieren, um das Mißverständnis zu vermeiden, die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt postuliere die Regellosigkeit jeder Verfas-

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

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- die verfassunggebende Gewalt, welche die Verfassung als Grundlage der positiven Rechtsordnung erst hervorbringen soll, ihrerseits nicht bereits durch positives Recht gebunden sein kann. Diese prozedurale Ungebundenheit des Verfassunggebers ist ein wesentliches Element der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes 2 8 0 . Auch das Bundesverfassungsgericht hat die von ihm konstatierte Unabhängigkeit einer verfassunggebenden Versammlung i m Besitz des pouvoir constituant ausdrücklich auch auf das Verfahren der Verfassunggebung bezogen 2 8 1 . Die Lehre von der prozeduralen Ungebundenheit des pouvoir constituant besagt, daß es keine rechtliche Bindung der verfassunggebenden Gewalt an eine bestimmte Form der Betätigung in dem Sinne geben kann, in dem verfaßte Staatsgewalt in der Normallage des Verfassungsstaates an die Verfassung gebunden ist, und daß insbesondere Verfahrenserfordernisse dem Träger des pouvoir constituant nicht von außerhalb oder von einer alten Verfassungsordnung vorgeschrieben werden k ö n n e n 2 8 2 . Sie zielt damit auf die Freistellung der zur Verfassunggebung legitimierten Instanzen von verfahrensmäßigen Determinierungsversuchen durch außer- oder vorkonstitutionelle Mächte. Dabei geht es in der Praxis vor allem um technische Vorbereitungsakte 283 , sogenannte „vorkonstitutionelle verfahrensordnende Bestimmungen" 2 8 4 , um ungeresunggebung. Auch Schmitt behauptet nicht die Unmöglichkeit eines geregelten Verfahrens, sondern die Unmöglichkeit der Bindung der verfassunggebenden Gewalt durch Verfahrensregeln. 279 Vgl. oben 2. Teil, B.III.2. 280 Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 14, 21, 31 f.; ders., in.: Maunz / Dürig, GG-Komm., Präambel, Rn. 7; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.C (S. 148); Kirchhof,; HStR I, § 19, Rn. 17; Mußgnug, HStR I, § 6, Rn. 98; Randelzhofer, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung Bd. I, S. 141 (153); Magiern, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (145 f.); Storost, Der Staat 29 (1990), S. 321 (330 f.); Ossenbühl, DVB1. 1992, S. 468 (471); Henke, Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 25; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 82; Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 82; Steiner, Verfassunggebung, S. 91 f.; 118, 121 f.; Barschel, Staatsqualität, S. 183 f. A.A.: H.-P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 20 ff., 24; Grewe, Rechtsgutachten über die Rechtsgültigkeit des Artikels 41 der Hessischen Verfassung, S. 6, dessen Gutachten im hessischen Verfassungsstreit aber noch vor der anders lautenden Südweststaats-Entscheidung des BVerfG (E 1, 14, 61) erstattet wurde. 281 BVerfGE 1, 14 (61: „Die Unabhängigkeit der verfassunggebenden Versammlung bei der Erfüllung ihres Auftrages, die Verfassung zu schaffen, besteht nicht nur hinschtlich der Entscheidung über den Inhalt der künftigen Verfassung, sondern auch hinsichtlich des Verfahrens, in dem die Verfassung erarbeitet wird.").

282 Das wird verkannt bei H.-P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 20 ff., der rechtliche Bindungen der verfassunggebenden Gewalt behauptet, ohne sich der Frage zu stellen, auf welcher Geltungsgrundlage diese ihre rechtliche ΒindungsWirkung entfalten sollen, und ohne Auseinandersetzung damit, wem damit ein Recht, das sich eine Verfassung gebende Volk zu determinieren, eingeräumt wird; an späterer Stelle (a. a. O., Rn. 25) wird deutlich, daß es sich tatsächlich um „zumeist von den Inhabern der faktischen Macht erlassene Vorschriften" handelt, auf die hier die rechtsstaatlichen Hoffnungen konzentriert werden. 283 Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 21. 8*

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

gelte Rechtssätze verschiedensten Ursprungs, die im Vakuum vor Inkraftsetzung einer neuen Verfassung zu wachsen pflegen 285 . So war zunächst im hessischen Verfassungsstreit gegen die Tendenz, eine Bindung an das in vor-konstitutionellen Gesetzen festgelegte Verfahren der Verfassunggebung als „eine Art provisorische Vor-Verfassung" 286 anzunehmen, eine Bindung der verfassunggebenden Gewalt abgelehnt worden 287 . Ähnlich ist die Ungebundenheit der verfassunggebenden Landes Versammlungen der in dem gemäß Artikel 23 GG a.F. der Bundesrepublik beigetretenen Teil Deutschlands neugebildeten Länder an Regelungen des Ländereinführungsgesetzes, welches noch von der Volkskammer der untergegangenen DDR beschlossen und im Einigungsvertrag teilweise als partielles Bundesrecht übergeleitet worden war, vertreten worden 288 . Zur Begründung wird angeführt, daß eine rechtliche Bindung an unterverfassungsrechtliche verfahrensleitende Anordnungen einer außerhalb des pouvoir constituant stehenden Macht weder dem Grundsatz der Volkssouveränität 289 noch dem Rang der Verfassung als höchster Norm der Rechtsordnung entsprechen würde 290 . Insbesondere können derartige verfahrensordnende Bestimmungen vor- oder außerkonstitutioneller Mächte weder rechtsstaatlicher noch demokratischer als das seine verfassunggebende Gewalt ausübende Volk sein 291 .

284 Steiner, Verfassunggebung, S. 118, 120. 285 Maunz., DÖV 1953, S. 645 (646). 286 So damals Grewe, Rechtsgutachten über die Rechtsgültigkeit des Artikels 41 der Hessischen Verfassung, S. 6 f., 24. 287 Vgl. Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 15; vgl. hierzu auch Steiner, Verfassunggebung, S. 113 ff., 124; C. Schmitt, Rechtsstaatlicher Verfassungsvollzug, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 452 (486). 288 Vgl. Boehl,, Der Staat 30 (1991), S. 572 (586 ff.); a.A. Köper, ZG 1991, S. 191, der eine Bindung an die alten Verfassungen der seit 1952 aufgelösten Länder der ehem. DDR (mit der Folge des Erfordernisses einer 2 / 3-Mehrheit für jede neue Verfassung) vertrat (vgl. dazu auch unten 3. Teil, A. und C.IV). Die Ansicht, die zur Vermeidung dieser Konsequenz das LEG für Landesrecht hält (so insbesondere Starck, ZG 1992, S. 1 (2); Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (145); Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 5), das vom Landesgesetzgeber selber geändert werden könne, verkennt, daß die Bildung von Ländern denknotwendig nicht eine Kompetenz der - erst noch zu bildenden - Länder selber sein kann (vgl. dazu schon Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (587); ders., in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 96 [97]) und darum nach dem Regelungssystem des Einigungsvertrages und der Rechtsprechung des BVerfG zu dem hierfür vorbildhaften Art. 143 GG (BVerfGE 4, 178 [183]) das LEG einheitlich als Bundesrecht zu qualifizieren ist (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Werner Schulz (Berlin) und der Gruppe Bündnis 90 / Die Grünen, BT-Drs. 12 / 3085 vom 24. 07. 92, S. 2). 289 Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 13, 15. 290 Steiner, Verfassunggebung, S. 120, 121 Fn. 40; Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 21; Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 80. 291 Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 15; ders., DÖV 1953, S. 645 (646).

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

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Wo vor- oder außerkonstitutionelle verfahrensordnende Bestimmungen den Anspruch erheben, den Prozeß der Verfassunggebung rechtswirksam zu bestimmen, wird es darum als zulässig angesehen, wenn sich der Träger der verfassunggebenden Gewalt (stillschweigend) über sie hinwegsetzt292. Ebenso hatte bereits 1921 der vorläufige Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich Vorgaben des Arbeiterund Soldatenrates im vormaligen Herzogtum Braunschweig als nicht verbindlich für die dortige verfassunggebende Landesversammlung angesehen293. Das Bundesverfassungsgericht hat Regelungen, die vom Bundesgesetzgeber der verfassunggebenden Landesversammlung des neugebildeten Südweststaates vorgegeben worden waren, nur insoweit für zulässig erachtet, als sie sich ohnehin aus dem „Wesen einer Konstituante" ergäben; Bedenken gegen weitergehende Bestimmungen waren aufgrund der verfassungskonformen Auslegung, daß „klar ist", daß es der verfassunggebenden Landesversammlung freisteht, „ohne Bindung an das Gesetz" eigene Beschlüsse zu fassen, entfallen 294 . Bei Lehren über Verfahren der Verfassunggebung gilt es in besonderem Maße, im Auge zu behalten, welcher Verfassungsbegriff jeweils zugrundeliegt und auf welche Dimension des Begriffs der verfassunggebenden Gewalt 295 sich eine solche Aussage bezieht. Wenn es etwa bei Maunz heißt, der revolutionäre Wille des Volkes als pouvoir constituant könne sich „in irgend einer Weise Bahn brechen und kundtun" 296 oder wenn nach Carl Schmitt die verfassunggebende Gewalt „durch irgendeinen erkennbaren Ausdruck" des Volkswillens betätigt werden kann 2 9 7 und die „natürliche Form" einer solchen Willensäußerung die „Akklamation" sein soll 2 9 8 , so ist damit offensichtich in erster Linie die revolutionäre 299 Dimension 292 Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 32, 14; ders., DÖV 1953, S. 645 (646); ders., in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Präambel Rn. 7; Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, S. 34; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.c (S. 148); Steiner, Verfassunggebung, S. 122. Vgl. auch BVerfGE 1, 14 (62). 293 Vorl. StGH AÖR 42 (1922), S. 79 (89); vgl. dazu auch Steiner, Verfassunggebung, S. 123, Fn. 49. 294 BVerfGE 1, 14 (62 f.). 29 29

5 Vgl. dazu oben 2. Teil, B.I. 6 Maunz, DÖV 1953, S. 645 (646).

297 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 82 („Das Volk betätigt seine verfassunggebende Gewalt durch irgendeinen Ausdruck seines unmittelbaren Gesamtwillens, der auf eine Entscheidung über Art und Form der Existenz der politischen Einheit gerichtet ist."). 298 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 83. Schmitt selber hat gegenüber dieser existentiellpathetischen, auf spätere Entwicklungen seiner Demokratietheorie während seiner Berliner Schaffensperiode vorausdeutenden Vorstellung in der noch in seiner Bonner Schaffensperiode in den zwanziger Jahren entstandenen Verfassungslehre auf die unspektakulärere Möglichkeit der Betätigung der verfassunggebenden Gewalt durch selbstverständliche tatsächliche Kooperation hingewiesen: „Auch die stillschweigende Zustimmung des Volkes ist immer möglich und leicht zu erkennen. In der bloßen Beteiligung an dem durch eine Verfassung bestimmten öffentlichen Leben kann ζ. B. eine konkludente Handlung erblickt werden, durch welche sich der verfassunggebende Wille des Volkes deutlich genug äußert", vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 91; und dazu Steiner, Verfassunggebung, S. 61 ff., Fn. 78.

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

der verfassunggebenden Gewalt angesprochen. Abbau und Aufbau sind aber nicht das gleiche; die Überwindung eines alten Legalitätssystems und die Realisierung eines neuen sind unterschiedliche und unterscheidbare Aspekte im Prozeß der Auswechslung der Legitimitätsgrundlagen eines Staatswesens, einer Revolution im staatsrechtlichen Sinne 300 , und fallen in der Regel auch zeitlich nicht zusammen. Sowohl in Hinblick auf den konstruktiven Aspekt der Verfassungsentstehung als auch auf den legitimatorischen Aspekt des andauernden Forttragens der ursprünglichen Verfassungsentscheidung wird sich die verfassunggebende Gewalt des Volkes in anderen Formen zur Geltung bringen. Sicherlich braucht es, wie es bei Maunz 301 heißt, nicht gerade eine Abstimmung über einen Verfassungsentwurf zu sein, in der der Wille des verfassunggebenden Volkes zum Ausdruck kommt. Wenn das Ergebnis einer Parlamentswahl, einer Staatsoberhauptswahl, eines Volksentscheides, die im Einklang mit der geltenden Verfassung vorgenommen werden, gleichzeitig den Willen des Volkes, ein neues politisches System haben zu wollen, realisiert, so kann darin eine „Entscheidung mit verfassungsschaffender Kraft" liegen. Zu denken ist insofern neben dem von Maunz 3 0 2 genannten Beispiel der Wahl der Deutschen Nationalversammlung im Februar 1919, die als Entscheidung des Volkes für einen demokratischen bürgerlichen Rechtsstaat und gegen ein Rätesystem nach dem Vorbild Sowjetrußlands gewertet wird, vor allem an die erste freie Wahl der Volkskammer der DDR am 18. 3. 1990, die eine überwältigende Mehrheit für die Parteien der Einheit ergab und als Entscheidung der Deutschen in der DDR gegen die deutsche Zweistaatlichkeit angesehen wurde 303 . Geschaffen wird auf solche Art aber nur das, was bei Schmitt „die Verfassung im positiven Sinne" 304 , also die elementare Grundentscheidung über die Art und Form der politischen Einheit und Ordnung ist; die Verfassung im rechtlichen Sinne, also das, was im juristischen Alltagsverständnis und

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Vgl. auch Steiner, Verfassunggebung, S. 81, der darauf hinweist, daß es bei Schmitt um revolutionäre Verfassunsentstehung geht. 300 Zum Begriff der Revolution im staatsrechtlichen Sinne vgl. Murswiek, Verfassunggebende Gewalt des Volkes nach dem Grundgesetz, S. 17 ff.; Maunz, DÖV 1953, S. 645; ders., Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 19; Nawiasky, Bundesstaat, S. 148 ff. 301 Vgl. Maunz, DÖV 1953, S. 645 (646). 302 Maunz, DÖV 1953, S. 645 (646). Maunz ergänzt damit die Deutung Carl Schmitts, der lediglich die Revolution von 1918 als Entscheidung des pouvoir constituant gegen die Monarchie und für die Republik gedeutet, die Frage nach den „Gestaltungsmöglichkeiten dieser Republik - bürgerlich-rechtsstaatlicher (konstitutioneller) Demokratie und sozialistischer Räterepublik" - aber für dadurch noch unbeantwortet gehalten hatte (vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 84). 303 Vgl. ζ. B. Isensee, ZParl 1990, S. 309 (321 - 324); ders., in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. I, S. 63 (70); und ders., VVDStRL 49 (1990), S. 39 (43, Fn. 9); Quaritsch, VerwA 83 (1992), S. 314 (316); Heckel, HStR VIII, § 197, Rn. 26 f. 304 Zu diesem, vom hier zugrunde gelegten Gebrauch des Begriffs Verfassung abweichenden Verfassungverständnis und zu den verschiedenen Dimensionen des Begriffs Verfassung vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 21 ff. und 3 ff.

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

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nach dem hier zugrundegelegten Sprachgebrauch die „Verfassung" ist, kommt so nicht zustande. In die jenseits des Aktionsradius des Volkes liegende 305 Ausarbeitung des komplexen Regelwerks der Verfassung en detail werden notwendigerweise kleinere Gremien und besondere Vertreter 306 beziehungsweise Repräsentanten eingeschaltet. Daß es für den pouvoir constituant keine rechtlich verbindlichen Verfahrensregeln geben kann, heißt jedenfalls nicht, daß es keine geregelten Verfahren der Verfassunggebung oder gar eine Präponderanz besonders irregulärer Verfahren 307 gibt. Prozedurale Ungebundenheit bedeutet nicht Bindung an ungeregelte Verfahren, sondern Freiheit des pouvoir constituant, sein Verfahren selbst zu regeln. Tatsächlich hat die zweihundertjährige Praxis demokratischer Verfassunggebung 308 ein Repertoire von Formen und Verfahren hervorgebracht 309, die den Grundsätzen der Volkssouveränität entsprechen und in denen die verfassunggebende Gewalt des Volkes üblicherweise ausgeübt wird. Bei der Frage nach den Bindungen der verfassunggebenden Gewalt hatte sich gezeigt, daß auch rechtsstaatliche Vorstellungen über ordentliche Verfahren der Willensbildung außerrechtliche Normativitäten darstellen können, die für die Akteure in der Realität unter Umständen nicht weniger verbindlich wirken, als Rechtsnormen 310. Ebenso wie die eingespielten Abläufe der demokratischen Willensbildung in der pluralistischen Industriegesellschaft 311 305 Vgl. ebenso auch Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.b (S. 148). 306 Auch nach Carl Schmitt, für den - seiner identitären Demokratiekonzeption entsprechend - eine Repräsentation des verfassunggebenden Willens des Volkes nicht in Frage kommt (Verfassungslehre, S. 80), kann die Ausführung und Formulierung der Grundentscheidung des pouvoir constituant „besonderen Beauftragten, ζ. B. einer sog. verfassunggebenden Nationalversammlung überlassen werden" (vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 91, 59). 307 Bei der Polemik Carl Schmitts gegen reguläre „Verfahren geheimer Einzelabstimmung oder geheimer Wahlen" und für „die Tat" und den „Zuruf der versammelten Menge, die Akklamation" als „natürliche" Form der Willensbekundung des Volkes (C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 83, 243) handelt sich darum nicht um einen notwendigen Bestandteil der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes; die Aussagen stellen sich vielmehr als Teil der in den politischen Schriften entwickelten Parlamentarismus- und Liberalismuskritik Schmitts dar. 308 Vgl. die Überblicksdarstellung oben im 1. Teil. 309 Vgl. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.c (S. 148); E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 20 f.; Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 20 ff.; Häberle, AÖR 112 (1987), S. 54 (57); H.-P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 26; Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 99 ff.; auch schon C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 84 ff. Vgl. auch Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 93 ff. Vorwiegend deskriptiv bzw. politologisch v. Wedel, Das Verfahren der demokratischen Verfassunggebung; v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 32 ff. 310 Vgl. oben 2. Teil, B.III.2. 311 Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 61; H.-P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 21; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. II, § 25 II.2.b (S. 23: „Die Verwirklichung der Volkssouveränität erfolgt vielmer nach Repräsentationsregeln, die auf die Realbedingungen einer pluralistischen und konfliktreichen Gesellschaft zugeschnitten sind."); vgl. auch

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

wird man die herrschenden politischen und rechtlichen Überzeugungen über die Modalitäten, wie eine „richtige" Verfassung zustandekommt, zu den bestimmenden tatsächlichen Voraussetzungen einer Verfassunggebung rechnen müssen312. Die in der Praxis der demokratischen Verfassungsstaaten üblich gewordenen Formen und Verfahren der Hervorbringung einer Verfassung gruppieren sich um die zwei Grundtypen 313 der verfassunggebenden Nationalversammlung (Konstituante 314 ) einerseits und des (Verfassungs-) Konvents andererseits 315. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Typen liegt darin, daß eine verfassunggebende Nationalversammlung die Verfassung - auf der Grundlage der Grundentscheidungen des pouvoir constituant 316 - selber beschließt, den verfassunggebenden Willen des Volkes also im präzisen Sinne repräsentiert, während ein Verfassungskonvent eine lediglich verfassungsentwerfende und -beratende Versammlung darstellt, deren Werk anschließend auf andere Weise, zum Beispiel in einem Plebiszit, beschlossen wird 3 1 7 . Die Bezeichnungen „Nationalversammlung" und „Konvent" sind dabei nicht systematisch, sondern historisch bedingt und kontingent 318 . Sie orientieren sich an den Beispielen einerseits der „Assemblée nationale" der französischen Revolution, die sich am 6. / 9. Juli 1789 als „Assemblée nationale constituante" konstituiert hatte und ein eigenes Mandat zur Verfassunggebung in Anspruch nahm, und dem zur Ausarbeitung der ersten republikanischen Verfassung Frankreichs gewählten Konvent („Convention") von 1792 andererseits 319, der seinen Namen von dem in der amerikanischen Revolution geprägten Institut der „convention" 320 ableitet.

v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 63 ff.; Häberle, AÖR 112 (1987), S. 54 (85). 312 Isensee, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. I, S. 63 (69). 3 3 * Vgl. auch Grimm, FAZ v. 5. 4. 1990, S. 35 (36); Stowst, Der Staat 29 (1991), S. 321 (329); Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, S. 15 f. 314 Vgl. BVerfGE 1, 14 (62); Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 44; ders., in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 70, Rn. 4; v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 35 ff. 315 Vgl. E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 20; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 85; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.C (S. 148); Kölble, DÖV 1962, S. 583 (584); Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 44. 316

Darauf weist E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 20, hin. Steiner, Verfassunggebung, S. 93 f.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 85 f.; E.W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 20; Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 44. 318 In Hinblick auf die verschiedenen Ausgestaltungen des ursprünglichen, insbesondere auch der Staatstheorie der französischen Revolution unmittelbar vor Augen stehenden Vorbildes der amerikanischen „conventions" (vgl. oben 1. Teil, A.II.) wäre der Begriff „Konvent" eigentlich für beide Modi der Verfassungsentstehung verfügbar; um Verständigungsbarrieren zu vermeiden, wird hier der konventionelle, etablierte Sprachgebrauch (vgl. insbesondere die Terminologie bei E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 20 f.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 85; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 5 I.2.c [S. 148]) beibehalten. 317

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

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In den beiden Grundtypen demokratischer Verfassunggebung kommen die beiden Grundrichtungen der Demokratietheorie und der demokratischen Tradition zum Vorschein: der mittelbaren, repräsentativen Form der Demokratie entspricht das Modell der Verfassunggebung durch eine verfassunggebende (National-) Versammlung, der direkten, identitären Form der Demokratie die Verfassunggebung durch Verfassungsplebiszit 321 . So wie eine logische oder legitimatorische Priorität eine der beiden Formen nicht angenommen werden kann, insbesondere nicht die mittelbare, repräsentative Form der Demokratie als eine defizitäre 3 2 2 , nur aus Erfordernissen der Praktikabilität 3 2 3 tolerable Minderform der Demokratie zu gelten h a t 3 2 4 , sondern ihrerseits mit guten Gründen gegenüber den identitären Demokratiekonzeptionen 3 2 5 als „eigentliche Form der D e m o k r a t i e " 3 2 6 bezeichnet worden ist, so ist auch in bezug auf die beiden Grundtypen demokratischer Verfassungge319

Zu den historischen Vorbildern aus der Staatspraxis der französischen Revolution vgl. oben 1. Teil, Kapitel B.; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte, S. 46, 51; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 85. 320 Vgl. oben 1. Teil, A.II. 32 1 Vgl. auch Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 20 f.; Steiner, Verfassunggebung, S. 93 f. 32 2 Vgl. zu dieser Auffassung Steiner, Verfassunggebung, S. 95 m.w.N.; Hofmann /Dreier, in: H.-P. Schneider / Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5, Rn. 21; E.W. Böckenförde, FS. Eichenberger, S. 301 (305, 314). 323

Zur „difficilitas conveniendi" als Begründung der Repräsentation vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 569; Hofmann /Dreier, in: H.-P. Schneider / Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5, Rn. 1; E.-W. Böckenförde, FS. Eichenberger, S. 301 (305); Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 228; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, II., Rn. 40, 68. 324

Vgl. Hofmann / Dreier, in: H.-P. Schneider / Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5, Rn. 22; E.-W. Böckenförde, FS. Eichenberger, S. 301 (312); U.K. Preuß, ZRP 1993, S. 131 (133); Steiner, Verfassunggebung, S. 97 ff. m.w.N.; Henke, Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 36; Gegen die Abwertung der repräsentativen Demokratie als „formaldemokratisch" auch schon Hennis, Legitimität, in: ders., Politik und praktische Philosophie, S. 198 (215 f.). Vgl. auch Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 176 ff. 325 Das identitäre Demokratiemodell liegt der Demokratietheorie Carl Schmitts (Verfassungslehre, S. 234, 214 f.) ebenso zugrunde, wie der Hans Kelsens (Wesen und Wert der Demokratie, S. 14). Vgl. dazu E.-W. Böckenförde, FS. Eichenberger, S. 301 (303, 306, 314), der dem entgegenhält, daß mit der Vorstellung von der unmittelbaren Demokratie als eigentlicher Form der Demokratie ein auch im theoretischen Sinn irrealer Begriff der Demokratie konzipiert und zugrundegelegt wird, weil ein Ausgangspunkt der Begriffsbildung gewählt wird, dem es von vornherein an Realisierbarkeit mangelt und dem gegenüber darum jede Wirklichkeit als defizitär erscheinen muß. Vgl. auch Kriele, Staatslehre, S. 228, 246; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, II., Rn. 37 f.; Hennis, Legitimität 219, gegen die Bezeichung des identitären als angeblich „klassischen" Demokratiebegriff. 326 So der ursprüngliche Titel des Aufsatzes von E.-W. Böckenförde, FS. Eichenberger, S. 301 ff., jetzt leicht modifiziert wiederabgedruckt in: ders., Staat-Verfassung-Demokratie, S. 379 ff., unter dem weniger programmatischen Titel „Demokratie und Repräsentation - Zur Kritik der heutigen Demokratiediskussion". Vgl. auch E. Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillens, S. 10.

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

bung ein prinzipieller Legitimitätsvorrang eines der beiden Typen nicht gegeben 3 2 7 . Ein allgemeiner Satz des Inhalts, nur eine im Plebiszit ratifizierte Verfassung entspreche den Anforderungen demokratischer Verfassunggebung 328, läßt sich jedenfalls, wie insbesondere Steiner gezeigt hat 3 2 9 , nicht nachweisen. Vielmehr soll die rechtliche Gleichwertigkeit von repräsentativer und plebiszitärer Verfassungserzeugung ein Grundsatz des allgemeinen demokratischen Staatsrechts in Deutschland330 und repräsentative Verfassunggebung jedenfalls in Deutschland die übliche Form 3 3 1 der Verfassunggebung sein. Tatsächlich hat von den Anfängen der Vorstellung einer Verfassungsentstehung aus der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in Amerika nach 1776 über die Beispiele in der Französischen Revolution bis zu den auf der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ruhenden Verfassungsentscheidungen in Deutschland die Ausgestaltung und der Beschluß der Verfassung besonderen Vertretern des Volkes oblegen 332 . Die besondere Rolle als Repräsentanten des Volkes in seiner Eigenschaft als Inhaber des pouvoir constituant dokumentiert sich dabei entweder darin, daß sie ein besonderes, von den ordentlichen Gesetzgebungkörperschaften verschiedenes Organ darstellen (institutionelle Spezialität) 333 . Oder sie folgt daraus, daß die Repräsentanten vom Volkssouverän mit einer gesonderten Ermächtigung, dem besonderen Mandat zur Verfassunggebung ausgestattet sind (delegatorische Spezialität) 3 3 4 327 Ausführlich dazu Steiner, Verfassunggebung, S. 96 ff. m.w.N., 105; Tomuschat, VVDStRL 49 (1990), S. 70 (88 f., m.w.N. Fn. 69); H.-P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 28; nach Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 243 (unter Hinweis nur auf das Dekret französischen Konvents vom 21. 9. 1792!), soll sich die verfassungsberatende Versammlung mit bestätigender Volksabstimmung „als Regelfall durchgesetzt" haben. Vgl. auch Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 104 ff., zur Position Condorcets. 328 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 80 („Es wäre konsequent demokratisch gewesen, das Volk selbst entscheiden zu lassen, denn der verfassunggebende Wille des Volkes kann nicht repräsentiert werden ..."); ähnlich Mußgnug, HStR I, § 6, Rn. 98 ( „ . . . , daß Verfassungen, die ihren Geltungsgrund aus der Volkssouveränität herleiten, auf einem plebiszitären Akt beruhen müssen"). Vgl. auch (ablehnend) Steiner, Verfassunggebung, S. 96 m.w.N. für diese Ansicht in Fn. 22. 329 Steiner, Verfassunggebung, S. 101, 104; ebenso Mannzen, JÖR (NF) 6 (1957), S. 251 (263); Barschel, Staatsqualität, S. 181; vgl. auch v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 35; Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 31; ders. HStR VIII, § 197, Rn. 77. 330

Steiner, Verfassunggebung, S. 105. Steiner, Verfassunggebung, S. 103, 157; vgl. auch Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. II, § 25 II.2.b (S. 23); v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 7, 36; vgl. auch Heckel, HStR VIII, § 197, Rn. 78. A.A.: Mußgnug, HStR I, § 6, Rn. 98. 332 Vgl. ausführlich dazu oben den 1. Teil; Graf Kielmansegg, FS. Hennis, S. 397 (400); Loewenstein, Volk und Parlament, S. 30; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 340 f.; Steiner, Verfassunggebung, S. 101, 103; v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 35 ff. 331

333 334

Vgl. Steiner, Verfassunggebung, S. 155, 159. Vgl. Steiner, Verfassunggebung, S. 155 f., 159.

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

123

Die institutionelle Spezialität wird dabei nicht dadurch beeinträchtigt 3 3 5 , daß es zum Beispiel eine verfassunggebende Versammlung i m Besitz des pouvoir constituant - wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat - neben der Aufgabe der Verfassunggebung auch obliegt, „die Gesetze zu schaffen, die für die Übergangszeit und die Zukunft notwendig sind, damit der Staat durch seine Verfassungsorgane wirksam handeln und funktionieren k a n n " 3 3 6 ; die gesetzgeberische Arbeit bleibt insofern von untergeordneter Bedeutung und steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der speziellen Aufgabe der Verfassunggebung 337 . Ein besonderes Mandat zu Verfassunggebung andererseits kann auch aus der Neuwahl einer Volksvertretung in K e n n t n i s 3 3 8 der ihr zunächst obliegenden Aufgabe der Verfassunggebung hergeleitet w e r d e n 3 3 9 ; bei der ersten gewählten Volksvertretung eines Staates wird sich das in der Regel ohne weiteres aus den tatsächlichen Umständen ergeben340 Auch plebiszitäre Gestaltungen der Verfassunggebung sind seit den ersten Verfassungen von Massachusetts 341 und Pennsylvania aus den Jahren 1780 und 1781, jedenfalls aber seit der Verfassung der ersten französischen Republik von 1 7 9 3 3 4 2

335 Vgl. auch oben 1. Teil, A.II.3. zur Nichtdurchsetzung gesteigerter Anforderungen an die institutionelle Spezialität bei der Entstehung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in Nordamerika. 33 6 BVerfGE 1, 14(61). 337

Vgl. Steiner, Verfassunggebung, S. 157. Vgl. zu dieser Art der Herleitung des besonderen Mandats zur Verfassunggebung aus der Wahl in Kenntnis der bevorstehenden Aufgabe insbesondere Barschel, Staatsqualität, S. 183; dem folgend Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (586). Das implizite Mandat aus der Kenntnis der bevorstehenden Aufgabe der Verfassunggebung ist seit den ersten Fällen demokratischer Verfassunggebung in Nordamerika (vgl. oben 1. Teil, A.II.2.) und in der Französischen Revolution (vgl. oben 1. Teil, Kapitel B.) bekannt. 338

339 Damit ist der Freiheit der verfassunggebenden Gewalt, über das Verfahren, in dem sie sich äußert, selbst und nicht nach Maßgabe der Regeln vor- oder außerkonstitutioneller Mächte zu entscheiden, weitestgehend Rechnung getragen. Wenn Steiner, Verfassunggebung, S. 160 f., darüberhinaus sowohl das Erfordernis der institutionellen Spezialität als auch das eines ad hoc-Auftrages an die ordentlichen Repräsentationskörperschaften für nicht notwendig hält, so steht das offensichtlich in Zusammenhang mit der von ihm verfolgten Theorie der Einheit von verfassunggebende Gewalt und verfassungsändernder Gewalt als rechtlich nicht wesentlich unterschiedener Erscheinungsformen einer „verfassungserzeugenden Gewalt" (vgl. ebd. S. 156 und 220 ff.); Steiner selbst macht deutlich, daß insofern der gemeinsame Boden der traditionellen Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes verlassen ist (vgl. ebd. S. 173 ff. und 220 ff.). 3 40 Vgl. Mannzen, JÖR (NF) 6 (1957), S. 251 (264). 341

Zum Problem der Verfassunggebung in Massachusetts im allgemeinen und im besonderen zu den Fragen, inwieweit hier wirklich ein Fall plebiszitärer Verfassunggebung vorlag und ob diese gegenüber den vorangegangenen Verfassungsgebungsprozessen in den anderen Einzelstaaten einen Fortschritt der Vorstellungen über die Anforderungen an eine legitime Verfassunggebung darstellt vgl. oben 1. Teil, A.II.3. 342 Vgl. dazu oben 1. Teil, Kapitel B; Loewenstein, Volk und Parlament, S. 30; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 389 ff.

124

2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

vertraut 343 . Plebiszitäre Formen der Verfassunggebung stehen vor dem Grundproblem der begrenzten Artikulationsfähigkeit des Volkes und der daraus folgenden Bedeutung der Verfügung über die Fragestellung 344. Wenn es für den pouvoir constituant keine rechtlich bindenden Verfahrensregeln geben kann, die für Äußerungen des Volkes im Rahmen der Verfassung als pouvoir constitué die Bedingungen festlegen, dann muß neben der Abstimmung über von Staatsorganen oder Volksinitiativen stammende Entwürfe auch das Plebiszit „über eine bereits einseitig herbeigeführte, in ihrer Legalität zweifelhafte neue Ordnung der Verfassung, wie die in den der plebiszitären Legitimation eines Staatsstreichs nahekommenden napoleonischen Plebisziten" 345 , als gültiger Ausdruck der verfassunggebenden Gewalt des Volkes hingenomen werden. Die besondere Situation der Verfassunggebung, daß sie sich notwendigerweise vor Geltung der Verfassung und jenseits der Geltung vorangegangener Verfassungsgesetze vollzieht, und das Fehlen verfahrensrechtlicher Bindungen für den pouvoir constituant haben zur Folge, daß das aus der verfassungsstaatlichen Normallage gewohnte Erfordernis von 2 / 3-Mehrheiten zur Setzung von Verfassungsrecht für Äußerungen der verfassunggebenden Gewalt nicht gelten kann: Bevor die Verfassung für bestimmte Beschlüsse eine qualifizierte Mehrheit bindend anordnet, bleibt es beim Mehrheitsprinzip als der prozeduralen Grundregel der Demokratie („Mehrheit entscheidet")346. Diese Logik läßt sich freilich auch gegen das Mehrheitsprinzip selber wenden 347 : auch das Mehrheitsprinzip kann für den Verfassunggeber nicht wie im Verfassungsstaat deswegen gelten, weil die Verfassung es anordnet 348 . So wie aber das Mehrheitprinzip auch als Verfassungsprinzip nicht allein 343 Weitere Beispiele bei E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 20; v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 37 ff. 344 Vgl. E.-W. Böckenförde, FS. Eichenberger, S. 301 (306); E. Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillen, S. 12 f.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 207, 243; Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 31. 345 Vgl. E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 21; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 86 f. 34 6 Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 44; Herzog, DÖV 1962, S. 81 (86); ders., in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, II. Rn. 14; Isensee, ZParl 1990, S. 309 (322); ders., VVDStRL 49 (1990), S. 39 (49); Tomuschat, VVDStRL 49 (1990), S. 70 (90); Starck, ZG 1992, S. 1 (3); Wahl, StWStP 1990, S. 468 (479); Linck, DÖV 1991, S. 730 (733); Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, S. 47; Storost, Der Staat 29 (1991), S. 321 (329); Roellecke, NJW 1991, S. 2441 (2447); Kriele, ZRP 1991, S. 1 (3); Th. Würtenberger, HStR VIII, § 187, Rn. 49; Barschel, Staatsqualität, S. 179 ff., 185; Mannzen, JÖR NF 6 (1957), S. 251 (265); vgl. auch C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 59, 26, zum Zustandekommen der Weimarer Verfassung durch einfachen Mehrheitsbeschluß. Zum Mehrheitsprinzip im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes vgl. BVerfGE 2, 1 (12 f.); 5, 85 (140, 197 ff.). 347 Vgl. Isensee, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. I, S. 63 (67 ff.); Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, S. 99. 348 Insoweit ist Isensee, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. I, S. 63 (69), also zuzustimmen.

Β. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

125

aus seiner verfassungsgesetzlichen Normierung, sondern grundsätzlich und demokratietheoretisch begründet wird 3 4 9 , so läßt es sich für die Situation der Verfassunggebung sowohl funktional als auch prinzipiell begründen. Über seine Qualität als formales Mittel zur Herbeiführung von Entscheidungen einer Personenmehrheit 350 hinaus erscheint das Mehrheitprinzip nicht nur als technischer Notbehelf, sondern als der Demokratie strukturell angemessen351, als Prinzip der Demokratie 352 und demokratisches Axiom 3 5 3 . Auch das Bundesverfassungsgericht hat das Mehrheitsprinzip zu den fundamentalen Prinzipien der Demokratie gerechnet 354 und bestimmt Demokratie als „Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit" 355 . Die innere Notwendigkeit der Mehrheitsentscheidung für die Demokratie wird aus den Prinzipien der Selbstbestimmung und demokratischen Gleichheit abgeleitet 3 5 6 . Eine diesen Prinzipien gerecht werdende Entscheidung bedarf mindestens 357 , aber auch nur gerade 358 der Übereinstimmung der Mehrheit. Denn andernfalls hätten die Stimmen der Minderheit ein größeres Gewicht, als die der Mehrheit. Jedes Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit stellt eine Beschränkung des Entscheidungsrechts der Mehrheit und damit eine rechtfertigungsbedürftige Benachteiligung der Mehrheit gegenüber der sich in der Entscheidungsfrage durchsetzenden Minderheit dar 3 5 9 . Gegenüber dem deutschrechtlich-frühmittelalterli349 Vgl. insbesondere Hofmann / Dreier, in: H.-P. Schneider / Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5,49 ff.; E.-W. Böckenförde, HStR I, § 22, Rn. 52 f.; H.-P. Schneider, in: Alternativkommentar GG, Bd. 2, Art. 42, Rn. 10 ff.; Badura, HStR I, § 23, Rn. 31; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, § 511.1. (Rn. 140 ff.); Leisner, in: Randelzhofer / Süß (Hrsg.), Konsens und Konflikt, S. 287 ff.; Dreier, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, ZParl 1986, S. 94 (101 ff.); Zippelius, Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie, 1987; Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 293, 409 f.; Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973. Dagegen geht es Häberle, JZ 1977, S. 241 (245) um eine Bestimmung des Mehrheitsprinzips gerade als Institut des positiven Verfassungsrechts des Grundgesetzes. 3 50 Scheuner, Mehrheitsprinzip, S. 13; Gusy, AÖR 106 (1981), S. 329 f.; vgl. auch Hofmann/Dreier, in: H.-P. Schneider / Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5, Rn. 48. 351 E.-W. Böckenförde, HStR I, § 22, Rn. 52. 352 Hofmann / Dreier, in: H.-P. Schneider / Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5, Rn. 48; Dreier, JZ 1994, S. 741 (751); Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 50. 353

Leisner, in: Randelzhofer / Süß (Hrsg.), Konsens und Konflikt, S. 287. 5 BVerfGE 1, 14 (46); 1, 299 (315); 6, 84 (91 f.); 12, 319 (324); 29, 154 (165); 35, 148 (160 ff.). 3 55 BVerfGE 2, 1 (12 f); 5, 85 (197 ff.). 3 56 E.-W. Böckenförde, HStR I, § 22, Rn. 52; vgl. auch Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 88. 3 4

357

Insofern übereinstimmend Isensee, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. I, S. 63 (67: „Das demokratische Minimum ist die einfache Mehrheit"). 3 58 E.-W. Böckenförde, HStR I, § 22, Rn. 52.

126

2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

chen Gedanken der „ E i n h e l l i g k e i t " 3 6 0 und dem rousseauistischen Einstimmigkeits- / Konsensprinzip 3 6 1 sowie gegenüber dem Zweidrittel-Erfordernis 3 6 2 entspricht das Mehrheitsprinzip 3 6 3 darum demokratischen Grundsätzen. Gerade unter den Bedingungen der pluralistischen Gesellschaft wäre ein Einstimmigkeitserfordernis zudem in hohem Maße disfunktional 3 6 4 . Denn während es auf der Grundlage einer bestehenden Verfassungsordnung eine stark bewahrende und verfestigende Tendenz 3 6 5 entfalten würde, hätte es in einer Situation der Verfassunggebung einen dezidiert anti-konstitutionellen Effekt, indem es die Überwindung des verfassungslosen Zustandes erschweren beziehungsweise verhindern würde. Unter demokratietheoretischen und konstitutionellen Aspekten stellt eine Zweidrittelmehrheit also keine unabdingbare Voraussetzung demokratischer Verfassunggebung d a r 3 6 6 . Allerdings kann sie die Vermutung der Übereinstimmung mit 359 Vgl. E.-W. Böckenförde, HStR I, § 22, Rn. 52 f.; Hofmann /Dreier, / Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5, Rn. 52. 360 Vgl. Scheuner, Mehrheitsprinzip, S. 22 f.

in: H.-P. Schneider

361 Vgl. Scheuner, Mehrheitsprinzip, S. 43; Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 245. Das Einstimmingkeitsprinzip bezieht sich bei Rousseau allerdings auf den - vom Herrschaftsvertrag / Verfassungsvertrag zu unterscheidenden (vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 61 f.) - zugrundeliegenden Gesellschaftsvertrag (contract social); vgl. auch Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, S. 238. 362 Dieses wird seit 1179 bei der Papstwahl praktiziert, vgl. Hofman / Dreier, in: H.P. Schneider / Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5, Rn. 48; Scheuner, Mehrheitsprinzip, S. 22. 363 Nach Scheuner, Mehrheitsprinzip, S. 23, erscheint das Mehrheitsprinzip im Spätmittelalter seit der Wahl Rudolf von Habsburgs 1273 durch das Kurfürstenkollegium. 364 Vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, II. Rn. 14; vgl. auch Tomuschat, VVDStRL 49 (1990), S. 70 (90). 365 Auch die Stellungnahme Isensees gegen „die Juristenlegende von der einfachen Verfassungsmehrheit" (Isensee, in: Stern [Hrsg.], Wiedervereinigung, Bd. I, S. 63 [67]; ähnlich Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsproblem, S. 44) bezieht sich genau besehen nicht auf die Betätigung des verfassunggebenden Gewalt des Volkes, sondern auf die Vorstellung, auf dem „Weg über Art. 146" zu Änderungen des Grundgesetzes mit einfacher Mehrheit gelangen zu können - bei einer wirklichen Neukonstituierung auf dem Weg über Art. 146 GG nimmt auch Isensee ein Ausreichen der einfachen Mehrheit an, vgl. Isensee, VVDStRL 49 (990), S. 39 (49, 55). In der Tat handelt es sich bei dem Begriff „pouvoir constituant" nicht um eine Zauberformel, um - unter Wahrung der Legalität - über die Anforderungen des Art. 79 GG hinwegzukommen. Es handelt sich hier nicht um ein Problem der Verfassunggebung, sondern um das dogmatische Problem der Auslegung der Verfassungsvorschrift des Art. 146 GG n.F. Schon in der ursprünglichen Fassung stellte sich der in Art. 146 GG (a.F.) angesprochene pouvoir constituant systematisch als ein oberster pouvoir constitué dar (vgl. oben den 2. Teil, B.I.); erst recht wird - bei aller Undeutlichkeit der Funktion des Art. 146 GG n.F. - mit der durch den verfassungsändernden Einigungsvertragsgesetzgeber nach dem Obsoletwerden der ursprünglichen Wiedervereinigungsbestimmung eingefügten Bestimmung nicht die vorkonstitutionelle verfassunggebenden Gewalt des Volkes angerufen. Vgl. Tomuschat, VVDStRL 49 (1990), S. 70 (87); Isensee, HStR VII, § 166, S. 271 ff.; Heckel, a. a. O., S. 11 ff., 33 ff. 3 66 A.A. H.-P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 27, ohne Begründung („... wird allgemein für unerläßlich gehalten").

C. Verabschiedung oder notwendiger Begriff?

127

dem Volkswillen und damit für die Legitimität einer Verfassung begründen 367. Kommt sie zustande, so ist die Bewährungschance einer Verfassung größer. Im Sinne der späteren Integrationsleistung der Verfassung ist sie daher verfassungspolitisch anzustreben 368. Möglich ist eine Selbstbindung einer Verfassunggebenden Versammlung an das Erfordernis einer 2 / 3-Mehrheit für den Verfassungsbeschluß. Diese ist ihrerseits mit einfacher Mehrheit möglich; die ursprüngliche Selbstbindung wird um eine Stufe vorverlagert 369. Eine derartige schrittweise Selbstbindung des Verfassunggebers wird als mögliches Verfahren der Betätigung des pouvoir constituant angesehen370.

C. Verabschiedung oder notwendiger Begriff? Gegen die oben dargestellte 371 und in ihrer Entwicklung seit der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung zurückverfolgte 372 Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes werden Bedenken vorgebracht, zum Teil wird auch ein Abschied von dieser Theorie gefordert. Wenn in der Literatur zum Beispiel die Ansicht vertreten wird, daß es besser wäre, wenn der Begriff der verfassunggebenden Gewalt des Volkes „vergessen würde" 373 , oder die Forderung erhoben wird, das Prinzip der Volkssouveränität möglichst zu „verdrängen" 374 , richtet sich das vor allem gegen zwei Aspekte der Vorstellung eines besonderen pouvoir constituant: Neben der Besorgnis über die Annahme einer permanenten 375, rechtlichen Bindungen nicht unterworfenen 376 vor- bzw. außerrechtlichen 377 Größe geht es vor allem um Bedenken, daß mit der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes die historisch kontingente 378 Idee der Volkssouveränität hypostasiert 379 würde.

367 Vgl. Quaritsch, Verw.A. 83 (1992), S. 314 (322); Linck, DÖV 1991, S. 730 (733); v. Mutius /Friedrich, StWStP 1991, S. 243 (271). 368 H.-P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 23; Starck, ZG 1992, S. 1 (3); Th. Würtenberger, HStR VIII, § 187, Rn. 49; v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 55. 369 Vgl. dazu Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (591 f.). 370 Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers an den Willen des historischen Verfassunggebers, S. 103. 371 2. Teil, Kapitel B. 372 1. Teil. 373 Henke, Der Staat 31 (1992), S. 265 (280). 374 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 288. 375 Vgl. dazu oben 2. Teil, B.II. 376 Vgl. dazu oben 2. Teil, B.III. 377 Vgl. dazu oben 2. Teil, B.I. 378 Badura, FS. Scheuner, S. 19 (36); vgl. auch U.K. Preuß, FAZ v. 29. 8. 1992, BuZ S. 1. 379 Vgl. Evers, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 79 Abs. 3, Rn. 86; gegen die Idee der Volkssouveränität hat sich insbesondere auch Henke immer wieder gewandt, vgl. z. B. Henke, Der Staat 31 (1992), S. 265 (242).

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

So verständlich die Bedenken gegen die sogenannte Bindungslosigkeit380 und Permanenz 381 des pouvoir constituant für jedes rechtsstaatliche Denken, das gerade gegen rechtlich ungebundene Macht und auf Rechtsbindung, verfassungmäßige Zustände und rechtsstaatliche Normallage gerichtet ist, sein müssen, so vermögen sie doch im Ergebnis nicht die Forderung nach einer Verabschiedung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes zu begründen. Zum einen führt die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes weder die Unmöglichkeit positivrechtlicher Bindung des Verfassunggebers noch die Permanenz der Möglichkeit der Infragestellung der geltenden Verfassungsordnung herbei. Vielmehr ergibt sich diese - wie gezeigt - notwendig aus der Grundvoraussetzung der Volkssouveränität 382, jene aus der Ausgangssituation der Verfassunggebung 383 : Vor Geltung der Verfassung kann es keine verfassungsrechtliche und erst recht keine unterverfassungsrechtliche Bindung des Verfassunggebers geben. Außerhalb des gewohnten Rahmens der Rechtsordnung hat es darum auch keinen rechtsstaatlichen Sinn, so zu tun, als würde man sich in der Normallage gesicherter Rechtsgeltung befinden 384 . Die Fiktion von Rechtsbindungen385, die nicht auf eine Grundlage in der Verfassung zurückgeführt werden können, ist weder legal, noch legitim, denn sie würde eine rechtlich nicht ableitbare Bindung des über seine Verfassung disponierenden Volkes bewirken und damit nicht-rechtliche Postulate für Recht ausgeben. Die Ignorierung der juristischen Besonderheiten der Situation der Verfassunggebung kann darum über die Gefahren des vorverfassungsmäßigen Zustandes nicht hinausführen, sondern nur hinwegtäuschen. Nicht die Fiktion von Rechtsstaatlichkeit vor und unabhängig von der Geltung der rechtsstaatlichen Verfassung, sondern das Bewußtsein der prekären Ausgangssituation des Verfassungsstaates erscheint demgegenüber als geeignet, zur Überwindung eines verfassungslosen Zustandes und Annahme der Verfassung zu führen. Zum anderen werden bei der Kritik der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes häufig analytische Bestandteile für normative Aussagen genommen, deskriptive mit preskriptiven Aussagen verwechselt. So bezweckt insbesondere die Lehre vom pouvoir constituant gerade nicht die Freistellung politischer Mächte von rechtlichen Bindungen im Verfassungsstaat, sondern sucht einen Weg in den Verfassungsstaat zu begründen und vorrechtliche Bindungslosigkeit zu bewältigen. Es ist gerade die Funktion der Lehre vom pouvoir constituant, den „vor380 Dazu, daß die sog. „Bindungslosigkeit" des pouvoir constituant sich auf die situationsbedingt notwendige Abwesenheit positivrechtlicher Bindungen beschränkt und keineswegs eine vollständige normative Leere oder ein Recht des Verfassunggebers auf Willkür bedeutet, vgl. bereits oben 2. Teil, B.III.2. 381 Zur Problematik der Permanenz vgl. oben 2. Teil, B.II. m.w.N. 382 Vgl. oben 2. Teil, B.II. 383 384

Vgl. oben 2. Teil, Kapitel A. Vgl. dazu auch Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (574 f.).

385 Gemeint ist dabei positivrechtliche Bindung; zur Möglichkeit und praktischen Grenzen der Bindung an überpositives Recht vgl. oben 2. Teil, B.III.2.

C. Verabschiedung oder notwendiger Begriff?

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verfassungsrechtlichen ,Urzustand4 rechtlich einzuhegen"386. „Der Gedanke an einen Staat ohne ein Verfassungsgesetz bereitet nicht den undemokratischen Staat vor, sondern stellt die Aufgabe, das ... Gemeinwesen durch ein Verfassungsgesetz zu binden" 387 . „Die Verfassunggebende Gewalt des Volkes ist ( . . . ) auf die Inkraftsetzung einer neuen Verfassung als demokratischer Fundamental- und Friedensnorm ausgerichtet. Damit intendiert sie die Überwindung der Krise durch die neue Lösung, des Abnormen durch die neue Norm, der Diskontinuität durch neue Kontinuität, kurz: die Überwindung der revolutionären durch die normale Situation . . , " 3 8 8 . Die Thematisierung der permanent fortbestehenden Möglichkeit der Umwälzung einer Verfassungsordnung durch die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt bedeutet nicht, daß diese dazu dient, den Verfassungsstaat in Frage zu stellen. Damit, daß Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit nicht vorgegeben und unproblematisch gegebener (Natur-) Zustand menschlicher Gemeinschaft, sondern aufgegeben und ständig zu erneuernde Kulturleistung 389 sind, muß jede Verfassungstheorie rechnen. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes führt gerade die fortbestehende Verwiesenheit auf den Verfassungskonsens, auf das Forttragen der ursprünglichen Entscheidung über die Form der politischen Ordnung, die sich ein Volk gegeben hat, vor Augen. Sie sucht die realen Bedingungen der Stabilität des demokratischen Verfassungsstaates zu erfassen und schützt vor einer theoretischen Vernachlässigung der fortdauernden Aufgabe der Sicherstellung der Legitimitätsbedingungen des Staates und trägt damit selbst zur Vermeidung der Gefahr einer Delegitimierung bei 3 9 0 . Zudem muß, wer die Legitimität der geltenden, auf eben dieser Grundlage ruhenden Verfassung bejaht, die Befugnis des Volkes zur Bestimmung über seine Verfassung und die Möglichkeit eines Neuanfangs bejahen. Tatsächliche Kooperation 3 9 1 kann auch nur dann und darum als fortbestehende Approbation der Verfassungsentscheidung durch den Volkssouverän gewertet werden, weil ihr die Möglichkeit des Entzugs der Zustimmung gegenübergestellt werden kann. Ebenso, wie von der Lehre vom pouvoir constituant auf der einen Seite die Möglichkeit der Neuentscheidung nicht theoretisch ausgeblendet wird, vermag sie also andererseits den Nichteintritt dieser Potentialität, das fortwährende und sich erneuernde Getragensein der Verfassung theoretisch zu erfassen und enthält Elemente, die der Stabilisierung der Verfassungsordnung dienen. 386 387 388 389

H.-P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 1. Kirchhof,; HStR I, § 19, Rn. 19. Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 28. Vgl. E.-W. Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 13.

390 Vgl. auch Heckel, Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 27: „Die Möglichkeit der Verfassungsbeseitigung sollte für den Juristen das Menetekel sein, den Normwillen und damit die Geltung der Verfassung nicht zu zerreden. Die Zunft hat die gefährlichen Probleme ihrer Entlegitimierung stiefmütterlich vernachlässigt...". 391 Vgl. hierzu oben 2. Teil, B.II. 9 Boehl

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2. Teil: Verfassungsentstehung und verfassunggebende Gewalt

Gegenüber den Bedenken, die sich gegen die Theorie des pouvoir constituant wegen ihrer Verbindung mit der Idee der Volkssouveränität 392 richten, ist an der grundlegenden Bedeutung dieses Prinzips für den demokratischen Verfassungsstaat festzuhalten. Die positive Verfassungsordnung selber begründet sich aus der Volkssouveränität und der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes als deren auf die Verfassunggebung bezogenen Aspekt 393 . „Der demokratische Verfassungsstaat von heute versteht sich und lebt von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes her" 3 9 4 . Der Verzicht auf die Rechtfertigung aus der Idee der Volkssouveränität würde den Verzicht auf das tragende Legitimitätsprinzip demokratischer Herrschaft bedeuten. Die heutige Demokratievorstellung setzt dabei nicht etwa die Annahme eines einheitlichen Volkswillens wie die spekulative Demokratietheorie vor-demokratischer Zeiten voraus, sondern rechnet mit den realen Bedingungen demokratischer Willensbildung in einem pluralistischen Gemeinwesen395; der Hinweis auf diese kann darum auch für das Konzept des pouvoir constituant keine „Erschütterung seiner Grundlagen 4 ' 396 bedeuten. Vor allem aber kann die Frage nach Entstehung und Geltungsgrund der Verfassung nicht offengelassen werden 397 . Recht bedarf der Rechtfertigung 398. „Keine geltende Rechtsordnung ist der Notwendigkeit enthoben, sich aus vorrechtlichen Gegebenheiten zu begründen und zu legitimieren; andernfalls verliert sie Geltungskraft und Geltungsanspruch 44399. Insbesondere die Verfassung als höchste Norm der Rechtsordnung, die einen erhöhten Geltungsanspruch erhebt und aus der die Legitimität der einfachgesetzlichen Rechtsordnung abgeleitet wird, die aber ihrerseits nicht auf eine positivrechtliche Ableitung verweisen kann, ist in besonderem Maße rechtfertigungsbedürftig. Gerade für sie stellt sich das „Rätsel des Anfangs 44400 , die Frage nach Herkunft und des Geltungsgrund. Auch realer, legitimitätsstiftender Konsens „entbindet das theoretische Denken nicht von der Pflicht zu fragen, auf welche guten Gründe sich solcher Konsens stützen könnte 44401 . Allein auf das Funktionieren und die immer erneute Herstellung von Konsens abzustellen, hieße, auf eine systematische Begründung der eigenen Position zu verzichten. Sie setzt im Grunde Konsens über die Verfassung voraus und kann nicht Konsens schaffen, wenn der Erfolg nicht auf anderem Wege gesichert ist. Ein Verzicht auf die Begründung des „Warum 44 und „Woher 44 von Ver392 Vgl. hierzu oben 2. Teil, B.II. 393 Vgl. oben 2. Teil, B.II.

394 Häberle, AÖR 112 (1987), S. 54. 395 396 397 398 399 400

Vgl. oben 2. Teil, B.IV. So aber U.K. Preuß, FAZ v. 29. 8. 1992, BuZ S. 1. Vgl. Henke, Der Staat 7 (1968), S. 165 (171). Roellecke, JZ 1992, S. 929 (933). E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 8. Vgl. hierzu oben 2. Teil, Kapitel A.

401 Graf Kielmansegg, FS. Hennis, S. 397 (398).

C. Verabschiedung oder notwendiger Begriff?

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fassung bedeutet letztlich, daß der Eckstein der Rechtsordnung theoretisch unfundiert bleibt und auf den kontingenten Erfolg und Zustimmung abgestellt wird. Damit aber würde die Rechtsordnung der Tagesstimmung ausgeliefert. Im Konfliktfall, wenn kein allgemeiner Konsens über das wie auch immer begründete Funktionieren herzustellen ist, würde das Recht „aufhören". Nach der Erfahrung der Selbstauslieferung des Rechts ist eine solche Selbstrücknahme keine vertretbare Option. Stattdessen muß gezeigt werden, wo das Recht anfängt und warum es gilt. Zudem können die Stimmen, die gegenüber der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes den realen Konsens und die tatsächliche Integrationsleistung der Verfassung in den Vordergrund stellen, zwar eine Alternative für die Legitimitätstheorie anbieten, nicht jedoch für die Funktion der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes als Theorie legitimer Verfassungsentstehung. Auch diese Frage ist jedoch eine durchaus reale und praktische Frage, wie die Ereignisse in Deutschland seit 1989 / 90 gezeigt haben, auf die eine Verfassungstheorie eine Antwort bereithalten muß. Verfassungsrechtlich muß schon am Tage nach dem Inkrafttreten der Verfassung die Frage nach der Geltung, Verbindlichkeit und Legitimität beantwortet werden können; das Abwarten, ob sich in der Verfassungswirklichkeit realer Konsens einstellt, stellt jedenfalls insoweit keine für die Rechtsanwender befriedigende Antwort dar. Zudem ist eine Verfassungstheorie, die keine normativen Maßstäbe für das Zustandekommen der Verfassung bereithält, in der Gefahr, ausgerechnet das Zustandekommen der höchsten Norm der Rechtsordnung vollständig der faktischen Dominierung realer politischer Mächte zu überantworten. Gleiches gilt auch für die Fiktion einer Ableitung aus einer hypothetischen Grundnorm, also die von Hans Kelsen 402 vertretene normativistische Lösung. Diese verschiebt das Problem ins rein Hypothetische. Für die genetische Frage nach der Verfassungsentstehung stellt die Verankerung in einer hypothetischen Grundnorm keine Antwort dar. Die Fiktion einer Ableitung aus einem rein hypothetischen Konstrukt stellt aber auch unter verfassungstheoretischen Aspekten keine Antwort auf die Frage nach dem „Woher" und „Warum" dar. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes vermag demgegenüber eine zusammenhängende Antwort auf die Fragen der Verfassungsentstehung und der Legitimität der Verfassung auf der Grundlage der demokratischen Idee zu geben. Sie führt über eine zerbrochene Ordnung hinaus, verdeutlicht Befugnisse in Abwesenheit des gewohnten Gerüsts einer geltenden Verfassung und weist den Weg über den verfassungslosen Zustand hinaus in die Normallage des Verfassungsstaates. Sie stellt die theoretische Verbindung der Prinzipien der Volkssouveränität, der Demokratie und des Verfassungsstaates her und erweist sich als notwendige und spezifische Theorie der konstitutionellen Demokratie. 402 Zu Kelsens Lösungsmuster vgl. insbesondere E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 8 (Fn. 5), 9 f.; ders., HStR I, § 22, Rn. 7; Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 150; Steiner, Verfassunggebung, S. 38 f.; Haug, Grenzen der Verfassungsrevision, S. 88 ff.

9*

3. Teil

Verfassunggebung und Bundesstaat

Obwohl die Bundesstaatlichkeit zu den charakteristischen und normativ besonders herausgehobenen1 Attributen des Staates des Grundgesetzes gehört, werden die Fragen der Verfassungsentstehung und der verfassunggebenden Gewalt in der Regel ohne ausdrückliche Diskussion oder Berücksichtigung der besonderen Bedingungen im Bundesstaat behandelt. Zum Teil kommt die Bundesstaatlichkeit überhaupt nicht in den Blick und das Thema Verfassunggebung wird abgehandelt, als handele es sich bei der Bundesrepublik Deutschland um einen Einheitsstaat wie die Französische Republik und nicht um einen Bundesstaat mit einer Bundesverfassung und 16 Landesverfassungen 2. Soweit die föderalen Aspekte des Themas berücksichtigt werden, wird die Anwendbarkeit der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes auf den Bundesstaat und seine Gliedstaaten angesichts der Eigenstaatlichkeit der Länder häufig wie selbstverständlich unterstellt 3; seltener werden Besonderheiten der verfassunggebenden Gewalt im Bundesstaat4 oder gar die Fragen der Verfassunggebung in den Ländern5 ausdrücklich thematisiert. Eine Untersuchung gerade zum Thema der Verfassunggebung im Bundesstaat muß demgegenüber die besonderen Bedingungen im Bundesstaat berücksichtigen ι Vgl. Überschrift, Präambel, Art. 20 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 3 GG. Vgl. auch den ganz ähnlichen Befund in bezug auf die Diskussion über Grundrechte und Staatszielbestimmungen bei Wahl, AÖR 112 (1987), S. 26 (27). 3 Vgl. z. B. Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 7; ders., HStR IV, § 94, Rn. 27; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.2.C (S. 669); £.W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 15; Grawert, NJW 1987, S. 2329 (2330); H.-P. Schneider, DÖV 1987, S. 749 (750); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, Rn. 26, 101; v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, S. 596; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 175; Bar schei, Staatsqualität, S. 167; C. Schmitt, Verfassungsvollzug, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 452 (461); Brinkmann, Verfassungslehre, S. 360. Ebenso auch das BVerfG im Südweststaatsurteil vom 23. 10. 1951 (E 1, 14 [61]). 4 Vgl. insofern z. B. Steiner, Verfassunggebung, S. 151; Herzog, DÖV 1962, S. 81 (83 f.); Maunz, Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 27; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 86, 389. 5 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. II, § 25 II.2.C (S. 24); Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 10; Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 61, 79; ders., in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 174 (175); Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (582 f.); ders., in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 97; Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (151 ff.); Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235; Sachs, ThürVbl. 1993, S. 121. 2

Α. Bundesstaat

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und ihre Auswirkungen auf die Fragen der Verfassungsentstehung und der verfassunggebenden Gewalt aufzeigen. Sie steht dabei vor dem Problem, daß es sich beim Begriff des Bundesstaates6 um einen nicht weniger traditionsreichen und umstrittenen Begriff 7 handelt, als bei den Begriffen Demokratie und Volkssouveränität. Zwar sind die Auseinandersetzungen um einen allgemeinen Begriff des Bundesstaates gegenüber der Orientierung an dem konkreten, vom Grundgesetz normierten Bundesstaat in den Hintergrund getreten8. Ein fester „common ground" ist damit jedoch nur insoweit gewonnen, als der Inhalt der grundgesetzlichen Normierungen nicht seinerseits umstritten ist und die Interpretation der einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes sich nicht ihrerseits offen oder doch implizit an jeweils ganz spezifischen Vorstellungen über die Natur des Bundesstaates orientiert 9 . Eine Theorie der Verfassunggebung, die vor dem Horizont der durch das Grundgesetz begründeten Ordnung Relevanz beansprucht, muß die vom Grundgesetz vorgegebene und in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft entfaltete Rechtslage - soweit diese reicht - berücksichtigen 10. Insofern, als Verfassunggebung im Bundesstaat - jedenfalls soweit es um die Verfassunggebung der Länder geht - mit rechtlichen Vorgaben rechnen kann und rechnen muß, deuten sich Besonderheiten gegenüber den allgemeinen Lehren 11 von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes an.

A. Bundesstaat Die Bundesrepublik Deutschland bringt ihre Bundesstaatlichkeit schon im Staatsnamen12 zum Ausdruck. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland konstituiert sie in Art. 20 Abs. 1 als demokratischen und sozialen Bundesstaat und sichert die Bundesstaatlichkeit in Art. 79 Abs. 3 selbst gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber. Gegenüber der bundesstaatlichen Struktur Deutschlands nach den Verfassungen von 1867 / 71, 1919 und 1949 sowie in gewisser Weise 13 auch der ersten DDR-Verfassung von 1949, bis es 1952 zur Außerkraftsetzung 6

Vgl. zum Begriff des Bundesstaates unten 3. Teil; Kapitel A. Ebenso Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 2. 8 Vgl. dazu nachfolgend 3. Teil, Kapitel A. 9 Vgl. insbesondere 3. Teil, B.IV. und 3. Teil, C.I. 10 Vgl. unten 3. Teil, C.II. 7

h Vgl. oben 2. Teil, A. und B.III. 12 Vgl. ζ. B. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 1; Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 36. 13 Mit der Einschränkung, daß es sich dabei nicht um eine aus dem verfassunggebenden Willen des deutschen Volkes entstandene, verfassungsstaatlichen Anforderungen an eine wirkliche Verfassung entsprechende Grundordnung handelte; vgl. auch Isensee, ZParl 1990, S. 309 (323); QuaritscK Verw.A. 83 (1992), S. 324 (315 f.).

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

der bundesstaatlichen Bestimmungen kam 14 , erscheinen die zentralistischen Staatsstrukturen während der nationalsozialistischen Herrschaft zwischen 1933 / 34 und 1945 und in der DDR zwischen 1952 und 1990 als Ausnahmen. Die Bundesstaatlichkeit der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Republik Österreich machen den Bundesstaat zum bestimmenden Typus 15 im deutschsprachigen Raum. Durch die Bundesstaatlichkeit der Vereinigten Staaten von Amerika, als dem ältesten und größten der westlichen Verfassungsstaaten, hat der Typus des Bundesstaates weltweit ein eigenes Gewicht gegenüber dem zahlenmäßig überwiegenden Typus des Einheitsstaates16. Als bestimmendes Merkmal des Bundesstaates wird angesehen, daß in ihm die Staatsgewalt auf Zentralstaat und Gliedstaaten aufgeteilt 17 ist beziehungsweise sich mehrere Staaten zu einem Gesamtstaat unter Beibehaltung ihrer Staatsqualität vereinigen 18. Schon in diesen beiden Ansatzpunkten der Definition scheinen die unterschiedlichen historischen und dogmatischen Orientierungspunkte der Föderalisierung eines Einheitsstaates einerseits und der Verdichtung eines Staatenbundes andererseits durch 19 . Von den unterschiedlichen Entstehungstatbeständen abstrahiert stärker die Bestimmung des Bundesstaates als eine staatsrechtliche Verbindung von Staaten20 beziehungsweise als zusammengesetzter Staat21. 14 Die Länder wurden aufgelöst durch das „Gesetz über die Demokratisierung des Aufbaus und die Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der DDR" vom 24. 11. 1952. Vgl. Brunner, HStR I, § 10, Rn. 7; Klatt, Verw.Arch. 82 (1991), S. 430 (432); Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 4; Isensee, ZParl 1990, S. 309 (324, 327); ders., VVdStRL 49 (1990), S. 39 (57); Kilian, HStR VIII, § 186, Rn. 4. 15 Vgl. Isensee, HSTR IV, § 98, Rn. 1, 10. 16 Vgl. Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 3; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I § 19 I.6.a (S. 654 f.). Vgl. Karpen, FAZ v. 17. 5. 1994, S. 10 („Südafrika als Bundesstaat Einheit in Vielfalt") zur Ausbreitung des bundesstaatlichen Modells auf das neue Südafrika.

17 Thoma, zit. Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 5; vgl. auch W. Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 253 (258). is Apelt, FS. E. Kaufmann, S. 1, zit. Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 5. 19 Vgl. Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 19; R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 171; Herzog, DÖV 1962, S. 81 (83), der seine Konstruktion ausdrücklich „der Einfachheit halber" nur am Modell des Zusammenschlusses mehrerer selbständiger Staaten erörtert und um die Behauptung ergänzt, für die anderen Entstehungstatbestände des Bundesstaates gelte Entsprechendes (vgl. dazu auch unten Fn. 91). Vgl. auch krit. Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (24 f., 54 [Nr. 3.2]). 20 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I § 19 1.1.a (S. 644); Barschel, Staatsqualität, S. 6; Brinkmann, Verfassungslehre, S. 358; Zippelius, Staatslehre, S. 340; Kölble, DÖV 1962, S. 583 (586); Scheuner, DÖV 1962, S. 641. 21 Herzog, DÖV 1962, S. 81: „Herrschende Lehre ist heute, daß sich der Bundesstaat aus mehreren Gliedern zusammensetzt, wobei sowohl das Ganze wie auch die Glieder echte Staaten sind und sowohl das Ganze wie auch die Glieder zur Ausübung unmittelbarer Hoheitsgewalt gegenüber den Staatsbürgern befugt sind."; vgl. auch ders., in: Maunz / Dürig, GGKomm., Art. 20, IV Rn. 2; Maunz, HStR IV, § 94, Rn. 2; R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 8. Ebenso auch schon Beyerle, Föderalismus (1923), zit. Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 1 (Fn. 1). Scheuner, DÖV 1962, S. 641 (642), nennt als entscheidende

Α. Bundesstaat

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Die älteren Diskussionen zur Frage der Teilbarkeit der Souveränität 22 haben angesichts der Problematik und Relativierung des Souveränitätsbegriffs 23 keine Fortsetzung gefunden 2 4 ; abgestellt wird heute überwiegend auf die geteilte Staatlichkeit und Aufgabenwahrnehmung i m Bundesstaat 25 . Das Bundesverfassungsgericht hat - unter überwiegender Zustimmung der Staatsrechtslehre 26 - festgestellt, das Eigentümliche des Bundesstaates sei, daß sowohl der Gesamtstaat als auch die Gliedstaaten Staatsqualität besitzen 27 . Der Begriff des Bundesstaates gewinnt Konturen in der Abgrenzung zu den gegensätzlichen Alternativmodellen des Staatenbundes einerseits und des Einheitsstaates andererseits 28 . I m Gegensatz zum Staatenbund kommt den Gliedern des Bundesstaates keine Völkerrechtssubjektivität z u 2 9 ; i m Gegensatz zum Einheitsstaat 30 haben sie Staatsqualität. Während Staatenbund und Einheitsstaat GegenmoCharakteristika eines Bundesstaates „ein zusammengesetztes Staatswesen mit doppelten Entscheidungszentren" und spricht von einer „Verbindung selbständiger (staatlicher) Regierungszentren" (ebd., S. 641). 22 Vgl. oben 1. Teil, A.III, und C. 23 Vgl. dazu insbesondere Randelzhof er, HStR I, § 15 Rn. 1 ff. 24 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 65; ders., HStR I, § 13, Rn. 167; Scheuner, DÖV 1962, S. 641 (641 f., 644); Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 14, 20 f.; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I § 19 I.l.a (S. 645 m.w.N. Fn. 6); Wahl, AÖR 112 (1987), S. 26 (Fn. 2); Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (16 ff., 54 [Nr. 2.4]); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 8 f. 25 Vgl. schon Scheuner, DÖV 1962, S. 641 (648); Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 1.1. (S. 644); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 2, 7; ders., Jus 1967, S. 193; Kirchhof, HStR I, § 19, Rn. 77; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 117; Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 1; R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 7. Vgl. auch die ausgeprägte „Teilstaatenlehre" bei W. Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 253 (274 f.; 294). 26 Vgl. ζ. B. Maunz, HStR IV, § 94, Rn. 2; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.2. (S. 667); Isensee, HStR IV, § 98 64; ders., HStR I, § 13 Rn. 166; Sachs, AÖR 108 (1983), S. 68 (69); Jutzi, Landesverfassungsrecht, S. 13; ausführlich: Barschel, Die Staatsqualität der deutschen Länder, 1982, S. 167 ff. Vgl. aber auch relativierend März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 171 ff., 176 (mit Hinweis auf Doehrings Ablehnung in Fn. 321), der auch darauf hinweist, daß diese Judikatur des Bundesverfassungsgerichts erstaunlicherweise bei den Landesverfassungsgerichten kaum eine Fortsetzung gefunden habe (S. 172, Fn. 306). 27 BVerfGE 36, 342 (360 f.). Die Staatsqualität der Länder hatte das BVerfG bereits 1951, also zu Beginn seiner Spruchtätigkeit, in der Südweststaatsentscheidung (Ε 1, 14 [34]) anerkannt. 28 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I § 191.5. (S. 653 f.); Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 4; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 4 ff.; Maunz, HStR IV, § 94, Rn. 1; Zippelius, Staatslehre, S. 338 ff.; relativierend: Scheuner, DÖV 1962, S. 641. In Zukunft wird man möglicherweise auch die Abgrenzung zu der neueren Kategorie der „Staatenverbindung" zu berücksichtigen haben; vgl. dazu insbesondere Kirchhof, HStR VII, § 183, Rn. 38, 50 ff.; BVerfGE 89, 155 (156 Nr. 8, 184 ff., 188). 29 Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 6; Brinkmann, Verfassungslehre, S. 349; Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 4; Barschel, Staatsqualität, S. 6 f.

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

delle darstellen, bezeichnen die Begriffe Unitarismus und Föderalismus die gegenläufigen Gestaltungskräfte innerhalb des Typus des Bundesstaates, deren Austarierung und Mischungsverhältnis den konkreten Charakter des einzelnen Bundesstaates bestimmt31. Die Auseinandersetzung, ob der Staat des Grundgesetzes „unitarischer Bundesstaat"32 oder „betont föderativ gestalteter Bundesstaat"33 ist, spielt sich damit innerhalb der Variationsbreite des Typus des Bundesstaates ab; unitarischer Bundesstaat und dezentraler Einheitsstaat sind demgegenüber Übergangsund Annäherungsformen verschiedener Staatstypen34. Von dem allgemein-staatswissenschaftlichen Begriff des Bundesstaates ist der verfassungsrechtliche Bundesstaatsbegriff zu unterscheiden35. Was Bundesstaat im Sinne des Grundgesetzes ist, läßt sich nicht aus einem allgemeinen Begriff oder dem Wesen des Bundesstaates ableiten. Es gibt aus verfassungsrechtlicher Sicht keinen naturrechtlich jeder konkreten Verfassungsordnung vorgegebenen Begriff „des Bundesstaates" schlechthin. Der allgemein-staatswissenschaftliche Bundesstaatsbegriff ist ein deskriptiver, idealtypischer Begriff, eine Abstraktion aus der Vielzahl konkreter Bundesstaaten36, der zum Vergleich und zur Erfassung der Besonderheiten, nicht aber zur Ableitung rechtlicher Schlußfolgerungen innerhalb einer konkreten Rechtsordnung taugt. Der Bundesstaatsbegriff des Grundgesetzes, der insbesondere über Art. 20 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 3 GG relevant wird, ist demgegenüber ein normativer Begriff 37 . Als verfassungsrechtlicher Begriff kann er nur aus dem Grundgesetz selber, aus der Gesamtheit der föderativ relevanten Einzelregelungen, ermittelt werden 38; aus verfassungsrechtlicher Sicht läßt sich darum nicht ein Modell „des Bundesstaates" gegen den Bundesstaat, der im Grundgesetz Gestalt gewonnen hat, ausspielen39.

30 Brinkmann, Verfassungslehre, S. 354; Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 4; Barschel, Staatsqualität, S. 9 ff. 31 Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 49, 10 („Föderalismus und Unitarismus ringen um die Seele des Bundesstaats." [Beyerle])', Scheuner, DÖV 1962, S. 641 (645); Geiger, BayVBl. 1957, S. 337 (343); Barschel, Staatsqualität, S. 39 ff.; Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7(15). Vgl. auch schon Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 224. 32 Κ Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 14; Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 50; vgl. auch v. Münch, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 70, Rn. 6. 33 BVerfGE 4, 178 (189); 60, 175 (209); 64, 301 (317). 34 Vgl. Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 4. 35 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 5 f.; Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 4, 36. 36 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 4. 37 Vgl. Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, § 7, Rn. 217; Maunz., HStR IV, § 94, Rn. 12. 38 Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 36; Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 6; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I § 19 1.1.c (S. 647 f.), 1.4. (S. 652); Kirchhof, HStR I, § 19, Rn. 77; Karpen /v. Rönn, JZ 1990, S. 579; Rudolf, in: FG. BVerfG, Bd. II, S. 233 (234). 39 Dagegen ist dies unter deskriptiv-komparativen, allgemein-staatswissenschaftlichen oder verfassungspolitischen Gesichtspunkten natürlich möglich und legitim.

Α. Bundesstaat

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In der Rechtswissenschaft ist heute die Auseinandersetzung mit dem verfassungsrechtlichen Bundesstaatsbegriff des Grundgesetzes gegenüber der früheren Orientierung an allgemeinen Bundesstaatstheorien in den Vordergrund getreten 40. Das ist um so berechtigter, als auch die sich allgemein gebenden Theorien in aller Regel zumindest implizit an einem ganz bestimmten Verfassungszustand und Staatsmodell - oft dem ihrer jeweiligen Zeit und ihres eigenen Staates oder einer spezifischen Akzentuierung davon - orientiert sind und diesen zum Begriff des Bundesstaates schlechthin verallgemeinern. Die älteren deutschen Bundesstaatstheorien orientierten sich insofern regelmäßig am deutschen Bundesstaat von 1867 / 71, und zwar in Abgrenzung zum eher staatenbündischen41 Deutschen Bund von 1815/20 4 2 , was die Bedeutung der Unterscheidung von Bundesstaat und Staatenbund für die ältere Bundesstaatstheorie in den Vordergrund rückte 43 . Zur Bestimmung des verfassungsrechtlich relevanten Begriffs des Bundesstaates im Sinne Grundgesetzes ist der Rückgriff auf die älteren Bundesstaatstheorien darum nur bedingt möglich 44 . Eine Reihe von überkommenen Streitfragen der Bundesstaatstheorien kann auch auf der Grundlage des Bundesstaatsbegriffs des Grundgesetzes als erledigt gelten. So ist zum einen der von v. Seydel45 und der damaligen sogenannten „bayerischen Schule" 46 vertretenen Theorie 47 auf der Basis der Grundgesetzes die Grundlage entzogen. Konnte vor dem Hintergrund der Reichsverfassung von 1867 / 71 — 40 Vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 21, 29; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 173; Geiger, BayVBl. 1957, S. 301; exemplarisch auch v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht - Zur Geltung und prozessualen Aktualisierung von Landesgrundrechten im Bundesstaat des Grundgesetzes, 1980; Jahrreiß, in: GS. H. Peters, S. 533 (537), dessen Aufsatz über „Die Gliederung des Bundes in Länder" als „Bundesstaat im Sinne des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland" untertitelt ist (, diesem Anspruch freilich nicht durchgehend gerecht wird, wenn ebd., S. 542, der eigentliche Sinn der Bundesstaatlichkeit gegen den Wortlaut des Grundgesetzes ausgespielt und vorgestellt wird, wie Artikel 20 GG eigentlich heißen müßte). Vgl. E.R. Huber, Verfassungsgeschichte Bd. I, S. 655 f., 665; Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 176 f.; Engelbert, Konstitutionalismus in den deutschen Kleinstaaten, in: E.-W. Böckenförde (Hrsg.), Probleme des Konstitutionalismus, S. 103 (110, 113) zu weitergehenden Ingerenzen des Bundestages des Deutschen Bundes in die einzelstaatliche Verfassungsentwicklung. 42 Vgl. zum Deutschen Bund und seinen über den reinen Staatenbund hinausweisenden Aspekten Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, S. 69, 18; E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 663 ff.; Barschel, Staatsqualität, S. 53, 55 f. („Staatenbund mit teilweise eher bundesstaatlichem Charakter"). 43 Vgl. ζ. B. Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, S. 16; dazu krit. schon C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 366 m.w.N. 44 Vgl. K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 2 ff.; W. Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 253 (257, 264); Scheuner, DÖV 1962, S. 641. 4 5 Seydel, ZgStW 28 (1872), S. 185 (215 ff., 227 ff.); zu v. Seydels Position vgl. Kalkbrenner, in: FS. v.d. Heydte, S. 871 (904 ff.); Barschel, Staatsqualität, S. 15 f. 4 6 So die Bezeichnung bei O. Mayer, AÖR 18 (1903), S. 337 (372, Fn. 55 m.w.N.). 47

Vgl. dazu ausführlicher oben 1. Teil, Kapitel C.

138

3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

schon damals allerdings gegen die herrschende M e i n u n g 4 8 und zu Unrecht 4 9 - angesichts der Bedeutung der „Novemberverträge" des Norddeutschen Bundes mit den süddeutschen Staaten für die Reichsgründung 50 und der (von Bismarck gegen die national-liberale Bewegung und gegen die Bestrebungen zur Parlamentarisierung des Reichs geprägten) Rede von den „verbündeten Regierungen" und der „vertragsmäßigen Grundlage" des Reichs 5 1 noch vertreten werden, die Reichsgewalt beruhe auf „bündischer" Grundlage und sei als Bündelung der von den verbündeten Fürsten ausgehenden Einzelstaats-Souveränitäten 52 , so ist ein derartiges Verständnis jedenfalls für den demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes nicht mehr m ö g l i c h 5 3 . Schon Otto Mayer, der sich i m übrigen für das Deutsche Kaiserreich der Seydelschen Konstruktion angeschlossen h a t 5 4 , hatte betont, daß insofern ein fundamentaler Unterschied zwischen republikanischem und monarchischem Bundesstaat besteht, als unter den Bedingungen der Volkssouveränität mit der Bundesstaatsgrün48 Vgl. dazu Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat, S. 49 f. m.w.N., 46 (Fn. 9); C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 373 f.; W. Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 253 (264); Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 275; Barschel, Staatsqualität, S. 72; Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 97 f.; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 63. 49 Vgl. insbes. E.R. Huber, Die Bismarcksche Reichsverfassung, in: E.-W. Böckenförde (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, S. 171 (181, 183); jetzt auch ders., HStR I, § 2, Rn. 20, 23. 50 Vgl. dazu Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 - 1918, Bd. 2, S. 80; Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 273; Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 148 f.; Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, S. 25; Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat, S. 49 ff. Vgl. auch Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 24.; Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 96; Barschel, Staatsqualität, S. 73 f.; R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 17.

51 Vgl. dazu Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 - 1918, Bd. 2, S. 87 f., 92, 79; O. Mayer, AÖR 18 (1903), S. 337 (364); E.R. Huber, HStR I, § 2, Rn. 9; Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 135; W. Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 253 (262); C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 66; Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat, S. 50; ders., Verfassung und Verfassungsrecht, S. 229 ff.; vgl. auch Grewe, Rechtsgültigigkeit des Artikels 41 der Hessischen Verfassung, S. 21; Barschel, Staatsqualität, S. 71. 52 Seydel, ZgStW 28 (1872), S. 185 (227 ff., 235 ff.); dazu Scheuner, DÖV 1962, S. 641 (643); W. Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 253 (264); Kalkbrenner, in: FS. v.d. Heydte, S. 871 (915 f., 933); Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 275; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 374; Smend, Verfassung und Verfassungsgesetz, S. 269. Der Deutung v. Seydels nähert sich Herzog, DÖV 1962, S. 81 (86). 53 Entgegenzutreten ist darum auch dem - ganz vereinzelt gebliebenen - Versuch Kalkbrenners (in: FS. v.d. Heydte, S. 871 [923 f., 932]), einer „Rückbesinnung" auf die v. Seydel'sche Bundesstaatstheorie einer „wahrhaft bündischen Ordnung" gegen die „zentralistisch-unbündische Grundstruktur" der deutschen Staaten seit 1871 das Wort zu reden. Unklar bleibt, ob er diese dem Grundgesetz unterlegen möchte (darauf deutet die Interpretation der Wahl des Bundestages nach Landeslisten als „Bestellung von Seiten der Vertragsländer" (!) hin; ebd., S. 934) oder offen contra constitutionem argumentiert. 54 O. Mayer, AÖR 18 (1903), S. 337 (364, 371, Fn. 55).

Α. Bundesstaat

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dung ein neuer Souverän entsteht 55 . Auch Rudolf Smend hat aus der Weimarer Perspektive die Differenz von demokratischem und monarchischem Bundesstaat betont 5 6 . Mayers Unterscheidung ist - gewissermaßen mit umgekehrtem Vorzeichen - noch aus heutiger, also aus der Sicht des gegenüber Mayers Zeit gerade entgegengesetzten Typus des demokratischen Bundesstaates, wichtig. Jedenfalls der Staat des Grundgesetzes beruht nicht auf vertraglicher Grundlage, auf einem Bündnis souveräner Länder, wie der Bayerische Verfassungsgerichtshof i m Jahre 1991 festzustellen Gelegenheit fand 5 7 , sondern - wie schon die von einer verfassunggebenden Nationalversammlung konstituierte Weimarer Republik 5 8 - auf der verfas-

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O. Mayer, Republikanischer und monarchischer Bundesstaat, AÖR 18 (1903), S. 337 (363 ff., 371, Fn. 55). Den entscheidenden Unterschied sieht Mayer in der Eigenart des jeweiligen Souveräns: Während im republikanischen Bundesstaat von selbst ein neuer Volkssouverän entsteht (a. a. O., S. 351), entspricht es dem monarchischen Prinzip, daß die nach dem Prinzip monarchischer Legitimität bestehenden Souveräne bestehenbleiben (darauf wird [unten 3. Teil, B.II, und C.H.2.] zurückzukommen sein). Mayer lehnt konsequenterweise für die USA, für die Calhoun - an dem sich v. Seydel ja ausdrücklich orientiert (vgl. etwa Seydel, ZgStW 28 (1872), S. 185 [198, 224]; vgl. dazu auch Kalkbrenner, in: FS. v.d. Heydte, S. 912 f.) - die Lehre von der gebündelten Einzelstaatensouveränität entwickelt hatte, diese Lehre ab (a. a. O., S. 353: „Demnach ist es vollkommen richtig, daß die Union nicht auf einem Vertrag beruht."). Gleiches würde natürlich auf der Grundlage der Lehre Otto Mayers auch für den insofern den USA eher als dem damaligen Deutschen Reich vergleichbaren Bundesstaat Bundesrepublik Deutschland gelten. 56 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat (1916), S. 40 („... dem Gebiet des Reichsverfassungsrechts, auf dem der monarchische Bundesstaat sich am grundsätzlichsten vom republikanischen unterscheidet, nämlich auf dem der Beziehungen zwischen Reich und Einzelstaaten."); ders., Verfassung und Verfassungsrecht (1928), S. 229 ff., 269 („Als den Hauptunterschied zwischen der Bismarckschen und der Weimarer Verfassung habe ich die Lokalisierung der staatsrechtlichen Legitimitätsquelle genannt; dort in den geschichtlich-legitimen Staatsindividualitäten, hier in der demokratischen Legitimität des Ganzen."). 57 BayVerfGH, Entsch. v. 16. 7. 1991 (Vf. 6-VII-90), BayVBl. 1991, S. 561 (562: „Die Bundesrepublik Deutschland wurde 1949 nicht als neuer Staat durch einen Staatsvertrag der westdeutschen Länder gebildet. Das Grundgesetz geht davon aus, daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch von 1945 überdauert hat. Mit der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer Staat gegründet, sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert [vgl. BVerfGE 36, 1 / 15 f.] ..."). Anders offenbar noch die Stellungnahme des BayVerfGH von 1973 im Verfahren zum Niedersächsischen Landesbesoldungsgesetz, wiedergegeben in BVerfGE 36, 342 (355), wo von „den Ländern, die sich zur Bundesrepublik Deutschland zusammengeschlossen haben", die Rede ist.

58 Vgl. hierzu Thoma, HdbDStR, 1. Bd., S. 169 ff. („Die Struktur dieses Staatswesens ist durch die Novemberrevolution und die konstitutionelle Gesetzgebung der Weimarer Nationalversammmlung von Grund auf verändert worden. ... An Stelle einer Zusammenfassung der Einzelstaaten,... steht heute eine Reichsverfassung, welche ... ein überwiegend „unitarisches" Gepräge trägt.... Versuche, das Reich auch jetzt noch als einen vertragsmäßigen Staatenbund zu konstruieren, wie es gegenüber dem Kaiserreich Max v. Seydel, Otto Mayer und andere unternommen hatten, sind bisher nicht gemacht worden ..."); C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 65, 388 („Im Deutschen Reiche war es die Demokratisierung der Jahre 1918 / 1919, die ... die Gliedstaaten des Bundes Deutsches Reich in „Länder" verwandelte. Die bundesstaatlichen Theorien von Calhoun ... und Max von Seydel ... sind damit überwun-

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

sunggebenden Gewalt des deutschen Volkes 5 9 , wie es die Präambel 6 0 des Grundgesetzes zum Ausdruck bringt. Es soll geradezu der deutschen demokratischen Verfassungstradition entsprechen, daß Bundesstaaten, die auf dem demokratischen Prinzip aufbauen, nicht durch Vertrag, sondern durch einen A k t der Verfassunggebung des zukünftigen Bundesvolkes ins Leben gerufen werden 6 1 . Tatsächlich haben sich 1949 nicht wie 1870 / 71 vormals souveräne Staaten zur Bundesrepublik Deutschland verbunden; vielmehr trägt diese eher Züge eines rück-föderalisierten Einheitsstaates 62 . Die historischen Länder des Kaiserreichs und der Weimarer Republik hatten während 6 3 der NS-Herrschaft ihre Staatsqualität verloren und zwischen 1933 / 34 und 1945 bloß noch als Gliederungsstufe der Reichsverwaltung fortbestanden 64 . Die nach dem Krieg von den Alliierten gebildeden."). Vgl. auch Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 232; Grawert, Der Staat 28 (1989), S. 481 (486, 500 ff.); Barschel, Staatsqualität, S. 76 f. („So war während der Beratungen zum Entwurf der Weimarer Reichsverfassung und danach unbestritten, daß das deutsche Reich nicht durch einen Bundesvertrag zu erneuern sei, sondern allein durch den Souverän, das deutsche Volk, neu zu errichten sei."). 59 Vgl. dazu unten 3. Teil, B.IV; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. II, § 25 II.2.a (S. 19); K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 32; Herzog, in: Maunz / Dürig, GGKomm., Art. 20, Rn. 25; ders., DÖV 1962, S. 81 (86: „Insbesondere ist auch das Grundgesetz nach seiner Präambel nicht vom deutschen Volk als dem Inbegriff der Landesvölker, sondern vom (einheitlichen) deutschen Volk in den Ländern geschaffen worden."); Kölble, DÖV 1962 (584); Jahrreiß, in: GS. H. Peters, S. 533 (542 f.); W. Schmidt AÖR 87 (260); Geiger, BayVBl. 1957, S. 301; Bethge, AÖR 110 (1985), S. 169 (192); Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 60; Maunz, in: Maunz / Obermayer / Berg / Knemeyer, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, S. 17 (19). 60 Auch diejenigen Stimmen, die den Realgehalt der Entstehung des Grundgesetzes aus der verfassunggebenden Gewalt des Volkes problematisieren, laufen nicht auf die Behauptung einer bündischen Gründung, sondern auf die Infragestellung der demokratischen Legitimation oder verfassungspolitische Postulate einer nachgeholten plebiszitären Ratifikation hinaus; vgl. auch Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 25.

Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 24. v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, Präambel, Anm. IV.2.; W. Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 253 (260, 265, 281); Kölble DÖV 1962 (584); Geiger, BayVBl. 1957, S. 301. Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 104, spricht vom „Neo-Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland". 63 Die sog. „Gleichschaltung" der Länder ist zwar in ihrer konkreten Form durchaus als Mittel zur Zerschlagung der demokratischen Staatsordnung und zur Ausgestaltung der spezifisch nationalsozialistischen Herrschaftsordnung zu qualifizieren, sie folgt aber auf längerfristige Tendenzen zur „Reichsreform" unter demokratischem Vorzeichen in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren (vgl. dazu insbes. H. Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, S. 584 - 601, 689 ff.; Gusy, ZfP 1993, S. 393 (395) m.w.N.). 64 Grawert, HStR I, § 4 Rn. 11, 13; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 1 IV.2. (S. 12); Barschel, Staatsqualität, S. 83 f.; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 73 f.; Scheuner, DVB1. 1950, S. 481 (483 f.); HP. Ipsen, FS. Raape, S. 423 (424); Thieme, in: Hoffmann-Riem / Koch, Hamb. Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (12); Nawiasky, in: Nawiasky / Leusser / Schweiger / Zacher, Verfassung des Freistaates Bayern, Teil I. (Einleitung), S. 8. (11); Monz, Bundesländer, S. 32; vgl. auch Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (18); v.d. Heydte, Bundesverfassung, S. 45. 62

Α. Bundesstaat

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ten Länder 6 5 in den vier Besatzungszonen konnten nur teilweise an frühere staatliche Traditionen wiederanknüpfen 66 . Vielfach handelte es sich um Neugründungen aus der territorialen Konkursmasse des aufgelösten preußischen Staates 67 , die damit tatsächlich aber eher auf die Tradition provinzialer Selbstverwaltung 68 als auf eigene Staatlichkeit zurückblicken können. Auch dort, wo wie vor allem in Bayern, Sachsen oder in den Hansestädten Hamburg und Bremen an eine frühere Staatstradition angeknüpft wurde, waren die neugebildeten Länder nach dem Traditionsbrüchen von 1934 und 1946 rechtlich und auch territorial mit ihren Vorgängern nicht identisch 6 9 .

65 Vgl. hierzu insbesondere Zinn, AÖR 75 (1949), S. 291 (295: „Die Länder wurden durch Anordnung der Militärbefehlshaber geschaffen. ... ihre Landeshoheit beruht nicht auf der Freigabe einer nur durch die Besatzungsmächte suspendierten Landesstaatsgewalt, sie ist vielmehr von den Militärbefehlshabern freigegebene Gesamtstaatsgewalt."); Stödter, Deutschlands Rechtslage, S. 254; K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 12; Scheuner, DVB1. 1950, S. 481 (484); Jahrreiß, in: GS. H. Peters, S. 533 (543); HP. Ipsen, FS. Raape, S. 423 (443); Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 444; Stolleis, HStR I, § 5, Rn. 57 (zu den Ländern der amerikanischen Zone), 77 (zu Nordrhein-Westfalen), 80 f. (zu Niedersachsen), 82 (zu Schleswig-Holstein), 88 ff. (zu Württemberg-Hohenzollern, Baden, Rheinland-Pfalz), 96 ff. (zu den Ländern in der SBZ); Kilian, HStR VIII, § 186, Rn. 1 (zu den Ländern der SBZ). Vgl. aber auch Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 133; v. d. Heydte, Bundesverfassung, S. 45 f. 66 Überwiegende territoriale Kontinuität ist nur für Bayern (mit Ausnahme der zu Rheinland-Pfalz gekommenen ehem. bayerischen Rheinpfalz), Sachsen, Thüringen, Bremen und Hamburg festzustellen; vgl. dazu ζ. B. Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 28; Glatz /Haas, JÖR NF 6 (1957), S. 223 (227); Rommelfanger, ThürVBl. 1993, S. 145 (147). 67 Vgl. K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 12. Aus (bzw. mit) ehemals preußischen Gebietsteilen entstanden sind insbesondere die Länder (Groß-) Hessen (mit Kurhessen, Nassau), Nordrhein-Westfalen (Rheinprovinz, Provinz Westfalen), Schleswig-Holstein (Provinz Schleswig-Holstein), Niedersachsen (Provinz Hannover), Württemberg-Hohenzollern / Baden-Württemberg (Hohenzollern, preußische Landkreise Hechingen, Sigmaringen), Rheinand-Pfalz (Rheinprovinz, Nassau), Sachsen-Anhalt (Provinz Sachsen), Mecklenburg-Vorpommern (Provinz Pommern), das Saarland (mit Ausnahme des ehemals zur bayerischen Pfalz gehörenden Teils), Brandenburg (Mark Brandenburg) und Berlin; vgl. Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 27 f.; Stolleis, HStR I, § 5, Rn. 68 ff.; Mannzen, JÖR NF 6 (1957), S. 251 (254, 257: „Schleswig-Holsteins Staatswerdung nach 1945"); Grimm, in: Grimm / Papier, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (6 ff.); Fiedler, JZ 1990, S. 668 (669); R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 26 ff.; vgl. auch H.P. Ipsen, FS. L. Raape, S. 423 (443). 68 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 - 1918, Bd. 2, S. 123; Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 250, 294; Forsthoff\ Verfassungsgeschichte, S. 101 f. Noch das erste (von der britischen Besatzungsmacht ernannte) Nachkriegs-Parlament Schleswig-Holsteins hieß „Provinziallandtag", vgl. Mannzen, JÖR NF 6 (1957), S. 251 (257); Stolleis, HStR I, § 5, Rn. 82. 69 Vgl. Monz, Bundesländer, S. 21, 33, und ζ. B. Nawiasky, in: Nawiasky / Leusser / Schweiger / Zacher, Verfassung des Freistaates Bayern, Teil I. (Einleitung), 9. (S. 11 f.: „Durch die Proklamation Nr 2 der Amerikanischen Militärregierung vom 19. 9. 1945 ... wurde Bayern ... neu gebildet".); Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 28; vgl. auch Glatz/Haas, JÖR NF 6 (1957), S. 223 (227 f.).

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Zwar hat das Bundesverfassungsgericht i m Konkordatsurteil darauf hingewiesen, es handle sich auch „nicht um die Aufteilung einer bis zur Schaffung des Bundesstaates unbeschränkt ausgeübten Einheitsstaatsgewalt" 70 . Die gesamte Staatsgewalt in Deutschland war nach dem Krieg zunächst desorganisiert und handlungsunfähig 7 1 ; der deutschen Staatsgewalt in Bund und Ländern mußte in einem grundlegenden Neuaufbau an Stelle der 1945 gänzlich zusammengebrochenen und völlig beseitigten staatlichen Organisation eine neue Ordnung und Form gegeben werden 7 2 . Dieser Sachverhalt des Neuaufbaus deutscher Staatlichkeit von unten nach oben 7 3 liegt dem vereinzelt auch vom Bundesverfassungsgericht aufgegriffenen Hinweis auf die zeitliche Priorität der Entwicklung der Staatlichkeit der Länd e r 7 4 zugrunde. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts läßt sich jedoch kein Anhalt dafür finden, daß die bundesstaatliche Neuordnung nach 1945 das Produkt einer Entscheidung der Länder sei 7 5 . Zu keinem Zeitpunkt konnten - unter Zugrundelegung der herrschenden Ansicht vom Fortbestand des Deutschen Reiches 7 6 - die Länder souveräne Staaten sein, die sich hätten „verbünden" 7 7 können, vielmehr übten sie unter Aufsicht der alli-

70 BVerfGE 6, 309 (360); der sicher zutreffende Hinweis, daß es sich nicht um „unbeschränkt ausgeübte Einheitsstaatsgewalt" handeln konnte, heißt freilich auch nach dieser Formulierung im Konkordatsurteil nicht, daß die Entstehung der Bundesrepublik nicht am zutreffendsten als Reföderalisierung eines Einheitsstaates zu verstehen ist. Die Bundesstaatskonzeption des Konkordatsurteils ist zudem auf entschiedene Kritik gestoßen und mit dem 2. Neugliederungsurteil (BVerfGE 13, 54 [78]) in entscheidenden Punkten revidiert worden; vgl. dazu auch Rudolf\ Die Bundesstaatlichkeit in der Rechtsprechung des BVerfG, in: FG. BVerfG, Bd. II, S. 233 [235, 237]). 7

1 BVerfGE 36, 1(16) [Grundlagenvertrag]. BVerfGE 6, 309 (360) [Konkordatsurteil].

72 73

Vgl. Barschel, Staatsqualität, S. 141 f. BVerfGE 6, 309 (360); auch im Konkordatsurteil handelt es sich insoweit aber nur um einen Hinweis auf den tatsächlichen Ablauf, aus dem keine normativen Folgerungen gezogen werden. Vgl. auch Rudolf in: FG. BVerfG, Bd. II, S. 233 (235); Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 18. Zum Hinweis auf das historische Erstgeburtsrecht der Länder vgl. auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 118; Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (20: „zeitliches und faktisches prae esse"). 75 Geiger, Das Bund-Länder-Verhältnis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, BayVBl. 1957, S. 301. 76 BVerfGE 36, 1 (15 f.: „Das Grundgesetz - nicht nur eine These der Völkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre! - geht davon aus, daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist; ..."). Vgl. auch Stolleis, HStR I, § 5 Rn. 36 ff., der darauf hinweist, daß die vor allem von Kelsen und Nawiasky vertretene Lehre vom Untergang des deutschen Reiches, die gegenüber den Fortbestandslehren in der Minderheit geblieben ist, in Bayern anfangs zur Etablierung einer Landessouveränität aufgegriffen worden sei (ebd., Rn. 41). 77 Die Formulierung eines „Bund und Länder verbindenden »Bündnisses'" im Konkordatsurteil (BVerfGE 6, 309 [361]) ist schon dort nicht im Sinne der Behauptung einer wirklich staatenbündischen Grundlage des Bundesstaates gebraucht, sondern taucht im Zusammen74

Α. Bundesstaat

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ierten Besatzungsmächte die von diesen wahrgenommene Gesamtstaatsgewalt aus 7 8 . Die Länder existierten von vornherein, auch nachdem sie über eigene demokratisch legitimierte Landtage verfügten 7 9 , i m Hinblick auf die Einordnung in einen deutschen Bundesstaat, wie auch die ersten Landesverfassungen häufig betonen 8 0 . Außer den von den Besatzungsmächten gegründeten Ländern entstanden schon vor Gründung der Bundesrepublik auch zentralstaatliche Einrichtungen 8 1 , aus denen sich die spätere Bundesverwaltung entwickelte 8 2 . Auch die Entsendung der Mitglieder des Parlamentarischen Rates und die Annahme des Grundgesetzes in den Landesparlamenten i m damals zur Mitwirkung an der demokratischen Verfassunggebung fähigen Teil Deutschlands kann nach herrschender Ansicht nicht als „Gründung" der Bundesrepublik durch die Länder interpretiert werden 8 3 . Wenn die Bundesrepublik als „Schöpfung der Länder" bezeichnet w i r d 8 4 , so ist dies darum eher in einem politisch-metaphorischen, nicht staatsrechtlichen Sinne zu verstehen.

hang mit der ursprünglich auf anderen staatsrechtlichen Grundlagen entwickelten Bundestreuepflicht auf und wird im Urteil selbst in Anführungsstriche gesetzt; das Konkordatsurteil ist i.ü. gerade wegen seiner föderativen Passagen heftiger Kritik ausgesetzt gewesen, der ihm zugrundeliegende dreigliedrige Bundesstaatsbegriff ist nachfolgend aufgegeben worden. 78 Vgl. Stödten Deutschlands Rechtslage, S. 251, 254 f. m.w.N.; Zinn, AÖR 75 (1949), S. 291 (295 f.); Peters, Neue Justiz 1 (1947), S. 2 (5); Ipsen, FS. Raape, S. 423 (428); Monz, Bundesländer, S. 33; Jahrreiß, in: GS. H. Peters, S. 533 (543); E.-W. Böckenförde, FG. C. Schmitt, S. 423 (443); vgl. auch Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 42; R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 34. Repräsentativ für die h.M. Kölble, DÖV 1962, S. 583 (585: „Wenn die Besatzungsmacht die Neu- oder Wiedererrichtung von Ländern anordnete oder zuließ, so konnte dies daher nicht bedeuten, daß die Ländern als selbständige für sich bestehende Staaten gebildet werden sollten, sondern nur als Gliedstaaten eines fortbestehenden deutschen Staates ..."). 79 Vgl. Stolleis, HStR I, § 5, Rn. 57 f., 74. 80 Vgl. März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 177 (mit einer Aufzählung der entsprechenden Bestimmungen in den Verfassungen der alten Länder in Fn. 322); Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (20); Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (859); Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 5 ff.; Kilian, HStR VIII, § 186, Rn. 2; Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 129; E.W. Böckenförde, Die Teilung Deutschlands und die deutsche Staatsangehörigkeit, in: FG. C. Schmitt, S. 423 (439 f.); Kölble, DÖV 1962, S. 583 (586); Mannzen, JÖR NF 6 (1957), S. 251 (259); H.P. Ipsen, FS. Raape, S. 423 (431). 81 Vgl. ζ. B. Stolleis, HStR I, § 5, Rn. 65 f. (zum Länderrat der US-Zone), 71 ff. (zum Zonenbeirat der britischen Zone), 105 (zu den Zonenzentralverwaltungn der SBZ), 111 ff. (zum Wirtschaftsrat in der Bizone); H.P. Ipsen, FS. Raape, S. 423 (435); R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 27 f. 82 Stolleis, HStR I, § 5, Rn. 114. 83 Vgl. dazu auch unten 3. Teil, B.IV; Zinn, AÖR 75 (1949), S. 291 (293); v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, Präambel, Anm. IV.2., VI.l.; Geiger, BayVBl. 1957, S. 301; Rudolf, in: FG. BVerfG, Bd. II, S. 233 (236); Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 104; Maunz, in: Maunz / Obermayer / Berg / Knemeyer, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, S. 17 (19); offengelassen noch bei Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 130. 84 Vgl. ζ. B. Hans Maier, zit. Stolleis, HStR I, § 5, Rn. 116; ähnlich auch Wuermeling, NJW 1990, S. 1079 (1082: „Die Bundesrepublik ist ein Bund ihrer Länder.").

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Auch durch die Wiedervereinigung Deutschlands hat der Staat des Grundgesetzes nicht etwa nachträglich eine vertragliche Grundlage erhalten. Große Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang zwar dem Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) vom 31.8. 1990 zu. Die Vereinigung erfolgte aber durch Beitritt der D D R gemäß Art. 23 Satz 2 GG a.F., also durch einseitige (Gestaltungs-)Erklärung 85 , nicht aufgrund des Vertrags; dieser regelt lediglich die einigungsbedingten Rechtsfragen und stellt Motiv und Geschäftsgrundlage für den Beitritt dar, hat den Beitritt aber nicht bewirkt 8 6 . Die Beitrittserkärung 87 wurde von den Repräsentanten der Deutschen in der DDR, der ersten frei gewählten Volkskammer, nicht etwa von Ländern i m Gebiet der damaligen D D R abgegeben. Länder existierten dort vor dem Wirksam werden des Beitritts am 3. 10. 1990 nicht 8 8 . Die Länder in der sowjetischen Besatzungszone und späteren D D R waren 1952 aufgelöst und für 37 Jahre vollständig 8 9 durch die strikt einheitsstaatliche

85 Tomuschat, VVDStRL 49 (1990), S. 70 (79 f.); Schäuble, ZG 1990; S. 289 (294); Schnapauff,; DVB1. 1990, S. 1249 (1250); Boehl, Art. „Beitritt", in: Eppelmann / Möller / Nooke / Wilms (Hrsg.), Lexikon des DDR-Sozialismus, S. 99 (100); vgl. auch Weis, AÖR 116 (1991), S. 1 (9 f.). 86 Vgl. Schäuble, ZG 1990, S. 289 (294 f.); ders., in: Pfeiffer / Fischer, Markierungen auf dem Weg zu einer gesamtdeutschen Verfassung, S. 45 (46); Weis, AÖR 116 (1991), S. 1 (3, 12); Schnapauff, DVB1. 1990, S. 1249 (1250); Tomuschat, VVDStRL 49 (1990), S. 70 (79 f.). 87 Beschluß der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik über den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 23. August 1990. 88 Vgl. zur Länderentstehung im Beitrittsgebiet Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (573 f.); Schnapauff, DVB1. 1990, S. 1249 (1255); R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 72 ff.; Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 1 ff.; Schäuble, Art. „Einigungsvertrag", in: Eppelmann / Möller / Nooke / Wilms (Hrsg.), Lexikon des DDR-Sozialismus, S. 174 (178); Bayer, DVB1. 1991, S. 1014 (1015 f.); Klatt, Verw.A. 82 (1991), S. 430 (432). 89 Anders als während der NS-Herrschaft bestanden die Länder in der DDR nach 1952 auch nicht etwa als Verwaltungsstufe ohne Staatsqualität fort, sondern waren aus der staatlichen und staatsrechtlichen Realität vollständig verschwunden. Auch Röper, ZG 1991, S. 149 (159), der entgegen der h.M. eine de jure-Kontinuität der SBZ-Länder von 1946 / 47 konstruieren möchte, kann neben dem Fortbestehen der Länderkammer der DDR (bis 1958) an tatsächlichen Anknüpfungspunkten nur auf das Fortbestehen der Mecklenburgischen Landesbibliothek bis 1969 sowie des Landesmuseums für Vorgeschichte Sachsen-Anhalt und der Universitäts- und Landesbibliothek Halle jeweils unter anderem Namen als gemeinsame Einrichtungen der Bezirke Halle und Magdeburg verweisen, was als Beleg für eine staatsrechtliche Kontinuität der Länder schwerlich überzeugen kann. Die von Röper vertretene Ansicht, die DDR-Länder wären mangels eines formellen Gesetzes niemals aufgelöst worden, vielmehr sei nur „seit der Verfassung von 1968 ... keine Notiz mehr von ihnen genommen (worden), ohne sie nun aber aufzulösen" (a. a. O., S. 161), erscheint als ein den Bedingungen im Staat der SED völlig inadäquater, überzogener Gesetzespositivismus und dürfte eine Zweckkonstruktion zur Begründung des Erfordernisses einer 2/3-Mehrheit (vgl. ebd., S. 167 f.) zur „Änderung" der von ihm als 1989 / 90 noch fortgeltend angenommenen ehemaligen SBZLandesverfassungen von 1946 / 47 darstellen. Vgl. dazu bereits Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (Fn. 4 und 131, jeweils m.w.N.); Klatt, Verw.A. 82 (1991), S. 430 (432 f.); Linck, DÖV 1991, S. 730 (732); Bayer, DVB1. 1991, S. 1014 (1015); und jetzt Hans v. Mangoldt,

Α. Bundesstaat

145

Gliederung in Bezirke ersetzt worden 9 0 . In bezug auf den 1990 beigetretenen Teil Deutschlands beruht die bundesstaatliche Struktur der Bundesrepublik Deutschland also auf zweifacher Reföderalisierung einheitsstaatlicher Strukturen. Für die Annahme

einer

vertraglichen

Grundlage

des Bundesstaates

Bundesrepublik

Deutschland oder die rechtliche Ableitung von den Gliedstaaten her besteht daher - anders als noch i m monarchischen bzw. konstitutionellen Bundesstaat von 1867 / 71 - unter keinem Gesichtspunkt ein rechtlicher Anhaltspunkt 9 1 . Erledigt hat sich in Anbetracht der allgemeinen Orientierung am spezifisch verfassungsrechtlichen Bundesstaatsbegriff des Grundgesetzes zum anderen die Lehre vom sogenannten „dreigliedrigen Bundesstaat" 92 . Diese ordnet zwar nicht wie die v. Seydel-Schule den Bund den Ländern unter 9 3 , indem er als ein „vertragliches Länderkollektivum" umgedeutet w i r d 9 4 , sucht aber - wie Scheuner herausgestellt hat - „die föderalistischen Ansprüche der Länder zu einem System der Gleichordnung von Bund und Ländern auszugestalten und konstruiert hierzu den Bund als

Die Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 19 (Fn. 38); R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 57, 73 f.; Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (144); Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 3 f.; Kilian, HStR VIII, § 186, Rn. 8 ff. 90 Vgl. dazu R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 11, 58 ff.; Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 10 (Fn. 23); Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 m.w.N. Fn. 2 - 4; Kilian, HStR VIII, § 186, Rn.4f. 91 Problematisch ist von daher die Konstruktion bei Herzog, DÖV 1962, S. 81 (83), der seine Bundesstaatstheorie ausdrücklich nur am Modell des Zusammenschlusses mehrerer selbständiger Staaten entwickelt. Zwar lehnt er das länder-zentrierte (Seydel / Calhoun-) Modell der Bundesstaatsgründung durch Abtretung bestimmter Befugnisse von den Ländern an den Bund ab (ebd. S. 83 f.). Doch beruht auch die Konstruktion der Bundesstaatsentstehung in einem von den Ländern freigelassenen „Hoheitsvakuum" (ebd. S. 84 ff.), die bis in die Bearbeitung Herzogs im Kommentar von Maunz / Dürig (GG, Art. 20, Abschn. IV, Rn. 28 ff.) weiterverfolgt wird, letztlich auf dem nicht den Entstehungsbedingungen des GG entsprechenden Modell der ursprünglich vorhandenen „souveränen" Länder, indem sie die Entstehung des Vakuums ausdrücklich „auf ihren [d.i. der Länder, d. Verf.] Willen zurückführt" (Herzog, DÖV 1962, S. 81 [85]; vgl. dagegen die Kritik von W. Schmidt, AÖR 87 [1962], S. 253 [260, Fn. 17: „künstlich", „ganz ungeschichtlich"]). 92 Vgl. Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 83 („heute erledigt"); Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, § 1, Rn. 217 (Fn. 1: „kann jedenfalls für die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes als überwunden gelten"); Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 40; Bethge, AÖR 110 (1985), S. 169 (191); Maunz, in: Maunz / Obermayer / Berg / Knemeyer, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, S. 17 (21); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 21, hebt „die praktische Bedeutungslosigkeit der Frage" hervor und weist darauf hin, daß rechtliche Antworten nur aus der Interpretation der Verfassung selbst gewonnen werden können, wohingegen die Deduktion aus allgemeinen Begriffen einen Rückfall in Begriffsjurisprudenz bedeuten würde. 93 So ausdrücklich Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 126; Geiger, BayVBl. 1957 (301). Vgl. auch Scheuner, DÖV 1962, S. 641 (642 f.), der aufzeigt, daß bei Calhoun und v. Seydel noch ein deutlich dualistisches Bundesstaatskonzept zugrunde liegt. 9

* Scheuner, DÖV 1962, S. 641 (643).

10 Boehl

146

3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

dreigliedrigen A u f b a u " 9 5 , mit einem den Bund („Zentralstaat") und die Länder („Gliedstaaten") gleichermaßen überwölbenden „Gesamtstaat" 96 . Der dreigliedrige Bundesstaatsbegriff ist in der Frühzeit der Bundesrepublik vor allem von Kelsen 9 7 und Nawiasky 9 8 , aber anfänglich auch von M a u n z 9 9 und - allerdings mit wesentlichen Einschränkungen 1 0 0 - von H e r z o g 1 0 1 vertreten word e n 1 0 2 . Zeitweise hat auch das Bundesverfassungsgericht von der Bundesrepublik Deutschland als einem Bundesstaat, dessen „Glieder der Bund und die Länder" sind, gesprochen, eine Formulierung, die auf einen zugrundeliegenden dreigliedrigen Bundesstaatsbegriff hindeutete 1 0 3 . Seit der zweiten Neugliederungs- bzw. Hes-

95 Scheuner, DÖV 1962, S. 641 (642); ebd., S. 643, spricht Scheuner in bezug auf die Hauptvertreter dieser Lehre (Nawiasky, Maunz) von „strenger föderalistischer Tendenz"; vgl. auch ebd. S. 644: „Einen Anstoß zur Annahme der Dreigliedrigkeit entnehmen Nawiasky, Maunz und Geiger... dem Verlangen, den Einzelstaaten Souveränität und Gleichordnung zuschreiben zu können". Von einer Zweckkonzeption, die weniger darum bemüht sei, Rechtstatsachen vorzustellen, als eine bundesstaatliche Ideologie der Gleichrangigkeit von Bund und Ländern aufzupressen, spricht Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 164. 96 Zur dreigliedrigen Konstruktion vgl. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I § 19 I.3.a (S. 650 f.); Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 40 ff.; Scheuner, DÖV 1962, S. 641 (642 ff.); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, Rn. 15 ff.; Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 125; J.H. Kaiser, ZaöRV 18 (1957 / 58), S. 526 (531); Κ Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 5 f. 97 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 199 ff. 98 Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, Bd. 2 S. 203 f.; Bd. 3 S. 151 ff., unter Aufgabe seines während der Weimarer Republik vertretenen zweigliedrigen Bundesstaatsbegriffs, vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, S. 66; vgl. dazu auch W. Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 253 (256, Fn. 5); Herzog, DÖV 1962, S. 81 (83, Fn. 18); Barschel, Staatsqualität, S. 162 f. 99 Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 125; ders., in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Erstauflage (1959) und Lfg. 1 - 5 (1961), Art. 20, Rn. 5 f. Distanziert gegenüber der Dreigliedrigkeitslehre und ohne Hinweis auf seine frühere Position jetzt Maunz, HStR IV, § 94, Rn. 7. 100

Herzog akzeptiert schon 1962 ausdrücklich nur den dreigliedrigen Begriff (Herzog, DÖV 1962, S. 81, Fn. 1), betont aber „die Untauglichkeit des dreigliedrigen Bundesstaatsbegriffes" (ebd., S. 82, Überschrift Abschn. II) für seinen Zweck der Erklärung der Bindungswirkung der Bundesverfassung für die Landesstaatsgewalten und daß dem „Gesamtstaat" tatsächlich keine eigene Staatsqualität zukommt. ιοί Herzog, DÖV 1962, S. 81 (Fn. 1); vgl. auch ebd. S. 86, wo sich Herzog bei der Deutung der Bismarckschen Verfassung bezeichnenderweise der Lehre von der Souveränität der „verbündeten Fürsten" anschließt. i° 2 Theodor Maunz gilt als akademischer Schüler Hans Nawiaskys aus der Weimarer Zeit (vgl. Stolleis, KJ 1993, S. 392 [394]); Roman Herzog, seit den siebziger Jahren Mitherausgeber des Grundgesetz-Kommentars von Maunz / Dürig, war in den sechziger Jahren Assistent bei Maunz in München (vgl. Anm. der Schriftleitung zu Herzog, DÖV 1962, S. 81). Beachtenswert sind auch die personellen Überschneidungen der älteren Dreigliedrigkeitslehre einerseits mit der (in der Minderheit gebliebenen) Lehre vom Untergang des Deutschen Reiches (Kelsen, Nawiasky; vgl. oben Fn. 76) und andererseits mit der Maunz / Herzog-Linie der Annahme einer eigenständigen verfassunggebenden Gewalt der Landesvölker (Maunz, Herzog; vgl. unten 3. Teil, C.I.).

Α. Bundesstaat

147

sen-Entscheidung 104 legt das Bundesverfassungsgericht w i e d e r 1 0 5 einen zweigliedrigen Bundesstaatsbegriff zugrunde; der Bund ist sowohl Ober- als auch Gesamtstaat, eine dritte Ebene der Staatlichkeit kann dem Grundgesetz nicht entnommen werden 1 0 6 . Die staatsrechtliche Literatur zum Bundesstaatsbegriff, die i m Zusammenhang mit der Entscheidung von 1961 k u l m i n i e r t e 1 0 7 , ist dem ganz überwiegend gefolgt; die Auseinandersetzungen um den zweigliedrigen oder dreigliedrigen Bundesstaatsbegriff gelten heute als beigelegt 1 0 8 . Lediglich zur gedanklichen Verdeutlichung der gesamtstaatlichen Bezogenheit von Bund und Ländern als Bestandteilen ein und desselben Gemeinwesens wird der Dreigliedrigkeitsvorstellung heute noch eine Berechtigung zuerkannt 1 0 9 ; in gewisser Weise lebt sie auf anderer Ebene in der Vorstellung einer aus Bundes- und Landesverfassungen gebildeten „Gesamtverfassung" der Bundesrepublik Deutschland 1 1 0 fort. 103 So insbesondere im Konkordatsurteil von 1957, BVerfGE 6, 309 (340); vgl. dazu insbesondere J.H. Kaiser, ZaöRV 18 (1957 / 58), S. 526 (530 ff., 533); Rudolf, in: FG. BVerfG, Bd. II, S. 233 (236 f.); Barschel, Staatsqualität, S. 20; Herzog, in: Maunz / Dürig, GGKomm., Art. 20, IV. Rn. 20. 104 BVerfGE 13, 54 (78); vgl. dazu Rudolf, in: FG. BVerfG, Bd. II, S. 233 (237 f.); Barschel, Staatsqualität, S. 161, 163. los Einen zweigliedrigen Bundesstaatsbegriff hatte das BVerfG ursprünglich in der Südweststaatsentscheidung (Ε 1, 14 [34]) von 1951 zugrundegelegt, indem es von den Ländern „als Gliedern des Bundes" sprach. Vgl. auch Barschel, Staatsqualität, S. 20 m.w.N. 106 K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 6; J.H. Kaiser, ZaöRV 18 (1957 / 58), S. 526 (533 f.); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 19; Barschel, Staatsqualität, S. 163 ff.; vgl. auch Wahl, AÖR 112 (1987), S. 26 (32, Fn. 17). 107 Hinzuweisen ist insofern insbesondere auf die Arbeiten von K. Hesse (Der unitarische Bundesstaat, 1962), Scheuner (DÖV 1962, S. 641 ff.), Herzog (DÖV 1962, S. 81 ff.), W. Schmidt (AÖR 87 (1962), S. 254 ff.) und Kölble (DÖV 1962, S. 583).\ io« Vgl. ζ. B. Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 41; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 21; Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 82 ff.; Bothe, in: Alt.Komm. GG, Art. 31, Rn. 1, und ebd., Art. 20 Abs. 1 - 3,1 Rn. 22; Barschel, Staatsqualität, S. 21. 109 Vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 22 f.; ähnlich jetzt auch Maunz, HStR IV, § 94, Rn. 7. Herzog bezeichnet den dreigliedrigen Bundesstaatsbegriff jenseits dessen ausdrücklich als „untaugliches Modell" (a. a. O., Rn. 15 - 19); schon 1962 hatte er zwar terminologisch den dreigliedrigen Bundesstaatsbegriff zugrundegelegt {Herzog, DÖV 1962, S. 81, Fn. 1), ausdrücklich aber „die Untauglichkeit des dreigliedrigen Bundesstaatsbegriffes" konstatiert (ebd. S. 82, Überschrift zu II.) und die Staatsqualität des sogenannten „Gesamtstaates" verneint. Vgl. auch Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 41, der es als nicht gerechtfertigt ansieht, Herzog als Vertreter der Dreigliedrigkeitslehre zu bezeichnen. no So die Formulierung bei Wahl, AÖR 112 (1987), S. 26 (29, 33), der die Bundesverfassung insbesondere durch die Kulturstaatsklauseln in den insoweit primär einschlägigen Landesverfassungen als Ergänzungen des GG zur gemeinsamen „Gesamtverfassung des Bundesstaates" versteht (ebd., S. 31: „Ergänzungs- und Komplementärfunktion" des materiellen Landesverfassungsrechts zum GG). Diese Sicht geht insoweit über die Formulierungen des BVerfG und der h.L. hinaus, als sie nicht nur die Landesverfassungsurkunden durch Bestimmungen der Bundesverfassung zur jeweiligen „Verfassung des Landes" ergänzt sieht (vgl. dazu unten 3. Teil, C.II.3.a), sondern umgekehrt auch die Bundesverfassung erst um Bestimmungen der Landesverfassungen ergänzt die Gesamtverfassung des Bundesstaates darstellt. Zum Begriff der „Gesamtstaatsverfassung" vgl. aber auch Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 82, 84; 10*

148

3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Daß sowohl die Vorstellung des vertraglich begründeten als auch die des dreigliedrigen Bundesstaates als zusammenhängende Theorie für den Staat des Grundgesetzes heute keine Rolle mehr spielt, schließt nicht aus, daß sich einzelne Elemente aus dem Zusammenhang dieser Bundesstaatstheorien in der Auslegung des spezifisch grundgesetzlichen Bundesstaatsbegriffs durch das Bundesverfassungsgericht wiederfinden können. So taucht insbesondere in der vom Bundesverfassungsgericht bereits in der Südweststaatsentscheidung 111 formulierten und 1982 in der „Startbahn West"-Entscheidung 1 1 2 aufgegriffenen Formel von der „Unabgeleitetheit" der Staatsgewalt der Länder die ältere Lehre von der Ursprünglichkeit der Gliedstaaten wieder auf, die ursprünglich der Behauptung der Souveränität der Einzelstaaten gegen eine Unterordnung 1 1 3 unter den Zentralstaat und die Einordnung als bloße Selbstverwaltung höchsten Ranges 1 1 4 gedient hatte 1 1 5 . Die heute herrschende L e h r e 1 1 6 hat die Formel des Bundesverfassungsgerichts von der UnabMärz, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 178; W. Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 253 (280); Herzog, DÖV 1962, S. 81 (82); Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (12); Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (862); Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 4. Eine Affinität der Vorstellung vom GG als Gesamtstaatsverfassung zur herkömmlichen Dreigliedrigkeitslehre wird deutlich ζ. B. bei Kruis, FS. R Lerche, S. 475 (476), der davon spricht, das GG „als Ordnung des Gesamtstaates" verlange „von seinen Gliedern, dem Bund und den Ländern", Befolgung. 111 BVerfGE 1, 14 (34: „Die Länder sind als Glieder des Bundes Staaten mit eigener wenn auch gegenständlich beschränkter - nicht vom Bund abgeleiteter, sondern von ihm anerkannter staatlicher Hoheitsmacht."). 112 BVerfGE 60, 175 (207). 113 Vgl. hierzu Herzog, DÖV 1962, S. 81 (82 m.w.N. Fn. 11). Das Gegenbild ist das borussisch-einheitsstaatliche Denken, das exemplarisch bei v. Treitschke (zit. Kalkbrenner, FS. v.d. Heydte, S. 909) ausgedrückt ist: „Unser Reich ist in Wahrheit: der die Mehrheit der Nation unmittelbar beherrschende preußisch-deutsche Einheitsstaat mit den Nebenlanden, welche seiner Krone in föderativen Formen untergeordnet sind" (Hervorhebung vom Verf.). 114

So insbesondere Laband, Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, S. 94, 104; ders., Deutsches Reichsstaatsrecht, S. 28 (vgl. aber auch die Differenzierung ebd., S. 29 f.); Ρ Oetzsch, Handkommentar der Reichs Verfassung, S. 74 ff.; W. Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, S. 18, 49; Jahrreiß, in: GS. H. Peters, S. 533 (542); vgl. dazu auch Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 64 (Fn. 158 m.w.N.); Feuchte, Der Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur Gründung des Landes Baden-Württemberg, in: Schaab / Richter, Colloquium, S. 25 (35, Fn. 40); Zinn, AÖR 75 (1949), S. 291 (296); Vetter, Bundesstaatlichkeit, S. 42 ff. Vgl. ferner H. Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, S. 591. 115 Nawiasky, Bundesstaat, S. 47; vgl. dazu Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 19; Thoma, HdbDStR, 1. Bd., S. 169(170). h 6 Maunz, HStR IV, § 94, Rn. 2; ders., in: Maunz / Obermayer / Berg / Knemeyer, Staatsund Verwaltungsrecht in Bayern, S. 19; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 10 ff.; Grimm, in: Grimm / Papier, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 11; Maurer, in: Maurer / Hendler, Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 27 (29 f.); Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 3; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 1 IV.3. (S. 13); R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 10, 171; Barschel, Staatsqualität, S. 168; Rudolf, Bundesstaatlichkeit in der Rechtsprechung des BVerfG, in: FG. BVerfG, Bd. II, S. 233 (240); Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (143).

Α. Bundesstaat

149

geleitetheit der Landesstaatsgewalt akzeptiert und gleichsam zum staatsrechtlichen Dogma oder A x i o m erhoben 1 1 7 . Betont wird allerdings, daß es sich dabei um eine „rechtsbegriffliche", „nicht notwendig historische" Unabgeleitetheit handelt 1 1 8 , daß den Ländern Staatsqualität und Unabgeleitetheit ihrer Staatsgewalt deshalb zukommt, weil dies i m Grundgesetz so normiert worden i s t 1 1 9 . Es handelt sich also um Staatsqualität nach Maßgabe des Grundgesetzes 120 , um vom Grundgesetz abgeleitete Unabgeleitetheit. Was zunächst paradox klingt, umschreibt zutreffend die der Orientierung am Bundesstaatsbegriff des Grundgesetzes entsprechende Verfassungslage: Unbesehen der Tatsache, daß die Eigenstaatlichkeit der Länder eine vom Grundgesetz normierte ist, kann diese rechtliche Ableitung vom Grundgesetz nicht gegen die vom Grundgesetz gewollte Behandlung 1 2 1 der Landesstaatsgewalt als unabgeleitete, dem Bund gleichgeordnete Staatsgewalt ausgespielt werden 1 2 2 . Die gedankliche Unter-

•17 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 64 m.w.N.; März., Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 172, spricht (mit deutlicher Distanz) von einem „Axiom"; vgl. auch dens. ebd. S. 176 (Fn. 321 mit zustimmendem Hinweis auf Doehring); vgl. auch Sachs, AÖR 108 (1985), S. 68 (70: „Postulat"). us Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 3 (Fn. 1); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 173, 177 f.; Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 19; ähnlich insofern auch Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 12 („... kein ausschließlich objektives Kriterium . . . , das gewissermaßen mit den Mitteln der empirischen Sozialwissenschaft nachgewiesen werden könnte"). 119 Vgl. ζ. B. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 13 („Für den Anwendungsbereich des GG enthalten Art. 20 I und die ihn ausfüllenden Verfassungsbestimmungen dementsprechend eine ... Festlegung, indem sie bestimmen, daß die im GG so genannten Länder Staatscharakter besitzen sollen und die von ihn ausgehende Hoheitsgewalt infolgedessen als nicht von der Bundesgewalt abgeleitet zu betrachten ist." [Hervorhebungen vom Verf.]); Isensee, HStR I, § 13 Rn. 167 („Die Staatlichkeit der Bundesländer ist nicht impermeabel gegen Einwirkungen der Bundesverfassung, in der ihre staatliche Existenz gründet..."); ders., HStR IV, § 98, Rn. 68, betont, daß das GG den Ländern die Qualität von Staaten im Horizont seiner Geltung unabhängig vom Staatsbild der Allgemeinen Staatslehre zuerkennen kann: „Wenn das Grundgesetz den Gliedern des Bundesstaates Staatsqualität zuerkennt, so schafft es einen verfassungsrechtlichen Tatbestand, der dazu bestimmt und geeignet ist, verfassungsrechtliche Folgen auszulösen". Vgl. auch Schwabe, in: Hoffmann-Riem / Koch, Hamb. Staats- und Verwaltungsrecht, S. 32 (35). 120 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 68 („Es handelt sich um ein Prädikat nach Maßgabe der Verfassung. Den Ländern eignet Staatlichkeit im Sinne des Grundgesetzes."); ebenso Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 3. Vgl. auch Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 12 („... letzten Endes eine Zurückverweisung auf das jeweils geltende Verfassungs- und Gesetzesrecht..."). 121 Die Lösung steht insofern in der Tradition der Bundesstaatslehre Rudolf Smends, der die Konfrontation zwischen Unitaristen und Föderalisten im Staat von 1867 / 71 dadurch entschärfte, daß auch im nicht staatenbündischen Bundesstaat einzelne Aspekte bündisch gestaltet werden können; vgl. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat, S. 51 f.; Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 98 f. 122 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 68; ähnlich auch Rudolf, in: FG. BVerfG, Bd. II, S. 233 (235). Vgl. auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 173: „Es ist für den Bestand und

150

3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Scheidung von Staat und Verfassung 123 ist auch bei der Frage der Abgeleitetheit geboten. Ableitung vom Grundgesetz bedeutet darum - in Übereinstimmung mit der Formel des Bundesverfassungsgerichts - gerade nicht, daß die staatliche Hoheitsmacht der Länder von der Bundesstaatsgewalt abgeleitet i s t 1 2 4 und darum als nachrangig angesehen oder behandelt werden dürfte. Denn das Grundgesetz ist nicht nur die Verfassung der Staatsgewalt des Bundes, sondern insofern auch Verfassung des Gesamtstaates 125 . Umgekehrt läßt sich aber die vom Grundgesetz abgeleitete Staatsqualität und Unabgeleitetheit der Länder auch nicht gegen das Grundgesetz wenden, indem sie gewissermaßen wieder historisiert und dann unter Berufung auf die ursprüngliche Staatsqualität der Länder die Bindungswirkung des Grundgesetzes für die Länder problematisiert und erst über staatenbündische Konstruktionen begründet w i r d 1 2 6 . Die Länder werden in der Ordnung des Grundgesetzes als Staaten behandelt, können diese Staatlichkeit aber nicht gegen das Grundgesetz ins Feld führen.

die Festigkeit der Kompetenzausstattung der Länder unerheblich, ob ihre Staatsqualität ,ursprünglich' oder »abgeleitet4 ist". 123 Vgl. Isensee, HStR I, § 13 Rn. 1 ff., 5, 11. Anders aber wohl Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 24 ff., der Verfassunggebung und Bundesstaatsentstehung zusammenfallen läßt. 124 Es läßt sich darum auch nicht sagen, daß diese Meinung „im Endeffekt die Landesstaatsgewalten auf eine Ermächtigung durch die Bundesgewalt zurückführt", wie Herzog (in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 26) eine „nach wie vor starke Meinung", die der von ihm entwickelten, auf dem Boden des demokratischen und des bundesstaatliche Prinzips angeblich „allein folgerichtigen" Meinung entgegensteht, charakterisiert. 125

Ähnlich die Argumentation bei Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 1 IV.3. (S. 14). ™ So aber ursprünglich Herzog, DÖV 1962, S. 81 (82: „Es besteht kein Zweifel, daß alle diese Bestimmungen zu einer echten Bindung der Landesstaatsgewalt führen. Bis heute aber ist der rechtliche Grund dieser Bindungswirkung problematisch, wenn man die These des eigenständigen Staatscharakters der Länder nicht aufgeben will." und 87: „ . . . muß man sich darüber klar sein, daß auch das Grundgesetz insoweit nur kraft der Zustimmung der Landesvölker für diese Geltung besitzt."). Dagegen damals mit Recht Kölble, DÖV 1962, S. 583 („Bisher bestand auch weitgehende ... Einigkeit darüber, daß diese Bindungswirkung - auch gegenüber der Landesstaatsgewalt - ihren rechtlichen Grund im Grundgesetz selbst hat. Demgegenüber unternimmt Herzog - unter Wiederbelebung zum Teil älterer Gedankengänge von Nawiasky - den Versuch nachzuweisen, daß die sog. ,übergreifenden Verfassungsnormen' des Grundgesetzes ,erst auf Grund des verfassungskräftigen Ausspruchs der Landesvölker auch für diese' gelten. Eine Auseinandersetzung mit dieser Auffassung ist geboten. Denn wäre sie richtig, so stünde es dem Lande beispielsweise frei, auf Grund eines Tätigwerdens seines Verfassungsgebers - jedenfalls aber seiner verfassunggebenden Gewalt - derartige Normen des Grundgesetzes außer acht zu lassen."); krit. auch Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 57 f.; R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 171 f., 176. Die damalige Position ist von Herzog mittlerweile offenbar aufgegeben worden, wenn es in der Kommentierung bei Maunz / Dürig (GG, Art. 20, IV. Rn. 26) unmißverständlich heißt, „daß das Bundesvolk den verfassunggebenden Akt, durch den es das GG und damit zugleich die Bundesrepublik Deutschland geschaffen hat, kraft seiner eigenen demokratischen Souveränität (und nicht etwa kraft einer Ermächtigung durch die Gliedstaatenverfassungen) erlassen hat".

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Β. Verfassunggebung im Bund Insoweit, als bei der Frage nach der Verfassunggebung im Bundesstaat die Bundesebene (Ebene des Zentralstaates / Gesamtstaates) betrachtet wird, sind - unter Beachtung der föderalen Gegebenheiten - die allgemeinen Lehren von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes weitgehend anwendbar. Für die Verfassunggebung im Bund stellen sich die typischen Probleme der Situation der Abwesenheit (positiv-)rechtlicher Vorgaben und Orientierungspunkte 127. Aus rechtlicher Sicht ist sie darum die problematischere, aus der Sicht der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes die unproblematischere Hälfte des Themas Verfassunggebung und Bundesstaat. Was hier bisher allgemein über Verfassunggebung und Subjekt, Bindungen und Verfahren der verfassunggebenden Gewalt gesagt wurde 1 2 8 , gilt grundsätzlich auch für die Verfassunggebung im Bund. Die Anwendung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes auf die Verhältnisse im Bundesstaat stellt auch keine künstliche Übertragung, sondern ein originäres Anwendungsfeld dar, jedenfalls 129 soweit der Zentralstaat / Gesamtstaat betrachtet wird. Noch vor ihrer klassischen Ausformulierung im zentralistischen Kontext der Staatslehre der französischen Revolution 130 hatte sich die Vorstellung der Verfassunggebung durch besondere Repräsentanten einer verfassunggebenden Gewalt des Volkes im föderativen Kontext der amerikanischen Revolution und der sich konstituierenden Vereinigten Staaten von Amerika 131 entwickelt. In Deutschland132 ist, solange das Volk als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt oder als mitgestaltender Faktor in Betracht kommt, Verfassunggebung typischerweise Verfassunggebung für einen Bundesstaat gewesen. Die Frage nach der Verfassunggebung im Bund kann die unterschiedlichen Bundesstaatstheorien und Entstehungstatbestände des Bundesstaates133 nicht unberücksichtigt lassen. Wegen der besonderen Umstände der Situation der Verfassunggebung ist es ihr nicht möglich, sich auf den festen Grund eines spezifisch verfassungsrechtlichen Bundesstaatsbegriffs zu stellen, denn als konkreten und normativen Begriff gibt es den Bundesstaat in der Situation vor Geltung der Bundesverfassung typischerweise nicht - die Sondersituation der Verfassunggebung 134 bestimmt damit auch die Überlegungen zur Verfassunggebung im Bundesstaat.

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Vgl. dazu oben 2. Teil, Kapitel A. 128 Vgl. dazu oben 2. Teil, Kapitel B. 129 Zu den Fragen der Landesverfassunggebung im Bundesstaat vgl. unten 3. Teil, Kapitel C. 130 Vgl. oben 1. Teil, Kapitel B. 131 Vgl. 132 Vgl. 133 Vgl. 134 Vgl.

dazu im einzelnen oben Einführung, Kapitel Β und 1. Teil, A.III. oben 1. Teil, Kapitel C. hierzu oben 3. Teil, Kapitel A. dazu oben 2. Teil, Kapitel A.

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Unter dem Gesichtspunkt der Verfassungsentstehung ergeben sich bei der Bundesstaatsentstehung durch (Re-)Föderalisierung eines Einheitsstaates, bei der Verdichtung eines Staatenbundes zum Bundesstaat und bei der Neukonstituierung eines bereits bestehenden Bundesstaates jeweils besondere Probleme. Ohne daß damit ein fester Typenkatalog aufgestellt werden soll, was weder der jeweils ganz besonderen Eigenart des konkreten Bundesstaates135, noch der Offenheit der Lehre vom pouvoir constituant 136 entsprechen würde, sind die Besonderheiten der bundesstaatlichen Ausgangssituation für die Verfassunggebung im Bund darum im Folgenden jeweils gesondert zu bedenken137.

I. Föderalisierter Einheitsstaat Die wenigsten Besonderheiten sind aus der Sicht der allgemeinen Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes bei der Verfassunggebung für einen zum Bundesstaat (rück-)föderalisierten Einheitsstaat zu beachten. Ein einheitliches Staatsvolk als Subjekt des pouvoir constituant für die Verfassung des Bundes kann hier vorausgesetzt werden; die Bundesverfassung kann hier auf der Grundlage der verfassunggebenden Gewalt des Gesamtstaatsvolkes Zustandekommen 138 . Größere tatsächliche Veränderungen und theoretischen Erklärungsaufwand würde bei dieser Ausgangslage die Entstehung eines eigenen nationalen Selbstbewußtseins von Landesvölkern und die Behauptung einer eigenen Staatensouveränität der Teile zur Konstruktion eines Staatenbundes erfordern. Die Probleme für den Verfassunggeber sind mithin vor allem konstruktiv-inhaltliche, solche der Ausgestaltung des künftigen Bundesstaates, nicht solche des Vorgangs der Verfassunggebung für den Bundesstaat. Der Träger der verfassunggebenden Gewalt beziehungsweise seine Repräsentanten bestimmen über das Procedere der Verfassunggebung 139, insbesondere über die Einbeziehung der (künftigen) regionalen Entscheidungszentren in den Prozeß der Ausarbeitung und Verabschiedung der Bundesverfassung.

135 Vgl. oben 3. Teil, Kapitel A. 136 Vgl. oben 2. Teil, B.IV. 137 Das Vorgehen von Herzog, DÖV 1962, S. 81 (83), nach Vorstellung der unterschiedlichen Entstehungsweisen „der Einfachheit halber" nur eine der Alternativen zu erörtern und für die anderen Wege zu postulieren, es gelte „entsprechendes", verbietet sich; die Untersuchung anhand nur eines der in Frage kommenden Entstehungsmodelle kann vielmehr eine Einseitigkeit und, wenn es dem tatsächlichen Entstehungstatbestand des konkreten Bundesstaates nicht entspricht, die Unangemessenheit des Erklärungsansatzes präjudizieren. Vgl. auch unten Fn. 188. 138 Vgl. Steiner, Verfassunggebung, S. 153. 139 Vgl. oben 2. Teil, B.IV.

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Auch wenn danach die Bundesverfassung in einem ausgeprägt unitarischen Verfahren, wie ζ. B. durch eine verfassunggebende Nationalversammlung oder in einem nationalen Plebiszit zustande kommt, kann das nicht den föderalen Charakter des durch diese Verfassung konstituierten Bundesstaates in Frage stellen oder gegen die bundesstaatsrelevanten Bestimmungen der von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes legtimierten Verfassung angeführt werden. Umgekehrt kann aber auch die durch die Föderalisierung des Einheitsstaates gewonnene Eigenstaatlichkeit der Gliedstaaten schwerlich gegen deren Einbindung in jene Verfassungsordnung, der sie erst ihre Existenz verdanken, ins Feld geführt werden.

II. Verdichteter Staatenbund Etwas anders liegen demgegenüber die Probleme der Verfassunggebung für einen zum Bundesstaat verdichteten Staatenbund, insbesondere, wenn die Bundesstaatlichkeit durch den Akt der Verfassunggebung bewirkt werden soll. Dem staatenbündischen Ausgangspunkt entsprechen souveräne Mitgliedsstaaten mit eigenen Staatsvölkern, die unter den Bedingungen der Volkssouveränität auch Träger eines eigenen pouvoir constituant sind. Mangels einer eigenen Staatlichkeit der Gesamtheit der Mitgliedsstaaten des Staatenbundes in ihrer Verbindung ist dagegen das Subjekt einer Verfassunggebung für den künftigen Bund - wiederum unter der Voraussetzung der Volkssouveränität - problematisch. Als handlungsfähige Einheit und Träger der verfassunggebenden Gewalt auf gesamtstaatlicher Ebene bildet sich ein Volk in einem institutionellen Rahmen, als Staatsvolk, als demos eines konkreten Gemeinwesens140. Wo ein Volk schon als Träger der Verfassunggebung für einen aus einem vorausgegangenen Staatenbund erst noch zu bildenden Bundesstaat auftritt, muß es sein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und Handlungsfähigkeit aus vorausliegenden Entwicklungsschichten beziehen 141 . 140 Isensee, HStR I, § 13, Rn. 6 („Nur ein staatlich geeintes Volk, ein Staatsvolk, ist handlungsfähig und damit fähig, sich eine Verfassung zu geben."); vgl. auch Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 74. Zur Frage der Selbstkonstituierung als Volk unabhängig vom eigenen Staat vgl. unter dem Gesichtspunkt des Selbstbestimmungsrechts Quaritsch, HStR VIII, § 193, Rn. 25 f. 141 Bei der Entstehung der amerikanischen Bundesverfassung von 1787 aus der eher staatenbündischen Ordnung der Articles of Confederation von 1778 / 81 geht die 100-jährige gemeinsame Zugehörigkeit zum britischen Empire und die gemeinsam erklärte und im gemeinsam gegen Großbritannien geführten Krieg errungene Unabhängigkeit voraus. Zudem ist schon für die Zeit zwischen Unabhängigkeit und Bundesverfassung durchaus umstritten, ob die vormaligen nordamerikanischen Kolonisten ihre nationale Identität zunächst auf Staatenebene oder aber von Anfang an als „one people" gefunden haben (vgl. i.E. oben 1. Teil, A.III.). Die den staatenbündischen Deutschen Bund von 1815/20 zum Bundesstaat verdichtende Verfassunggebung von 1848 / 49 kann an die gemeinsame Erinnerung an die bis 1806 bestehende staatrechtliche Klammer des alten Reichs anknüpfen und ist von der deutschen

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Verfassunggebung für einen sich verdichtenden Staatenbund findet darum typischerweise zunächst auf (staaten-)bündischer Grundlage statt und zieht ihre Legitimität aus der verfassunggebenden Gewalt der sich zusammenschließenden Einzelvölker 142 ; erst mit der neuen Verfassung wird ein Bundesvolk als Träger eines eigenen pouvoir constituant konstituiert, das dann die Verfassung im Sinne sich fortdauernd erneuernder Legitimität trägt oder - durch Revolution - aufhebt 143 . Gerade in der Frage der Verfassunggebung unterscheidet sich der demokratische Bundesstaat insofern - wie aus entgegengesetzter Perspektive schon Otto Mayer aufgezeigt hat 1 4 4 - wesentlich vom monarchischen oder konstitutionellen Bundesstaat: Während hier der Gesamtstaat auf bündischer Grundlage als Bündelung der Einzelsouveränitäten der „verbündeten Regierungen" fortbestehen kann, was zu zahlreichen konstruktiven Problemen und divergierenden Bundesstaatstheorien Anlaß gegeben hat 1 4 5 , entsteht im demokratischen Bundesstaat ein neuer Volkssouverän und damit ein neuer Träger der verfassunggebenden Gewalt 146 . Auf diese - und eigentlich nur auf diese - Situation bezieht sich auch die in der bundesstaatsrechtlichen Literatur erörterte Problematik einer angeblichen „Antinomie zwischen Bundesstaat und Demokratie" 147 . Hesse hat bereits 1962 zu Recht darauf hingewiesen, daß diese Problematik im Bundesstaat des Grundgesetzes „gegenstandslos" sei, da der unitarische Bundesstaat nicht auf dem „bündischen" Prinzip beruhe und darum durchaus aus einer Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt des Gesamtvolkes hervorgehen könne 148 . Die Annahme einer derartigen Antinomie wäre angesichts des historischen Konnexes zwischen der Entstehung

Nationalbewegung getragen. Indem sie nicht zuletzt an der Frage der Integration der fortbestehenden deutschen Staaten scheitert (vgl. i.E. oben 1. Teil, Kapitel C.), kann sie zudem auch als Beleg für die These von staatlicher Einheit als Voraussetzung demokratischer Verfassunggebung dienen. 142 Vgl. Steiner, Verfassunggebung, S. 151; vgl. auch Barschel, Staatsqualität, S. 77 (zur föderativen Grundlage der Frankfurter Nationalversammlung von 1849); Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 226 f.; v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 41. 143 Vgl. dazu oben 2. Teil, B.I.

1 44 O. Mayer, AÖR 18 (1903), S. 337 (356); vgl. dazu oben 3. Teil, Kapitel A. 145 Diese können und brauchen in Anbetracht der thematischen Beschränkung auf die Verfassungslehre der konstitutionellen Demokratie (vgl oben 1. Teil, Kapitel C., 3. Teil, Kapitel A) hier nicht weiter verfolgt zu werden. 146 Vgl. Steiner, Verfassunggebung, S. 152: „Eine kraft der verfassunggebenden Gewalten der Einzelstaatsvölker zustandegekommene Gesamtverfassung fördert freilich nachweisbar die Heranbildung eines auch mit verfassunggebender Gewalt ausgestatteten Gesamtstaatsvolkes". m Vgl. ζ. B. Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 47 m.w.N.; Κ Hesse, Unitarischer Bundesstaat, S. 32; Rudolf, in: FG. BVerfG, Bd. II, S. 233 (235); Herzog, DÖV 1962, S. 81 (86); ders., in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 28 (a.E.); hierzu wohl auch Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 128. Vgl. auch Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (15), der aber gerade die Rede von der „Antinomie" nicht aufgreift. 1 48 K. Hesse, Unitarischer Bundesstaat, S. 32.

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der ersten neuzeitlichen Demokratie und des ersten modernen Bundesstaates in den U S A 1 4 9 auch wenig plausibel. Die Diskussion geht auf die Aussage in Carl Schmitts „Verfassungslehre des Bundes 4 ' 150 zurück, „durch den demokratischen Begriff der verfassunggebenden Gewalt des ganzen Volkes (werde) die bündische Grundlage und damit der Bundescharakter aufgehoben" 151. Die Behauptung einer „Antinomie zwischen Bundesstaat und Demokratie" findet sich auch dort allerdings nicht; die Annahme, Schmitt hätte dies vertreten, beruht offenbar auf dem Mißverständnis, Aussagen über den „Bund" in Schmitts „Verfassungslehre des Bundes" bezögen sich auf den „Bundesstaat" im geläufigen Sinne. Das aber ist nicht der Fall. Der Begriff des „Bundes" wird bei Schmitt ausdrücklich „ohne Rücksicht auf die Unterscheidung von Staatenbund und Bundesstaat"152 als eigener Begriff entwickelt. Der „Bund" soll gerade dadurch bestimmt sein, daß er keine eigene verfassunggebende Gewalt hat 1 5 3 , sondern auf Vertrag, einem „Bundesvertrag" beruht, der als „zwischenstaatlicher Statusvertrag" 154 charakterisiert wird. Den Abschluß des Bundesvertrages bewertet Schmitt als einen „Akt der verfassunggebenden Gewalt" 1 5 5 . Die Verfassung des Bundes kommt also durch einen vor und außerhalb des Bundes stehenden Verfassunggeber zustande. Im Bund im Schmittschen Sinne besteht - in Gestalt der den Bundes vertrag schließenden Staaten - dauerhaft ein vor und unterschieden vom Bund existierender „politischer Wille, dessen Macht oder Autorität imstande ist, die konkrete Art und Form der eigenen politischen Existenz treffen" 156 , fort, sofern sich der „Bund" nicht zum „Bundesstaat ohne bündische Grundlage" wandelt. Der „Bundesstaat" verliert demgegenüber gerade den „Bundescharakter" 157; auch der „Bundesstaat ohne bündische Grundlage" hat aber für Schmitt unzweifelhaft „bundesstaatlichen Charakter" 158 . Unabhängig davon, wie Carl Schmitts eigentümliche Lehre vom „Bund" zu bewerten ist 1 5 9 , so ist doch deutlich, daß jeden149 Vgl. dazu oben 1. Teil, A.III. 150

Schmitt nennt den IV. Abschnitt seiner „Verfassungslehre" von 1928 „Verfassungslehre des Bundes", vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 361. 151 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 389. 152 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 366. 153 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 379. 154 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 367. 155 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 368. 156 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 75. Damit wird deutlich, daß für Schmitt die verfassunggebende Gewalt bei einem anderen als dem im I. und III. Abschnitt der Verfassungslehre (vgl. ebd., S. 23, 79, 223, 238) vorgestellten Subjekt der Nation bzw. des Volkes liegen kann. 157 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 373. 158 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 389. 159 Die „Verfassungslehre des Bundes" im IV. Abschnitt der Verfassungslehre von 1928 dürfte zu den verfassungsrechtlich und verfassungstheoretisch weniger einflußreichen Teilen

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

falls der „Bund" in dem von Schmitt gebrauchten Sinne weniger mit dem Bundesstaat i m üblichen Sinne als mit einem verfestigten Staatenbund 1 6 0 gemein hat. Schmitt selber stellt mehrfach klar, daß für ihn sowohl die Weimarer R e p u b l i k 1 6 1 , als auch die Vereinigten Staaten 1 6 2 kein „ B u n d " in diesem Sinne, wohl aber „Bundesstaaten" 163 sind. Was Schmitt über die unitarischen Konsequenzen der Demokratie 1 6 4 für den „ B u n d " zu sagen weiß, stellt danach nicht die Vereinbarkeit von Demokratie und Bundesstaat in Frage, sondern die Möglichkeit des Fortbestehens eines zum Bundesstaat verdichteten Staatenbundes auf der ursprünglich bündischen Grundlage 1 6 5 unter den Bedingungen der Volkssouveränität. Schmitt behauptet also eigentlich keine „Antinomie von Bundesstaat und Demokratie" 1 6 6 . Hesse hat ihn darum insoweit also nicht „widerlegt", wie Kimminich i m Handbuch des Staatsrechts schreibt 1 6 7 , sondern er ist Schmitt in der Sache gefolgt, nur daß bei ihm der „Bun-

des Schmittschen Gesamtwerks zu rechnen sein; sie erscheint in manchen Aspekten weniger durchgebildet als die ersten drei Abschnitte der Verfassungslehre und steht in engem Zusammenhang vor allem mit Schmitts völkerrechtlichen Schriften und seiner politisch-polemischen Auseinandersetzung mit dem Genfer Völkerbund der Zwischenkriegszeit und dem Versailler Friedensvertrag. 160 Gegenüber der herkömmlichen Definition des Staatenbundes weicht der „Bund" Schmitts allerdings insofern ab, als er einen neuen politischen Status mit eigener Homogenität, Kompetenzkompetenz und Interventionsrecht bezeichnen soll; vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 366, 380 ff. Er geht damit in der Intensität der Verbindung über die neuerdings diskutierte Zwischenform des „Staatenverbundes" hinaus. 161 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 368, 65. 162 c. Schmitt, Verfassungslehre, S. 389: „Politische Gebilde wie die Vereinigten Staaten von Amerika oder das Deutsche Reich der Weimarer Verfassung sind kein Bund mehr". 163 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 24 („Entscheidung für die Beibehaltung der Länder, also einer bundesstaatlichen (wenn auch nicht bündischen) Struktur des Reiches (Art. 2)"), 389 („trotzdem noch als Bundesstaaten zu bezeichnen sind"). 164 Vgl. insbes. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 65, 388 („... liegt es in der natürlichen Entwicklung der Demokratie, daß die homogene Einheit des Volkes über die politischen Grenzen der Gliedstaaten hinweggeht und den Schwebezustand des Nebeneinanderbestehens von Bund und politisch-selbständigen Gliedstaaten zugunsten einer durchgängigen Einheit beseitigt."), 389, 390. Vgl. dazu Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (15). 165 Das wird besonders deutlich bei C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 65: „ . . . es liegt in der Konsequenz des demokratischen Prinzips, daß die verfassunggebende Gewalt des Volkes ... die Schranken der verschiedenen Staaten innerhalb des Bundes durchbricht und an die Stelle der bundesmäßigen Verfassungsvereinbarung zwischen den Gliedstaaten einen Akt der verfassunggebenden Gewalt des einheitlichen Volkes setzt". 166 Das gilt insbesondere auch für die bei K. Hesse, Unitarischer Bundesstaat, S. 32 (Fn. 117), angegebene Belegstelle in der Verfassungslehre S. 388 f. (die auch Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 47 (Fn. 158), als Beleg für die angeblich von Schmitt vertretenen Antinomie dient); „Antinomien des Bundes" stellt C. Schmitt in der Verfassungslehre auf S. 370 ff. dar, von einer „Antinomie von Bundesstaat und Demokratie" ist aber auch dort nicht die Rede. 167 Kimminich, HStR I, § 26, Rn. 47.

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desstaat ohne bündische Grundlage" 168 , der bei Schmitt dem „Bund" gegenübergestellt wird, „unitarischer Bundesstaat" heißt - der „unitarische Bundesstaat" zeichnet sich aber gerade dadurch aus, daß er nicht auf dem bündischen Prinzip beruht, also mit anderen Worten „ohne bündische Grundlage" ist.

I I I . Neukonstituierung eines bestehenden Bundesstaates Eine Zwischenstellung zwischen der Verfassunggebung für einen föderalisierten Einheitsstaat und einen zum Bundesstaat verdichteten Staatenbund nimmt die Neukonstituierung eines bestehenden Bundesstaates169 ein. Wie im Einheitsstaat kann hier ein Bundesvolk vorausgesetzt werden, das als Träger des pouvoir constituant auftreten kann. Daneben existieren, in der dem konkreten Bundesstaat eigenen Ausgestaltung, Gliedstaaten mit einem je eigenen Landesvolk. Es stellt sich damit notwendig die Frage, wie diese in den Prozeß der Verfassunggebung einbezogen oder hierin berücksichtigt werden können, sofern und soweit 170 die bundesstaatliche Struktur des Staates im Rahmen der Neukonstituierung bewahrt werden soll. Denn eine Anrufung der verfassunggebenden Gewalt des Bundesvolkes betrifft nicht nur den Bund als Zentralstaat, sondern auch als Gesamtstaat und über die Verfassung des Gesamtstaates die Länder, deren Stellung im Bundesstaat und deren eigene Verfassungsordnung wesentlich durch die Bundesverfassung (mitbestimmt 171 wird. Die Anrufung des nationalen pouvoir constituant stellt die Position der Gliedstaaten / Länder und der Landesvölker zur Disposition, ohne ihnen per se eine Mitentscheidungsmöglichkeit wie in der Normallage des Bundesstaates zu geben: Der pouvoir constituant hat keine zweite Kammer. Die Problematik hat sich 1918 / 19 bei der Verfassunggebung von Weimar gezeigt, als die Landesregierungen, die in allen Gliedstaaten an die Stelle der bisherigen dynastischen Regierungen getreten waren, eine Beteiligung an der Grundentscheidung über die Alternative Räterepublik oder Verfassunggebung nach bürgerlich-demokratischem Muster 172 und über den sog. „Staatenausschuß" an der Formulierung der neuen Reichs Verfassung erreichten 173. 168 c. Schmitt, Verfassungslehre, S. 389. 169 Vgl. hierzu auch Steiner, Verfassunggebung, S. 153; Barschel, Staatsqualität, S. 77 (zur Neukonstituierung des Bundesstaates von 1871 im Jahre 1919). 1 70 Die Neukonstituierung eines bestehenden Bundesstaates kann auch zur Umwandlung in einen Einheitsstaat oder zur stärkeren Unitarisierung führen. Zum Beipiel der Verfassunggebung von 1918 / 19, die gegenüber der Verfassung des Deutschen Reiches von 1867 / 71 eine starke Unitarisierung, wenn auch im Ergebnis keine Konsolidierung auf nationaler Ebene herbeigeführt hat, vgl. oben 1. Teil, Kapitel C. 171 Vgl. dazu ausführlicher unten 3. Teil, C.II.3. 172 Vgl. H. Schneider, HStR I, § 3, Rn. 6; oben 1. Teil, Kapitel C.

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Sie ist in jüngster Zeit wieder bewußt geworden, als innerhalb der Verfassungsdiskussion von 1989 / 90 anläßlich der deutschen Wiedervereinigung eine Neukonstituierung des gemeinsamen Staates auf der Grundlage des damaligen Art. 146 GG erwogen wurde 174 . Auch bei den unterschiedlichen Konzeptionen einer sich an die deutsche Wiedervereinigung von 1990, die tatsächlich auf dem Weg des Beitritts nach Artikel 23 Satz 2 GG a.F. unter Beibehaltung des Grundgesetzes erfolgt war, anschließenden Neukonstituierung bzw. Verfassungsrevision ist die Problematik zu berücksichtigen gewesen: Sowohl in dem eher auf eine Neukonstituierung zielenden Modell eines „Verfassungsrates" 175, der wohl eine Betätigung der verfassunggebenden Gewalt bedeutet hätte 176 , als auch bei dem entgegengesetzten Modell des „Verfassungsaussschusses" 177 und bei dem späteren Kompromißmodell der „Gemeinsamen Verfassungskommission" 178 , die außerordentliche Gremien der Vorbereitung von anschließend im ordentlichen Verfahren des Art. 79 GG zu beschließenden normalen Verfassungsänderungen179 - also keine Betätigung des pouvoir constituant - darstellen 1 8 0 , ist darum eine paritätische Beteiligung der Länder vorgesehen worden. Auch alle Bestrebungen nach einem irgendwie gearteten Plebiszit zur Bestätigung, nachträglichen Sanktion oder konstitutiven Legitimierung des Grundgesetzes181 standen - unter anderem - immer vor der Problematik der eminent unitarischen und unitarisierenden Tendenz eines nationalen Plebiszits.

173 Vgl. ζ. B. Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 100; H. Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, S. 256; Grawert, Der Staat 28 (1989), S. 481 (501); Henke, Verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 104. Vgl. i.E. oben 1. Teil, Kapitel C. 174 Vgl. ζ. B. Wuermeling, Auf dem Weg zur Einheit: Die Rolle der deutschen Bundesländer, NJW 1990, S. 1079 (1081,1083); Schmitt Glaeser, Die Stellung der Bundesländer bei einer Vereinigung Deutschlands; Starck, JZ 1990, S. 349 (354 f.); Kriele, ZRP 1991, S. 1 (3). *75 Antrag der Fraktion der SPD (BT-Drs. 12 / 415), Antrag der Gruppe Bündnis 90 / Die Grünen (BT-Drs. 12 / 563). 176 Vgl. Bartlsperger, DVB1. 1990, S. 1285 (1290); Wahl, StWStP 1990, S. 468 (478 f.); Ossenbühl, DVB1. 1992, S. 468; H.H. Klein, HStR VIII, § 198, Rn. 54.

1 77 Antrag der Fraktionen der CDU / CSU und FDP (BT-Drs. 12 / 567). Beschlußempfehlung des Ältestenrates (BT-Drs. 12 / 1590); Beschluß des Deutschen Bundestages (BT-Drs. 12 / 1670); Beschluß des Bundesrates (BRat-Drs. 741 / 91); vgl. dazu auch den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission (BT-Drs. 12 / 6000) vom 5. 11. 1993, S. 5 ff. Vgl. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27. 10. 1994, BGBl. IS. 3146. 180 Hahlen, in: Fischer / Wilke (Hrsg.), Probleme des Zusammenwachsens im wiedervereinigten Deutschland, S. 63 (67 f.); H.H. Klein, HStR VIII, § 198, Rn. 54, 56 m.w.N (Fn. 185). 181 Vgl. Storost, Der Staat 29 (1990), S. 321 (327 ff.); Grimm, FAZ v. 5. 4. 1990, S. 35 (36); Däubler-Gmelin, in: Pfeiffer / Fischer, Markierungen auf dem Weg zu einer gesamtdeutschen Verfassung, S. 56 (63); Wahl, StWStP 1990, S. 468 (472 f.); andererseits: Huba, Der Staat 30 (1991), S. 367 (369 ff.); Isensee, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. I, S. 63 (76 ff.); Heckel, HStR VIII, § 197, Rn. 43 f.; H.H. Klein, HStR VIII, § 198, Rn. 22.

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IV. Insbesondere: Entstehung des Grundgesetzes Als eine Zwischenform zwischen der Neukonstituierung eines Bundesstaates und der Rückföderalisierung eines Einheitsstaates wird man die Entstehung des Grundgesetzes von 1949 zu verstehen haben. Als bloße Neukonstituierung läßt sich der Vorgang nicht werten: Deutschland befand sich 1945 nicht mehr in der bundesstaatlichen Struktur von 1871 oder 1919. Die für den Bundesstaat charakteristische Vermehrung der staatlichen Entscheidungszentren182 hatte dem Modell des totalitären Führerstaates diametral entgegengestanden und war darum schon 1934 infolge der sogenannten „Gleichschaltung der Länder" der Umwandlung in den (nationalsozialistischen) Einheitsstaat zum Opfer gefallen 183 . Die Beseitigung des vorangegangenen Unrechtssystems konnte nicht zu einem automatischen Wiederaufleben der bundesstaatlichen Strukturen von vor 1933 führen und damit die vorangegangenen zwölf Jahre gewissermaßen staatsrechtlich ungeschehen machen. Andererseits entspricht der Neuaufbau deutscher Staatlichkeit nach 1945 „von unten nach oben" 1 8 4 und die historische Priorität 185 der von den Besatzungsmächten neugebildeten Länder auch nicht vollständig dem Modell der Föderalisierung eines Einheitsstaates durch Verfassunggebung. Denn gerade der Einheitsstaat war nach dem militärischen und staatlichen Zusammenbruch des Deutschen Reiches desorganisiert und seine Staatsgewalt wurde von den alliierten Besatzungsmächten und später den - damals neuen - Ländern wahrgenommen; zudem ging der Prozeß der Verfassunggebung des Grundgesetzes von den Ministerpräsidenten der Länder und dem Parlamentarischen Rat aus, der aus von den ersten Landesparlamenten entsandten Vertretern des deutschen Volkes gebildet wurde 186 . Die Lage wird insbesondere durch die Rolle der Besatzungsmächte und die Situation der Betätigung der Volkssouveränität in ihrer Form der verfassunggebenden Gewalt in Abwesenheit staatlicher Souveränität 187 verkompliziert. Die herrschende Lehre hat die komplizierte Gemengelage der konkreten Verfassunggebung des Grundgesetzes jedoch zu Recht eher nach dem Muster der Verfassunggebung für einen rückföderalisierten Einheitsstaat interpretiert. Nach einem anerkannten, in vielen Fragen betont föderalistisch ausgerichteten Kommentar 182 Vgl. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 II. (S. 657); Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (15); Grawert, NJW 1987, S. 2329 (2331). 183 Vgl. oben 3. Teil, Kapitel A. 184 Vgl. Barschel, Staatsqualität, S. 141 f. 185 Vgl. dazu bereits oben 3. Teil, Kapitel A. 186 Vgl. Barschel, Staatsqualität, S. 143, 178; Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 26; v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, Präambel, Anm. VI.l.; Mußgnug, HStR I, § 6, Rn. 34. 187 Vgl. Isensee, HStR I, § 13 Rn. 6; H.H. Klein, HStR VIII, § 198, Rn. 16; H.P. Ipsen, FS. Raape, S. 423 (454).

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

zum Grundgesetz ist auf der Grundlage der heute herrschenden Auffassung „kein Zweifel daran möglich", daß das Grundgesetz nicht durch einen Vertrag zwischen den einzelnen Landesvölkern, sondern durch einen einheitlichen verfassunggebenden A k t des Bundesvolkes ins Leben gerufen worden i s t 1 8 8 . Die i m Konvent von Herrenchiemsee noch vertretene Mindermeinung, daß die verfassunggebende Gewalt nicht beim Volk, sondern bei den Ländern liege, hat sich nicht durchsetzen können189. Die Mitglieder des Parlamentarischen R a t e s 1 9 0 haben in der Präambel des Grundgesetzes dokumentiert, daß sie sich nicht als Gesandte der Länder, sondern als Vertreter des (ganzen) deutschen Volkes verstanden h a b e n 1 9 1 , und zwar ausdrücklich auch derjenigen Teile, aus denen keine Vertreter entsandt worden waren, denen zunächst „die Mitwirkung versagt" 1 9 2 gewesen war. Sie haben sich zu einer Verfassunggebung in Ausübung der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes, nicht zu einem Vertragsschluß der Länder legitimiert gesehen. Das Grundgesetz leitet seinen Ursprung auf das deutsche Volk zurück, es legitimiert sich nicht aus einer Einigung der deutschen L ä n d e r 1 9 3 . Nicht die Völker der deutschen 188 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 25. Problematisch erscheint es angesichts dieser klaren Feststellung, daß Herzog anschließend (ebd., Rn. 28) zur Erklärung des rechtlichen Verhältnisses von Zentralstaat und Gliedstaaten an seine Konstruktion des „Hoheitsvakuums" von 1962 anknüpft, die seinerzeit ausdrücklich „der Einfachheit halber" an dem gerade entgegengesetzten Modell der Bundesstaatsentstehung durch Zusammenschluß bestehender Staaten CHerzog, DÖV 1962, S. 81 [83]) entwickelt worden war. 189 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. II, § 25 II.2.a (S. 19); Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 30 ff.; v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, Präambel, Anm. VIII.2. Dieser Zusammenhang wird verkannt ζ. B. in der (politologischen) Arbeit von Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 25, der meint, das GG erhielte seine „formale Legitimation von den Länderkörperschaften"; richtig gesehen dagegen in der (ebenfalls politologischen) Arbeit von v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 45. 190

Vgl. dazu z. B. Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Präambel, Rn. 7; Barbey , DÖV 1960, S. 566 (573). 191 Vgl. hierzu Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 42 ff., 59 ff.; Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 364; v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, Präambel, Anm. VI. 1. (zit. Abg. Dr. Carlo Schmid: „Die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates sind zwar von den Landtagen gewählt worden, sie sind aber nicht Abgeordnete und Vertreter der Länder. Sie vertreten nicht Länderinteressen, sondern ein gesamtstaatliches Anliegen. ( . . . ) Durch diesen Wahlmodus ist lediglich zum Ausdruck gekommen, daß auch bei diesem Werk das deutsche Volk wirksam wird in seiner historischen Gliederung in Länder."). 192 Vgl. Satz 2 der bis zum 3. 10.1990 geltenden Präambel zum Grundgesetz: „Es (d.i. „das Deutsche Volk in den Ländern Baden usw.", d. Verf.) hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war". Vgl. dazu Murswiek, Verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, S. 45 ff. M Vgl. Isensee, HStR I, § 13 Rn. 6; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. II, § 25 2.a (S. 19); Κ Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 32; Herzog, in: Maunz / Dürig, GGKomm., Art. 20, Rn. 25; ders., DÖV 1962, S. 81 (86: „Insbesondere ist auch das Grundgesetz nach seiner Präambel nicht vom deutschen Volk als dem Inbegriff der Landesvölker, sondern

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Länder, sondern „das Deutsche Volk in den Ländern" 194 hat sich mit dem Grundgesetz für eine Ubergangszeit - aber, wie aus den Artikeln 23 (a.F.) 195 und 144 1 9 6 GG deutlich wird, potentiell endgültig 197 - eine neue Ordnung gegeben. Auch das vom (einheitlichen) deutschen Volk in den Ländern geschaffen worden."); Kölble, DÖV 1962, S. 583 (584); Jahrreiß, in: GS. H. Peters, S. 533 (542 f.); W. Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 254 (260); Barbey , DÖV 1960, S. 566 (574); Bethge, AÖR 110 (1985), S. 169 (190); v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 45; E.-W. Böckenförde, FS. F. Schäfer, S. 182(187). 194 Vgl. Satz 1 der bis zum 3. 10. 1990 geltenden Präambel zum Grundgesetz von 1949. Daß es sich dabei um eine Einheit, nicht etwa um eine Vielheit von Landesvölkern handelt, wird besonders deutlich durch das im Singular stehende Pronomen „Es" (und nicht etwa „Sie"!), mit dem Satz 2 der ursprünglichen Präambel an die Wendung „das Deutsche Volk in den Ländern" in Satz 1 anknüpft. Ebenso wurde die Wendung auch im Parlamentarischen Rat verstanden, vgl. Abg. Dr. Carlo Schmid , zit. v.d. Heydte, Bundesverfassung, S. 44. Vgl. auch v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, Präambel, Anm. VI.2.; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. II, § 25 II.2.C (S. 24): „Das ,Deutsche Volk in den Ländern' ist nicht eine Summe von Landesvölkern, sondern das Deutsche Volk als Einheit, soweit es den genannten Ländern des Bundesstaates angehört"; Sachs, AÖR 108 (1983), S. 68 (70); Grawert, HStR I, § 14 Rn. 17. 195 Zu Art. 23 Satz 2 GG (a.F.) als Weg zur Wiedervereinigung vgl. schon Maunz, DÖV 1953, S. 645 (647 f.); Scheuner, DÖV 1953, S. 581; v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, Präambel, Anm. XI.4. Vgl. auch Bothe, in: Alt.Komm. GG, Art. 28 Abs. 1,1., Rn. 3, der die Homogenitätsvoraussetzungen des Art. 28 Abs. 1 GG im Zusammenhang eines möglichen Beitritts der Länder der vormaligen Ostzone sieht. Die Lehre wurde angesichts der bevorstehenden Wiedervereinigung aufgegriffen und aktualisiert vor allem von Isensee in einem Vortrag vor der Deutschen Gesellschaft für Parlamentsfragen am 28. 3. 1990 in Bonn, abgedruckt in: ZParl 1990, S. 309 (312 ff.); vgl. jetzt auch ders., HStR VII, § 166, Rn. 9 ff.; Scholz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm. (29. Lfg., Sept. 1991), Art. 23, Rn. 7.

Der Wortlaut des Art. 144 Abs. 1 GG stützt die Lehre von den zwei vom GG eröffneten Wegen zur Wiedervereinigung und der Möglichkeit der Geltungserstreckung des GG insofern, als er die Annahme durch die Volksvertretungen in zwei Dritteln „der deutschen Länder, in denen es zunächst gelten soll", vorschreibt und damit voraussetzt, daß es später auch in (den) anderen deutschen Ländern gelten soll oder jedenfalls kann. Im Gegensatz zu Art. 146 GG, der für den Fall einer Wiedervereinigung durch Neukonstituierung sein Außerkrafttreten regelt, rechnen Art. 23 und 144 Abs. 1 GG also mit der Möglichkeit der Fortgeltung auch im Fall der Wiedervereinigung. Neben der Möglichkeit des Außerkrafttretens nach der Übergangszeit ist damit im GG selbst bereits die Möglichkeit der Fortgeltung nach der Übergangszeit angelegt. Die Wendung der Präambel kann darum nicht geltungsreduzierend im Sinne von „nur für eine Übergangszeit" ergänzt werden; dem Regelungsmodell des GG entsprechend ergänzt wäre sie vielmehr als „ h a t . . . dem staatlichen Leben jedenfalls für eine Übergangszeit eine neue Ordnung gegeben" zu lesen. w Vgl. Scheuner, DÖV 1953, S. 581; Isensee, ZParl 1990, S. 309 (313, 328); ders., VVDStRL 49 (1990), S. 39 (51 f.); ders., HStR VII, § 166, Rn. 11; Bartlsperger, DVB1. 1990, S. 1285 (1297); E. Klein, NJW 1990, S. 1065 (1069); Heckel, HStR VIII, § 197, Rn. 44; ders., Deutsche Einheit als Verfassungsfrage, S. 39 („potentielles Provisorium wie auch potentielles Definitivum"). Die im GG schon 1949 angelegte potentielle Endgültigkeit, die sich durch die Bestätigung der ursprünglich treuhänderischen Verfassunggebung durch die zunächst nicht beteiligten Teile des pouvoir constituant auf dem Weg über Art. 23 Satz 2 GG a.F. realisieren und damit die Übergangszeit beenden konnte, es aber nicht mußte - dann Art. 146 GG - , wird nicht gesehen bzw. abgelehnt durch die den Provisoriumscharakter in 11 ,Boehl

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Bundesverfassungsgericht hat betont, daß es nach der Präambel das Deutsche Volk ist, das sich kraft seiner verfassunggebenden Gewalt das Grundgesetz gegeben hat 1 9 8 . Die Eigenart der Verfassunggebung von 1949 wird besonders im Annahmemodus des Art. 144 Abs. 1 GG deutlich, der auf den ersten Blick dem Ratifikationsverfahren der ebenfalls zwischen der verfassungsrechtlichen Verdichtung eines Staatenbundes und der Neukonstituierung eines Bundesstaates einzuordnenden amerikanischen Bundesverfassung zu entsprechen scheint, sich aber in einem entscheidenden Punkt davon unterscheidet. Die US-Verfassung von 1787 konnte erst nach Ratifikation durch zwei Drittel der extra dafür einberufenen Verfassungskonvente auf Staatenebene - auch dort also nicht der Staaten selbst! 199 - in Kraft treten, auch dann aber nur für das Gebiet derjenigen Staaten, in denen eine Mehrheit zugestimmt hatte 200 . Diese Inkrafttretensvorschrift respektiert ein Selbstbestimmungsrecht der Einzelstaaten in dem von den Articles of Confederation von 1781 geprägten Verfassungszustand, soweit das mit der verfassunggebenden Gewalt des Gesamtvolks vereinbar ist, und berücksichtigt damit die in mancher Hinsicht 201 der Verdichtung eines Staatenbundes entsprechende Lage bei der Verfassunggebung von 1787 / 88. Demgegenüber erfordert Art. 144 GG nur die Annahme des Grundgesetzes in zwei Dritteln der Volksvertretungen der Länder, um es dadurch im gesamten Gebiet des an der Verfassunggebung beteiligten Teils Deutschlands - also auch in den Ländern, in deren Volksvertretung es keine Mehrheit findet - in Kraft zu setzen. Speziell für Bayern, dem einzigen der beteiligten Länder, wo die Mehrheit des Landtags 1949 - in Kenntnis der sicheren Zustimmung und der zum Inkrafttreten erforderlichen Mehrheit in den anderen Ländern allerdings - dem Grundgesetz

den Vordergrund rückende Lehre bei Storost, Der Staat 29 (1990), S. 321 (322 f.); Wahl, NJW 1990, S. 2585 (2588, Fn. 22 b); ders., StWStP 1990, S. 468 (476 f.); vgl. aber auch ders., Der Staat 30 (1991), S. 181 (183, 201). 198 BVerfGE 83, 37 (51) [Hervorhebung im Original]. i " Daß in Amerika die Zustimmung durch das Volk in den einzelnen Staaten, nicht aber durch die Staaten selbst erfolgt ist, hat schon C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 388, betont. 200 Vgl. i.E. oben 1. Teil, A.III.; Steiner, Verfassunggebung, S. 154 (Fn. 43 m.w.N.). 2 °i Sie entspricht ihr allerdings nicht vollständig, denn zum einen hatte sich die verfassungsberatende Versammlung in Philadelphia von dem Auftrag der bloßen Revision der Articles of Confederation unter Berufung auf die verfassunggebende Gewalt des amerikanischen Volkes („We the people ...") emanzipiert und eine Neukonstituierung auf neuer Legitimationsgrundlage angestrebt, zum anderen kontrahierten nicht die Einzelstaaten die neue Verfassung mit Ratifikation durch die Volksvertretungen, sondern „das Volk" wurde - gegliedert nach Staaten - in speziell zur Annahme der Bundesverfassung gewählten Konventen oder in Plebisziten angerufen und schließlich ist auch für die Zeit vor 1789 angesichts wesentlicher, von den Vereinigten Staaten gesamtstaatlich wahrgenommener Funktionen wie Kriegsführung, Vertretung nach außen, Beeinflussung der Verfassungsstruktur der Einzelstaaten die Qualifikation als Staatenbund nicht unproblematisch; vgl. dazu im Einzelnen oben 1. Teil, A.III.

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nicht zugestimmt hatte, hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof insofern unmißverständlich festgestellt, daß die Rechtsverbindlichkeit des Grundgesetzes nicht etwa auf einem Ratifikationsakt des Bayerischen Landtags, sondern auf Art. 144 GG beruht 202 . Die Überstimmung einzelner Länder durch irgendeine Mehrheit anderer Länder 203 wäre nicht zu erklären, wenn es sich um die Verdichtung eines Staatenbundes mit souveränen Gliedstaaten und Landesvölkern mit eigener verfassunggebender Gewalt gehandelt hätte. Bei dem Verfahren nach Art. 144 GG handelt es sich vielmehr um einen besonderen, an der einzelstaatlichen Gliederung orientierten Abstimmungsmodus des vorausgesetzten gesamtstaatlichen deutschen Volkes 204 . So wie die Stimmbürger bei einem Verfassungsplebiszit über die Bundesverfassung, bei dem sie aus organisatorischen Gründen zu Einheiten zusammengefaßt abstimmen, die sich personal mit den Landesstaatsvölkern decken, trotzdem die verfassunggebende Gewalt als Glieder des Gesamtstaatsvolkes und nicht als Teil des jeweiligen Gliedstaatsvolkes ausüben205, so haben die Volksvertretungen der Länder 1949 für das deutsche Volk, nicht ihre jeweiligen Gliedstaaten als juristische Personen oder die einzelnen Landesvölker 206 gehandelt. Die von Georg August Zinn vertretene Ansicht, daß die Annahme durch die Volksvertretungen der Länder nach Art. 144 Abs. 1 GG „nur einen behelfsmäßigen Ersatz der Ratifikation durch das Volk" darstelle, hat sich durchgesetzt 207.

202 BayVerfGH, Entsch. v. 16. 7. 1991 (Vf. 6-VII-90), BayVBl. 1991, S. 561 (562: „Die Rechtsverbindlichkeit des Grundgesetzes in Bayern beruht nicht auf dem Landtagsbeschluß vom 20. Mai 1949, sondern unmittelbar auf Art. 144 Abs. 1 GG."). 203 Vgl. Steiner, Verfassunggebung, S. 151 f.; Barbey , DÖV 1960, S. 566 (574). Den Unterschied der Mehrheitserfordernisse (Mehrheit der Landes Völker oder Mehrheit der Bundesbürger) bei Abstimmung als Verein der Landesvölker oder als Bundesvolk erwähnt auch Herzog, DÖV 1962, S. 81 (86, Fn. 45). Vgl. auch Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.2.b (S. 669, Fn. 149) zur Gleichberechtigung der Länder und dem Verbot der Majorisierung. 204 Vgl. Steiner, Verfassunggebung, S. 154; Grawert, HStR I, § 14 Rn. 17; Monz, Bundesländer, S. 34; R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 42 £ 205 Steiner, Verfassunggebung, S. 153. Mit Rücksicht auf den provisorischen Charakter des GG hatte sich der Parlamentarische Rat gegen dieses Verfahren entschieden, vgl. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. II, § 25 II.2.C (S. 24, Fn. 111). 206 So ausdrücklich Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 25. 207 Zinn, AÖR 75 (1949), S. 291 (293); ihm folgend ζ. B. Steiner, Verfassunggebung, S. 155 m.w.N. (Fn. 46); vgl. auch v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 45 ff.

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

C. Verfassunggebung in den Ländern I. Problem und Lösungsalternativen Im Bundesstaat besitzen sowohl der Gesamtstaat als auch die Gliedstaaten Staatsqualität208; das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und die deutschen Landesverfassungen sprechen von den Ländern als Staaten209. Als Ausweis der Staatlichkeit wird heute eine eigene geschriebene Verfassung geradezu zur „Grundausstattung" eines modernen Verfassungsstaates gezählt 210 . Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts folgt bereits aus der Staatsqualität der Länder, daß diese eigene Verfassungen besitzen 211 . Das Grundgesetz selber setzt, wenn es in Artikel 28 bestimmte Mindestanforderungen für „die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern" aufstellt und in Art. 142 das Inkraftbleiben von „Bestimmungen in den Landesverfassungen" regelt, eigene Verfassungen der Länder voraus, ohne seinerseits ausdrücklich Regelungen über deren Zustandekommen zu treffen. Die Frage der Verfassungsentstehung 212 stellt sich damit auch auf Landesebene. Wie die Frage nach der Verfassunggebung im Bund muß sie die besonderen Bedingungen im Bundesstaat berücksichtigen. Während es für den Bund jedenfalls in der Ordnung des Grundgesetzes außer Frage steht, daß seine Staatsqualität nicht von den Ländern abgeleitet ist oder eine Bündelung der Einzelstaatssouveränitäten darstellt 213 , ist die Staatlichkeit der Bundesländer zwar „nicht vom Bund abgeleitet" 2 1 4 , aber doch eine solche nach Maßgabe des Grundgesetzes 215. Im Gegensatz 208 Vgl. oben 3. Teil, Kapitel A. 209

Von der Staatsqualität der Länder gehen nach dem Gesetzeswortlaut sowohl das Grundgesetz in Art. 7 Abs. 1 und 33 Abs. 1 GG (vgl. Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 64 [Fn. 154]) sowie in Art. 30 und 74 Nr. 8 GG (vgl. Sachs, AÖR 108 (1983), S. 68 [69 f. m.w.N.] als auch die Landesverfassungen (ζ. B. Bayern: Art. 1 Abs. 1 und 2; Hessen: Präambel, Art. 64, 65; Rheinland-Pfalz: Art. 74 S. 1; Bremen: Art. 64; Baden-Württemberg: Art. 23 Abs. 1; Niedersachsen: Art. 1 Abs. 1; Nordrhein-Westfalen: Art. 1 Abs. 1 [dazu Papier, in: Grimm / Papier, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (12)]; Hamburg: Art. 3 Abs. 1; Saarland: Art. 60; Schleswig-Holstein: Art. 1) aus. Zur fehlenden der Bezeichnung der Länder als Staaten in der WRV und den sich daran entzündenden Kontroversen vgl. demgegenüber Vetter, Bundesstaatlichkeit, S. 42, 68. 210 Vgl. Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 78 m.w.N.; ders., VVDStRL 46 (1987), S. 120 (122: „Die Verfassung ist Ausweis der Staatlichkeit."); Kirchhof, HStR I, § 19, Rn. 51; Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (22 f.); vgl. auch Wahl, HStR I, § 1, Rn. 2. 211 BVerfGE 36, 342 (360 f.: „Das Eigentümliche des Bundesstaates ist, daß ... die Gliedstaaten Staatsqualität besitzen. Das heißt aber, daß ... die Gliedstaaten je ihre eigene ... Verfassung besitzen."); vgl. auch Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (24), der diesbezüglich von einer „kanonisierten Formel" spricht. 212 Vgl. dazu allgemein oben 2. Teil, Kapitel A. 213 Vgl. oben 3. Teil, Kapitel A. 214 BVerfGE 1, 14 (34); 60, 175 (207). 215 Vgl. oben 3. Teil, Kapitel A.

C. Verfassunggebung in den Ländern

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zur gesamtstaatlichen Ebene, wo sich die Verfassungsentstehung zwar als Aspekt der Frage nach der „Verfassunggebung im Bundesstaat", nicht aber als „Verfassunggebung im Staat des Grundgesetzes" darstellen läßt, da die Betätigung der verfassunggebenden Gewalt auf Bundesebene gerade vor der Entstehung der Bundesverfassung stattfindet bzw. den Rahmen des Grundgesetzes überschreiten und eine Revolution im staatsrechtlichen Sinne bedeuten würde, stellt sich das Problem der Landes verfassunggebung typischerweise 216 gerade als ein solches innerhalb der Ordnung des Grundgesetzes. Insofern, als eine Theorie der Verfassunggebung in den Ländern mit rechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes rechnen kann und muß, unterscheidet sie sich also nicht unwesentlich von der typischen Ausgangssituation der Verfassunggebung 217. Ob und inwieweit das oben allgemein zu Verfassunggebung sowie Subjekt, Bindungen und Verfahren der verfassunggebenden Gewalt Gesagte218 auch hier gilt, bedarf der Überprüfung. Aus der Sicht der allgemeinen Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ist die Frage nach der Verfassunggebung in den Ländern darum die problematischere Hälfte des Gesamtthemas Verfassunggebung und Bundesstaat, auch wenn sie aus rein rechtlicher Sicht angesichts der Existenz positivrechtlicher Vorgaben die unproblematischere ist. Interessanterweise erfolgte die Auseinandersetzung des Bundesverfassungsgerichts mit den Fragen der verfassunggebenden Gewalt gerade anhand eines Falls auf Landesebene, der wegen der besonderen Ingerenzen des Bundes zur Neugliederung vor das Bundesverfassungsgericht gelangt war 2 1 9 . Zwar wurden aus der Situation der Einordnung in den Bundesstaat des Grundgesetzes folgende besondere Beschränkungen des Verfassunggebers im Land vom Bundesverfassungsgericht herausgearbeitet. Die sich aufdrängende Frage der Übertragbarkeit der in Frankreich für das Subjekt der souveränen Nation entwickelten Lehre vom pouvoir constituant auf die Gliedstaaten eines Bundesstaates wurde vom Bundesverfassungsgericht jedoch nicht thematisiert, sondern unter Hinweis auf das Dogma von der Eigenstaatlichkeit der Länder als gegeben vorausgesetzt. Zur Lösung des Problems der Landesverfassunggebung werden in der rechtswissenschaftlichen Literatur heute im wesentlichen zwei unterschiedliche Erklärungsmodelle vorgeschlagen, die zum Teil unterschiedliche zugrundeliegende Bundesstaatstheorien und einen latenten Dissens über das Grundverhältnis von Bund und 216 Die vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen sind zwar nicht „in" der Ordnung des Grundgesetzes entstanden, aber doch in Hinblick auf einen künftigen deutschen Bundesstaat. Die meisten Probleme stellen sich wie bei den nachgrundgesetzlichen Verfassungen aus ihrer (nachträglichen) Einordnung in und Vereinbarkeit mit der Ordnung des Grundgesetzes, wenn auch ζ. B. der Gestaltungsspielraum im Einzelnen durch die zukünftige Einordnung weniger beschnitten wird, als durch die Anforderungen bundesfreundlichen Verhaltens im konkreten, vom Grundgesetz bestimmten Bundesstaat. 217 Vgl. oben 2. Teil, Kapitel A. 218 Vgl. oben 2. Teil, Kapitel B. 219 BVerfGE 1, 14 (61 ff.) [Südweststaat].

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Ländern in der Ordnung des Grundgesetzes deutlich werden lassen und ihrerseits unterschiedliche Lösungen bei anderen für die föderale Ordnung relevanten Einzelthemen implizieren. Die beiden Grundpositionen verbinden sich vor allem mit den Namen von Maunz und Herzog einerseits und Isensee andererseits. Die Argumentationslinie, die die Fragen der Verfassunggebung in den Ländern weitgehend nach der allgemeinen Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes behandelt, wurde maßgeblich bereits Anfang der fünfziger Jahre im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen über die Wirkung des Sozialisierungs-Artikels der Hessischen Verfassung von Theodor Maunz, damals Ordinarius in Freiburg i.Br., begründet 220. Die Linie ist danach vor allem von Herzog in der Kommentierung zu Artikel 20 in dem von ihm mitherausgegebenen Grundgesetzkommentar von Maunz / Dürig vertreten und entfaltet worden 221 . Zahlreiche Autoren haben sich ihr in der Folgezeit, insbesondere auch im Zusammenhang mit der neueren Tendenz zur Aufwertung des Landesverfassungsrechts und der speziell der Bedeutung des Landes Verfassungsrechts in der Gegenwart gewidmeten Staatsrechtslehrertagung von 1987 222 , ausdrücklich oder implizit angeschlossen223. Die Argumentation gründet wesentlich auf einer Parallelisierung der Bedingungen auf Landesebene mit denen auf nationaler Ebene. Wenn die Länder nach dem Grundgesetz Staaten224, und zwar Verfassungsstaaten sind, dann muß ihnen auch eine eigene Verfassungshoheit zukommen. Betätigt wird die Verfassungshoheit durch die verfassunggebende Gewalt und diese kommt unter den Bedingungen der Volkssouveränität dem Volk zu. Das Volk auf Landesebene aber ist das Landesvolk, also ist das jeweilige Landesvolk Träger des pouvoir constituant im Land 2 2 5 .

220 Vgl. Maunz, Die Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung - Rechtsgutachten, Wiesbaden 1952, S. 7, 19. Vgl. auch jetzt ders., HStR IV, § 94, Rn. 25. Andeutungsweise schon 1948 bei H.P. Ipsen, FS. Raape, S. 423 (437: „ . . . der zu wählenden Bürgerschaft und ihrem pouvoir constituant...", 454). 22 1 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 26, sowie II. Rn. 101. 222 Vgl. Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 ff. (22, 24); Grawert, NJW 1987, S. 2329 (2330); H.-P. Schneider, DÖV 1987, S. 749 (759). 22 3 Stern, Staatsrecht, Bd. I, § 19 III.2.C (S. 669); E.-W. Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 15; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 175; Maunz /Zippelius, Staatsrecht, S. 35; Hollerbach, in: Feuchte, Verfassung des Landes Baden-Württemberg, Vorspruch, Rn. 25; Maurer, in: Maurer / Hendler, Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 27 (30); Kölble, DÖV 1962, S. 583 (583, 588); Brinkmann, Verfassungslehre, S. 360; Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (582 f.); Linck, DÖV 1991, S. 730 (732 f.); Berlit, KJ 1992, S. 437 (440); wohl auch Barschel, Staatsqualität, S. 179 ff. 22

* Vgl. dazu oben 3. Teil, Kapitel A. 5 So ausdrücklich Herzog in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 26 und II. Rn. 101; Grawert, NJW 1987, S. 2329, 2330; H.-P. Schneider, DÖV 1987, S. 749, 759; Maurer, in: Maurer / Hendler, Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 27 (30); Barschel, Die Staatsqualität der deutschen Länder, 1982, S. 167; v. Mangoldt / Klein, GG, Bd. 1, 2. Aufl., S. 596; Bonner Kommentar, Art. 20, 2.d); W. Schmidt, AÖR 87 (1962) S. 254, 259 und 261; E.-W. Böckenförde, FS. F. Schäfer, S. 182 (190). 22

C. Verfassunggebung in den Ländern

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Der Formel von der Ursprünglichkeit und Unabgeleitetheit der Landesstaatsgewalt entspricht die Sicht der verfassunggebenden Gewalt des Landesvolkes als einer originären, nicht etwa vom Bund oder vom Grundgesetz abgeleiteten226 Befugnis, die Landesverfassung zu schaffen. Die Argumentation liegt jedenfalls in bezug auf die vor-grundgesetzlichen Landesverfassungen, wie etwa die Hessische Verfassung von 1946, angesichts der konkreten Situation der Landesverfassunggebung in Abwesenheit zentralstaatlicher Organe und einer Verfassung des Gesamtstaates besonders nahe 227 . Sie wurde von Anfang an aber auch in bezug auf den durch Bundesgesetz auf der Grundlage einer speziellen Kompetenz im Grundgesetz geschaffenen „Südweststaat"228 - vom Bundesverfassungsgericht 229 und der baden-württembergischen verfassunggebenden Landesversammlung 230 - vertreten und neuerdings auch auf die ebenfalls durch Bundesgesetz, nämlich das durch den Einigungsvertrag übergeleitete Ländereinführungsgesetz 231, geschaffenen fünf neuen Länder im beigetretenen Teil Deutschlands angewendet232. Diese Linie, die die Verfassungsentstehung in den Ländern in Parallelität zum Bund weitgehend nach den allgemeinen Lehren von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes behandeln will, und die darum als „Parallelisierungs-Theorie" bezeichnet werden könnte 233 , ist jedoch nicht unwidersprochen geblieben.

226 H.-P. Schneider, DÖV 1987, S. 749 (750). 227 im Hessischen Verfassungsstreit wurde ζ. B. auch von Carl Schmitt, Rechtsstaatlicher Verfassungsvollzug, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 452 (461), eine verfassunggebende Gewalt des hessischen Landesvolkes unproblematisch angenommen. Ablehnend dagegen damals schon Grewe, Rechtsgutachten über die Rechtsgültigkeit des Artikel 41 der Hessischen Verfassung, S. 16 ff. Vgl. ζ. B. zur Situation Hamburgs im Jahre 1946 H.P. Ipsen, FS. Raape, S. 423 (437, 454). 228 Vgl. Wahl, Der Staat 30 (1991), S. 181 (193 f., 202 f.); Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (588). 229 BVerfGE 1, 14 (61 f.). 230 Vgl. Vorspruch der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. 11. 1953: „ . . . hat sich das Volk von Baden-Württemberg ... kraft seiner verfassunggebenden Gewalt durch die Verfassunggebende Landesversammlung diese Verfassung gegeben". 231 Vgl. hierzu Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (573 f., 586 ff.); ders., in: Wiedervereinigung, Bd. III, S. 97 f.; ebenso Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Werner Schulz (Berlin) und der Gruppe Bündnis 90 / Die Grünen (BT-Drs. 12/3085 vom 24. 07. 92), S. 2; Hans v. Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 15 (Fn. 28); a.A.: Starck, ZG 1992, S. 1 (3); Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (145). 232 Vgl. Boehl, in: Stern, Wiedervereinigung, Bd. III, S. 97 f.; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Werner Schulz (Berlin) und der Gruppe Bündnis 90 / Die Grünen (BT-Drs. 12 / 3085 vom 24. 07. 92), S. 3; ebenso Hans v. Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 15 f. 233 Von einer „Parallelisierung" der gesamt- und gliedstaatlichen Staatlichkeit spricht in bezug auf die Wendung von den grundsätzlich nebeneinanderstehenden Verfassungsräumen ζ. B. auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 171.

168

3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Der Behandlung der Probleme der Verfassunggebung in den Ländern nach den allgemeinen Regeln über die verfassunggebende Gewalt des Volkes hat insbesondere Isensee widersprochen. In den Ländern rege sich gerade nicht der pouvoir constituant im Sinne einer originären verfassunggebenden Gewalt, wie er der demokratischen Doktrin entspricht 234 . Anders als zum Beispiel Grewe, der schon im hessischen Verfassungsstreit der Anwendung der Lehre vom pouvoir constituant auf die Vorgänge bei der Entstehung der hessischen Landesverfassung - also dem Ansatz von Maunz - entgegengetreten war 2 3 5 , akzeptiert dabei Isensee grundsätzlich die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes durchaus als zutreffendes Erklärungsmodell für die Vorgänge der Verfassungsentstehung 236. Nur könne ein Landesvolk nicht souverän über seine politische Existenz entscheiden, weil die verfassunggebende Gewalt der Länder durch das Grundgesetz bedingt und begrenzt sei; Länder seien als Gliedstaaten keine „originären politischen Einheiten" und daher auch nicht fähig, aus eigener Macht politische Grundentscheidungen in Verfassungsform zu treffen 237 . Sitz des pouvoir constituant sei darum allein das Gesamtvolk 238 . Die Position, die die Differenzen zu den Bedingungen der Verfassunggebung auf gesamtstaatlicher Ebene und den allgemeinen Lehren von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes betont, und die darum als „Differenz-Theorie" bezeichnet werde könnte, hat auch in jüngster Zeit Unterstützer gefunden 239. Wegen des Dornröschenschlafs des Landesverfassungsrechts 240 im allgemeinen, der eigentlich erst seit der Staatsrechtslehrertagung 1987 als beendet gelten kann, sind die Besonderheiten der Situation der Landesverfassunggebung lange Zeit nicht beachtet worden. Insbesondere die Diskussion seit 1990 um die Verfassunggebung in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland241 und die ersten Verfassungsentwürfe im Land Brandenburg haben das Bewußtsein für die bei aller Eigenstaatlichkeit gegebenen Einordnung der Landesverfassungen in die vom Grundgesetz vorgegebene Gesamtordnung gegenüber der zuvor vorherrschenden Tendenz zur Betonung der verbliebenen Freiräume wieder geschärft 242. Und auch die Beratungen und 234 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 79; ders., in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 174(175). 235

Grewe, Rechtsgültigkeit des Artikels 41 der Hessischen Verfassung, S. 7, 16 ff. 36 Vgl. Isensee, HSTR VII, § 162, Rn. 36; ders., in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. I, S. 63 (70). 2

2

37 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 79. 38 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 61. 2 39 Vgl. z. B. Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121. 2 40 Vgl. z. B. auch Krause, Jus 1975, S. 160 (160 f.); v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 116 m.w.N.; Jutzi, Landesverfassungsrecht, S. 11; Grimm, in: Grimm / Papier, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (2 f.). 2

24 1 Z.T. wird hieraus schon eine „Renaissance" des Landes Verfassungsrechts gefolgert; vgl. Kersten, DÖV 1993, S. 896. 242 Das wird deutlich bei der am Beispiel der brandenburgischen Verfassung durchgeführten Darstellung von Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121 ff., im Vergleich zu den Darstellungen

C. Verfassunggebung in den Ländern

169

Vorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission von Deutschem Bundestag und Bundesrat über eine neue Austarierung der Kompetenzen im Bundesstaat, die schon Warnungen vor einem „konzeptionellen Umbau des Grundgesetzes von den Ländern her" 2 4 3 hervorgerufen haben, haben die Problematik der Stellung der Länder in der Ordnung des Grundgesetzes von neuem ins Bewußtsein gerückt. Die beiden Grundpositionen zur Frage der Verfassunggebung in den Ländern korrespondieren mit bestimmten Positionen in anderen bundesstaatsrelevanten Problembereichen. Sie haben unterschiedliche Konsequenzen für die Entscheidung anderer verfassungsrechtlicher Fragen im föderativen Problemkreis. Und sie setzen - zumindest implizit - jeweils bestimmte Grundpositionen über das Bund-LänderVerhältnis voraus und knüpfen an unterschiedliche Traditionslinien der Bundesstaatstheorie an. So paßt zum Beispiel die Annahme unabgeleiteter Eigenstaatlichkeit und eines eigenen Landesvolkes mit der Anerkennung einer eigenen Verfassungshoheit der Länder und der Parallelisierung der Landesverfassunggebung mit der gesamtstaatlichen Situation und der Bejahung eines eigenen pouvoir constituant des Landesvolkes ebenso zusammen, wie umgekehrt die Betonung der bundesstaatlichen Einbindung, die Rede von (bloßer) Verfassungsautonomie 244 und die Bestimmung des Landesvolkes als eines radizierten Teils des deutschen Volkes 245 mit der Betonung der Andersartigkeit der Landesverfassunggebung gegenüber einem wirklichen Akt des pouvoir constituant korrespondiert. Andererseits würde es zu Inkonsistenzen führen, den Bundesstaat als rückföderalisierten Einheitsstaat auf der Grundlage der verfassunggebenden Gewalt des Gesamtvolkes anzusehen und zugleich einen originären pouvoir constituant der Landesvölker im umfassenden Sinne anzunehmen oder andererseits den Bund als Bündnis souveräner Länder deuten zu wollen und zugleich die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes anzuerkennen. Auch personelle Zusammenhänge sind auszumachen. Die beiden Hauptvertreter der Parallelisierungs-Theorie sind deutlich föderalistisch 246 orientiert und haben früher zeitweise die Dreistufigkeitslehre vertreten, die die föderalistischen Ansprüche der Länder zu einem System der Gleichordnung von Bund und Ländern auszugestalten suchte 247 . Das landesbezogene Konzept der Volkssouveränität und eines eigenen pouvoir constituant des Landesvolkes führt ansatzweise das Grundandesselben Verfassers in DÖV 1985, S. 469 ff., und DVB1. 1987, S. 887 ff. Vgl. demgegenüber aber auch Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (239 f.), wonach die stärkere Betonung der Eigenständigkeit der Bundesländer „derzeit im Trend liegt". 243 Hennis , Auf dem Weg in eine ganz andere Republik - Die geplante Verfassungsreform verschiebt die Statik des Grundgesetzes, FAZ vom 26. 2. 1993, S. 35. 2 44 Vgl. unten 3. Teil, C.II.l. 2 45 Vgl. unten 3. Teil, C.II.2. 246 Zur föderalistischen und unitarischen Ausprägung der Bundesstaatstheorie als den beiden gegenläufigen Kräften innerhalb des Typus des Bundesstaat vgl. oben 3. Teil, Kapitel A. 24 7 Vgl. oben 3. Teil, Kapitel A.

170

3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

liegen der früheren „bayerischen Schule" v. Seydels 248 , die Lehre von der fortbestehenden Einzelstaatensouveränität, unter den gewandelten Bedingungen des demokratischen Bundesstaates fort 2 4 9 , soweit es angesichts der Realitäten des Staates des Grundgesetzes realistischerweise noch vertretbar 250 ist. Umgekehrt knüpft Isensee251 insbesondere mit seinem unitarisch verstandenen Volksbegriff an die ältere unitarische Argumentation aus der Frühzeit der Bundesrepublik und ausdrücklich an die - gerade von v. Seydel bekämpfte 252 - ältere Bundesstaatstheorie von Georg Waitz 2 5 3 an, die durch die von Tocqueville vermittelte, stark unitarische Bundesstaatslehre der „Federalist Papers" 254 geprägt worden war. Sowohl in der Bundesstaatsdiskussion als auch im Bereich der Kompetenzverteilung und des bundesstaatlichen Kollisionsrechts wird auf die Aspekte der Verfassungshoheit/-autonomie und die verfassunggebende Gewalt im Bundesstaat Bezug genommen. Die Frage nach der Verfassunggebung in den Ländern muß umgekehrt angesichts der Einordnung der Länder in den Bundesstaat und der im Staat des Grundgesetzes aufgrund der Normierung und nach Maßgabe des Grundgesetzes bestehenden Staatsqualität der Länder die Verfassungsrechtslage in bezug auf die Rolle der Länder im konkreten Bundesstaat des Grundgesetzes und die bundesstaatliche Kompetenz Verteilung berücksichtigen. Die Fragen der Landesverfassunggebung ohne Rücksicht auf die grundgesetzliche Rechtslage bestimmen zu wollen, hieße, die Unmaßgeblichkeit der Bundesverfassung für die Verfassunggebung im Land vorauszusetzen, und würde die Antwort im Sinne völliger Ungebundenheit und Souveränität der Länder bzw. Landesvölker vorwegnehmen und damit ein ganz spezifisches, geradezu staatenbündisches Konzept implizieren. Es kann auch nicht einseitig die sonstige Verfassungslage in Hinblick auf die grundlegende Bedeutung der Verfassunggebung nach den Maßstäben einer Theorie der Landesverfassunggebung beurteilt werden, da die Fragen der Verfassunggebung in den Ländern verfassungsrechtlich nicht zweifelsfrei geklärt sind, sondern ihrerseits unterschiedlichen Interpretationen unterliegen. Bevor Auskunft über Verfassunggebung in den Ländern gegeben werden kann, sind darum die im Grundgesetz enthaltenen bundesstaatsrelevanten Regelungskomplexe auf verbindliche Vorgaben hin zu sichten 255 . 248 Vgl. zur Lehre v. Seydels oben 3. Teil, Kapitel A. 249 Freilich ohne ausdrückliche Anknüpfung an v. Seydel; keineswegs wird ein Aktualisierungsversuch der Seydel / Calhoun-Position wie bei Kalkbrenner (FS. v.d. Heydte, S. 871 [923 f., 932]) unternommen. 250 Zur Überholtheit der ursprünglichen Version dieses Ansatzes unter den Bedingungen des Staates des Grundgesetzes vgl. oben 3. Teil, Kapitel A. 251 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 45 (Waitz), 61 (The Federalist); ders., AÖR 115 (1990), S. 248 (262 [Waitz]) (271 [Madison]). 252 Vgl. Kalkbrenner, FS. v.d. Heydte, S. 871 (917 f.). 253 Vgl. oben 1. Teil, Kapitel C. 254 Vgl. oben 1. Teil, A.3. 255 v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 127, spricht insofern von einer „Methode negativer Ergebniskontrolle" die darin bestehen soll, daß sie die in Frage

C. Verfassunggebung in den Ländern

171

II. Verfassungsrechtliche Vorgaben 1. Verfassungsautonomie oder Verfassungshoheit

Aus der im Grundgesetz normierten Staatsqualität der Länder 256 folgt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur, daß diese eigene Verfassungen besitzen 257 , sondern auch, daß es sich dabei um „von ihnen selbst bestimmte Verfassungen" handelt 258 . Die Formel, daß die Gestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung im Lande „in ihren Bereich gehört" 259 , ist später dahingehend präzisiert worden, daß „die Gliedstaaten ebenso wie der Gesamtstaat in je eigener Verantwortung ihre Staatsfundamentalnormen artikulieren" 260 und ihr Verfassungsrecht grundsätzlich „nach eigenem Ermessen ordnen" können 261 . Das vom Bundesverfassungsgericht gebrauchte Bild von den „Verfassungsräumen" oder „Verfassungsbereichen" des Bundes und der Länder, die „grundsätzlich selbständig nebeneinanderstehen"262, läßt sich also auch auf das Zustandekommen des Landesverfassungsrechts beziehen: Der Verfassungsraum des Landes wird grundsätzlich auch selbständig gefüllt. Das Grundgesetz beansprucht die Konstituierung der verfassungsmäßigen Ordnung der Länder danach also grundsätzlich nicht für die Bundesverfassung 263. Die Befugnis zur selbstbestimmten Setzung des Landesverfassungsrechts wird als „Verfassungsautonomie" 264 oder „Verfassungshoheit" 265 der Länder bezeichkommenden Auslegungsmöglichkeiten daraufhin überprüft, ob sie in konsequenter Anwendung mit außer Frage stehenden Normgehalten vereinbar sind. 256 Vgl. 3. Teil, A. undC.l. 257 Vgl. oben 3. Teil, C.l. 258 BVerfGE 36, 342 (361) [Niedersächsisches Landesbesoldungsgesetz]. 259 BVerfGE 1, 14 (34) [Südweststaat]; bestätigt in BVerfGE 60, 175 (207) [Startbahn West]; vgl. auch Schmidt-Bleibtreu /Klein, GG-Komm., Art. 142, Rn. 3. 260 BVerfGE 36, 342 (361). 261 BVerfGE 4, 178(189). 262 BVerfGE 4, 178 (189); 6, 376 (382); 22, 267 (270); 60, 175 (209); 64, 301 (317); ebenso VerfGH NRW, Äußerung in BVerfGE 36, 342 (354). Vgl. auch Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.2.a (S. 667), III.5.d (S. 707) m.w.N. 263 Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 24; vgl. auch Sachs, DÖV 1985, S. 469 (474). 264 Grawert, NJW 1987, S. 2329 (2330, 2337); Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.2.b (S. 668); Pestalozza NVwZ 1987, S. 744 (744, 748); Isensee, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 174 (175); Stern, in: Bonner Komm, zum GG, Art. 28, Rn. 7, 13; Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (863); ders., ThürVBl 1993, S. 121 (122); Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 15; ; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG-Komm., Art. 28, Rn. 1; Krause, Jus 1975, S. 160; v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 126 f.; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 175 (Fn. 318), 185, 187, 192; Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (238); Rommelfanger, ThürVBl. 1993, S. 145. 265 H.-P. Schneider, DÖV 1987, S. 749 (750); Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (142, 162); Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 1 IV.3 (S. 113); Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (863); Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 78; ders., VVDStRL

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

net. Es handelt sich dabei nicht um Begriffe der Gesetzessprache des Grundgesetzes; auch in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts sind sie nicht definiert worden. Die Begriffe werden in der Literatur zum Teil synonym verwendet 266 , teilweise wird auch summarisch von „Verfassungshoheit und Verfassungsautonomie" 2 6 7 der Länder gesprochen. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß mit beiden Begriffen durchaus unterschiedliche Akzentsetzungen verbunden sind. Isensee hat auf der Staatsrechtslehrertagung 1987 darauf hingewiesen, daß der Terminus Verfassungsautonomie an Selbstverwaltung und Satzungsautonomie erinnere, und zur Diskussion gestellt, ob nicht stattdessen der Terminus Verfassungshoheit, weil er die Staatlichkeit der gliedstaatlichen Verfassunggebung zum Ausdruck bringt, bevorzugt werden sollte 268 . Tatsächlich würde wohl niemand von einer „Verfassungsautonomie" der Bundesrepublik Deutschland reden. Bartlsperger differenziert jetzt zwischen den beiden Begriffen dergestalt, daß die vor Errichtung der Bundesrepublik bestehende Verfassungs/zo/ie/i mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes „zu einer als »ursprünglich 4 anerkannten Verfassungs autonomie der Länder im Bundesstaat geworden" 269 sei. Unterschiedliche Positionen bestehen auch in der Frage, ob der Verfassungshoheit oder -autonomie des Landes eine eigene verfassunggebende Gewalt im Lande entspricht. Überwiegend wird in bezug auf die Landesverfassunggebung von der verfassunggebenden Gewalt oder von einem pouvoir constituant gesprochen 270, 46 (1987), S. 120 (122); Bartlsperger,, HStR IV, § 96, Rn. 1; Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 39; Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235; Kersten, DÖV 1993, S. 896 (898); v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 134; Maunz, HStR IV, § 94, S. 427 ff.; Maurer, in: Maurer / Hendler, Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 27 (30). 266 Vgl. Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (863); Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.2.b (S. 668) und andererseits ebd. § 1IV.3 (S. 113); Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (22, 28 und 27); Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 und 238 f.; Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 8; v. Olshausen, Landes Verfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 134, 126; Maunz, HStR IV, § 94, Rn. 27 („Das Grundgesetz hat ausdrücklich vorausgesetzt, daß die Länder Verfassungsautonomie haben und auch für die Zukunft haben sollen. Allerdings hat es die Verfassungshoheit der Länder durch das Homogenitätsgebot eingeschränkt. "). 267 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.5 (S. 704 f.); ders., in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 28, Rn. 6; ebenso auch Bothe, in: Alt.Komm. GG, Art. 28 Abs. 1, I., Rn. 1. 268 Isensee, VVDStRL 46 (1987), S. 120 (122). Vgl. ähnlich jetzt auch Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (142 f.), der den Terminus Verfassungshoheit als Attribut souveräner Staaten vorstellt und erwägt, aus diesem Grunde in bezug auf die Länder nur von Verfassungsautonomie zu sprechen. 269 Bartlsperger, Das Verfassungsrecht der Länder in der gesamtstaatlichen Verfassungsordnung, HStR IV, § 96, Rn. 14. 270 BVerfGE 1, 14 (61); Herzog, DÖV 1962, S. 81 (85); ders., in: Maunz / Dürig, GGKomm., Art. 20, IV. Rn. 26 und II. Rn. 101; Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 133, 145; ders., Verfassungsmäßigkeit der Hessischen Verfassung, S. 7, 19; ders., HStR IV, § 94, Rn. 27; v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, S. 596; Kölble, DÖV 1962, S. 583 (583, 588); Ipsen, FS. Raape, S. 423 (437, 454); C. Schmitt, Verfassungsvollzug, S. 461;

C. Verfassunggebung in den Ländern

173

wobei teilweise ganz unspezifisch, ohne sich in der Frage des Trägers einer solchen Gewalt festzulegen, von der verfassunggebenden Gewalt „des Landes" 271 die Rede ist, teilweise bewußt die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes auf die Landesebene übertragen wird 2 7 2 . Teilweise wird der Begriff der verfassunggebenden Gewalt auch dort verwendet, wo die Differenzen gegenüber dem, was auf nationaler Ebene als verfassunggebende Gewalt bezeichnet wird, bewußt sind 2 7 3 ; teilweise wird der Begriff aber auch explizit für die Landesebene verworfen, um die Differenzen kenntlich zu machen 274 . Es handelt sich dabei nicht etwa um nur terminologische Fragen; vielmehr spiegeln sich in der unterschiedlichen Begriffswahl die gegensätzlichen Konzeptionen zur Verfassungsentstehung im Land. Die Verwendung der Begriffe Verfassungsautonomie und Verfassungshoheit korrespondiert mit den beiden Grundpositionen in der Frage der Landesverfassunggebung: Wer im Land den pouvoir constituant am Werk sieht, neigt auch zum Begriff Verfassungshoheit 275; wer die Differenzen zur Situation der Betätigung des originären pouvoir constituant auf nationaler Ebene betont, spricht in der Regel von Verfassungsautonomie des Landes 276 ; eine Umorientierung in der Frage der Verfassunggebung geht mit einer Umorientierung in der Begriffswahl einher 277 . Gerade Isensee vollzieht in seinem Beitrag über „Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz" im Handbuch des Staatsrechts, in dem auch seine stärker die Differenzen betonende Theorie der Landesverfassunggebung 278 ausgeführt wird, eine Wendung gegen den Begriff Verfassungshoheit: Das Kapitel „Verfassungshoheit v. d. Heydte, Bundesverfassung, S. 48; Steiner, Verfassunggebung, S. 151 f.; Grawert, NJW 1987, S. 2329 (2330); H.-P. Schneider, DÖV 1987, S. 749 (750); Krause, Jus 1975, S. 160 (161); Brinkmann, Verfassungslehre, S. 360; Barschel, Staatsqualität, S. 167; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 175, 208; Grimm, in: Grimm / Papier, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (10); Boehl, Der Staat 31 (1991), S. 572 (583); Kersten, DÖV 1993, S. 896; Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (236, 238). 271 Herzog, DÖV 1962, S. 81 (85: „pouvoir constituant der Gliedstaaten"); Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 133, 145; Krause, Jus 1975, S. 160 (161); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 175, 208; Kersten, DÖV 1993, S. 896. 272 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm. Art. 20, IV. Rn. 26 und II. Rn. 101; Grawert, NJW 1987, S. 2329 (2330); Grimm, in: Grimm / Papier, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (10). 273

Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 („... paßt all das, was normalerweise mit dem Begriff der verfassunggebenden Gewalt verbunden wird, auf die Gliedstaaten im Bundesstaat nicht so recht"), 238. 274 Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121; Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 79; ders., in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 174 (175). 27 5 So ζ. B. H.-P. Schneider, DÖV 1987, S. 749 (750); Maunz, HStR IV, § 94, S. 427 ff.; Maurer, in: Maurer / Hendler, Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 27 (30). 27 6 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 79; Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121 (122). 277 27

Vgl. ζ. B. Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (863); ders., ThürVBl. 1993, S. 121 (122). 8 Vgl. oben 3. Teil, C.I.

174

3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

der Gliedstaaten"279 kommt zu dem Ergebnis, den Ländern stehe „nur Verfassungs-'Autonomie'" 280 zu; daß die geläufige Rede von der »Verfassungsautonomie' der Länder „mehr zu Selbstverwaltung als zu Staatlichkeit und zu originärer verfassunggebender Gewalt" passe, wird jetzt zustimmend festgestellt, weil sich in den Ländern in der Tat nicht der pouvoir constituant rege 281 . Der Beitrag von Maunz am gleichen Ort, in dem erneut die Parallelisierungs-Theorie 282 vertreten wird, heißt dagegen „Staatlichkeit und Verfassungshoheit der Länder" 283 . Unabhängig davon, ob in bezug auf die Länder von Verfassungshoheit oder Verfassungsautonomie gesprochen wird, besteht doch Einigkeit, daß es sich hierbei um eine Kompetenz zur Setzung von Landesverfassungsrecht handelt, die sowohl Verfassungsänderungen als auch die ursprüngliche Setzung der Landesverfassung 284 umfaßt. Auch für diejenigen, die nur von Verfassungsautonomie sprechen, kann die Verfassung „allein aus dem politischen Willen des Landes selbst" hervorgehen 285 . Auch diejenigen, die von Verfassungshoheit und einer verfassunggebenden Gewalt im Land oder, wie das Bundesverfassungsgericht in der Südweststaatsentscheidung286, von einem „pouvoir constituant" sprechen, verstehen dies in der Regel im Sinne einer Rechtsetzungsbefugnis 287, nicht einer ursprünglichen und ungebunden Macht oder Autorität 288 . Allein die Rede von Verfassungshoheit und verfassunggebender Gewalt des Landes sagt noch nichts darüber, inwieweit die allgemeine Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes auf die Landesebene übertragbar ist, insbesondere wer Subjekt / Träger einer solchen verfassunggebenden Gewalt im Land ist bzw. was unter dem „politischen Willen des Landes" zu verstehen ist, und inwieweit das

279 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 78 f. (S. 559 f.). 280 Isensee, HStR IV, § 98, Marginalie zu Rn. 79. 281 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 79; besonders deutlich jetzt auch ders., Diskussionsbeitrag in der Aussprache zum Thema „Verfassunggebung der Länder als Gliedstaaten der Bundesrepublik Deutschland", in: Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Band III - Zur Entstehung von Landesverfassungen in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland, S. 174 (175: „Es war wohl kein Zufall, daß sich das Wort »Autonomie' durchgesetzt hat, obwohl es zur Staatlichkeit der Länder gar nicht so recht passen will. Denn die Verfassunggebung der Länder, um die es hier geht, die hat partout nichts zu tun mit der Lehre vom originären pouvoir constituant."). 282 Zur Parallelisierungs-Theorie von Maunz vgl. oben 3. Teil, C.I. 283 Maunz., HStR IV, § 94, insbes. Rn. 25 ff. 284 Vgl. Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (864), der neben der Verfassunggebung auch die Spruchtätigkeit der Verfassungsgerichte der Länder der Verfassungsautonomie zuordnet. 285 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 78. 286 BVerfGE 1, 14 (61); die neuere Entscheidung im sächsischen Verfassungsstreit von 1990 (BVerfGE 85, 353) erwähnt die Lehre vom pouvoir constituant nicht. 287 Vgl. ζ. B. Sachs, DÖV 1982, S. 595 (596 m.w.N.). 288 Vgl. zu den beiden Ansätzen zur Definition der verfassunggebenden Gewalt oben 2. Teil, B.I.

C. Verfassunggebung in den Ländern

175

Dogma von der Bindungslosigkeit289 auf die Verfassunggebung im Land anwendbar ist und welche Verfahrensregeln 290 für die Landesverfassunggebung gelten.

2. Subjekt Im Rahmen der Vergewisserung über die Vorgaben des positiven Verfassungsrechts für eine Theorie der Verfassunggebung in den Ländern stellt sich die Frage, wer auf Landesebene als Subjekt oder Träger der verfassunggebenden Gewalt in Betracht kommt und ob unter diesem Aspekt eine Parallelisierung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes möglich ist, oder ob sich vielmehr umgekehrt wesentliche Differenzen zur Situation der Verfassunggebung auf gesamtstaatlicher Ebene ergeben. Der verfassungstextliche Befund ergibt insofern keine eindeutige Antwort. Einerseits nehmen die Landesverfassungen von Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz in ihren Präambeln ausdrücklich in Anspruch, auf der verfassunggebenden Gewalt des jeweiligen Landesvolkes zu beruhen 291 . Andererseits bezeichnen die Verfassungen der übrigen alten und der neuen Länder entweder das Land als Urheber der Verfassung oder äußern sich nicht dazu, von welchem Subjekt die Verfassung ausgeht. Im Grundgesetz ist von einer eigenen verfassunggebenden Gewalt der Landesvölker, überhaupt von „Landesvölkern" oder von einem „(Staats-)Volk der Länder" nicht die Rede. Nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG geht alle Staatsgewalt vom Volke aus und das darin zum Ausdruck kommende Prinzip der Volkssouveränität 292 gehört zu jenen Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates, die Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG auch für die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern verbindlich macht 293 . Wenn, wie sich oben gezeigt hat 2 9 4 , die verfassunggebende Gewalt des Volkes der auf Verfassunggebung bezogene Aspekt der Volkssouveränität ist und sich als Ausfluß 289 Vgl. oben 2. Teil, B.III, und unten 3. Teil, C.II.3. 290 Vgl. oben 2. Teil, B.IV. und unten 3. Teil, C.II.4. 291 Vgl. Präambel der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. 11. 1953 („... hat sich das Volk von Baden-Württemberg ... diese Verfassung gegeben."); Präambel der Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. 12. 1946 („... gibt sich das Bayerische Volk ... nachstehende demokratische Verfassung"); Präambel der Verfassung für Rheinland-Pfalz vom 18. 5. 1947 („... hat sich das Volk von Rheinland-Pfalz diese Verfassung gegeben"). Andeutungsweise auch - unter Vermeidung des Volks-Begriffs - die Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. 6. 1950 („.. haben sich die Männer und Frauen des Landes Nordrhein-Westfalen diese Verfassung gegeben"). Zur Berufung der Länder während der Weimarer Republik auf eine eigene verfassunggebende Gewalt des Landes volkes vgl. Häberle, AÖR 112 (1987), S. 54 (66, Fn. 40). 292 Vgl. dazu oben im 2. Teil, B.II. 293 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, II. Rn. 92, 93; Sachs, AÖR 108 (1983), S. 68 (74 f. m.w.N.); Barschel, Staatsqualität, S. 167. 294 Vgl. oben im 2. Teil, B.II.

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

und wichtigster Aspekt dieses Prinzips darstellt, dann ergibt sich, daß die Befugnis zur Verfassunggebung auch auf Landesebene beim Volk liegt. Doch ist damit nicht schon eine verfassungsrechtliche Entscheidung für die Parallelisierungstheorie 295 gefallen. Denn es bleibt die Frage, wer bei der Anwendung des Prinzips der Volkssouveränität auf die Verfassunggebung auf Landesebene „das Volk" ist. Der Begriff Volk in Art. 20 Abs. 2 GG jedenfalls meint, wie in der Präambel, das deutsche Volk 2 9 6 . Fraglich ist, welchen Sinn er erhält, wenn er über Art. 28 Abs. 1 GG auf die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern bezogen wird. Die Wendung vom Volk „in den Ländern" in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG jedenfalls läßt sich im Sinne von „das jeweilige Landesvolk", aber ebenso auch wie die vom „deutschen Volk in den Ländern" in der Präambel im Sinne eines einheitlichen deutschen Staatsvolks297 verstehen 298, das gegliedert in Länderabschnitte handelt. Herzog, als einer der Exponenten der Parallelisierungstheorie 299, vertritt, daß dann, wenn man einerseits die Bundesverfassung auf die eigene demokratische Souveränität des Bundesvolkes zurückführt, im Bundesstaat „das gleiche" auch für die Länder gelten müsse. Dies bedeute, daß die Landesverfassungen also „ausschließlich auf der verfassunggebenden Gewalt des jeweiligen Landesvolkes, nicht etwa auf der verfassunggebenden Gewalt des Bundesvolkes" beruhten 300 . Gerade dies aber bezweifeln die Vertreter der Differenztheorie 301, indem sie entweder überhaupt die Existenz von Landesvölkern 302 in einem der verfassunggebenden Gewalt des Volkes entsprechenden Sinne oder jedenfalls deren Begabung mit einer eigenen verfassunggebenden Gewalt 303 für den Staat des Grundgesetzes bestreiten. Die Kontroverse zwischen den beiden Grundpositionen zur Landesverfassunggebung setzt sich also konsequent bei der Frage der Bedeutung von Volk und Volkssouveränität auf Landesebene fort. Auch wo in der Literatur die Existenz von Landesvölkern angenommen wird 3 0 4 , erscheinen diese eher als Folge der verfassungsrechtlichen Übertragung des Prin295 Vgl. oben im 3. Teil, C.I. 296 Murswiek, Der Staat 32 (1993), S. 161 (163). 297 Vgl. ζ. B. Zinn, AÖR 75 (1949), S. 291 (293: Volk in den Ländern ist das deutsche Volk, nicht das Volk der einzelnen Länder); v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, Präambel, Anm. VI.2. 298 Insofern kann darum nicht Sachs, AÖR 106 (1983), S. 68 (70 f.), gefolgt werden, der schon aus der Formulierung in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG ableitet, „daß das Grundgesetz die Länder als Staaten mit einem zugehörigen Staatsvolk sieht". 299 Vgl. dazu oben im 3. Teil, C.I. 300 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, IV. Rn. 26; ebd., II. Rn. 101. 301 Vgl. oben im 3. Teil, C.I. 302 Vgl. Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 45. 303 Vgl. Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 79. 304 So z. B. Grawert, HStR I, § 14 Rn. 25; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.2.C (S. 669); Sachs, AÖR 108 (1983), S. 68 (71, 74); Herzog, DÖV 1962, S. 81 (87);

C. Verfassunggebung in den Ländern

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zips der Volkssouveränität auf die Landesebene, nicht als vorrechtliche Realitäten, mit denen das Recht zu rechnen hat. „Sind die Länder Staaten," heißt es zum Beispiel bei Stern, „so muß ihre Staatsgewalt von ,ihrem' Staatsvolk ausgehen, soll dem grundlegenden Prinzip der Volkssouveränität des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG entsprochen sein.... Der Staatlichkeit der Länder entspricht daher ein Landesvolk, von dem auch die verfassunggebende Gewalt ausgeht" 305 . Es muß also Landesvölker geben, um den Homogenitätseifordernissen der Bundesverfassung gerecht zu werden; Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG wird nur in seinem normativen Aspekt, nicht mit seinem auch deskriptiven Gehalt auf die Landesebene übertragen. Es bleibt die Frage, ob dem deduktiv aus Prinzipien der Bundesverfassung gewonnenen Postulat eine Realität entspricht, also ob es realiter ein „Landesvolk" gibt, von dem alle Staatsgewalt ausgeht und das Träger eines eigenen pouvoir constituant sein könnte. So meint zum Beispiel Stern, der sich im Zusammenhang seiner Darstellung des bundesstaatlichen Prinzips der Position von Maunz und Herzog anschließt306, im Zusammenhang seiner Darstellung des Begriffs „das Volk" im Abschnitt über den pouvoir constituant, bei der verfassunggebenden Gewalt des Volkes sei „stets das Gesamtvolk, nicht das gebietskörperschaftlich reduzierte Teilvolk gemeint" 307 . An der tatsächlichen und rechtlichen Realität des Begriffs Landesvolk setzt dann auch die eher die Differenzen betonende Theorie 308 an. So heißt es etwa bei Isensee im Handbuch des Staatsrechts: „Es gibt kein eigenes Landesvolk, das neben dem Bundesvolk stünde. Von einem Landesvolk kann man nur in einem metaphorischen Sinne sprechen. Juristisch gesehen handelt es sich auch nicht um ein gesondertes Teilvolk, sondern um einen integralen Volksteil, und zwar unter einem räumlich und gegenständlich begrenzten Aspekt. Die kompetenzrechtlich geteilte Staatsgewalt des Bundes und der Länder hat dasselbe personale Substrat" 309 ; die ders., in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, I I Rn. 101 und IV Rn. 26; Steiner, Verfassunggebung, S. 153 f.; Maunz, HStR IV, § 94, Rn. 27; Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 130 f.; E.W. Böckenförde, FS. F. Schäfer, S. 182 (190); H.-P. Schneider, DÖV 1987, S. 749 (750); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 206; Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (27); Ley, in: Ley / Prümm, Staats- und Verwaltungsrecht für Rheinland-Pfalz, S. 19 (51 f., Rn. 47 f.); Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (585 f.); Kersten, DÖV 1993, S. 896 (899); Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (236, 238); v. Mutius / Friedrich, StWStP 1991, S. 243 (254); Birkenheier, Wahlrecht, S. 31, 37. 305 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.2.C (S. 669) [Hervorhebung vom Verf.]; ähnlich auch Sachs, AÖR 108 (1983), S. 68 (74); Grimm, in: Grimm / Papier, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (16). 306 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.2.C (S. 669, Fn. 152). 307 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. II. § 25 II.2.C (S. 24); die Begriffe Bundesvolk und Landesvölker werden dabei jeweils in Anführungszeichen gesetzt. Vgl. auch ebd. Fn. 108a: „Der zum Volk gehörige Kreis ist stets in gleicher, wenngleich territorial radizierter Weise zu bestimmen". 308 Vgl. oben 3. Teil, C.I. 309 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 45. 1

Boehl

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Länder sind rechtlich und tatsächlich für alle deutschen Staatsangehörigen offene Verbände 310. Die grundgesetzliche Konzeption des Volkes im Bundesstaat ist danach unitarisch 311 . Diese Position, die im Zusammenhang der Frage nach der Landesverfassunggebung den Realgehalt der Rede von Landes Völkern problematisiert, korrespondiert mit der in der Diskussion um die Entstehung des Grundgesetzes - also zur Verfassunggebung für den Bund - mehrheitlich vertretenen Ansicht, nach der die Landesvölker regionale Ausschnitte des deutschen Volkes darstellen 312 , und den Hinweisen auf die nivellierende Wirkung der deutschen Realgeschichte des 20. Jahrhunderts für die historische Individualität der Länder in der allgemeinen Bundesstaatsdiskussion 313 . Für den Verfassunggeber des Grundgesetzes lebte danach in jedem Land ein Teil des deutschen Volkes, nicht aber umgekehrt in der Bundesrepublik eine Mehrzahl von Völkern 314 . Ein möglicher Weg der Annäherung an eine Problemlösung führt über die Frage der Staatsangehörigkeit. Ein Staatsvolk wird von den Staatsangehörigen gebildet 3 1 5 . Ein Landesstaatsvolk oder Landesvolk müßte danach aus den Staatsangehörigen des Landes bestehen. Das Grundgesetz kannte ursprünglich das Thema Staatsangehörigkeit in den Ländern. Es wies in Art. 74 Nr. 8 GG a.F. dieses Sachgebiet der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes zu und setzte es damit bis zur Aufhebung dieser Bestimmung in der Verfassungsreform von 1994 316 als regelungsfähige Materie voraus. Tatsächlich ist es aber niemals zu einem diesbezüglichen Bundesgesetz oder, da der Bund im Sinne von Art. 72 Abs. 1 GG von seinem Gesetzgebungsrechte keinen Gebrauch gemacht hat, Regelungen durch die oder einzelne Länder gekommen 317 ; auch im Freistaat Bayern, dessen Verfassung - als einzige der geltenden318 Landesverfassungen - in Art. 6 Bestimmungen über die 310 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 55. 311 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 60. 312 Vgl. Zinn, AÖR 75 (1949), S. 291 (294, 296); W. Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 253 (258 f.); Jahrreiß, in: GS. H. Peters, S. 533 (544); ausdrücklich gegen die Vorstellung, daß das gesamte Volk auch Träger der Landesstaatsgewalten sei, W Schmidt, AÖR 87 (1962) S. 254 (259). Vgl. auch - aus vorkonstitutioneller Zeit - Thoma, HdbDStR, 1. Bd., S. 169 (183); C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 389. 313 Vgl. ζ. Β. Κ . Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 12, 29; E.-W. Böckenförde, FS. F. Schäfer, S. 182 (187). Ähnlich auch Jahrreiß, in: GS. H. Peters, S. 533 (544: „Wir haben nicht Landes-Völker, sondern regionale Stücke des einen deutschen Volkes, das seit Jahrzehnten durcheinanderwandert oder durcheinander getrieben wurde, so daß viele Aktiv-Bürger im Laufe der Zeit in mehreren Ländern wahlberechtigt wurden."). 314 Monz, Bundesländer, S. 21; v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, Präambel, Anm. VI.2. 315 Vgl. Grawert, HStR I, § 14 Rn. 11 (m.w.N. Fn. 19); Birkenheier, Wahlrecht, S. 23 m.w.N., 55; Sachs, AÖR 108 (1983), S. 68 (71 ff. m.w.N.). 316 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 27. 10. 1994, BGBl. I S. 3146. 317 Vgl. ζ. B. Schwabe, in: Hoffmann-Riem / Koch, Hamb. Staats- und Verwaltungsrecht, S. 31 (40: „Eine besondere hamburgische Staatsangehörigkeit gibt es nicht.").

179

C. Verfassunggebung in den Ländern

Staatsangehörigkeit enthält, ist diese nicht realisiert w o r d e n 3 1 9 . Die Landesstaatsangehörigkeit hat in der Ordnung des Grundgesetzes - durchaus folgerichtig 3 2 0 keine eigenständige Bedeutung wie etwa in der Verfassungsordnung von 1866 / 71, wo die Reichsangehörigkeit über die Staatsangehörigkeit in den Bundesstaaten vermittelt w u r d e 3 2 1 . Gefordert wurde ihre Realisierung auch wohl nur von Kalkbrenner 3 2 2 , der ansonsten dadurch hervorgetreten ist, daß er dem Bundesstaat des Grundgesetzes die am monarchischen Bundesstaat von 1866 / 70 entwickelte und - jedenfalls angesichts der geltenden Verfassungsrechtslage -

anachronistische

„bündische" Bundesstaatstheorie v. Seydels unterlegen m ö c h t e 3 2 3 . 318 Bestimmungen über eine Landesstaatsangehörigkeit enthielten auch die Verfassung des Landes Baden v. 22. 5. 1947 (Art. 53) und die Verfassung des Landes Württemberg-Hohenzollern (Art. 6 Abs. 3); beide Normen sind gemäß Art. 94 Abs. 2 S. 2 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. 12. 1953 außer Kraft getreten. Ähnliche Bestimmungen über die Landesstaatsangehörigkeit enthielten auch die ursprünglichen Landesverfassungen von Mecklenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und des Saarlandes; vgl. Hailbronner/Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, I. Α., Rn. 25 ff. 319 Vgl. Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 49; Bornemann, BayVBl. 1979, S. 748 f.; Herdegen, HStR IV, § 97, Rn. 9; Sachs, AÖR 108 (1983), S. 68 f. (m.w.N. Fn. 2); Maunz, in: Maunz / Obermayer / Berg / Knemeyer, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, S. 17 (48 f.); Bethge, AÖR 110 (1985), S. 169 (210); Monz, Bundesländer, S. 22. Zu - nicht realisierten - Tendenzen zu einer eigenen Landesstaatsangehörigkeit in den Jahren vor Gründung der Bundesrepublik vgl. E.-W. Böckenförde, Die Teilung Deutschlands und die deutsche Staatsangehörigkeit, in: FG. C. Schmitt, S. 423 (440). Eine eigene Landes-Staatsangehörigkeit hat nur das Saarland zeitweise - bis zum Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik im Jahre 1956 - gekannt, um - auf Betreiben der französischen Besatzungsmacht - die Nichtzugehörigkeit zum deutschen Staatsverband zu dokumentieren, vgl. hierzu Fiedler, JZ 1990, S. 668 (670). 320 Vgl. oben 3. Teil, Kapitel A. Nicht überzeugend ist es darum umgekehrt, wenn Sachs, AÖR 108 (1983), S. 68 (74), die von Laband (Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, S. 158) beschworenen Konsequenzen einer Abschaffung der Landesstaatsangehörigkeit für die Staatlichkeit der BundeSstaaten als Argument gegen die „Leugnung" der Landesstaatsangehörigkeit unter dem Grundgesetz anführen will; denn die Stellung der zuvor souveränen Einzelstaaten in dem auf bündischer Grundlage fußenden monarchischen Bundesstaat von 1866 / 71 kann für die Länder im demokratischen und unitarischen Bundesstaat des Grundgesetzes nicht erhalten bleiben. Die Ausführungen von E.-W. Böckenförde (Die Teilung Deutschlands und die deutsche Staatsangehörigkeit, in: FG. C. Schmitt, S. 423 [435 f.]), beziehen sich, soweit sie ein eigenes Staatsvolk und eine eigene Staatsangehörigkeit als unabdingbare Voraussetzung der Staatlichkeit der Gliedstaaten im Bundesstaat postulieren, genau besehen auf den „Bund" i.S.v. Carl Schmitts Verfassungslehre des Bundes (vgl. dazu oben 3. Teil, B.II.), nicht eigentlich auf die konkrete Verfassungslage im unitarischen Bundesstaat des Grundgesetzes (vgl. auch E.-W. Böckenförde, a. a. O., S. 437). Der Schluß vom Fehlen einer eigenen Landesstaatsangehörigkeit auf ein Fehlen von „Ländern als Gliedstaaten überhaupt" (ebd., S. 436) setzt die Länder als Staaten i. S. d. Allgemeinen Staatslehre voraus, was aber nicht notwendig den Bedingungen im Staat des Grundgesetzes entspricht, wo die Staatlichkeit der Länder eine solche qua Anordnung in der Bundesverfassung ist (vgl. oben 3. Teil, Kapitel A). Vgl. auch Birkenheier, Wahlrecht, S. 51 ff. und 60, wonach der Begriff des Volks als konstitutives Element der Staatlichkeit zwar ein Volk i.S. der Summe der Gewaltunterworfenen, nicht aber notwendig ein Volk i.S. von Aktivbürgern voraussetzt.

321 Vgl. ζ. B. Grawert, HStR I, § 14 Rn. 39; Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 49. 3

22 Kalkbrenner,

12*

BayVBl. 1976, S. 714 (718 f.).

180

3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Wenn in der Literatur dennoch von einer Landesstaatsangehörigkeit die Rede ist, wird diese aus der deutschen Staatsangehörigkeit in Verbindung mit der Wohnsitznahme324 im Land oder der Wahlberechtigung 325 im Land abgeleitet. Der Zustand, daß ohne das Bestehen einer Staatsangehörigkeit im rechtlichen Sinne aus der Zuerkennung der mit der Staatsangehörigkeit gewöhnlich verbundenen Rechte auf eine Landes-Staatsangehörigkeit zurückgeschlossen wird, ist zutreffend als (bloße) „De facto-Landesstaatsangehörigkeit" bezeichnet worden 326 . Wenn sie aber rechtlich nicht besteht, sondern nur als Benennung für die Inhaberschaft bestimmter Rechtspositionen327 benutzt wird, dann läßt sich daraus nicht umgekehrt wieder die Innehabung anderer Rechtspositionen rechtlich ableiten. Denn das wäre Rechtserzeugung durch Begriffskonstruktion. Angesichts der Koppelung des Begriffs der Landesstaatsangehörigkeit an das Landeswahlrecht, also eine Betätigung der Wähler als pouvoir constitué, führt er nicht über die Bestellung der Verfassungsorgane des Landes im verfaßten Zustand hinaus. Wenn die Bezeichnung der Wahlberechtigten im Land als Landesstaatsbürger - insbesondere angesichts des gemeinsamen Indigenats in Art. 33 Abs. 1 G G 3 2 8 - nicht zu Folgerungen über den Wahlrechtsbereich hinaus berechtigt, dann läßt sich allein daraus, daß sich die gemäß der Verfassung die Landesorgane legitimierende Wählerschaft als Landesvolk bezeichnet wird, noch nicht schließen, daß sie auch außerhalb des genannten Zusammmenhangs eine aktionsfähige politische Einheit darstellt, die als Subjekt eines originären pouvoir constituant in Frage kommt. Auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Streitfrage nicht autoritativ entschieden. Es hatte 1951 in der Südweststaatsentscheidung angenommen, die verfassunggebende Landesversammlung im späteren BadenWürttemberg sei „im Besitz des pouvoir constituant" gewesen329. Bei der Frage, 323 Vgl. Kalkbrenner, FS. v.d. Heydte, S. 871 (923 f., 932); vgl. dazu auch bereits oben 3. Teil, Kapitel A (Fn. ). 324 Vgl. Art. 75 Abs. 2 Verf. Rh.-Pf.; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.2.C (S. 669); Ley , in: Ley / Prümm, Staats- und Verwaltungsrecht für Rheinland-Pfalz, S. 19 (52, Rn. 48); Isensee, AÖR 115 (1990), S. 248 (271); Grawert, HStR I, § 14 Rn. 25. Herdegen, HStR IV, § 97, Rn. 8, behauptet darüber hinaus, Art. 28 Abs 1 S. 2 GG mache eine „dauernde" Verbindung mit dem jeweiligen Landesgebiet als Lebensmittelpunkt zur Voraussetzung der Zugehörigkeit zum Landesvolk. 325 Sachs, AÖR 108 (1983), S. 68 (89); Herdegen, HStR IV, § 97, Rn. 8; Brinkmann, Verfassungslehre, S. 360; vgl. auch Jahrreiß, in: GS. H. Peters, S. 533 (541). 326 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 52. 327 Vgl. Herdegen, HStR IV, § 97, Rn. 8: „Das Recht der Wahl der Volksvertretungen und andere politische Mitwirkungsrechte, die sich aus der Zugehörigkeit zum Staatsvolk des Landes ergeben, machen die wesentliche Substanz der Staatsbürgerschaft eines Landes aus."; ähnlich Birkenheier, Wahlrecht, S. 38. 328 Vgl. ζ. B. Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 51; Sachs, AÖR 108 (1983), S. 68 (76 ff.); Herdegen», HStR IV, § 97, Rn. 8; Birkenheier, Wahlrecht, S. 38, März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 174.

C. Verfassunggebung in den Ländern

181

wer Subjekt oder Träger dieser von der verfassunggebenden Versammlung ausgeübten verfassunggebenden Gewalt sei, war das Gericht allerdings auf einen Widerstreit zwischen föderalistischem und demokratischem Prinzip gestoßen330. Einerseits hatte es - ganz im Sinne der Parallelisierungstheorie - die Anwendbarkeit des aus dem demokratischen Prinzip folgenden Satzes, daß ein Volk über seine staatliche Grundordnung grundsätzlich selbst zu bestimmen hat, auf ein Land deswegen bejaht, weil die Länder als Glieder des Bundes Staaten seien und dazu notwendigerweise ein Staatsvolk gehöre 331 . Gleichzeitig hatte es aber - insofern im Sinne der Differenztheorie - die Einbeziehung der Länder als Gliedstaaten des Bundes in die bundesstaatliche Ordnung und den Unterschied des so abgeleiteten Begriffs des Landes-Staatsvolks zu einem „soziologisch-ethnologisch-politischen Volksbegriff 4 hervorgehoben 332. Auch vermeidet das Bundesverfassungsgericht in bezug auf ein Bundesland den noch vom vorläufigen Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich im braunschweigischen Verfassungsstreit 1921 zur Charakterisierung der Rechtsstellung des ersten Landtags des damaligen Freistaates Braunschweig verwendeten Begriff der „konstituierenden Nationalversammlung" 333 und spricht durchgehend nur von einer „verfassunggebenden Landesversammlung" 334. Im Hessen-Urteil von 1956 hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, daß es im Bundesstaat des Grundgesetzes kein „Selbstbestimmungsrecht" von Landes Völkern gibt 3 3 5 . Wo von dem Staatsvolk eines Landes die Rede ist, ist jedenfalls klar, daß es sich dabei um etwas anderes als eine „Nation" 3 3 6 im Sinne der klassischen Formulierung der Lehre vom pouvoir constituant im Staatsrecht der Französischen Revolution handelt 337 . Neuerdings ist in den beiden Entscheidungen zum kommunalen Ausländerwahlrecht in Schleswig-Holstein und Hamburg wieder ausdrücklich vom „Landesstaatsvolk" 3 3 8 bzw. vom „(Landes-) Volk" 3 3 9 die Rede. Wie schon in der Volksbefragungsentscheidung340 von 1958 geht es in den Entscheidungen zwar um die Betätigung des Landesvolkes in Wahlen und Abstimmungen auf der Grundlage der bestehenden Verfassung, also in seiner Eigenschaft als pouvoir constitué, nicht als pouvoir constituant. Das Gericht spricht es jedoch ausdrücklich in seiner Eigen329 BVerfGE 1, 14(61). 330 BVerfGE 1, 14 (50). 331 BVerfGE 1, 14(50). 332 BVerfGE 1, 14(50,61). 333 334 335 336

Vgl. StGH, AÖR 42 (1922), S. 79 (89). BVerfGE 1, 14(61). BVerfGE 13, 54 (93 f.). Vgl. auch Feuchte, VB1BW 1992, S. 125 (129). Vgl. zum staatsrechtlichen Begriff der Nation oben 2. Teil, B.II.

337 338 339 340

Monz, Bundesländer, S. 19, unter Hinweis auf die Abgrenzung in BVerfGE 1, 14 (50). BVerfGE 83, 60 (74) [Kommunales Ausländerwahlrecht Hamburg]. BVerfGE 83, 37 (53) [Kommunales Ausländerwahlrecht Schleswig-Holstein]. BVerfGE 8, 104(116).

182

3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

schaft als Legitimationssubjekt341 an und stellt fest, daß in den Bundesländern das Landesvolk „an die Stelle des Staatsvolks der Bundesrepublik Deutschland" trete 342 . Das Volk erscheint also als Ausgangspunkt fortwirkender Legitimation, der Legitimationsaspekt war aber oben 343 gerade als einer der Hauptaspekte der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes erschienen. Andererseits sind auch die Ausländerwahlrechtsentscheidungen in Hinblick auf die Frage einer eigenen verfassunggebenden Gewalt der Landesvölker durchaus nicht frei von Ambivalenz. Das Landesvolk, das in bezug auf die demokratische Legitimation der Landesstaatsgewalt an die Stelle des Gesamtvolkes treten soll, wird auch als „der territorial begrenzte Verband der im Bereich des jeweiligen Landes lebenden Deutschen" bezeichnet344. Vor allem aber bezieht das Gericht die gleiche Argumentation ausdrücklich auch auf die Gemeinden und Kreise, denen Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG ebenfalls ein „Volk" zuordne, das demokratische Legitimation vermittle 345 . Auch nach Ansicht der Parallelisierungstheorie ist aber jedenfalls das Kreis- bzw. Gemeindevolk nicht Träger eines eigenen pouvoir constituant 346 . Auf die Argumentation des Gerichts zum Legitimationssubjekt auf Landesebene läßt sich eine Theorie einer eigenen verfassunggebenden Gewalt der Landesvölker darum nur sehr bedingt abstützen347. So wie die Übertragung des Prinzips der Volkssouveränität auf die Landesebene und die Staatsqualität der Länder die Plausibilität der Parallelisierungstheorie zur Landesverfassunggebung stützt, wirkt die tatsächliche und rechtliche Realität der Landesvölker in der Ordnung des Grundgesetzes in Richtung der Plausibilität der Differenztheorie. Die Schwäche der Parallelisierungstheorie liegt darin, daß sie eine vor-verfassungsmäßige Kompetenz den Landesvölker und damit Subjekten 341 BVerfGE 83, 60 (74 f.); 83, 37 (53). 342 BVerfGE 83, 37 (53). BVerfGE 83, 60 (75), spricht davon, daß es nicht beliebig zulässig ist, „anstelle des Gesamtstaatsvolkes" einer kleineren Gesamtheit von Staatsbürgern Legitimationskraft zuzuerkennen. 343 Vgl. oben 2. Teil, Kapitel A. Zu den verschiedenen Funktionen, in denen Volk und Volkssouveränität im Rahmen des Verfassungsrechts erscheinen, vgl. Grawert, HStR I, § 14 Rn. 18, 22; Birkenheier, Wahlrecht, S. 32. 344 BVerfGE 83, 37 (53). 345 BVerfGE 83, 60 (75); 83, 37 (53). 346 Vgl. Grawert, HStR I, § 14 Rn. 25 (a.E.). In diese Richtung läuft offenbar tatsächlich die Argumentation bei Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 29, der die kommunalen Gebietskörperschaften „in gleicher Weise" wie Bund und Länder „als ursprüngliche' Hoheitsträger" gelten lassen will, weil „deren öffentliche Gewalt unmittelbar vom Volke ausgeht (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG)". 347 Das gleiche gilt für die Argumentation bei Sachs, AÖR 108 (1983), S. 68 (70 f.), der aus der Formulierung „In den Ländern ... muß das Volk ..." in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG auf die Existenz von Staatsvölkern schließt. Angesichts des vollständigen Wortlauts der Bestimmung im GG („In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk...") müßte man danach auch Kreisvölker anerkennen, oder aber der Begriff Volk in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG ist untauglich, weiteren Folgerungen als Grundlage zu dienen.

C. Verfassunggebung in den Ländern

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zuerkennen muß, die eher aufgrund verfassungsrechtlicher Ableitung aus Prinzipien der Bundesverfassung anerkannt werden denn als reale politische Größe vorverfassungsmäßig vorfindbar sind. Als Schwäche der Differenztheorie muß angesichts der vom Grundgesetz angeordneten Unabgeleitetheit der Staatlichkeit der Länder vom Bund 3 4 8 ihre Tendenz zur Rückführung aller Staatsgewalt im Bundesstaat auf das Gesamtvolk 349 gelten. Ein eindeutiger Befund im Sinne einer der beiden Grundpositionen zur Landesverfassunggebung läßt sich damit aus der Sichtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Frage des Subjekts einer verfassunggebenden Gewalt auf Landesebene nicht gewinnen. Es fragt sich darum weiterhin, inwiefern sich Verfassunggebung im Land in bezug auf die Bindungen, denen die verfassunggebende Gewalt unterliegt, und in bezug auf das Verfahren der Verfassunggebung mit den allgemeinen Regeln der Lehre vom pouvoir constituant deckt oder unterscheidet.

3. Bindungen

a) Landesverfassunggebung

und bundesstaatliche Einbindung

Gerade in bezug auf die Bindungen des Verfassunggebers stellt sich die Ausgangslage in den Gliedstaaten eines Bundesstaates gegenüber der Situation der Verfassunggebung in einem Einheitsstaat oder im Bund insofern anders dar, als von vornherein, jedenfalls aber mit der Entstehung des Bundesstaates, deren bundesstaatliche Einbindung zu berücksichtigen ist. Das Bild von den „Verfassungsräumen" des Bundes und der Länder wird vom Bundesverfassungsgericht selber dadurch relativiert, daß diese nur „grundsätzlich" selbständig nebeneinanderstehen sollen 350 . Ebenfalls in ständiger Rechtsprechung hat das Gericht festgestellt, die Verfassung der Gliedstaaten eines Bundesstaates sei nicht allein in der jeweiligen Landesverfassungsurkunde enthalten; in sie hinein wirkten vielmehr auch Bestimmungen der Bundesverfassung 351. Das Verfassungsrecht eines Landes wird also nicht allein durch das in der Verfassungsurkunde des Landes enthaltene formelle Landesverfassungsrecht, sondern auch durch die hineinwirkenden Bestimmungen des Verfassungsrechts des Gesamtstaates gebildet; beide Elemente zusammen machen danach erst „die Verfassung des Gliedstaates" aus 352 . 348 Vgl. oben 3. Teil III, Kapitel A. 349 So ζ. B. Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 61; Zinn, AÖR 75 (1949), S. 291 (294, 296); dagegen W. Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 253 (259 m.w.N.); Barschel, Staatsqualität, S. 167. 350 BVerfGE 4, 178 (189); 60, 175 (209). Vgl. auch Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 24. 351 BVerfGE 1, 208 (232); 4, 375 (378). Vgl. auch Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 15; Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (11); Kersten, DÖV 1993, S. 896 (897). 352 BVerfGE 1, 208 (232); 27, 44 (55); 66, 107 (114); vgl. auch Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 15; Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (858); Kersten, DÖV 1993, S. 896 (898). Krit. März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 180; zurückhaltend Bethge, AÖR 110 (1985), S. 169 (197).

184

3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Das Hineinwirken von Bundesverfassungsrecht in den Verfassungsraum des Landes kann zum einen in der Weise geschehen, daß Bestimmungen des Grundgesetzes als sogenannte Durchgriffsnormen selbst unmittelbar materielles Landesverfassungsrecht, also Regelungen der Materie „Landesverfassung" enthalten 353 . Zum anderen sichert das Grundgesetz die bundesstaatliche Homogenität durch sogenannte Normativbestimmungen, die die Länder - und damit auch den Landesverfassunggeber 354 - zu einer entsprechenden Gestaltung ihrer Landesverfassungen verpflichten, ohne selbst unmittelbare Geltung in den Ländern zu entfalten 355 . Schließlich wirkt das Grundgesetz auch insofern in den Verfassungsraum der Länder hinein, als die Kompetenzverteilung im Bundesstaat und damit auch der Kompetenzbereich der Landesstaatsgewalt sowie die Kollisionsregeln für das Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsrecht sich unmittelbar aus der Bundesverfassung ergeben 356. Das Hineinwirken von Bestimmungen der Bundesverfassung in den Verfassungsraum des Landes stellt gegenüber den allgemeinen Lehren von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes 357 insofern eine zusätzliche, und zwar eine Bindung Kraft positiven (Bundes-)Verfassungsrechts dar, als die bundesrechtlichen Einwirkungen für den Landesverfassunggeber verbindliche Vorgaben enthalten. Diese Relativierung der Selbständigkeit der Verfassungsräume muß Rückwirkungen 3 5 8 auf die effektive Bedeutung der Begriffe Verfassungshoheit bzw. Verfassungsautonomie der Länder und die Frage nach der Verfassunggebung in den Ländern haben. Dabei kann nicht schon allein die Tatsache, daß der Landesverfassunggeber sich nicht völlig frei von jeder Bindung entscheiden kann, die Anwendung der Lehre vom pouvoir constituant auf die Landesebene ausschließen, wie es von Vertretern der Differenztheorie 359 vertreten wird 3 6 0 . Auch ansonsten kann der pouvoir consti353 Vgl. unten 3. Teil, C.II.3.c)aa) und C.II.3.c)bb); Sachs, ThürVBl. 1993., S. 121; v. Mutius / Friedrich, StWStP 1991, S. 243 (249). Die sog. „Ergänzungslehre", die in bezug auf hinter dem Grundrechtsschutz des Grundgesetzes zurückbleibende Landesgrundrechte eine Ergänzung des Landesgrundrechts durch Art. 142 GG auf den Vollinhalt der grundgesetzlichen Mindestregelung vertrat, wird gerade wegen der zu weitgehenden Durchbrechung der Verfassungsautonomie der Länder abgelehnt; vgl. Sachs, DÖV 1985, S. 469 (473 f. m.w.N.). 354 Vgl. März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 175; Hans v. Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 15. 355 Umfang und Rechtsfolgen beider Formen der Einwirkung sind im Einzelnen heftig umstritten; vgl. ausführlicher dazu unten 3. Teil, C.II.3.c). 356 Vgl. März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 117 f.; Pestalozza, NVwZ 1987, S. 744 (749); Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (865); ders., DÖV 1982, S. 595; Maurer, in: Maurer / Hendler, Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 27 (30); R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 9. 357 Vgl. oben 2. Teil, B.III. 358 Vgl. oben 3. Teil, C.I., wonach das Bild von den getrennten Verfassungsräumen auch auf die Verfassungsentstehung zurückzubeziehen ist.

C. Verfassunggebung in den Ländern

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tuant aus heutiger Sicht gerade nicht - wie früher zum Teil vertreten - als völlig voraussetzungslos und ungebunden gedacht werden 361 . Die Besonderheit gegenüber sonstiger Verfassunggebung besteht vor allem darin, daß der Landesverfassunggeber anders als der pouvoir constituant nach der allgemeinen Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes auch durch positives Recht gebunden ist. Für die Frage nach der Verfassunggebung im Land kann es nicht darauf ankommen, ob es überhaupt eine bundesstaatliche Einbindung des Landesverfassunggebers gibt. Vielmehr kommt es darauf an, wie weit diese Einbindung geht, ob angesichts der bundesverfassungsrechtlichen Bindungen ein substanzieller Bereich landesautonomer Gestaltung verbleibt 362 oder ob der Verfassunggeber im Land in einem solchen Maße bundesrechtlich determiniert ist, daß sich seine Funktion quantitativ oder qualitativ derart von dem unterscheidet, was in Verfassungslehre und Verfassungsrecht als verfassunggebende Gewalt bezeichnet wird, daß die Bezeichnung mit dem gleichen Begriff eher in die Irre führt. Für die Beantwortung der Frage nach der Verfassunggebung in den Ländern ist darum der Umfang der bundesrechtlichen Einwirkungen auf die Landesverfassunggebung und der verbleibende Bereich landesautonomer Gestaltung zu bestimmen. Diese Fragestellung ist nicht identisch mit der nach der Geltung des Landesverfassungsrechts im Verhältnis zum Bundesrecht 363. Die Verfassunggebungsperspektive unterscheidet sich von der Kollisionsperspektive insofern, als aus dem Vorgehen bundesrechtlicher Regelungen nicht ohne weiteres auf die Unzulässigkeit einer derartigen landesverfassungsrechtlichen Normierung geschlossen werden kann. Zu berücksichtigen ist eine Teilmenge landesverfassungsrechtlicher Normen, denen zwar eine aktuelle materielle Rechtswirkung versagt bleibt, die in die Verfassungsurkunde aufzunehmen dem Landesverfassunggeber rechtlich aber dennoch nicht 359 Vgl. dazu oben 3. Teil, C.I. 360 hensee, HStR IV, § 98, Rn. 79. Ähnlich jetzt auch Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121 („Ihre [d.i. der Landesverfassungen; d. Verf.] Entstehung im bereits bestehenden Bundesstaat ist nicht Ausdruck des voraussetzungslosen Wirkens des pouvoir constituant, sondern in vielfältiger Weise in gesamtstaatliche Vorgaben eingebunden."). Auch Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (235), stellt eingangs fest, daß die verfassunggebende Gewalt als „ungebundene politische Entscheidungsgewalt der Nation im Sieyès'schen Sinne" auf die Gliedstaaten eines Bundesstaates nicht zutrifft und darum der Begriff der verfassunggebenden Gewalt „nicht so recht paßt", daß sich sogar fragen lasse, „ob der Begriff ... überhaupt noch paßt" (ebd. Fn. 18); im weiteren Text ist dann aber doch durchgängig von einer „verfassunggebenden Gewalt des Landesvolkes" (ebd. S. 236, 238 f.) die Rede, die durchaus an die Schmittsche bzw. Sieyèssche Omnipotenz-Lehre erinnernde Züge trägt (vgl. ebd. S. 239: „ . . . was die Länder in ihrer Verfassung regeln wollen, können sie - im Rahmen des Art. 28 I GG - regeln. Allein die verfassunggebende Gewalt des Landesvolkes bestimmt, was bedeutsam genug ist, um verfassungsrechtlich geregelt zu werden."). 361 Vgl. hierzu im Einzelnen oben 2. Teil, B.III. 362 Vgl. die ähnliche Ausgangsfrage bei Wahl, AÖR 112 (1987), S. 26 (28), sowie die Analyse des realen Gehalts der Staatsqualität der Länder bei März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 174 ff. 363 Vgl. Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 35; Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (238).

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

verwehrt ist 3 6 4 . Unter dem Aspekt der Bundestreue zweifelhaft wäre die Befugnis zur Verfassunggebung insofern, als ein Land Verfassungsrecht setzen wollte, das aufgrund der bundestaatlichen Kollisionsregeln des Grundgesetzes von vornherein nichtig wäre 365 . Insofern würde sich die Lage bei den vor-grundgesetzlichen Landesverfassungen also wesentlich von der bei den nach-grundgesetzlichen Verfassungen in den alten und neuen Bundesländern unterscheiden. Bei den vor-grundgesetzlichen Landesverfassungen tritt die Frage nach der Zulässigkeit der Verfassunggebung gänzlich gegenüber der Kollisionsfrage in den Hintergrund. Bei den nach-grundgesetzlichen hängt die Zulässigkeitsfrage wesentlich von den Kollisionsfolgen ab. Aus bundesstaatlicher Sicht stellt sich die Lage also anders dar, je nachdem, ob nur das textuale Forttragen nichtiger Normen in den Verfassungsurkunden der Länder hingenommen wird oder ob gezielt Normen, die aus föderativen Gründen nichtig sind, in die Landesverfassungen aufgenommen werden. Einerseits könnte schon gefragt werden, ob angesichts der klaren Nichtigkeitsfolge das Land eine solche Norm nicht setzen darf oder ob es nicht umgekehrt gerade deshalb, weil wegen der klaren Kollisionsfolgen Probleme gar nicht erst entstehen können, daran gar nicht gehindert zu werden braucht. Andererseits würde sich der Bereich bundesstaatlich legitimer Landesverfassunggebung erweitern, wenn das Landesverfassungsrecht im Falle eines Zusammentreffens mit Bundesrecht nicht zwangsläufig nichtig wäre, sondern als „Reserve-Norm" keine aktuell materielle Bedeutung oder als parallel weitergeltende Norm wenigstens eine verfassungsprozessuale Bedeutung hätte. Für die Frage, ob ein Land auch nachträglich noch Verfassungsrecht setzen darf, das sich wegen entgegenstehenden Bundesrechts nicht durchsetzt, ist es darum wichtig zu klären, was im Einzelfall mit kollidierenden Landesverfassungsnormen geschieht. Die Frage nach den Konkurrenzen und Kollisionsfolgen ist damit Vorfrage für die nach Bedeutung und Umfang der Verfassungsautonomie bzw. -hoheit des Landes und der Annahme einer verfassunggebenden Gewalt im Land.

b) Das Regelungsmodell des Grundgesetzes Das Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsrecht ist im Grundgesetz nicht systematisch und zusammenhängend, sondern an verschiedenen Stellen ausschnitthaft und für verschiedene Normgruppen unterschiedlich geregelt. Zu beachten sind insofern insbesondere die Artikel 1 Abs. 3, 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. 20 Abs. 1 und 2, 28 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, 31, 70 ff. und 30 sowie Art. 142 GG. Dabei sind Anwendungsbereich und Rechts Wirkungen der Normen, 364 Vgl. unten 3. Teil, C.II.3.c)cc) und d). 365 Ebenso Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (239), die zur Begründung auch den (zivilistischen) dolo agit-Grundsatz anführt. Vgl. zum Gebot bundesfreundlichen Verhaltens in diesem Zusammenhang auch Jutzi, Landesverfassungsrecht, S. 22, 36.

C. Verfassunggebung in den Ländern

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zum Teil auch die Frage, ob ihnen überhaupt eine aktuelle normative Bedeutung zukommt, im Einzelnen heftig umstritten. Einzelne Regelungen erklären sich vor allem als Reaktion der an der Verfassunggebung von 1949 Beteiligten auf vorangegangene wissenschaftliche Kontroversen insbesondere der Weimarer Zeit. Das Verständnis des Regelungsmodells des Grundgesetzes - und damit die Antwort auf die Frage nach dem effektiven Gestaltungsspielraum des Landesverfassunggebers - wird zudem dadurch erschwert, daß es grundlegenden Revisionen in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung ausgesetzt war 3 6 6 und erst seit den siebziger Jahren zunehmend systematisch durchdrungen wird, ohne daß es bis heute als abschließend geklärt gelten könnte 367 . Dabei geht es vor allem um Wirkung und Verhältnis von Art. 142, 31 und 28 Abs. 1 GG sowie den Kompetenznormen (Art. 70 ff.).

aa) Art. 142 und Art. 31 GG Umstritten und von Perspektivwechseln der Rechtswissenschaft betroffen war zum einen der Artikel 142 GG. Innerhalb der Übergangs- und Schlußbestimmungen im XI. Teil piaziert, ordnet er das Inkraftbleiben von Bestimmungen der Landesverfassungen „auch insoweit" an, als diese „in Übereinstimmung mit den Artikeln 1 bis 18 dieses Grundgesetzes Grundrechte gewährleisten", und zwar „ungeachtet der Vorschrift des Artikels 31". Seine Entstehung verdankt er der im Parlamentarischen Rat bestehenden Unsicherheit über die rechtliche Wirkung des Artikels 31 GG 3 6 8 . Zum Teil wurde angenommen, Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht") würde entsprechend der zu seiner Vorläuferbestimmung, dem Artikel 13 Abs. 1 WRV 3 6 9 , vertretenen vorherrschenden Ansicht auch inhaltsgleiches Landesverfassungsrecht brechen 370 . Diese Rechtsfolge sollte - insoweit jedenfalls bestand Konsens - insbesondere in Hinblick auf die zum damaligen Zeitpunkt in vor-grundgesetzlichen Verfassungen von Bayern und Hessen zur Durchsetzung der dortigen Grundrechte, nicht aber im 366 Vgl. insbes. März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 85 - 97; v. Mutius, Verw.A. 66 (1975), S. 161 (162). 367 Ebenso Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (31); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 86; v. Mutius, Verw.A. 66 (1975), S. 161 (168). 368 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 193; Dietlein, Jura 1994, S. 57 (58). 369 Vgl. hierzu März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 68 ff., 114; v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 110 ff. 370 So insbes. der Abg. v. Brentano, zit. BVerfGE 36, 342 (347); v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Art. 31, Anm. IV.3.C (S. 771) m.w.N.; Füßlein, in: Seifert / Hömig, GGKomm., Art. 31, Rn. 3. Vgl. dazu Sachs, DÖV 1985, S. 469 (470); v. Münch, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 142, Rn. 1. Zu dem traditionellen Streit über die Außerkraftsetzung gleichlautenden Landesrechts und zu der „unitarischen" sowie der „föderalistischen" Auslegung vgl. E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (123, m.w.N. in Fn. 17 und 18); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 111 ff., 193 f.

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Bund nach der ursprünglichen Fassung371 des Grundgesetzes bestehenden Rechtsschutzform der Verfassungsbeschwerde vermieden werden 372 . Umgekehrt konnte diese Vorschrift dann wieder zum Ansatzpunkt eines systematischen Arguments zur Auslegung des Art. 31 GG werden: Wenn das Grundgesetz speziell im Grundrechtsbereich eine Ausnahmeregelung von Art. 31 GG für übereinstimmendes Landesrecht trifft, dann muß es - so der Umkehrschluß - die regelmäßige Rechtswirkung des Art. 31 GG sein, daß ansonsten auch inhaltsgleiches Landesrecht vernichtet wird 3 7 3 . Diese Ansicht konnte sich zudem entstehungsgeschichtlich auf die Berichterstattung des Abgeordneten v. Brentano im Parlamentarischen Rat stützen 374 . Das Bundesverfassungsgericht ist dem 1974 in seiner für das Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsrecht grundlegenden 375 Entscheidung zum Niedersächsischen Landesbesoldungsgesetz nicht gefolgt 376 . Es war zu dem Ergebnis gelangt, daß jedenfalls mit Bundesverfassungsrecht inhaltsgleiches Landesverfassungsrecht auch außerhalb des Grundrechtsbereichs nicht nach Art. 31 GG gebrochen wird 3 7 7 . Vorangegangene Diskussionen, ob grundrechtsgleiche Rechte, soziale Grundrechte, institutionelle Garantien in den Art. 1 bis 18 und Garantien in Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 - 139, 141 WRV unter Art. 142 GG fallen 378 , haben 371

Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG wurde eingefügt durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29. 1. 1969, BGBl. I S. 97. Auf Bundesebene wurde die Verfassungsbeschwerde zuerst auf einfachgesetzlicher Grundlage im Bundesverfassungsgerichtsgesetz von 1951 eingeführt. 37 2 Vgl. E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (120, m.w.N. Fn. 1); v. Münch, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 142, Rn. 1; Dietlein, Jura 1994, S. 57 (58). Ebenso auch die Äußerung des Bundesministers des Innern für die Bundesregierung im Verfahren zum Niedersächsischen Landesbesoldungsgesetz, wiedergegeben in BVerfGE 36, 342 (351). 373 Vgl. die Argumentation sowohl im Vorlagebeschluß des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, als auch in der Äußerung des Bundesministers des Innern für die Bundesregierung in BVerfGE 36, 342 (348, 351 f.); v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Art. 31, Anm. IV.3.C (S. 771); wohl auch Füßlein, in: Seifert / Hornig, GG, Art. 31, Rn. 3. Dagegen: Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm, Art. 142, Rn. 10. Vgl. ferner März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 93, 115 und 194, zur unitarischen (an das Wort „ungeachtet" anknüpfenden) und zur föderalistischen (an die Worte „auch insoweit" anknüpfenden) Auslegung des Art. 142 GG; Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 38; Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 26 f. 374

Bericht Abg. v. Brentano über die Beratungen des Fünfer-Ausschusses, 51. Sitzung des Hauptausschusses vom 11. 2. 1949 (Sten. Ber. S. 673); Bericht des Abg. v. Brentano an das Plenum des Parlamentarischen Rates zum XI. Abschnitt des GG (Anlage zum Sten. Ber. über die 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates, S. 78). 375 Vgl. März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 96, 85, der von „der ersten und letzten grundlegenden Entscheidung" des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 31 GG spricht. Vgl. auch v. Mutius, Verw.A. 66 (1975), S. 161 ff.; ; Gubelt, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 31, Rn. 14; Sachs, DÖV 1985, S. 469. 37 6 BVerfGE 36, 342; vgl. dazu auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 93 ff.; Bothe, in: Alt.Komm. GG, Art. 31, Rn. 20; Jutzi, Landesverfassungsrecht, S. 18. 377

BVerfGE 36, 342 (343 [Leitsatz 5], 366).

C. Verfassunggebung in den Ländern

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damit an Brisanz verloren, weil - jedenfalls auf der Stufe des Verfassungsrechts inhaltsgleiche landesrechtliche Vorschriften unabhängig von Art. 142 GG in Kraft bleiben. Zugleich hatte das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß damit ein anderes Licht auf die Bedeutung des Art. 142 geworfen würde, als in der bisherigen Deutung dieser Vorschrift 379 . Nach Ansicht des Gerichts schränkt Art. 142 GG den Art. 31 GG nur insofern ein, als er für einen besonders wichtigen Teilbereich von Verfassungsnormen bestimmt, daß diese nicht dem Anwendungsbereich des Art. 31 GG unterfallen 380 . Damit ist allerdings nicht der - seitdem häufig in der verfassungsrechtlichen Literatur anzutreffende - Schluß gezogen, weil Art. 142 GG nur eine ohnehin auch aus der allgemeinen Regel des Art. 31 GG folgende Rechtsfolge anordne, sei er eigentlich redundant 381, überflüssig 382, bedeutungslos383 oder obsolet 384 . Solange sich keine anderen Rechtsfolgen ergeben, kann diese Streitfrage aus der Sicht der hier untersuchten Frage nach der Verfassunggebung im Land an sich dahingestellt bleiben. Angesichts der an den Wortlaut des Art. 142 GG anknüpfenden differenzierten Kasuistik zur Fortgeltung von Landesgrundrechten 385, die insbesondere auch in der Kommentarliteratur durchweg im Zusammenhang mit Art. 142 GG erörtert werden 386 , vermag es allerdings nicht zu überzeugen, eine Norm des Grund378 Vgl. ζ. B. E.-W. Böckenförde /Grawert, DÖV 1971, S. 119 (120). 379 BVerfGE 36, 342 (362). 380 BVerfGE 36, 342 (362 f.); vgl. dazu auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 94; Denninger, in: Alt.Komm. GG, Art. 142, Rn. 5. 381 Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (237); Sachs, DÖV 1985, S. 469 (471). 382 Sachs, DÖV 1985, S. 469 (471); v. Münch, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 142, Rn. 11; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 193, 195, der insofern von einer „heute überwiegenden Meinung seit BVerfGE 36, 342" spricht (ebd. Fn. 390); Art. 142 GG entfalte eine eigenständige Bedeutung (nur) insoweit, als er das Nebeneinander von Bundes- und Landesgrundrechten auf Kompetenzebene zulasse und ihnen im Spektrum der Verfassungsnormtypen einen besonderen Platz zuweise (ebd. S. 195); Kollisionen seien im unmittelbaren Rückgriff auf Art. 31 GG zu lösen (ebd. S. 197). 383 Sachs, DÖV 1985, S. 469 (470, 471 [„gegenstandslos"] m.w.N. Fn. 26); ähnlich auch Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 43 („aus heutiger Sicht lediglich klarstellende Bedeutung"). 384 Sachs, DÖV 1985, S. 469 (469, 479) spricht als Konsequenz der bundesverfassungsgerichtlichen Deutung des Art. 31 GG von Art. 142 GG als einer „obsoleten Klarstellung". Vgl. jetzt auch ders., ThürVBl. 1993, S. 121 (124), wonach Art. 142 GG seit BVerfGE 36, 342 „auf eine lediglich deklaratorische Bedeutung reduziert" sei. Ähnlich auch Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 43. 385 Insbesondere wird zur Begründung des Inkraftbleibens von gegenüber dem Grundrechtsschutz des GG weitergehenden Landesgrundrechten auf den Wortlaut des Art. 142 GG („bleiben auch insoweit in Kraft") verwiesen, vgl. ζ. B. E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (120); v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 117, Fn. 43 m.w.N., Sachs, DÖV 1985, S. 469 (478, 472 m.w.N. Fn. 28). 386 Vgl. ζ. Β. v. Campenhausen, in: v. Mangoldt / Klein / v. Campenhausen, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 14, Art. 142, Rn. 6 ff.; Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG-Komm., Art. 142; v. Münch, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 142, Rn. 4 ff.; Denninger, in: Alt.Komm. GG, Art. 142, Rn. 3 ff.; E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (120 f.); Maunz, in:

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

gesetzes nicht mehr anzuwenden, weil sie dem Interpreten unter systematischen Aspekten als funktionslos erscheint. Die Entscheidung BVerfGE 36, 342 weist jedenfalls nicht diesen Weg. Nach der hier vertretenen Ansicht ist Art. 142 GG nach wie vor als lex specialis im Grundrechtsbereich anzusehen387.

bb) Art. 31 GG und Kompetenznormen In einer anderen Streitfrage zum grundlegenden Verständnis des Regelungsmodells des Grundgesetzes in bezug auf das Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsrecht enthält das Urteil im 36. Band der Entscheidungssammlung implizit eine wichtige Festlegung des Bundesverfassungsgerichts. Seit der Frühphase der Grundgesetzauslegung läßt sich eine Kontroverse über die Bedeutung des Art. 31 GG im Verhältnis zu den Kompetenznormen verfolgen, die zunächst von Maunz und Friedrich Klein 3 8 8 in den von ihnen mitherausgegebenen Grundgesetz-Kommentaren ausgetragen wurde und in der sich neben der eher theoretisch-konstruktiven Differenz „grundlegende Unterschiede in der Auffassung der beiden Autoren über das Verhältnis zwischen Bund und Ländern" offenbarten 389. Da das Grundgesetz keine kumulativ konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten kenne, könne es - so die Position von v. Mangoldt / Klein - zu keiner Normenkollision im föderativen Verhältnis kommen, weil immer eine der Normen schon wegen mangelnder verbandsmäßiger Kompetenz des Bundes oder des Landes nichtig und damit kein tauglicher Gegenstand einer Kollision sei 3 9 0 . Damit

Maunz / Dürig, GG-Komm, Art. 142, Rn. 5 ff.; ders., ebd., Art. 31, Rn. 14 sieht die eigentliche Bedeutung des Art. 142 GG darin, daß er über Art. 31 GG hinaus zugunsten des Bürgers ein „grundrechtliches Mehr" zuläßt; vgl. auch Sachs, DÖV 1985, S. 469 (471). A.A. März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 197 f., der diese Konstellationen unter Rückgriff auf Art. 31 GG lösen will; Gallwas, JA 1981, S. 536 (538), der auf Art. 28 Abs. 1 GG zurückgreift. 387 Ebenso v. Mutius, Verw.A. 66 (1975), S. 161 (167 m.w.N. Fn. 30); Jutzi, DÖV 1983, S. 836 (837); E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (120) [allerdings aus der Zeit vor BVerfGE 36, 342]; v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 128; Krause, Jus 1975, S. 160 (162); v. Münch, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 142, Rn. 2; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG-Komm., Art. 31, Rn. 1; Dietlein, Jura 1994, S. 57 (58); ders., Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 27 f. Ebenso wohl auch Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.7.C (S. 720) und III.7.e (S. 722); Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 21; Grimm, in: Grimm / Papier, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (2); Maurer, in: Maurer / Hendler, Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 27 (31 f.). 388 y. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Art. 31, Anm. III (S. 758). 389 Vgl. zum Überblick über die Positionen und die impliziten Bundesstaats-Verständnisse Barbey, Bundesrecht bricht Landesrecht - Eine Betrachtung zu den Kommentierungen des Art. 31 GG in den Kommentaren von v. Marigoldt-Klein und Maunz-Dürig, DÖV 1960, S. 566 ff. (aus der Sicht Kleins); dagegen Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 31, Rn. 21; vgl. auch Herzog, DÖV 1962, S. 81 (87).

C. Verfassunggebung in den Ländern

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war neben Art. 142 GG die zweite für das Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsrecht auf den ersten Blick zentrale Vorschrift des Grundgesetzes in den Verdacht der Bedeutungslosigkeit geraten 391 . Maunz hat demgegenüber die konstitutive Bedeutung des Art. 31 GG im bundesstaatlichen Rechtssystem des Grundgesetzes vertreten . Die grundlegende Differenz beider Positionen - insbesondere auch unter der Fragestellung, was sie für den Gestaltungsbereich des Landesverfassunggebers und die Bedeutung einer verfassunggebenden Gewalt im Land bedeuten - liegt darin, daß die Behauptung der konstitutiven Bedeutung des Art. 31 GG die Möglichkeit echter Kollisionen von kompetenzmäßig gesetztem Bundes- und Landesrecht voraussetzt, oder umgekehrt ausgedrückt, daß dann, wenn den Ländern eine grundsätzlich gleichwertige legislatorische Zuständigkeit 393 zugesprochen werden soll, die bundesstaatliche Kollisionsbestimmung des Art. 31 GG bedeutsam wird. Auf der anderen Seite impliziert die Position, die Art. 31 GG für weitgehend bedeutungslos hält, eine umfassende Kollisionsvermeidung durch ein perfektioniertes Regelungssystem, das dem - eigentlich einheitsstaatlichen394 - Ideal der einen, durchgehenden Rechtsordnung entspricht, die niemals zwei Trägern staatlicher Gewalt die Kompetenz zur Regelung eines Sachbereichs zuerkennt. Damit ergibt sich die - auf den ersten Blick paradoxe - Argumentationssituation, daß die eher unitarische Sicht den Satz „Bundesrecht bricht Landesrecht" für funktionslos halten muß, während die Föderalisten Wert darauf legen müssen, darzulegen, daß Landesrecht in möglichst vielen Konstellationen „gebrochen" wird, das heißt, nicht schon von vornherein mangels Kompetenz nichtig, sondern tauglicher Gegenstand einer wirklichen Kollision ist. Die Betonung der Bedeutung des Art. 31 GG korrespondiert also mit der Annahme umfassenderer Regelungsbefugnisse der Gliedstaaten. Durchgesetzt hat sich heute die Einsicht, daß die Kompetenzfrage der Frage nach der Regelung von Kollisionen vorausliegt 395 . Daß nur kompetenzmäßiges 390 v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Art. 31, Anm. III.2 (S. 758); Barbey , DÖV 1960, S. 566 (569, 574); vgl. dazu auch E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (123); Gubelt, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 31, Rn. 16; Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (863); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 169 f.; Kasper, Der Staat 31 (1992), S. 136 (138); Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 26, 31. 391 Vgl. Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 26; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 205. 392 Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 31, Rn. 21 f.; ebenso auch ders., in: Maunz / Obermayer / Berg / Knemeyer, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, S. 17 (25). 393 Vgl. Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 31, Rn. 21 (unter lit. a). 394 Vgl. Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 31, Rn. 1. 395 E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (122); v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Art. 31, Anm. III. 1 (S. 758); v. Mutius, Verw.A. 66 (1975), S. 161 (164 f.); Krause, Jus 1975, S. 160 (162, 164); Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (863); ders., ThürVBl. 1993, S. 121 (123); Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 26; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG-Komm., Art. 31, Rn. 3; Bothe, in: Alt.Komm. GG, Art. 31, Rn. 8, 10.

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Bundesrecht Landesrecht nach Art. 31 GG brechen kann, soll nicht durch diese Vorschrift die gesamte bundesstaatliche Kompetenzordnung - und damit die Stellung der Gliedstaaten i m Bundesstaat - ausgehebelt werden, dürfte unumstritten s e i n 3 9 6 . A u f der anderen Seite kann aber auch kompetenzwidrig gesetztes Landesrecht nicht erst durch Art. 31 GG gebrochen werden, da es von vornherein keinen tauglichen Gegenstand einer Normenkollision darstellt, sondern mangels Kompetenz ex tunc nichtig i s t 3 9 7 . Das Bundesverfassungsgericht hat - insofern in Übereinstimmung mit der heute ganz überwiegenden Ansicht in der L i t e r a t u r 3 9 8 mehrfach klargestellt, daß Art. 31 GG eine Vorschrift ist, die Normenkollisionen lösen s o l l 3 9 9 , und daß dort, wo der Landesgesetzgeber bereits inkompetent ist, eine Vorschrift zu erlassen, diese unabhängig von ihrem Inhalt nichtig ist, so daß sie nicht erst gemäß Art. 31 GG gebrochen werden m u ß 4 0 0 . Die gegenläufige These von M a u n z 4 0 1 , auch das nicht der Kompetenzverteilung der Art. 70 ff. GG entsprechende Landesrecht müsse durch Art. 31 GG gebrochen werden 4 0 2 , beruhte auf der extrem föderalistischen 403 Annahme, die Art. 70 ff. GG 396 Vgl. ζ. B. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.7.e (S. 721); Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 31, Rn. 15, 20; ders., HStR IV, § 94, Rn. 15; ders., Deutsches Staatsrecht, S. 144; v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Art. 31, Anm. III.2 (S. 758) m.w.N.; E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (122); Krause, Jus 1975, S. 160 (162); Bothe, in: Alt.Komm. GG, Art. 31, Rn. 9. 397 Vgl. BVerfGE 36, 342 (364); v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Art. 31, Anm. III.2. (S. 758); Krause, Jus 1975, S. 160 (162); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 195; Bothe, in: Alt.Komm. GG, Art. 31, Rn. 10; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG-Komm., Art. 31, Rn. 5. 398 Vgl. ζ. Β. v. Mutius, Verw.A. 66 (1975), S. 161 (164 m.w.N.); Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.7.e (S. 721); K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 90; Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 32; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG-Komm., Art. 31, Rn. 4; Gubelt, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 31, Rn. 1; Bothe, in: Alt.Komm. GG, Art. 31, Rn. 1; Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 26; Sachs, DÖV 1985, S. 469 (470); ders., DVB1. 1987, S. 857 (862); ders., ThürVBl. 1993, S. 121 (124); Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 45; Jutzi, Landesverfassungsrecht, S. 16 f., 19 ff. (Fn. 31); Schwabe, in: Hoffmann-Riem / Koch, Hamb. Staats- und Verwaltungsrecht, S. 31 (38); Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (30); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 195. 399 BVerfGE 26, 116 (135); 36, 342 (363). 400 BVerfGE 36, 342 (364); 61, 149 (208); 67, 299 (328); 77, 288 (289, 308); 78, 132 (144 f.); anders BVerfGE 51, 77 (90); 66, 291 (302, 310), wo im Bereich der Rahmengesetzgebung des Bundes bei fehlender Kompetenz die Nichtigkeitsfolge auf Art. 31 GG gestützt wird. 401 Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 31, Rn. 21; ders., in: Maunz/Obermayer / Berg / Knemeyer, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, S. 17 (25); vgl. dazu auch Barbey, DÖV 1960, S. 566 (569). 402 Andeutungen in diese Richtung finden sich auch in der frühen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in der die Nichtigkeitsfolge bei Kompetenzmangel des Landes mit Art. 31 GG in Verbindung gebracht wurde; vgl. BVerfGE 1, 283; 8, 229; 9, 153 (157); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 88. 403 Die Lehre von der doppelten Gesetzgebungsgewalt geht auf die Seydel-Schule (dazu oben 3. Teil, Kapitel A) zurück, vgl. März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 114, 118.

C. Verfassunggebung in den Ländern

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würden angesichts der aus der Eigenstaatlichkeit folgenden Allzuständigkeit der Länder selbst im Bereich der einfachen Gesetzgebung nicht die verbandsmäßige Kompetenz der Länder determinieren, vielmehr wären die Kompetenzregeln der Bundesverfassung erst aufgrund des Art. 31 GG übergeordnet 404. Sie hat sich nicht durchsetzen können. Unter der hier untersuchten, speziell auf das Verfassungsrecht der Länder bezogenen Frage kann dahingestellt bleiben, ob man zumindest in der Konstellation, daß der Bund nachträglich von einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz auf einem Gebiet Gebrauch macht, das zuvor gemäß Art. 72 Abs. 1 GG die Länder geregelt hatten, die rechtsvernichtende Aufhebungswirkung gegenüber dem ursprünglich ja durchaus kompetenzgerecht gesetzten Landesrecht auf Art. 31 GG stützt 405 , oder auch hier aus der Kompetenzvorschrift selbst herleitet 4 0 6 . Denn in bezug auf den Bereich des Landesverfassungsrechts, auf den auch Maunz zum Nachweis der Bedeutung des Art. 31 GG hingewiesen hat 4 0 7 , schränken auch diejenigen, welche ansonsten die umfassende Funktionslosigkeit des Art. 31 GG annehmen, ihre These ausdrücklich ein 4 0 8 . Damit wird vorausgesetzt, daß es jedenfalls auf Verfassungsebene kumulativ konkurrierende Zuständigkeiten von Bund und Ländern gibt. Auch das Bundesverfassungsgericht, das in der Entscheidung zum Niedersächsischen Landesbesoldungsgesetz ausdrücklich den Vorrang der Kompetenzfrage vor der Kollisionsfrage festgestellt hatte 409 , erörtert anschließend differenzierte Kollisionsfolgen in bezug auf mit Bundesrecht übereinstimmendes Landesverfassungsrecht 410 und setzt damit voraus, daß es jedenfalls in 404 Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm. Art. 31, Rn. 21, 1. Das Dilemma, daß, wenn man die Bindungswirkung der Kompetenznormen des Grundgesetzes für die Länder in Frage stellt, auch die Verbindlichkeit von Art. 31 GG problematisch wird, hat zu der ebenfalls von extrem föderalistischen Grundannahmen ausgehenden Theorie des Hoheitsverzichts von Herzog (DÖV 1962, S. 81 [87]) geführt, die oben (3. Teil, Kapitel A) abgelehnt wurde, weil sie nicht den Bedingungen des Staates des Grundgesetzes entspricht. 4 05 So E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (123); Bothe, in: Alt.Komm. GG, Art. 31, Rn. 12; in diesem Sinne auch BVerfGE 29, 11 (17). 4 06 So v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Art. 31, Anm. III.5.b (S. 761), III.9.b (S. 765 f.); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 91, 146 ff.; Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 27; Gubelt, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 31, Rn. 17. 4

07 Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 31, Rn. 21 (lit. b). Vgl. auch Füßlein, in: Seifert / Hömig, GG-Komm., Art. 31, Rn. 2; Gubelt, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 31, Rn. 2. 408

Nach F. Klein (in: v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Art. 31, Anm. III. 10 [S. 766], III.4 [S. 759]) sollen die Art. 70 ff. GG nur ranggleiches unterverfassungsrechtliches Bundes- oder Landesrecht aufheben und ansonsten, also insbesondere bei der Aufhebung von Landesverfassungsrecht, Art. 31 GG konstitutive Bedeutung haben (vgl. dazu auch E.W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 [123, Fn. 16], Barbey, DÖV 1960, S. 566 [568]). Vgl. auch Barbey, DÖV 1960, S. 566 (575 a.E.); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 170 f.; Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 30. 4 09 BVerfGE 36, 342 (364). 4

10 BVerfGE 36, 342 (365 f.).

13 Boehl

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

bezug auf das Landesverfassungsrecht einen Bereich geben muß, dessen Verhältnis zum Bundesrecht nicht schon vorrangig durch die Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes abschließend geregelt ist 4 1 1 . Das Bundesverfassungsgericht hat zugleich darauf hingewiesen, daß der Vergleich der Verfassung eines Landes mit der Bundesverfassung „eine Stufe höher" stattfindet, als der Vergleich einfacher Landesgesetze412 und damit an die besondere Qualität der Materie Verfassungsrecht erinnert. Gerade im Verfassungsbereich, wo sich ja wenigstens grundsätzlich selbständige Verfassungsräume von Bund und Ländern gegenüberstehen sollen 413 , wäre es aus bundesstaatlicher Sicht auch problematisch, durch eine perfektionierte Kompetenzabgrenzung 414 im Vorhinein jede Kollision auszuschließen und damit eine einheitliche Verfassungsrechtsordnung des Bundesstaates zu schaffen, die dem eigentlich einheitsstaatlichen Ideal einer durchkonstruierten Rechtsordnung entspräche. Dementsprechend verläuft die aktuelle bundesstaatsrechtliche Frontlinie zwischen Tendenzen zu einer Ausdehnung der These von der umfassenden Funktionslosigkeit des Art. 31 GG auch auf den Verfassungsbereich 415 einerseits und der Behauptung umfassender Kompetenzen der Länder zur Regelung auf der Ebene der Landesverfassung 416 andererseits. Je weiter die Kollisionsregel durch trennscharfe Kompetenzabgrenzung erübrigt wird, desto weitergehend sind Verfassungsregelungen auf Landesebene schon ex tunc nichtig und unter dem Gesichtspunkt der Bundestreue problematisch; je weitergehend die Länder zu Regelung auf Verfassungsebene befugt sind, desto eher gleicht ihre Verfassungshoheit dem, was gemeinhin unter verfassunggebender Gewalt verstanden wird. Während nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts Art. 31 GG im Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsrecht damit also grundsätzlich eingreift, soll mit Bundesrecht übereinstimmendes Landesverfassungsrecht auch außerhalb des 411

Vgl. auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 94 f., für den - von seinem Ausgangspunkt der umfassenden Kollisionsvermeidung durch Kompetenzregelung aus konsequent - die Ausführungen in BVerfGE 36, 342 „überraschend" und „unerfindlich" bleiben. 412 BVerfGE 36, 342 (364). 413 Vgl. oben 3. Teil, C.II.l. (Fn. 262 m.w.N.). 414 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 169, spricht - in bezug auf den einfachgesetzlichen Bereich - von einer „selbstregulierenden Geschlossenheit" der Kompetenzordnung im VII. Abschnitt des GG. 415 So neuerdings insbesondere März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 205 (zu dessen explizit unitaristischen Bundesstaatsverständnis vgl. ebd. S. 174); dazu Kasper, Der Staat 31 (1992), S. 136 (138); in diese Richtung tendierend wohl auch Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 30 (einerseits zwar „echte Doppelkompetenzen", andererseits bedürfe es zur Auflösung der Kollision nicht des Art. 31 GG, vielmehr soll sich der Vorrang des Grundgesetzes unmittelbar aus Art. 28 Abs. 1, Art. 20 GG „und insgesamt aus dem Sinn der bundesstaatlichen Verfassung" ergeben); Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121 (123), der den Grundsatz, daß das GG keine Doppelgesetzgebungszuständigkeiten kennt, in bezug auf die „Landeskompetenz für die Landesverfassung" ins Spiel bringt. 416 Vgl. unten 3. Teil, C.II.3.c) (Fn. 518 und 585).

C. Verfassunggebung in den Ländern

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Bereichs des Art. 142 GG rechtswirksam bleiben und auch rechtswirksam erlassen werden können 417 . Das Gericht stützt dieses Ergebnis vor allem auf eine systematische Interpretation des Art. 31 GG nach dem Prinzip der Einheit der Verfassung 418. Art. 31 GG könne keine Wirkung auf ein Problem haben, das durch Art. 28 Abs. 1 und 2 GG gelöst sei 4 1 9 . Nach Art. 28 GG seien die Länder aber gerade frei in der Ausgestaltung ihrer Verfassungen, soweit nicht das in Art. 28 Abs. 1 und 2 GG festgelegte Mindestmaß an Homogenität oder in anderen Bestimmungen des Grundgesetzes enthaltene Vorschriften für die Verfassungen der Länder mißachtet werden 420 . Art. 28 GG ist somit nicht nur bundesstaatliche Homogenitätsbestimmung, sondern auf der anderen Seite auch Garantienorm für die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten421. „Durch Art. 31 GG ,gebrochen' kann darnach nur Landesverfassungsrecht werden, das inhaltlich mit dem Bundesverfassungsrecht unvereinbar ist" 4 2 2 . Ist es schon formell mit der Kompetenzordnung unvereinbar, so ist es mangels Kompetenz nichtig 423 und braucht nicht erst gebrochen zu werden. Ist es kompetenziell nicht zu beanstanden und stimmt inhaltlich mit dem Grundgesetz überein, können beide Normen als nebeneinander bestehend anerkannt, „parallel laufen" gelassen werden 424 . Als Motiv für diese Lösung nennt das Bundesverfassungsgericht den „Respekt vor einer Landesverfassung" im Bundesstaat425, der dazu führt, daß kein Land „eine Amputation von Staatsfundamentalnormen durch den Gesamtstaat" mit der Folge, daß seine Verfassung in Wahrheit ein Verfassungstorso wird 4 2 6 , soll hinnehmen müssen und die Verfassungen der Länder so weit wie möglich „unangetastet" bleiben 427 .

417 BVerfGE S. 161. 418 BVerfGE 419 BVerfGE 420 BVerfGE

36, 342 (343 [Leitsatz 5], 367); vgl. auch v. Mutius, Verw.A. 66 (1975), 36, 342 (362); vgl. dazu auch v. Mutius, Verw.A. 66 (1975), S. 161 (162). 36, 342 (362). 36, 342 (361); vgl. auch Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (30).

421 Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (28, 55 [Nr. 3.4]); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 187; ähnlich auch v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 134, 157; Kersten, DÖV 1993, S. 896 m.w.N. (Fn. 13). 422 BVerfGE 36, 342 (366). 423 Ebenso i.E. bereits BVerfGE 29, 11 (17) [dort allerdings noch mit Erwähnug von Art. 31 GG]; 31, 141 (145). 424 BVerfGE 36, 342 (366). 425 BVerfGE 36, 342 (366). 426 BVerfGE 36, 342 (361). 427 BVerfGE 36, 342 (368). 1

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

cc) Zusammenfassung Das Regelungssystem des Grundgesetzes für das Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsrecht läßt sich im Lichte der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts danach wie folgt charakterisieren: Erstens: Die Frage nach der verbandsmäßigen Kompetenz ist gegenüber den Fragen der Konkurrenz und möglicher Kollisionsfolgen vorrangig. Unabhängig von der Frage inhaltlicher Übereinstimmung oder Differenz sind kompetenzwidrig erlassene Normen nichtig 428 . Die föderale Kompetenzzuordnung ergibt sich aus der Bundesverfassung. Zweitens: Bei der Bestimmung über die Landesverfassung ist das Land frei, soweit es sich im Rahmen der Homogenitätsbestimmungen des Art. 28 GG und anderer, auf den Landesbereich durchgreifender Bestimmungen des Grundgesetzes hält. Es darf für den eigenen Bereich auch vom Grundgesetz abweichende Regelungen treffen. Mit Bundesverfassungsrecht übereinstimmende landesverfassungsrechtliche Regelungen können nicht durch Art. 31 GG gebrochen werden. Drittens: Für den Grundrechtsbereich enthält Art. 142 GG eine Spezialregelung. Viertens: Art. 31 GG sichert als KollisionsVorschrift im Fall einer Normenkollision kompetenzmäßiger Bestimmungen des Bundes und eines Landes den Vorrang des Bundesrechts.

c) Der Bereich landesautonomer Gestaltung Zu klären bleiben danach die Auswirkungen des so verstandenen Regelungssystems des Grundgesetzes auf den Verfassungsraum der Länder und der sich daraus ergebende Bereich tatsächlich landesautonomer Gestaltung sowie der Umfang der Bindung des Landesverfassunggebers. Während gewöhnlich die Auswirkungen der bundesstaatlichen Einbindung für das Verfassungsrecht des Landes zusammenhängend - und dann in der Regel mit Schwergewicht auf den Grundrechtsfragen - behandelt wird, sollen hier, weil für einzelne Bereiche besondere Erwägungen angestellt werden und spezielle Regelungen bestehen, die wesentlichen Normgruppen 4 2 9 des Landesverfassungsrechts getrennt untersucht werden. Dabei sind jeweils zunächst die Kompetenzverhältnisse und anschließend die Kollisionsregelungen und Kollisionsfolgen zu betrachten, um dann für die verschiedenen Norm-

428 BVerfGE 36, 342 (364). Im Ergebnis ebenso auch schon BVerfGE 29, 11 (17); 31, 141 (145). 429 Vgl. auch die Unterscheidung nach Normgruppen (Staatsfundamentalnormen, Grundrechte, einfaches Verfassungsrecht, Verfassungsaufträge) bei JutzU Landesverfassungsrecht, S. 29 f. Implizit unterscheidet auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 183 ff., nach Normgruppen (vgl. dazu auch unten Fn. 577).

C. Verfassunggebung in den Ländern

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gruppen jeweils den effektiven Gestaltungsspielraum des Landes ermessen zu können.

aa) Staatsorganisationsrecht Am unproblematischsten ist dabei der Bereich der Staatsorganisation im Land. Daß die Länder insoweit kompetent sind, war von Anfang an nicht umstritten 430 . Das Bundesverfassungsgericht rechnet die „in der Landesverfassung enthaltenen organisatorischen Grundentscheidungen" zu jenem „Kern eigener Aufgaben", ohne den „nur noch eine leere Hülse von Eigenstaatlichkeit übrig bliebe" und der den Ländern „als ,Hausgut' unentziehbar verbleibt" 431 ; es stellt diese Aussage in einen Zusammenhang des Art. 79 Abs. 3 GG, der die Gliederung des Bundes in Länder selbst gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber schützt 432 . Die Konstituierung der Verfassungsorgane des Landes ist Bestandteil aller Landesverfassungen 433; zum Teil wird hierin auch die eigentliche Bedeutung der Landesverfassungen gesehen434. Da Regelungen des Bundes für diesen Bereich nur ausnahmsweise bestehen, kommt es in aller Regel zu keinen Normkonflikten 435 und auch die vorrangige Frage der Kompetenz stellt sich insoweit nicht. Darüber, woraus sich die Befugnis des Landes letztlich ergibt, besteht keine Einigkeit, der Streit hierüber wird aber vor allem in den anderen Bereichen relevant. Für diejenigen, die auch die Befugnis zur Setzung von Landesverfassungsrecht aus der Zuteilung der Gesetzgebungskompetenzen des Grundgesetzes herleiten wollen 4 3 6 , muß sie sich letztlich aus Art. 70 Abs. 1 GG ergeben, da eine ausdrückliche Zuweisung an den Bund nicht besteht. Hält man die Gesetzgebungskompetenzen für nicht einschlägig in bezug auf die Setzung von Verfassungsrecht 437, ergibt sich aus der Sicht des Grundgesetzes die Landeskompetenz aus der allgemeinen Kompetenzregel des Art. 30 GG 4 3 8 . Das Bundesverfassungsgericht leitet die Befugnis «ο Vgl. ζ. B. schon BVerfGE 1, 14 (34). 431 BVerfGE 34, 9 (20). 432 BVerfGE 34, 9 (19). 433 Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (569). 434 Vgl. ζ. B. Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (22, Fn. 52); Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (863: Landes Verfassungsnormen von aktueller selbständiger materieller Bedeutung „vor allem im organisatorischen Bereich"); Grimm, in: Grimm / Papier, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (3 f.). 435 Vgl. ζ. B. Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (862). 436 Vgl. ζ. B. Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (863); ders., DÖV 1985, S. 469 (474). Vgl. dazu unten 3. Teil, C.II.3.c)bb). 437 Vgl. dazu unten cc). 438 Vgl. Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 8 ff.; in diese Richtung ζ. B. Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (239: „Die Kompetenz zur Verfassunggebung ergibt sich aber aus der Natur der Sache; sie folgt aus der Eigenstaatlichkeit der Länder im Bundesstaat und findet in Art. 30 GG ihren positivrechtlichen Niederschlag.").

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

der Länder, „in je eigener Verantwortung ihre Staatsfundamentalnormen zu artikulieren", direkt aus der Staatsqualität der Länder her 4 3 9 , die letztlich aus der in Art. 20 Abs. 1 GG angeordneten Bundesstaatlichkeit folgt 4 4 0 . Die Annahme einer eigenen verfassunggebenden Gewalt im Lande muß zum gleichen Ergebnis kommen. Art. 28 Abs. 1 GG schließlich setzt eine grundsätzlich bestehende Befugnis der Länder zur Gestaltung ihres Verfassungsraumes voraus 441 , wenn er dieser Grenzen setzt. Nach Art. 28 Abs. 1 GG muß zum einen die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern „den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes", das heißt insbesondere im Sinne des Art. 20 Abs. 1 und 2 G G 4 4 2 entsprechen (Satz 1); zum anderen wird für die Landes- und Kommunalebene das Prinzip der repräsentativen Demokratie angeordnet sowie die Wahlrechtsgrundsätze, die für die Bundesebene in Art. 38 Abs. 1 GG ausgeführt sind, auch für diese Ebenen verbindlich gemacht (Satz 2). Die zentralen Grundentscheidungen über die Staatsform und Staatsorganisation sind damit von der Bundesverfassung auch für die Gliedstaaten vorgegeben 443. Unzulässig sind damit laut Stern zum Beispiel die monarchische Staatsform auf Landesebene, ein System der „Volksdemokratie", der „Rätedemokratie", der Klassen- oder Parteidiktatur eines Einparteiensystems, eine Abkehr von der Sozialstaatlichkeit oder ein unrechtsstaatliches System, das beispielsweise die Grundrechte aufhebt, die Rechtsbindung staatlicher Hoheitsakte negiert, den Grundrechtsschutz abschafft oder zu einem „Notverordnungsrecht" übergeht 444. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG beschränkt damit zwar in ganz zentralen Bereichen der Staatsorganisation den Gestaltungsspielraum des Landesverfassunggebers; andererseits kann die Beschränkung der Gestaltungsfreiheit der Länder durch Art. 28 Abs. 1 GG gerade wegen der Grundsätzlichkeit seiner Vorgaben nicht als besonders einschneidend gelten 445 . Wenn man - wie hier 4 4 6 - auch außerhalb der 439 BVerfGE 36, 342 (361). 440 Vgl. oben 3. Teil, Kapitel A. 441 Vgl. März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 187 f., 191; Maunz, HStR IV, § 94, Rn. 27. 442 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, II., Rn. 92 f.; Seifert, in: Seifert / Hornig, GG, Art. 28, Rn. 1. 443 Sie sind darüber hinaus vom Bund nach Art. 28 Abs. 3 GG, der den Bundesorganen die Pflicht, auferlegt, zu „gewährleisten", daß die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundrechten (des GG) und den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 (des Art. 28 GG) entspricht, garantiert; vgl. dazu Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.6.a (S. 711); E.-W. Böckenförde/Grawert, DÖV 1971, S. 119 (125 f.). 444 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.5.C (S. 706); vgl. auch Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, II., Rn. 96. 445 Ähnlich auch Maurer, in: Maurer / Hendler, Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 27 (33), nach dem die Durchgriffs- und Normativbestimmungen des GG „zu keiner echten Einschränkung" der Verfassungshoheit des Landes führen, „weil sie ohnehin dem heute selbstverständlichen Standard entsprechen".

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besonderen Situation im Gliedstaat eines Bundesstaates die früher zum Teil vertretene Vorstellung einer völlig bindungslosen und omnipotenten verfassunggebenden Gewalt ablehnt und jene nicht-positivrechtlichen Bindungen beachtet, denen auch die verfassunggebende Gewalt unterliegt, dann relativiert sich schon dadurch die von Art. 28 Abs. 1 GG angeordnete Beschränkung des Landesverfassunggebers. Die beschränkende Wirkung des Art. 28 Abs. 1 GG ist darüber hinaus durch die besondere Normstruktur dieser Homogenitätsbestimmung stark relativiert. Art. 28 Abs. 1 GG, der inhaltlich als Homogenitätsgebot charakterisiert wird, wird strukturell als „Normativbestimmung" verstanden 447, wobei die Bedeutung dieser Charakterisierung allerdings unterschiedlich gesehen wird. Umstritten ist dabei insbesondere, ob Art. 28 Abs. 1 GG lediglich eine Verpflichtung der Länder zu einer entsprechenden Gestaltung ihrer Verfassungen statuiert, ob die in Art. 28 Abs. 1 GG genannten Grundsätze unmittelbare Wirkung in den Ländern entfalten oder unter Umständen gar zu einem automatischen Selbsteintritt der bundesverfassungsrechtlichen Bestimmungen führen 448 . Das Bundesverfassungsgericht hat in einer wiederkehrenden Formulierung festgestellt, Art. 28 GG gelte „nicht in den Ländern, sondern für die Länder", was im Sinne einer bloßen Verpflichtung zu deuten wäre 449 . Es hat andernorts aber auch direkte Wirkungen auf die Landesverfassungen insofern angenommen, als es Bestimmungen in Landesverfassungen, die den Mindeststandard des Art. 28 Abs. 1 GG unterschreiten, unmittelbar wegen Verstoßes gegen die Homogenitätsvorschrift für nichtig hält 4 5 0 446 Vgl. oben 2. Teil, B.III.2. 447 BVerfGE 4, 178 (189); 47, 253 (272) [Bezirksvertretungen NRW]. Vgl. auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 179, 189; E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (125 f.); Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 17; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.5.C (S. 705); v. Mutius /Friedrich, StWStP 1991, S. 243 (251). 448 Vgl. dazu vor allem März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 190 f.; Bothe, in: Alt.Komm. GG, Art. 28 Abs. 1, I., Rn. 15 f.; E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (125 f.); Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19III.5.C (S. 705 f.). 449 BVerfGE 1, 208 (236 f.); 6, 104 (111); 22, 180 (204); 32, 208 (236). Vgl. auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 180 m.w.N. Fn. 335; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GGKomm., Art. 28, Rn. 1; Kersten, DÖV 1993, S. 896 (898). 450 BVerfGE 83, 37; 83, 60. Vgl. auch Sachs, ThürVBl. (122); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 191; Jutzi, Landesverfassungsrecht, S. 34; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GGKomm., Art. 28, Rn. 1; Roters, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 28, Rn. 13; Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 26; Krause, Jus 1975, S. 160 (162); Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.5.C (S. 706). Nach Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 37; Seifert, in: Seifert / Hornig, GG, Art. 28, Rn. 3, soll die Nichtigkeitsfolge sich bei Verstoß gegen Art. 28 Abs. 1 GG aus Art. 31 GG ergeben; richtigerweise liegt jedoch keine Kollision vor, weil die Landesverfassungsvorschrift und Art. 28 Abs. 1 GG sich nicht auf denselben Sachverhalt bezieht, sondern die Landesverfassung vielmehr gerade der Regelungsgegenstand der Normativbestimung des Art. 28 Abs. 1 GG ist, vgl. Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (863). Die noch von E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (126 m.w.N.), vertretene Ansicht, bei Verstoß gegen Art. 28 Abs. 1 sei diese Norm wegen der fehlenden unmittelbaren Rechtswirkung

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Daraus läßt sich allerdings nicht der weitere Schluß ziehen, Art. 28 Abs. 1 GG gelte selber unmittelbar in den Ländern 451 und statuiere quasi eine Minimal Verfassung der Länder kraft Bundes Verfassungsrechts. Landes verfassungsnormen, die den Rahmen der Homogenitätsbestimmung des Bundes überschreiten, sind nichtig, weil sie sich außerhalb der Verfassungsautonomie des Landes bewegen und damit außerhalb der Kompetenz des Landes erlassen wurden 452 . Das bedeutet nicht, daß damit eine Ersatzvornahme von Seiten des Bundes angeordnet sei, daß der Bund selbst neues, zur Erfüllung der Homogenitätsanforderungen erforderliches Landes(verfassungs)recht setzen könnte 453 . Muß Landesrecht geschaffen werden, damit den Anforderungen des Art. 28 Abs. 1 GG genügt ist, so muß der Landesverfassunggeber bzw. der Landesgesetzgeber aktiv werden; unterläßt er dies, bleibt der Bund auf ein Vorgehen nach Art. 28 Abs. 3 GG mit den Mitteln der Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 und 3 sowie Art. 37 GG angewiesen454. Jedenfalls im Bereich der Staatsorganisation im Land entfaltet - unabhängig von Meinungsverschiedenheiten über seine Reichweite ansonsten455 - Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG damit seine vom Bundesverfassungsgericht konstatierte Wirkung, den Gliedstaaten Freiheit in der Gestaltung ihrer Verfassungen einzuräumen und insoweit unter dem Aspekt der Einheit der Verfassung eine gegenüber Art. 31 GG spezielle Regelung zu enthalten 456 . Die Gestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung im Lande gehört danach in den Bereich der Länder, „solange sie sich im Rahmen des Art. 28 Abs. 1 GG hält" 4 5 7 . Das Land kann, solange es den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entspricht und das des Art. 28 Abs. 1 GG nicht unmittelbar nichtig, sondern müsse auf Verlangen des Bundes nach Art. 28 Abs. 3 GG aufgehoben werden, hat sich nicht durchsetzen können. 451 So aber vor allem W. Schmidt, AÖR 87 (1962), S. 253 (280); und jetzt Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 26. Dagegen aber: E.-W. Böckenförde /Grawert, DÖV 1971, S. 119 (126, Fn. 26); Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121 (122); vgl. auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 190 f.; Bothe, in: Alt.Komm. GG, Art. 28 Abs. 1,1., Rn. 16. 452 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 191, bestimmt Art. 28 Abs. 1, 2 GG als „negative Kompetenzvorschrift"; ebenso Bothe, in: Alt.Komm. GG, Art. 28 Abs. 1,1., Rn. 16. 453

März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 191. 454 Krause, Jus 1975, S. 160 (162); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 191; Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121 (122). 455 Vgl. ζ. B. einerseits Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (239); andererseits v. Mutius, Verw.A. 66 (1975), S. 161 (164). 456 BVerfGE 36, 342 (362); v. Mutius, Verw.A. 66 (1975), S. 161 (166); Jutzi, Landesverfassungsrecht, S. 33; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG-Komm., Art. 28, Rn. 1; Gubelt, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 31, Rn. 23; Maurer, in: Maurer / Hendler, Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 27 (31); W. Schmidt, in: Meyer / Stolleis, Hess. Staatsund Verwaltungsrecht, S. 20 (23). Vgl. auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 188, wonach Art. 28 GG als Garantienorm für die Verfassungsautonomie der Länder vor allem im Staatsorganisatorischen einen Freiraum offenhält. 457 BVerfGE 1, 14 (34) [Südweststaat]; vgl. dazu Barschel, Staatsqualität, S. 168.

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Volk auch auf Landes- und Kommunalebene jeweils eine demokratisch gewählte Vertretung hat, staatsorganisationsrechtliche Bestimmungen in seine Verfassung aufnehmen, auch wenn sich diese vom Grundgesetz unterscheiden 458. Art. 28 GG ordnet nicht Uniformität, sondern nur ein Mindestmaß an Homogenität an 4 5 9 . So ist beispielsweise460 auf Landesebene die Einfügung plebiszitärer Elemente der Staatswillensbildung wie Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in die Organisation der Gesetzgebung im Land trotz der dezidiert repräsentativen Ausgestaltung auf Bundesebene möglich, soweit sie die grundsätzlich repräsentative Ausgestaltung der Demokratie in der Ordnung des Grundgesetzes nicht in Frage stellt 461 ; dagegen ist das Land zu einer vom Volksbegriff der Bundesverfassung abweichenden Bestimmung der Wahl- und Abstimmungsberechtigten nicht befugt, weil eine Verfügung über den demos die Grundsätze des Demokratieprinzips in Art. 20 Abs. 2 GG verletzen und damit den Spielraum des Landes überschreiten würde 462 . Wirkliche Kollisionen mit den staatsorganisationsrechtlichen Regelungen der Bundesverfassung sind in aller Regel ausgeschlossen, weil diese für den Bund, nicht für die Länder gelten 463 . Das Bundesverfassungsgericht hat diese kollisionsvermeidende Konstellation angesprochen, wenn es im Urteil zum Niedersächsischen Landesbesoldungsgesetz heißt: „ . . . Divergenzen im Bundes- und Landesverfassungsrecht sind deshalb miteinander ,vereinbar 4, weil der ,Ort 4 der divergierenden Vorschriften im Gefüge der Gesamtrechtsordnung ein verschiedener ist, weil sie also unabhängig voneinander in je verschiedenen Bereichen Geltung beanspruchen" 464 . Dennoch wird man nicht so weit gehen können zu sagen, daß es im organisatorischen Bereich außer Art. 28 Abs. 1 GG kein Bundesrecht gibt, welches etwaiges Landesrecht brechen könnte 465 . 458 Vgl. März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 191 („Der gliedstaatliche Verfassungsgeber soll ... auch eigenwillige Alternativen zum Grundgesetz entwickeln können"); Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.5.C (S. 706); Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (152); Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (28 f.); Maurer, in: Maurer / Hendler, Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 27 (31); W. Schmidt, in: Meyer / Stolleis, Hess. Staats- und Verwaltungsrecht, S. 20 (23 f.); v. Mutius, Verw.A. 66 (1975), S. 161; vgl. auch Bothe, in: Alt.Komm. GG, Art. 28 Abs. 1,1., Rn. 8 ff. 4 59 BVerfGE 9, 268 (279); 24, 367 (390 f.); 27, 44 (56). Vgl. dazu auch Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. I, § 19 III.5.C (S. 705); Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (29). 460 Vgl. zu weiteren Beispielen z. B. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG-Komm., Art. 28, Rn. 3; Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (159 ff.). 4 61 Bothe, in: Alt.Komm. GG, Art. 28 Abs. 1,1., Rn. 8; Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (159); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, II. Rn. 97; Grimm, in: Grimm / Papier, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (5, 14, 43); v. Mutius /Friedrich, StWStP 1991, S. 243 (256 f.). 4 62 BVerfGE 83, 37; 83, 60. 4 63 Vgl. insbesondere v. Mutius, Verw.A. 66 (1975), S. 161 (166). 464 BVerfGE 36, 342 (362).

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Zu erinnern ist insofern zum einen an das Problem der Weisungsfreiheit der Bundesratsvertreter der Länder, das in der Entscheidung aus den fünfziger Jahren zu den Volksabstimmungen in Hamburg und Bremen über die Wiederbewaffnung zugunsten eines Vorrangs des Bundesverfassungrechts geklärt wurde 466 . Die Mitwirkung der Mitglieder der Landesregierung im Bundesrat ließe sich zwar zur Staatsorganisation des Landes im weiteren Sinne rechnen; als Mitglieder des Bundesrates, der seinerseits ein Verfassungsorgan des Bundes ist 4 6 7 , betätigen sich die Mitglieder der Landesregierung jedoch nicht in der Sphäre des Landes, sondern in der des Bundes. Das Bundesverfassungsgericht hat Landesbestimmungen in diesem Bereich wegen Übergriffs in den Kompetenzbereich des Bundes für nichtig erklärt 468 . Auch wenn man nicht schon die Kompetenz des Landesverfassunggebers verneint, so setzt sich jedenfalls nach Art. 31 GG das - ebenfalls kompetenzmäßige - Bundesrecht in der Kollision durch. Entsprechendes muß auch für die Bundesversammlung gelten, in der ebenfalls nach Maßgabe des Art. 54 Abs. 3 GG von den Volksvertretungen der Länder gewählte Vertreter mitwirken. Landesverfassungsrecht, das hier versuchen würde, dem Grundgesetz oder einfachgesetzlichen Ausführungsgesetzen des Bundes widersprechende Regelungen zu treffen, würde nach Art. 31 GG gebrochen, daß heißt wäre nichtig ex tunc. Zum anderen sind verschiedene Durchgriffsnormen der Bundesverfassung und ausnahmsweise auch einfaches Bundesrecht, das Ausschnitte der Staatsorganisation im Lande regelt, zu bedenken. Die Normierung von Volkssouveränität und Demokratieprinzip, Gewaltenteilung, Gesetzesbindung von Exekutive und Judikative sowie Verfassungsbindung der Legislative in Art. 20 Abs. 2 und 3 GG werden zum Teil als derartige unmittelbar auch im Land geltenden Durchgriffsbestimmungen angesehen469, auch wenn das Bundesverfassungsgericht neuerdings in den Entscheidungen zum kommunalen Ausländerwahlrecht Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG auf dem Weg über die Verweisung auf die in der Normativbestimmung des Art. 28 Abs. 1 GG genannten Grundsätze angewendet hat 4 7 0 . Als staatsorganisationsrechtliche Durchgriffsnormen anerkannt sind Art. 21 G G 4 7 1 mit der Entfaltung, die er in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Parteienstaatsprinzip gefunden hat, die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 465 So aber Sacksofsky., NVwZ 1993, S. 235 (236). Vgl. dagegen ζ. B. Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121; vgl. auch schon dens., DVB1. 1987, S. 857 (862 f.). 466 BVerfGE 8, 104. 467 BVerfGE 8, 104 (120). 468 BVerfGE 8, 104(105, 121). 469 Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 20, II., Rn. 99 f. Kritisch hierzu, weil dadurch der von Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG geschaffene Freiraum eingeschränkt wird, Kersten, DÖV 1993, S. 896 (899 ff.). 470 BVerfGE 83, 37 (53 ff.); 83, 60 (70); vgl. auch Kersten, DÖV 1993, S. 896 (901). 471 Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 182; Magiern, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (152); Seifert, in: Seifert / Hömig, GG, Art. 28, Rn. 2; Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 37.

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G G 4 7 2 sowie die Hoheitsausübung durch Beamte und die Garantie der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums in Art. 33 Abs. 4 und 5 GG 4 7 3 . Zum Teil werden darüber hinaus in den Landesbereich hineinwirkende Grundgesetzbestimmungen über die Justiz (Art. 92; Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a und b; Art. 97) als staatsorganisationsrechtliche Durchgriffsnormen angesehen474. Landesverfassungsrecht, das in diesen Bereichen dem Bundesrecht widersprechende Normierungen vornehmen wollte, wäre nichtig. Durch bundesrechtliche Regelungen über das Landesstaatsorganisationsrecht, die nicht im Grundgesetz selber, sondern in einfachen Bundesgesetzen vorgenommen werden, werden die Länder dagegen nur ganz ausnahmsweise wirksam gebunden. Die Materie Staatsorganisation in den Ländern ist im Grundgesetz nicht dem Bund zur gesetzlichen Regelung zugewiesen worden. Ein Normierungsversuch des Bundes in diesem Bereich wäre damit schon mangels Kompetenz von vornherein nichtig; kompetenzwidrig gesetztes Bundesrecht kann auch nicht über Art. 31 GG Landesrecht brechen, sondern ist seinerseits von Anfang an wirkungslos 475 . Das Bundesverfassungsgericht hat darum auch „insbesondere ... die Bestimmung der Regeln, nach denen sich die Bildung der Landes Verfassungsorgane, ihre Funktionen und ihre Kompetenzen bemessen", also das Staatsorganisationsrecht des Landes im engen Sinne, als „ausschließlich Sache des Landes" 476 und unentziehbares „Hausgut" 477 bezeichnet. In ganz eng begrenztem Umfang sind staatsorganisationsrechtliche Regelungen in den Bundesgesetzen zur Bildung des Südweststaates und zur Bildung von Ländern in dem 1990 der Bundesrepublik beigetretenen Teil Deutschlands enthalten gewesen, die allerdings jeweils nur für die besondere Situation der Neukonstituierung eines Bundeslandes rudimentäre Organisationsvorschriften enthalten hatten. Jene konnten sich auf die besondere Neugliederungskompetenz in Art. 118 GG stützen 478 ; dieses auf eine Bundeskompetenz aus der Natur der Sache 479 und die 472 Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121; Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (152). 4 "73 Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121, der darüber hinaus Art. 132 und 137 Abs. 1 GG als staatsorganisationsrechtliche Durchgriffsnormen ansieht; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 182; Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (152). 474

Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121. 5 Vgl. oben 3. Teil C.II.3.b). 47 6 BVerfGE 1, 14 (34) [Südweststaat].

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BVerfGE 34, 9 (20). BVerfGE 1, 14 (62); 5, 34 (43). Vgl. auch Feuchte, Der Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur Gründung des Landes Baden-Württemberg, in: Schaab / Richter, Colloquium, S. 25 (28 f., 36); ders., VB1BW 1992, S. 81 (83, 126, 288); Maurer, in: Maurer / Hendler, Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 27 (33); Wahl, Der Staat 30 (1991), S. 181 (193 f.). 47 9 Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (587 f.); vgl. auch BVerfGE 84, 133 (148) [Warteschleife]: Gesetzgebungskompetenz aus der Natur der Sache für die zwangsläufig mit der 478

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

aus Art. 23 Satz 2 GG a.F. und dem Wiedervereinigungsgebot der Präambel folgende Kompetenz für die unmittelbar der Herstellung der Einheit Deutschlands dienenden Maßnahmen 4 8 0 . In Bezug auf das Erste Neugliederungsgesetz hatte das Bundesverfassungsgericht in seiner Südweststaats-Entscheidung von 1951 festgestellt, daß die überprüften Bestimmungen (nur) deswegen unbedenklich seien, weil sie sich ohnehin aus dem Wesen einer Konstituante ergäben oder jedenfalls so ausgelegt werden könnten, daß die Verfassunggebende Landesversammlung von ihnen abweichen könne481. Das Ländereinführungsgesetz von 1990 beschränkt sich in der vom Einigungsvertragsgesetzgeber übergeleiteten und allein zu geltendem Recht gewordenen Fassung 4 8 2 neben der Anordnung der Länderbildung selbst auf das Thema künftiger Gebietsänderungen, den Übergang von Einrichtungen der ehemaligen D D R auf die neugebildeten Länder, auf die - an sich selbstverständlichen - Feststellungen, daß die ersten Landtage zugleich die Funktion von Verfassunggebenden Versammlungen haben und daß die Landesorgane nach Inkrafttreten der Landesverfassungen nach diesen zu bilden s i n d 4 8 3 . Direkte Regelungen der Staatsorganisation der Länder hat der Bundesgesetzgeber 484 also nur in Ausnahmesituationen und nur Schaffung der Voraussetzungen für den Beitritt verbundenen, unaufschiebbaren gesetzgeberischen Maßnahmen. 480 BVerfGE 82, 316 (320) [Beitrittsbedingte Änderungen]. 481 BVerfGE 1, 14 (62) [Südweststaat]. 482 Durch Anlage II Kapitel II Sachgebiet A Abschnitt II i.V.m. Art. 9 Abs. 2 des Einigungsvertrags vom 29. 9. 1990 wurde das LEG - noch vor seinem für den 14. 10. 1990 vorgesehenen Inkrafttreten - geändert und in dieser Fassung (Inkrafttreten des LEG und Länderbildung vom 14. 10. 1990 auf den 3. 10. 1990 vorgezogen) übergeleitet. Vgl. dazu Schnapauff, DVB1. 1990, S. 1249 (1255); Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (573 f.); R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 101 f.; H.H. Klein, HStR VIII, § 198, Rn. 2. Die Rechtstatsache, daß das LEG-DDR vor dem Untergang der DDR als Staat und Völkerrechtssubjekt nicht mehr in Kraft getreten ist, tritt dort, wo auch aus juristischer Sicht von einer Länderbildung noch durch die DDR-Volkskammer ausgegangen wird, oft in den Hintergrund; in diese Richtung z. B. Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 1; Starck, ZG 1992, S. 1 (2 f.); Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (144 f.); Bayer, DVB1. 1991, S. 1014 (1016). 483 §§ 1 Abs. 1; 2 Abs. 2 und 3; 22; 23 Abs. 2 und 3, 25 Abs. 1 LEG i.V.m. Art. 9 Abs. 2 Einigungsvertrag und Kapitel II Sachgebiet A Abschnitt II der Anlage II zum EV. Vgl. hierzu auch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Werner Schulz (Berlin) und der Gruppe Bündnis 90 / Die Grünen - Verfassungsrechtliche Notwendigkeit der Neuwahl der ostdeutschen Landesregierungen nach Inkrafttreten der jeweiligen Landesverfassungen, BT-Drs. 12 / 3085 vom 24. 07. 92, S. 3, zu Frage 3. 484 Das LEG ist in der durch den Bundesgesetzgeber geänderten Fassung zu geltendem Recht geworden und gilt nach Art. 9 Abs. 4 EV als partielles Bundesrecht fort; vgl. Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (587 f.); Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Werner Schulz (Berlin) und der Gruppe Bündnis 90 / Die Grünen, BTDrs. 12 / 3085 vom 24. 07. 92, S. 1 f., zu Frage 1; Hans v. Mangoldt, Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 15; R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 102. Die Ansicht,

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in peripherem Umfang 485 vorgenommen und wirksam vornehmen können. Umstritten sind vor allem solche Bereiche, in denen eine staatsorganisationsrechtliche Regelung des Landes mit einer unter einem anderen Aspekt begründeten Sachregelung des einfachen Bundesrechts zusammentrifft, wie zum Beispiel bei der zivilund strafrechtlichen Immunität von Landtagsabgeordneten486. Schließlich greift Staatsorganisationsrecht des Bundes dadurch in den Landesbereich ein, daß die Gesetzgebungs- (Art. 70 ff. GG), Verwaltungs- (Art. 83 ff. GG) und Finanzierungskompetenzen (Art. 104 a ff. GG) sich maßgeblich aus dem Grundgesetz ergeben 487. Zu Kollisionen im technischen Sinne kommt es hier nicht, weil die föderative Kompetenzordnung wesensmäßig der Bundesverfassung zugehört und die Länder zu einer abweichenden Kompetenzzuordnung schon kompetenziell nicht in der Lage sind 488 . Die Landesverfassungen können darum zwar nicht kompetenzbegründend gegenüber anderen Hoheitsträgern wirken, sie können aber die landesinterne Wahrnehmung der dem Land zukommenden Kompetenzen ordnen und verteilen. Zu beachten ist dabei allerdings wiederum, daß Art. 28 Abs. 1 Satz 2 und 3 sowie Abs. 2 GG mit der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung einen Ausschnitt der Verwaltungsorganisation des Landes und der Kompetenzwahrnehmung verbindlich vorgibt. Insgesamt läßt sich für das Staatsorganisationsrecht ein weiter effektiver Gestaltungsspielraum des Landesverfassunggebers konstatieren, der nur an den Mindeststandards des bundesstaatlichen Homogenitätsgebots und an vereinzelten direkt für die zu einer Qualifikation des LEG als Landesrecht kommt {Starck, ZG 1992, S. 1 (3); ihm folgend: Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 140 (145); Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 5), verkennt das Regelungsmodell des EinigungsVertrages: Nach Art. 9 Abs. 4 EV kommt es bei der Überleitung von Recht der DDR darauf an, ob entsprechendes Recht in der Kompetenzordnung des Grundgesetzes als Landes- oder Bundesrecht zu erlassen gewesen wäre; daß Regelungen zur Länderneubildung nicht durch die - ja noch gar nicht existenten - Länder selber, sondern nur durch den Bund getroffen werden können, ergibt sich aus der Natur der Sache und ist vom BVerfG im Fall der Neugründung des Landes Baden-Württemberg durch Bundesgesetz bestätigt worden (BVerfGE 1,14 [61]). 485 Die Einschätzung von Isensee, Diskussionsbeitrag in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 174 (175), alles Wichtige für die Staatsorganisation der Länder sei schon im Ländereinführungsgesetz der DDR enthalten, läßt sich nicht nachvollziehen, da das LEG niemals in der von der DDR-Volkskammer verabschiedeten, sondern nur in der rudimentären, vom Einigungsvertragsgesetzgeber - unter Berücksichtigug der Verhältnisse im Bundesstaat des Grundgesetzes - übergeleiteten Fassung in Kraft getreten ist; zu Mißverständnissen mag die Praxis rechtswissenschaftlicher Verlage geführt haben, nicht das LEG in der durch Anlage II (Kapitel II Sachgebiet A Abschnitt II) i.V.m. Art. 9 Abs. 2 Einigungsvertrag übergeleiteten Fassung, sondern den gesamten Text des ursprünglich von der Volkskammer verabschiedeten, so aber nicht in Kraft getretenen Gesetzes in den Gesetzessammlungen abzudrukken; vgl. dazu bereits Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (574, Fn. 11). 486 Vgl. Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 36 m.w.N.; Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121 (123). 487 Vgl. dazu z. B. W. Schmidt, in: Meyer / Stolleis, Hess. Staats- und Verwaltungsrecht, S. 20 (24).

4 88 Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (863); ders., ThürVBl. 1993, S. 121 m.w.N.

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

die Landesebene geltenden Strukturvorgaben der Bundesverfassung seine Grenze findet.

bb) Grundrechte Die Kompetenz der Länder zur Normierung von Grundrechten in ihren Landesverfassungen ist in Art. 142 GG vorausgesetzt 489; wenn er deren Inkraftbleiben „ungeachtet" der Kollisionsvorschrift des Art. 31 GG festlegt, geht er davon aus, daß sie unter dem - gegenüber der Frage der Kollisionsbewältigung vorrangigen Gesichtspunkt der Kompetenz wirksam zustande kommen können. Anders als im Bereich der Staatsorganisation ist es im Grundrechtsbereich aber durchaus umstritten, woraus sich insoweit die Landeskompetenz ergibt und wie weit sie reicht. Anders als dort betreffen Grundrechte in Landesverfassungen nicht einen anderen Bereich als die Grundrechte des Grundgesetzes, denn beide regeln das Verhältnis Staat - Bürger 490 . Unstreitig binden die Grundrechte der Bundesverfassung nach Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar auch die Staatsgewalt der Länder 491 ; sie stellen damit einen Hauptbeispielsfall für den unmittelbaren Durchgriff 492 von Bundesrecht auf den Verfassungsraum des Landes und das „Hineinwirken" von Verfassungsrecht des Bundes in die Verfassung des Landes dar. Wenn die Befugnis zu Gestaltung der Landesverfassungen aus einer eigenen verfassunggebenden Gewalt oder der aus der Eigenstaatlichkeit folgenden Verfassungshoheit des Landes folgt 4 9 3 , umfaßt dies auch den Grundrechtsbereich. Teilweise wird auch der von Art. 28 Abs. 1 GG geschaffene Freiraum zur Gestaltung der eigenen Verfassungsordnung als so weitgehend verstanden, daß er nicht nur die angesprochenen Materien, sondern das gesamte Landesverfassungsrecht umfaßt 494 . Zum Teil wird aber auch vertreten, für die Setzung von Landesverfassungsrecht seien die Regelungen des Grundgesetzes über die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen in Art. 70 ff. GG einschlägig, weil auch Landesverfassungen Gesetze seien 495 ; die Gesetzgebungskompetenz zur Landesverfassungge489 Vgl. z.B Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121 (123); Dietlein, Jura 1994, S. 57. 490 Vgl. v. Mutius, Verw.A. 66 (1975), S. 161 (167). 491 Vgl. z. B. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, Art. 1, Rn. 141; Grimm, in: Grimm / Papier, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (52); Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (237); Dietlein, Jura 1994, S. 57; ders., Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 9; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 200; Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 37; Magiern, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (152 f.). 492 Vgl. oben 3. Teil, C.II.3.a). 493 Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (239); wohl auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 197, der die Grundrechte in den Landesverfassungen „aus je eigener Staatsgewalt legitimiert" sieht. Ausdrücklich auch Dietlein, Jura 1994, S. 57 (57, 61). 494 Vgl. ζ. B. Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (153); H.-P. Schneider, DÖV 1987, S. 749 (752).

C. Verfassunggebung in den Ländern

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bung wird dort, weil eine ausdrückliche Zuweisung in den Art. 70 ff. GG nicht enthalten ist, aus der „Natur der Sache" hergeleitet 4 9 6 . Damit werden aber die Grenzen zwischen Verfassungsrecht und einfachem Gesetzesrecht unzulässig verw i s c h t 4 9 7 und das Verfassungsrecht der Länder wie einfaches Gesetzesrecht, gewissermaßen als Minderform von Verfassungsrecht 498 behandelt und seiner besonderen Qualität und Dignität beraubt. Das aber entspricht nicht der Verfassungslage unter dem Grundgesetz, das in Art. 142 GG ausdrücklich die Existenz von Landesverfassungen und von diesen gewährleisteten Grundrechten als eines besonderen Normtyps anerkennt 4 9 9 . Gerade i m Gegensatz zur Zuweisung einfachgesetzlicher Regelungsbereiche in den Art. 70 ff. GG wird dem Landesverfassunggeber i m Grundrechtsbereich durch Art. 142 GG - ebenso wie i m Bereich des Staatsorganisationsrechts durch Art. 28 GG - die Kompetenz zum Einsatz des Regelungstyps der Grundrechte für individuelle gliedstaatliche Zwecke ausdrücklich zuerkannt, so „daß die Nichtigkeit von Landesgrundrechten jedenfalls nicht auf einem Mangel an gliedstaatlicher Zuständigkeit beruhen k a n n " 5 0 0 . Nach herrschender A n s i c h t 5 0 1 ist die Befugnis zur Setzung von Landesverfassungsrecht darum nicht in den für die einfache Gesetzgebung geltenden Kompetenzbestimmungen der Art. 70 ff. GG geregelt 5 0 2 ; das 495 Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121 (122); ders., DVB1. 1987, S. 857 (863); insofern a.A. Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (239); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 195. 496 Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (863); ders., ThürVBl. 1993, S 121 (122). Diese Lösung erscheint aber schon in sich nicht schlüssig, weil sich nach dem Regelungssystem der Art. 70 ff. GG nicht ausdrücklich im GG genannte Landeskompetenzen automatisch aus Art. 70 Abs. 1 GG ergeben; ein Rückgriff auf die „Natur der Sache", der zur Begründung ungeschriebener Bundeskompetenzen nötig ist, hat bei Landeskompetenzen darum keinen Raum. 497 Sachs, der die Ansicht von der Bindung des Landesverfassunggebers an die Gesetzgebungskompetenzen des Grundgesetzes vornehmlich vertritt, hat die Diskrepanz zur Sonderstellung des Verfassungsrechts selbst angemerkt, Bedenken aber unter Hinweis auf die Besonderheit der bundesstaatlichen Einbindung der Länder im Bundesstaat hintangestellt, vgl. Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121 (122). 498 Ganz offen von einer „qualitativen Kluft zwischen Bundes- und Landesverfassungsrecht", die in einer „vorgelagerten Bedeutungsdiskrepanz ihrer Staatlichkeit" gründen soll, spricht März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 181; anders aber ders. a. a. O. S. 195. 499 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 195. 500

März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 195. Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 35; Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 44 f.; v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 134 f., 157 f.; Jutzi, Landesverfassungsrecht, S. 21; Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (239); Kasper, Der Staat 31 (1992), S. 136 (139); F. Klein, in: v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Art. 31, Anm. lO.a); Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm, Art. 142, Rn. 2; H. Weber, Jus 1974, S. 664 (665); vgl. auch Krause, Jus 1975, S. 160 (163 f.); ferner E.W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (123). 502 Die demgegenüber bei Sachs (ThürVBl. 1993, S. 121 [122, Fn. 12]) angegebenen Belege dafür, daß „nach traditioneller Sichtweise" die Art. 70 ff. GG für die Landesverfassungsgesetzgebung einschlägig seien, vermögen diese Behauptung nicht zu stützen. So muß ζ. B. 501

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Grundgesetz kennt weder eine ausschließliche noch eine konkurrierende Bundeskompetenz zur Normierung grundrechtlicher Gewährleistungen 5 0 3 , so daß jedenfalls i m Grundrechtsbereich ein (echtes) konkurrierendes Nebeneinander beider Verfassungsebenen bestehen s o l l 5 0 4 . Auch das Bundesverfassungsgericht hat Landesverfassungsnormen nicht etwa was nach seiner Ansicht vorrangig wäre - darauf geprüft, ob sie den Art. 70 ff. GG entsprechen, sondern die Kompetenz der Länder zur Artikulation ihrer Staatsfundamentalnormen aus deren Staatsqualität hergeleitet und vorausgesetzt; es hat die Kompetenzregeln des Grundgesetzes auf einfaches Landesrecht bezogen und ausdrücklich darauf hingewiesen, daß das logisch vorausliegende Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsrecht „eine Stufe höher" angesiedelt sei, und sich auf die Folgen einer Kollision mit Bundesrecht konzentriert 5 0 5 . Die Länder sind darum grundsätzlich frei, Regelungen in ihre Landesverfassungen aufzunehmen, die als einfache Gesetze an den Kompetenzverteilungsnormen des Grundgesetzes scheitern w ü r d e n 5 0 6 . Über alle Gräben in der Frage, woraus die Befugnis zur Landesverfassunggebung herzuleiten ist, hinweg besteht Übereinstimmung zwischen den Vertretern der unterschiedlichen Positionen jedenfalls darüber, daß die bloße Benutzung der Maunz angesichts seiner Grundposition einer Parallelisierung (vgl. oben 3. Teil, C.I.) der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes auf Landesebene geradezu das Gegenteil vertreten; tatsächlich behauptet Maunz auch an der von Sachs angeführten Stelle (in: Maunz / Dürig, GG, Art. 31, Rn. 21) gerade eine „grundsätzlich bestehende staatliche Allzuständigkeit der Länder" und sucht damit die These F. Kleins von der Funktionslosigkeit des Art. 31 GG wegen vorrangiger Kompetenzregeln zu widerlegen (vgl. zur Position von Maunz hierzu auch ders., in: Maunz / Dürig, GG-Komm, Art. 142, Rn. 2). Auch März (Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 180 ff.), auf den sich Sachs beruft, vertritt nicht, daß die Kompetenz zur Landesverfassunggebung sich aus den Gesetzgebungskompetenzen ergebe, sondern beschränkt die aus Art. 28 Abs. 1 GG folgende Kompetenz zur Normierung von programmatischen Aussagen in den Landesverfassungen auf den Bereich, der nicht von vornherein der ausschließlichen Regelungsbefugnis des Bundes obliegt (vgl. i.E. unten cc). Auch die angeführte Stelle bei v. Mutius (Verw.A. 66 [1975], S. 161 [164]) bezeichnet die Ansicht des BVerfG, die Art. 70 ff. GG kämen bei Verfassungsbestimmungen grundsätzlich nicht in Frage, als „zutreffend" und deutet lediglich in einer Fußnote an, es sei „denkbar", daß eine Landesverfassungsnorm, die nicht nur Staatsfundamentalnorm ist, sondern eine dezidierte Regelung einer Materie der ausschließlichen Bundesgesetzgebung versucht, und dann wegen Verstoßes gegen Art. 70, 73 GG unwirksam ist. Auch Gallwas, JA 1981, S. 536 (539 f.), wendet sich gerade gegen eine Bindung des Landesverfassunggebers an die Kompetenzverteilungsnormen des GG und beruft sich dazu auf Art. 28 Abs. 1 und Abs. 3 GG. Es bleibt zum Beleg der „traditionellen Sichtweise" danach vor allem der Hinweis auf Sachs' eigene Ansicht in den DVB1. 1987 (S. 857 [863]) und die diese zustimmend zitierende Stelle bei Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1988), S. 7 (12, Fn. 21). 503 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 195; Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm, . Art. 142, Rn. 2. 504 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 195. 505 BVerfGE 36, 342 (361, 364, 366). 506 y. Olshausen, Landes Verfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 157.

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Form des Verfassungsrechts keine Handhabe dafür bieten dürfe, eine fehlende Sachkompetenz der Länder zu überspielen 507. Unabhängig davon, ob im Zusammenhang der Art. 70 ff. GG eine Landeskompetenz aus der Natur der Sache oder eine aus der Staatsqualität folgende Verfassungshoheit angenommen wird, soll diese sich darum nur auf den Bereich des materiellen Verfassungsrechts beziehen 5 0 8 ; allein die formelle Aufnahme - einer materiell nicht in die Verfassung gehörenden, sondern sachregelnden Bestimmung - in die Verfassungsurkunde des Landes soll nicht kompetenzbegründend wirken können. Die Abgrenzung ist besonders schwierig in dem das Verhältnis Staat - Bürger betreffenden Grundrechtsbereich. Das Verhältnis des einzelnen zur Landesstaatsgewalt soll nur insoweit zum materiellen Landesverfassungsrecht gehören - und damit in die Landeskompetenz fallen - als diese gegenüber dem einzelnen nicht bundesrechtlich gebunden ist 5 0 9 . Grundrechte in den Landesverfassungen dürften sich danach „schon kompetenzrechtlich nur auf Spielräume innerhalb der bundesgesetzlichen Regelung und auf die Situation eines Wegfalls des Bundesgesetzes beziehen" 510 . Gegenüber der extrem auf die Kollisionsvermeidung durch Perfektionierung der Kompetenzzuordnung fixierten Vorstellung, die mitunter zu künstlich wirkenden Verlagerungen von Kollisionsproblemen in den Kompetenzbereich führt, ist daran zu erinnern, daß Mißbräuche schon durch den Vorrang auch des einfachen Bundesrechts im Kollisionsfall ausgeschlossen sind 511 . Auch der Grundsatz der Bundestreue 512 oder ein allgemeines Verbot von Tätigkeiten, die die Wahrnehmung der ausschließlichen Bundeszuständigkeiten beeinträchtigen oder den Bundesgesetzgeber unter Druck setzen würde 513 , könnten mögliche Mißbräuche ohne den Rückgriff auf Kompetenzkonstruktionen vermeiden. Das Verhältnis von (kompetenzmäßig zustandegekommenen) Bundes- und Landesgrundrechten wird von Art. 31 und 142 GG geregelt 514 . Landesgrundrechte, die mit Bundesrecht kollidieren, also auf einen Sachverhalt anwendbar sind und zu unterschiedlichen Rechtsfolgen führen 515 , werden durch das entgegenstehende Bun507 So Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (863); Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 35; v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 156; Krause, Jus 1975, S. 160 (164); Zacher, in: Nawiasky / Leusser / Schweiger / Zacher, Verf. BY, Einl. IV., Rn. 33. 508 Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (863); ders., ThürVBl. 1993, S. 121 (122 f.); v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 157 f.; Jutzi, Landesverfassungsrecht und Bundesrecht, S. 21 f. 509 Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121 (123). 510 Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121 (123). su Ebenso Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 35 (a.E.). 512 So v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 157. 513 So Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm, Art. 71, Rn. 30; Bothe, in: Alt.Komm. GG, Art. 71, Rn. 3, jeweils unter Hinweis auf BVerfGE 8, 104 (117) [Volksbefragung zur Atombewaffnung in Hamburg und Bremen]. 514 Vgl. dazu oben 3. Teil, C.II.3.b). 515 BVerfGE 36, 342 (363); Sachs, DVB1 1987, S. 857 (862); ders., ThürVBl. 1993, S. 121 (124); Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 32; Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen 1

Boehl

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

desrecht nach Art. 31 GG „gebrochen" 516 . Rechtsfolge des Art. 31 GG ist nach herrschender Meinung die Nichtigkeit der betreffenden Landesvorschrift 517. Nach einer in der Minderheit gebliebenen neueren Ansicht soll es dagegen insofern nur zu einem Anwendungsvorrang der grundsätzlich in Kraft bleibenden Landesvorschrift kommen 518 . Das aber kann außerhalb des in BVerfGE 36, 342 angesprochenen Bereichs inhaltsgleicher Landesverfassungsbestimmungen, der im Grundrechtsbereich durch Art. 142 GG speziell geregelt ist, nicht anerkannt werden. Insbesondere lassen sich aus Art. 142 GG über den von ihm geregelten Bereich übereinstimmender Grundrechte hinaus keine Folgerungen für den Bereich kollidierender Grundrechte ableiten 519 . Auch eine Differenzierung zwischen Verfassungsrecht des Bundes auf der einen und einfachem Bundesrecht und Verordnungsrecht des Bundes auf der anderen Seite kann nicht unter dem Aspekt möglicher Änderung des Bundesrechts zur Aussetzung der regelmäßigen Nichtigkeitsfolge bei Art. 31 GG zugunsten einer bloßen Überlagerung oder Verdrängung führen 5 2 0 . Denn auch Verfassungsrecht des Bundes kann sich ändern (Art. 79 GG); ein Unterschied zwischen den Normebenen, der entgegen dem Wortlaut des Art. 31 GG („Bundesrecht") eine Ungleichbehandlung sub specie Art. 31 GG rechtfertigen würde, besteht nicht. Mit der herrschenden Meinung ist darum daran festzuhalten, daß auch Landesgrundrechte, die kompetenzmäßig gesetztem Bundesrecht widersprechen, nichtig sind. Anderes gilt aber für Landesgrundrechte, die mit Bundesrecht übereinstimmen. Nach Art. 142 GG bleiben Bestimmungen der Landesverfassungen insoweit in Kraft, als sie „in Übereinstimmung mit den Artikeln 1 bis 18" GG Grundrechte gewährleisten. Die Vorschrift wird allgemein dahingehend ausgelegt, daß auf der einen Seite die Nennung auch des Art. 18 GG, der gar kein Grundrecht enthält, als Bundesländer, S. 48 f.; Jutzi, Landesverfassungsrecht, S. 20; vgl. aber auch v. Mutius, Verw.A. 66 (1975), S. 161 (165). 516 BVerfGE 1, 264 (280 f.); Vgl. auch z. B. Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 41; Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (32); Jutzi, Landesverfassungsrecht, S. 24 ff.; Dietlein, Jura 1994, S. 57 (60). Vgl. auch v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 125; Wahl, AÖR 112 (1987), S. 26 (28). 517 BVerfGE 29, 11 (17); Gubelt, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 31, Rn. 20; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Art. 31, Rn. 5; Füßlein, in: Seifert / Hömig, GG, Art. 31, Rn. 2; Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (152); Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 40, 51; Jutzi, Landesverfassungsrecht, S. 26 f., 54; Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 56 f.; Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (32, Fn. 92); E.W Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (122). 518 y. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 125 ff.; jetzt auch Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (239). 519 So aber v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 128, mit dem Argument, Art. 142 GG wolle generell für den Bereich grundrechtlicher Überschneidungen eine Sonderregelung gegenüber der allgemeinen Regel des Art. 31 GG treffen. 520 So aber der Ansatz von v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 124 ff., 133.

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redaktionelles Versehen anzusehen ist 5 2 1 und daß andererseits Grundrechte beziehungsweise grundrechtsgleiche Rechte außerhalb des I. Abschnitts des Grundgesetzes in gleicher Weise von Art. 142 GG erfaßt werden 522 . Nach ganz herrschender Ansicht gilt Art. 142 GG nicht nur für die Landesgrundrechte, die bei Inkrafttreten des Grundgesetzes bereits in Kraft waren und darum im strengen Wortsinn „in Kraft bleiben" können, sondern auch für nach 1949 entstandenes Landesverfassungsrecht 523. In den Regelungsbereich des Art. 142 GG sollen nach h.M. neben den Freiheits- und Gleichheitsgrundrechten auch soziale Grundrechte 524, Leistungsgrundrechte 525 und im I. Abschnitt enthaltene institutionelle Garantien 526 fallen. Bloße Programmsätze, Staatsziele und Grundsatznormen bzw. gemeinschaftsordnende Normen werden dagegen nicht von Art. 142 GG erfaßt 527 , wobei allerdings die Brisanz der Zuordnung zum Anwendungsbereich dieser Vorschrift seit der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 31 GG und inhaltsgleichem Landesverfassungsrechts 528 stark reduziert ist. „Übereinstimmung" im Sinne des Art. 142 GG ist nicht nur bei Wortgleichheit, sondern jedenfalls bei Inhaltsgleichheit der Grundrechtsgewährleistung in der Landesverfassung mit dem entsprechenden Bundes-Grundrecht gegeben529. Nach herrschender Meinung 530 stehen darüber hinaus auch solche Landesgrundrechte „in

521 E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (120 m.w.N.); Sachs, DÖV 1985, S. 469 (m.w.N Fn. 2); Denninger, in: Alt.Komm. GG, Art. 142, Rn. 4; Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm, Art. 142, Rn. 5. 522 BVerfGE 22, 267 (271); E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (120 m.w.N.); v. Münch, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 142, Rn. 8; Sachs, DÖV 1985, S. 469 (m.w.N Fn. 2); Dietlein, Jura 1994, S. 57 (58 f.); ders, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 30 m.w.N.; Denninger, in: Alt.Komm. GG, Art. 142, Rn. 4; Pietzcker; HStR IV, § 99, Rn. 42; Schmidt-Bleibtreu / Klein, GG-Komm., Art. 142, Rn. 1; Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm, Art. 142, Rn. 5. 523 Vgl. z. B. Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm, Art. 142, Rn. 6 f.; Denninger, in: Alt.Komm. GG, Art. 142, Rn. 9; Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 42; Gallwas, JA 1981, S. 536 (538); Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 25 f. m.w.N. 524 Sachs, DÖV 1985, S. 469 (475); Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 42; Denninger, in: Alt.Komm. GG, Art. 142, Rn. 9; Dietlein, Jura 1994, S. 57 (58); ders., Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 125. 525 Sachs, DÖV 1985, S. 469 (475); Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 42; Denninger, in: Alt.Komm. GG, Art. 142, Rn. 9; Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 30 ff. 526 Böckenförde /Grawert, DÖV 1971, S. 119 (120); Dietlein, Jura 1994, S. 57 (58); ders., Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 28 f.; vgl. auch Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm, Art. 142, Rn. 9. 527 E.-W. Böckenförde /Grawert, DÖV 1971, S. 119 (121); Dietlein, Jura 1994, S. 57 (58); ders., Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 28. 528 BVerfGE 36, 342; vgl. dazu ausführlich oben 3. Teil, C.II.3.b): 529 Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (121); Sachs, DÖV 1985, S. 469 (471); v. Münch, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 142, Rn. 4; Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (153); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 198 (Fn. 398). 1

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Übereinstimmung" mit dem Grundgesetz, die einen weitergehenden 531 Grundrechtsschutz gewährleisten, weil die Grundrechte des Grundgesetzes insoweit lediglich einen Mindeststandard bundeseinheitlicher Gewährleistung darstellen sollen. Schon in bezug auf weitergehende Grundrechte ist das Mindeststandard-Argument aber nicht unproblematisch. Kritisiert wird insofern, daß es einseitig auf die Freiheits- und Abwehrgrundrechte zugeschnitten ist; besonders bei Leistungs- und Teilhabegrundrechten beeinträchtigen weitergehende Garantien zugunsten des einen Grundrechtsträgers dagegen bei begrenzten Ressourcen unter Umständen die Rechtsposition eines anderen Grundrechtsträgers und konterkarieren so den in der grundgesetzlichen Gewährleistung enthaltenen Interessen- und Güterausgleich 532. Das „rechtsstaatliche Verteilungsprinzip", als dessen Ausdruck das Mindeststandard-Argument gilt 5 3 3 , oder eine unreflektierte Anwendung der „in dubio pro libertate"-Formel 534 hat jedoch auch in bezug auf die Freiheitsgrundrechte keine verfassungstranszendente Allgemeingültigkeit. Seine Defizite werden deutlich, sobald jenseits des bipolaren Staat-Bürger-Verhältnisses auch Drittbetroffene 535 und konfligierende Schutzgüter in die Überlegung einbezogen werden. Der Rechtsstaat garantiert nicht nur Freiheits-, sondern auch Schutzrechte und Sicherheitsinteressen, deren möglichen Konflikt mit einer einseitigen Freiheitsmaximierung durch die pauschale Ausnahme weiterreichender Landesgrundrechte von der Kollisionsregelung des Art. 31 GG nicht überzeugend bewältigt wird. So würde beispielsweise

530 Jutzi, DÖV 1983, S. 836 (837 m.w.N.); v. Münch, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 142, Rn. 5; Denninger, in: Alt.Komm. GG, Art. 142, Rn. 6; Sachs, DÖV 1985, S. 469 (472 m.w.N.); Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 49, 52; Maurer, in: Maurer / Hendler, Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 27 (32); E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (120); Krause, Jus 1975, S. 160 (162); Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (237); Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (153); Dietlein, Jura 1994, S. 57 (59); v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 117. Vgl. auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 198. 531 Weitergehender Grundrechtsschutz umfaßt dabei sowohl neue Grundrechte, als auch Grundrechte mit weiterem Schutzbereich, verstärkter Gewährleistung, engeren Schranken bzw. weniger weit gehender Begrenzbarkeit und Begünstigung eines weiteren Personenkreises möglicher Grundrechtsadressaten. Vgl. Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (237); E.W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (121); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 198; Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 82; v. Olshausen, Landes Verfassungsbesch werde und Bundesrecht, S. 108. 532 Vgl. vor allem März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 199, mit überzeugenden Beispielen; ebenso Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 50 f.; vgl. auch Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (32, Fn. 91). Das Problem wird dagegen nicht gesehen bei Sachs, DÖV 1985, S. 469 (475, 477). 533 E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (120), im Anschluß an C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 125 ff. 534 Vgl. insbesondere Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 1, 47. 535 Vgl. Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 34 ff., 47; Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 88.

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ein „Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft", wie es in manchen der ersten Entwürfe für Verfassungen der neuen Bundesländer auftauchte 536, mit der Schutzpflicht des Staates zugunsten des Rechtes eines ungeborenen Menschen auf Leben 5 3 7 kollidieren 538 . Es ist insofern vertreten worden, die Herausnahme weitergehender Landesgrundrechte aus der Vorrangregel des Art. 31 GG über Art. 142 GG gelte als bloße Vermutungsregel dort nicht, wo „das GG klar zu erkennen gibt, daß der von ihm gewährte ,Mindeststandard' zugleich ... das Höchstmaß der Freiheits- oder Gleichheitsrechtes sein soll, über das hinaus Rechtsgewährungen nicht erfolgen dürfen", was immer dann anzunehmen sei, wenn „ein andersgearteter Normierungswille aus den betreffenden Regelungen klar ersichtlich ist" 5 3 9 . Das könnte auch dann der Fall sein, wenn die Bundesverfassung für einen Sachbereich in ihren Kompetenznormen den Vorrang einer bundesrechtlichen Regelung statuiert hat 5 4 0 . Jedenfalls bewirkt Art. 142 GG nicht einen Bestandsschutz für weitergehende Landesgrundrechte in dem Sinne, daß sie von entgegenstehendem grundgesetzkonformem Bundesrecht nicht nach Art. 31 GG gebrochen werden könnten 541 . So würde sich beispielsweise ein gegenüber Art. 16 a GG weitergehendes Landesgrundrecht auf Asyl nicht gegen die Sachregelungen im Asylverfahrensgesetz des Bundes durchsetzen können 542 ; ein über §§ 53 Abs. 1 Nr. 5, 70 Abs. 2 StPO hinausreichendes landesverfassungsrechtliches Zeugnisverweigerungsrecht für nicht journalistisch tätige Personen im Pressebereich würde sich wegen Art. 31 GG nicht gegen das vom Bund verfassungsgemäß gesetzte Strafprozeßrecht durchsetzen 543. 536 Vgl. Entwurf des Verfassungsauschusses Brandenburg, GVB1. 1991, S. 96 (abgedruckt auch als Anhang I / 1 zu Häberle, JÖR NF 41 (1993), S. 69 [93 ff.]); vgl. auch Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 73. 537 BVerfGE 39, 1 (46, 65); 88, 203 (252 ff.). 538 vgl. hierzu Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 50; Sachs, DÖV 1985, S. 469 (477); Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 73.

539 E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (121); Jutzi, Landesverfassungsrecht und Bundesrecht, S. 37; Gallwas, JA 1981, S. 536 (541); Dietlein, Jura 1994, S. 57 (60 f.); ders., Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 51. Vgl. dazu aber auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 200; Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (237); Sachs, DÖV 1985, S. 469 (472, 476). 540 So ζ. Β. v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 135, für den Fall, daß ein Landesgrundrecht über Art. 4 Abs. 3 GG hinaus von der nach Art. 73 Nr. 1 GG eingeführten allgemeinen Wehrpflicht freistellen will. 541 v. Münch, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 142, Rn. 6; Denninger, in: Alt.Komm. GG, Art. 142, Rn. 3; Schmidt-Bleibtreu / Klein, GG-Komm., Art. 142, Rn. 1; Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm, Art. 142, Rn. 3; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, § 3, Rn. 90; v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 135; Jutzi, Landesverfassungsrecht, S. 37; Gallwas, JA 1981, S. 536 (540); Dietlein, Jura 1994, S. 57 (61); ders., Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 46, 55, 69; W. Schmidt, in: Meyer / Stolleis, Hess. Staats- und Verwaltungsrecht, S. 20 (23). 542 Vgl. Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 84; zu weiteren Beispielen für diese Konstellation vgl. ders., Jura 1994, S. 57 (61).

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Über den Grundrechtsschutz des Grundgesetzes hinausgehende Landesgrundrechte, die nicht wegen einer Kollision mit Bundesrecht nichtig sind, binden die Landesstaatsgewalt, also den Landesgesetzgeber, wenn die einfachgesetzliche Regelung dem Land obliegt, sowie die Landesverwaltung und die Justiz des Landes bei der Ausführung und Anwendung der Gesetze544. Da auch die Ausführung der Bundesgesetze durch die Landes Verwaltung Ausübung von Staatsgewalt des Landes darstellt, besteht auch in diesem Fall die Bindung an die Landesverfassung und die darin normierten Grundrechte, sofern diese nicht wegen einer Kollision mit Bundesrecht nichtig sind 545 . Umstritten ist, ob darüber hinaus auch Bundesorgane an weiterreichende Grundrechte in den Landesverfassungen gebunden sind. Einerseits wird vertreten, Landesgrundrechte könnten nur die Landesstaatsgewalt binden 546 und würden von vornherein keine Bindung des Bundesgesetzgebers bezwecken, die sie auch wegen Art. 31 GG - Rechtsetzungsakte des Bundesgesetzgeber brechen Landesrecht jeder Stufe - nicht erreichen könnten 547 . Andererseits wird darauf hingewiesen, daß nach Art. 20 Abs. 3 GG zwar der Bundesgesetzgeber nur an das Grundgesetz, Exekutive und Judikative jedoch ausdrücklich an „Recht und Gesetz" gebunden seien, worunter auch das Landesverfassungsrecht - und damit die Grundrechte in den Landesverfassungen - fällt 5 4 8 . Die praktische Bedeutung dieser Streitfrage, die auf den ersten Blick eine erhebliche Ausweitung des Gestaltungsbereichs des Landesverfassunggebers betrifft, erscheint jedoch als äußerst gering: Der Bereich, in dem Bundesorgane Bundesrecht anwenden und dabei von über die Bundesgrundrechte hinausgehenden Landesgrundrechten gebunden werden, die aber ihrerseits insoweit, als sie über das Bundesrecht hinausgehen, nicht durch kollidierendes Bundesrecht nach Art. 31 GG gebrochen werden, dürfte wohl eher theoretisch, jedenfalls minimal sein. Problematisch sind vor allem solche Landesgrundrechte, die einen gegenüber dem Grundgesetz weniger weit reichenden Schutz 549 gewähren. Während diese 543 Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 76 ff. s 4 4 BVerfGE 36, 342 (368); vgl. auch Jutzi, Landesverfassungsrecht, S. 23.

545 Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (34); v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 158. 546 E.-W. Böckenförde /Grawert, DÖV 1971, S. 119 (121); Friesenhahn, zit. v. Olshausen, Landes Verfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 125. w Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (862). März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 201; v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 125; Grimm, in: Grimm / Papier, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (51 f.); Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 35 (Fn. 157). 548

549 Ein geringerer Grundrechtsschutz besteht, wenn ein Grundrecht des Grundgesetzes in einer Landesverfassung überhaupt nicht, mit engerem Schutzbereich, engerem Gewährleistungsgehalt, weitergehender Einschränkbarkeit oder nur für einen kleineren Personenkreis gilt; vgl. Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (238); E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (121); v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 108; März,

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nach der hergebrachten und wohl herrschenden Ansicht nicht im Sinne des Art. 142 GG in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz stehen und daher nach Art. 31 GG mit Nichtigkeitsfolge gebrochen werden 550 , mehren sich neuerdings die Stimmen, die das in Frage stellen 551 . Die zur Begründung weiterreichenden Grundrechtsschutzes geprägte Formel vom Mindeststandard wird von der h.M. auf das Problem weniger weitgehender Grundrechte mit der Folge übertragen, daß nicht dem vom Grundgesetz statuierten Mindeststandard entsprechende Landesgrundrechte nicht mit dem Grundgesetz übereinstimmen und darum nichtig sein sollen. Das hätte auf den Bereich zulässiger Landesverfassunggebung insofern Auswirkungen, als die Aufnahme entsprechender Bestimmungen in Landesverfassungen die Normierung nichtigen Rechts bedeuten würde und darum unter dem Gesichtspunkt der Bundestreue zweifelhaft wäre 552 . Während die sog. „Ergänzungslehre 4'553, die heute allgemein abgelehnt wird 5 5 4 , darauf hinauslief, das Landesgrundrecht auf interpretativem Wege erst auf den Vollgehalt des Bundesgrundrechts zu erweitern, um es dann als übereinstimmend aufrechterhalten zu können, wird heute im Anschluß an die durch BVerfGE 36, 342 vorgegebene grundsätzliche Sicht des Regelungssystems des Grundgesetzes auf die fehlende Kollisionslage verwiesen 555 . Eine weniger weitgehende Freiheits- oder Gleichheitsgarantie oder engere Teilhabeansprüche bedeuteten ihrerseits nicht schon eine Freiheitsbeschränkung oder eine Legitimierung von Ungleichbehandlung oder Verweigerung der Teilhabe an Leistungen 556 . Auch weitergehende Beschränkungsmöglichkeiten eines LandesBundesrecht bricht Landesrecht, S. 198; Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 96. 550 E.-W. Böckenförde /Grawert, DÖV 1971, S. 119 (122, 126 Nr. 5.); Jutzi, Landesverfassungsrecht, S. 38 f.; v. Campenhausen, in: v. Mangoldt / Klein / v. Campenhausen, Das Bonner Grundgesetz, Art. 142, Rn. 9; Denninger, in: Alt.Komm. GG, Art. 142, Rn. 7; v. Münch, in: v. Münch, GG-Komm., Art. 142, Rn. 7; Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (153); Dietlein, Jura 1994, S. 57 (59); ders., Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 47; wohl auch Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (32 f.), Vgl. auch die weiteren Nachweise bei Sachs, DÖV 1985, S. 469 (473, Fn. 41); v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 108 (Fn. 11). 551 Vgl. Krause, Jus 1975, S. 160 (162, Fn. 20); v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 121; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 198 ff.; Sachs, DÖV 1985, S. 469 (473 f.); Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 34, 45 ff.; Maurer, in: Maurer / Hendler, Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 27 (32); Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (238). 552 Vgl. oben 3. Teil, C.II.3.a). 553 Holtkotten, in: Bonner Komm., Art. 142, Erl. II.2. 554 Vgl. Sachs, DÖV 1985, S. 469 (473 f.); Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (238); Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 45; Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 11; v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 122. 555 Vgl. Sachs, DÖV 1985, S. 469 (474 ff., 477); Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 45 (m.w.N. Fn. 85); v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 122; Gallwas, JA 1981, S. 536 (541). 556 Sachs, DÖV 1985, S. 469 (477); Gallwas, JA 1981, S. 536 (541); Maurer, in: Maurer / Hendler, Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 27 (32); in diese Rieh-

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

grundrechts, wie etwa ein Gesetzesvorbehalt für die Wissenschaftsfreiheit 557, die in Art. 5 Abs. 3 GG formell vorbehaltlos gewährleistet ist 5 5 8 , bedeuten nach neuerer Ansicht nicht schon einen Eingriff in das weitergehende Bundesgrundrecht 559; sofern es sich nicht ohnehin nur um eine bloß deklaratorische Schutzbereichserweiterung handelt, die zum Beispiel ungeschriebene Schranken des Bundesgrundrechts positiviert 560 , ist dadurch, daß etwas bundesverfassungsrechtlich Verbotenes landesverfassungsrechtlich erlaubt wäre, noch nicht gegen das Verbot verstoßen worden - dies wäre erst bei einem Gebrauchmachen von der landesverfassungsrechtlich offengelassenen Möglichkeit der Fall. Schließlich stelle auch ein für einen engeren Personenkreis gewährtes Landesgrundrecht nicht die Geltung des Bundesgrundrechts für andere Personen in Frage 561 . Nach dieser Ansicht wären also auch weniger weitreichende Landesgrundrechte regelmäßig nicht nichtig; dem Landesverfassunggeber wären dann solche Normierungen nicht verwehrt. Ob sich die dargestellte neuere Lehre durchsetzen wird, ist noch nicht absehbar, muß aber unter der hier verfolgten Fragestellung auch nicht entschieden werden; auch die bislang herrschende Ansicht hat in jüngster Zeit weiterhin Anhänger gefunden 562. Unter der Fragestellung nach dem realen Umfang von Gestaltungsfreiheit und Bindung des Landesverfassunggebers läßt sich angesichts der Verbreitetheit und Begründungstiefe der neueren Lehre festhalten, daß es jedenfalls nicht von vornherein als bundestreuewidrig wird angesehen werden können, wenn sich ein Land auf den Standpunkt dieser Lehre stellt und einen entsprechenden Bereich landesautonomer Gestaltung in Anspruch nimmt. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Länder eine weitreichende Befugnis zur Normierung von Grundrechten in ihren Verfassungen haben; diese folgt nicht aus den Kompetenzverteilungsregeln des Grundgesetzes für die einfache Getung wohl auch die Überlegungen bei Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm, Art. 142, Rn. 14 ff. 557 Vgl. zu diesem Beispiel vgl. Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 48, der selbst einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt für ein entsprechendes Landesgrundrecht für zulässig hält; die Gesetzesvorbehalte für die Wissenschaftsfreiheit in einigen der Verfassungen der neuen Bundesländer beschränken sich demgegenüber durchweg auf eine Positivierung der nach h.M. auch dem Bundesgrundrecht immanenten Schranken, die darum dem Inhalt nach gegenüber Art. 5 Abs. 3 GG auch keinen engeren Grundrechtsschutz bedeuteten und darum jedenfalls nach Art. 142 GG zulässig sind. 558 Vgl. Wahl, UTR 14, S. 7 (28); Stegemann-Boehl, Fehlverhalten von Forschern, S. 37 m.w.N.; Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 115 ff. 559 Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 46; Sachs, DÖV 1985, S. 469 (478); v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 121; differenzierend Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 53 f., 101, 112. 560 Vgl. Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. '96 ff. 561 Sachs, DÖV 1985, S. 469 (478). 562 Vgl. insbesondere Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1987), S. 7 (32 f.), der im Ergebnis wohl doch „der unter Beschüß geratenen h.L." zuneigt. Ebenso neuerdings auch Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 40 f., 53, 74; ders., Jura 1994, S. 57 (59 f.); Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (153).

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setzgebung, kann aber auch nicht zur Sachregelung in der Gesetzgebung des Bundes unterliegenden Materien mißbraucht werden. Mit Bundesrecht kollidierende Landesgrundrechte werden gemäß Art. 31 GG mit Nichtigkeitsfolge (nicht nur Anwendungsvorrang) gebrochen; die bewußte Aufnahme derartig nichtiger Bestimmungen in eine Landesverfassung verstieße gegen das Gebot der Bundestreue. Mit dem Grundgesetz übereinstimmende Landesgrundrechte bleiben gemäß Art. 142 GG in Kraft, wobei Übereinstimmung nach h.M. jedenfalls bei Inhaltsgleichheit und weitergehendem Grundrechtsschutz, dem nicht ein abschließender Normierungswille des Grundgesetzes entgegensteht, gegeben ist. Nach einer im Vordringen befindlichen neueren Ansicht ist dies auch bei hinter dem Grundrechtsschutz zurückbleibenden Landesgrundrechten der Fall, solange sie dem Bundesrecht nicht widersprechen. Der Landesverfassunggeber hat im Grundrechtsbereich also nicht unerhebliche Gestaltungsfreiheit. Dieser kommt jedoch wegen des umfassenden Grundrechtsschutzes des Grundgesetzes in weiten Bereichen keine effektive materielle Bedeutung, sondern nur eine verfassungsprozessuale und eine Bedeutung als aktuell nicht effektive „Reservenormen" zu.

cc) Staatszielbestimmungen, Programmsätze, Strukturprinzipien Neben dem Staatsorganisationsrecht und den Grundrechten ist zur Bestimmung des tatsächlichen Gestaltungsspielraums des Landesverfassunggebers im Bundesstaat eine dritte Gruppe von Verfassungsnormen des Landes in ihrem Verhältnis zum Bundesrecht zu beachten. Es handelt sich um eine ansonsten in sich durchaus heterogene Gruppe von Verfassungsstrukturprinzipien 563 und gemeinschaftsordnenden Normen 564 , Grundsatznormen und Ordnungsgrundsätzen 565, (vorwiegend kulturellen und sozialen) Staatszielbestimmungen566, Programmsätzen, legislativen Leitlinien und Gesetzgebungsaufträgen 567, die als Staatsfundamentalnormen in die Verfassungsurkunden der Länder Aufnahme gefunden haben. Von den Grundrechten unterscheiden sich diese dadurch, daß die hierunter zusammengefaßten Normen keine unmittelbare justiziable Rechtswirkung zugunsten des Bürgers entfalten 568 . Der Unterschied zum Staatsorganisationsrecht besteht darin, daß sie nicht eindeutig nur für einen vom Regelungsgegenstand des Grund563 Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (863). BVerfGE 36, 342 (364) spricht von „Strukturnormen". 564 E.-W. Böckenförde / Grawert, DÖV 1971, S. 119 (121); Wahl, AÖR 112 (1987), S. 26 (41). 565 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 182. 566 Vgl. die Bestandsaufnahme bei Wahl, AÖR 112 (1987), S. 26 (42). 567 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 185; Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 124; vgl. auch Jutzi, Landesverfassungsrecht, S. 40 ff. 568 Vgl. auch ζ. B. Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (156); Dietlein, Jura 1994, S. 57 (58); ders., Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 134.

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

gesetzes verschiedenen Bereich gelten, sondern einen umfassenderen Anspruch zur Gestaltung der Rechts- und Sozialordnung in einem Ausschnitt des Bundesgebiets erheben. Ein solcher Anspruch kann aber angesichts des häufig beschriebenen Übergewichts der bundesgesetzlichen Regelung - bei überwiegender administrativer Ausführung durch Verwaltungsträger des Landes - leicht zu Überschneidungen führen. Art. 142 GG greift hier - auch bei grundrechtsähnlicher Formulierung von (vorwiegend sozialen 569 ) Staatszielbestimmungen - nicht ein 5 7 0 . Die Kompetenz zur Aufnahme auch derartiger Bestimmungen ist jedoch in Art. 28 Abs. 1 GG vorausgesetzt 571 . Auch das Bundesverfassungsgericht, das sich in der Entscheidung zum Niedersächsischen Landesbesoldungsgesetz mit einer Art. 33 Abs. 5 GG entsprechenden 572 Landesverfassungsbestimmung auseinanderzusetzen hatte, hat diese „Strukturnorm' 4573 unproblematisch zu jenen Staatsfundamentalnormen 574 gezählt, die aufgrund der Eigenstaatlichkeit der Länder in deren Verfassungshoheit fielen. Das Problem, daß die Länder gerade in diesem Bereich, wäre ihnen die Normsetzung umfassend gestattet, zumindest verbal weit in den an sich dem Bund zur Regelung obliegenden Bereich eingreifen könnten 575 , hat gerade hier zu verschiedenen Ansätzen der Begrenzung im Hinblick auf die Verteilung der Regelungskompetenzen im Grundgesetz geführt. Insofern ist zum einen die von Sachs vorgeschlagene Lösung zu nennen, die Befugnis zur Verfassunggebung generell an die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen im VII. Abschnitt des Grundgesetzes zu binden 576 . Eine differenzierte Lösung hat März 5 7 7 vorgeschlagen: Der Landes569 Vgl. Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (238); Dietlein, Jura 1994, S. 57 (58); Kersten, DÖV 1993, S. 896 (900). 570 So BVerfGE 36, 342 (357 f.) entgegen dem Vörtrag des Klägers des Ausgangsverfahrens, der Art. 142 GG auch auf eine Art. 33 Abs. 5 GG entsprechende Ordnungsnorm für anwendbar hielt, vgl. BVerfGE 36, 342 (355), während das Bundesverfassungsgericht das Verhältnis Art. 31 GG zuordnet. 571 Sacksofsky, NVwZ 1993, S. 235 (239); W. Schmidt, in: Meyer / Stolleis, Hess. Staatsund Verwaltungsrecht, S. 20 (23). 572 y. Mutius, Verw.A. 66 (1975), S. 161. 573 BVerfGE 36, 342 (364). 574 Der rechtlich nicht klar definierte Begriff der „Staatsfundamentalnorm" scheint beim Bundesverfassungsgericht aber nicht auf die Gruppe der Grundsatz- und Strukturnormen beschränkt zu sein, sondern sämtliche in der Verfassungsurkunde aufgenommenen Bestimmungen zu umfassen; ebenso Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 43 (Fn. 186). 575 Vgl. auch Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 135, 139, 141. 576 Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121 (122); ders., DVB1. 1987, S. 857 (863); v. Mutius / Friedrich, StWStP 1991, S. 243 (250). Vgl. dazu ausführlich oben 3. Teil, C.II.3.c)bb) (Fn. 502). 577 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 183 ff.; ähnliche Überlegungen wohl auch schon bei v. Mutius, Verw.A. 66 (1975), S. 161 (164 f., Fn. 19). Der betreffende Abschnitt bei

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verfassunggeber soll danach zur Strukturierung und zu programmatischen Aussagen nur in denjenigen Sachbereichen berechtigt sein, die dem Land aktuell oder zumindest virtuell zur einfachgesetzlichen Regelung offenstehen 578 . Das führt i m Ergebnis dazu, daß das Land zur programmatischen Anfüllung in Bereichen, die der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes unterliegen, inkompetent ist und Landesnormen insoweit von vornherein nichtig w ä r e n 5 7 9 . I m Bereich der konkurrierenden Bundesgesetzgebung wären danach allerdings Landesverfassungsbestimmungen nicht nur, wie bei direkter Anwendung der Kompentenznormen auf die Verfassungsgesetzgebung, solange zulässig, wie das Land auch zur Regelung durch einfaches Gesetz befugt ist, solange also der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch gemacht hat, sondern auch dann noch, wenn der Bund nach Art. 72 Abs. 1 GG durch eigene Regelung den Ländern in diesem Bereich die Gesetzgebungskompetenz entzogen h a t 5 8 0 . Wenn der Landesgesetzgeber mindestens der Möglichkeit nach einmal wieder zuständig werden könnte, dann soll auch der Landesverfassunggeber (oder auch der verfassungsändernde Landesgesetzgeber) zur Strukturierung und programmatischen Aussagen in der Landesverfassung zu diesem Bereich zumindest die Kompetenz haben, wenn auch diese Verfassungsbestimmungen, solange der Bund die Materie regelt, keine März bezieht sich zwar laut Überschrift allgemein auf „das Verhältnis von Grundgesetz und Landesverfassungen"; bereits im ersten Satz und an zahlreichen Stellen wird jedoch deutlich, daß er eigentlich speziell von der - auch BVerfGE 36, 342 zugrundeliegenden - Normgruppe der Staatsziele, Programmsätze und Strukturbestimmungen handelt; die Überlegungen beziehen sich durchgehend auf „Strukturierung" (ebd. S. 183) und „programmatische Aussagen" (ebd. S. 183, 184 f., 186). Die nachfolgenden Abschnitte beziehen sich dagegen auf die von Art. 31 und 28 Abs. 1 und 2 GG sowie von Art. 142 GG geregelten Bereiche, ohne daß explizit wird, daß das Grundgesetz für spezielle Normgruppen zu unterschiedlichen Regelungstypen greift. Tatsächlich differenziert auch März zwischen „staatsorganisatorischen Homogenitätsgeboten", „grundrechtlichen Garantien" und „Ordnungsgrundsätzen" (vgl. ebd. S. 181 f., 188, 192). Eine Bereichsdifferenzierung zwischen Landesorganisationsrecht, Verfassungsstrukturprinzipien und Regelung des Staat-Bürger-Verhältnisses ist auch angedeutet bei Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (862 f.). 57 8 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 183. Ob auch eine bloße Ausführungszuständigkeit des Landes zu programmatischen Aussagen hierzu auf Verfassungsebene berechtigen soll, wird nur in einem Nebensatz angedeutet, vgl. a. a. O. a.E. 57 9 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 184. Auch hier hält März allerdings solche Bestimmungen in der Landesverfassung, die nur das Grundgesetz wiederholende „deklamatorische ,Geschwätzigkeit'" darstellen, offenbar für zulässig, sieht dies - zu Recht - aber schon dann in Richtung eigenständiger Normierungsversuche überschritten, wenn dem Landesverfassungsrecht eine eigene verfassungsprozessuale Wirkung zukommen soll (vgl. ebd. Fn. 345). Weitergehend Jutzi, Landesverfassungsrecht, S. 42, der unter Hinweis auf die Möglichkeit der Kompetenzübertragung auf die Länder nach Art. 71 GG landesverfassungsrechtliche Gesetzgebungsaufträge selbst in Materien der ausschließlichen Bundeskompetenz für zulässig hält, solange sie nicht mit materiellem Bundesverfassungsrecht, insbesondere den Grundrechten, kollidieren. 5S0 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 184; ebenso auch Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 35 (für die Gebiete der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung); wohl auch Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundeländer, S. 76.

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aktuelle Bedeutung haben, sondern nur „Reservenormen" darstellen. Angesichts der Strukturierung eines ursprünglich der Landeskompetenz obliegenden Sachbereichs und der Möglichkeit, daß die Landeskompetenz bei einem Wegfall der Bundesregelung wieder auflebt, sei es sachgerecht, daß die Landesverfassungsregelung nicht nichtig, sondern durch Bundesrecht nur suspendiert 581 sei, aber in Geltung und zumindest virtuell - für den Fall der Rückkehr der Regelungskompetenz zum Land 5 8 2 - und als Auslegungsgesichtspunkt für andere Bestimmmungen der Landesverfassung 583 anwendbar bliebe. Insofern würde anders als bei der Bindung der Verfassungsgebungskompetenz an die Gesetzgebungskompetenz, wie sie Sachs vertritt 584 , der Landesverfassunggeber also auch zur Setzung verfassungsrechtlicher Strukturnormen für solche Bereiche berechtigt sein, in denen er keine aktuelle Gesetzgebungskompetenz (mehr) hat, ohne daß er aber generell auf der Ebene des Verfassungsrechts von der in Art. 70 ff. GG vorgenommenen Zuordnung der Sachbereiche zur Regelung durch Bund oder Länder freigestellt würde 585 , wie es zum Beispiel v. Olshausen586 vertritt. Zwar läßt sich dieses Ergebnis - bei aller Abgewogenheit im Einzelnen - nur begrenzt auf den Wortlaut des Grundgesetzes stützen 587 ; allerdings finden sich im Grundgesetz überhaupt nur rudimentäre Regelungen und indirekte Hinweise über die Abgrenzung der Verfassunggebungskompetenzen von Bund und Ländern, die sich zudem vor allem auf die Bereiche der Staatsorganisation und der Grundrechte beziehen. Angesichts des von Art. 28 Abs. 1 GG umfassend vorausgesetzten Freiraums zur Verfassunggebung und des vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Auslegungskriteriums des Respekts vor einer Landesverfassung und der Vermeidung der „Amputation" von Staatsfundamentalnormen der Länder wird ein Nebeneinander sich nicht widersprechender Bundes- und Landesnormen in diesem Bereich angesichts des Vorrangs bundesrechtlicher Vorgaben im Kollisionsfall (Art. 31 GG 5 8 8 ) hinnehmbar sein.

581

März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 184 f. März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 184; ähnlich auch schon Krause, Jus 1975, S. 160 (164 f.). 582

583

Daraufhat vor allem Krause, Jus 1975, S. 160 (164), hingewiesen. 5S4 Sachs, ThürVBl. 1993, S. 121 (122); ders., DVB1. 1987, S. 857 (863). 585 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 185: „Über diese grundgesetzliche Grenzziehung gehen Teile des Schrifttums zu Unrecht hinaus, wenn sie die Landesverfassungen im vollen Umfang von den Zuständigkeitsvorschriften der Art. 70 ff. GG befreien und auch der einfachgesetzlichen Kompetenzordnung widersprechendes Landesverfassungsrecht... zulassen wollen". 586

v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 157. In diese Richtung geht auch die Kritik von Pietzcker, HStR IV, § 99, Rn. 40, allerdings in bezug auf Vorschläge, Suspension anstatt Nichtigkeit auch im Fall von Kollisionen, also nicht wie hier auf Kompetenzebene anzunehmen. 588 Zu Art. 31 GG vgl. oben 3. Teil, C.II.3.b). 587

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Denn neben der Kompetenzfrage ist auch bei den Staatszielbestimmungen, Programmsätzen und Strukturprinzipien die Kollisionsproblematik zu beachten. Aus kollisionsrechtlichen Gründen können sie auch dann, wenn man insoweit jedenfalls die Kompetenz des Landes bejaht, in den Landesverfassungen nur dann fortgehen, wenn sie mit dem Grundgesetz inhaltlich übereinstimmen. Die bei den Grundrechten bestehende Problematik weitergehender oder weniger weitgehender Gewährleistungen stellt sich hier nicht, da „weitergehend" und „zurückbleibend" mangels eines übergeordneten Maßstabs - wie des „rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips" 589 im Grundrechtsbereich - keine Kriterien für diese Normgruppe darstellen 590 . Staatszielbestimmungen, Programmsätze und Strukturprinzipien, die vom Grundgesetz abweichende Grundentscheidungen und programmatische Vorgaben treffen wollen, kollidieren mit der Bundesverfassung und sind darum nach Art. 31 GG nichtig, auch wenn das Land ansonsten zur Normierung in diesem Bereich berechtigt gewesen wäre. Der vom Bundesverfassungsgericht 591 zum Ausdruck gebrachte Respekt vor den Landesverfassungen kann nur dazu führen, daß ihre Landesverfassungen insoweit, als sie mit dem Bundesverfassungsrecht inhaltsg/dches592 Landesverfassungsrecht enthalten, nicht gebrochen werden und darum nicht zu einem „Verfassungstorso" werden; dieser Respekt kann aber nicht den verfassungsrechtlichen Gestaltungsspielraum der Länder erweitern. Das Bundesverfassungsgericht selber hat in seiner grundlegenden Entscheidung von 1974 ausdrücklich klargestellt, daß die Länder durch diese Entscheidung nur „gewinnen", daß ihre Verfassung „unangetastet" bleibt, also nicht zu einem Torso wird, soweit sie inhaltlich mit Sätzen des Grundgesetzes übereinstimmt, daß die Länder sie für ihre Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung zum Maßstab nehmen kön593

nen . Auch wenn den Ländern insoweit also nur mit dem Grundgesetz inhaltsgleiche Regelungen möglich sind, handelt es sich - jedenfalls außerhalb des einfachgesetzlich ausschließlich vom Bund zu regelnden Bereichs - nicht um bloße „deklamatorische ,Geschwätzigkeit 4 " 594 , sondern um Verfassungsnormen von einer aktuellen prozessualen und jedenfalls virtuell materiellen Bedeutung 595 . Gegen die Aufnahme von solchen Bestimmungen in die Landesverfassungen können aus Bundestreue-Gesichtspunkten dementsprechend auch keine Bedenken bestehen. Dem 589 Vgl. oben 3. Teil, C.II.3.c)bb). 590 „Ökologische und soziale Marktwirtschaft" ist in diesem Sinne nicht „weitergehend" als soziale Marktwirtschaft, sondern ein anders akzentuiertes Programm; Berufsbeamtentum „bleibt" nicht hinter einem einheitlichen öffentlichen Dienstrecht „zurück". 591 BVerfGE 36, 342 (366). 592 Vgl. BVerfGE 36, 342 (343 [Leitsatz 5], 366). 593 BVerfGE 36, 342 (368) [Niedersächsisches Landesbesoldungsgesetz]. 594 Vgl. März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 184. 595 Vgl. Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (864).

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Landesverfassunggeber steht also ein weiter Bereich zur normativen Ausgestaltung innerhalb der vom Grundgesetz vorgegebenen Inhalte frei.

d) Folgerungen Unter Zugrundelegung der neueren Sicht des Verhältnisses von Bundes- und Landesverfassungsrecht ergibt sich danach zusammenfassend, daß Landesverfassungsrecht in nicht unerheblichem Umfang neben dem Grundgesetz in Geltung bleibt und auch nachträglich normiert werden darf. Dabei ist zum einen der (engere) Bereich aktueller selbständiger materieller Bedeutung von Landesverfassungsrecht zu berücksichtigen, der vor allem das Staatsorganisationsrecht des Landes und über das Grundgesetz hinausgehende Landesgrundrechte, die nicht mit Bundesrecht kollidieren, umfaßt 596 . Zum anderen ist der Bereich, in dem mit dem Grundgesetz übereinstimmendes Landesverfassungsrecht eine zumindest verfassungsprozedurale Bedeutung hat und Maßstab für Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz des Landes sein kann 597 , sowie derjenige Bereich zu berücksichtigen, in dem Landesverfassungsrecht zwar keine aktuelle Bedeutung hat, aber jedenfalls nicht nichtig ist und eine virtuelle Bedeutung als „Reservenorm" hat 5 9 8 . Dies gilt vornehmlich für den Bereich der Landesgrundrechte, aber auch für landesverfassungsrechtliche Strukturnormen und programmatische Aussagen. Soweit Bestimmungen der Landesverfassungen danach in Geltung bleiben, bestehen auch keine Bedenken gegen eine nachgrundgesetzliche Aufnahme entsprechender Bestimmungen in die Verfassungsurkunden der Länder. Der Bereich landesautonomer Gestaltung des Verfassungsrechts geht damit auch über den Bereich aktueller rechtlicher Wirkung hinaus. Die Aufnahme von „Reservenormen" in die Landesverfassung ist nicht rechtsmißbräuchlich oder bundesstaatswidrig, solange diese nicht, wie ζ. B. programmatische Aussagen für den Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes oder den Homogenitätsbestimmungen nicht entsprechende staatsorganisatorische Landesregelungen, von vornherein nichtig wären. Der dem Landesverfassunggeber zugängliche Bereich wird damit lediglich durch die direkt für den Landesbereich geltenden Durchgriffsnormen, den Rahmen der Normativbestimmungen, den Bereich direkter Kollision mit Bestimmmungen der Bundesverfassung und die auch landesverfassungsrechtlicher Strukturierung unzugänglichen Materien der ausschließlichen Bundesgesetzgebung begrenzt.

596 Vgl. auch Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (863). 597 BVerfGE 36, 342 (368); vgl. auch Herdegen, HStR IV, § 97, Rn. 52; Gallwas, JA 1981, S. 536 (537); Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 15 m.w.N. (Fn. 45). 598 Vgl. Sachs, DVB1. 1987, S. 857 (864).

C. Verfassunggebung in den Ländern

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Weitergehende Postulate einer Beschränkung der Verfassungshoheit des Landes wegen „Grundgesetzwidrigkeit" in Bereichen, wo beide staatliche Ebenen abweichende Regelungen treffen, ohne daß ein Kompetenzmangel oder eine Kollision festzustellen ist, beruhen auf Vorstellungen einer umfassenden Unterordnung der Länder unter den Bund oder über den Umfang der Wirkung des Art. 31 GG 5 9 9 , die aus heutiger Sicht nicht der verfassungsrechtlichen Lage unter dem Grundgesetz entsprechen. Das entbindet aber andererseits nicht von den Grenzen, die auch nach der neueren Ansicht für den Landesverfassunggeber bestehen (insbesondere programmatische Aussagen im Bereich der ausschließlichen Bundesgesetzgebung, staatsorganisatorische Bestimmungen für Bundesorgane in Landesverfassungen, dem Grundgesetz widersprechende Landesgrundrechte) und von der Durchsetzung der Bundesregelungen im Konfliktfall in der Rechtswirklichkeit. Jedenfalls kann es angesichts der neueren Ansichten über die virtuelle Wirksamkeit von Reservenormen, die umfassend begründet sind und sich auf die neueren Ansätze in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stützen können, zumindest nicht als bundesuntreu angesehen werden, wenn ein Land sich auf den Standpunkt der neueren Lehren stellt und Reservenormen schafft, auch wenn über die Weisheit einer exzessiven Anreicherung von Landesverfassungen mit Reservenormen ohne aktuelle Rechtswirkung berechtigte Zweifel bestehen mögen. Die bewußte Schaffung von weitgehend nur auf dem Papier stehenden „Schattenverfassungen" ist zwar verfassungspolitisch bedenklich und dürfte gerade auch zur Stärkung des Selbstbewußtseins der (neuen) Länder tatsächlich ungeeignet oder gar kontraproduktiv sein; verfassungsrechtlich ist sie nicht verboten und jedenfalls für andere Träger von Staatsgewalt im Bundesstaat hinzunehmen. In Bezug auf die Ausgangsfrage nach der Möglichkeit der Anwendung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes auf die Verhältnisse im Land läßt sich danach festhalten, daß die Situation sich insofern von der allgemeinen Ausgangssituation der Verfassunggebung unterscheidet, als der Landesverfassunggeber in die bundesrechtliche Ordnung eingebunden und insbesondere auch bei seinen Grundentscheidungen an die Vorgaben des positiven Bundesverfassungsrechts gebunden ist, daß aber in der Perspektive der neueren Sicht zum Regelungssystem des Grundgesetzes gerade dieses ihm einen beachtlichen Freiraum zur Eigenbestimmung einräumt, der über die sonstigen Regelungsbefugnisse der Länder deutlich hinausreicht. Insbesondere im staatsorganisatorischen und im Grundrechtsbereich kommt die Gestaltungsfreiheit des Landesverfassunggebers der Ungebundenheit des pouvoir constituant nahe, wenn man auch jenseits der Landesebene Übersteigerungen und Mystifikationen der Allmacht und Ungebundenheit des pouvoir constituant gegenüber den realen Bedingungen der Verfassunggebung nicht überzeichnet. Im Bereich der Strukturnormen, Programmsätze und Staatsziele beschränkt sich der Ge599 Vgl. zur vielfach noch anzutreffenden Staatspraxis in dieser Frage v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, S. 116.

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

staltungsspielraum dagegen weitgehend auf die förmliche Setzung von inhaltlich vom Grundgesetz vorgegebenen Grundentscheidungen und unterscheidet sich damit nicht unerheblich von der sonstigen Ausgangslage der Verfassunggebung.

4. Verfahren

Landesverfassungsrechtliche Vorgaben für das Verfahren der Landesverfassunggebung kann es nicht geben, weil es sich, würde Landesverfassunggebung nach Regeln des Landesverfassungsrechts stattfinden, nicht um Verfassunggebung, sondern um Verfassungsänderungen auf der Grundlage der geltenden Verfassung handeln würde. Auch quantitativ umfangreiche Verfassungsrevisionen wie in jüngerer Zeit diejenigen in Schleswig-Holstein600 oder Niedersachsen 601 stellen darum keinen Fall von Verfassunggebung dar, sondern sind auf der Grundlage der alten Verfassung unter Beachtung des dort festgelegten Verfahrens der Verfassungsänderung 6 0 2 und darum im Fall Schleswig-Holsteins auch förmlich als Gesetz zur Änderung der Verfassung 603 ergangen. Umgekehrt haben sich Versuche, die originäre Verfassunggebung in den am 3. 10. 1990 neu entstandenen Bundesländern im beigetretenen Teil Deutschlands als bloße Verfassungsänderungen darzustellen 604 und dadurch an Verfahrensvorgaben und Mehrheitserfordernisse der ehemaligen Verfassungen der ehemaligen Länder der ehemaligen DDR zu binden, nicht durchsetzen können 605 . Auch das Grundgesetz enthält als Bundesverfassung keine Bestimmungen über das Verfahren der Landesverfassunggebung. Daß die Bestimmung der Regeln, nach denen sich die Bildung der Organe des Landes vollzieht, „Sache des Landes" 600

Vgl. Gesetz zur Änderung der Landessatzung für Schleswig-Holstein, GVB1. SH 1990, S. 391 ff. 601 Vgl. Niedersächsische Verfassung, Nds. GVB1. 1993, S. 107 ff. 602 Vgl. Verkündungsformel und Artikel 1 des Gesetzes zur Änderung der Landessatzung für Schleswig-Holstein, GVB1. SH 1990, S. 391: „Der Landtag hat das folgende Gesetz beschlossen; Artikel 35 der Landessatzung ist eingehalten: Artikel 1, Änderung der Landessatzung, Die Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 13. Dezember 1949 (GVOB1. Schl.-H. 1950 S. 3), in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Februar 1984 (GVB1. Schl.-H. S. 53) wird geändert und erhält folgende Fassung: „Verfassung des Landes Schleswig Holstein ..."; Verkündungsformel Niedersächsische Verfassung, Nds. GVB1. 1993, S. 107: „Der Niedersächsische Landtag hat unter Einhaltung der Vorschrift des Artikels 38 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung die folgende Verfassung beschlossen ...". 603 Gesetz zur Änderung der Landessatzung für Schleswig-Holstein, GVB1. SH 1990, S. 391 ff. 604 So Röper, ZG 1991, S. 149 (151, 168); dagegen schon Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (591 [Fn. 131], 573 [Fn. 4]). Vgl. dazu oben 3. Teil, Kapitel A (Fn. 89). 605 Vgl. für die h.M. Hans v. Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 19 (Fn. 38); R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, S. 72 ff.; Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 3; Bayer, DVB1. 1991, S. 1014 (1015); Linck, DÖV 1991, S. 730 (732); Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (585).

C. Verfassunggebung in den Ländern

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ist 6 0 6 , gilt nicht nur für den verfaßten Zustand, sondern auch für die Situation der Verfassunggebung. Das Zustandekommen der Landesverfassungen ist damit aus der Sicht der Bundesverfassung dem den Ländern in bezug auf ihren Verfassungsraum bewußt eingeräumten Freiraum, der Verfassungshoheit beziehungsweise Verfassungsautonomie der Länder zugeordnet. Andererseits sind die Länder aber auch in der Situation der Verfassunggebung nicht aus ihrer Einbindung in den Bundesstaat entlassen. Die auf den Verfassungsraum des Landes durchgreifenden Bestimmungen und die Normativbestimmungen des Grundgesetzes gelten nicht erst nach Annahme der förmlichen Landesverfassung, sondern jederzeit und für alle Organe des Landes und damit auch für den Landesverfassunggeber. Eine Reihe dieser bundesrechtlichen Vorgaben ist auch für das Verfahren der Landesverfassunggebung relevant. Wenn Art. 28 Abs. 1 GG die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern an die Grundsätze des demokratischen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes bindet, dann ist damit insbesondere auf Art. 20 Abs. 1 und 2 GG verwiesen. Das Verfahren zur Hervorbringung einer Landesverfassung muß danach aus bundesverfassungsrechtlichen Gründen dem Prinzip der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) und dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 GG) entsprechen. Die Landesverfassunggebung muß darum vom Volk, so wie es vom Grundgesetz bestimmt ist, legitimiert sein 607 . Jede monarchische oder diktatorische Form der Verfassunggebung 608 ist damit für Länder im Staatsverband der Bundesrepublik Deutschland schon kraft Bundesrechts ausgeschlossen. Auch für die Landesverfassunggebung gilt damit das nach herrschender Meinung im Demokratieprinzip enthaltene Mehrheitsprinzip 609. Ferner sind die Länder auch vor Eintritt in den verfaßten Zustand nicht zur Verfügung über den bundesverfassungsrechtlich vorgegebenen demos 610 befugt. Die Grundentscheidung des Grundgesetzes für die repräsentative Demokratie darf durch die Länder auch im Stadium der Verfassunggebung nicht beeinträchtigt werden; die Vorgabe des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, daß das Volk in den Ländern eine gewählte Vertretung haben muß, ist auch in der Zeit vor Inkrafttreten der Verfassungsurkunden der Länder nicht ausgesetzt. Darüberhinaus schreibt Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG für die Landesebene die Wahlrechtsgrundsätze des Grundgesetzes, die in Art. 38 Abs. 1 GG konkretisiert sind, verbindlich vor. Art. 21 GG soll unmittelbar auch in den Ländern gelten und garantiert die Freiheit und Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung im Land unabhängig davon, ob die Landesverfassung schon in Kraft getreten ist oder nicht. Schließlich gelten insbesondere die Grundrechte des Grundgesetzes gemäß Art. 1 Abs. 3 GG auch während der Zeit der Landesver606 607 608 609

BVerfGE 1, 14 (34). Vgl. ähnlich auch Barschel, Staatsqualität, S. 185, unter Berufung auf Nawiasky. Vgl. dazu oben 2. Teil, B.IV. Vgl. dazu oben 2. Teil, B.IV.

610 Vgl. oben 3. Teil, C.II.3.c)aa). 15 Boehl

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

fassunggebung und entfalten zum Beispiel mit Art. 5 Abs. 1 GG (Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit), Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit) und Art. 9 GG (Vereinigungsfreiheit) verfahrensrelevante Wirkungen für den Prozeß der Verfassunggebung im Land. Andererseits geht die Determinierung des Landesverfassunggebers aber auch nicht über den von Art. 28 Abs. 1 und den Durchgriffsnormen des Grundgesetzes gezogene Rahmen hinaus. Die Länder können sich also in den von Art. 28 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG gezogenen Grenzen betont plebiszitärer oder streng repräsentativer Verfahren bedienen; Konvent und Konstituante, eine verfassungsberatende Versammlung mit anschließendem Volksentscheid über die Verfassung und die Verfassunggebung durch eine vom Volk legitimierte verfassunggebende Versammlung sind damit gleichermaßen möglich 611 . Eine über das Mehrheitsprinzip hinausgehende Bindung des Landesverfassunggebers an qualifizierte Mehrheiten zur Inkraftsetzung der Verfassung läßt sich aus Art. 28 GG nicht herleiten; gerade umgekehrt läßt sich argumentieren, daß Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG über den Verweis auf das in Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG angeordnete Prinzip der Volkssouveränität, als dessen wichtigster Anwendungsfall sich die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes erwiesen hatte 612 , gerade die Regeln über die prozedurale Ungebundenheit613 des pouvoir constituant für die Landesebene kraft positiven Bundes Verfassungsrechts ausnahmsweise verbindlich angeordnet sind. Auch auf Landesebene bleibt es damit grundsätzlich solange beim Mehrheitsprinzip als der prozeduralen Grundregel der Demokratie, wie der Landesverfassunggeber sich nicht - wozu noch die einfache Mehrheit reicht - an das Erfordernis einer 2/3-Mehrheit zur Inkraftsetzung der Landesverfassung bindet 614 . Gerade für einen Fall von Verfassunggebung im Land hat auch das Bundesverfassungsgericht in der Südweststaatsentscheidung von 1951 die Unabhängigkeit einer verfassunggebenden Versammlung hinsichtlich des Verfahrens, in dem die Verfassung erarbeitet wird, festgestellt 615. Über Einzelheiten des Verfahrens der Verfassunggebung hat danach „allein die freie und unabhängige verfassunggebende Versammlung zu bestimmen" 616 . Insbesondere der Bundesgesetzgeber kann ihr, auch wenn er wie im Fall der Gründung des Landes Baden-Württemberg eine ausdrückliche Kompetenz zur Länderbildung hat 6 1 7 , nur insofern von außen her prozedurale Schranken auferlegen, als es ohnehin dem Wesen einer Konstituante entspricht oder klar ist, daß es der verfassunggebenden Landesversammlung frei steht, 611 Vgl. oben 2. Teil, B.IV. 612 Vgl. oben 2. Teil, B.II. 613 Vgl. dazu oben 2. Teil, B.IV. 614 Vgl. dazu ausführlicher Boehl, Landesverfassunggebung im Bundesstaat, Der Staat 30 (1991), S. 572 (590 f.). 615 BVerfGE 1, 14 (61). Vgl. dazu Feuchte, VB1BW 1992, S. 287 (290). 616 BVerfGE 1, 14(63). 617 Vgl. dazu oben 3. Teil; C.II.3.aa) (Fn. 478).

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ihrerseits zu beschließen, ohne Bindung an die Verfahrens vorgäbe des Bundesgesetzes zu handeln 618 . Diese Auffassung ist auch in bezug auf die Verfassunggebung in den neuen Bundesländern zugrundegelegt worden 619 . Die gegen verfahrensleitende Anordnungen außer- oder vorkonstitutioneller Mächte gerichtete Abwehrfunktion der Lehre von der prozeduralen Ungebundenheit des pouvoir constituant kommt also auf Landesebene voll zum Tragen. Tatsächlich zeigt der Blick auf die Prozesse der Landesverfassunggebung in den alten und auch jetzt in den neuen Ländern, daß erhebliche Unterschiede bestehen 620 und der Freiraum der Länder bis an die Grenzen des vom Grundgesetz gesetzten Rahmens ausgenutzt wird. Abgesehen von der inhaltlichen Anreicherung der Landesverfassungen als sogenannte „Vollverfassungen" 621 - im Gegensatz zu bloßen Organisationsstatuten622 für die Landesorgane - haben die verfassunggebenden Organe der heute alten Länder am Beginn ihrer Verfassungsstaatlichkeit verfahrensmäßig sehr unterschiedliche Wege beschritten: So wurden die Landesverfassungen teilweise vom Landtag im Verfahren der einfachen Gesetzgebung erlassen 623 und waren zum Teil auch ohne qualifizierte Mehrheitserfordernisse abänderbar 624. In manchen Ländern wurden die von verfassungsberatenden Versammlungen beschlossenen Verfassungen vom Volk im Plebiszit sanktioniert 625. Nur in der amerikanischen Zone und später in Baden-Würt-

618 BVerfGE 1, 14(62). 619 Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Werner Schulz (Berlin) und der Gruppe Bündnis 90 / Die Grünen (BT-Drs. 12 / 3085 vom 24. 07. 92, S. 3); Boehl, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 97 f.; Hans v. Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 15 f. 620 Vgl. insbesondere die - allerdings deskriptiv-politologisch orientierte, leider mit wenig Rücksicht auf normative und juristische Zusammenhänge (keine Unterscheidung von Verfassunggeber und an der Verfassungsberatung beteiligten Personen; keine Unterscheidung zwischen verfassunggebender und verfassungsberatender Versammlung) durchgeführte - Arbeit von Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 29 ff., die einen umfassenden Überblick über die Verfassungsgebungsprozesse in den Ländern der damaligen Westzonen gibt. Vgl. aus staatsrechtlicher Sicht - jetzt Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 6 ff.; ferner - mit anderem Interessenschwerpunkt - Beutler, Das Staatsbild in den Landesverfassungen nach 1945, 1973. 621 Vgl. z. B. Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 456 (zu Württemberg-Baden); Stolleis, in: Meyer / Stolleis, Hess. Staats-und Verwaltungsrecht, S. 1 (13 f.) (zu Hessen). 622 Vgl. Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 8; Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 25, 445 (zu Niedersachsen), 453 (zu Schleswig-Holstein); Thieme, in: Hoffmann-Riem / Koch, Hamb. Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (26) (zu Hamburg); Grimm, in: Grimm / Papier, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (49) (zu Nordrhein-Westfalen). 623 Vgl. Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 10 (zu Berlin, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein) m.w.N.; Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 36 m.w.N., 441 (zu Hamburg), 453 f. (zu Schleswig-Holstein); Stolleis, HStR I, § 5, Rn. 81 (zu Niedersachsen); vgl. ferner H.-P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 28. 624 Vgl. Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 9, 11. 15=

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temberg wurden die verfassungsberatenden beziehungweise verfassunggebenden Landesversammlungen in besonderen direkten Wahlen bestimmt und deutlich von normalen Landtagen unterschieden 6 2 6 ; überwiegend fungierten - vor allem in der britischen und der sowjetischen Zone - die erstgewählten Landtage als verfassunggebende Versammlungen 6 2 7 , teilweise wurden - in der französischen Zone - die verfassunggebenden Landesversammlungen indirekt von den gewählten Gemeinde- und Kreis Versammlungen bestimmt 6 2 8 . In allen Ländern - jedenfalls der westlichen Zonen - sind, unabhängig von einer repräsentativen oder plebiszitären Form der Inkraftsetzung und Sanktionierung der späteren Verfassung, jedenfalls die zur Abstimmung gestellten Verfassungsentwürfe letztlich von Repräsentationskörperschaften und nicht von außenstehenden Mächten, „caesaristisch" legitimierten Einzelnen oder den Regierungen bestimmt worden. Überall haben die verfassungsberatenden oder verfassunggebenden Versammlungen besondere Ausschüsse 6 2 9 zur Erledigung der redaktionellen und ge-

625

Vgl. ζ. B. für die drei ursprünglichen südwestdeutschen Staaten Feuchte, VB1BW 1992, S. 287 (290); Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 431 (zu Baden), 439 (zu Bremen), 442 f. (zu Hessen), 450 (zu Rheinland-Pfalz), 454 (zu Württemberg-Baden), 457 (zu Württemberg-Hohenzollern); Stolleis, in: Meyer / Stolleis, Hess. Staats-und Verwaltungsrecht, S. 1 (14, 16) (zu Hessen); Grimm, in: Grimm / Papier, Nordrhein-westfälisches Staatsund Verwaltungsrecht, S. 1 (10) (zu Nordrhein-Westfalen); Maunz, in: Maunz / Obermayer / Berg / Knemeyer, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, S. 17 (46) (zu Bayern). Für die Länder der Westzonen insgesamt Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 30, 42, 56 ff.; Barschel, Staatsqualität, S. 178; Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 10; Stolleis, HStR I, § 5, Rn. 58, 92 m.w.N. Fn. 143 f.; ders., in: Meyer / Stolleis, Hess. Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (16) (zu Hessen). 626 Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 42, 432 (zu Baden-Württemberg), 442 (zu Hessen), 455 (zu Württemberg-Baden), 438 f. (zu Bremen, wo zwar die erste gewählte Bürgerschaft und die von dieser gewählte „Verfassungsdeputation" anstelle einer besonderen verfassunggebenden Versammlung fungierten, aber die Verfassungsdeputation in bezug auf den Verfassungsentwurf gegenüber der Bürgerschaft unabhängig war). 627

Vgl. die Übersichten bei Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 36 ff. m.w.N., 44 ff., ferner ebd. S. 444 (zu Niedersachsen), 447 (zu Nordrhein-Westfalen); Schachtner, Die deutschen Nachkriegswahlen, 1956; Mannzen, JÖR NF 6 (1957), S. 251 (263, Fn. 18); Barschel, Staatsqualität, S. 178, 174 ff. (zu Schleswig-Holstein); vgl. auch dens., ebd. S. 175 f., 180; Mannzen, a. a. O. S. 260, 263, zur Argumentation der damaligen schleswig-holsteinischen (CDU-) Opposition (Abg. v. Mangoldt), daß dem ordentlichen Landtag die Legitimation zur Verabschiedung einer Verfassung fehle, weil Verfassungen in demokratischen Ländern nur von besonders dazu berufenen Versammlungen mit einem besonderen Mandat geschaffen würden. 628 Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 42, 430 (zu Baden), 450 (zu RheinlandPfalz), 451 (zum Saarland; zu der dortigen Besonderheit, daß die noch vor dem Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik Deutschland unter französischer Herrschaft entstandene Verfassung von der gewählten „gesetzgebenden Versammlung" beschlossen, aber von der französischen Militärregierung ratifiziert wurde, vgl. ebd. S. 452). 629 In Bremen mit der Besonderheit, daß nach dem Willen der amerikanischen Militärregierung die Verfassunggebung durch das normale Legislativorgan Bürgerschaft durch eine besonders unabhängige Stellung des zur Verfassungsberatung gebildeten Ausschusses, der

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setzestechnischen, aber auch der inhaltlichen Detailarbeiten eingesetzt und sich externen Sachverstands bedient. Bis zum Inkrafttreten der Landesverfassungen wurden häufig - vor allem in der britischen Besatzungszone - vorläufige Verfassungen oder Übergangsverfassungen beschlossen 630 . Teilweise lösten sich die als verfassunggebende Versammlungen fungierenden Landtage nach Inkraftsetzung der Verfassung a u f 6 3 1 , überwiegend fungierten sie als normale verfassungsgebundene Legislative w e i t e r 6 3 2 . In manchen der alten Länder handelten die Verfassunggeber i m Bewußtsein, daß zur originären Inkraftsetzung der Verfassung die einfache Mehrheit h i n r e i c h t 6 3 3 ; teilweise wurde aber auch eine Selbstbindung an eine 2/3-Mehrh e i t 6 3 4 oder eine mehrheitliche Zustimmung i m Volksentscheid angenommen . Von den neuen Ländern haben in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen die jeweiligen ersten Landtage in ihrer Funktion als verfassunggebende Landesversammlungen die Verfassungen erarbeitet und in Kraft gesetzt 6 3 6 , wozu jeweils zu-

„Verfassungsdeputation", kompensiert wurde, vgl. Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 438; zu den anderen Ländern vgl. S. 430 ff.; Glatz / Haas, JÖR NF 6 (1957), S. 223 (225 f.) (zu Hamburg); Grimm, in: Grimm / Papier, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (9). 630 Vgl. Bartlsperger, HStR IV, § 96, Rn. 7; Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 432 (zu Baden-Württemberg), 435 (zu Berlin), 440 (zu Hamburg), 444 (zu Niedersachsen); Stolleis, HStR I, § 5, Rn. 63 (zu Hessen); Mannzen, JÖR NF 6 (1957), S. 251 (258) (zu Schleswig-Holstein); HP. Ipsen, FS. Raape, S. 423 (437) (zu Hamburg); Glatz /Haas, JÖR NF 6 (1957), S. 223 (225) (zu Hamburg). Ausnahme unter den Ländern der britische Zone war Nordrhein-Westfalen, das bis Juni 1950 nach den Verordnungen der Militärregierung regiert wurde, vgl. Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 446. 631 Vgl. Stolleis, HStR I, § 5, Rn. 58 (zu Württemberg-Baden, Hessen, Bayern). 632 Vgl. Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 451 (zum Saarland); Maurer, in: Maurer / Hendler, Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 27 (37) (zu Baden-Württemberg); Mannzen, JÖR NF 6 (1957), S. 251 (265). Vgl. hierzu auch BVerfGE 1, 14 (62 f.). Zur Praxis in den nordamerikanischen Einzelstaaten während der formativen Periode der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes vgl. oben 1. Teil, A.II.3. 633 So ζ. B. die (SPD-) Mehrheit im erstgewählten Landtag von Schleswig-Holstein, vgl. dazu Mannzen, JÖR NF 6 (1957), S. 251 260); Barschel, Staatsqualität, S. 177; dagegen damals die (CDU-) Opposition unter dem Gesichtpunkt der Bindung künftiger Landtage an eine 2/3-Mehrheit durch die einfache Mehrheit des ersten Landtages (vgl. dazu a. a. O., S. 176, 179). Ebenso die Verfassungskommission des Saarlandes und der saarländische Landtag, als sie die auf Anschluß an Frankreich angelegte Verfassung von 1947 nach der gegen das Saarstatut ausgefallenen Volksabstimmung vom 23. 10. 1955 für auf revolutionärem Wege beseitigt und darum für die Verfassungsanpassungen nach dem Beitritt zur Bundesrepublik die einfache Mehrheit für ausreichend hielten, vgl. Isensee, ZParl 1990, S. 309 (322 m.w.N.); ders., VVDStRL 49 (1990), S. 39 (43, Fn. 9). 634 Vgl. Barschel, Staatsqualität, S. 179. 635 Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, S. 431 (zu Baden), 439 (zu Bremen), 442 f. (zu Hessen), 450 (zu Rheinland-Pfalz), 454 (zu Württemberg-Baden), 457 (zu WürttembergHohenzollern); Stolleis, in: Meyer / Stolleis, Hess. Staats-und Verwaltungsrecht, S. 1 (14, 16) (zu Hessen); Grimm, in: Grimm / Papier, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 1 (10) (zu Nordrhein-Westfalen); Maunz, in: Maunz / Obermayer / Berg / Knemeyer, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, S. 17 (46) (zu Bayern).

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

vor das Erfordernis von 2/3-Mehrheiten vereinbart worden war 6 3 7 . In Brandenburg ist der vom ersten Landtag beschlossene Entwurf 638 , in Mecklenburg-Vorpommern die vom ersten Landtag mit 2/3-Mehrheit beschlossene Landesverfassung jeweils einer Volksabstimmung unterworfen worden 639 , in der nach den von den Landtagen verabschiedeten Volksabstimmungsgesetzen jeweils die einfache Mehrheit der Abstimmenden den Ausschlag geben sollte 640 . In allen Fällen handelte es sich letztlich um gemischt plebiszitär-repräsentative Verfahren mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen: In den Ländern, in denen der Landtag als verfassunggebende Versammlung entschied, war vorher - ähnlich wie bei den ersten Fällen demokratischer Landesverfassunggebung in den nordamerikanischen Einzelstaaten 6 4 1 - jeweils eine Beteiligung der Bürger durch Veröffentlichung der Entwürfe und der Möglichkeit von Eingaben und Anregungen gegeben642; in den Ländern, die ein Verfassungsplebiszit veranstaltet haben, fand dieses jeweils über den vom Verfassungsausschuß erarbeiteten 643 und vom Landtag vorgelegten Verfassungsentwurf und in den vom Landtag verbindlich festgelegten Verfahrensregeln statt. In allen neuen Ländern hatten die ersten Landtage in ihrer Funktion als Verfassunggebende Versammlungen 644 zuvor vorläufige Landesverfassungen in Kraft gesetzt 645 , die bis zum Inkrafttreten der endgültigen Verfassungen die staatliche Ord636 Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 62 f. Vgl. dazu auch H.-P. Schneider, HStR VII, § 158, Rn. 28, der allerdings die Qualität der ersten Landtage als verfassunggebende Versammlungen übergeht. Zu den Vorarbeiten in der Ländergründungsphase vor dem 3. 10. 1994 vgl. v. Mutius /Friedrich, StWStP 1991, S. 243 (245 f.). 657 Vgl. v. Mutius / Friedrich, StWStP 1991, S. 243 (271); Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (591 f.). 638

Der brandenburgische erste Landtag hat damit als einziger entgegen der - für ihn nicht verbindlichen - Vorstellung des § 23 LEG seine Funktion nicht als die einer Verfassungg^benden Landesversammlung, sondern als die einer lediglich verfassungsfreratendew Versammlung (Konvent, vgl. hierzu oben 2. Teil, B.IV.) interpretiert. 639 Vgl. Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 61; Magiern, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (146 f., Fn. 30). Daß nach Art. 80 Abs. 1 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 23. 5. 1993 auch dort eine Volksabstimmung Voraussetzung des Inkrafttretens der Verfassung war, übersieht Kilian, HStR VIII, § 186, Rn. 35, der darum Brandenburg im Vergleich der neuen Länder nicht nur verfassungsgeberische Priorität, sondern fälschlich auch noch plebiszitäre Singularität attestiert. 640 Vgl. Sachs, in; Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung Bd. II, S. 3 (6).

641 Vgl. oben 1. Teil, A.II.2. 642 Vgl. Sachs, in; Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung Bd. II, S. 3 (6). 643 Vgl. Magiera, in: Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung, Bd. III, S. 141 (146); Sachs, in; Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung Bd. II, S. 3 (6). 644 Die Stellung der ersten Landtage als Verfassunggebende Landesversammlungen folgt nicht aus der bundesrechtlichen Vorschrift des § 23 Abs. 2 LEG, sondern aus der Beauftragung durch das jeweilige Landesvolk, vgl. Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (585 f.). 645 Vgl. Linck, DÖV 1991, S. 720 ff.; Boehl, Der Staat 30 (1991), S. 572 (589 f.); Rommelfanger, ThürVBl. 1993, S. 145 (148 f.); Sachs, in; Stern (Hrsg.), Wiedervereinigung Bd. II, S. 3 (4); Dietlein, Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 61 ff.

C. Verfassunggebung in den Ländern

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nung in den Ländern bestimmten, um den Anforderungen des Art. 28 Abs. 1 GG gerecht zu werden. Gerade in dieser Vielfalt und Freiheit der Verfahrensgestaltung erweist sich die Verfassunggebung im Land als der Verfassunggebung auf nationaler Ebene vergleichbar. Zwar sind einzelne grundlegende Fragen kraft positiven Bundesverfassungsrechts vorentschieden - und wären damit gegebenenfalls justizförmig auch gegen den Landesverfassunggeber durchsetzbar. Angesichts der betonten Zurückhaltung der Bundesverfassung in bezug auf die Gestaltung des Verfassunggebungsverfahrens der Länder ist aber die Situation des verfassungsrechtlich nicht vorgegebenen Handelns auf dem Weg zur demokratischen Verfassung durchaus charakteristisch auch für die Bundesländer. Ohne den Rückgriff auf überpositive Grundsätze der Verfassunggebung kann auch eine Landesverfassung nicht entstehen. Gerade die positivrechtlich nicht geklärten Verfahrensfragen fordern eine Übertragung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes auf die Landesebene. Und gerade für die Länder ist die freiheitssichernde Funktion der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes wichtig, nämlich verfahrensbezogene Zumutungen von außerhalb der sich eine Verfassung gebenden Einheit stehenden Mächten abzuwehren. Denn gerade im Bundesstaat ist die Versuchung groß, bei einem Regelungsdefizit auf gliedstaatlicher Ebene jenseits der normalen Kompetenzabgrenzung die höhere Ebene subsidiär regelnd eingreifen zu lassen 646 .

I I I . Zwischenergebnis: Landesverfassunggebung im Bundesstaat Die Sichtung der rechtlichen Vorgaben, die aus der bundesstaatlichen Einbindung der Gliedstaaten resultieren, ergibt danach für die Frage der Landesverfassunggebung im Bundesstaat des Grundgesetzes den folgenden Befund: Die Frage der Verfassunggebung in den Ländern läßt sich allein aus dem Text der Verfassungen von Bund und Ländern nicht beantworten 647. Einige Landesverfassungen berufen sich auf eine eigene verfassunggebende Gewalt ihres jeweiligen Landesvolkes; in der Mehrzahl der Landesverfassungen und im Grundgesetz ist in bezug auf die Landesebene von verfassunggebender Gewalt nicht die Rede. In der Literatur stehen sich Befürworter und Gegner einer eigenen verfassunggebenden Gewalt des Landes gegenüber; diejenigen Autoren, die von der „Verfassungshoheit" des Landes sprechen, können eher der ersten, diejenigen, für die es nur eine „Verfassungsautonomie" des Landes gibt, eher der zweiten Gruppe zugerechnet werden. Das Bundesverfassungsgericht hat 1951 in der Südweststaatsentscheidung in bezug auf ein Land ausdrücklich von einem „pouvoir constituant" gesprochen;

646 Vgl. dazu auch Feuchte, VB1BW 1992, S. 287 (290). 647 Vgl. oben 3. Teil; C.II. 1.

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

die Entscheidung im sächsischen Verfassungsstreit von 1990 erwähnt die Lehre vom pouvoir constituant nicht 6 4 8 . Auch die Frage nach dem möglichen Subjekt / Träger einer verfassunggebenden Gewalt auf Landesebene hat keinen eindeutigen Befund ergeben 649. Die tatsächliche und rechtliche Realität der Landesvölker im Bundesstaat des Grundgesetzes spricht eher für die Theorie, die in bezug auf die verfassunggebende Gewalt stärker die Differenz zwischen gesamt- und gliedstaatlicher Ebene betont, schließt eine Parallelisierung der Lehre vom pouvoir constituant aber auch nicht aus. Das Grundgesetz normiert aber das Prinzip der Volkssouveränität und die Rückführbarkeit aller Staatsgewalt auf das Volk auch für die Länder (Art. 28 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 2 GG); das Bundesverfassungsgericht hat dies dahingehend konkretisiert, daß in den Ländern das Landesvolk als Legitimationssubjekt an die Stelle des Staatsvolks der Bundesrepublik Deutschland trete 650 . Aus verfassungsrechtlicher Sicht läßt sich damit von Landesvölkern als Subjekten einer verfassunggebenden Gewalt im Land sprechen. Was die Frage nach Bindungen und Gestaltungsfreiheit des Verfassunggebers auf Landesebene anbetrifft, so ist im Ergebnis 651 zu konstatieren, daß der Landesverfassunggeber einen weiten Spielraum zur Setzung formellen Landesverfassungsrechts besitzt. Dieser wird allerdings dadurch relativiert, daß einerseits die zentralen Grundentscheidungen über die Art und Form des Gemeinwesens in der Bundesverfassung - auch für die Länder verbindlich - getroffen sind und daß andererseits, insbesondere im Grundrechtsbereich, aber auch bei den Staatszielen und programmatischen Bestimmungen, der materielle Gestaltungsspielraum des Landes erheblich hinter dessen formeller Verfassungsrechtsetzungsbefugnis zurückbleibt, weil sich mit Bundesrecht kollidierendes Landesverfassungsrecht nicht durchsetzt. Der formell weite Spielraum ist angesichts des umfassenden Regelungsanspruchs des Grundgesetzes materiell im wesentlichen auf die Regelung der Staatsorganisation im Land sowie auf lediglich virtuell wirksame Reservenormen beschränkt; außerdem sind mit dem Grundgesetz inhaltlich übereinstimmende Landesverfassungsnormen möglich, die als Maßstab für Gesetzgebung, Ausführung und Justiz des Landes Bedeutung erlangen und - soweit das nach Landesrecht vorgesehen ist - den Rechtsweg vor die Landesverfassungsgerichte eröffnen können. Insbesondere was das Verfahren der Verfassunggebung sowie die Begründung der Bindung des Gesetzgebers an die Entscheidungen des Verfassunggebers und den Geltungsvorrangs der Verfassung anbelangt, entspricht die Situation in den Ländern der allgemeinen Situation der Verfassunggebung. Für das Verfahren der Landesverfassunggebung finden sich - jedenfalls in der Ordnung des Grundgeset648 BVerfGE 85, 352 (358 ff.). 649 Vgl. oben 3. Teil, C.II.2. 650 Vgl. oben 3. Teil, C.II.2. 651 Vgl. oben 3. Teil, C.II.3.

C. Verfassunggebung in den Ländern

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zes - auch aus der bundesstaatlichen Einbindung der Gliedstaaten keine positivrechtlichen Regelungen. Da die Grundentscheidungen der Artikel 20 und 28 GG auch in der Situation vor Geltung der Landesverfassung und damit auch für den Prozeß der Entstehung der Landesverfassung gelten, lassen sich - bei nachgrundgesetzlichen Landesverfassungen - die Regeln der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes als Ausprägung des Prinzips der Volkssouveränität ausnahmsweise sogar als von der Bundesverfassung garantiert verstehen 652. Die Beobachtung, daß die Lehre vom pouvoir constituant auf die Verhältnisse in den Ländern nicht ganz paßt, wäre danach dahingehend zu qualifizieren, daß sie nur bei Beachtung der Besonderheiten im Bundesstaat anwendbar ist. Jeder Versuch, das SpannungsVerhältnis653 zwischen Bundesstaatslehre und Lehre vom pouvoir constituant einseitig aufzulösen, kann den Erfordernissen im Bundesstaat des Gundgesetzes nicht gerecht werden. Andererseits ist es nicht möglich, einfach von einer eigenen verfassunggebenden Gewalt „aus Sicht der Bundesländer" und gleichzeitiger Einordnung in die gesamtstaatliche Rechtsordnung „aus der Sicht des Grundgesetzes" zu sprechen 654 und damit auf eine konsistente Erklärung für die geltende, den Anspruch der Einheit erhebende Rechtsordnung zu verzichten. Das Grundgesetz drückt nicht eine partielle Sichtweise aus, sondern ist die für alle Staatsgewalt in der Bundesrepublik - und damit auch für die Bundesländer - verbindliche rechtliche Grundordnung; es ist nicht nur die Verfassung für die Organe des Zentralstaates, die denen der Gliedstaaten auf gleicher Ebene gegenübersteht, sondern zugleich die für die Länder verbindliche Gesamtverfassung der Bundesrepublik Deutschland655. Eine Verfassungstheorie, die für den Staat des Grundgesetzes Relevanz beansprucht, muß darum zu einer zusammenhängenden und nicht widersprüchlichen Erklärung kommen. In der Gesamtabwägung erscheint eine vorsichtige und qualifizierte Übertragung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes auf die Ebene der Länder als die dem Bundesstaat des Grundgesetzes entsprechende Problemlösung. Im Ergebnis wird damit für eine gewissermaßen „gemäßigte" Parallelisierungstheorie plädiert, die eine zweifache Akzentsetzung beinhaltet: Positiv ausgedrückt bedeutet das die Anwendung der Lehre vom pouvoir constituant bei gleichzeitiger Beachtung der bundesstaatlichen Einbindung und der daraus folgenden besonderen Bedingungen im Land. Negativ gewendet heißt das, ohne die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ist auch auf Landesebene nicht auszukommen, aber die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes kann ihrerseits nicht ohne Beachtung der Besonderheiten der Landesebene angewendet werden. Eine derartige Theorie der Landesverfassunggebung ist gegen zwei mögliche Mißverständnisse abzugrenzen: 652 653 654 655

Vgl. oben 3. Teil, C.II.4. und 2. Teil, B.IV. Vgl. BVerfGE 1, 14 (34). So Kersten, DÖV 1993, S. 896. Vgl. dazu oben 3. Teil, Kapitel A.

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3. Teil: Verfassunggebung und Bundesstaat

Keinesfalls kann die Übertragung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes auf die Landesebene zu der weiteren Folgerung führen, die Landesvölker seinen gewissermaßen kleine Souveräne und der Bundesstaat Produkt und Pakt der autonomen Landesvölker; ein solcher Ansatz würde die rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen im konkreten Bundesstaat des Grundgesetzes656 verkennen und einen Rückfall in extrem-föderalistische Mythenbildung darstellen. In den Ländern handeln keine omnipotenten und bindungslosen kleinen pouvoirs constituants, sondern in die bundesstaatliche Ordnung eingepaßte gliedstaatliche Verfassunggeber. Insofern setzt eine gemäßigte Parallelisierungstheorie auch eine gemäßigte Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes 657 voraus: wer nur den allmächtigen, jeder Bindung entrückten pouvoir constituant im Sinne der Staatslehre der Französischen Revolution kennt, der kann auf Landesebene nichts entsprechendes wiedererkennen. Andererseits ist der vom Grundgesetz konstituierte Bundesstaat aber auch nicht dergestalt, daß er die Verfassunggebung in den Gliedstaaten dem Bundesvolk und seinen Repräsentanten überantworten würde. Die Länder sind im Geltungshorizont des Grundgesetzes Staaten, und zwar Verfassungsstaaten, deren Legitimation von Landesvölkern hergeleitet wird. Der Bund kann auf den Prozeß und das Ergebnis der Landesverfassunggebung zwar Einfluß nehmen und die in der Bundesverfassung enthaltenen inhaltlichen und prozeduralen Vorgaben zur Geltung bringen, er kann ihn aber nicht selbst übernehmen oder ersetzen. Der Bund ist, was die Verfassungsentstehung auf Landesebene anbelangt, auf die autonomen Gestaltungskräfte in den Ländern angewiesen. Bund und Länder erweisen sich also auch unter dem Aspekt der Verfassunggebung als zwei je für sich genommen imperfekte, aufeinander angewiesene Teile des einen Bundesstaates.

656 Vgl. oben 3. Teil, Kapitel A. 657 Vgl. oben 2. Teil, Kapitel B.

Ergebnisse

Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes führt über einen alten Verfassungszustand hinaus, bewältigt die Situation der Verfassunggebung in Abwesenheit des gewohnen Gerüsts einer geltenden Verfassung und weist den Weg über den verfassungslosen Zustand hinaus in die Normallage des Verfassungsstaates. Sie erklärt das „Rätsel des Anfangs", der Entstehung und des Geltungsgrundes der Verfassung und begründet die verfassungsrechtliche Bindung der Staatsgewalt und des Volkssouveräns in der verfassungsstaatlichen Normallage. Indem sie die Prinzipien der Volkssouveränität, der Demokratie und des Verfassungsstaates verbindet, erweist sie sich als spezifische Theorie des demokratischen Verfassungsstaates und notwendiger Bestandteil einer Verfassungstheorie der konstitutionellen Demokratie. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt ist keine französische Theorie und keine Besonderheit des deutschen Verfassungsdenkens. Sie ist Gemeingut der Tradition des westlichen Verfassungsstaates und bereits mit der Errichtung der ersten neuzeitlichen Demokratien in den britischen Kolonien in Nordamerika, den späteren Vereinigten Staaten von Amerika, voll ausgeprägt. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt ist innerhalb einer föderativen Ordnung anwendbar. Das Exempel der Vereinigten Staaten zeigt, daß es sich insofern nicht um eine künstliche Übertragung handelt, sondern daß die Anwendung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in einem föderativen Kontext ursprünglicher ist, als die zentralistische Adaption, die sie später im Staatsdenken der französischen Revolution und des Abbé Sieyès gefunden hat. Bei der (Neu-)Konstituierung eines Bundesstaates ist die föderative Struktur im Prozeß der Verfassunggebung zu berücksichtigen. Die wird sich unterschiedlich auswirken, je nachdem, ob ein Bundesstaat eher unitarisch oder eher föderalistisch geprägt ist, ob sich vormals souveräne Staaten gerade im Akt der Verfassunggebung zu einem Bundesstaat vereinigen oder aber ein Einheitsstaat durch die künftige Verfassung (re-)föderalisiert werden soll. Die Verfassunggebung des Grundgesetzes stellt sich als Neukonstituierung eines re-föderalisierten Einheitsstaates dar und beruht auf der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes. Es handelt sich nicht um eine Verfassunggebung auf bündischer Grundlage durch Vertragsschluß der Länder. Daran hat sich auch mit

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Ergebnisse

dem Beitritt der ursprünglich an der Mitwirkung an der Normierung des Grundgesetzes gehinderten Teile des deutschen pouvoir constituant nichts geändert. Während auf die Verfassungsentstehung auf gesamtstaatlicher Ebene die allgemeinen Regeln der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt weitgehend Anwendung finden können, sind sie für die Verfassunggebung auf gliedstaatlicher Ebene nur mit Einschränkungen zu parallelisieren: Im Gegensatz zur typischen Situation der Verfassungsentstehung findet die Verfassunggebung im Land im Rahmen der bundesstaatlichen Einbindung statt und hat typischerweise bundesrechtlich vorgegebene Homogenitätsgebote und Mindeststandards zu beachten. Anders als nach der allgemeinen Lehre vom pouvoir constituant muß und kann sich Landesverfassunggebung nicht ohne Rücksicht auf die geltende Verfassungsordnung des Gesamtstaates, sondern nur im Rahmen der bundesstaatlichen Ordnung vollziehen. Eine Theorie der Landesverfassunggebung im Bundesstaat kann darum immer nur unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben des konkreten Bundesstaates aufgestellt werden; eine allgemeine Theorie der Landesverfassunggebung würde für die immer durch eine konkrete Bundesverfassung vorgeprägte Rechtswirklichkeit keine Aussagekraft besitzen. In der Ordnung des Grundgesetzes läßt sich die vom Grundgesetz selbst und vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich aufgenommene Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes - mit Einschränkungen - für die Landesebene parallelisieren: Innerhalb des durch die Homogenitätsgebote des Artikels 28 GG und die Grundrechte der Bundesverfassung gezogenen Rahmens ist der Landesverfassunggeber in nicht unerheblichem Umfang frei bei der inhaltlichen Ausgestaltung seiner eigenen Staatsfundamentalnormen; vor allem aber ist bezüglich des Verfahrens der Verfassunggebung auf die Regeln der Lehre vom pouvoir constituant zurückzugreifen.

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Personenregister Adams, Willi Paul 19, 33, 46 f., 58 f. Arendt, Hannah 41, 50, 55, 66, 101 Bailyn, Bernhard 19, 26,42 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 17, 30 f., 41, 60, 68, 79 f., 83 f., 86, 90, 93, 96 f., 108, 112, 120 f., 125, 132, 179, 193,213 Calhoun, John 56, 145 Condorcet 24, 64, 66 Cromwell 31 f., 36 Gagern, Heinrich v. 70 Grimm, Dieter 28 ff., 69, 72, 113, 137 Habermas, Jürgen 94 Heller, Hermann 68, 74, 86 Henke, Wilhelm 17, 24, 78, 80, 83, 87, 89 f., 94, 103, 108 f., 127 Hennis, Wilhelm 94, 169 Herzog, Roman 134, 145 f., 150, 152, 160, 166 ff., 176 Hesse, Konrad 79, 154, 156 f., 178 Hofmann, Hasso 28 f., 46, 80 f., 94, 107, 110, 121, 125 Isensee, Josef 20 f., 95, 97, 110, 118, 124 f., 126, 134 f., 149, 166, 168 f., 170, 172 ff., 176 f., 205 Jameson, John A. 19, 27, 46 f. Jefferson, Thomas 40,45, 62 Jellinek, Georg 18, 29, 32, 34 f. Johnson, Nevil 32 Kelsen, Hans 131, 146 Kielmansegg, Peter Graf 81 f., 94, 102, 130

Klein, Friedrich 106, 187, 190 ff. Kriele, Martin 17, 93, 96 ff. Locke 35,40 Madison, James 52, 55 f., 59 März, Wolfgang 185, 187 f., 194, 218 ff. Maunz, Theodor 17 f., 18, 83 ff., 86, 106 f., 115 ff., 132, 146, 166 ff., 190 ff. Mayer, Otto 56, 138 f., 154 Mohl, Robert 69 f. Montesquieu 35, 81 Morgan, Edmund S. 19, 24 f., 41, 51 Murswiek, Dietrich 17, 88 f., 102 f. Olshausen, Henning v. 210, 220 Otis, James 35 Paine, Thomas 42, 63 Röper, Erich 116, 144, 224 Rousseau 126 Sachs, Michael 17, 168, 173 f., 176, 182, 189, 203, 207 ff., 215 f. Schmitt, Carl 16 f., 62, 85 ff., 107, 114, 117 ff., 132, 155 ff., 167, 178 Schneider, Hans-Peter 26, 97, 101, 115, 126 f., 129, 132, 173 Seydel, Max v. 56, 137 f., 145, 170, 179, 193 Sieyès 16, 24, 63, 66, 67 f., 107, 185, 235. Smend, Rudolf 138 f., 149, 154 Steiner, Udo 17, 60, 107, 116 f., 122 f., 152, 154,163 Stern, Klaus 14, 17, 20, 35, 86, 97 f., 101 f., 104 f., 111, 114, 132, 171 f., 177, 198 Stourzh, Gerald 20, 26, 28, 32, 54

Personenregister Tocqueville 26 f., 70, 170 Valjavec, Fritz 67 Vattel 35 Wahl, Rainer 20, 31, 67 ff., 73 f., 80, 93, 99, 110, 147, 158, 161 f., 217 Waitz, Georg 56, 70, 170

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Wolff, Christian 35 Wood, Gordon S. 19, 25 f., 41, 43, 49 ff., 52, 54 f

Zinn

> G e o r ê A u S u s t 1 4 1 ' 1 4 3 ' 163> 1 7 6 ' Zweig, Egon 16, 18 f., 20, 24, 32, 62 ff., 65, 109, 122

1 7 8

Sachregister Baden-Württemberg 164, 167, 175, 179, 180, 203 f., 226, 227 f. Bayern 137, 162 f., 170, 178, 187 Beitritt 116, 144, 161 Brandenburg 168, 213, 230 Braunschweigischer Verfassungsstreit 117, 181 Bundesrat 73, 202 Bundesstaat 14, 18, 132 ff., 143, 154 ff., 169, 233 f. - amerikanischer Bundesstaatsbegriff 55 f., 62, 69 f. - dreigliedriger Bundesstaat 145 ff. - Homogenität 164, 184, 195, 198 ff. - Ingerenzen 183 f., 206 - unitarischer Bundesstaat 59, 136, 154 ff., 158, 191 Bundestreue 186, 215, 217 Bundesverfassungsgericht - Südweststaatsentscheidung 77, 107, 117, 135, 148, 167, 180 f., 204, 226, 231 - zu Bundesstaat 135, 146 ff., 167, 171, 181 - zu Naturrecht 107 - zu pouvoir constituant 77, 83, 91, 94, 101, 115, 117, 165, 180, 231 f. Charten / Colonial Charters s. Nordamerika Connecticut 24, 34, 38 Constituent power 25 f., 27, 38, 43 f., 54, 61, s.a. Verfassunggebende Gewalt, Pouvoir Constituant Continental Congress s. Nordamerika Convention 26 f., 36 ff., 41 ff., 47, 54, 60 f., 65 Convention nationale / Konvent s. Frankreich. Demokratie 81 f., 91 ff., 121, 125, 130, 201 - konstitutionelle 15, 81, 100, 131 17 Boehl

Deutschland - Bundesrepublik 14, 140 - 145 - DDR 77, 116, 118, 133 f., 204, 224 - deutsche Einheit 14, 77, 144, 158 - Deutscher Bund 69, 137, 153 - Drittes Reich 140, 144, 159, 179 - Kaiserreich 73, 137 f. - Neue Länder s. Länder - Norddeutscher Bund 72, 137 - Parlamentarischer Rat 143, 159 f., 187 - Paulskirche 70 f. - SBZ 107, 144, 228 - Weimarer Republik 14, 16, 73, 114, 118, 139, 156, 157 Durchgriffsnormen s. Grundgesetz Einheitsstaat 135, 142, 145, 152 f., 159 Einigungs vertrag 116, 144 England s. Großbritannien Federalist Papers 19, 53 f., 70, 170 Federalists 51, 55, 59, s.a. Federalist Papers Föderalismus 20, 55, 66, 75, 136, 146 Frankreich - Assemblée nationale / Nationalversammlung (von 1789) 63 f. - Assemblée nationale constituante 64, 109, 120 - Charte Constitutionelle (von 1814) 68 - Convention nationale / Konvent (von 1793) 64 - Französische Revolution 25, 62, 67, 122, 234 - Französische Staatstheorie 16 f., 67 f., 75, 120, 165, 181 Gemeinsame Verfassungskommission 158, 169 Gewaltenteilung 40, 81

Sachregister Großbritannien 5, 28 ff., 109 - Bill of Rights 30 - Bürgerkrieg 28, 31 f., 36, 41 - Glorious Revolution 28, 30, 33, 37, 41 - Magna Charta 28, 32, 42 - Sovereignty of Parliament 5, 14, 30, 36, 39, 109 - Verfassung 29, 32 f., 39, 42, 67, 109 f. Grundgesetz 17, 74, 76 f., 88, 92, 133, 159 ff., 164, 171,235 - Durchgriffsnormen 184, 202 f. 206, 222 - Homogenitätsbestimmungen 184, 195, 198 ff., 225, 236 - Kollisionsbestimmungen 184 ff., 192,202 - Kompetenzbestimmungen 184, 190 ff., 194, 197, 203 f., 205, 206 f. - Präambel 17, 106, 140, 160 f. Hessischer Verfassungsstreit 114, 116, 166 f., 181 Higher law 29, 31, 33 f., 40, 43 f., 61 Homogenitätsbestimmungen s. Grundgesetz Kollisionsbestimmungen s. Grundgesetz Kompetenzbestimmungen s. Grundgesetz Konstituante 64, 117, 120 f., 226 Konstitution s. Verfassung Konstitutionalismus 68 Konvent 19, 49, 120 f., 226, s.a. Convention Länder 73 f., 141 f., 144, 157, 159 f. - Landesgrundrechte 187 f., 206 ff. - Landesstaatsangehörigkeit 178 f. - Landesverfassungen / Landesverfassungsrecht 132, 168, 171, 183 f., 193, 195, 221 f. - Landesvolk 160 f., 166, 168 f., 175 ff., 232 - Neue Länder 77, 168, 203, 224, 227 - Staatsorganisationsrecht 197 ff., 201 f., 204 - Staatsqualität / Eigenstaatlichkeit 134 f., 149 f., 164, 171, 197 f. - Verfassungshoheit / -autonomie 166, 171 ff., 195,225 Länderbildung 77, 141, 204, 224 Ländereinführungsgesetz 116, 204

259

Landesverfassunggebung 116, 164 ff., 222 f., 224 ff. - Differenztheorie 168 f., 176, 181, 184 - Parallelisierungstheorie 132, 166 f., 176, 181, 223, 233 f. Legalität 80, 103, 105, 128 Legitimität / Legitimation 39, 61, 79 ff., 94, 129 Magna Charta s. Großbritannien Massachusetts 26, 34, 37, 44, 46 ff., 65, 123 Mehrheitsprinzip 81, 124 ff., 144, 225 f. Nation 63,91, 181 Naturrecht 34 f., 106 ff. Nordamerika 16, 17 f., 19, 26 f., 29, 31, 32, 61 - American People 39, 40 f., 56, 57 f., 60 f., 62, 153 - Bundesverfassung 26, 51, 56 f., 153, 162 - Charten / Colonial Charters 32 f., 34, 37 - Continental Congress 37 f., 52, 57, 58 f. - Einfluß auf deutsche Verfassungstheorie 67 f., 69 f. - Einfluß auf französische Verfassungstheorie 62 f. - neue Vorstellung über Verfassunggebung 43,45, 60 f., 104, 122, 151,235 - States Rights School 56, 60 - Unabhängigkeitserklärung 16, 26, 36, 37, 39, 45, 53, 57 - Virginia Bill of Rights 18, 39, 45 Parlamentarischer Rat s. Deutschland Parlamentssouveränität 45, 50, s.a. Großbritannien, Sovereignty of Parliament Paulskirche s. Deutschland Plebiszit s. Verfassunggebung Positivismus 20, 74, 87 f., 104, 107, 144 Pouvoir constituant 14, 24 f., 26, 63 f., 104 ff., 165 f., 174, 181, 184 f., 234, s.a. Verfassunggebende Gewalt, Constitutent power Pouvoir constitué 13, 24, 89, 101 Präambel s. Grundgesetz Preußen 71, 140 f.

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Personenregister

Repräsentation, Repräsentanten 41, 49 f., 112 f., 119, 122 Revolution 16, 73, 77, 84, 98, 102, 106, 114, 118 Sachsen 13, 174, 232 SBZ s. Deutschland Selbstbestimmungsrecht 181 Souveränität 16, 55 f., 102, 135, 146, 148, s.a. Volkssouveränität Staatenbund 52, 57, 60, 135, 153 ff. Staatenverbund 156 Staatszielbestimmungen 217 ff. States Rights School s. Nordamerika Südweststaatsentscheidung s. Bundesverfassungsgericht USA s. Nordamerika Unitarismus s. Bundesstaat, unitarischer Vereinigte Staaten s. Nordamerika Vereinigtes Königreich s. Großbritannien Verfassung 76, 118 - älterer Verfassungsbegriff 27 f., 38 - Bindungswirkung 99 ff., 102 - Entstehung 76, 78 f., 81 f., 112, 133, 164 ff., 235 - Geltungsgrund 76, 78 f., 82, 84, 89, 130, 135 - Integration 79, 111, 127, 131 - moderner Verfassungsbegriff 28 f. - Ursprung 76, 79 - Verfassungsänderung 52, 64, 80 - Vertrag 29 f., 56, 72 f., 138, 160, 163, 235 - Vorrang 20, 29, 54, 99 ff., s.a. higher law Verfassunggebende (National-) Versammlung 61, 70, 73, 112 f., 118, 120, 204, 230, s.a. Konstituante Verfassunggebende Gewalt (des Volkes) 40, 74, 76 ff., 82 ff., 91, s.a. pouvoir constituant, constituent power

17*

- Bindungs- / Schrankenlosigkeit 54, 63 f., 102, 104 ff., 115 f., 127 f., 151, 183 ff., 199 - Funktion 14, 45, 78 ff. - Grenzen 104, 106 ff., 199 - Lehre 15, 17, 70 f., 74, 78, 82 ff., 104, 115, 235 - Permanenz 54, 64 f., 95 ff., 127 f. - revolutionäre Dimension 39, 53, 102,

112, 118 - Subjekt 41, 53 f., 91 ff., 151 f., 175 ff., 232 - Unveräußerlichkeit 54, 64 f. Verfassunggeber s. Subjekt der verfassunggebenden Gewalt Verfassunggebung - auf Bundesebene 132, 151 ff., 157 f. - auf Landesebene 132, 164 ff., 231 ff. - besonderes Mandat 44 f., 60 f. - demokratische Verfassunggebung 18, 26, 45,61, 119, 225 - institutionelle Spezialität 45, 47 f., 51, 61 f., 122 f., 229 - Plebiszit 48 f., 51, 61, 65, 120 ff., 123 f., 158,227 - Verfahren 13, 60 f., 114 ff., 120 ff., 151, 224 ff., 232 Verfassungsentstehung s. Verfassung Verfassungslehre / - theorie 16, 22, 233 Verfassungsrecht 22, 88 f., 90 Virginia Bill of Rights s. Nordamerika Volk 37, 113, 166, 181 f. - als verfassunggebende Gewalt 39 ff., 54, 56, 101 f., 112, 166, 177 - Bindung des Volkes 101 f., 104, 106 ff., 199 Volkssouveränität 14, 26, 39, 50, 55, 67, 69, 73, 93 f., 102, 106, 116, 127 f., 130, 166, 175 f. Weimarer Republik s. Deutschland Wiedervereinigung 77, 103, 118, 144, 158, 161