Verfassung, Volksgeist und Religion: Hegels Überlegungen zur Weltgeschichte des Staatsrechts [1 ed.] 9783428526024, 9783428126026

Zweifellos ist die Frage nach der Stellung der Religion(en) im modernen Verfassungsstaat in den letzten Jahren immer bri

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Verfassung, Volksgeist und Religion: Hegels Überlegungen zur Weltgeschichte des Staatsrechts [1 ed.]
 9783428526024, 9783428126026

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 151

Verfassung, Volksgeist und Religion Hegels Überlegungen zur Weltgeschichte des Staatsrechts

Von

Ulrich Thiele

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ULRICH THIELE

Verfassung, Volksgeist und Religion

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 151

Verfassung, Volksgeist und Religion Hegels Überlegungen zur Weltgeschichte des Staatsrechts

Von

Ulrich Thiele

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-12602-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Hans Friedrich Fulda

Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Der 11. September 2001 als welthistorische Zäsur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Hegels ,realistische‘ Einwände gegen Kants Völkerrechtslehre . . . . . . . . . 1.3. Die Idee des Staates innerhalb des Staatsrechtsteils der Grundlinien . . . . 1.4. Die Sonderstellung des Kapitels Die Weltgeschichte in den Grundlinien und der Enzyklopädie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Annäherung an Hegels Konzept der Weltgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Das Weltgeschichtskapitel als Grundriß einer verfassungsgeschichtlichen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Weltgeschichte als ,Weltgericht‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Die Weltgeschichte als Geistesgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Das ,wesentliche Verhältnis‘ zwischen Weltgeist und Volksgeistern . . . . . 2.5. Die Volksgeister als endliche ,Geschäftsträger‘ des Weltgeistes . . . . . . . . . 2.6. Das ,Naturmoment‘ der Volksgeister als Grund ihrer Endlichkeit . . . . . . .

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.1. Die Staatsgründung als Beginn der weltgeschichtlichen Existenz der Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.2. Die Weltreligionen als ,Weichensteller‘ der Verfassungsgeschichte . . . . . . 85 3.3. Ungleichzeitigkeit und Fortschritt in der Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . 97 3.4. Hat die Verfassungsgeschichte ein Endziel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3.5. Hegels Überlegungen zum Verhältnis zwischen der französischen und der preußisch-deutschen Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Die Europäische Union zwischen Vertrag und Verfassung . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Können Verfassungen ,gemacht‘ werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Die Endlichkeit welthistorischer Reiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Die Weltreligionen und die Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

1. Einleitung 1.1. Der 11. September 2001 als welthistorische Zäsur Seit je wird darüber gestritten, ob die Weltgeschichte auf einen verfassungsrechtlichen Endpunkt zusteuert oder nicht und seit je benennt man dabei Hegel zum Kronzeugen der eigenen Auffassung. So formulierte z. B. Francis Fukuyama noch 1992 die These, daß die Weltgeschichte auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtet sei und daß dieser Endzustand, auf den die gesamte bisherige Entwicklung hingestrebt hätte, nicht nur prinzipiell erkennbar, sondern auch teilweise schon realisiert worden sei. „Was wir heute erleben ist vielleicht das Ende der Geschichte als solcher, das heißt der Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit und die Universalisierung der westlich-liberalen Demokratie als definitiver Regierungsform des Menschen. [. . .] Der Krieg der Ideen ist zu Ende. [. . .] Im großen und ganzen hat die liberale Demokratie gesiegt. Die Zukunft wird nicht mehr großen berauschenden Kämpfen um Ideen gewidmet sein, sondern der Lösung nüchterner ökonomischer und technischer Probleme.“1

Damit beschwor er aufs Neue die Kernaussage der idealistischen Geschichtsphilosophie, nach der sich der philosophischen Betrachtung im scheinbar chaotischen Gang der Weltgeschichte eine finale Struktur enthüllt. Die politische Geschichte läßt sich aus dieser Perspektive als ein zielorientierter Prozeß zunehmender Vernünftigkeit entziffern. Die bekannte Formel, die Hegel für jenes dynamische Prinzip wählte, lautet bekanntlich: „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“.2 Zwar wird damit angedeutet, daß der Staat, der am Ende der Geschichte stünde, auf jeden Fall ein freiheitlicher Staat und mithin ein Rechtsstaat wäre.3 1 Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, London 1992, S. 4, übers. v. Jean-Pierre Bussalb, in: ders., Carl Schmitts völkerrechtliches Großraumprinzip, in: Rechtstheorie 25/2, (2004), S. 251. 2 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte (im folgenden zitiert als „Phil. d. Gesch.“), in: Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel (im folgenden zitiert als „Werke“), Frankfurt am Main 1971, Bd. 12, S. 32. 3 Vgl. z. B. Werner Maihofer, Hegels Prinzip des modernen Staates, in: Manfred Riedel (Hg.), Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 2, Frankfurt am Main 1975, S. 361–393, 380 ff. Die Freiheit der Individuen sollte allerdings nicht durch einklagbare Grundrechte, gesichert werden, sondern durch die Organisation der öffentlichen Gewalten verbürgt sein; vgl. dazu Herbert Schnädelbach, Die Verfassung der

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1. Einleitung

Ob sich aber Hegel auch hinsichtlich der Frage festgelegt hat, wie die öffentlichen Gewalten in jenem Idealstaat in concreto organisiert wären, ist in der Forschung nach wie vor umstritten.4 So ist insbesondere die Frage, welche Stellung der monarchischen Gewalt zukommen soll und welche Konsequenzen dies für die Teilung der gesetzgebenden, regierenden und rechtsprechenden Gewalt hätte, bis heute Gegenstand zäher Auseinandersetzungen.5 Entsprechend kontrovers wird darüber debattiert, ob und, wenn ja, in welchem Sinne jener Optimalstaat demokratische Züge aufweisen soll.6 Einig ist man sich allenfalls darin, daß die moderne Massendemokratie Hegels Ansprüchen wohl kaum genügt hätte.7 Doch alle diese Überlegungen gehen von der Prämisse aus, er habe die Weltgeschichte als endlich angesehen – eine Hypothese, die sich mit guten Gründen in Frage stellen läßt.8 Indem er die Frage nach dem verfassungsrechtlichen Endziel der Geschichte als definitiv entschieden erklärte, glaubte Fukuyama, das Hegelsche Erbe anzutreten. Seiner Überzeugung nach würde der Verfassungstyp der liberalen, säkularen Demokratie, wie er insbesondere in Westeuropa und den Vereinigten Staaten verwirklicht ist, über kurz oder lang von allen anderen Staaten adaptiert werden. Fukuyama unterstellt demnach, daß das letztlich universell erfolgreiche Gesellschafts- und Staatsmodell bereits vollkommen realisiert ist, weswegen eine Alternative nicht einmal mehr denkbar sei. So heißt es: „[We] are now at a point where we cannot imagine a world substantially different from our own“.9 Diese universalhistorischen Konstruktion unterstellt einen Homogenisierungsprozeß zwischen den politischen Kulturen, an dessen Ende eine einzige liberaldemokratische Weltanschauung stünde. Dies setzt wiederum voraus, daß die HeFreiheit, in: Ludwig Siep (Hg.), G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Reihe: Klassiker Auslegen), Berlin 1997, S. 243–265, S. 260 f. 4 Vgl. dazu Schnädelbach (1997), S. 245 ff. 5 So weist z. B. Vittorio Hösle darauf hin, daß die Positionierung der fürstlichen Gewalt in den Grundlinien der spekulativen Methode der Logik widerspricht; denn die fürstliche Gewalt, die ihrer logischen Bestimmung nach als Einzelheit gedacht ist, müßte auf die Bestimmungen der Allgemeinheit und Besonderheit folgen, während sie in der Rechtsphilosophie den Anfang des Systems der öffentlichen Gewalten ausmacht. Da dieser „Begriffsfehler“ (vgl. Vittorio Hösle, Der Staat, in: Christoph Jermann (Hg.), Anspruch und Leistung von Hegels Rechtsphilosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 183–226, 201) durch kein überzeugendes Argument gerechtfertigt werde, sei „an dieser Stelle der Vorwurf des politischen Opportunismus“ kaum zu entkräften; vgl. Schnädelbach (1997), S. 250. 6 Während Avinieri den Hegelsschen Vernunftstaat als „konstitutionelle Monarchie“ bezeichnet (vgl. Shlomo Avinieri, Hegels Theorie des modernen Staates, Frankfurt am Main 1976, S. 221), sei er nach Maihofer als „konstitutionelle Demokratie“ konzipiert; vgl. Maihofer (1975), S. 380. 7 Vgl. Schnädelbach (1997), S. 257. 8 Zur Debatte vgl. Rüdiger Bubner, Hegel and the End of History, in: Bulletin of the Hegel Society of Great Britain 23/24 (1991), S. 15 ff. 9 Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, London 1992, S. 51.

1.1. Der 11. September 2001 als welthistorische Zäsur

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terogenität der kulturellen Deutungs- und Handlungssysteme und insbesondere der Sitten, auch wo sie sich unmittelbar aus religiösen Überzeugungen herleitet, zunehmend schwinden wird. Unstrittig hat die Geschichte mit den Terroranschlägen des 11. September 2001, dem illegalen (und illegitimen) Angriffskrieg gegen den Irak, den systematischen Kriegs- und Menschenrechtsverletzungen seitens amerikanischer Militärs sowie der Eskalation islamistischer Gewalt eine Wendung genommen, die Fukuyamas Teleologie zur Makulatur machte.10 Seit Ende des Jahres 2004 schien die Entfremdung zwischen der islamischen und der westlichen Kultur fast täglich zu wachsen und häufig genug wurde den Religionen, besonders dem Islam, eine Katalysatorenfunktion in jenem Entfremdungsprozeß zugeschrieben. Ernsthaft erörterte man das Problem, ob der muslimische Glaube überhaupt als demokratieverträglich gelten kann, während dagegen nach dem Verhältnis zwischen liberaldemokratischem Verfassungsrecht und Christentum nur sehr selten gefragt wurde. Gerade dies wäre aber nötig, denn schließlich hat sich gezeigt, daß die Moderne keineswegs gegen die Verführungen theologischer bzw. theologisierter Politik immun ist. So ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts der radikalisierende Einfluß insbesondere der evangelikalen Glaubensströmung auf die Politik der Vereinigten Staaten unübersehbar geworden. Die mit dem 11. September 2001 beginnende Einschränkung von Bürger- und Menschenrechten wurde mit dem Verweis auf den innen- und außenpolitischen état de siege gerechtfertigt, wobei eine politisch-theologische Rhetorik verwendet wurde, die das Szenario eines unvermeidlichen Endkampfes des schlechterdings Guten gegen das ,Reich des Bösen‘ fingierte. Daß Samuel Huntingtons apokalyptische These vom unvermeidlichen „Clash of Civilisations“ mit dem 11. September einen bis dahin nicht geahnten Popularitätsschub erfuhr, erstaunt daher nicht. Plötzlich galt Fukuyamas geschichtsphilosophische Konstruktion als Resultat einer ,narzißtischen‘ Selbstüberhöhung der westlichen Kultur, während Huntington als unerschrockener Realist aufgewertet wurde.11 Schließlich hatte er die wechselseitige Impermeabilität der

10 Auch die seit dem 11. September 2001 immer weiter ausgedehnten Notstandsbefugnisse der Regierung demontieren die Prätention, mit diesen Mitteln den american way of life, der doch vor allem den ungehinderten Gebrauch der klassischen liberalen Freiheitsrechte einschließt, verteidigen zu wollen (bzw. zu können); vgl. dazu z. B. Frank Niess, McCarthys Wiederkehr. Bekenntniszwang und Überwachung in den USA, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2 (2004), S. 233–242. 11 Auch jüngsten westlichen Visionen vom Ende der Geschichte, besonders das gängige Wunsch- bzw. Schreckensbild eines nur noch von Marktgesetzen beherrschten neoliberalen Universums, sollte, so suggestiv sie auch sein mögen, Skepsis entgegengebracht werden. Denn mindestens in bezug auf die arabische Welt könnte sich zeigen, daß die erwartete „Standardisierung der Globalisierung nur Selbsttäuschung und

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1. Einleitung

Weltkulturen und vor allem die Eigendynamik der sie letztlich bestimmenden religiösen Weltbilder betont. So heißt es z. B.: „The great division among humankind and the dominating source of conflict will be cultural.“12 Huntington sieht in den großen monotheistischen Religionen, insbesondere dem Christentum und dem Islam, in erster Linie separierende Faktoren, die alle Bemühungen um einen interkulturellen Dialog zum Scheitern verurteilten, weil sei auf zwei paradigmatisch inkompatiblen Weltanschauungen beruhten: „On both sites the interaction between Islam and the West is seen as a clash of civilisations.“13 Von einer zukünftigen Angleichung der Staatsverfassungen könne allein schon deswegen keine Rede sein, weil das Verhältnis von Staat und Kirche in beiden Kulturen sehr verschiedenartig gedacht werde. Sowohl Fukuyamas als auch Huntingtons Theorien lassen sich als ideologische Versionen zweier gegenläufiger Argumentationen interpretieren, die sich beide in Hegels Geschichtsphilosophie nachweisen lassen, dort aber auf subtile Weise miteinander vermittelt werden. Man sollte sich also davor hüten, mit Fukuyamas überspannter Auslegung zugleich Hegels wesentlich komplexere Theorie zu verwerfen. Zwar trifft es zu, daß das Weltgeschichtskapitel der Grundlinien eine universelle verfassungsgeschichtliche Theorie skizziert. Ungewiß ist allerdings nach wie vor, ob und, wenn ja, in welcher Weise Hegel die These einer globalen Vereinheitlichung der politischen Kultur aufstellen wollte. Fraglich ist erst recht, ob Hegel tatsächlich, wie Fukuyama annimmt, eine globale Homogenisierung des Verfassungsrechts der Staaten oder nur partielle Angleichungsprozesse prognostizierte. Zwar wertet Hegel die Französische Revolution als welthistorischen Wendepunkt, von dem an die Gesellschaftsstruktur und das Verfassungsrecht (jedenfalls in Europa) eine neue Entwicklungsrichtung eingeschlagen hätten. Doch ist mir keine Textstelle bekannt, an der behauptet würde, das moderne Staatsrecht französischer Provenienz werde sich weltweit durchsetzen. Vielmehr finden sich nicht wenige Passagen, die darauf hindeuten, daß Hegel keine Globalisierung des Verfassungsrechts, sondern allenfalls eine begrenzte Angleichung einiger Staaten, Gesellschaften und Kulturen erwartet, die dann für eine gewisse Zeit dominierend wären, ohne doch den Endpunkt der Geschichte zu markieren. Dennoch wäre es müßig, Huntingtons unterkomplexe Geschichtskonstruktion bei Hegel wiederfinden zu wollen. Dessen verstreute Bemerkungen über Wechselverhältnisse zwischen geographischen Gegebenheiten, wirtschaftlichen und sozialen Handlungssystemen, Religion, Volksgeist, Recht, Staat und Verfassung

Illusion“ ist; vgl. Bassam Tibi, Kreuzzug und Djihad, München 1999, S. 133; siehe auch weitere Belege in Bussalb (2004), S. 252 f. 12 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilisations, in: Foreign Affairs Bd. 72, Nr. 3 (1993), S. 22. 13 Ebd., S. 25.

1.2. Hegels ,realistische‘ Einwände gegen Kants Völkerrechtslehre

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zielen zweifellos auf eine allgemeine Theorie der politischen Kultur. Diese wird jedoch nirgends als ein universalhistorisches Deutungsschema ausbuchstabiert, das als solches zur Analyse jeder beliebigen Gesellschaft zureichend wäre. In Hegels Lehre von den Volksgeistern läßt sich zweifellos eine starke Tendenz feststellen, die der Prognose einer allgemeinen Angleichung der Staatsverfassungen opponiert: Hier sind neben den natürlichen Lebensbedingungen vor allem die Religionen zu nennen, die die Sitten der Völker maßgeblich bestimmen und die allgemeine Richtung, in der sich die jeweiligen politischen Kulturen fortentwickeln können, vorgeben. Die Religionen scheinen somit vor allem als statische Faktoren in Betracht zu kommen, die Kulturen voneinander separieren, indem sie höchst verschiedene Weltbildkonstruktionen limitieren und damit einer Homogenisierung der Verfassungen der Nationalstaaten entgegenwirken. Zwar genügt nach Hegel allein das Christentum, speziell der Protestantismus in vollem Umfang den Anforderungen der Vernunft, doch daß man deswegen (langfristig) mit einer Konversion aller anderen Religionsgemeinschaften rechnen könne, wird – jedenfalls ausdrücklich – nirgends behauptet. Es ist also keineswegs entschieden, ob Hegels Geschichtsphilosophie eine Globalisierung der Kulturen und Verfassungen postuliert oder ganz im Gegenteil die Inkompatibilität der sittlichen Grundlagen nationalstaatlicher Kulturen zu einem Letzten erklärt. Ich möchte mich dieser Frage auf einem Umweg nähern: Zunächst soll die Stichhaltigkeit der Kritik an der Völkerrechtslehre Kants diskutiert werden, die, zumindest in Hegels Sicht, deswegen ,kosmopolitische‘ und pazifistische Illusionen genährt hat, weil sie verkannte, daß nur und ausschließlich souveräne Nationalstaaten als Subjekte der Politik agieren können, während allen zwischenstaatlichen Rechtsbeziehungen genau diese Qualität fehlt. Hegels ,realistische‘ Völkerrechtstheorie wird immerhin einige wichtige Hinweise bezüglich der Frage nach der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Verfassungsgeschichte liefern können, die es gestatten, das eigentliche Thema, die Frage nach Interdependenzen zwischen Religion, Volksgeist, Nationalstaat und Verfassungsgeschichte im Weltgeschichtskapitel der Hegelschen Grundlinien so zu behandeln, daß sein Bezug zur Staatsrechtstheorie gewahrt bleibt.

1.2. Hegels ,realistische‘ Einwände gegen Kants Völkerrechtslehre Es scheint, als gäbe es trotz aller Rückschläge auf lange Sicht keine echte Alternative zu Kants völkerrechtlicher Utopie eines den Krieg vermeidenden Staatenbundes. Immerhin unterstützt die Mehrheit der Nationen das Bemühen um eine zunehmende Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Interessenskonflikte einerseits und um die globale Verwirklichung elementarer Menschenrechte andererseits. Insbesondere die Einrichtung des Internationalen Strafge-

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1. Einleitung

richtshofes gibt zu der Hoffnung Anlaß, Kants nüchterne, jedoch schon von seinen Zeitgenossen illusionär gescholtene Theorie des Völker- und Weltbürgerrechts könnte auch ,für die Praxis taugen‘. Allerdings sind auch gegenwärtig die Vereinten Nationen noch weit entfernt davon, in ihrer organisatorischen Struktur den Anforderungen an einen Völkerbund, wie ihn die Kantische Friedensschrift entwarf, zu genügen. So vereitelt die durch Vetorechte privilegierte Stellung der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates oft genug demokratische Mehrheitsentscheidungen.14 Auch hinsichtlich der normativen Substanz des aufgeklärten Völkerrechts lassen sich Revisionen feststellen. Man denke nur an das im fünften Präliminarartikel der Kantischen Friedensschrift formulierte strikte Interventionsverbot, das jede militärische Einmischung auch und gerade in nicht-demokratisch verfaßte Staaten ausschließt. Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts besteht eine Tendenz, Mißachtungen dieses elementaren Völkerrechtsprinzips nicht mehr zu verurteilen, sondern zu erlauben oder gar für rechtmäßig zu erklären.15 So drängte sich speziell vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien der Eindruck auf, als würde Kants anspruchsvoller Begriff des öffentlichen Rechts, insbesondere dann, wenn man die Argumentation der Rechtslehre mit derjenigen der Friedensschrift in Einklang zu bringen sucht, mehr Probleme aufwerfen, als Lösungen anbieten. Schließlich fordert Kant 1797 nichts Geringeres, als daß neben dem Staatsrecht ein „Völkerstaatsrecht“ und ein strikt universelles

14 Vgl. Hauke Brunkhorst, Paradigmenwechsel im Völkerrecht? Lehren aus Bosnien, in: Matthias Lutz-Bachmann/James Bohman (Hg.), Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, Frankfurt am Main 1996, S. 251–271, 256. Im Sinne Hans Kelsens wäre auch das heutige Völkerrecht, was seine Organisation anbelangt, immer noch als „primitive Rechtsordnung“ zu werten. Denn die völkerrechtliche Rechtsordnung verfügt weder über eigene Rechtssetzungsorgane (etwa ein Parlament) noch über eigene Rechtsdurchsetzungsorgane und auch von einem gewaltenteiligen System jener Funktionen kann nicht die Rede sein; vgl. Hans Kelsen, Die Theorie des Völkerrechts und das Souveränitätsdogma, 2. Aufl. 1928, Neudruck Aalen 1981, S. 258. Zwar kann die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs als ein erster Schritt in Richtung auf den Ausbau einer richterlichen Gewalt angesehen werden, doch in Hinblick auf die Exekutive zeichnet sich keine Institutionalisierung einer überstaatlichen Zwangsgewalt ab. Auch wenn das Völkerrecht nach Kelsen als primitive Rechtsordnung zu bezeichnen ist, so bedeutet dies doch nicht, daß völkerrechtliche Normen ungültig wären und das Staatsrecht dem Völkerrecht normenlogisch übergeordnet wäre. Dies zeige sich vor allem darin, daß die Völkerrechtsgemeinschaft das liberum ius ad bellum als rechtswidrig verworfen habe: „Ein anderer als ein durch das Völkerrecht gebotener (oder positiv erlaubter) Krieg ist rechtlich ein Gewaltakt, ist entweder rechtlich überhaupt nicht erfaßbar oder – Unrecht, Völkerrechtsverletzung. Dies natürlich auch dann, wenn es ein siegreicher Krieg ist“; vgl. ebd., S. 265. 15 Zur jüngsten Debatte über das völkerrechtliche Konzept der „Human Security“ vgl. Gregor Schöllgen, Aufstieg eines neuen Sicherheitskonzepts. In den außenpolitischen Denkfabriken nimmt Human Security langsam Gestalt an, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24. 6. 2005, S. 9.

1.2. Hegels ,realistische‘ Einwände gegen Kants Völkerrechtslehre

15

„Weltbürgerrecht“ institutionalisiert würde.16 Denn nur unter der Bedingung der organisatorischen Realisierung aller drei Dimensionen des öffentlichen Rechts17 könne das „Recht der Menschheit“18 gesichert werden. Diese immerhin legitime Lesart wurde aber noch überboten, als unter der Losung der ,humanitären Intervention‘19 aus menschenrechtlichen Prinzipien unmittelbare Handlungsverpflichtungen der westlichen Staaten abgeleitet wurden, die von den Vereinten Nationen nur noch durch stillschweigende Duldung oder durch die nachträgliche Erteilung eines Mandates zu legitimieren seien.20 Während man glaubte, die aufgeklärte Theorie des Völkerrechts, die mit der Staatssouveränität und dem entsprechenden Interventionsverbot das Prinzip der Volkssouveränität geschützt sehen wollte, aus menschenrechtlichen Motiven revidieren zu müssen, setzte man fatalerweise Ereignisketten in Gang, die dazu führten, daß sowohl die menschenrechtliche als auch die volkssouveränitäre Dimension des Völkerrechts Schaden nehmen mußte.21 Wo in der politischen Praxis und Theorie behauptet wurde, der normative Konflikt zwischen dem überkommenen völkerrechtlichen Prinzip der Souveränität der Nationalstaaten und dem universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte sei bereits gelöst, er-

16 Vgl. Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (im folgenden zitiert als „RL“), § 43, in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. (in folgenden zitiert als „AA“), Bd. VI, S. 311. 17 Vgl. dazu Ulrich Thiele, Kants dreidimensionaler Vernunftbegriff des öffentlichen Rechts und seine Problematik, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 6 (1998), S. 255– 278. 18 Zu Kants Begriff des „Rechtes der Menschheit“ vgl. Hans Friedrich Fulda, Kants Postulat des öffentlichen Rechts (RL § 42), in: Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), S. 267–290, bes. 288 ff. 19 Vgl. z. B. Christopher Greenwood, Gibt es ein Recht auf humanitäre Intervention?, in: Hauke Brunkhorst (Hg.), Einmischung erwünscht?, Frankfurt am Main 1998, S. 15–36. 20 Die entsprechenden Reformvorschläge hinsichtlich der Vereinten Nationen zielten darauf, die Charta so auszulegen, daß das Staatssouveränitätsprinzip zugunsten des Menschenrechtsprinzips revidiert würde; vgl. z. B. Dieter Senghaas, „Recht auf Nothilfe“, in: Reinhard Merkel (Hg.), Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, Frankfurt am Main 2000, S. 99–114; kritisch dazu Ingeborg Maus, Vom Nationalstaat zum Globalstaat oder: der Niedergang der Demokratie, in: Matthias Lutz-Bachmann/James Bohmann (Hg.), Für und wider die Idee einer Weltrepublik, Frankfurt am Main 2002, S. 245 und dies., Menschenrechte als Ermächtigungsnormen internationaler Politik oder: der zerstörte Zusammenhang von Menschenrechten und Demokratie, in: Hauke Brunkhorst, Wolfgang R. Köhler, Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Recht auf Menschenrechte, Frankfurt am Main 1999, S. 276–292. 21 Zu den politisch desaströsen Nebenfolgen, die speziell die Jugoslawien-Politik der Bundesrepublik auszeichnete, vgl. Ingeborg Maus, Staatssouveränität als Volkssouveränität. Überlegungen zum Friedensprojekt Immanuel Kants, in: Kulturwissenschaftliches Institut im Wissenschaftszentrum NRW, Jahrbuch 1996, hg. v. Wilfried Loth, Essen 1997, S. 167–194, 192 f.

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1. Einleitung

wiesen sich diese Lösungsansätze bei näherer Betrachtung als bloße Verdrängung der einen Rechtsdimension zugunsten der anderen.22 Ihr ,Waterloo‘ erfuhren sowohl die Fürsprecher der ,idealistischen‘ Doktrin vom Primat der Menschenrechte als auch die traditionalistischen Anhänger des auf das Prinzip der Souveränität der Staatsvölker gegründeten völkerrechtlichen Interventionsverbots23 durch einen ,Realismus‘ anderer Art. Seit dem 11. September 2001 wurde das Staatssouveränitätsprinzip und das Menschenrechtsprin22 Wenn gegenwärtig zwischenstaatliche Kriege jedenfalls in Europa vermeidbar scheinen, so trifft dies doch nicht auf Kriege überhaupt zu. Die völkerrechtlichen Institutionen werden im Gegenteil durch die Zahl und Intensität der Bürgerkriege zunehmend mit einem Dilemma konfrontiert: Das nationalstaatliche Souveränitätsprinzip und das politische Selbstbestimmungsrecht der Völker können nur eingeschränkt respektiert werden, wenn das Prinzip universeller Menschenrechte, insbesondere wo es verfolgte Minderheiten und Flüchtlinge oder staatenlose Personen betrifft, unbeschränkt gelten soll. So kollidieren die universalistischen Menschenrechtsprinzipien jedenfalls dann, wenn man davon ausgeht, daß sie humanitäre militärische Interventionen in fremde Hoheitsgebiete rechtfertigen können, zwangsläufig mit den traditionellen Grundsätzen des Völkerrechts, die aus souveränitätstheoretischen und nicht zuletzt auch volkssouveränitätstheoretischen Gründen die Einmischung in innere Angelegenheiten der Staaten verbieten. Es ist aber die Frage, ob und in welchem Sinne die afrikanischen politischen Hoheitsgebiete, in denen sich Bürgerkriege ereignen, ,Staaten‘ zu nennen sind. Im Fall Ruandas dürfte wohl eher der Ausdruck ,Staatsruine‘ zutreffen. Ob auf politische Verhältnisse, in denen Institutionen eher Fassaden als effektive Organisationen darstellen das völkerrechtliche Interventionsverbot überhaupt anwendbar ist, ob also das Völkerrecht überhaupt zuständig ist, wäre jeweils von der Vollversammlung der Vereinten Nationen zu entscheiden, denn diese Frage betrifft die Geltung und nicht lediglich die Anwendung der UN-Charta; vgl. zu diesem Thema Hartmut Jäckel (Hg.), Ist das Prinzip der Nichteinmischung überholt?, Baden-Baden 1995; vgl. auch Otfried Höffe, Kant als Theoretiker der internationalen Rechtsgemeinschaft, in: Gerhard Schönrich/Yasushi Kato (Hg.), Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt am Main 1996, S. 489–505; ders.: Völkerbund oder Weltrepublik, in: ders. (Hg.), Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (Reihe: Klassiker auslegen), Berlin 1995, S. 109–132; ders., Die Vereinten Nationen im Lichte Kants, in: ebd, S. 245–272; Reinhardt Brandt, Vom Weltbürgerrecht, in: ebd., S. 133–148; Sybille Tönnies, Die gute Absicht allein ist suspekt. Das Völkerrecht und die humanitäre Intervention, in Frankfurter Rundschau, 7. 6. 1999, S. 12; Wolfgang Kersting, Philosophische Friedenstheorie und internationale Friedensordnung, in: Christine Chwaszcza/Wolfgang Kersting (Hg.), Politische Philosophie der internationalen Beziehungen, Frankfurt am Main 1998, S. 523–554; Winfried Brugger, Menschenrecht und Staatenwelt, in: ebd., S. 153–203; Hauke Brunkhorst, Paradigmenwechsel im Völkerrecht? Lehren aus Bosnien, in: LutzBachmann/Bohman (1996), S. 251–271; Ernst-Otto Czempiel, Kants Theorem und die zeitgenössische Theorie der internationalen Beziehungen, in: ebd., S. 300–323; David Held, Kosmopolitische Demokratie und Weltordnung. Eine neue Tagesordnung, in: ebd., S. 220–239, und konträr zu Held Maus (1997), S. 167–194. 23 Vgl. schon Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (im folgenden zitiert als „ZeF“), in: AA, Bd. VIII, S. 199: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staates gewalttätig einmischen.“ Dies würde nämlich das Völkerrecht als Ganzes untergraben, weil es „die Autonomie aller Staaten unsicher“ machte. „Kants Prinzip der Nichtintervention in Verfassung und Regierung eines anderen Landes stand unter der zentralen Direktive, die Staatssouveränität zu schützen, weil sie Bedingung der Möglichkeit der Volkssouveränität ist“; vgl. Maus (1997), S. 193.

1.2. Hegels ,realistische‘ Einwände gegen Kants Völkerrechtslehre

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zip durch die neoimperiale Außenpolitik der Vereinigten Staaten systematisch verletzt. Seit der ,Bush-Doktrin‘ vom September 2002 bekannte sich die amerikanische Regierung auch offiziell zu einer unilateralen ,Weltinnenpolitik‘.24 Die einzig verbliebene Supermacht erklärte sich, veranlaßt durch die Terroranschläge vom 11. 9. 2001, für berechtigt, unabhängig von und gegebenenfalls auch im Widerspruch zu den Prinzipien des Gewohnheitsvölkerrechts, den Regeln des positiven Völkerrechts, den Voten des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und den Entscheidungen des Internationalen Strafgerichtshofes zu operieren. Das völkerrechtlich tragende „Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten“ umfaßt neben den Prinzipien der friedlichen Streitbeilegung, der Vertragstreue, des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen (und des dieses ermöglichenden strikten Interventionsverbotes) vor allem das Prinzip des allgemeinen Gewaltverbots,25 d. h. des Verbotes, eigene subjektive Rechte mit militärischem Zwang geltend zu machen. Der neue außenpolitische ,Realismus‘ der Vereinigten Staaten beschädigt alle vier elementaren Völkerrechtsprinzipien: Verletzungen des Völkerrechts werden nun unter Berufung auf ein ,naturgegebenes‘ Recht auf Selbstverteidigung gerechtfertigt. Dieses wird allerdings sehr extensiv im Sinne eines Rechtes zum Krieg nicht nur gegen reelle, sondern auch gegen potenzielle Aggressoren ausgelegt. Indem die Bush-Regierung den flexibel handhabbaren Begriff der Selbstverteidigung gegen die Charta der Vereinten Nation ausspielte,26 konnte das Menschenrechtsparadigma, das bisher den amerikanischen Interventionismus legitimiert hatte,27 in den Hintergrund treten. Die in diesem Kontext wie24 Einen Überblick zum Thema Weltinnenpolitik der USA bietet Matthias Dembinski, Unilateralismus versus Multilaterismus. Die USA und das spannungsreiche Verhältnis zwischen Demokratie und Internationaler Organisation, in: HSFK-Report 4/ 2002, Frankfurt am Main 2002. 25 Vgl. Roland Meister, Souveränität und Menschenrechte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3 (2002), S. 325–333, 326 f. 26 Artikel 51 der Charta des Vereinten Nationen hatte dagegen das Selbstverteidigungsrecht eng an einen faktischen militärischen Angriff seitens einer anderen Nation verstanden: „Nothing in the present Charter shall impair the inherent right of individual or collective self-defense if an armed attack occurs against a Member of the United Nations, until the Security Council has taken measures necessary to maintain international peace and security.“ Das Selbstverteidigungsrecht im Falle eines bewaffneten Angriffs ist demnach lediglich ein provisorisches Recht, welches ausnahmsweise und auf Zeit gilt und dann nichtig wird, wenn der Sicherheitsrat geeignete Gegenmaßnahmen ergreift. Keinesfalls soll eine dualistische Konstruktion angeboten werden, nach der das Gewaltverbot nach Art. 2 Abs. 4 einerseits und das Selbstverteidigungsrecht andererseits gleichrangige Prinzipien darstellen würden, zwischen denen je nach Situationsdeutung zu wählen wäre. Schon gar nicht sollte die voraufklärerische Lehre vom gerechten Krieg wierderbelebt werden; vgl. dazu Lothar Brock, Normative Integration und kollektive Handlungskompetenz auf internationaler Ebene, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 6 (1999), Heft 2, S. 323–347, 329 f. 27 Zum Paradigmenwechsel im Völkerrecht, im Zuge dessen vor dem Hintergrund des Bosnien-Krieges an die Stelle des „klassischen Nichteinmischungsparadigmas“ das

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derbelebte Idee des gerechten Kriegs ließ sich nun ,weltinnenpolitisch‘ deuten. Damit war die Hegelsche Theorie der welthistorischen Reiche, allerdings in einer radikalisierten, Schmittianischen Version28 erneut auf die Tagesordnung gesetzt und die Kantische Völkerrechtslehre bis auf weiteres verabschiedet. Daß die amerikanische Regierung und ihre ,realistisch‘ argumentierenden Vordenker (bzw. Nachdenker) das egalitäre Völkerrecht so umstandslos glaubten ad acta legen zu können, mag auch mit seiner theoriegeschichtlichen Provenienz zusammenhängen. So ist die Kantische Tradition, in der die UN-Charta steht, für manche ein guter Grund, ihr mit Skepsis zu begegnen. Allerdings ist unbestreitbar, daß dessen Völkerrechtstheorie einige höchst mißverständliche Formulierungen enthält, an denen sich bis auf den heutigen Tag heftige Kontroversen entzünden. Gemeint sind vor allem die Kantischen Auskünfte über die institutionelle Form der geforderten friedensstiftenden Organisation: Während in der Friedensschrift die Völkerbund-Argumentation akzentuiert wird, dominiert in der Rechtslehre die Völkerstaat-Argumentation.29 So erklärte die Rechtslehre von 1797, ein dauerhafter Rechtszustand sei nur dann möglich, wenn alle drei der „möglichen Formen des rechtlichen Zustandes“, denen jeweils ein besonderes Prinzip der Beschränkung der „äußeren Freiheit durch Gesetze“ zugrundeliege, zu „öffentliche[m] Recht“ geworden wären. Das aber hieße nicht weniger, als daß neben dem Staatsrecht auch das Völker- und das Weltbürgerrecht „einer Verfassung (constitutio) bedürfen“, und dies nicht lediglich im Sinne einer positiven Verfassung, sondern im Sinne einer reellen gewaltenteiligen Organisation, die auf der Basis einer die rechtliche Gleichheit aller Staaten voraussetzenden demokratischen Legislation judikativ und exekutiv distributive Gerechtigkeit realisierte.30 Ohne die Institutionalisierung eines echten Weltstaates wäre demnach kein öffentliches Völkerrecht möglich.

der „einmischenden Menschenrechtspolitik“ trat, vgl. Brunkhorst, in: Lutz-Bachmann/ Bohman (1996), S. 260; zum Verhältnis zwischen Staatentecht und Menschenrecht im modernen Völkerrecht vgl. Brock (1999), S. 335 ff.; zum Kosovo-Konflikt vgl. ebd., S. 340 ff. 28 Vgl. Sybille Tönnies, Krieg gegen Krieg. Gegenpositionen: Carl Schmitt und Hans Kelsen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.11.2003, S. N 3; Schmitt-kritisch dagegen Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen, Frankfurt am Main 2004, bes. S. 187 ff., Micha Brumlik, Die politische Form der globalisierten Welt. Jürgen Habermas zum 75. Geburtstag, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 6 (2004), S. 675 ff. und Ulrich Thiele, Der Pate. Carl Schmitt und die National Security Strategy der Vereinigten Staaten, in: Blätter für deutsche und Internationale Politik 8 (2004), S. 992 ff. 29 So hält z. B. Sybille Tönnies die Völkerstaatsargumentation nicht für eine zweite, gegen die Völkerbundargumentation erwogene Reflexion, sondern für die allein substanzielle Argumentation des zweiten Definitivartikels; vgl. Tönnies (2003). 30 Kant, RL, § 43, in: AA, Bd. VI, S. 311.

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Kant selbst bezweifelt jedoch, daß im Völkerrecht „eben das [selbe] gelten kann, was von Menschen im gesetzlosen Zustand nach dem Naturrecht gilt“: nämlich in einen Staat einzutreten.31 So sei der Souveränitätsrechte übertragende Eintritt in einen friedenssichernden Völkerstaat keine kategorische Rechtspflicht der Souveräne, die aus dem Vernunftrecht als solchem folge. Denn „innerlich“ besäße jeder Staat „schon eine rechtliche Verfassung“. Daher könne keine rechtliche Verbindlichkeit behauptet werden, der jeden Staat nötigte, sich einem Völkerstaat anzuschließen oder ihn zu begründen. Schon gar nicht könnten diesbezügliche Zwangsbefugnisse gegen einen nichtbetrittswilligen Staat geltend gemacht werden.32 Es ist demnach das gute Recht eines jeden Staates (bzw. eines jeden Staatsvolkes) als souveräne „moralischen Person“33 bündnisfrei zu bleiben. Dies ändert jedoch nichts daran, daß es nach reinen Rechtsbegriffen keine andere Möglichkeit gibt, die äußeren Rechte der Staaten (und ihrer Staatsvölker) zu sichern, als daß sie auf die eigenmächtige Wahrung ihrer subjektiven Rechte im außenpolitischen Verhältnis verzichten. Weil im provisorisch-rechtlichen Zustand „die Art, wie Staaten ihr Recht verfolgen, nie, wie bei einem äußern Gerichtshofe, der Prozeß, sondern nur der Krieg sein kann,“34 wird hier über Rechte durch Zufall und nicht nach allgemeingültigen Prinzipien entschieden. Solange die vereinzelten Souveräne ihr vermeintes Recht mit effektiver Macht identifizeren, „tun sie einander auch gar nicht unrecht, wenn sie sich untereinander befehden“.35 Nur wenn sie „nicht allen Rechtsbegriffen entsagen“ wollen und ihr subjektives Recht nach allgemeingültigen Regeln auszuüben bereit sind, besteht für „vereinzelte Menschen, Völker und Staaten“ die Pflicht, den „Zustand der Rechtlosigkeit“ zu verlassen und den Zustand eines „öffentlich(en) gesetzlichen äußeren Zwang(es)“,36 d. h. einer „Verfassung“37 hervorzubringen: „Für Staaten, im Verhältnisse unter einander, kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie, ebenso wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen be-

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Vgl. Kant, ZeF, Zweiter Definitivartikel, in: AA, Bd. VIII, S. 355. Kant, RL, § 42, in: AA, Bd. VI, S. 307 f. Wenn in der Friedensschrift gesagt wird, daß jedes Volk als Staat „um seiner Sicherheit willen, von den andern fordern kann und soll, mit ihm in eine, der bürgerlichen ähnliche Verfassung zu treten, wo jedem sein Recht gesichert werden kann“ (vgl. Kant, ZeF, in: AA, Bd. VIII, S. 354), so ist eben von einer berechtigten Forderung, nicht aber von einer Erlaubnis, Zwang anzuwenden, die Rede. 33 Kant, ZeF, Zweiter Präliminarartikel, Einleitung, in: AA, Bd. VIII, S. 344. 34 Kant, ZeF, Zweiter Definitivartikel, in: AA, Bd. VIII, S. 355. 35 Kant, RL, § 42, in: AA, Bd. VI, S. 307. 36 Kant, RL, § 44, in: AA, Bd. VI, S. 312 (Herv. v. Verf., U. T.). 37 Kant, RL, § 41, in: AA, Bd. VI, S. 306. 32

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quemen, und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden.“38 Auf der anderen Seite erhebt Kant pragmatische Einwände gegen das Modell eines allgemeinen Völkerstaates, d. h. eines Weltstaates. Dieser sei allein schon aufgrund seiner Größe permanent in Gefahr, in den „schrecklichsten Despotismus“ umzuschlagen.39 Ferner gibt er zu bedenken, ein friedenssichernder Weltstaat könnte zu einem „seelenlosen Despotism“ degenerieren, weil er allein aus (herrschafts-)technischen Gründen damit überfordert wäre, jede einzelne Rechtsverletzung auf der Welt zu ahnden.40 Bei „zu große[r] Ausdehnung eines solchen Völkerstaats“ müsse die „Beschützung eines jeden Gliedes endlich unmöglich werden“.41 Nicht zuletzt aber spreche gegen einen Völkerstaat, der das internationale Gewaltverbot erzwingen könnte, die bekannte Abneigung der Souveräne hinsichtlich der erforderlichen Minderung ihrer Hoheitsrechte: Schließlich sei die zweitbeste Lösung des „negative[n] Surrogat[s]“42 eines friedenswahrenden Bundes souveräner Staaten aller vernunftrechtlicher Einsprüche zum Trotz allein schon deswegen vorzuziehen, weil die „Staaten [. . .] nach ihrer Idee vom Völkerrecht“ den Zustand des Völkerstaatsrechts wegen des erforderlichen Souveränitätsverzichts „durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen“.43 Anstatt aus dem zwischenstaatlichen Naturzustand auszutreten, „setzt vielmehr jeder Staat seine Majestät [. . .] gerade darin, gar keinem äußeren Zwang unterworfen zu sein“.44 Kant sieht voraus, daß eine vollkommene Realisierung des von der Vernunft Geforderten zweckwidrige Konsequenzen haben würde. Deswegen verwirft er die vernunftrechtlich gebotene Option eines ,Weltstaates‘. Dennoch sollte man daraus nicht den voreiligen Schluß ziehen, er hätte sich für einen bloßen Staatenbund ausgesprochen. Viel näher liegt die Lesart, nach der ein friedenswahrender Bund zwischen vollsouveränen Staaten nur die erste, freilich unverzichtbare Stufe in einem zwischenstaatlichen Integrationsprozeß sein sollte, der über 38 Kant, ZeF, Zweiter Definitivartikel, in: AA, Bd. VIII, S. 357 (Herv. v. Verf., U. T.); vgl. RL, § 61, in: AA, Bd. VI, S. 350 f.; zu Kants komplexem Begriff des öffentlichen Rechts, der neben dem Staatsrecht das Völkerrecht und das Weltbürgerrecht einschließt, vgl. Thiele (1998), S. 255–278. 39 Kant, ZeF, Zweiter Definitivartikel, in: AA, Bd. VIII, S. 354. 40 Kant, ZeF, Erster Zusatz. Von der Garantie des ewigen Friedens, in: AA, Bd. VIII, S. 367. 41 Vgl. Kant, RL, § 61, AA, Bd. VI, S. 350. 42 Vgl. dazu James Bohman, Die Öffentlichkeit des Weltbürgers, in: Matthias LutzBachmann/James Bohman (Hg.), Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, Frankfurt am Main 1996, S. 87–113, 88 ff.; Heinhard Steiger, Frieden durch Institution. Frieden und Völkerbund bei Kant und danach, in: ebd., S. 140–169, 146 f. 43 Vgl. Kant, ZeF, Zweiter Definitivartikel, in: AA, Bd. VIII, S. 357. 44 Ebd., S. 354.

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jenes ,negative Surrogat‘ definitiv hinauszugehen hätte, ohne doch den zweckvereitelnden Idealzustand des vollendeten Weltstaates erreichen zu dürfen.45 Was das konkrete organisatorische Profil des geforderten Staatenverbandes angeht, so läßt sich der Friedensschrift immerhin eines entnehmen: Je näher die Völkerrechtsorganisation dem Extrem des bloßen Staatenbundes käme, desto demokratischer könnte er organisiert sein. Je mehr er umgekehrt einem Weltstaat ähnelte, desto monarchischer würde seine Organisationsform aussehen. Denn es ist wohl kaum ein Zufall, daß Kant diejenige Völkerrechtsorganisation, die aus einem öffentlich-rechtlichen „Zusammenwachsen“ der Staaten resultierte, als „Universalmonarchie“ bezeichnet.46 Allerdings müsse nach der Vernunft seine Organisationsform ganz wie bei den Staaten im inneren Verhältnis durch öffentliches ,Staatenrecht‘, d. h. eine Verfassung, normiert sein. Doch Kant geht über die Forderung nach einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch hinaus, indem er die Sieyessche Theorie des pouvoir constituant47 miteinbezieht. Dementsprechend wird nicht nur der ideelle Legitimitätsgrund, sondern auch die reelle Genese dieses höherstufigen Staatenrechts volkssouveränitätstheoretisch gedacht: Jener besondere Vertrag, der, um des ewigen Friedens willen, nationale Hoheitsrechte auf über- oder zwischenstaatliche Organe übertrüge, müßte aus einem entsprechenden „Vertrag der Völker unter sich“ und nicht lediglich einem Vertrag der faktischen Souveräne entspringen.48 Das Staaten- bzw. Völkersouveränitätsprinzip49 ist nämlich die begriffliche Voraussetzung dafür, daß das völkerrechtliche Prinzip der gleichen Souveränität der Staaten durch internationale Institutionen gesichert werden 45

Vgl. Thiele (1998), S. 274. Kant, ZeF, Erster Zusatz. Von der Garantie des ewigen Friedens, in: AA, Bd. VIII, S. 367. 47 Zu Sieyes’ Theorie des pouvoir constituant vgl. z. B. Jean-Denis Bredin, Sieyès. La clé de la Révolution française, Paris 1988, Stefan Breuer, Nationalstaat und „pouvoir constituant“ bei Sieyes und Carl Schmitt, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie LXX (1984), 495–517, Murray Greensmith Forsyth, Reason and Revolution. The Political Thought of the Abbé Sieyès, New York 1987, Thomas Hafen, Staat, Gesellschaft und Bürger im Denken von Emmanuel Joseph Sieyes, Bern 1994; Pasquale Pasquino, Sieyés et l’Invention de la Constitution en France, Paris 1998, ders., The Constitutional Republicanism of Emmanuel Joseph Sieyès, in: B. M. Fontana (Hg.), The Invention of the Modern Republicanism, Cambridge 1994, S. 107–117, Ulrich Thiele, Advokative Volkssouveränität. Carl Schmitts Konstruktion einer ,demokratische‘ Diktaturtheorie im Kontext der Interpretation politischer Theorien der Aufklärung, Berlin 2003, S. 215 ff. 48 Vgl. Kant, ZeF, Erster Zusatz. Von der Garantie des ewigen Friedens, in: AA, Bd. VIII, S. 356. Das bedeutet allerdings nicht, daß Kant plebiszitäre Abstimmungsmodi für unverzichtbar erklären würde. 49 Kant spricht in diesem Zusammenhang von „Völker, als Staaten“ (vgl. Kant, ZeF, in: AA, Bd. VIII, S. 354) und grenzt diese von staatslosen „Völkerschaften“ ab (vgl. ders., RL, § 53, in: AA, Bd. VI, S. 334), deren Angehörige nicht völkerrechtliche, sondern allein weltbürgerliche Rechte besitzen können. 46

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kann, die ihrerseits demokratischer Legitimation bedürftig und fähig sind. Nur eine solche kontraktuelle Konstituierung des öffentlichen Rechts sei es eines Staatenbundes, sei es eines Völkerstaats, kann reinen Rechtsprinzipien vollkommen genügen, die alle hernach rechtlich Verbundenen involviert.50 Wie alles öffentliche Recht verlangt öffentliches Völkerrecht eine demokratische Legitimationsbasis, d. h. es hat aus dem empirischen Willen der kontrahierenden Staatsvölker zu entspringen oder muß doch zumindest – vermöge eines besonderen Erlaubnisgesetzes der Vernunft51 – als aus ihm entsprungen gedacht werden können. Gegenläufig zu dieser kontraktualistischen und zugleich konstitutionalistischen Argumentationslinie, die mit Weltstaatsambitionen nicht unvereinbar wäre, erklärt Kant die ungeteilte Souveränität der Nationalstaaten, die sich vor allem im klassischen Interventionsverbot niederschlägt,52 zur empirischen Bedingung der Volkssouveränität. Staatliche Souveränität sei nämlich die reale Voraussetzung dafür, daß sich der normative Grund aller Staatssouveränität, die Volkssouveränität, sei es revolutionär, sei es evolutionär gegen (damals monarchisch) usurpierte Staatsmacht durchsetzen kann. Anders als bei Hobbes, der die effektive Existenz eines staatlichen Gewaltmonopols mit innergesellschaftlichem Rechtsfrieden identifiziert, wird die Staatssouveränität bei Kant nicht als Endzweck gedacht,53 sondern als das (allerdings notwendige) Mittel der Verwirklichung der Volkssouveränität. Denn diese sei nur in einem souveränen Staat (im Unterschied etwa zu einer Kolonie oder einem Weltstaat) in der Lage, diesem eine freiheitsrechtliche, d. h. republikanische Verfassung zu geben.54 Aufgrund dieses demokratietheoretisch begründeten Staatssouveränitätsprinzips und des ihm korrespondierenden Interventionsverbotes kann es in der Kantischen Völkerrechtslehre, gerade weil sie nationalstaatliche Grenzen als condi50 Vgl. Matthias Lutz-Bachmann, Kants Friedensidee und das rechtsphilosophische Konzept einer Weltrepublik, in: ders./Bohman (1996), S. 25–44, 37. 51 Zum Begriff der Erlaubnisgesetze vgl. z. B. Reinhard Brandt, Das Problem der Erlaubnisgesetze im Spätwerk Kants, in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant. Zum Ewigen Frieden (Reihe: Klassiker Auslegen), Berlin 1995, S. 69–86; ders.: Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre, in: ders. (Hg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin 1982, S. 233–285. 52 Vgl. Otto Kimmenich, Einführung in das Völkerrecht, 6. Aufl., Tübingen/Basel 1997, S. 295 ff. 53 Insofern besäße auch Kants principium exeundum e statu naurali einen Doppelcharakter: Während einerseits das Gebot, den Naturzustand zugunsten des Zustandes einer äußeren distributiven Gerechtigkeit zu verlassen, eine kategorische Rechtspflicht darstellt, so ist sie dies andererseits doch nur, weil auf anderem Wege das republikanische Prinzip der Selbstgesetzgebung des Volkes nicht erreichbar wäre. 54 Ingeborg Maus hat die These formuliert, daß „die Souveränität des Nationalstaates als Mittel zum Zweck der Volkssouveränität“ zu denken sei; vgl. Ingeborg Maus, Die Bedeutung nationalstaatlicher Grenzen. Oder: Die Transformation des Territorialstaates, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3 (2001), S. 313–323, 321.

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tiones sine qua non der Demokratie wertet, nur einen einzigen Fall geben, in dem es dem bedrohten Staat erlaubt wäre, das kategorische Gewaltverbot ausnahmsweise zu übertreten: Es muß ein faktischer militärischer Angriff auf das eigene Staatsgebiet erfolgt sein. Kategorisch verboten bleibt aber jede präventive oder gar präemptive Kriegsführung, die sich beispielsweise darauf beriefe, die innere Verfassung des inkriminierten Staates als solche sei als Bedrohung des internationalen Friedens bzw. der Sicherheit des eigenen Staates anzusehen und dürfe deswegen umgestürzt werden.55 Aus Kants Perspektive würde dies aber nichts anderes bedeuten, als die Existenz des angegriffenen Staates „als einer moralischen Person aufzuheben [der als solcher auch eine Würde zukäme] und aus der letzteren eine Sache machen“.56 Das einzige Handlungssubjekt, das nach Vernunftgründen befugt wäre, die Verfassung eines Staates zu ändern, „wenn sie mit der Idee des ursprünglichen Vertrags nicht wohl vereinbar ist“,57 könne nur das betreffende Staatsvolk selber sein. Ein Volk dürfe daher „von anderen Mächten nicht gehindert werden [. . .], sich eine bürgerliche Verfassung zu geben, wie sie ihm selbst gut zu sein dünkt“.58 Andernfalls nämlich gäbe es ein Völkerrecht erster und zweiter Klasse, was schon dem Kantischen Begriff des Rechts (im Sinne eines allge55 Laut dem fünften Präliminarartikel zum ewigen Frieden darf sich kein Staat „in die innere Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen“. Zwar erwägt Kant, ob nicht ein Interventionen ausnahmsweise rechtfertigendes Erlaubnisgesetz für den Fall denkbar wäre, daß ein Staatsvolk durch Bürgerkrieg gespalten wäre. „Dahin würde zwar nicht zu ziehen sein, wenn ein Staat sich durch innere Veruneinigung in zwei Theile spaltete, deren jeder für sich einen besondern Staat vorstellt, der auf das Ganze Anspruch macht; wo einem derselben Beistand zu leisten einem äußern Staat nicht für Einmischung in die Verfassung des andern (denn es ist alsdann Anarchie) angerechnet werden könnte. So lange aber dieser innere Streit noch nicht entschieden ist, würde diese Einmischung äußerer Mächte Verletzung der Rechte eines nur mit seiner innern Krankheit ringenden, von keinem andern abhängigen Volks, selbst also ein gegebenes Skandal sein und die Autonomie aller Staaten unsicher machen“; vgl. Kant, ZeF, in: AA, Bd. VIII, S. 346. Für Kant besteht ein untrennbarer Zusammenhang zwischen Volkssouveränität, staatsrechtlichem Positivismus (d. h. der Abweisung eines Widerstandsrechtes) und völkerrechtlichem Interventionsverbot: „Auch wenn Kant [. . .] keine naturrechtliche Legitimierung der Revolution kennt, verteidigt er doch das revolutionäre Frankreich gegen die intervenierenden Mächte (gestützt auf das ältere Interventionsverbot des Völkerrechts und auf ein demokratisches Selbstbestimmungsrecht des Volkes, das er mit jenem kombiniert). Sein Rechtspositivismus, der ihn an der Legitimierung revolutionärer Akte hindert, bekommt eine progressive Funktion, wenn er aus ihm die Gehorsamkeitspflicht der Franzosen gegenüber der neuen, republikanischen Ordnung in Frankreich ableitet und die Bemühungen um Restauration des Ancien Régime verurteilt“; vgl. Iring Fetscher, Immanuel Kant und die Französische Revolution, in: Zwi Batscha (Hg.), Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1976, S. 269–290, S. 276. 56 Kant, ZeF, in: AA, Bd. VIII, S. 344. 57 Kant, RL, § 52, in: AA, Bd. VI, S. 340. 58 Kant, Der Streit der Fakultäten in drei Anschnitten (im folgenden zitiert als „SF“), in: AA, Bd. VII, S. 358 (Herv. v. Verf., U. T.).

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meingültigen, auf das Gleichheitsprinzip gegründetes Normensystems) widerspräche.59 Gerade eine republikanische, d. h. eine demokratisch-rechtsstaatliche Verfassung könne und dürfe demnach unmöglich von fortgeschrittenen Staaten oktroiert werden, und dies aus zwei Gründen: Erstens könne keine äußere Macht darüber urteilen, welche konkrete verfassungsrechtliche Organisationsform dem jeweiligen Staat angemessen wäre, um die Idee der reinen Republik in der Erscheinungswelt zu realisieren. Denn die Idee der Republik, die von allen empirischen Bedingungen abstrahiert, besagt als solche noch nichts über ihre konkreten Realisierungsbedingungen und entsprechenden Realisierungsmöglichkeiten. Denn diese variieren je nach den kontigenten situativen Rahmenbedingungen des Politischen wie z. B. der demographischen Größe des Volkes, der Sozialstruktur oder der kulturellen Tradition.60 So läßt sich z. B. aus Vernunftgründen keine Entscheidung darüber herleiten, ob die repräsentative oder die plebiszitäre Gesetzgebungsmodalität oder aber eine Kombination aus beiden für ein bestimmtes Volk geeignet wären. Ebensowenig läßt sich die Frage nach der je geeigneten Regierungsform (mit Ausnahme des Verbots der demokratischen)61 pauschal beantworten. Denn hierzu ist nach Kant allemal Erfahrung vonnöten.62 Zweitens widerpreche jeder externe Verfassungsoktroi dem legitimatorischen Prinzip des pouvoir constituant des Volkes. Eine advokatorische Ausübung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes würde dem demokratischen Legitimationsprinzip par excellence widersprechen.63 Ohne Zweifel kommt Hegel das Verdienst zu, die bis heute plausibelsten Einwände gegen kontraktualistische Völkerrechtstheorien, die zum Teil auch Kants ambitionierte Theorie treffen (oder doch treffen sollten), vorgebracht zu haben. Insbesondere der Staatsrechtsteil der Grundlinien unterzieht Kants vermeintlichen ,völkerrechtlichen Kosmopolitismus‘ einer prinzipiellen Kritik. So wird im Kapitel über das äußere Staatsrecht die Pluralität vollsouveräner Nationalstaa59

„Völkerrechtssubjekte sind grundsätzlich als ,geborene‘ Völkerrechtssubjekte auch heute noch die Staaten. Das umfaßt alle Staaten unabhängig von ihrer inneren gesellschaftlichen, politischen und verfassungsrechtlichen Struktur und Ordnung. Es gibt keine ,legitimen‘ Völkerrechtssubjekte. Die ,republikanische‘ Verfassung im Sinne Kants oder die demokratische Verfassung eines Staates ist nicht Voraussetzung für seine Qualität als Völkerrechtssubjekt. Sie kann es nicht sein, weil sonst eine universelle Völkerrechtsordnung nicht möglich ist. Eine Differenzierung nach einer irgendwie gearteten ,Legitimität‘ birgt die Gefahr in sich, zu einem rechtlosen Zustand zwischen den Kategorien von Staaten zu führen, der auch kein provisorisches Recht im Sinne Kants mehr kennen würde“; vgl. Heinhard Steiger, Frieden durch Institution. Frieden und Völkerbund bei Kant und danach, in: Lutz-Bachmann/Bohman (1996), S. 140–169, 166 f. 60 Vgl. dazu Ulrich Thiele, Repräsentation und Autonomieprinzip. Kants Demokratiekritik und ihre Hintergründe, Berlin 2003, S. 89 ff. 61 Vgl. ebd., S. 64 ff. 62 Vgl. ebd., S. 92. 63 Vgl. ebd., S. 107 ff.

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ten und ihrer je eigentümlichen Verfassungen nicht nur als ein normativ Letztes dargestellt. Vielmehr wird das zwischenstaatliche Verhältnis, gerade weil es auf wechselseitiger Anerkennung beruht, zugleich als unüberwindbare ,existenzielle‘ Negativitätsbeziehung gedacht, an der jeder völkerrechtliche Befriedungsversuch über kurz oder lang scheitern müsse. Die Souveränität des einen Staates werde nämlich immer schon durch die bloße Existenz des anderen bedroht, so daß das äußere Verhältnis der politischen Souveräne ein latenter Naturzustand bleibe, der jederzeit in den manifesten Kriegszustand umzuschlagen drohe. In dieser skeptischen Betrachtungsart muß das Kantische Ideal eines dauerhaften zwischenstaatlichen Friedenszustandes sowohl in der ,privatrechtlichen‘ Form eines Völkerbundes ohne gemeinsames Oberhaupt als auch in der öffentlich-rechtlichen Form eines konstitutionellen „Völkerstaatsrechts“64 allein schon deswegen als realitätsfremde Illusion erscheinen, weil die erste Variante kein geltendes, sondern nur gelten-sollendes Recht schaffen könne, während die zweite mit dem Prinzip nationalstaatlicher Souveränität gänzlich unvereinbar sei. „Der Grundsatz des Völkerrechts, als des allgemeinen, an und für sich zwischen den Staaten gelten sollenden Rechts [. . .] ist, daß die Traktate, als auf welchen die Verbindlichkeit der Staaten gegeneinander beruhen, gehalten werden sollen. Weil aber deren Verhältnis ihre Souveränität zum Prinzip hat, so sind sie insofern im Naturzustande gegeneinander, und ihre Rechte haben nicht in einem allgemeinen zur Macht über sie konstituierten, sondern in ihrem besonderen Willen ihre Wirklichkeit. Jene allgemeine Bestimmung bleibt daher beim Sollen, und der Zustand wird daher eine Abwechslung von dem den Traktaten gemäßen Verhältnisse und von der Aufhebung desselben. Es gibt keinen Prätor, höchstens Schiedsrichter und Vermittler zwischen den Staaten, und auch diese nur zufälligerweise, d. i. nach besonderen Willen. Die Kantische Vorstellung eines ewigen Friedens durch einen Staatenbund, welcher jeden Streit schlichtete und als eine von jedem einzelnen Staate anerkannte Macht jede Mißhelligkeit beilegte und damit die Entscheidung durch Krieg unmöglich machte, setzte die Einstimmung der Staaten voraus, welche [. . .] überhaupt immer auf besonderen souveränen Willen beruhte und dadurch mit Zufälligkeit behaftet bliebe.“65

Das Projekt eines friedenswahrenden (bzw. friedensstiftenden) Staatenbundes könne daher im Unterschied zum inneren Staatsrecht, das den Naturzustand zwischen den Individuen effektiv beseitigt, den ,Naturzustand‘ zwischen Staa64 Vgl. Kant, RL, § 43; zum Kantischen Begriff des „Völkerstaatsrechts“ vgl. Ulrich Thiele, Terminologische Neuerungen in Kants Völkerrechtstheorie und ihre Konsequenzen, in: Ulrich Kronauer/Jörn Garber (Hg.), Recht und Sprache in der deutschen Aufklärung. Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, Bd. 14, Tübingen 2001, S. 175–192; ders. (1998), S. 255 ff. 65 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 333 (im folgenden zitiert als „Grundlinien“), in: Werke, Bd. 7, S. 499 f. (Herv. i. Orig.); vgl. Jacques d’Hondt, Die Einschätzung des revolutionären Krieges durch Hegel, in: Riedel (1975), S. 415–427, bes. 418.

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ten nur scheinbar überwinden.66 Denn auch wenn ein solcher bi- oder multilateraler Staatenbund zustandekommen würde, sähe er sich von vornherein in eine paradoxe Lage versetzt: Der ephemere Charakter des erforderlichen Beitrittsvertrages resultiere aus dem Anspruch der Einzelstaaten darauf, auch als Glieder eines Staatenbundes über unveräußerliche und unteilbare Hoheitsrechte zu verfügen, weswegen sich – so das Fazit der Grundlinien – im Falle der (subjektiven) Vertragsverletzung der Krieg und mithin der Wiedereintritt in den Naturzustand als ultima ratio des Vertragsvölkerrechtes erweise.67 Derartige Verträge können nach Hegel deswegen allenfalls als defektes, „gelten sollende[s] 66 Weil die völkerrechtliche Beziehung der Staaten „ihre Souveränität zum Prinzip hat, so sind sie insofern im Naturzustande gegeneinander, und ihre Rechte haben nicht in einem allgemeinen zur Macht über sie konstituierten, sondern in ihrem besonderen Willen ihre Wirklichkeit. Jene allgemeine Bestimmung bleibt daher beim Sollen“; vgl. Hegel, Grundlinien, § 333, in: Werke, Bd. 7, S. 499 f. 67 Hegel, Grundlinien, § 334, in: Werke, Bd. 7, S. 500; vgl. dazu Henning Ottmann, Die Weltgeschichte (§§ 341–360), in: Ludwig Siep (Hg.), G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Reihe: Klassiker Auslegen), Berlin 1997, S. 267–286, 268 ff. Dieser Hegelsche Einwand gegen den völkerrechtlichen ,Kontraktualismus‘ greift diejenige souveränitätstheoretische Kritik der Gesellschaftsvertragstheorien auf, die er unter dem Blickwinkel des „inneren Staatsrechts“ formuliert hatte. Ein typisches Beispiel findet sich am Anfang des Abschnitts „Der Staat“: „Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt wird [. . .], so ist das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus, daß es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staats zu sein“; vgl. Grundlinien, § 258, in: Werke, Bd. 7, S. 399. Unstreitig gebühre zwar Rousseau (und ihm teilweise folgend Kant) das Verdienst, zuerst das Prinzip des Staatsrechts im souveränen Willen gefunden zu haben; freilich habe er die politische Souveränität noch ausgehend von den einzelnen Willen gedacht, weswegen der im Staat realisierte allgemeine Wille nur immer als gemeinschaftlicher gefaßt werden könne, der sich ,mechanisch‘ aus einzelnen (bzw. vereinzelten) Willen zusammensetze und sich ebensogut wieder in seine Elemente auflösen könne. „Allein indem er den Willen nur in bestimmter Form des einzelnen Willens [. . .] und den allgemeinen Willen [. . .] nur als das Gemeinschaftliche, das aus diesem einzelnen Willen als bewußtem hervorgehe, faßte, so wird die Vereinigung der Einzelnen im Staat zu einem Vertrag, der somit ihre Willkür, Meinung und beliebige, ausdrückliche Einwilligung zur Grundlage hat“; vgl. Grundlinien, § 258, in: Werke Bd. 7, S. 400. Gegen Rousseau will Hegel demonstrieren, daß ein Gesellschaftsvertrag (als reelle oder ideelle) Legitimationsquelle von öffentlichem Recht lediglich imperfektes Recht zustandebringen kann. Denn die objektive Geltung jener Rechtsordnung bleibe von der subjektiven Willkür der Herrschaftsunterworfenen abhängig. Wenn aber der Vertrag als mögliche Quelle sowohl des inneren wie des äußeren Staatsrechts ausscheiden soll, so hätte Hegel konsequenterweise auf die Gewalt als den klassischen Modus der unilateralen Stiftung öffentlichen Rechts verweisen können. Zwar finden sich gelegentlich derartige Aussagen. Doch dies scheint nicht Hegels eigentliches Argument gewesen zu sein. Die Frage nach dem Realursprung einer Verfassung soll vielmehr einerseits als rechtsphilosophisch irrelevant und andererseits als legitimationsuntergrabend ausgegrenzt werden. Die Frage als solche sei nämlich geeignet, den Patriotismus der Bürger zu beeinträchtigen: „Die Verfasssung ist die Grundlage, der Boden, auf dem alles geschieht. Die Verfassung muß daher als eine ewige Grundlage angesehen werden, nicht als ein Gemachtes“; vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft, Heidelberg 1917/18 mit Nachträgen aus der Vorlesung 1818/19. Nachgeschrieben von P. Wannenmann hg. v.

1.2. Hegels ,realistische‘ Einwände gegen Kants Völkerrechtslehre

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Recht“68 gewertet werden, weil ihre faktische Geltung von der Gewohnheit der Regierenden bzw. den „Sitten der Nationen“ abhängt.69 Solange keine den Vertragspartnern äußere und ihnen übergeordnete Zwangsgewalt existiere, die „gemeinschaftlich verabredetes Völkerrecht“70 gegen vertragsbrüchige Mitglieder nicht nur beschwören, sondern auch effektiv durchsetzen könnte, müsse es „in dieser Beziehung immer beim Sollen bleiben. Das Verhältnis von Staaten ist das von Selbständigen, die zwischen sich stipulieren, aber zugleich über diesen Stipulationen stehen.“71 Das vermeintliche Paradox, das eine kontraktualistische Theorie des Völkerrechts unmöglich auflösen könne, lasse sich auch folgendermaßen formulieren: Entweder die Staaten haben wie die „Privatpersonen [. . .] über sich ein Gericht, das das, was an sich Recht ist, realisiert“.72 Dann freilich könnten – so Hegels Deutung – die besonderen Staaten nicht mehr als Souveräne gelten, sondern lediglich als Untertanen, die in Hinblick auf distribuierende Urteilssprüche eines höchsten Gerichtes allemal auf ihre Autonomie verzichtet hätten. Oder sie blieben Souveräne, dann könne es ,über‘ ihnen ebensowenig eine superiore distributive Gerechtigkeit geben wie sich die Privatpersonen des Naturzustandes das Recht, in eigener Sache zu urteilen, für den Konfliktfall vorbehielten. Zwischen souveränen Staaten kann es, so Hegels Fazit, grundsätzlich kein öffentliches Recht, sondern allenfalls ein entferntes Analogon des (natürlichen) Privatrechts geben. Würde hingegen ein dem öffentlichen Recht ähnlicher Verband von Staaten konsequent angestrebt, müßte der entsprechende, die Einzelstaaten berechtigende oder verpflichtende ,Verfassungsvertrag‘ einen unauflöslichen Kündigungsschutz enthalten. Das jedoch würde nichts anderes bedeuten, als daß ein neuer Nationalstaat entstünde, auf den die Souveränitätsrechte der Glied-

C. Becker u. a., Hamburg 1983 (im folgenden zitiert als „Rechtsphilosophie Wannenmann“), § 134, S. 190. 68 Hegel, Grundlinien, § 333, in: Werke, Bd. 7, S. 499. 69 Ebd, § 339, in: Werke, Bd. 7, S. 502. 70 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht in der Praxis (im folgenden zitiert als „TP“), in: AA, Bd. VIII, S. 311. 71 Hegel, Grundlinien, § 330, Zus., in: Werke, Bd. 7, S. 498. Bereits Fichte sah die Crux des Kantischen Friedensbundes darin, daß die beteiligten Staaten letztlich Richter in eigener Sache bleiben, wenn den Schiedssprüchen der Föderation keine entsprechendes Zwangsmaßnahmen folgen können. Ein Friedensbund der Staaten, der distributive Gerechtigkeit ausübte, ohne doch über die erforderliche exekutive Gewalt zu verfügen, sei ein Widerspruch in sich: „Der Bund muß seine Rechtsurteile auch zur Exekution bringen können; dies geschieht durch einen Vernichtungskrieg gegen den verfallenen Staat. Der Bund muß sonach bewaffnet sein, und im Falle des Krieges muß eine Exekutionsarmee aus den Beiträgen der verbündeten Staaten gesammelt werden“; vgl. Johann Gottlieb Fichte, Das System der Rechtslehre (1812), in: ders., Ausgewählte Politische Schriften, hg. v. Zwi Batscha u. Jörn Garber, Frankfurt am Main 1977, S. 217–355, 349. 72 Hegel, Grundlinien, § 330, Zus., in: Werke, Bd. 7, S. 498.

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1. Einleitung

staaten restlos übergingen. Damit wäre weder öffentliches „Völkerstaatsrecht“73 und ein entsprechender Völkerstaat noch ein öffentliches Weltbürgerrecht, sondern lediglich ein neuer Nationalstaat entstanden, der sich gegenüber den nicht beigetretenen Staaten nach wie vor im Naturzustand befände.74 Das Kantische Projekt eines „ewigen Friedens durch einen Staatenbund“75 scheint demnach von Hegel ganz und gar verworfen zu werden. Als einzig denkbare Alternative zum nationalstaatlichen Souveränitätspluralismus kommt allein die Errichtung eines Weltstaates in Betracht, der alle (?) Souveränitätsrechte der vormaligen Nationalstaaten auf sich vereinigte – eine Perspektive, die aber schon von Kant teils aus pragmatischen, teils aus prinzipiellen Gründen verworfen wurde76 und die für Hegel gänzlich indiskutabel war, weil dann mit dem von ihm bevorzugten Begriff des äußeres Staatsrechts auch der überkommene Terminus des Völkerrechts gegenstandslos würde. Die Prima-Facie-Plausibilität der Hegelschen Gesamtargumentation beruht im wesentlichen auf vier Teilargumenten: Erstens wird gegen kontraktualistische Theorien der Legitimität des öffentlichen Rechts im allgemeinen der Einwand erhoben, öffentliches Recht könne 73

Kant, RL, § 43, in: AA, Bd. VI, S. 311. Daß Staaten zwar die Ausübung bestimmter, traditioneller Hoheitsrechte delegieren können (hier das ius ad bellum), ohne aber ihren Souveränitätsanspruch insgesamt zu entäußern – schließlich bedeutet Souveränität im Kantisch-Rousseauschen Sprachgebrauch nichts anderes als das Recht der Gesetzgebung –, wird im Staatsrecht der Grundlinien nur erwähnt, um sogleich verworfen zu werden; vgl. Hegel, Grundlinien, § 333, in: Werke, Bd. 7, S. 499 f. Partielle Hoheitsrechte übertragenden „Traktaten“ wird die Möglichkeit, zwingendes öffentliches Recht zu erzeugen, bestritten. Zwischen den begrifflichen Extremen der absoluten nationalstaatlichen Souveränität einerseits und der ,politischen Nullität‘ andererseits scheint Hegel wenigstens im Staatsrechtsteil der Grundlinien keine Vermittlungsglieder gelten zu lassen. Entweder, so das Fazit, es gibt höherstufiges öffentliches Recht, dann sind die beteiligten Staaten keine Souveräne mehr, sondern Untertanen einer Weltstaatsregierung; oder die Nationalstaaten bleiben als Souveräne intakt, dann kann es kein höherstufiges öffentliches Völkerrecht geben. Insofern Hegel, der sehr deutlich den Begriff der Souveränität unter dem Primat der Außenpolitik konzipiert, lediglich diese beiden Extreme erörtert, überrascht es nicht, daß er darauf verzichtet, beispielsweise die Verfassung der Vereinigten Staaten als ein denkbares Modell für einen Friedensbund zu diskutieren, der die Souveränität der Bundesglieder weder vollständig absorbierte noch gänzlich unbeeinträchtigt ließe. Diese Art föderative Verfassung, gemäß der sich zwischen- oder überstaatliches Gemeinschaftsrecht (einschließlich begrenzten Delegationen von binnenstaatlichen Souveränitätsrechten) aus demokratischen bzw. verfassunggebenden Optionen der nationalen Souveräne legitimiert, die im Verfassungsdokument bestimmte Hoheitsrechte für sich zurückbehalten und bestimmte Entscheidungsverfahren für Bund-Länder-Konflikte über die Auslegung der Verfassung vorsehen, wird von Hegels antinomischer Begrifflichkeit offensichtlich nicht erfaßt. 75 Hegel, Grundlinien, § 333, in: Werke, Bd. 7, S. 500. 76 Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, in: AA, Bd. VI, S. 34, Anm. sowie ebd., S. 123, Anm.; ders., ZeF, Erster Zusatz, Von der Garantie des ewigen Friedens, in: AA, Bd. VIII, S. 367. 74

1.2. Hegels ,realistische‘ Einwände gegen Kants Völkerrechtslehre

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grundsätzlich nicht auf Verträgen basieren. Alles Vertragsrecht sei nämlich allenfalls gelten-sollendes, nicht aber geltendes Recht. Dieser Einwand kann deswegen kaum überzeugen, weil auch das öffentliche Recht im inneren Verhältnis (z. B. das Strafrecht) in Hinblick auf den geforderten effektiven Rechtsgehorsam der Untertanen sowohl geltendes als auch gelten-sollendes Recht ist. Andernfalls wäre die Verknüpfung von rechtlichen Handlungsvorschriften mit Sanktionsdrohungen überflüssig.77 Zweitens unterschlägt Hegel den eigentlichen Clou der demokratischen Gewaltenteilungslehre Kants, nach der ein und dieselbe moralische Person sowohl Souverän als auch Untertan sein kann, je nach dem ob sie Subjekt der Gesetzgebung oder Objekt der Gesetzesanwendung ist. Überträgt man Kants staatsrechtliche Überlegung auf den Bereich des Völkerrechts, dann erschließt sich auch hier die demokratische Quintessenz dieses Kontraktualismus: Aus Kantischer Perspektive lassen sich nämlich die Subjekte völkerrechtlicher Verträge sowohl als imperantes als auch als subdites denken, wenn man nur die temporale Dimension der Gewaltenteilung beachtet.78 Die Staatsvölker (bzw. ihre legitimen Repräsentanten) könnten zum Zeitpunkt t1 in der Rolle völkerrechtlicher Gesetzgeber souveräne Funktionen ausüben, während sie zum Zeitpunkt t2 in der Rolle der durch diese Verträge gebundenen ,ausführenden‘ öffentlichen Gewalt(en) Untertanen wären. Dies allerdings nur bis zu dem möglichen Zeitpunkt t3, an dem sie beschließen könnten, die bis dahin geltenden Verträge zu revidieren. Entscheidend ist, daß die vertragliche Übertragung bestimmter nationaler Souveränitätsrechte auf überstaatliche Entscheidungsgremien (wie z. B. die Institutionalisierung eines internationalen Strafgerichtshofes), die zugleich eine partielle Untertänigkeit der Staaten bzw. Regierungen erzeugt, dennoch souveränen, d. h. gesetzgeberischen Ursprungs sein kann. Hegel dagegen substanzialisiert die Kantischen Funktionen der Gesetzgebung auf der einen Seite und der Gesetzesanwendung auf der anderen dahingehend, daß ein und derselben moralischen Person das Prädikat ,souverän‘ nur entweder ganz und gar zugesprochen oder abgesprochen werden kann.

77 Vor allem Hans Kelsen hat klargestellt, daß alles Recht insofern normativ ist, als es ein gesolltes Handeln festschreibt, was völlig sinnlos wäre, wenn die soziale Realität bereits vollkommen normadäquat beschaffen wäre. So stehe das Faktum, daß z. B. Strafrechtsnormen regelmäßig verletzt werden, keineswegs im Widerspruch zur deontischen Geltung der entsprechenden Rechtsnormen. Auch Kelsen gibt jedoch zu bedenken, daß Rechtsnormen eine „Spannung zwischen Sollen und Sein bezeichnen“, die ihrerseits eine „obere und untere Grenze“ habe; vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Neudruck der 1. Aufl., Aalen 1985, S. 69. 78 Zur temporalen Dimension des klassisch-liberalen Gewaltenteilungsschemas vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992, S. 300, Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, Frankfurt a. M. 1992, S. 294.

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1. Einleitung

Drittens zehrt die Plausibilität der völkerrechtlichen Kontraktualismuskritik von einer weiteren, die vorige begründenden Annahme: Die (äußere) Souveränität als solche, gilt nicht nur als unteilbar, sondern auch als unübertragbar.79 Deswegen könne auch die Ausübung von speziellen Hoheitsrechten nicht delegiert werden, ohne daß die Souveränität als ganze auf den neuen Träger überginge.80 Viertens schließlich verwendet Hegel nicht wie Kant einen auf die Gesetzgebung beschränkten Souveränitätsbegriff, sondern einen, der exekutive Kompetenzen teils einbezieht, teils ihnen den Vorrang vor den anderen Staatsfunktionen einschließlich der Gesetzgebung zuerkennt. Im inneren Staatsrecht erfährt so die monarchische Staats- bzw. Regierungsform eine erhebliche Aufwertung im Vergleich mit ihren republikanischen Alternativen. Im Kontext des äußeren Staatsrechts entspricht diesem erweiterten Souveränitätsbegriff die Akzentuierung des Ausnahmezustandes als des außenpolitischen Normalzustandes: Der außenpolitische Souveränitätsbegriff wird nämlich unter dem Gesichtspunkt des außenpolitischen Notstandes (und des korrespondierenden politischen Handlungsdrucks) konstruiert, der dann auch auf die innere Staatsorganisation derart zurückwirken soll, daß der Aspekt der rechtsstaatlichen Trennung der Staatsfunktionen zugunsten ihrer ,lebendigen Einheit‘81 zurücktreten müsse.82 Wie ersichtlich, soll Hegels souveränitätstheoretischer Einwand nicht allein das gedankliche Extrem des öffentlich-rechtlich verfaßten universellen Völkerstaats, d. h. des Weltstaates, sondern das Völkervertragsrecht insgesamt treffen, soweit dieses einerseits ein den Nationalstaaten übergeordnetes öffentliches 79 Dies gilt wohlgemerkt ohne Abstriche nur für das äußere Staatsrecht. In Hinblick auf die organische Gewaltenteilung im Inneren bezieht Hegel sehr wohl Montesquieus Lehre von der Souveränitätsteilung ein; vgl. Ulrich Thiele, Gewaltenteilung bei Sieyes und Hegel, in: Hegel-Studien 37 (2002), S. 139 ff. 80 So auch z. B. Labands Lehre von der Unteilbarkeit der Souveränität der ,Staatspersönlichkeit‘: „Eine Person kann einen großen und weitreichenden Kreis von Lebenszwecken nach ihrem freien und selbständigen Willen beherrschen, sie ist dennoch nicht souverän, wenn sie an irgendeinem Punkte einem fremden Willen unterworfen der Herrschaft einer anderen Persönlichkeit unterstellt, ihren Befehlen von Rechts wegen Gehorsam schuldig ist. Es gibt keine halbe, geteilte, verminderte, abhängige, relative Souveränität, sondern nur Souveränität oder Nichtsouveränität; vgl. Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl., Bd. 1, Tübingen 1911, S. 73. 81 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 272, in: Werke, Bd. 7, S. 432 ff. 82 Zwar wäre es verfehlt, Hegel zum Vordenker der Carl Schmittschen Theorie des Ausnahmezustandes zu erklären (vgl. dazu Ulrich Thiele, Advokative Volkssouveränität. Carl Schmitts Konstruktion einer ,demokratische‘ Diktaturtheorie im Kontext der Interpretation politischer Theorien der Aufklärung, Berlin 2003, S. 395 ff.), doch immerhin zeichnet sich Hegels Staatsphilosophie dadurch aus, daß äußerer Kriegszustand und innere Entformalisierungstendenzen der öffentlichen Gewalt, die die rechtsstaatlichen Freiheitsgarantien beeinträchtigen müssen, als zwei Seiten derselben Medaille diskutiert werden. Insofern nämlich die „politische Verfassung [. . .] ausschließendes Eins [sei], welches sich zu anderen verhält, seine Unterscheidung also nach außen kehrt und nach dieser Bestimmung seine bestehenden Unterschiede innerhalb seiner selbst in ihrer Idealität setzt“; vgl. Hegel, Grundlinien, § 271, in: Werke, Bd. 7, S. 431.

1.2. Hegels ,realistische‘ Einwände gegen Kants Völkerrechtslehre

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Völkerrecht postuliert, ohne doch andererseits den sich verbündenden Staaten einen prinzipiellen Souveränitätsverzicht abzuverlangen. Entweder vollsouveräner Weltstaat oder Staatenpluriversum ohne höherstufiges Völkerrecht – so lautet für Hegel die strategische Alternative, der sich keine konsequente Völkerrechtspolitik entziehen kann. Die Kantische Vision eines Vertragsvölkerrechts, das einen egalitären Friedensbund begründete, der den äußeren Naturzustand beenden könnte, ohne doch einen übergeordneten Souverän einzusetzen, sei schon wegen des unveräußerlichen und unteilbaren Souveränitätsanspruchs der Nationalstaaten zum Scheitern verurteilt. Dieses substanzielle, vor allem im außenpolitischen Verhältnis zu bewahrende Souveränitätsrecht schließe jegliche Transformation des Naturzustandes zwischen den Staaten in einen dem öffentlichen Recht ähnlichen Rechtszustand von vornherein aus, ja, jener Qualitätswandel des äußeren Staatsrechts zum öffentlichen Völkerstaatsrecht sei unter kontraktualistischen Modellvoraussetzungen nicht einmal denkbar. Zwar sprach sich auch Kant schließlich gegen ein striktes Völkerstaatsrecht und eine entsprechende Unterordnung der Staaten unter einen gemeinsamen Souverän aus, doch seine Argumentation stellte weder die logische noch die praktische Möglichkeit einer partiellen Übertragung von Souveränitätsrechten auf überstaatliche Organisationen in Abrede. Vielmehr wäre die auf solche Weise bewerkstelligte Entäußerung des ius ad bellum „nach der Vernunft“ der einzig denkbare Weg, der aus dem Naturzustand herausführte. Kants impliziter Einwand gegen diese Option lautet jedoch: Was nach der reinen Rechtsvernunft notwendig ist, muß in dem speziellen Fall des Völkerrechts seinen praktischen Zweck verfehlen. Denn der universelle Völkerstaat, der am Ende des von der Vernunft angeratenen Institutionalisierungsprozesses des Völkerrechts stünde, wäre allein schon aufgrund seiner Größe nicht in der Lage, den Rechtsfrieden zu gewährleisten. Außerdem wäre aus organisatorischen Gründen eine demokratische Form der Entscheidungsfindung in einem Universalstaat ebenso ausgeschlossen,83 wie eine rechtsstaatliche Kontrolle seiner Zwangsorgane. Jene überkomplexe Institution des Weltstaates würde sich vielmehr über kurz oder lang in eine „Universalmonarchie“ verwandeln84 und also das letzte Legitimationsprinzip jeder staatlichen Gewalt, die Volks- bzw. Völkersouveränität, verletzen. Hegels Einwände beziehen sich dagegen auf die Prämisse des Kantischen Schlusses, nach der eine partielle Übertragung von äußeren Souveränitätsrechten auf eine überstaatliche Instanz logisch und praktisch möglich ist. Das Staatsrecht der Grundlinien stellt beides in Abrede. Nirgends findet sich auch nur der geringste Hinweis darauf, daß Hegel geneigt wäre, seine ,daseins-

83 84

Vgl. Maus (2002), S. 240 f. Kant, ZeF, in: AA, Bd. VIII, S. 367.

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1. Einleitung

logische‘ Prämisse85 von der Pluralität separater vollsouveräner Staaten86 und ihres inhomogenen, nur für das je eigene Territorium geltenden öffentlichen Rechts zu relativieren.87 Daher werden die Kantischen Überlegungen bezüglich eines kontraktuell erzeugten Völker- und Weltbürgerrechts und einer entsprechenden rechtlichen Normierung des außenpolitischen Souveränitätsgebrauchs der Nationalstaaten im Staatsrechtsteil der Grundlinien ganz und gar verworfen. Vom Völkerrecht erwartet Hegel weder eine (allmähliche) Vereinheitlichung der nationalstaatlichen Verfassungen noch eine rechtliche Befriedung zwischenstaatlicher Beziehungen, die über den Abschluß jederzeit kündbarer Verträge hinausginge. Daher wird nicht damit gerechnet, daß das Völkerrecht einen Ausgang aus dem anarchischen Naturzustand zwischen Staaten erwirken würde.88 Auch bietet der Text keinerlei Hinweise darauf, daß Hegel vom „äußere[n] Staatsrecht“ einen Fortschritt im staatsrechtlichen Dasein der Freiheit erwartet hätte. Seine Annahme von der konstanten Bedrohung der je eigenen Souveränität durch benachbarte Staaten89 läßt vielmehr umgekehrt darauf schließen, daß er geneigt war, den Krieg und nicht den Frieden als Normalzustand anzusehen.90 Dann aber muß auch die im Modell der ,organischen‘ Gewaltenteilung 85 „Dasein ist als bestimmtes Sein wesentlich Sein für Anderes“; vgl. auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Teil (im folgenden zitiert als „Logik I“), in: Werke, Bd. 5, S. 115 ff. 86 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 259, in: Werke, Bd. 7, S. 404 f. 87 Dies trifft uneingeschränkt nur für die Staatsrechtstheorie im engeren Sinne zu, nicht für die Behandlung der Weltgeschichte in den Grundlinien. Freilich wertet auch das Schlußkapitel der Grundlinien kosmopolitische Theorien der Staatlichkeit nur bedingt günstiger; was sich ändert, ist vor allem die Kritikperspektive: Nun werden nicht mehr in erster Linie souveränitätstheoretische, sondern sittlichkeitstheoretische Einwände geltend gemacht. 88 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 333, in: Werke, Bd. 7, S. 499 f. 89 Die Konstanz der Bedrohung des einen Staates durch den anderen resultiert nach Hegel schon daraus, daß diejenigen Anlässe zwischenstaatlicher Rechtsstreitigkeiten, die Kriege auslösen können, „ein an sich Unbestimmbares sind (vgl. ebd., § 334, S. 500). Denn der Staat, insofern er Geist und kein Mechanismus ist, kann „nicht dabei stehenblieben, bloß die Wirklichkeit der Verletzung beachten zu wollen, sondern es kommt die Vorstellung von einer solchen als einer von einem andern Staate drohenden Gefahr mit dem Herauf- und Hinabgehen an größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeiten, Vermutungen der Absichten usf. als Ursache von Zwisten hinzu“; vgl. ebd. § 335, S. 500 f. 90 Die Möglichkeit einer ,objektivierbaren‘ und justiziablen begrifflichen Unterscheidung zwischen Verteidigungs- und Angriffskriegen besteht für Hegel offensichtlich deswegen nicht, weil die ,Feststellung‘ einer reellen Souveränitätsverletzung notwendig die Sache der gekränkten‘ bzw. ,bedrohten‘ Partei sei: „Überdem kann der Staat als Geistiges überhaupt nicht dabei stehenbleiben, bloß die Wirklichkeit der Verletzung beachten zu wollen, sondern es kommt die Vorstellung von einer solchen als einer von einem andern Staate drohenden Gefahr mit dem Herauf- und Hinabgehen an größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeiten, Vermutungen und Absichten usf. als Ursache von Zwisten hinzu“; vgl. ebd., § 335, in: Werke, Bd. 7, S. 500 f.

1.2. Hegels ,realistische‘ Einwände gegen Kants Völkerrechtslehre

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mitgedachte Einschränkung der Freiheitsgrundrechte als verfassungspolitische Notwendigkeit gelten, die dem zwischenstaatlichen Normalzustand entspricht.91 Es scheint so zu sein, daß Hegel die beiden Spielarten der monarchischen Staatsform, die konstitutionelle und die absolute Monarchie, als beiderseits notwendige Verfassungsvarianten ansieht, die je nach dem aktuellen außenpolitischen Kontext die Staatssouveränität gewährleisten können. Während im Frieden die öffentlichen Gewalten gegeneinander ausbalanciert sind und auch die monarchische Regierung nur ein, nicht besonders privilegiertes Organ im Prozeß der Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung ist, verändert sich dies ,ausgewogene‘ Verhältnis schlagartig mit der Entscheidung über das Vorliegen des Ausnahmezustandes und der darauffolgenden Kriegserklärung, die als Kompetenzen beide „ungeteilt und allein“ der fürstlichen Gewalt zukämen,92 während Kant sie teils dem demokratischen Parlament93, teils den betroffenen Bürgern selbst vorbehalten sehen wollte.94 Hegels Kritik des Kantischen Friedensprojekts zielte sicher nicht allein auf den vermeintlichen Selbstwiderspruch des pazifistischen Kontraktualismus, sondern nahm implizit auch die These von der Friedensneigung der Republiken und der Kriegsneigung der Monarchien ins Visier. Dies würde erklären, wieso der Ton bisweilen so scharf wird, daß von einer legitimen Interpretation des Originals nicht mehr die Rede sein kann: So ist weder in der Rechtslehre noch in der Friedensschrift die Rede davon, daß der Friedensbund in der Lage sein könnte, „jeden Streit“ zu schlichten oder jede „Mißhelligkeit“ beizulegen, noch wird gesagt, der Staatenbund werde „von jedem einzelnen Staate anerkannt“, was „jede Entscheidung durch Krieg unmöglich machte“.95 Ganz im Gegensatz zu Hegels Lesart betont Kant, jener Bund zwischen vollsouveränen Staaten könne „den Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung“ nicht endgültig

91 Vgl. ebd., § 324, in: Werke, Bd. 7, S. 491; vgl. auch ebd., § 278, in: Werke, Bd. 7, S. 442 ff. 92 Vgl. ebd., § 329, in: Werke, Bd. 7, S. 497. 93 Kant, RL, § 55, in: AA, Bd. VI, S. 345 f.: Insofern jeder faktische Herrschaftsinhaber die Souveränität, die ursprünglich allein dem Volk zusteht, lediglich stellvertretend ausüben kann, sei er verpflichtet, seine Untertanen „zugleich als Zweck an sich selbst“ zu behandeln. Hinsichtlich der Frage nach Krieg oder Frieden bedeute dies, daß der „Bürger „zu jeder besondern Kriegserklärung vermittelst seiner Repräsentanten seine freie Beistimmung geben“ müsse. 94 Vgl. Kant, ZeF, in: AA, Bd. VIII, S. 351. „Nun hat aber die republikanische Verfassung, außer der Lauterkeit ihres Ursprungs, aus dem reinen Quell des Rechtsbegriffs entsprungen zu sein, noch die Aussicht in die gewünschte Folge, nämlich den ewigen Frieden; wovon der Grund dieser ist. – Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen ,ob Kriegs sein solle, oder nicht‘, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich beschließen müßten [. . .], sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen“. 95 Hegel, Grundlinien, § 333, in: Werke, Bd. 7, S. 500.

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1. Einleitung

zum Versiegen bringen, sondern allenfalls „aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs“.96 Im Kontrast zu diesem Befund lassen sich im Schlußkapitel über die Weltgeschichte nicht nur verstreute Passagen, sondern ganze Argumentationsstränge benennen, die Kants Theorie des Völkerrechts und selbst die des Weltbürgerrechts in ein deutlich günstigeres Licht stellen, als dies im Rahmen des „äußeren Staatsrechts“ geschah. Zwar bestreitet Hegel nach wie vor, daß ein Völkerbund souveräner Staaten dazu taugt, den internationalen Naturzustand zu beenden. Weder das Völkerrecht noch das Weltbürgerrecht könnten nämlich den Status peremtorischen öffentlichen Rechtes erlangen. Folglich sei es undenkbar, daß sich zwischenstaatliche Interessenskonflikte in Analogie zum inneren Staatsrecht beilegen lassen. Dennoch behauptet Hegel die Aktivität eines speziellen normativen Faktors, der einerseits jenseits der Sphäre des öffentlichen, d. h. nach Kant immer auch zwingenden Rechts, die Regeln des zwischenstaatlichen Verkehrs (mit-)bestimmt. Andererseits aber soll diese normierende Kraft außerhalb des Vertragsvölkerrechts agieren. So zieht er im Schlußkapitel der Grundlinien in Erwägung, ob nicht sowohl den Anerkennungskämpfen zwischen Staaten, die ihre Souveränität verteidigen, als auch den Imperialkriegen von ,Reichen‘, die ihre Hegemonie auszudehnen trachten, eine innere Vernünftigkeit eigen ist, die dafür sorgt, daß auf lange Sicht eine über völkerrechtliche Rechtsfragen hinausgehende, ,höhere‘ welthistorische Gerechtigkeit obsiegt. Diese soll sich daran zeigen, daß langfristig nicht nur im Bewußtsein, sondern letztlich auch im verfassungsrechtlichen Dasein der Freiheit ein Fortschritt zu verzeichnen sei. Während Kant den Krieg noch ganz selbstverständlich als „Zerstörer alles Guten“ wertete,97 weswegen eine republikanische Verfassung anzustreben sei, da nur sie den Frieden befördere,98 stellt Hegel die spiegelbildliche Überlegung an. Er fragt, ob nicht die zwischenstaatlichen Kriege langfristig dazu beitragen, daß die Völker ein zunehmendes Bewußtsein ihrer Freiheit gewinnen, wodurch ihre Sitten so verändert werden, daß langfristig auch ein Fortschritt im öffentlichen Recht ihrer Staaten möglich wird. Trifft dies zu, dann kann man das Schlußkapitel der Grundlinien als komplementäres Gegenstück zur Kantischen Argumentation deuten. Nicht die Verträge oder Verfassungen, sondern die Sitten der Völker99 sind nach Hegel die Faktoren, die den grundsätzlichen Mangel des 96

Vgl. Kant, ZeF, Zweiter Definitivartikel, in: AA, Bd. VIII, S. 357. Kant, SF, in: AA, Bd. VII, S. 91. 98 Vgl. Kant, ZeF, Erster Definitivartikel, in: AA, Bd. VIII, S. 349 ff. 99 Vgl. Hegel, Grundlinien, §§ 338 f., in: Werke, Bd. 7, S. 502 f.; Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 163, S. 254; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Naturrecht und Staatswissenschaft nach der Vorlesung von C. G. Homeyer 1818/19 (im folgenden zitiert als „Rechtsphilosophie Homeyer“), § 133, in: Karl-Heinz Ilting (Hg.), 97

1.2. Hegels ,realistische‘ Einwände gegen Kants Völkerrechtslehre

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aufgeklärten Völkerrechts kompensieren können, insofern aus ihrer inneren Dynamik und ihren äußeren Wechselbeziehungen eine ,über‘ den Staaten stehende sittliche Instanz entspränge: der sich in der Weltgeschichte allmählich herausbildende Weltgeist.100 Hegels philosophische Konstruktion der Weltgeschichte basiert auf einer teleologischen Überlegung, die im Kern besagt: An und in den besonderen Sitten der Völker läßt sich auf lange Sicht eine Angleichungsbewegung feststellen, die dazu beiträgt, daß sich auch die nationalstaatlichen Rechts- und Verfassungsprinzipien aufeinander zu bewegen. Der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, durch den die Geschichte der Volksgeister gekennzeichnet ist, ermöglicht schließlich auch ein entsprechendes Fortschreiten im staatsrechtlichen Dasein der Freiheit.101 Unabhängig davon, ob Hegels Weltgeschichte ein Ende hat oder nicht,102 lassen sich in bezug auf die Annahme einer unterschwelligen ,Globalisierung‘ der politischen Kultur mindestens fünf Interpretationsalternativen rechtfertigen, die das Kapitel über die Weltgeschichte zuläßt: (1) Hegel könnte darauf bestehen, daß öffentliches Recht (begriffs-)notwendig an die souveräne Existenz einer Pluralität von Nationalstaaten gebunden bleibt, deren Verfassungen nicht nur gegenwärtig erhebliche Unterschiede aufweisen, sondern auch in aller Zukunft ein Pluriversum bilden, weil die nationalen Verfassungen ihre je eigensinnigen, substanziellen sittlichen Prinzipien besitzen, die als solche statisch wären. Der Naturzustand zwischen antagonistischen, ihre äußeren Rechte behauptenden Staaten könnte sich als ein Letztes erweisen. (2) Es ist ebensogut möglich, daß die optimale institutionelle Form, die am Ende der Geschichte stehen soll, (Kantianisch) als ein jederzeit aufkündbarer, nur für partielle Zwecke (z. B. die gemeinsame Landesverteidigung) zuständiger Staatenbund gedacht ist, ohne daß die Schwelle zum öffentlichen Recht überschritten würde. Diese quasi-privatrechtliche Form der Staatenkooperation bliebe, da sie aus machtpolitischen Kosten-Nutzen-Kalkulationen der Einzel-

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831, Bde. 1–4, Stuttgart 1973, Bd. 1, S. 340 f. 100 Vgl. Hegel, Grundlinien, §§ 339 f., in: Werke, Bd. 7, S. 502 f.; ders., Rechtsphilosophie Wannenmann, § 163, S. 254; siehe auch ders., Rechtsphilosophie Homeyer, § 134, S. 341. 101 Zur Frage, ob Hegel auch das umgekehrte Bedingungsverhältnis, in dem die Verfassung die unabhängige Variable wäre, für möglich hält, vgl. Kapitel 3.2., 3.3., 4.2. und 4.4. 102 Zur Debatte vgl. die Belege in Andreas Grossmann, Weltgeschichtliche Betrachtungen in systematischer Absicht. Zur Gestalt von Hegels Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, in: Hegel-Studien 31 (1996), S. 27–61, 59, Fn. 43.

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1. Einleitung

staaten resultiert, spezifisch labil, so daß der zwischenstaatliche Rechtszustand jederzeit in den Naturzustand umzuschlagen droht. (3) Hegel könnte weiterhin zwar keine organisatorische Angleichung der nationalstaatlichen Verfassungen erwarten, wohl aber mit einer kontraktuellen und institutionellen, möglicherweise auch (im Kantischen Sinne) öffentlich-rechtlichen Kooperation zwischen innerlich heterogen verfaßten Staaten rechnen. (4) Die erwartete staatenübergreifende sittliche Homogenisierungsbewegung der politischen Kultur könnte zwar eine (begrenzte) Homogenisierung der ,Grundnormen‘ der nationalstaatlichen Verfassungen befördern, ohne doch das Nationalstaatsprinzip als solches zu tangieren. (5) Denkbar ist auch, daß der durch den Wandel der Völkersitten ermöglichte Angleichungsprozeß der Verfassungen eine institutionelle Verschränkung transnationaler Politikformen befördert, die sich über kurz oder lang auch verfassungsrechtlich geltend machte, insofern das Projekt eines Weltstaates diskutabel würde. (6) Schließlich ließe sich das Schlußkapitel der Grundlinien auch so verstehen, daß eine erhebliche Angleichung der nationalen Verfassungen erwartet wird, die sich jedoch nicht global ereignet, sondern auf diejenigen (nach wie vor vollsouveränen) Staaten beschränkt ist, deren ökonomische Systeme in hohem Grade miteinander vernetzt sind und deren kulturelle Systeme einen relativ hohen Grad an Homogenität aufweisen. Innerhalb des weltgeschichtlichen Reflexionskontextes (anders als im Rahmen seiner Staatsrechtsphilosophie) erörtert Hegel, ob nicht zukünftig Prozesse der Angleichung und vielleicht auch der Interpenetration oder sogar der Integration des öffentlichen Rechts der Nationalstaaten stattfinden können. Doch sind gegenläufige Tendenzen in dieser Betrachtung unübersehbar, die der Rezeption der Montesquieuschen Reflexionen über die Wechselbeziehung zwischen Volksgeist und politischer Verfassungen entstammen.103 Denn wie immer jener ,Weltgeist‘ genannte Prozeß der Herausbildung einer allgemeinen politischen Sittlichkeit, die als funktionales Äquivalent des Kantischen Völker- und Weltbürgerrechts in Frage käme, gedacht ist, es scheint ausgeschlossen, daß er sich als Gesinnung des „Kosmopolitismus [. . .] dazu fixiert, dem konkreten Staatsleben [der Nationen] gegenüberzustehen“.104 Vielmehr soll sich jener Versittlichungsprozeß des zwischenstaatlichen Naturzustandes nicht jenseits der Nationalstaaten, sondern in ihnen vollziehen, wobei zu ermitteln ist, ob die Vielfalt konkreter Sittensysteme der Völker und der ihnen entsprechenden Institutionen 103 Zum Verhältnis zwischen Montesquieus und Hegels politischer Philosophie vgl. Bruno Coppieters, Kritik der reinen Empirie. Hegels Jenaer Kommentar zu Montesquieus Theorie des Politischen, Berlin 1994. 104 Hegel, Grundlinien, § 209, in: Werke, Bd. 7, S. 361.

1.2. Hegels ,realistische‘ Einwände gegen Kants Völkerrechtslehre

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eher als Grenze oder eher als Medium der Verwirklichung des allgemeinen Geistes in Rechnung gestellt wird.105 Schließlich kann – so Hegels (aristotelische) Einsicht – kein abstraktes Kollektivsubjekt wie ,die Menschheit‘ existieren, dessen Selbstbewußtsein der Weltgeist wäre. Der methodologische Individualismus der Hegelschen Weltgeisttheorie hat noch einen epistemologischen, logischen und zugleich ontologischen106 Grund: Globalen Sitten kann allein schon deswegen kein real existierendes Gesamtsubjekt korrespondieren, weil gemäß dem Hegelschen ,Nominalismus‘ Universalien keine empirische Realität zukommen kann, denn sie seien nichts anderes als gedankliche Abstraktionen. In der enzyklopädischen Logik heißt es entsprechend: „Dies Allgemeine existiert nicht äußerlich als Allgemeines: die Gattung als solche läßt sich nicht wahrnehmen“.107 Noch prägnanter ist die Formulierung im zweiten naturphilosophischen Teil der Enzyklopädie: „Dadurch, daß wir die Dinge denken, machen wir sie zu etwas Allgemeinem; die Dinge sind aber einzelne, und der Löwe überhaupt existiert nicht“.108 Die einzige Art, wie dem Weltgeist eine natürliche Existenz zukommen kann, wäre folglich seine Präsenz „in jedem Volke“.109 Doch diese Auskunft kann nicht befriedigen, denn sie zwingt dem Leser eine neue Frage an den Text auf: Wie ist es denkbar, daß der Weltgeist, der doch etwas schlechthin Allgemeines sein soll, von den einzelnen Völkern auf sehr ungleiche Weise gewußt wird? Hegels Antwort im Naturrechtsaufsatz, der Weltgeist habe in den verschiedenen Volksgeistern als verschiedenartigen „Ganzen von Sitten und Gesetzen [sein] dumpferes oder entwickelteres, aber absolutes Selbstgefühl“,110 kann nicht völlig überzeugen. Denn sie tendiert dahin, qualitative Divergenzen der Volksgeister und ihrer Sitten in quantitative zu verwandeln. 1802 ist eine adäquate Lösung noch nicht in Sicht, und selbst die Grundlinien erforderten ein zusätzliches, über die Standardthemen des vormaligen Naturrechts hinausgehendes Kapitel, um die Frage nach den Interdependenzen zwischen den Volksgeistern und dem Weltgeist erschöpfend zu erörtern. 105

Vgl. Ottmann (1997), S. 283 f. Zu Hegels Korrespondenztheorie der Wahrheit, nach der „Substanz und Subjekt Variablen des Erkenntnisverhältnisses“ sind, vgl. Thomas Sören Hoffmann, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wiesbaden 2004, S. 230. 107 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft im Grundrisse, Erster Teil (im folgenden zitiert als „Enz. I“), § 21, in: Werke, Bd. 8, S. 78 108 Vgl. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft im Grundrisse. Zweiter Teil (im folgenden zitiert als „Enz. II“), § 245, in: Werke, Bd. 9, S. 16. 109 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften (im folgenden zitiert als „Naturrecht“), in: Werke, Bd. 2, S. 522 (Herv. v. Verf., U. T.). 110 Ebd. 106

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1. Einleitung

1.3. Die Idee des Staates innerhalb des Staatsrechtsteils der Grundlinien Solange die Grundlinien die Idee des Staates im Rahmen des (inneren und äußeren) Staatsrechts behandeln, kann die Entfaltung der Idee des Staates, d. h. die Explikation der Formen der Einheit des Staatsbegriffes mit seiner Realität nur zweistufig bzw. zweidimensional verfahren: Die beiden staatsrechtlichen Disziplinen, das innere und das äußere Staatsrecht, können – so die Quintessenz der Kritik des Vertragsvölkerrechts – nicht auf einer höheren Stufe integriert werden, ohne daß die Sphäre bzw. der Blickwinkel des Staatsrechts definitiv verlassen würde. Man kann sich dies leicht anhand der sehr verschiedenen Gewichtung klarmachen, die das Prinzip der Gewaltenteilung im Kontext des inneren Staatsrechts und des äußeren Staatsrechts jeweils erfährt. Je nachdem, ob man das Prinzip der ,organischen Gewaltenteilung‘, das zum Inbegriff des Staates zählen soll, im Rahmen des ,inneren‘ oder des ,äußeren Staatsrechts‘ betrachtet, ergeben sich sehr verschiedene funktionale Anforderungen an den organisatorischen Aufbau der öffentlichen Gewalt. Wenn § 271 unter der „politische[n] Verfassung“ einen souveränen gewaltenteiligen Organismus verstanden wissen will, der jedoch im inneren Verhältnis anders beschaffen sei als im äußeren, sollte man den mitgedachten Doppelsinn, den der Begriff der ,organischen Gewaltenteilung‘ hat, beachten: Der Aspekt der funktional-organisatorischen Binnendifferenzierung der Staatsgewalt muß von dem ihrer organischen Einheit unterschieden werden. Allererst dann wird ersichtlich, daß die beiden Komponenten der ,organischen Gewaltenteilung‘, Einheit und Trennung, je nach rechtstheoretischer Perspektive höchst unterschiedliches Gewicht besitzen: So wird einerseits die Souveränität eines Staatswesens als die innere organisch-gewaltenteilige Selbstbestimmung und -reproduktion des Gemeinwesens „in Beziehung auf sich selbst“ bestimmt. Betrachtet man nämlich den Staat seinem ,unmittelbaren‘ Begriff nach als kontextloses Individuum, dann ist er ein selbständiges Ganzes der öffentlichen Gewalt, die funktional differenziert ist und drei besondere Teilgewalten enthält. Aus der Perspektive des inneren Staatsrechts wird dementsprechend die funktionale Diversifikation der öffentlichen Gewalt, d. h. die Spezifizierung der Staatsfunktionen betont, wobei deren institutionelle Separierung allerdings nicht so weit gehen dürfe, daß die Gewalten bloße „Teile“111 des Staates wären.112 Andererseits sei der Staat nicht nur, wie der Standpunkt des inneren Staatsrechts suggeriere, ein absolut Selbständiges ohne Beziehung auf Anderes, sondern er sei zugleich als eine existierende „Individualität ausschließendes Eins, 111 112

Hegel, Grundlinien, § 286, in: Werke, Bd. 7, S. 457. Ebd., § 276, in: Werke, Bd. 7, S. 441.

1.3. Die Idee des Staates innerhalb des Staatsrechtsteils der Grundlinien

39

welches sich damit zu anderen verhält, seine Unterscheidung also nach außen kehrt und nach dieser Bestimmung seine bestehenden Unterschiede innerhalb seiner selbst in ihrer Idealität setzt.“113 Denn die Souveränität des existierenden Staates stehe allemal in Relation zu anderen koexistierenden Souveränen, d.h. sie ist keine Eigenschaft, die dem Staat als solchen notwendig zukommt, sondern sie beruht auf Anerkennung. Wird diese – was jederzeit möglich ist – von einer Seite verweigert, negiert die Souveränität des nichtanerkennenden Staates die des anderen, der seinerseits reziprok verfahren dürfte. Diese aus dem konstitutiven Anerkennungsverhältnis resultierende permanente Möglichkeit einer ,existenziellen‘ Bedrohung der Souveränität eines jeden der koexistierenden Staaten muß aber nach Hegel auch für deren innere Gliederung Konsequenzen haben. So träten im Falle außenpolitischer Spannungen und verstärkt noch im Kriegsfall die durch verschiedene Medien gesteuerte funktionale Differenzierung der gesellschaftlichen und politischen Teilsysteme zugunsten der Maximierung ihrer Kooperation in den Hintergrund.114 Dies betrifft neben der Separierung der privatrechtlich organisierten bürgerlichen Gesellschaft vom Staat und der entsprechenden Separierung des Privatrechts vom Staatsrecht,115 insbesondere die Teilung der Gewalten.116 Im außenpolitisch bedingten Notstandsfall würden die funktionalen Spezifizierungen im inneren und äußeren Verhältnis des gesellschaftlichen und politischen Subsystems „idealisiert“ werden. Zum einen trete an die Stelle des zweckrationalen Staatsverständnisses der Bourgeois der Patriotismus der Citoyen, die den Staat als ihre Substanz erkennen,117 und zum anderen habe die Organisation der öffentlichen Gewalt(en), die im Friedenszustand die Freiheitsrechte der Bürger sichern soll, im Kriegsfall den wesentlichen Zweck, den Staat in seiner Substanz zu verteidigen. Deswegen hätten sich die geteilten Gewalten im außenpolitischen ,Ernstfall‘ zur ,organischen‘ Einheit zusammenzuschließen, deren Gewähr nur die fürstliche Gewalt sein könne, denn nur sie sei natürlicherweise „Spitze und Anfang des Ganzen“.118 Da im außenpolitischen Notstand das ,Sicherheitsprinzip‘ tendenziell an die Stelle des ,Freiheitsprinzips‘ trete, müßten politische Entscheidungen und ihr Vollzug in funktionaler, organisatorischer und nicht zuletzt auch in zeitlicher Hinsicht entdifferenziert werden, wodurch die Freiheitsrechte der Bürger mindestens beeinträchtigt werden dürften.119 113

Ebd., § 271, in: Werke, Bd. 7, S. 431 (Herv. im Original). Zum Umschlag der staatsinternen Funktionendifferenzierung in die regierungszentrierte Gewaltenintegration vgl. ebd., § 323 ff., in: Werke, Bd. 7, S. 491 ff. 115 Vgl. ebd. 116 Ebd., § 273, in: Werke, Bd. 7, S. 435 ff. 117 Ebd., § 324, in: Werke, Bd. 7, S. 491 ff. 118 Ebd., § 273, in: Werke, Bd. 7, S. 435. 119 So hat jede funktionale Gewaltenteilung – man denke nur an Strafprozeßordnungen – den Effekt, staatliche Entscheidungen und vor allem die Verhängung und Voll114

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1. Einleitung

Der für Hegel optimale politische Zustand läßt sich mit der Formel von der ,Idealität der inneren Unterschiede eines Staates‘ beschreiben: Die notwendige Besonderung der Gewalten einerseits und die Trennung des privaten und des staatsbürgerlichen Lebens andererseits seien nur dann der Idee des Staates entsprechend, wenn diese Sphären ebenso „flüssige Glieder“ des politischen Organismus seien, also keine selbständigen Elemente, sondern aufgehobene Momente eines sie übergreifenden Ganzen darstellen.120 Hegels Akzentuierung der Einheit der öffentlichen Gewalt als solche wäre noch nicht problematisch. Denn schließlich soll auch nach Kant in der vermittelten Kooperation der Gewalten das Heil des Staates liegen: „Also sind es drei verschiedene Gewalten (potestas legislatoria, executoria, iudiciaria), wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat, d.i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält. – In ihrer Vereinigung besteht das Heil des Staats (salus reipublicae suprema lex est)“.121 Der Zusatz des § 271 macht jedoch fatalerweise deutlich, daß derjenige Zustand der integralen, organischen Totalität der Staatsgewalt(en), der die von Hegel akzentuierte Desintegrationstendenz neutralisiert, die dem Staat seitens des Gewaltenteilungsprinzips droht, typisch für den zwischenstaatlichen Krieg sei. Noch offensichtlicher wird diese Tendenz im § 324 und seinem Zusatz. Hier analogisiert Hegel das Verhältnis zwischen Privatinteresse und Staatsinteresse mit der Beziehung zwischen den Teilgewalten und dem Ganzen der öffentlichen Gewalt: Im Friedenszustand tendierten die besonderen Interessen der Privatpersonen dazu, sich ,einzuhausen‘ und sich unter Berufung auf die Unantastbarkeit ihrer partikularen Rechte gegen den Staat abzugrenzen, so daß der Zusammenhang der Interessen nurmehr ,von außen‘, auf ,mechanische‘ Weise zustande komme. Im Kriegszustand dagegen träten die Privatinteressenten nolens volens zugunsten staatsbürgerlicher Tugenden zurück, so daß sich die Individuen mit der öffentlichen Gewalt zu einer inneren, organischen Ganzheit zusammenschließen, in der auch die funktionale Spezialisierung der Staatsgewalten zugunsten ihrer integralen Einheit mehr oder weniger aufgegeben werde. Es erweise sich so, daß die Patriotismus genannte „Idealität, welche im Kriege als in einem zufälligen Verhältnisse nach außen liegend zum Vorschein kommt, und die Idealität, nach welcher die inneren Staatsgewalten organische Momente [nicht mechanische Teile] des Ganzen sind, dieselbe ist“. Dieser Zusammenziehung von Zwangsmaßnahmen zu verzögern. Besonders wo Staatsfunktionen in zeitlicher Hinsicht separiert werden, geschieht dies in der Regel zum des Schutz der Individuen vor möglichem staatlichem Unrecht. Genau diese klassische liberale Begrenzung staatlicher Eingriffskompetenzen in private Autonomiesphären scheint Hegel unter hypothetischen Notstandsbedingungen problematisieren zu wollen, ohne daß er doch damit zum Ahnherren des neuerdings beschworenen ,Sicherheitsparadigmas‘ würde, das im Zeichen des war against terrorism den Übergang des Rechtssicherungsstaates in den ,effizienten‘ Polizei- bzw. Militärstaat empfiehlt. 120 Ebd., § 276, in: Werke, Bd. 7, S. 441. 121 Vgl. Kant, RL, § 49, in: AA, Bd. VI, S. 318.

1.3. Die Idee des Staates innerhalb des Staatsrechtsteils der Grundlinien

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hang komme „in der geschichtlichen Erscheinung unter anderem in der Gestalt vor, daß glückliche Kriege innere Unruhen verhindert und die innere Staatsmacht befestigt haben“.122 Die schauerliche Metapher vom Krieg als dem belebenden ,Wind‘, der „die See vor der Fäulnis bewahr[e]“,123 zeigt unleugbar neben antibourgeoisen124 auch militaristische Züge, die der sittlichkeitstheoretischen Individualismus- und Kontraktualismuskritik eben auch innewohnen können. So konzediert Hegel zwar einerseits, daß aus liberaler, kontraktualistischer Perspektive der Krieg ein denkbar untaugliches Mittel zur „Sicherung des Lebens und des Eigentums der Individuen“ ist, „denn diese Sicherheit wird nicht durch die Aufopferung dessen erreicht, was gesichert werden soll“.125 Dieser Tendenz entspricht auch die Bemerkung von der Weltgeschichte als dem „Übel [. . .] in seiner größten Existenz“, die uns erscheinen müsse als „Schlachtbank, auf der Individuen und ganze Völker geopfert werden“.126 Jedoch müsse andererseits der sittliche Effekt des Krieges anerkannt werden. Zu allen Zeiten sei nämlich Krieg diejenige Instanz gewesen, die saturierte Privatpersonen daran gemahnt hätte, daß der Zufall die wesentliche Bestimmung aller Endlichkeit ist. Es sei nämlich „notwendig, daß das Endliche, Besitz und Leben, als Zufälliges gesetzt werde, weil dies der Begriff des Endlichen ist“.127 Wenn die Realität des Krieges notwendig schon aus dem bloßen Begriff der Endlichkeit folgt, wie ließe sich dann noch eine ,pazifistische‘ Option rechtfertigen? Doch Hegels Schlußfolgerung kann letztlich nicht überzeugen, denn es hätte gezeigt werden müssen, daß und wieso der Zufallsaspekt des Begriffs des Endlichen (hier: Die ,Zeitlichkeit der irdischen Güter‘) in idealtypischer Weise nur im Krieg zum Ausdruck kommen kann, während alle anderen Arten schicksalhafter Endlichkeitserfahrungen (wie z. B. Naturkatastrophen oder der Tod nahestehender Personen) im Vergleich damit defizitären Charakter hätten. Hegel müßte den Krieg als das Unheil schlechthin darstellen, aber genau diese Kantische Perspektive wird im selben Paragraphen zurückgewiesen. Der Krieg sei nämlich – jedenfalls aus philosophischer Perspektive betrachtet – keineswegs das „größte Übel, was dem Menschengeschlecht begegnen kann“.128 Vielmehr 122 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 324, in: Werke, Bd. 7, S. 493; vgl. auch die entsprechende Passage in: Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 160, S. 249. 123 Vgl. ebd. 124 Vgl. Ottmann (1997), S. 273. 125 Hegel, Grundlinien, § 324, in: Werke, Bd. 7, S. 492. 126 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte I: Die Vernunft in der Geschichte, hg. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955 (im folgenden zitiert als „ViG“), S. 261 (Zusatz aus dem Wintersemester 1826/27). 127 Hegel, Grundlinien, § 324, in: Werke, Bd. 7, S. 492. 128 Vgl. Kant, Reflexionen zur Rechtslehre, Reflexion 8077, in: AA, Bd. XIX, S. 611. Von den Lasten des Kriegs heißt es auch: „So große auf unabsehbare Zeit

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1. Einleitung

bewirkten Kriege nicht nur eine innere Befriedung sozialer Konflikte, sondern auch einen kollektiven ,Vitalitäts- und Motivationsschub‘. Schließlich zeige die Erfahrung, daß die Völker aus Kriegen allemal „gestärkt“ hervorgingen.129 Diese Teilargumentation läßt sich nur schwer gegen den Einwand verteidigen, sie ziele letztlich auf eine funktionale (soziologische und sozialpsychologische) Legitimation des Krieges, die den Frieden mit sozialen Anomietendenzen assoziiert,130 während dem Krieg sowohl gruppenkohäsive als auch innovatorische Effekte attestiert werden. Allerdings werden das ,mechanische‘ Wesen und die entindividualisierenden Effekte der modernen Kriegsführung, die dem Ideal organischer Differenzierung zuwiderlaufen, keineswegs verschwiegen.131 Wenn es also zutrifft, daß Hegel Kriegen eine staats- und volksgeistfunktionale Rationalität attestiert, so ist damit doch lediglich eine äußere und keine innere Zweckmäßigkeit behauptet. Kriege werden demnach zwar als Zwecke für anderes, nicht aber Zweck an sich selber gewertet. Die Beispiele der Gewaltenteilung und des Patriotismus mögen zum Beleg dafür genügen, daß innerhalb des Staatsrechtsteils der Grundlinien die Idee des Staates nur zweistufig entfaltet werden kann: Vermittels des ersten Explikationsschrittes wird die adäquate Realität des Staatsbegriffs zunächst als unmittelbare, kontextlose Beziehung des individuellen Staates auf sich bestimmt, während vermöge des zweiten Schrittes der reelle Begriff des Staates in der (potenziell negativen) Beziehung des einen Staates auf andere, d. h. in seinem Vermitteltsein, erkannt wird. „Die Idee des Staats hat a) unmittelbare Wirklichkeit und ist der individuelle Staat als sich auf sich beziehender [substanzieller] Organismus, Verfassung oder inneres Staatsrecht; b) geht sie in das Verhältnis des einzelnen Staates zu anderen Staaten über, – äußeres Staatsrecht“.132 drückende (in der Folge vielleicht den ganzen Staat umstürzende) und selbst die Moralität des Volks direct untergrabende, daß an Fortschreiten des Menschengeschlechts zum Besseren in einem großen Theil desselben gar nicht zu denken ist und, obgleich der Flor (und Anwachs) der Künste den Verfall noch eine ziemliche Zeit hinhalten kann gleichwohl der (nur um desto gefährlichere) Einsturz (früh oder spät) mit Gewißheit voraus zu sehen ist“; vgl. ebd., S. 606; dazu Maus (1997), S. 169 f. 129 Hegel, Grundlinien, § 324, Zusatz, in: Werke, Bd. 7, S. 494. 130 So heißt es schon in der Naturrechtsschrift: „Der lange Frieden und die gleichförmige Herrschaft der Römer führte ein langsames Gift in die Lebenskräfte des Reichs.“ So sei das „Feuer des Genius“ ebenso ausgelöscht worden wie der „öffentliche Mut“. An die Stelle des Patriotismus sei so allmählich die „matte Gleichgültigkeit des Privatlebens“ getreten, das sich im „formalen Rechtsverhältnis, welches das Einzelnsein fixiert und absolut setzt“, artikuliere; vgl. Hegel, Naturrecht, in: Werke, Bd. 2, S. 492. 131 Ebd., § 328, in: Werke, Bd. 7, S. 496. 132 Ebd., § 259, in: Werke, Bd. 7, S. 404. Hegels Verwendung des Organismusbegriffs an dieser Stelle läßt darauf schließen, daß er die logische Struktur des organischen Lebens mindestens äußerlich mit der Idee des Staates analogisiert; vgl. Hegel, Enz. I, §§ 218, 219, 220, in: Werke, Bd. 8, S. 374 ff.; vgl. dazu Michael Wolff, Hegels

1.3. Die Idee des Staates innerhalb des Staatsrechtsteils der Grundlinien

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Dem Vernunftbegriff des Staates scheint auf den ersten Blick die singuläre „Wirklichkeit der sittlichen Idee“133 zu entsprechen, die als für sich existierender Staat eine Substanz darstellt, die zu ihrer Existenz keines Anderen bedarf.134 Unter dem Begriff des Staates habe man zunächst ein besonders verfaßtes politisches Gemeinwesen zu verstehen, das als souveräner Staat causa sui ist. Sodann aber müsse man berücksichtigen, daß sich jeder reale Staat von vornherein in ein Pluriversum von Staaten hineingestellt sieht. Damit aber werde sein vermeintlich substantielles, selbstbestimmtes und in diesem Sinn unmittelbares Dasein als relativ, fremdbestimmt und mittelbar durchsichtig. Für alles Reale gilt nämlich, daß alles „Dasein [. . .] als bestimmtes Sein wesentlich Sein für Anderes“ ist.135 Die dem Begriff entsprechende Substanzialität und Autonomie des politischen Staates, die das innere Staatsrecht unterstellt, erweist sich unter dem komplementären Blickwinkel des äußeren Staatsrechts als Relativität und Vermitteltheit. Souveränität kommt dem realen einzelnen Staat gerade nicht, wie zunächst angenommen, als selbständiges Fürsichsein zu, sondern wird nun verständlich als anerkennungsabhängiges Sein-für-Anderes.136 Auf diese Weise macht sich eine strukturelle Besonderheit geltend, die nicht nur für den Staat als Institution des objektiven Geistes, sondern für den Geist insgesamt gilt: „Diese Beziehung von Willen auf Willen ist der eigentümliche und wahrhafte Boden, in welchem die Freiheit Dasein hat“.137 Hegel betont, daß sich dieser innere Zwiespalt des Staatsbegriffs – als souveräne öffentliche Gewalt ein Singuläres zu bezeichnen, das sich zugleich als existierender Souverän in eine Pluralität von Souveränen gestellt sieht und erkennt, daß seine Selbständigkeit von deren Anerkennung abhängt – innerhalb der staatsrechtlichen Theorie nicht auflösen läßt. Die vollkommene Explikation der Idee des Staates kann innerhalb des Staatsrechts nicht gelingen, weil die beiden Reflexionsperspektiven widersprüchliche Ergebnisse hervorbringen, ohne daß deren Aufhebung in Sicht käme: Der souveräne Staat ist sowohl etwas Absolutes als auch etwas Relatives. staatstheoretischer Organizismus. Zum Begriff und zur Methode der Hegelschen ,Staatswissenschaft‘, in: Hegel-Studien 191 (1984), S. 147–177. 133 Hegel, Grundlinien, § 257, in: Werke, Bd. 7, S. 398. 134 Unter „Substanz“ versteht Hegel das „in aller Bestimmung und Veränderung des Daseins beharrliche Sein“, dessen Sein also nicht von fremdem Sein abhängig ist; vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Bewußtseinslehre für die Mittelklasse, in: Werke, Bd. 4, S. 100. 135 Hegel, Grundlinien, § 71, in: Werke, Bd. 7, S. 152. 136 In Analogie zum „Übergang vom Eigentum zum Vertrage“ innerhalb der Philosophie des Privatrechts wird die endliche Wirklichkeit der Staatsidee als Beziehung des einen besonderen Willens auf den andern ausgelegt. „Aber als Dasein des Willens ist“ der einzelne Staat „als für anderes nur für den Willen“ eines anderen Souveräns. 137 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 71, in: Werke, Bd. 7, S. 152.

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1. Einleitung

Dieser Widerspruch läßt sich nur auflösen, wenn man weltgeschichtliche Reflexionen anstellt, die freilich über das Gebiet des Staats- bzw. Staatenrechts hinausgehen müssen. Erst jenseits des inneren und äußeren Staatsrechts, d. h. des öffentlichen Rechts im Kantischen Sinne,138 läßt sich die triadische Bestimmung des Vernunftbegriffs oder der Idee des Staates komplettieren, ohne daß diese neue weltgeschichtliche Perspektive allerdings dem entspräche, was Kant unter dem „Weltbürgerrecht“ verstanden wissen wollte. Denn auch dieses sei, wenn man der Vernunft folge, unter den Begriff des öffentlichen Rechts zu subsumieren.139

1.4. Die Sonderstellung des Kapitels Die Weltgeschichte in den Grundlinien und der Enzyklopädie Die erste Ankündigung einer dreiphasigen Unterscheidung der Kontexte, in denen die „Idee des Staates“ (als Einheit seines Begriffs und seiner Realität)140 bestimmt werden soll,141 findet sich bereits in § 259. Hier wird ein Grundriß des Staatsrechts vorgestellt, aus dem hervorgeht, daß der staatsrechtliche Rahmen definitiv in Richtung auf geschichtsphilosophische Reflexionen überschritten werden muß: Die Idee des Staats umfasse nämlich nicht nur a) den einzelnen Staat des inneren Staatsrechts und b) die besonderen Staaten des äußeren Staatsrechts, sondern ebenso „c) [. . .] die allgemeine Idee als Gattung und abso-

138

Kant, RL, § 43, in: AA, Bd. VI, S. 311. Vgl. dazu Thiele (1998), S. 256 ff. 140 Auch wenn unter ,Idee‘ allemal eine Entsprechung von Begriff und seiner Realität zu verstehen ist (vgl. z. B. Michael Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970, S. 108.), so bedeutet das doch nicht unbedingt, daß die Einheit beider Komponenten ihrerseits eine ideale zu sein hätte: „Bei der Idee des Staats muß man nicht besondere Staaten vor Augen haben, nicht besondere Institutionen, man muß vielmehr die Idee, diesen wirklichen Gott, für sich betrachten. Jeder Staat, man mag ihn auch nach den Grundsätzen, die man hat, für schlecht erklären, man mag diese oder jene Mangelhaftigkeit daran erkennen, hat immer, wenn er namentlich zu den ausgebildeten unserer Zeit gehört, die wesentlichen Momente seiner Existenz in sich. Weil es aber leichter ist, Mängel aufzufinden, als das Affirmative zu begreifen, verfällt man leicht in den Fehler, über einzelne Seiten den inwendigen Organismus des Staates selbst zu vergessen. Der Staat ist kein Kunstwerk, er steht in der Welt, somit in der Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums; übles Benehmen kann ihn nach vielen Seiten defigurieren. Aber der häßlichste Mensch, der Verbrecher, ein Kranker und Krüppel ist immer noch ein lebender Mensch; das Affirmative, das Leben, besteht trotz des Mangels, und um dieses Affirmative ist es hier zu tun“; vgl. Hegel, Grundlinien, § 258, Fn., in: Werke, Bd. 7, S. 404. 141 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 126, S. 176; zum Begriff der Idee vgl. Angelica Nuzzo, ,Idee‘ bei Kant und Hegel, in: Christel Fricke/Peter König/ Thomas Petersen (Hg.), Das Recht der Vernunft. Kant und Hegel über Denken, Erkennen und Handeln, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 81–120, bes. 111 ff. 139

1.4. Die Sonderstellung des Kapitels Die Weltgeschichte

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lute Macht gegen die individuellen Staaten, der Geist, der sich im Prozesse der Weltgeschichte seine Wirklichkeit gibt.“142 Hegels dreiphasige Bestimmung der Idee des Staates143 folgt ihrer Struktur nach der ersten Figur des Schlusses des Daseins. Die Schlußfigur E – B – A (Einzelnes – Besonderes – Allgemeines) hat im Allgemeinen die Bedeutung, daß erstens „das Einzelne, das als solches unendliche Beziehung auf sich ist und somit nur ein inneres wäre“ und also keine es begrenzende Umwelt hätte. Zweitens aber trete das Einzelne „durch die Besonderheit in das Dasein als in die Allgemeinheit hinaus [. . .], worin es nicht mehr nur sich selbst angehört, sondern in äußerem Zusammenhange steht“. Drittens sei das Einzelne „indem [es] sich in seine Bestimmungen als Besonderheit abscheidet, [. . .] in dieser Trennung ein konkretes und, als Beziehung der Bestimmtheit auf sich selbst, ein allgemeines, sich auf sich beziehendes und somit auch ein wahrhaft einzelnes“.144 Denn erst vermittels der abgrenzenden Bestimmung seiner Eigenschaften gegen Anderes erfährt das Einzelne, das zunächst nur ein abstraktes Allgemeines war, diejenigen Inhaltsspezifikationen, die sein Wesen ausmachen. Im Kontext der philosophischen Weltgeschichte soll die Schlußfigur E – B – A (Einzelnes – Besonderes – Allgemeines) dazu dienen, eine allgemeine verfassungsgeschichtliche Theorie in ihren Grundzügen zu umreißen: Während vom Standpunkt des inneren Staatsrechts aus betrachtet dem Begriff des Staates der einzelne, d. h. jeder beliebige für sich existierende Staat entspricht und das äußere Staatsrecht diesen abstrakten einzelnen Staat nun als besonderen, in Relation zu anderen Staaten stehenden Staat fortbestimmt, kann erst die weltgeschichtliche Betrachtung den Staat und seine Verfassung als ein (tendenziell) Allgemeines erkennen. Allererst diese dritte Begriffsbestimmungsperspektive kann darüber informieren, welche Bestimmungen dem Staat als solchen zukommen und welche nicht. Mittels des gesuchten substanziellen Kriteriums ließen sich dann beliebige empirische Staaten daraufhin überprüfen, ob sie ,wahre Staaten‘ oder nur staatsähnliche Gebilde sind. Doch auf welchem Weg kann dieses Kriterium gefunden werden? Weder das ,solipsistische‘ und substanzialistische innere Staatsrecht noch das ,relativisti-

142 Hegel, Grundlinien, § 259, in: Werke, Bd. 7, S. 404 f.; vgl. Enz. I, § 220, in: Werke, Bd. 7, S. 376. 143 ,Ideen‘ verlangen nach Hegel notwendig eine triadisch strukturierte Begriffsexplikation; zur Struktur der Dialektik als einer Begriffsbestimmungsbewegung vgl. Hans Friedrich Fulda, Unzulängliche Bemerkungen zur Dialektik, in: Rolf Peter Horstmann (Hg.), Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, Frankfurt am Main 1978, S. 33–69, bes. 57 ff. 144 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil (im folgenden zitiert als „Logik II“), in: Werke, Bd. 6, S. 355 f. Zu den problematischen Versuchen, die gesamte Rechtsphilosophie in struktureller Hinsicht mit den drei Teilen der Wissenschaft der Logik zu analogisieren vgl. Ottmann (1997), S. 283.

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1. Einleitung

sche‘ äußere Staatsrecht, demgemäß das Recht des einen Staates gleich gültig dem des anderen gegenübersteht, sondern erst die Weltgeschichte ,urteilt‘ darüber, welche in besonderen Staatsverfassungen verwirklichten Formen sittlicher Freiheit jeweils als die vernünftigsten gelten können und welche von ihnen Prinzipien oder Grundelemente einer denkbaren Ideal- bzw. Universalverfassung enthalten. Allein die Geschichte, d. h. hier: die Zukunft, und nicht das Recht entscheidet demnach auch darüber, was ein wahrer Staat ist, der als Maßstab bzw. Vorbild für alle empirischen Staaten gelten könnte. Es scheint also nicht von vornherein ausgeschlossen, im Rahmen der zweistufigen Theorie des öffentlichen Rechts, nachdem der unmittelbare Standpunkt des staatstheoretischen Monismus überwunden ist, zum Standpunkt des nationalstaatlichen Pluralismus überzugehen und an ihm festzuhalten, und trotzdem, nun freilich nicht mehr im staatsrechtlichen, sondern im geschichtsphilosophischem Kontext, die Möglichkeit (und Wahrscheinlichkeit) einer universellen Angleichung von Verfassungsprinzipien zu erörtern, womit freilich weder die Frage nach der Linearität noch die nach der Endlichkeit dieses postulierten verfassungsgeschichtlichen Homogenisierungsprozesses beantwortet wäre. Wenn es nämlich zutrifft, daß die Gravitationszentren der jeweiligen Angleichungsbewegung normalerweise die sogenannten Reiche sind, dann ist damit weder entschieden, daß sich die Einflußsphären dieser Reiche konstant ausweiten würden, noch, daß die Herrschaft der Reiche von immer größerer Dauer wäre. Hegel hat noch weitere gute Gründe, die Frage, ob die Geschichte des Staatsrechts langfristig auf ein Ziel zusteuert, nicht innerhalb des Staatsrechtsteiles zu erörtern. Ein theoriearchitektonisches Motiv läßt sich an der in zweierlei Hinsicht prononcierten Stellung des Kapitels „Die Weltgeschichte“ ablesen: In der Rechtsphilosophie als solcher vergleicht und vermittelt dieses Kapitel die gegensätzlichen und in ihrer Isolierung defizitären Prinzipien des inneren und des äußeren Staatsrechts auf der Ebene der geschichtsphilosophischen Reflexion. Die „Weltgeschichte“ zählt daher der Gliederung der Grundlinien nach zwar zum Abschnitt „Der Staat“ nicht aber zum „Staatsrecht“. Bereits daraus könnte man schließen, daß diejenige ,Kraft‘, die auf eine langfristige Angleichung der Staatsverfassungen hinwirken soll, als etwas Außerjuristisches gedacht wird. Nur indem die Staatsphilosophie die Sphäre des Rechts, in der die Bestimmungen der inneren Souveränität denen der äußeren entgegengesetzt sind, verläßt, können die Defizite beider Perspektiven ausgeglichen und das, was sie geleistet haben, aufbewahrt werden. Doch nicht nur in bezug auf die Rechtsphilosophie nimmt das Kapitel über die Weltgeschichte eine architektonisch bedeutende Stellung ein, sondern ebenso hinsichtlich der Struktur der Geistphilosophie: Legt man den Aufbau der Berliner Enzyklopädie zugrunde, dann schließt die geschichtsphilosophische Auslegung des Staatsrechts einerseits die Philosophie des objektiven Geistes ab und leitet andererseits zu der des absoluten Geistes über.145 Die Theorie des

1.4. Die Sonderstellung des Kapitels Die Weltgeschichte

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Weltgeistes beendet nämlich die zweite Abteilung über den objektiven Geist, während sie laut § 341 der Grundlinien bereits der Theorie des absoluten Geistes zugerechnet wird. Hegel hebt diese Überleitungs- und Eröffnungsfunktion dadurch hervor, daß er die Weltgeschichte mit Kunst, Religion und Philosophie auf ein und dieselbe Stufe stellt.146 Der ,Weltgeschichte‘ kommt demnach die besondere Stellung eines vermittelnden Gliedes bzw. eines ,Scharniers‘ zu, das innerhalb der Grundlinien das Staatsrecht sowohl vollendet als auch transzendiert und im enzyklopädischen System der Geistphilosophie vom objektiven zum absoluten Geist überleitet. Es läßt sich aber noch ein weiterer Grund für die Auslagerung der „Weltgeschichte“ aus dem Staatsrecht denken: Nicht nur architektonisch, sondern auch inhaltlich enthält das Kapitel über die Weltgeschichte eine Neuerung, die im Staatsrecht keinen Platz finden konnte. Hegel schwächt eine Implikation seiner staats- und völkerrechtlichen Souveränitätstheorie, die Annahme von der notwendigen Heterogenität nationalstaatlicher Verfassungen, so weit ab, daß man versucht sein könnte, von einer ,kosmopolitischen‘ Kehrtwendung zu sprechen. Doch auch mit dieser Lesart würde man seine Argumentation simplifizieren. Das Kapitel über die Weltgeschichte ergänzt die Staatsrechtstheorie um den philosophischen Grundriß einer allgemeinen verfassungsgeschichtlichen Theorie, der die Prämisse des äußeren Staatsrechts, nach der die Welt des Politischen notwendig ein antagonistisches Pluriversum heterogen verfaßter Nationalstaaten sein soll, sowohl untermauert als auch relativiert.147 In der „Weltgeschichte“ findet eine folgenreiche Akzentverschiebung statt: Während das (äußere) Staatsrecht die realhistorische Entwicklung des Verfassungsrechts ausspart, untersucht das Weltgeschichtskapitel die Vielheit der Staatsverfassungen sowohl in Hinblick auf ihre typischen Organisationsformen als auch in Hinblick auf die ihnen jeweils inhärenten sittlichen Prinzipien. 145 Vgl. Oscar Daniel Brauer, Dialektik der Zeit. Untersuchungen zu Hegels Metaphysik der Weltgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1982, S. 20: „Aber die Weltgeschichte steht nicht nur am Ende der Philosophie des Rechts, sie steht auch zwischen der Abhandlung über den objektiven Geist (Rechtsphilosophie) und der über den absoluten Geist (Kunst, Religion und Philosophie). [. . .] Der ,Weltgeist‘ – der zentrale Gedanke von Hegels Geschichtsphilosophie, der in der philosophischen ,Architektonik‘ an die Stelle von Kants ,Weltbürgerrecht‘ tritt – scheint sozusagen zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist zu schweben, ohne selbst ein eigenes Gebiet auszumachen.“ Die These, Hegels Theorie des Weltgeistes trete architektonisch an die Stelle des Kantischen Weltbürgerrechts, wird bei Brauer allerdings nicht weiter belegt; zu Kants Weltbürgerrecht vgl. insbesondere Pauline Kleingeld, Kants politischer Kosmopolitismus, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), S. 333–348. 146 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 341, in: Werke, Bd. 7, S. 503; siehe dazu auch Timo Bautz, Hegels Lehre von der Weltgeschichte. Zur logischen Grundlegung der Hegelschen Geschichtsphilosophie, München 1988, S. 7. 147 Vgl. Ottmann (1997), S. 274: „Hegel ist nicht einfach ein Gegner des Kosmopolitismus. Er verortet ihn nur anders als Kant.“

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1. Einleitung

Diese universale Konstruktion der Geschichte des Staatsrechts bedient sich kaum noch juristischer Termini, sondern bewegt sich fast vollständig innerhalb der Philosophie des (objektiven und absoluten) Geistes. Zentral ist dabei der Begriff des Volksgeistes, worunter eines Volkes „Selbstbewußtsein über seine Wahrheit, sein Wesen, und was ihm selbst als das Wahre überhaupt gilt, die geistigen Mächte, die in einem Volk regieren“ zu verstehen sei. Bereits im Naturrechtsaufsatz, aber auch noch in der Berliner Enzyklopädie148 entlehnt Hegel den Begriff des „Genius einer Nation“149 von Montesquieus Termini „l’esprit des lois“, „charactère d’une nation“, „génie de la nation“ sowie „l’esprit général d’une nation“.150 Der Begriff des Volksgeistes ist deswegen grundlegend für den spekulativen Entwurf einer universellen Verfassungsgeschichte, weil die Dialektik von Volksgeist und Weltgeist ihr eigentliches Bewegungsprinzip sein soll. Hegel schreibt dem Volksgeist nämlich nicht nur eine statische Funktion zu, sondern er rechnet ihn unter bestimmten Bedingungen zu den Katalysatoren des verfassungsrechtlichen Fortschritts.

148 149 150

Vgl. z. B. Hegel, Enz. III, § 394, Zus., in: Werke, Bd. 10, S. 63 ff. Hegel, Naturrecht, S. 523. Vgl. Coppieters (1994), S. 13.

2. Annäherung an Hegels Konzept der Weltgeschichte 2.1. Das Weltgeschichtskapitel als Grundriß einer verfassungsgeschichtlichen Theorie Hegels rechtsphilosophische Theorie der Weltgeschichte hält einerseits die Quintessenz seiner zweistufigen Staatsrechtstheorie fest: Die ,existentielle‘ Negativitätsbeziehung zwischen Staaten, die Souveränität vorzüglich für sich selbst reklamieren, anderen aber abzusprechen geneigt sind, sei unüberwindlich. Die These vom irreduziblen antagonistischen Pluralismus der Staatenwelt und dem hieraus resultierenden permanenten äußeren Naturzustand wird also im Rahmen der Volksgeisttheorie untermauert. Doch dieselbe Theorie zieht andererseits in Erwägung, ob nicht ,hinter dem Rücken‘ der politischen Akteure eine allmähliche Angleichung der nationalen Verfassungen und mittels dieser sogar eine ,kosmopolitische‘ Vereinheitlichung des öffentlichen Rechts stattfindet. Zwar ist Hegels Tendenz zur Konstruktion eines universalhistorischen Entwicklungsschemas, das eine durch ein Endziel strukturierte Stufenfolge von Verfassungstypen unterstellt, unübersehbar. Jedoch lassen sich im Text immerhin vier Teilargumente identifizieren, die diesen Finalismus konterkarieren: Erstens betrachtet er jede Staatsverfassung als konzentrierte Darstellung der Sitten des jeweiligen Volkes, die ihrerseits inhaltlich spezifizierte Teilmanifestationen des allgemeinen sittlichen Geistes sein sollen (2.4.). Zweitens sei es ein wesentliches Merkmal der Volksgeister, sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht endlich zu sein, was allerdings nicht so zu verstehen ist, daß sie in keiner Hinsicht unendlich wären (2.5.). Das Moment der Endlichkeit oder Begrenztheit wird drittens dem irreduziblen ,Naturmoment‘ des jeweiligen Volksgeistes zugerechnet, welches seinerseits den Charakter und insbesondere die Variationsspielräume der jeweiligen Staatsverfassung (mehr oder minder) restringieren soll (2.6.). Viertens will Hegel – gegenläufig hierzu – zeigen, daß die diachrone Entwicklung volksgeistrelativer Verfassungen einen qualitativen Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit bewirken kann, wobei der jeweiligen Religion eine ,Weichenstellerfunktion‘ zukomme (3.1.). Fünftens schließlich soll aus der ungleichzeitigen Entwicklung volksgeistabhängiger Verfassungen auch ein Fortschritt im verfassungsrechtlichen Dasein der Freiheit resultieren (3.2. und 3.3.). Weil alle fünf Teilargumente den rechtsphilosophischen Rahmen des (inneren und äußeren) Staatsrechts überschreiten und geisttheoretische Reflexionen einbeziehen, sollte man zunächst fragen, welche allgemeinen Bezüge sich zwischen dem Weltgeschichtskapitel der Grundlinien und der Geistphilosophie

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2. Annäherung an Hegels Konzept der Weltgeschichte

der Enzyklopädie feststellen lassen (2.2.). Außerdem ist zu klären, mittels welchen spekulativ-logischen Explikationsmittels die philosophische Weltgeschichte die Beziehung zwischen Volksgeistern und Weltgeist zu beschreiben sucht (2.3.).

2.2. Die Weltgeschichte als ,Weltgericht‘ Das Vorlesungsmanuskript der Rechtsphilosophie von 1820 ist von Hegel selbst in den Jahren 1821 bis 1825 mit Notizen versehen worden, die die einzelnen Abschnitte mit erläuternden Überschriften betiteln.151 Diese Überschriften geben wichtige Hinweise auf die Themen der Paragraphen und Paragraphengruppen sowie ihre jeweiligen Kernaussagen. Der Text ist in vier Teile untergliedert: Der erste subsumiert die §§ 341 bis 343 unter den Titel „Die Idee der Weltgeschichte“, der zweite benennt in den §§ 344 bis 348 die „Träger der weltgeschichtlichen Entwicklung“, der dritte Abschnitt behandelt „Anfang und Ziel der Geschichte“ und der vierte schließlich skizziert, beginnend mit § 353, den „Gang der Geschichte“. Die Gruppe der §§ 341 bis 343 der Grundlinien will zeigen, daß es trotz aller offensichtlichen Parallelen verfehlt wäre, die Geschichte des Politischen als Analogon der Naturgeschichte zu begreifen. Die Geschichte des Staats(rechts) falle nämlich nicht in den Zuständigkeitsbereich der theoretischen Vernunft, sondern in den der praktischen Vernunft, d. h. der Theorie des Geistes. Folglich sei die Geschichte des Staats(rechts) als kulturgeschichtlicher Selbstbewußtwerdungsprozeß darzustellen, innerhalb dessen die menschlichen Akteure zunehmend ihr Wesen, die Freiheit, erkennen. Spezifisch für diese Art Prozeß ist vor allem, daß die Beziehung des Geistes auf Anderes als (vermittelte) Selbstbeziehung gedacht werden kann, so daß der Geist „selbst gegenständlich ist und im Anderen sich als sich selbst anschaut“. Wer die Behauptung aufstellt, die Weltgeschichte wäre als Geist-Prozeß dechiffrierbar, verpflichtet sich, zu zeigen, daß sie ein Selbstbewußtsein hat, das seine „Gegenständlichkeit in sich schließt“. Wenn die Behauptung eingelöst werden soll, daß das spekulative Geist-Modell die Struktur der Weltgeschichte auf nicht-zirkuläre Weise erklären kann, dann muß die Weltgeschichte als „ein Subjektives für ein Objektives und Objektives für ein Subjektives“152 gedacht werden. Dies bedeutet, die Geschichte wäre als ein komplexer Prozeß darzustellen, der aus Momenten sowohl der Entzweiung als auch der Vereinigung des Entzweiten besteht und dessen Substanz die Idee der Freiheit ist. Gelingt dies, dann wäre die Verwendung des theoretischen Konstruktes ,Geist‘ im nachhinein gerechtfertigt. 151

Vgl. Ilting (1973), Bd. 2, S. 805 ff., hier 805. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I (im folgenden zitiert als „Rel. I“), in: Werke, Bd. 16, S. 71. 152

2.2. Die Weltgeschichte als ,Weltgericht‘

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Der schlechterdings „allgemeine Geist“ wäre insofern absolut, als in ihm alles Außereinandersein aufgehoben wäre. Er wäre, anders als der endliche menschliche Verstand, in der Lage, Ereignisse, die für uns nacheinander aufträten, zugleich anzuschauen und im Raum getrennte Orte zusammen wahrnehmen.153 Aus dieser hypothetischen Totalperspektive ließe sich das Ganze der Weltgeschichte überschauen und das bewegende Prinzip in den Ereignissen erkennen, ohne daß die aus unserer jeweiligen Standortgebundenheit resultierenden Wahrnehmungsverzerrungen einträten. Für uns, die wir notwendigerweise diachron wahrnehmen und denken, existiert der absolute Geist allerdings nicht als solcher, sondern nur in besonderen Elementen, die sich je nach ihrer Natur bestimmter Darstellungsmedien bedienen, die unseren Rezeptionsmöglichkeiten korrespondieren: „Das Element des Daseins des allgemeinen Geistes, welches in der Kunst Anschauung und Bild, in der Religion Gefühl und Vorstellung, in der Philosophie der reine, freie Gedanke ist, ist in der Weltgeschichte die geistige Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfange von Innerlichkeit und Äußerlichkeit“, d. h. die Freiheit.“154 In einem ersten Schritt unterscheidet § 341 die eigentümliche Art, wie sich die Idee sittlicher Freiheit in der politischen Weltgeschichte realisiert von anderen Manifestationsweisen des absoluten Geistes. Das Absolute, die Idee, die Wahrheit,155 der „allgemeine Geist“ oder Gott156 hat Dasein als Kunst im „Element“157 der Anschauung und Bild, als Religion im Element des Gefühls und der Vorstellung und in der Philosophie im Element des Denkens sowie in der Weltgeschichte im Element des sittlichen Geistes, der alle Formen des Be-

153 Bei Kant ist der Begriff des „intellectus archetypus“ bzw. des „intuitiven Verstandes“ unverzichtbar, um die Besonderheiten des „Verhältnis unseres Verstandes zur Urteilskraft“ aufzuklären. Dies ermöglicht uns auch eine „gewisse Zufälligkeit der Beschaffenheit des unsrigen“ einzusehen und „als Eigentümlichkeit unseres Verstandes, zum Unterschiede von anderen möglichen“ zu erkennen; vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 77, in: AA, Bd. V, S. 405 ff. „Nun können wir uns aber auch einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der unsrige discursiv, sondern intuitiv ist, vom Synthetisch-Allgemeinen (der Anschauung eines Ganzen als eines solchen) zum Besondern geht“; vgl. ebd., S. 407. Zum Begriff des intuitiven Verstandes vgl. auch Kant, Vorlesungen über die philosophische Religionslehre, hg. v. Karl Heinrich Ludwig Pölitz, 2. Aufl., Leipzig 1830, S. 105 f. 154 Hegel, Grundlinien, § 341, in: Werke, Bd. 7, S. 503 (Herv. i. Orig.). 155 Hegel, Enz. I, § 213, in: Werke, Bd. 8, S. 367 f. 156 Zum Verhältnis der Begriffe ,Wahrheit‘, ,Weltgeist‘, ,allgemeiner Geist‘ und ,Gott‘, die allesamt unter den Oberbegriff der Idee fallen sollen, vgl. Pirmin StekelerWeithofer, Vorsehung und Entwicklung in Hegels Geschichtsphilosophie, in: Rüdiger Bubner/Walter Mensch (Hg.), Die Weltgeschichte – das Weltgericht?, Stuttgart 2001, S. 141–168, 146 ff. 157 Der Ausdruck „Element“ meint hier ein „Medium, das die natürliche Sphäre der Aktivität des in ihm Befindlichen bildet“; vgl. Hans Friedrich Fulda, Dialektik in Konfrontation mit Hegel, in: ders./Hans Heinz Holz/Detlev Pätzold (Hg.), Perspektiven auf Hegel, Köln 1991, S. 13; vgl. Hegel, ViG, S. 127.

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2. Annäherung an Hegels Konzept der Weltgeschichte

griffs und der Realität der Freiheit sowie ihrer Verhältnisse untereinander umfaßt. Die Praxisformen158 historisch vorfindlicher Gesellschaften sind demnach auf ihre sittlichen Prinzipien hin zu untersuchen, wobei die objektiv-institutionellen Komponenten ebenso wie die subjektiven Gestalten der Sittlichkeit sowie deren Wechselverhältnis zu berücksichtigen sind. Diese Analyse kann aber unter der Voraussetzung, daß die Weltgeschichte ein Geist-Prozeß ist, keine wertneutrale Beschreibung historischer Gestalten der Sittlichkeit sein, sondern muß als vergleichendes Resümée wertenden Charakter besitzen. Der schon in § 340 eingeführte Begriff des Weltgeistes, soll diesen Wertungsmaßstab bezeichnen, der als übergeordnete ,urteilende‘ oder auch ,richtende‘ Gattung159 von den besonderen Realisationen der sittlichen Idee in den Volksgeistern zu unterscheiden sei. Insofern sei die Weltgeschichte „ein Gericht, weil in seiner an und für sich seienden Allgemeinheit das Besondere, die Penaten, die bürgerliche Gesellschaft und die Völkergeister in ihrer bunten Wirklichkeit nur als Ideelles sind und die Bewegung des Geistes in diesem Elemente ist, dies darzustellen“.160 Die Weltgeschichte lasse sich insofern mit einem, freilich langwierigen Gerichtsverfahren vergleichen,161 als in ihrem Verlauf der von besonderen Völkern erhobene Anspruch darauf, daß ihre Gesellschaftsordnung, ,Künste‘ und Sitten substantiell, maßstabsetzend oder gar allgemeingültig wären, regelmäßig widerlegt wird. Da der einzelne Volksgeist nicht in seiner jeweiligen mannigfaltigen Bestimmtheit oder konkreten Individualität,162 sondern allenfalls „als Ideelles“, d. h. hier als begrifflich abstrahiertes Sittenprinzip, Moment der Selbstbewegung 158

Vgl. Stekeler-Weithofer (2001), S. 147. Vgl. Hegel, Grundlinien, § 259, in: Werke, Bd. 7, S. 404 f.: „Die Idee des Staats [. . .] ist [. . .] die allgemeine Idee“ der sittlichen Freiheit „als Gattung und absolute Macht gegen die individuellen Staaten, der Geist, der sich im Prozesse der Weltgeschichte seine Wirklichkeit gibt.“ 160 Vgl. ebd., § 341, in: Werke, Bd. 7, S. 503 (Herv. i. Orig.). 161 Vgl. Adriaan Peperzak, Selbsterkenntnis des Absoluten. Grundlinien der Hegelschen Philosophie des Geistes, Stuttgart 1987, S. 72: „Die Weltgeschichte urteilt und verurteilt alle einzelnen Völker eins nach dem anderen. Sie realisiert ein Allgemeines, das sich zwar des menschlichen Wollens und Tuns bedient, aber zugleich über alle beschränkten Geister hinausgeht, ohne sich mit irgendeinem einzigen Volksgeist endgültig zu identifizieren. [. . .] Was der Geist letzten Endes ist, wird erst in der Philosophie des absoluten Geistes entschieden. Die Offenbarung des Geistes im Bereich des objektiven Geistes ist eine unvollständige und endliche.“ 162 Vgl. Hegel, ViG, S. 120: „Wir haben, wenn wir von einem Volke sprechen, die Mächte zu explizieren, in denen sein Geist sich besondert. Diese besondern Mächte sind die Religion, Verfassung, Rechtssystem mit dem bürgerlichen Rechte dazu, Industrie, Gewerbewesen, Künste und Wissenschaft und die militärische Seite, die Seite der Tapferkeit, wodurch das eine Volk sich von dem andern unterscheidet. In unsere allgemeine Betrachtung gehört vorzugsweise der Zusammenhang dieser unterschiedenen Momente. Alle Seiten, die sich in der Geschichte eines Volkes hervortun, stehen in der engsten Verbindung.“ 159

2.2. Die Weltgeschichte als ,Weltgericht‘

53

des Weltgeistes sein könne, sei die Parallele zum natürlichen Gattungsprozeß163 naheliegend: Wie sich die „substantielle Allgemeinheit“164 der Gattung gegenüber den endlichen Individuen darin erweise, daß diese in jener „als der Macht untergehen“,165 so scheine jeder individuelle Volksgeist in seiner Gattung, dem allgemeinen sittlichen Geist, spurlos zu verschwinden.166 Hegel warnt indes davor, die offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen natürlichen und kulturgeschichtlichen Gattungsprozessen jedenfalls in Hinblick auf das Verhältnis zwischen Volksgeistern und Weltgeist überzubewerten. Er begründet dies in den §§ 342 und 343 mit einem zweistufigen Argument: Zunächst unterscheidet er die beiden Typen des Gattungsprozesses hinsichtlich verschiedener Arten der Notwendigkeit des ,Urteils‘ über die Individuen. Diese Differenz wird anschließend aus der vernünftigen Natur des kulturhistorischen Gattungsprozesses erklärt. Was sich in der Weltgeschichte im Element der Volksgeister darstellt, seien nämlich die inneren, verborgenen Möglichkeiten der praktischen Vernunft. Diese sind mithin nicht, wie im Fall der natürlichen Gattungen, bei jedem ihrer Individuen immer schon verwirklicht, sondern sie ,entfalten‘ sich allererst in der Zeit.167 Außerdem werde der entwicklungsgeschichtliche Zusammenhang der Volksgeister, deren Prinzipien als mehr oder minder vernünftige unterscheidbar sein sollen, durch die Selbsterkenntnis der sittlichen Vernunft in ihren endlichen Manifestationen allererst hergestellt bzw. begrifflich konstruiert, während für die Feststellung der Genealogie natürlicher Arten empirisches Wissen genügt. Unter dem Titel „Die Vernünftigkeit der Geschichte“ erläutert § 342 die Spezifik des weltgeschichtlichen Prozesses in Abgrenzung zum natürlichen „Proceß der Gattung“:168 Die Weltgeschichte sei „ferner nicht das bloße Gericht seiner 163 Gemeint sind ,vorreflexive‘ Prozesse der vegetativen oder sexuellen Selbstreproduktion pflanzlicher und tierischer Gattungen, in denen sich die Individuen als Gattungswesen verhalten, sich aber weder ihres reproduktiven Tuns bewußt sind, noch sich (im Fall der animalischen Fortpflanzung) gegenseitig als Angehörige desselben Allgemeinen erkennen und anerkennen; vgl. Hegel, Logik II, S. 728, ders., Enz. II, § 344, in: Werke, Bd. 9, S. 662, ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft im Grundrisse. Dritter Teil (im folgenden zitiert als „Enz. III“), § 381, in: Werke, Bd. 10, S. 25. 164 Hegel, Enz. I, § 220, in: Werke, Bd. 8, S. 376. 165 Ebd., § 221, in: Werke, Bd. 8, S. 376; vgl. auch ebd., Zus. S. 376 f.: „Das Lebendige stirbt, weil es der Widerspruch ist, an sich das Allgemeine, die Gattung zu sein und doch unmittelbar nur als Einzelnes zu existieren. Im Tode erweist sich Gattung als die Macht über das unmittelbar Einzelne.“ 166 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 341, in: Werke, Bd. 7, S. 503. 167 Die Geschichte wird nach dem Modell der Entelechie gedeutet, d. h. als ein Prozeß verstanden, „in dem das, was der Mensch zunächst nur an sich ist, vermittels seines Willens und Bewußtseins erst wirklich werden muß“; vgl. Franz Hespe, „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“, in: Hegel-Studien 26 (1991), S.177–192, 182. 168 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Heidelberger Enzyklopädie (1817), Vorlesungsnotiz zu § 448, in: Ilting (1973), Bd. 1, S. 205.

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2. Annäherung an Hegels Konzept der Weltgeschichte

[des Geistes] Macht, d. i. die abstrakte und vernunftlose Notwendigkeit eines blinden Schicksals“.169 In der Naturgeschichte behaupte sich nämlich das Allgemeine (die Gattung mit ihren – weitgehend – konstanten naturgesetzlichen Eigenschaften) gegenüber den Individuen als lediglich äußere Notwendigkeit bzw. Zufall. Das „Ansich der Natur sind die Gesetze der Natur. Die Natur bleibt ihren Gesetzen treu, tritt nicht aus ihnen heraus; das ist ihr Substanzielles, – sie ist eben damit in der Notwendigkeit.“170 Wenn dagegen die Weltgeschichte ,distributive Gerechtigkeit‘ gegenüber den einzelnen Volksgeistern übe, indem sie darüber ,entscheidet‘, welcher von ihnen das jeweils avancierteste Sittenprinzip enthalte, dann mache sich dieses ,höhere Recht der Geschichte‘ jedenfalls nicht als äußere und zufällige Gewalt geltend,171 sondern als volksgeistimmanente Notwendigkeit. Diese offenbart sich jedoch dem jeweiligen Volksgeist aufgrund des relativ abgeschlossenen ,Verstehenshorizontes‘, der seinem Standpunkt eigen ist und unüberwindbare ,Vorurteile‘ impliziert,172 allenfalls als äußere Teleologie, die bloße Mittel externen Zwecken gegenüberstellt. Allererst vom spekulativen epistemischen Standpunkt des Weltgeistes kann die scheinbar bloß äußerlich verbundene Reihe von Volksgeistern als durch einen „immanenten Zweck“ strukturiert gedacht werden,173 ohne daß man freilich gezwungen wäre, das ordnende Wirken eines externen Welturhebers unterstellen zu müssen. Auf das theoretische Konstrukt der ,Vorsehung‘ kann nach Hegel insofern verzichtet werden, als sich die Volksgeister untereinander, aber auch die Volksgeister und der Weltgeist nicht schlechterdings fremd sind, sondern ihrer Substanz nach derselben Gattung angehören: Weil der Geist „an und für sich Vernunft und ihr Für-sich-Sein im Geiste Wissen ist, ist sie [die Weltgeschichte] die aus dem Begriffe nur seiner Freiheit notwendige Entwicklung der Momente der Vernunft und damit seines Selbstbewußtseins und seiner Freiheit, – die Auslegung und Verwirklichung des allgemeinen Geistes.“ Insofern nämlich der allgemeine sittliche Geist nicht nur der Möglichkeit nach, sondern (mehr oder minder) auch in seiner mannigfaltigen Wirklichkeit der besonderen Volksgeister praktische Vernunft ist, die sich selbst ihre eigenen 169

Hegel, Grundlinien, § 342 (Herv. i. Orig.), in: Werke, Bd. 7, S. 504. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, II. Teil (im folgenden zitiert als „Rel. II“), in: Werke, Bd. 17, S. 252. 171 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Homeyer, § 135, S. 342: „Einerseits erscheint die Geschichte als Werk des Zufalls – äußere Geschichte – wo Willkür und äußere Ursache die Begebenheiten herbeiführen“; vgl. dazu Hans Friedrich Fulda, Geschichte, Weltgeist und Weltgeschichte bei Hegel, in: Hans Heinz Holz (Hg.), Annalen der internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie – Societas Hegeliana, Köln 1986, S. 58–105, 73. 172 Vgl. Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 255 ff. 173 Vgl. Fulda (1986), S. 78. 170

2.3. Die Weltgeschichte als Geistesgeschichte

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Gesetze gibt, dies (mehr oder minder deutlich) von sich weiß und dadurch Geist wird, verlaufe die Weltgeschichte, wie sie sich der philosophischen Perspektive darbietet, nicht zufällig. Sie sei als in sich sinnvolle, im Endlichen stattfindende Entfaltung des (als Vernunft gedachten) Absoluten prinzipiell für uns erkennbar.174 Folglich sei die historische Notwendigkeit nicht naturgesetzlich, sondern teleologisch zu denken: Naturgesetzliche Erklärungen unterstellten lediglich eine „äußere Notwendigkeit“ in der Abfolge von Ereignissen. Die „Konkurrenz der Umstände ist das Erzeugende; es kommt etwas anderes heraus. Der Zweck ist dagegen das Bleibende, Treibende, Tätige, sich Realisierende. Der Begriff der äußeren Notwendigkeit und der Zweckmäßigkeit stehen gegeneinander.“175 Naturgeschichte und Weltgeschichte sind daher nur auf den ersten Blick analoge Prozeßtypen. Während die natürlichen Gattungen in der Abfolge der Generationen dieselben blieben, bewirke die Sukzession der je dominierenden individuellen Volksgeister einen qualitativen Fortschritt in der Gattung, des allgemeinen Selbstbewußtseins der sittlichen Freiheit. Die Geschichte habe einen Endzweck und deswegen sei der Weltgeist in einem ,frühen‘ Stadium seiner Entwicklung notwendig ein anderer als in einem ,späten‘. In der Sphäre des Weltgeistes stehe nämlich das Allgemeine in einer internen Beziehung zu seinen Individuen, die, insofern jenes sich in diesen reflektiert, nicht austauschbar sind. Der Weltgeist gewinne seinen Inhalt allererst vermittels seiner existierenden Spezifikationen und ihrer qualitativen Varianz in Raum und Zeit. Natürliche Gattungen dagegen besäßen invariante Eigenschaften, die durch die Abfolge der Generationen von Individuen keine qualitative Modifikation erfahren. Wo die Natur nur gleichgültige Exemplare einer Gattung kenne, seien in der Geschichte der politischen Sittlichkeit die Individuen des allgemeinen Geistes seine Momente, auf die es ankommt. Die „Erhaltung der [natürlichen] Gattung ist so nur die gleichförmige Wiederholung derselben Weise der Existenz. Mit der geistigen Gestalt ist es anders; hier geht die Veränderung nicht bloß an der Oberfläche, sondern im Begriffe vor. Der Begriff selber ist es, der berichtigt wird. In der Natur macht die Gattung keine Fortschritte, im Geist aber ist jede Veränderung Fortschritt.“176

2.3. Die Weltgeschichte als Geistesgeschichte Die geschichtliche Selbstexplikation des sittlichen Weltgeistes sei nämlich als Spezialfall der Auslegung des Absoluten in der Sphäre der Endlichkeit aufzufassen:177 „Der Weltgeist offenbart sich“ nicht in der Kunst oder der Religion, 174 175 176 177

Hegel, Grundlinien, § 342 (Herv. i. Orig.), in: Werke, Bd. 7, S. 504. Hegel, Rel. II, in: Werke, Bd. 17, S. 32 f. Hegel, ViG, S. 153. Vgl. Hegel, Grundlinien, § 314, in: Werke, Bd. 7, S. 482.

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2. Annäherung an Hegels Konzept der Weltgeschichte

sondern in der „Geschichte und legt seine Momente darin aus“,178 die seinerseits das Material von „Gedächtnis stiftenden Erfahrungsprozessen“ sind oder doch prinzipiell sein können.179 Die postulierte ,Selbstauslegung‘ des allgemeinen sittlichen Geistes in seine(n) Besonderungen, die Volksgeister, soll sich im Medium der Geschichte als Prozeß seiner Verwirklichung, Besonderung und Verendlichung vollziehen, die den zunächst abstrakt-allgemeinen Inhalt des Freiheitsbegriffs vermittels seiner Erscheinungen in Zeit und Raum allmählich konkretisieren:180 Der „Volksgeist ist so der allgemeine Geist in einer besondern Gestaltung, über die er an sich erhaben ist, die er aber hat, insofern er existiert: mit dem Dasein, mit der Existenz tritt die Besonderheit ein.“181 Einerseits kann der allgemeine Geist, insofern er eine Idee sein soll, kein bloßer Begriff sein, sondern dieser muß ebenso existieren, d. h. etwas Reelles muß ihm auf zurechenbare Weise korrespondieren.182 Insofern der Weltgeist unter den Oberbegriff der Idee fällt, muß er in die Sphäre des Einzelnen, Reellen und mithin (im weiteren Sinne) Natürlichen eintreten. Genauere Aussagen darüber, was unter einer ,Idee‘ zu verstehen ist, finden sich aber nicht im Weltgeschichtskapitel, sondern anderswo. Beispielsweise heißt es in der Ästhetik: „Wie aber der Begriff nicht ohne seine Objektivität wahrhaft Begriff ist, so ist auch die Idee nicht ohne ihre Wirklichkeit und außerhalb derselben wahrhaft Idee. Die Idee muß deshalb zur Wirklichkeit fortgehen [. . .]. So ist die Gattung z. B. nur erst als freies konkretes Individuum wirklich; das Leben existiert nur als einzelnes Lebendiges, das Gute wird von den einzelnen Menschen verwirklicht, und alle Wahrheit ist nur als wissendes Bewußtsein, als für sich seiender Geist. Denn nur die konkrete Einzelheit ist wahrhaft und wirklich, die abstrakte Allgemeinheit und Besonderheit nicht. [. . .] Die Einheit der Idee und ihrer Wirklichkeit deshalb ist die negative Einheit der Idee als solcher und ihrer Realität, als Setzen und Aufheben des Unterschieds beider Seiten. Nur in dieser Tätigkeit ist sie affirmativ fürsichseiende, sich auf sich beziehende unendliche Einheit und Subjektivität“.183

178 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rechtsphilosophie. Die Vorlesung von 1819/20, hg. v. Dieter Henrich (im folgenden zitiert als „Rechtsphilosophie Henrich“), Frankfurt am Main 1983, S. 282. 179 Vgl. Hans Friedrich Fulda, Zur Einführung, in: Rüdiger Bubner/Walter Mesch (Hg.), Die Weltgeschichte als Weltgericht?, Kolloquium III: Ontologie als Schicksal, Stuttgart 2001, S. 170. 180 Vgl. Peperzak (1987), S. 29: „Als realisierter Begriff ist der Geist das Allgemeine, das sich mittels seiner Selbstdifferenzierung vereinzelt. Die Vereinzelung geschieht in einem besonderen Dasein, in dem die Allgemeinheit sich realisiert.“ 181 Hegel, ViG, S. 60 (Herv. v. Verf., U. T.). 182 Zum Begriff der Idee vgl. auch Theunissen (1970), S. 108: „Idee‘ ist für Hegel mehr als ,Begriff‘, sie ist der Begriff in seiner Einheit mit der Realität, als der realisierte Begriff, der die Realität restlos durchdrungen hat.“ 183 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, in: Werke, Bd. 13, S. 191.

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An anderer Stelle heißt es auch, die Idee sei „der adäquate Begriff, das objektive Wahre“,184 während diejenige „Realität, welche dem Begriffe nicht entspricht, bloße Erscheinung, das Subjektive, Zufällige, Willkürliche“ sei, mithin etwas, „das nicht die Wahrheit ist“.185 Andererseits aber soll die Substanz des allgemeinen Geistes auch im Endlichen die Freiheit bleiben.186 Der eigentliche, in den speziellen Volksgeistern nur facettenartig und ,arbeitsteilig‘187 zutage tretende Inhalt dieser Selbstauslegung des sittlichen Geistes ist die praktische Vernunft und ihre Ausgestaltungsmöglichkeiten in den Institutionen des objektiven Geistes. Der „wahrhaft konkrete Stoff“ der Weltgeschichte soll nichts anderes sein als der „Geist, der sich bestimmende und realisierende Begriff selbst, – d. i. die Freiheit.“188 Soll die Kulturgeschichte der Sitten Geist-Struktur besitzen, dann kann der Prozeß der Entwicklung des allgemeinen Geistes aber nicht nur eindimensional – als Realisierung des abstrakten Begriffs der Freiheit in spezifischen Volksgeistern und ihren Institutionen – verlaufen.189 Nur Prozesse, an denen sich zwei Bewegungskomponenten unterscheiden lassen, sollen unter den Begriff des Geistes fallen. Geist-Prozesse besitzen nämlich eine gedoppelt-komplementäre Struktur, die sich als prozessuale Einheit von Entäußerung und Erinnerung des Entäußerten beschreiben läßt. Der „Geist wird [. . .] Gegenstand, denn er ist diese Bewegung, sich ein Anderes, d. h. Gegenstand seines Selbsts zu werden und dieses Anderssein aufzuheben. Und die Erfahrung wird eben diese Bewegung genannt, worin das Unmittelbare, das Unerfahrene, d. h. das Abstrakte [. . .] sich entfremdet und dann aus dieser Entfremdung zu sich zurückgeht“.190 184

Vgl. Hegel, Logik II, in: Werke, Bd. 6, S. 463 (Herv. i. Orig.). Vgl. ebd., S. 46 (Herv. i. Orig.); vgl. Nuzzo (1995), S. 113: „Indem die Idee sich als die Einheit von Begriff und Realität dargetan hat, müssen diese beiden Seiten des Verhältnisses sich in der freien Form der Idee durchsetzen: Der der Idee immanente Begriff muß seine angemessene Objektivität erst gewinnen, wie die Objektivität sich als die durch den Begriff beseelte Realität, als ,vollkommene Objektivität‘ erweisen muß.“ 186 Vgl. Peperzak (1987), S. 28 ff. 187 Weil sich das Selbstbewußtsein des allgemeinen Geistes als Bewegung in der Zeit vollzieht, „so sind deren einzelne Momente und Stufen die Völkergeister, deren jeder aber als einzelner und natürlicher nur eine Stufe ausfüllen und nur ein Geschäft der ganzen Tat vollbringen kann“; vgl. Hegel, Heidelberger Enzyklopädie, § 449, S. 204. 188 Hegel, Enz. III, § 552, in: Werke, Bd. 10, S. 354. 189 „Der Begriff wird [. . .] erst dadurch zur Idee realisiert, daß das Allgemeine sich in einer realen Bestimmung entwickelt und zur Besonderung kommt – wobei nach Hegels Konzeption der Idee diese Besonderung des Allgemeinen identisch ist mit der Bewegung, die vom Ganzen zur Bestimmung seiner Teile leitet“; vgl. Nuzzo (1995), S. 115. 190 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1973, S. 38 f. Die strukturale Ähnlichkeit des (kollektiven) ,Geistes‘ mit dem ,Prozeß des (individuellen) Willens‘ wird gleich zu Beginn in den §§ 5–7 der Grund185

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Der Weltgeschichte kann demnach Geist-Struktur nur dann zugesprochen werden, wenn sie sich als komplementäre Einheit einer Realisierungsbewegung und einer Idealisierungsbewegung darstellen und begreifen läßt. Nur so kann die „Weltgeschichte als Prozeß der Bewußtwerdung“ durchsichtig gemacht werden.191 (a) „Die Geschichte des Geistes ist seine Tat, denn er ist nur, was er tut, und seine Tat ist, sich, und zwar hier als Geist, zum Gegenstande seines Bewußtseins zu machen, sich für sich selbst auslegend zu erfassen.“192 Die Weltgeschichte müsse sich, insofern sie ein Realisierungsprozeß sei, von natürlichen Prozessen strukturell unterscheiden lassen, in denen Qualitätswechsel lediglich als zufälliges, richtungs- oder prinzipienloses ,Übergehen von Etwas in Anderes‘193 stattfinden. Für diese Art der Veränderung sei nämlich kennzeichnend, daß die qualitative Bestimmtheit dessen, wovon (oder woraus) übergegangen wird, im Endprodukt nicht oder jedenfalls nicht notwendig gewahrt bleibt. Was die Kulturgeschichte als Geschichte des Geistes von der Naturgeschichte trenne, sei dagegen die Entwicklung der inneren Momente der Vernunft qua Spezifizierung im Äußeren. Diesem Auslegungs- und Entwicklungsprinzip entsprechend, ,gehe‘ z. B. der allgemeine Begriff der Freiheit bzw. der Subjektivität, dem als Abstraktum keine Existenz zukommen könne, nicht ,über‘ in ein qualitativ gänzlich Anderes, sondern er ,realisiere‘ seine inneren Möglichkeiten in der Äußerlichkeit,194 d. h. hier: in konkreten Rechtsordnungen und ihren je spezifilinien dargestellt: ,Wille‘ wird nicht mehr dualistisch von ,Willkür‘ geschieden, sondern als integraler Prozeß von (a) Selbstbestimmen des Inhalts des zuvor unbestimmten freien Willens, (b) tätiger Vergegenständlichung des zunächst bloß inneren Zwecks und schließlich (c) vermitteltem Begreifen beider als Momente desselben wirklichen (und nicht bloß abstrakt-innerlichen) Willens. 191 Vgl. Ilting (1973), Bd. 2, S. 806. 192 Hegel, Grundlinien, § 343, in: Werke, Bd. 7, S. 504 (Herv. i. Orig.). 193 „Etwas wird ein Anderes, aber das Andere ist selbst ein Etwas, also wird es gleichfalls ein Anderes, und so fort ins Unendliche“; vgl. Hegel, Enz. I, § 93, in: Werke, Bd. 8, S. 198. „Diese Unendlichkeit ist die Schlechte oder negative Unendlichkeit, indem sie nichts ist als die Negation des Endlichen, welches aber ebenso wieder entsteht, somit ebensosehr nicht aufgehoben“ – d. h. aufbewahrt – „ist, – oder diese Unendlichkeit drückt nur das Sollen des Aufhebens des Endlichen aus“; vgl. ders., Enz. I, § 94, in: Werke, Bd. 8, S.199. Natürliche Prozesse des Übergehens unterscheiden sich von Geistprozessen dadurch, daß sie der Sphäre des Endlichen, Disparaten und Zufälligen verhaftet bleiben. Prozessen rückkoppelnder Selbsteinwirkung, die, obwohl sie in der außermenschlichen Natur stattfinden, dennoch mehr oder minder nach dem Muster der teleologischen Tätigkeit beschrieben werden können, mangelt nach Hegel jedenfalls die Qualität der Reflexion, d. h. des Selbstbewußtseins und der Selbstbestimmung. „Dieser Prozeß ins Unendliche ist nun aber nicht das wahrhaft Unendliche, welches vielmehr darin besteht, in seinem Anderen zu sich selbst zu kommen“ (ders., Enz. I, § 94, Zus., in: ebd.), und nicht bloß, wie in der ,erscheinenden Dialektik‘, ohne reflexive Vermittlung in es überzugehen oder ,umzuschlagen‘. 194 Vgl. Hegel, Enz. III, § 383, Zus., in: Werke, Bd. 10, S. 28: „Der Geist offenbart daher im Anderen nur sich selber, seine eigene Natur; diese besteht aber in der Selbst-

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schen Freiheitsbegriffen. Deswegen könne man nicht umhin, dieser Art Prozeß einen wie immer zu spezifizierenden (nichtintentionalen) Zweckmäßigkeitsoder Tätigkeitscharakter zuzusprechen. (b) Hegel deutet die volksgeistvermittelte Realisationsbewegung des Weltgeistes zunächst als teleologische Tätigkeit.195 Denn dieses Praxismodell bietet immerhin den Vorteil, Ganzes und Teil, Inneres und Äußeres, Mögliches und Wirkliches, subjektive und objektive Komponenten, Zweckbegriffe und realisierte Zwecke in einer übergreifenden Handlungstheorie zusammenzubinden:196 So heißt es etwa, die Tätigkeit sei die „Mitte des [praktischen] Schlusses, dessen eines Extrem das Allgemeine, die Idee ist, die im inneren Schacht des Geistes ruht [als bloß subjektiver Zweck], das andere ist die Äußerlichkeit überhaupt, die gegenständliche Materie. Die Tätigkeit ist die Mitte,“ die den Begriff und seine Realität zusammenschließende Vermittlung, „welche das Allgemeine und Innere übersetzt in die Objektivität.“197 Zwischen dem begrifflich antizipierten Zielzustand und dem erreichten Ziel vermittelt die zweckmäßige Tätigkeit. Die Gesamtbewegung, die einen subjektiven mit dem ihm entsprechenden objektiven Zweck verbindet, sei mit dem Begriff des „Geistes“ gemeint, denn dieser „ist nur das, wozu er sich macht. Dies Hervorbringen dessen, was an sich ist, ist das Setzen des Begriffs in die Existenz. Der Begriff muß sich realisieren“.198 Das tätigkeitsvermittelte Verwirklichen von Möglichkeiten ist das Merkmal, das die praktische Vernunft bzw. den Geist insgesamt auszeichnen soll: „Das Erste, was wir bemerken, ist, daß das, was wir Prinzip, Endzweck, Bestimmung, oder was an sich der Geist [ist] [. . .] genannt haben, – nur ein Allgemeines, Abstraktes ist. Prinzip, so auch Grundsatz, Gesetz ist ein Allgemeines, Inneres, das als solches, so wahr es auch an ihm sei, nicht vollständig wirklich ist. Zwecke, Grundsätze usf. sind in unsern Gedanken erst in unserer innern Absicht oder auch in den Büchern, aber noch nicht in der Wirklichkeit; oder was an sich erst ist, ist eine Möglichkeit, ein Vermögen, aber noch nicht aus seinem Innern zur Existenz gekommen. Es muß ein zweites Moment für ihre Wirklichkeit hinzukommen, und dies ist die Betätigung, Verwirklichung, und deren Prinzip ist der Wille, die Tätigkeit des Menschen in der Welt überhaupt. Es ist nur durch diese Tätigkeit, daß jene Begriffe, an sich seiende Bestimmungen realisiert, verwirklicht werden.“199 offenbarung. Das Sichselbstoffenbaren ist daher selbst der Inhalt des Geistes und nicht etwa nur eine äußerlich zum Inhalt desselben hinzukommende Form; durch seine Offenbarung offenbart folglich der Geist nicht einen von seiner Form verschiedenen Inhalt, sondern seine den ganzen Inhalt des Geistes ausdrückende Form, nämlich seine Selbstoffenbarung. Form und Inhalt sind also im Geiste identisch.“ 195 Vgl. Bautz (1988), S. 65 f. 196 Die teleologische Tätigkeit läßt sich als Entsprechung des ,wesentlichen Verhältnisses‘ der Wissenschaft der Logik verstehen; vgl. dazu Fulda (1986), S. 69 f. 197 Hegel, Phil. d. Gesch., in: Werke, Bd. 12, S. 42. 198 Vgl. Hegel, Rel. I, in: Werke, Bd. 16, S. 263 f. 199 Vgl. Hegel, ViG, S. 81 (Herv. i. Orig.).

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Überträgt man diese Überlegung auf das Weltgeschichtskapitel der Grundlinien, heißt das: Wenn sich das Potential des zuerst völlig abstrakten allgemeinen Geistes (d. h. des Freiheitsbegriffs) in den Volksgeistern realisieren und ,auswickeln‘ muß, um überhaupt einen bestimmten Inhalt zu gewinnen, dann entspricht diese Bewegung bzw. Bewegungsphase einer Teilstruktur des ,praktischen Schlusses‘ oder des ,Prozesses des Willens‘.200 Auch dessen erste Phase besteht in einem besondernden, tätigen ,Übersetzen‘ eines zuvor unentfalteten, inneren und noch ganz abstrakten Zwecks (der sittlichen Freiheit) in äußere, einzelne Realität (als der entfaltete und zugleich bestimmte Inhalt jenes abstrakten Ersten). In Hegels Sicht fällt damit die Weltgeschichte unbezweifelbar unter den Begriff der Idee. Darunter sei ein Begriff zu verstehen, „der sich selbst zum Gegenstand hat, d. h. der Dasein, Realität, Objektivität hat, der nicht mehr das Innere oder Subjektive ist, sondern sich objektiviert, dessen Objektivität aber zugleich seine Rückkehr in sich selbst ist oder – insofern wir den Begriff Zweck nennen – der erfüllte, ausgeführte Zweck, der ebenso objektiv ist.“201 Der durch praktischen Vernunftgebrauch in Gang gesetzte Prozeß der verendlichenden Objektivierung eines abstrakten (inneren) Begriffs (als eines Möglichkeitsspektrums) mache aber nur erst das eine, allerdings notwendige Moment der Geist-Struktur aus: ihre Auslegungs- oder Realisierungskomponente, die man, insofern sie als Selbstentäußerung des Allgemeinen im Besonderen gedacht wird, als einstufige Reflexion oder „Selbstmanifestation“202 bezeichnen könnte.203 In der Religionsphilosophie wird diese notwendige Bestimmung, die Geist-Prozesse von anderen ,Tätigkeiten‘ scheidet, „Offenbarung“ genannt. So ist es nach Hegel die Lehre von der Natur als Werk und Offenbarung Gottes, die die monotheistischen Schöpfungsreligionen, besonders aber das Christentum, von anderen Gotteskonzeptionen, etwa die verschiedenen Spielarten des Pantheismus, scheidet. Nun erst sei es möglich geworden, die Realität als Geist zu verstehen, „der für den Geist ist, der sich selbst zum Gegenstand hat, und so ist diese Religion die offenbare Religion; Gott offenbart sich. Offenbaren heißt dies Urteil der unendlichen Form. Sich bestimmen, sein für ein Anderes; diese Sichmanifestieren gehört zum Wesen des Geistes selbst. Ein Geist, der nicht offenbar ist, ist nicht Geist.“204 Dieser Realisierungsprozeß ist aber noch nicht das, was den Geist im besonderen von der Idee im allgemeinen unterscheidet. Denn auch für diese ist die Praxis der entfaltenden und zugleich realisierenden ,Übersetzung‘ eines zuvor unentfalteten Inneren als eines nur erst Möglichen typisch: 200 201 202 203 204

Vgl. Hegel, Grundlinien, §§ 5–7, in: Werke, Bd. 7, S. 49 ff. Hegel, Rel. II, in: Werke, Bd. 17, S. 189. Vgl. Peperzak (1987), S. 33. Hegel, Grundlinien, § 343, in: Werke, Bd. 7, S. 504. Hegel, Rel. II, in: Werke, Bd. 17, S. 193.

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„Dies Moment der abstrakten Tätigkeit ist als das Bindende, als der medius terminus zwischen der allgemeinen Idee, die im innern Schachte des Geistes ruht, und dem Äußern zu betrachten, als das, was die Idee aus ihrer [unentfalteten] Innerlichkeit in die Äußerlichkeit setzt. Die Allgemeinheit, indem sie herausgesetzt wird, wird zugleich vereinzelt. Das Innere für sich wäre ein Totes, ein Abstraktes; durch die Tätigkeit wird es ein Daseiendes. Umgekehrt erhebt die Tätigkeit die leere Objektivität zur Erscheinung des Wesens, das an und für sich ist.“205

Dementsprechend unterscheidet die Wannenmann-Nachschrift z. B. „drei Stufen“ der Idee des freien Willens: „Der freie Wille ist zuerst abstrakt und unmittelbar und ebenso sein Dasein oder Realisation [. . .]. Die zweite [Sphäre] ist, daß diese beiden Momente, der Wille in seinem Begriff und sein Dasein sich in selbständige Extreme entzweien [. . .]. Die dritte [Sphäre] ist die Einheit dieser beiden [. . .] Daß dies drei Stufen sind, geht aus der Idee hervor, das erste ist immer das Abstrakte, der freie Wille in seinem Begriff [. . .]. Die zweite Sphäre ist die Sphäre [. . .] der Reflexion, der Differenz, des Unterschieds, des Auseinandergehens. [. . .] Das dritte ist die Auflösung dieses Widerspruchs, die Sittlichkeit, der Staat“.206

(c) Diese als gedachte Selbstbestimmung im Endlichen ist aber nur die notwendige, nicht schon die hinreichende Bedingung dafür, daß die entsprechende Praxisweise unter den Begriff des Geistes fallen würde. Die differentia specifica des Geistprozesses, die ihn vom Handlungstyp der teleologischen Tätigkeit ebenso endgültig separiert wie von der logischen Kategorie der Idee, ist der Umstand, daß in Geist-Prozessen eine zweistufige Reflexion geschieht. „Der, formell ausgedrückt, von neuem dies Erfassen erfassende und, was dasselbe ist, aus der Entäußerung in sich gehende Geist ist der Geist der höheren Stufe gegen sich, wie er in jenem ersteren Erfassen stand“.207

Diese zweite ,Offenbarung‘ ist eine, im Verhältnis zur ,Realisierung‘ (als der elementaren Offenbarung) höherstufige, auf Selbsterkenntnis seiner Prinzipien abzielende Reflexion. Ihr Subjekt sind die endlichen Besonderungen des Allgemeinen und ihre Medien sind die den verschiedenen Sphären des absoluten Geistes eigentümlichen. Diese Offenbarung zweiter Stufe macht das andere, über die Struktur der einfachen Reflexion hinausgehende Moment jedes Geist-Prozesses aus. Ent-Äußerung des allgemeinen Begriffs in die ,Natur‘ (verendlichende Realisierung) einerseits und Er-Innerung der äußeren Realität des Begriffs (Idealisierung der endlichen Realisierungen) andererseits sind somit die beiden unselbständigen Aspekte208 der insgesamt triadisch strukturierten 205

Vgl. Hegel, ViG, S. 93. Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 10, S. 13. 207 Hegel, Grundlinien, § 343, in: Werke, Bd. 7, S. 504. 208 Der aus Realisierung und Idealisierung bestehende Kompositcharakter des Prozesses des Geistes strukturiert die Theorie des Geistes auch auf der Makroebene. Er bindet die drei Disziplinen der philosophischen Enzyklopädie zusammen: „Im Offenbaren des Geistes werden zwei Stufen unterschieden, und diese werden in ein Verhält206

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2. Annäherung an Hegels Konzept der Weltgeschichte

Gesamtbewegung des Geistes.209 Der gedoppelte, komplementäre Prozeß des Sich-Entäußerns und des (anschauenden, fühlenden, vorstellenden oder denkenden)210 Wiederaneignens-dieser-Entäußerung-als-seiner211 macht das eigentümliche Prinzip des Geistes aus212 und die spekulative Geschichtsphilosophie konstruiert die notwendige Einheit beider Prozeßkomponenten als qualitatives Fortschreiten im vernünftigen Begreifen der in realen Institutionen daseienden sittlichen Freiheit.213 Durch diese höherstufige, metareflexive Strukturkomponente, die im Rahmen der Religionsphilosophie auch als „Versöhnung“ bezeichnis gebracht zu jener Stufe, die dem Hervortreten des Geistes vorausgeht. [. . .] Das erste Offenbaren findet statt, insofern die abstrakte Idee (oder [. . .] das Logische) in die Natur übergeht [. . .]. Es ist das Werden der Natur [. . .]. Auf der zweiten Stufe der Selbstoffenbarung des Geistes setzt dieser sich ein Gegenüber, mit dem er in ein Verhältnis tritt, um sich mittels des Umgangs mit ihm zum konkreten Geist zu vollenden. Das Verhältnis setzt die (vorläufige) Selbständigkeit des Gegenübers voraus. Ein selbständiges Gegenüber des Geistes ist nur möglich als Natur. Durch ihr Wechselverhältnis mit dem Geist entwickelt die Natur sich aber zur ,Welt‘ oder zur ,zweiten Natur‘ des Geistes. [. . .] Die hier bestimmte Stufe der Offenbarung charakterisiert den Geist also noch als einen endlichen. Sie umfaßt die Gestalten des subjektiven und des objektiven Geistes. Das höchste Offenbaren oder das Offenbaren ,im Begriffe‘ ist das einzig adäquate. [. . .] Im wahren oder absoluten Offenbaren ist das Erscheinende (die phänomenale Welt und alles Sein) nichts anderes als das offenbare, sich offenbarende und geoffenbarte Absolute: der Geist, wie er in den Gestalten der konkreten Empirie an und für sich ist“; vgl. Peperzak (1987), S. 34 f. 209 Vgl. Hegel, Enz. III, § 552, in: Werke, Bd. 10, S. 353: „Der denkende Geist der Weltgeschichte aber, indem er zugleich jene Beschränktheiten der besonderen Volksgeister und seine eigene Weltlichkeit abstreift erfaßt seine konkrete Allgemeinheit“ als einzelne Einheit von allgemeinem Begriff und besonderer Realität der Freiheit „und erhebt sich zum Wissen des absoluten Geistes, als der ewig wirklichen Wahrheit, in welcher die wissende Vernunft für sich ist und die Notwendigkeit Natur und Geschichte nur seiner Offenbarung“ im Endlichen „dienend und Gefäß seiner Ehre sind.“ 210 Die Idealisierung bedient sich der „Medien“ (vgl. Fulda (1991), S. 13) des absoluten Geistes: Sie geschieht in der Kunst im Medium der Anschauung, in der Religion im Medium des Gefühls und der Vorstellung und in der Wissenschaft schließlich im Medium des Denkens; vgl. Hegel, Grundlinien, § 341, in: Werke, Bd. 7, S. 503. 211 Vgl. Hegel, Enz. III, § 484, in: Werke, Bd. 10, S. 303: „Die Zwecktätigkeit aber dieses Willens ist, seinen Begriff, die Freiheit, in der äußerlich objektiven Seite zu realisieren, daß sie als eine durch jenen“ (Willen) „bestimmte Welt sei, so daß er in ihr bei sich selbst, mit sich selbst zusammengeschlossen, der Begriff hiermit zur Idee vollendet sei.“ 212 Peperzak bestimmt den Prozeß des Geistes als Spezialfall des allgemeineren Begriffs der Idee, „die [. . .] wesentlich Prozeß ist. Als Identität des subjektiven Begriffs und der Objektivität [. . .] ist es die Idee selbst, die sich zum äußerlichen Objekt machen muß und ohne daß sie dadurch aufhört, bei sich selbst zu sein diese ihre eigene Äußerlichkeit in ihre Subjektivität zurückführt. Dieser“ gedoppelt-komplementäre „Prozeß der veräußerlichenden Objektivierung und des verinnerlichenden Zurückkehrens in sich [. . .] ist die Überwindung eines von der Idee selbst vollstreckten Urteils (d. h. ihrer ursprünglichen Teilung oder Urteilung). Die sich ur-teilende Idee schließt sich mit sich selbst zusammen, indem sie ihre Urteilung verurteilt oder negiert. Der Schluß des Prozesses der jedoch kein Ende bedeutet, sondern ein unaufhörliches Sichin-sich-beschließen ist, hebt den inneren Verlust ihrer Einheit auf, indem sie sich ewig regeneriert“; vgl. Peperzak (1987), S. 19.

2.3. Die Weltgeschichte als Geistesgeschichte

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net wird,214 unterscheidet sich der Geist (als Spezialfall der Idee) von den einstufigen Handlungstypen, die unter die Oberbegriffe „teleologische Tätigkeit“ oder „Prozeß des Willens“ gezählt wurden und lediglich durch das Moment der Begriffsrealisierung bestimmt sind. Der Weltgeist ist als eine besondere Dimension des Geistes wesentlich praktische Vernunft und nicht Natur oder Naturgeschichte. Seine ,Tätigkeit‘ besteht darin, sich (als zunächst abstrakt-allgemeiner Begriff der sittlichen Freiheit) in die Äußerlichkeit (der besonderen Volksgeister und ihrer sittlichen Verhältnisse) zu ,ur-teilen‘, aber in seiner naturhaften Realität nicht zu verharren, sondern sich (als Selbstbewußtsein) mit seiner endlichen Entäußerung wieder vermittels der Medien Kunst, Religion und Philosophie zusammenzuschließen. Diese reflektierende Idealisierungsbewegung ist als „Befreyung der sittlichen Substanz von ihren Besonderheiten, in denen sie in den einzelnen Völkern wirklich ist, – die That, wodurch sich der Geist zum allgemeinen, zum Weltgeist wird.“215 Die Selbstreflexion der Volksgeister und die Erkenntnis ihrer Prinzipien als Facetten des Inhalts des allgemeinen sittlichen Geistes ist bei Hegel nur ein Spezialfall der reflexiven und alteritätsvermittelten conditio humana, die als komplementäre Einheit von Prozessen der Entfremdung und Versöhnung ,Geist‘ genannt wird. Ohne Entzweiung eines zuvor Einigen und damit auch Einfältigen könne es nämlich weder Bewußtsein noch Selbstbewußtsein geben:216 „Der Mensch ist wesentlich als Geist; aber der Geist ist nicht auf unmittelbare Weise, sondern er ist wesentlich dies, für sich zu sein, frei zu sein, das Natürliche sich gegenüberzustellen, aus seinem Versenktsein in die Natur sich herauszuziehen, sich zu entzweien mit der Natur und erst durch und auf diese Entzweiung [hin] sich mit ihr zu versöhnen, und nicht nur mit der Natur, sondern auch mit seinem Wesen, mit seiner Wahrheit. Diese Einigkeit, die erst durch die Entzweiung hervorgebracht wurde ist, ist erst die selbstbewußte, wahre Einigkeit; das ist nicht die Einigkeit der Natur, welche nicht des Geistes würdige Einheit, nicht Einheit des Geistes ist“.217

213 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 343, in: Werke, Bd. 7, S. 504; vgl. auch ders., Phil. d. Gesch., in: Werke, Bd. 12, S. 32. 214 Vgl. Hegel, Rel. II, in: Werke, Bd. 17, S. 203. 215 Hegel, Heidelberger Enzyklopädie, § 449, S. 204 (Herv. im Orig.). 216 Die ,Realisierung‘ kennzeichnet Hegels Dialektik als Ganze, wenn und insofern man sie als Begriffsbewegung versteht: „Charakteristisch für den Begriff selbst im Verhältnis zu seiner Realisierung ist, daß er in ihr seine Identität behält. Er geht nicht über in ein anderes, als er selbst ist, sondern bleibt er selbst in seinen Bestimmungen. So ist vor allem das Allgemeine unverwandelt im mannigfaltigen Besonderen enthalten wie die Materie Stein in einem besonderen Stück Stein oder [. . .] das Leben in einer besonderen Art von Lebewesen. Hegel nennt daher die Realisierung des Begriffs auch Entwicklung und Manifestation [. . .]. Aber diese Entwicklung vollzieht sich nicht allein als Besonderung des ursprünglich nur Allgemeinen; sondern ebenso als ursprüngliche, vom Begriff selbst ausgehende Teilung des zunächst nur Einfachen. Das Resultat dieser Trennung nennt Hegel Urteil“; vgl. Fulda (1978), S. 130. 217 Vgl. Hegel, Rel. I, in: Werke, Bd. 16, S. 264.

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2. Annäherung an Hegels Konzept der Weltgeschichte

Die Natur des sittlichen Geistes bestehe, wie die des Geistes überhaupt, in der Selbsterkenntnis218 seiner von ihm entfremdeten, kaum als Vernunft erkennbaren unmittelbaren Realität je vorhandener Sitten. Indem er aber sein Außersich- und Außereinandersein in den einzelnen Volksgeistern dadurch als seine beschränkte Selbstmanifestation begreife, daß er ihre jeweiligen besonderen Sitten nicht in der Mannigfaltigkeit ihrer äußeren Erscheinung reflektiere, sondern nach ihrem inneren Prinzip frage, erkenne er sich selbst als im Endlichen wirkende Form der Vernunft. Das Bewußtsein der Freiheit schreite deswegen (langfristig) voran, weil das Prinzip des Geistes überhaupt die Selbsterkenntnis sei und er auch in seiner endlichen Existenz als partikularer Volksgeist in der Lage sei, dessen jeweiliges Prinzip zu begreifen, zu beurteilen und Schlußfolgerungen aus seiner Erfahrung zu ziehen. Als ein Gerichtsverfahren betrachtet, ist die Weltgeschichte eben beides: eine Reihe von „Begebenheiten“ und „Gedächtnis stiftenden Erfahrungsprozessen, welche von den Begebenheiten ausgelöst werden und zum Teil weitere Begebenheiten auslösen“.219 Jeder Akt kollektiven Lernens, der an bestimmten historischen Ereignisse festgemacht wird, setzt allerdings trivialerweise voraus, daß sich aus der Geschichte überhaupt etwas lernen läßt. Ohne diese Annahme eines für uns erkennbaren Fortschritts(potentials) – was immer auch die Erkenntnis eines spezifischen Rückschrittspotentials einschließt – zerfiele die Geschichte in ein ,planloses Aggregat‘ von zufälligen Handlungen und Leidenschaften. Der Glaube an einen im Endlichen zwar wirkenden, aber uns verborgenen ,Plan der Vorsehung‘ sei dagegen keine Alternative zum geschichtsphilosophischen Skeptizismus, sondern nur dessen pseudoreligiöse, im Grunde magische Variante. Die wesentliche Bestimmung des Weltgeistes als Geist sei es nämlich, in Erscheinung zu treten. Das schlechthin unverzichtbare methodologische Postulat der kontingenzreduzierenden Geschichtsphilosophie220 unterstelle, daß „der Geschichte, und zwar wesentlich der Weltgeschichte ein Endzweck an und für sich zum Grunde liege und derselbe wirklich in ihr realisiert worden sei und werde – der Plan der Vor218

Peperzak (1987), S. 36 f. Vgl. Fulda (2001), S. 170. Man denke etwa an die Relevanz der bundesdeutschen Debatte über die Frage nach der Singularität des Holocaust, die in den achtziger Jahren stattfand und als „Historiker-Streit“ bezeichnet wurde. Wäre Ernst Noltes revisionistisches Geschichtsbild ohne Widerspruch geblieben oder hätte es sich gar als konsensfähig erwiesen, dann hätte dies sowohl Rückwirkungen auf die Entwicklung des deutschen Volksgeistes gehabt als auch eine Verengung des außenpolitischen Handlungsspielraum der Bundesrepublik bewirkt. Der Prozeß der europäischen Integration wäre – wie immer er z. B. unter demokratietheoretischen Prämissen zu bewerten sein mag – sicherlich ins Stocken geraten. 220 Die Philosophie „dringt auf die Vertreibung des Zufalls aus der Geschichte“; vgl. Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 1984, S. 113. 219

2.3. Die Weltgeschichte als Geistesgeschichte

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sehung –, daß überhaupt Vernunft in der Geschichte sei, [. . .] wird teils wenigstens ein plausibler Gedanke sein, teils aber ist es Erkenntnis der Philosophie.“221 Eine Wissenschaft, deren Akteure dagegen glaubten, auf die Prämisse von der Erkennbarkeit der Realität verzichten zu können, beginge einen performativen Selbstwiderspruch und würde sich letztlich selbst aufheben, weil die „Kontigenzverarbeitung“, die sie zu bieten hätte, zufällig ausfiele.222 Nur wer „die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an, beides ist in Wechselbestimmung“.223 Hieraus läßt sich jedoch nicht schließen, Hegel hätte die Geschichte als einen heilsgeschichtlichen Automatismus angesehen,224 der ganz unabhängig von menschlichem Begreifen, Urteilen und Schließen sicherstellte, daß jeder einzelne Entwicklungsschritt durch einen qualitativen Zuwachs an Freiheit gekennzeichnet wäre. Vielmehr betont er, daß die in der Weltgeschichte realisierten menschlichen Möglichkeiten „wirkliche Möglichkeiten sind, deren Verwirklichung in der Verantwortung der Menschheit liegt.“225 Auch eine Verfassung, die im Vergleich mit dem zuvor erreichten Niveau staatsrechtlich realisierter Freiheit einen gravierenden Rückschritt darstellt, muß demnach als eine Verwirklichung des Vernunftpotenzials der Gattung verstanden werden. Hegel behauptet nämlich nicht mehr (aber auch nicht weniger), als daß die Geschichte des Staatsrechts auf lange Sicht durch die zunehmende Anerkennung des Prinzips der subjektiven Freiheit strukturiert ist. Die geschichtsphilosopische Theorie schlägt allerdings einen sehr anspruchsvollen Weg ein, der mit einem mechanischen Evolutionismus staatsrechtlichen Heils nicht das Geringste gemein hat: Denn sie orientiert sich maßgeblich an der Theologie und behauptet, daß die Theorie des absoluten Geistes nicht nur den Schlußstein des enzyklopädischen Systems bildet, sondern ebenso zur Aufklärung spezifischer Problemkonstellationen innerhalb der Theorie des objektiven Geistes beiträgt. Innerhalb der Rechtsphilosophie konnte dieser Zugriff auf die Religionsphilosophie aber erst dort erfolgen, wo das Staatsrecht seinerseits geschichtsphilosophisch reflektiert wurde. Die Philosophie des absoluten Geistes beruht nämlich auf einem „System, das durchweg geschichtsphilosophisch und desgleichen durchweg religionsphilosophisch konzipiert ist“. Geist, dessen Begriff die

221

Vgl. Hegel, Enz. III, § 549, in: Werke, Bd. 10, S. 347 ff. Vgl. Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, Frankfurt am Main 1984, S. 110 ff. 223 Vgl. Hegel, Phil. d. Gesch., in: Werke, Bd. 12, S. 23. 224 Zur Fragwürdigkeit des klassischen Einwandes, Hegel hätte die Geschichte vergottet, vgl. Ottmann (1997), S. 281. 225 Vgl. Hespe (1991), S. 178. 222

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2. Annäherung an Hegels Konzept der Weltgeschichte

„Philosophie Hegels in ihrer Totalität definiert“,226 und Geschichte werden theologisch vermittelt: „Geist ist eine göttliche Geschichte, der Prozeß des sich Unterscheidens, Dirimierens und [. . .] Insichzurücknehmens“.227 Dabei ist entscheidend, daß Hegel diesen gedoppelten Prozeß des Sichunterscheidendens und Sichzurücknehmens, als Versöhnung des Selben mit seinem Anderen, als Prozeß der „Entäußerung in das Andere und der Rückkehr in sich“ konzipiert.228 Bemerkenswert ist, wie Michael Theunissen zeigt, daß Hegel die „Versöhnung Gottes mit der Welt, von seinem Ansatz aus durchaus konsequent, auf die Versöhnung Gottes mit sich selbst zurückführt.“ „Freiheit ist abstrakt das Verhalten zu einem Gegenständlichen als nicht zu einem Fremden; es ist dieselbe Bestimmung wie die der Wahrheit, nur ist bei der Freiheit noch die Negation des Unterschiedes des Andersseins herausgehoben; sie erscheint damit in der Form der Versöhnung. Diese fängt damit an, daß Unterschiedene gegeneinander sind: Gott, der eine ihm entfremdete Welt gegenüber hat, – eine Welt, die ihrem Wesen entfremdet ist. Die Versöhnung ist die Negation dieser Trennung, dieser Scheidung, sich ineinander zu erkennen, sich und sein Wesen zu finden“.229

Spezifisch für Hegel sei, daß er das zugrundeliegende Schöpfungsmodell, die Trininitätslehre noch einmal christologisch akzentuiert: „Theologisch gesehen, handelt es sich hier um den Unterschied des ,ewigen‘ und des in die Welt entlassenen Sohnes. Er ruht auf dem umgreifenden Grunde der Dreieinigkeit.“230 Ob jedoch die spekulativ-religionsphilosophische Geschichtstheorie Hegels einen Strukturdefekt hat, der etwa in ihrer heilsgeschichtlichen Grundorientierung liegen mag, und deswegen zurückzuweisen ist oder ob sie eine rationale Theorie der politischen Geschichte anbietet, die gerade wegen ihres theologischen Unterfutters auch heute noch erkenntnisleitend inspirieren kann, läßt sich vielleicht eher beurteilen, wenn man nach den Faktoren fragt, von denen jeweils der Impuls zum ,Fortschreiten im Bewußtsein der Freiheit‘ ausgehen soll: den Volksgeistern und insbesondere den welthistorischen Völkern.

2.4. Das ,wesentliche Verhältnis‘ zwischen Weltgeist und Volksgeistern Insofern dem Weltgeist als schlechthin allgemeinem Geist keine natürliche Existenz zukommen kann, er folglich nicht als ein eigenes Subjekt gedacht werden darf, das seinen Inhalt durch zweckmäßige Tätigkeit entfaltet, kann er sich

226 227 228 229 230

Theunissen (1970), S. 60 f. Hegel, Rel. II, in: Werke, Bd. 17, S. 214. Theunissen (1970), S. 68. Vgl. Hegel, Rel. II, in: Werke, Bd. 17, S. 203. Ebd., S. 95.

2.4. Das ,wesentliche Verhältnis‘ zwischen Weltgeist und Volksgeistern

67

nur vermittels existierender Akteure, den einzelnen Volksgeistern realisieren. Besonderes Gewicht kommt hier der strukturellen Beziehung zu, die zwischen Volksgeist und Weltgeist bestehen soll. Das sich in der Weltgeschichte darstellende Verhältnis zwischen besonderem und allgemeinem sittlichen Geist wird nicht als eines des Übergehens in ein anderes, sondern des Aufhebens gedacht. Dies bedeutet zunächst, daß die diachrone Reihe von individuellen Manifestationen des sittlichen Geistes den Inhalt des Gattungsbegriffes zugleich erhält, bereichert und als Abstraktes negiert, d. h. bestimmt.231 Im Unterschied zur äußerlichen und gleichgültigen Beziehung zwischen natürlichen Gattungen und Individuen ist nämlich die Beziehung Volksgeister-Weltgeist als „Beziehung auf Anderes [. . .] Beziehung auf sich selbst“.232 Zur komplementären Präzisierung der geistphilosophischen Betrachtung sucht Hegel auch in spekulativ-logischer Hinsicht das Verhältnis Weltgeist-Volksgeister von naturgeschichtlichen Prozessen und der ihnen eigentümlichen negativen Beziehung zwischen den Individuen einerseits233 und der in ihren gemeinsamen Eigenschaften unveränderlichen Gattung andererseits234 abzugrenzen. Die Paragraphen 342, 344, 346 und 352 geben Hinweise darauf, daß das geschichtsphilosophische Verhältnis zwischen der Pluralität besonderer „Völkergeister“ und dem einen Weltgeist als wesentliches Verhältnis235 gedacht ist. Letzteres enthält nach der Wesenslogik drei Momente: (a) Ganzes und Teil werden als gegenseitig sich bedingende und voraussetzende Bestimmungen gefaßt. (b) Das wechselseitige Bedingungsverhältnis des Ganzem und seiner Teile ist insofern eine substanzielle Einheit, als sich in der Beziehung beider eine Kraft äußert, die sich in ihrer Äußerung als Kraft erhält.236 (c) Das Innere ist der inhaltsidentische Grund seines Äußeren;237 sie sind die zwei Seiten derselben konkreten Totalität (von Innerem und Äußerem) und machen nur als Einheit beider ihren Inhalt aus.

231 Die Hegelsche Dialektik läßt sich beschreiben als mehrstufiges Verfahren der Modifikation der Bedeutung von Begriffen, dessen Effekt es ist, daß die anfängliche inhaltliche Vagheit eines Allgemeinbegriffes kontinuierlich eingeschränkt wird, so daß die Bedeutung des fraglichen Terminus zunehmend konkretisiert wird; vgl. dazu Fulda (1978), S. 33–69, bes. 60. 232 Hegel, Logik II, in: Werke, Bd. 6, S. 179. 233 Vgl. ebd., S. 486: „In dem Gattungsprozeß gehen die abgesonderten Einzelheiten des individuellen Lebens unter“. 234 Hegel, Enz. I, § 221, in: Werke, Bd. 8, S. 376. 235 Hegel, Logik II, in: Werke, Bd. 6, S. 164–185. 236 Ebd., S. 173. 237 Ebd., S. 164 ff.

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2. Annäherung an Hegels Konzept der Weltgeschichte

Wenn Volksgeist und Weltgeist im „wesentlichen Verhältnis“238 zueinander stehen, dann müssen sich die drei dialektischen Aspekte oder Stufen des wesentlichen Verhältnisses geschichtsphilosophisch auslegen lassen. (a) Dies bedeutet zunächst, daß die Volksgeister endliche, aber zugleich notwendige Teilmanifestation des Weltgeistes als eines sie als seine Momente einschließenden Ganzen sind. Ganzes und Teil sind „zugleich nur [. . .] als sich gegenseitig bedingend und voraussetzend.“239 Das „unmittelbare“ wesentliche Verhältnis von Teil und Ganzem enthält sowohl die Selbständigkeit als auch die Unselbständigkeit beider Komponenten und dies innerhalb ein und derselben Beziehung. Einerseits besteht das Ganze als Existierendes nur aus den Teilen; das Ganze ohne seine Teile ist keine Substanz; es „hat nicht an sich selbst, sondern an seinem Anderen sein Bestehen.“240 Auf der anderen Seite aber haben die Teile „ihre Selbständigkeit nur in der reflektierten Einheit, welche sowohl diese Einheit als auch die existierende Mannigfaltigkeit ist; d. h. sie haben Selbständigkeit nur im Ganzen, das aber zugleich die den Teilen andere Selbständigkeit ist. Das Ganze und die Teile bedingen sich daher gegenseitig“.241 Dies wechselseitige Bedingungsverhältnis meint nicht bloß, daß „das Ganze den Teilen und die Teile dem Ganzen gleich“ sind, sondern, daß das Ganze nicht den isolierten Teilen, sondern ihrem Zusammenhang gleich ist, während umgekehrt die Teile dem Ganzen nur insofern gleichen, als jedes ein geteiltes Ganzes, d. h. je ein besonderes Moment des Ganzen darstellt.242 Im Hinblick auf die Beziehung Volksgeister – Weltgeist bedeutet dies: Der Weltgeist existiert nicht als solcher, sondern nur in seinen Realelementen, den Volksgeistern, und diese sind nicht als isolierte Einzelne, sondern nur in ihrem inneren Zusammenhang reelle Weltgeistmomente. Umgekehrt stellt jeder beschränkte Volksgeist einen speziellen Aspekt des Weltgeistes, der aber nur Bestand haben kann, insofern er Moment des Ganzen ist. Folglich hat nicht der einzelne Volksgeist als konkretes Mannigfaltiges der Sitten eines Volkes Teil an der Bewegung des Weltgeistes, sondern nur das an ihm, was seinerseits ein bestimmtes Prinzip der 238 So Fulda (1986), S. 69 f.: „Wesentliche Verhältnisse [. . .] sind: das Verhältnis des Ganzen zum Teil; das Verhältnis der Kraft zu ihrer Äußerung und das Verhältnis des Inneren als Grundes zum Äußeren, das mit dem Inhalt nicht nur dem Inhalt nach gleich, sondern ein und dieselbe Sache ist [. . .]. Diese Bestimmungen hier zur Geltung gebracht, müssen wir das Bestehen der Dialektik endlicher sittlicher Totalitäten also aufgehoben denken in einem Verhältnis, in dem ein jeder Geist, der dieser Dialektik unterliegt a) nur noch Teil eines Ganzen, also eines umfassend allgemeinen Geistes ist und zwar eines Geistes, der b) die Kraft ist, seine Äußerung in jedem Teil hervorzubringen, und der sich zu jenen Teilen c) wie der innere Grund verhält, der mit ihnen als dem äußeren ein und dieselbe Sache ist.“ 239 Hegel, Logik II, in: Werke, Bd. 6, S. 65. 240 Ebd., S. 67. 241 Ebd., S. 168 (Herv. i. Orig.). 242 Ebd., S. 69.

2.4. Das ,wesentliche Verhältnis‘ zwischen Weltgeist und Volksgeistern

69

sittlichen Freiheit enthält und als potentiell Allgemeines beanspruchen kann, Teilmanifestation der Idee universeller Freiheit zu sein. (b) Das zweite „reflektierte“ Moment des wesentlichen Verhältnisses bereitet erheblich mehr Schwierigkeiten, wenn es zum Interpretament der Beziehung zwischen dem Weltgeist und den Volksgeistern dienen soll. Das wechselseitige Bedingungsverhältnis des Ganzes und seiner Teile muß nach der Wesenslogik als das der Kraft und ihrer Äußerung spezifiziert werden, weil nur auf diese Weise der Anschein der Selbständigkeit beider Komponenten und des bloßen Übergangs der einen in die andere aufgelöst werden kann.243 Dabei ist entscheidend, daß eine Kraft, die sich äußert, in ihrer Äußerung nicht verschwindet, sondern sich in sie „übersetzt und in dieser durch sie selbst gesetzten Veränderung bleibt, was sie ist.“ Die Äußerung der Kraft ist ihr nicht äußerlich, sondern „die Tätigkeit der Kraft besteht darin, sich zu äußern.“244 Die Äußerung einer Kraft kann nicht zugleich die einer anderen Kraft sein. Dadurch daß sich die Kraft wesentlich äußert, ist die Äußerlichkeit kein ihr fremdes Daseinselement, sondern „ihr eigenes Moment“.245 Betrachtet man die zweite Stufe des wesentlichen Verhältnisses im Zusammenhang mit der erscheinenden Dialektik246 des sittlichen Geistes, so erkennt man, daß sich erstens die Kraft des allgemeinen Bewußtseins der Freiheit in den endlichen Volksgeistern äußert und äußern muß. Sie kann keine anderen Äußerungen als diese haben. Die Volksgeister sind zweitens nicht nur notwendige Teile eines sie übergreifenden Ganzen, sondern zugleich Äußerungen der Kraft des Ganzen, das sich in seinen Teilen selbst äußert und in ihnen nicht etwa die Tätigkeit einer fremden Kraft zur Geltung bringt.247 (c) Was sich im wesentlichen Verhältnis zwischen Kraft und Äußerung offenbart, ist, daß „ihre [der Kraft] Äußerlichkeit identisch ist mit ihrer Innerlichkeit.“ Auf der dritten Stufe der „reflektierten Unmittelbarkeit“248 ist das wesentliche Verhältnis daher bestimmt als das zwischen Innerem und Äußerem. Das Ganze seiner Teile betätigt sich nun nicht mehr wie eine Kraft, die sich in ihre Äußerungen übersetzt, sondern es ist als Wesen mit seiner Erscheinung identisch. Das Innere als der Grund seines Äußeren verhält sich im wesentlichen Verhältnis zueinander stehend nicht wie (verborgener) Kern und (sichtbare) Schale, sondern was „innerlich ist, ist auch äußerlich vorhanden und umge-

243 244 245 246 247 248

Ebd., S. 72 f. Ebd., S. 73. Ebd., S. 78. Fulda (1986), S. 69. Vgl. dazu auch ders., Georg Wilhelm Friedrich Hegel, München 2003, S. 234. Hegel, Logik II, in: Werke, Bd. 6, S. 79 f.

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2. Annäherung an Hegels Konzept der Weltgeschichte

kehrt; die Erscheinung zeigt nichts, was nicht im Wesen ist, und im Wesen ist nichts, was nicht manifestiert ist.“249 Wenn das, was sich äußert, das ganze Innere ist, dann ist „seine Äußerung die Äußerlichkeit dessen, was es an sich ist“.250 Fallen innere Möglichkeit und äußere Wirklichkeit zusammen, dann kann man an der Erscheinung von etwas dessen Wesen ablesen, weil beide der Modalität nach notwendig zusammengehören.251 Das Äußere ist „das Offenbaren seines Wesens, so daß dies Wesen eben nur darin besteht, das sich Offenbarende zu sein.“252 Aus diesem Blickwinkel kann man bezüglich der Weltgeschichtstheorie die Folgerung wagen, daß Hegel mit einem Finalzustand rechnet, in dem der ganze Inhalt des Prinzips der sittlichen Freiheit erschienen wäre, so daß kein späterer Volksgeist gedacht werden könnte, der eine zusätzliche notwendige Stufe der Weltgeistexplikation darstellen würde. Dies wäre der Zustand der vollendeten Realexplikation des Inhalts des allgemeinen sittlichen Geistes. Ist nach den Bestimmungen des wesentlichen Verhältnisses die potentielle Reihe der Volksgeister endlich, dann müßte zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Gänze erschienen und damit für uns geworden sein, was der allgemeine sittliche Geist an sich ist. Demnach wäre die Folgerung erlaubt, für Hegel würde die letzte Phase jenes Vollendungsprozesses dadurch eingeleitet, daß ein besonderer Volksgeist oder eine Gruppe von Volksgeistern dazu berufen wäre, in Form der entsprechenden Staatsverfassung(en) ein wahrhaft universelles Bauprinzip des öffentlichen Rechts exemplarisch zu realisieren. Doch man sollte in dieser Frage nicht voreilig urteilen.

2.5. Die Volksgeister als endliche ,Geschäftsträger‘ des Weltgeistes Auch wenn Hegel die Volksgeist-Weltgeist-Beziehung in spekulativ-logischer Hinsicht als ein wesentliches Verhältnis bestimmt, so impliziert dies doch keineswegs, daß ein einzelner Volksgeist und die ihm entsprechende politische Verfassung dazu auserkoren wäre, die Idee sittlicher Freiheit auf optimale und deswegen universalisierbare Weise zu realisieren. Dagegen spricht immerhin Hegels an Montesquieu253 geschulte Lehre, nach der alle volksgeistrelative Sittlichkeit einschließlich der jeweiligen Staatsverfassung ein konkretes Ganzes bildet,254 das keinen allgemeinen, sondern nur einen endlichen Inhalt haben kann. 249

Hegel, Enz. I, § 139, in: Werke, Bd. 8, S. 274. Hegel, Logik II, in: Werke, Bd. 6, S. 85. 251 Ebd., S. 87. 252 Ebd., S. 85. 253 Vgl. Coppieters (1994), S. 179 ff.; zur Frage, inwieweit Hegels Volksgeistbegriff neben Montesquieu auf Herder verweist, vgl. ebd., S. 19; Brauer (1982), S. 53. 250

2.5. Die Volksgeister als endliche ,Geschäftsträger‘ des Weltgeistes

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Schon Montesquieus Schrift über den „Geist der Gesetze“, die vielleicht wichtigste Inspiration der Hegelschen Volksgeisttheorie,255 hatte erstens den Gemeingeist eines Volkes als komplexes Resultat von natürlichen und kulturellen Prägungen beschrieben, dessen (sittliches) Wesen von den jeweils dominanten Faktoren bestimmt ist: „Mehrere Dinge beherrschen die Menschen: Klima, Religion, Gesetze, Regierungsgrundsätze, Vorbilder der Vergangenheit, Sitten und Gebräuche; und aus alledem entspringt und formt sich die Geisteshaltung eines Volkes. Je stärker in einem Volk einer dieser Gründe wirkt, um so mehr treten die anderen zurück“.256 Auch nach Hegel ist jede Staatsverfassung bedingt und damit auch begrenzt durch ihre jeweilige sittliche Substanz, die dafür verantwortlich ist, daß die verschiedenen Systeme des absoluten und des objektiven Geistes zur komplementären Einheit einer spezifischen Lebensform eines Volkes werden: Dieser sittliche Kern verbürgt nach Hegel, „daß die Verfassung eines Volks mit seiner Religion, mit seiner Kunst und Philosophie oder wenigstens Vorstellungen und Gedanken seiner Bildung überhaupt, um die weiteren äußerlichen Mächte, seines Klimas, seiner Nachbarn, seiner Weltstellung überhaupt nicht zu erwähnen, eine Substanz, einen Geist ausmacht.“257 Auch wenn die Teilsysteme einer Gesellschaft ihre je eigene ,Binnenrationalität‘ besitzen mögen, so werden sie doch letztendlich durch ein und dasselbe Prinzip bestimmt: den Volksgeist, der nichts anderes ist als das jeweilige Bewußtsein eines Volkes von sich und seiner Freiheit, zu einem konsistenten Ganzen. Die „Religion eines Volkes, seine Gesetze, seine Sittlichkeit, der Zustand der Wissenschaften, der Künste, der Rechtsverhältnisse, seine sonstige Geschicklichkeit, Industrie, seine physischen Bedürfnisse zu befriedigen, seine ganzen Schicksale und Verhältnisse zu seinen Nachbarn in Krieg und Frieden, alles das steht in innigstem Zusammenhang. [. . .] [Es] ist ein Prinzip, das ihnen zugrunde liegt, der Geist einer Bestimmtheit, der die Seiten ausfüllt. Dies Prinzip eines Volkes ist sein Selbstbewußtsein, die wirkende Kraft in den Schicksalen der Völker.“258

254

Vgl. Hegel, Grundlinien, § 3, in: Werke, Bd. 7, S. 34 ff. Zu weiteren ,Vordenkern‘ des Hegelschen Volksgeistbegriffs vgl. Christoph Mährlein, Volksgeist und Recht. Hegels Philosophie der Einheit und ihre Bedeutung in der Rechtswissenschaft, Würzburg 2000, S. 24 ff. 256 Vgl. Charles Secondat de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, XIX Buch, 4. Kapitel, übers. u. hg. v. Ernst Forsthoff, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 413; im Original: „Plusieurs choses gouvernent les hommes, le climat, la religion, les lois, les maximes du gouvernement, les exemples des choses passées, les mœrs, les manières, d’où il se forme un esprit général qui en résulte. A mesure que, dans chaque nation, une de ces causes agit avec plus de force, les autres lui cèdent d’autant“; vgl. Charles Secondat de Montesquieu, De l’Esprit des Lois, Buch XIX, Kap. IV, Paris 1979, S. 461. 257 Hegel, ViG, S. 41 (Herv. i. Orig.). 258 Hegel, ViG, S. 121 (Herv. i. Orig.). 255

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2. Annäherung an Hegels Konzept der Weltgeschichte

Alle Volksgeister und die ihnen entsprechende Kultur einschließlich der jeweiligen Verfassungen sind demnach innerlich begrenzt durch ihr eigentümliches Freiheitsprinzip. Das Schicksal der Endlichkeit teilen die Volksgeister jedoch mit allem in Raum und Zeit Existierenden. Es ist eben diese an der natürlichen Existenz haftende Bestimmtheit, die zugleich die Begrenztheit des jeweiligen Volksgeistes und der ihm zugehörigen Kultur ausmacht. Insofern der sittliche Geist eines Volkes den Weltgeist als reellen und deswegen beschränkten Geist auslegt, ist „seine Selbständigkeit ein Untergeordnetes; er geht in die allgemeine Weltgeschichte über, deren Begebenheiten die Dialektik der besonderen Völkergeister, das Weltgericht, darstellt.“259 Insofern die Existenz alles Einzelnen notwendig begrenzt ist, so können auch die Volksgeister und ihre sittlichen Prinzipien nur als endliche existieren: „Die Prinzipien der Volksgeister sind um ihrer Besonderheit willen, in der sie als existierende Individuen ihre objektive Wirklichkeit und ihr Selbstbewußtsein haben, überhaupt beschränkte“.260 Die an ihrer Existenz haftende Endlichkeit der Volksgeister müßte es demnach ausschließen, daß ein einzelner Volksgeist dauerhaft als adäquate Realisation des allgemeinen sittlichen Geistes gelten kann. Denn dann käme ihm als schlechterdings allgemeingültigem Volksgeist zeitlich unendliche normative Kraft zu, weil er kein Naturmoment mehr an sich hätte. Ein Volksgeist aber der ausschließlich durch die Vernunft bestimmt wäre, fiele mit dem Weltgeist ineins, er wäre folglich kein Volksgeist mehr. „Der bestimmte Volksgeist“ jedoch, „da er wirklich und seine Freiheit als Natur ist, ist zuletzt auch in der Zeit und hat eine durch sein besonderes Prinzip bestimmte Entwicklung seiner Wirklichkeit in derselben, – eine Geschichte. Als beschränkter Geist aber geht er in die allgemeine Weltgeschichte über, deren Begebenheiten die Dialektik der besonderen Völkergeister, das Weltgericht darstellt.“261 Universelle Geltungsansprüche scheinen daher mit dem Endlichkeitscharakter der Volksgeister von vornherein unverträglich zu sein. Die Weltgeschichte ,urteilt‘ über die konkreten Sittlichkeitssysteme der Volksgeister, indem sie eines nach dem anderen untergehen läßt und dadurch deren jeweils absoluten Geltungsanspruch als Schein erweist.262 Folglich wäre die Weltgeschichte eine unendliche Reihe von immer neuen Volksgeistern und ihrer je besonderen Freiheitsprinzipien, von denen keines als höchstes und letztes anerkannt werden könnte. 259

Hegel, Enz. III, § 548, in: Werke, Bd. 10, S. 347. Vgl. Hegel, Grundlinien, § 340, in: Werke, Bd. 7, S. 503. 261 Hegel, Heidelberger Enzyklopädie, § 448, S. 204 (Herv. v. Verf., U. T.); vgl. Peperzak (1987), S. 76: „Die Weltgeschichte ist das Gericht, das alle beschränkten Gestalten der Sittlichkeit zum Untergang verurteilt“. 262 Vgl. Hegel, Heidelberger Enzyklopädie, Vorlesungsnotiz zu § 448, S. 205: „Die Gerechtigkeit der Gattung gegen die Individuen – daß jene sich geltend macht.“ 260

2.5. Die Volksgeister als endliche ,Geschäftsträger‘ des Weltgeistes

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Absolut kann die sittliche Partikularität der Volksgeister jedoch nicht gedacht sein, denn ihre Akteure sollen zugleich Träger der Entwicklung des universellen Geistes sein können. Die „Staaten, Völker und Individuen in diesem Geschäfte des Weltgeistes stehen in ihrem besonderen bestimmten Prinzipe auf, das an ihrer Verfassung und der ganzen Breite ihres Zustandes seine Auslegung und Wirklichkeit hat, deren sie sich bewußt und in deren Interesse vertieft sie zugleich bewußtlose Werkzeuge und Glieder jenes inneren Geschäfts sind, worin diese Gestalten vergehen, der Geist an und für sich aber sich den Übergang in seine nächste höhere Stufe vorbereitet und erarbeitet.“263 Die nationalstaatlichen Akteure verwirklichen nach Hegel je ein spezielles, volksgeistrelatives Prinzip sittlicher Freiheit, das in der Vielfalt gesellschaftlicher Sitten, Rechtsformen und Institutionen und insbesondere der Staatsverfassung seine Ausdifferenzierung erfährt. Insofern das zu entfaltende Prinzip Geist ist, muß seine Spezifizierung in der Zeit geschehen. Die Geschichte eines Volkes besteht wesentlich darin, „daß es den Begriff, den der Geist von sich hat, ausprägt in den verschiedenen Sphären, in denen er sich überhaupt ergeht. Das heißt, sein Staat, Religion, Kunst, sein Recht, sein Verhältnis zu anderen Nationen – alles das sind die Seiten, in denen der Begriff des Geistes von sich selbst sich realisiert“.264 Indem die politisch Herrschenden innerhalb des jeweiligen kulturellen und sittlichen ,Verstehenshorizontes‘ agieren und nur ihrem Volk bzw. Volksgeist zu dienen glauben, betreiben sie zugleich unabsichtlich das „innere Geschäft“ des Weltgeistes.265 Denn auch wo ihr Handeln ausschließlich dem nationalen Wohl dienen soll, trägt es dazu bei, daß sich das Entwicklungspotential des die Verfassung und Institutionen tragenden speziellen Sittenprinzips vollkommen entfaltet und damit aber auch aufzehrt: Selbst das „herrlichste, höchste Prinzip eines Volkes ist als Prinzip eines besonderen Volkes ein beschränktes Prinzip, über welches der Zeitgeist hinwegschreitet.“266 Wenn die Sitten und die ihnen entsprechenden Institutionen der Völker lediglich partikulare (obgleich notwendige) Facetten der Realisierung des allgemeinen sittlichen Geistes ausmachen, die wegen der inhaltlichen Begrenztheit ihres je eigentümlichen Freiheitsprinzips nur endliche Geltung beanspruchen können, dann könnte man schließen, daß Hegel einer relativistischen Auffassung von der (geschichtsphilosophischen) Legitimität bestimmter Staatsverfassungen zuneigt, 263

Hegel, Grundlinien, § 344, in: Werke, Bd. 7, S. 505. Vgl. Hegel, ViG, S. 120 f. 265 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Henrich, S. 82: „Das Geheimnis der Weltgeschichte ist aber dann die Umkehrung der besonderen Zwecke. Diese Umkehrung ist dieselbe, die wir auch in der bürgerlichen Gesellschaft gesehen haben. Indem das Individuum seine besonderen Zwecke vollbringt, macht es sie objektiv.“ 266 Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 164, S. 257. 264

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2. Annäherung an Hegels Konzept der Weltgeschichte

die in ihrer Konsequenz auch seine Einschätzung der zeitgenössischen Staaten Nordwesteuropa betreffen müßte. Dieser relativistischen Tendenz wird jedoch im anschließenden § 345 scheinbar widersprochen. Hier ist immerhin vom „absolute[n] Recht“ des jeweiligen Trägers der weltgeschichtlichen Entwicklung die Rede. Einerseits hätten die normativen Maßstäbe, nach denen sowohl individuelle Handlungen als auch das Schicksal des Staates insgesamt beurteilt würden, ihren Grund im jeweiligen sittlichen common sense des betreffenden Volkes. Jedes Volk werte seine politische Geschichte volksgeistrelativ und könne demnach allein bedingte, anerkennungsabhängige Ansprüche gegenüber anderen Staaten oder Völkern geltend machen. „Gerechtigkeit und Tugend, Unrecht, Gewalt und Laster, Talente und ihre Taten, die kleinen und die großen Leidenschaften, Schuld und Unschuld, Herrlichkeit des individuellen und des Volkslebens, Selbständigkeit, Glück und Unglück der Staaten und der Einzelnen haben in der Sphäre der bewußten Wirklichkeit ihre bestimmte Bedeutung und Wert und finden darin ihr Urteil und ihre, jedoch unvollkommene Gerechtigkeit.“ Aus diesem distanzierten Blickwinkel wären die Völker und ihr jeweiliger sittlicher Geist einander strikt gleichgestellt, jedoch falle die „Weltgeschichte [. . .] außer diesen Gesichtspunkten; in ihr erhält dasjenige notwendige Moment der Idee des Weltgeistes, welches gegenwärtig seine Stufe ist, sein absolutes Recht, und das darin lebende Volk und dessen Taten erhalten ihre Vollführung und Glück und Ruhm.“267 Im historischen Gesamtzusammenhang, wie ihn die spekulative Geschichtsphilosophie konstruiert, habe andererseits dasjenige Volk absolutes Vorrecht vor anderen, dessen sittlicher Geist die jeweils fortgeschrittenste Stufe der Selbstauslegung des allgemeinen Geistes darstelle. Dessen welthistorisches Vorrecht sei jedenfalls solange als absolut anzusehen, als kein anderes Volk die politische Bühne betritt, dessen sittliches System universeller wäre.

2.6. Das ,Naturmoment‘ der Volksgeister als Grund ihrer Endlichkeit Zur Begründung der These von der Endlichkeit der inhaltlichen Entwicklungsmöglichkeiten der besonderen Volksgeister einschließlich derjenigen, die eine welthistorische Mission erfüllen, werden in den Paragraphen 346 und 347 die jeweiligen Sittlichkeitsprinzipien betrachtet, als ob sie kein Freiheitsmoment besäßen, sondern, unmittelbare, „natürliche Prinzipien“ wären. Gerechtfertigt ist diese einseitige Perspektive durch Hegels übergeordnete spekulative These, daß die Weltgeschichte den allgemeinen Geist im ,Element‘ des raumzeitlichen Daseins der Volksgeister, d. h. als Natur entwickelt: 267

Hegel, Grundlinien, § 345, in: Werke, Bd. 7, S. 505.

2.6. Das ,Naturmoment‘ der Volksgeister als Grund ihrer Endlichkeit

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„Wir gingen von der Behauptung aus, daß in der Weltgeschichte die Idee des Geistes in der Wirklichkeit als eine [zeitliche] Reihe äußerlicher Gestalten erscheint, deren jede sich als wirklich existierendes Volk kundgibt. Die Seite dieser Existenz fällt aber sowohl in die Zeit als in den Raum, in der Weise natürlichen Seins, und das besondere Prinzip, das jedes welthistorische Volk an sich trägt, hat es zugleich als Naturbestimmtheit in sich. Der Geist, der sich in diese Weise der Natürlichkeit kleidet, läßt seine besonderen Gestaltungen auseinanderfallen, denn das Auseinander ist die Form der Natürlichkeit.“268

Im Element der Geschichte ,übersetzt‘ sich der schlechthin allgemeine, unendliche sittliche Geist, dem als Abstraktum keine reelle Existenz zukommen kann, sukzessive in seine endliche oder natürliche Daseinssphäre, in der er seinen konkreten Inhalt gewinnen wird.269 Dies hat für die Volksgeister dreierlei aus ihrem Naturmoment resultierende Restriktionen zur Folge. a) Die spezifischen Sitten270 eines Volkes würden nicht in ihrem begrifflichen Wesen, nämlich reelle Formen der Freiheit zu sein, die einem bestimmten Prinzip gehorchen, gewußt, sondern sie erscheinen ihren ,Trägern‘ wie objektiv gültige ,Naturgesetze‘ ihres Handelns. Obwohl „der Mensch durch die Gewohnheit einerseits frei wird, so macht ihn dieselbe doch andererseits zu ihrem Sklaven und ist eine zwar nicht unmittelbare, erste von der Einzelheit der Empfindung beherrschte, vielmehr von der Seele gesetzte zweite Natur, – aber doch immer eine Natur, ein die Gestalt eines Unmittelbaren annehmenden Gesetzes, eine selbst noch mit der Form des Seins behaftete Idealität des Seienden, folglich etwas dem freien Geiste Nichtentsprechendes, etwas bloß Anthropologisches.“271 Das Naturmoment des Volksgeistes mache sich aber noch in anderer Weise geltend. Zwar sei auch „die äußere Natur, wie der Geist, [. . .] vernünftig, göttlich, eine Darstellung der Idee. Aber in der Natur erscheint die Idee im Elemente des Außereinander. [. . .] Wir wissen, daß das Natürliche räumlich und 268

Vgl. Hegel, Phil. d. Gesch., in: Werke, Bd. 12, S. 105 f. (Herv. v. Verf., U. T.). „In dieser Äußerlichkeit haben die Begriffsbestimmungen den Schein eines gleichgültigen Bestehens und der Vereinzelung gegeneinander; der Begriff ist deswegen als Innerliches. Die Natur zeigt daher in ihrem Dasein keine Freiheit, sondern Notwendigkeit und Zufälligkeit“; vgl. Hegel, Enz. II, § 248, in: ders, Werke, Bd. 9, S. 27. „Der Volksgeist enthält Naturnotwendigkeit und steht in äußerlichem Dasein [. . .]; die in sich unendliche sittliche Substanz ist für sich eine besondere und beschränkte [. . .] und ihre subjektive Seite mit Zufälligkeit behaftet, bewußtlose Sitte, und Bewußtsein ihres Inhalt als eines zeitlich Vorhandenen und im Verhältnisse gegen eine äußerliche Natur und Welt“; vgl. Hegel, Enz. III, § 552, in: Werke, Bd. 10, S. 353. 270 Unter ,Sittlichkeit‘ versteht Hegel „die Idee der Freiheit [. . .], der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit“; vgl. Hegel, Grundlinien, § 142, in: Werke, Bd. 7, S. 292. Sittlichkeit bezeichnet demnach Seiendes und nicht Sein-Sollendes. 271 Hegel, Enz. III, § 410, Zus., in: Werke, Bd. 10, S. 189; vgl. ders., Rechtsphilosophie Henrich, S. 10. 269

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2. Annäherung an Hegels Konzept der Weltgeschichte

zeitlich ist, daß in der Natur Dieses neben Diesem besteht, Dieses nach Diesem folgt, – kurz daß alles Natürliche ins Unendliche außereinander [d. h. ohne Ende teilbar] ist; daß ferner die Materie, diese allgemeine Grundlage aller daseienden Gestaltungen der Natur, nicht bloß uns Widerstand leistet, außer unserem Geiste besteht, sondern gegen sich selbst sich auseinanderhält, in konkrete Punkte, in materielle Atome sich trennt, aus denen sie zusammengesetzt ist“.272 b) Da das natürliche Dasein des sittlichen Geistes notwendig ,Außereinandersein‘ sei, zerfalle die Realitätskomponente der Idee sittlicher Freiheit zunächst in eine äußerliche Vielheit räumlich273 verschiedener Kulturen, die jeweils heterogene Prinzipien zur sittlichen ,Grundnorm‘ haben oder zu haben scheinen. Die Völker sind nämlich „als geistige Gestaltungen nach einer Seite hin Naturwesen. Daher zeigen sich die unterschiedenen Gebilde auch als gleichgültig nebeneinander im Raume bestehend, als perennierend.“274 Diese räumliche Dispersion der Völker erscheine insbesondere als geographische275 und ,anthropologische‘276 Differenzierung der Volksgeister,277 die sich vermittels der jeweiligen pragmatischen und technischen Handlungssystemen auch in den Sitten niedergeschlagen hätte. Diese „Naturunterschiede müssen nun zuvörderst auch als besondere Möglichkeiten [und Grenzen derselben] angesehen werden, aus welchen sich der Geist hervortreibt, und geben so die geographische Grundlage. [. . .] Die Natur darf nicht zu hoch und nicht zu niedrig angeschlagen werden.“278 Hegel unterscheidet in den geschichtsphilosophischen Vorlesungen drei geographische Typen, die als ,natürliche Basis‘ der Subsistenz sowohl die Wirt272 Vgl. Hegel, Enz. III, § 381, Zus. in: Werke, Bd. 10, S. 18. „Die Eigenschaften der Natur sind den Bestimmungen der Idee gerade entgegengesetzt. Die fundamentale Charakteristik des Natürlichen ist die Äußerlichkeit, sogar in Bezug auf sich selbst“; vgl. Hegel, Enz. II, § 247, in: Werke, Bd. 9, S. 274. „Mannigfaltigkeit, Dispersion und Anderssein kontrastieren mit der Kohäsion und Innerlichkeit der Idee“; vgl. Peperzak (1987), S. 21. 273 Vgl. Hegel, Logik I, in: Werke, Bd. 5, S. 39: „,Raum‘ ist das „schlechthin kontinuierliche Außereinandersein.“ 274 Hegel, ViG, S. 154. 275 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 136, S. 196 ff. 276 Wenn Hegel von anthropologischen Eigenarten der Völkersitten spricht, dann sicher nicht im Sinne einer biologischen, gar ,rassenbiologischen Mentalitätenlehre‘. Gemeint sind vielmehr durch praktische Gewohnheit zur unreflektierten Konvention geronnene Werte- und Normensysteme; vgl. Hegel, Enz. III, § 552, in: Werke, Bd. 10, S. 353 ff. 277 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Henrich, S. 81: „Die wirklichen Völker überhaupt haben nun eine Seite, auf der sie der Natur angehören; sie sind so in der äußeren Wirklichkeit, sind so geboren (Nationen), und dies Prinzip, welches sie im Geschäft des allgemeinen Weltgeistes übernehmen, ist ihnen zugleich vorhanden als Naturprinzip als eine geographische anthropologische Existenz“. 278 Hegel, Phil. d. Gesch., in: Werke, Bd. 12, S. 106.

2.6. Das ,Naturmoment‘ der Volksgeister als Grund ihrer Endlichkeit

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schaftsweise, wie die ,funktional adäquaten‘ Sittlichkeitsverbände vorstrukturieren, die beide zusammen das ,pragmatische Fundament‘ der Volksgeister ausmachen. Die Heidelberger Enzyklopädie spricht in diesem Zusammenhang von der „geographische[n] und klimatische[n] Bestimmtheit“ der im Raume daseienden Volksgeister.279 In Hegels handschriftlichen Randbemerkungen zum selben Paragraphen heißt es sogar: „Jedes Volk (klimatisches) Prinzip – sein Schicksal Entwicklung desselben“.280 Allerdings dürfe die Bedeutung der natürlichen Lebensgrundlagen auch nicht überschätzt werden. Die geographischen Verhältnisse bildeten lediglich die ,Basis‘ einer Gesellschaft, durch die die pragmatischen, sittlichen und kulturellen Systeme des jeweiligen Volkes zwar eine typische Prägung erführen, jedoch als geistige Gebilde und Gestalten der Freiheit nicht strikt determiniert wären. „Das Naturleben ist zugleich Boden der Zufälligkeit. Nur in seinen allgemeinen Zügen ist dieser Boden ein Bestimmendes, dem Prinzip des Geistes Entsprechendes.“281 Im Übrigen sei der Einfluß der geographisch-klimatischen Bedingungen auf die Sitten keine Konstante, sondern allemal graduell abgestuft. Dem milderen europäischen Klima etwa und der nur in geringem Maße trennenden Geographie attestiert Hegel nur einen sehr geringer Einfluß auf die Inhalte der Volksgeister. Die hier beheimateten Völker besäßen „allgemeinere“ und freiere Sitten. „Weil in der europäischen Natur ein vereinzelter Typus nicht so hervortritt wie in den andern Weltteilen, so ist hier auch der allgemeinere Mensch. Die Lebensweisen, die an die gesonderten physikalischen Qualitäten gebunden erscheinen, treten hier, wo die geographischen Unterschiede nur leicht gegeneinander sich abheben, nicht in die Trennung und Eigenheit auf, wie sie vornehmlich in Asien für die Geschichte bestimmend sind. [. . .] Die europäische Menschheit erscheint also auch von Natur als das Freiere, weil hier kein solches Naturprinzip sich als herrschend hervortut“.282

279

Hegel, Heidelberger Enzyklopädie, § 442, S. 198. Hegel, Heidelberger Enzyklopädie, § 442, S. 199. Bei Montesquieu heißt es weniger mißverständlich: „L’empire du climat est le premier de tous les empires“; vgl. Montesquieu (1978), Buch XIX, Kap. XIV, S. 468. Wenn Montesquieu glaubt, feststellen zu können, die Sitten ,der Wilden‘ seien im Unterschied zu denen der Chinesen, Japaner, Spartaner oder Römer vollständig von natürlichen, insbesondere klimatischen Gegebenheiten beherrscht, so wird immerhin deutlich, daß er keine deterministische Theorie im Auge hat: „La nature et le climat dominent presque seuls sur la sauvages; les manières gouvernent les Chinois; les lois tyrannisent le Japon; les mœrs donnaient autrefois le ton dans Lacédémone; les maximes du gouvernement et les mœrs anciennes le donnaient dans Rome“; vgl. Montesquieu (1978), Buch XIX, Kap. IV, S. 461; vgl. dazu Coppieters (1994), S. 191 ff. 281 Hegel, ViG, S. 241. 282 Vgl. Hegel, ViG, S. 240 f. 280

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2. Annäherung an Hegels Konzept der Weltgeschichte

Speziell der Zugang zum Meer sei derjenige geographische Faktor gewesen, der den Europäern welthistorische Bedeutung verliehen hat, insofern der Überseehandel und die mit ihm einhergehende Erweiterung kultureller Horizonte dem spezifisch modernen Prinzip der persönlichen Freiheit förderlich waren: „Der europäische Staat kann wahrhaft europäischer Staat nur sein, wenn er mit dem Meere zusammenhängt. Im Meere liegt das ganz eigentümliche Hinaus, das dem asiatischen Leben fehlt, das Hinaus des Lebens über sich selbst. Das Prinzip der Freiheit der einzelnen Person ist dadurch dem europäischen Staatsleben geworden“.283 Die Europäer seien demnach, insofern sie in der Lage waren, geographische, besonders klimatische Vorteile technisch und ökonomisch zu nutzen, die ,geborenen‘ Träger des Weltgeistes gewesen. Schon Montesquieu deutet an, Verkehr und Kommunikation zwischen den Völkern trügen zur Assimilation ihrer Sitten bei.284 Besondere Bedeutung komme dabei dem sich durch den Handel verbreitenden „esprit du commerce“ zu: „Der Handel beseitigt störende Vorurteile, und es gilt beinahe allgemein die Regel, daß es da, wo sanfte Sitten herrschen, auch Handel gibt und daß überall, wo es Handel gibt, auch sanfte Sitten herrschen.“285 Hegel erweist sich als Schüler Montesquieus, wenn er festhält, daß es „im ganzen die gemäßigte Zone [sei], die das Theater für das Schauspiel der Weltgeschichte bieten muß. Von den gemäßigten Zonen aber ist es wiederum die nördliche, die dazu fähig ist.“286 c) Schließlich folgt aus der Naturqualität der Volksgeistes auch ihr zeitliches Außereinandersein: Weil die Geschichte die „Gestaltung des Geistes in Form des Geschehens, der unmittelbaren natürlichen Wirklichkeit ist, so sind die Stufen der Entwicklung als unmittelbare natürliche Prinzipien vorhanden, und diese, weil sie natürliche sind, sind als eine Vielheit außereinander, somit ferner so, daß einem Volke eines derselben zukommt, – seine geographische und anthropologische Existenz.“287 Unter dem Titel Die welthistorischen Völker wird in § 347 der Gedanke der an ihrer Natürlichkeit haftenden zeitlichen Endlichkeit der Volksgeister noch einmal aufgegriffen,288 nun aber nicht hinsichtlich ihres Verhältnisses zu anderen Völkern, sondern vorrangig in bezug auf ihre interne Entwicklungslogik. Das Dasein des allgemeinen Geistes in der endlichen Wirklichkeit als bestimmter Volksgeist habe zur Folge, daß letzterem, insofern er lediglich ein besonde283

Vgl. Hegel, ViG, S. 241. Vgl. Montesquieu, Buch XIX, Kap. 8, in: ders. (1992), Bd. 1, S. 415. 285 Vgl. ebd., Buch XX, Kap. 1, 2, in: ders. (1992), Bd. 2, S. 2. 286 Vgl. Hegel, ViG, S. 191. 287 Hegel, Grundlinien, § 346, in: Werke, Bd. 7, S. 505. 288 Alles „Natürliche ist räumlich und zeitlich“; vgl. Hegel, Phil. d. Gesch., in: Werke, Bd. 12, S. S. 26. 284

2.6. Das ,Naturmoment‘ der Volksgeister als Grund ihrer Endlichkeit

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res Freiheitsprinzip zur Entfaltung bringe, immanente Rationalisierungsgrenzen gesetzt seien. „Der bestimmte Volksgeist [. . .] ist in der Zeit und hat dem Inhalte nach wesentlich ein besonderes Prinzip und eine dadurch bestimmte Entwicklung seines Bewußtseins und seiner Wirklichkeit zu durchlaufen; – er hat eine Geschichte innerhalb seiner.“289

Dies betrifft einerseits die Weltgeistbewegung als Ganze: Insofern sich die Verwirklichungsbewegung des allgemeinen Geistes in der Geschichte vollzieht, geschieht sie diachron, so daß seine partikularen Realisationen nicht zugleich, sondern in Sukzession erscheinen. Andererseits präzisiert Hegels Bemerkung über die Zeitlichkeit der Volksgeister die in § 345 aufgestellte These von der absoluten Berechtigung des jeweils fortgeschrittendsten Volkes in dreifacher Weise: (1) Ein weltgeschichtliches Volk sei dasjenige, dem jeweils nur ein Moment des allgemeinen Geistes (z. B. das Prinzip der unterschiedslosen Einheit von individuellem und allgemeinem Willen) zunächst als natürliche bzw. „bewußtlose Sitte“290 zukomme. Seine welthistorische ,Mission‘ bestehe darin, dieses Teilprinzip des universellen Geistes im Medium der Besonderheit zu entfalten, d. h. jenen universellen normativen ,Mehrwert‘ in der sozialen, politischen und kulturellen Realität des besonderen Volksgeistes ,auszuwickeln‘ und dadurch (objektiv) der allmählichen Bewußtwerdung des allgemeinen Geistes zu dienen. Demjenigen „Volke, dem solches Moment als natürliches Prinzip zukommt, ist die Vollstreckung desselben in dem Fortgange des sich entwickelnden Selbstbewußtseins des Weltgeistes übertragen.“291 (2) Da die sittlichen Prinzipien der Volksgeister vermöge ihres Naturmomentes einen endlichen Inhalt besäßen, könne das jeweils avancierteste Volk nur einmal eine Epoche der zeitlichen Selbstexplikation des sittlich Absoluten prägen. Dieses Volk ist in der Weltgeschichte „für diese Epoche – und es kann (§ 346) in ihr nur einmal Epoche machen – das herrschende.“292 (3) Im Vergleich mit diesem unbedingten, aber zeitlich limitierten Vorrecht eines welthistorischen Volkes seien die anderen Völker keine Agenten des Weltgeistes, sondern nur die Akteure ihres Volksgeistes. „Gegen dies sein absolutes Recht, Träger der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes zu sein, 289 Hegel, Enz. III, § 548, in: Werke, Bd. 10, S. 347; vgl. ders., Heidelberger Enzyklopädie, § 448, S. 204; vgl. Fulda (1986), S. 65. 290 Hegel, Enz. III, § 552, in: Werke, Bd. 10, S. 353. 291 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 347, in: Werke, Bd. 7, S. 505 f. 292 Vgl. ebd., S. 506; vgl. auch Hegel, ViG, S. 180: „Ein Volk kann nicht mehrere Stufen durchlaufen, es kann nicht zweimal in der Weltgeschichte Epoche machen. [. . .] Welthistorisch kann ein Volk nur einmal das herrschende sein, weil ihm im Prozesse des Geistes nur ein Geschäft übertragen sein kann“; vgl. auch ders., Heidelberger Enzyklopädie, § 449, S. 204.

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2. Annäherung an Hegels Konzept der Weltgeschichte

sind die Geister der anderen Völker rechtlos, und sie, wie die, deren Epoche vorbei ist, zählen nicht mehr in der Weltgeschichte.“293 Zur Klärung der Frage, ob ein Endziel der Geschichte postuliert wird, das in der Zukunft (oder Gegenwart) erreicht werden kann, ist folgendes von Bedeutung: Die zweite Dimension der Endlichkeit der Volksgeister, ihre Zeitlichkeit, schließt es, jedenfalls dem ersten Eindruck nach, definitiv aus, daß ein einzelner Volksgeist sich dauerhaft als adäquate Repräsentation des Weltgeistes behaupten könnte, die einen endgültigen Maßstab für andere Völker und Staaten darstellte. Demnach wäre die Kette der welthistorischen Völker auf jeden Fall als unendlich konzipiert. Auf der anderen Seite soll speziell die Geschichte der welthistorischen Reiche durch einen qualitativen „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ gekennzeichnet sein294 und mithin könnte angenommen werden, daß es einen zukünftigen Volksgeist geben mag, über den hinaus keine weitere Fortschrittsentwicklung mehr möglich wäre, dessen Weltgeistambition (im Unterschied zu allen vorigen Prätendenten) als berechtigt gelten würde und dessen Staatsverfassung ein universelles Vorbild für andere Völker darstellte. Folgt man dieser extremen Lesart, dann kann die Natürlichkeit des Volksgeistes nur eine der Komponenten ausmachen, die seinen jeweiligen sittlichen Inhalt bedingen. Die andere Komponente muß im Artifiziellen bzw. Praktischen liegen. Von dieser Vernunftkomponente ist anzunehmen, daß sie das dynamische Moment des Volksgeistes ausmacht, das seine geographisch bedingten Trägheit in einem solchem Ausmaß entgegenwirkt, daß sie es schließlich gänzlich zum Verschwinden bringt. Doch zugunsten dieser Lesart, für die sich Autoren, die sich als Exponenten eines sich unendlich überlegen dünkenden, imperial gewordenen Volkgeistes verstehen, immer wieder begeistern konnten,295 spricht im Hegelschen Text nicht Substanzielles. Vielmehr wird die zeitliche Endlichkeit der weltgeschichtlichen Bedeutung eines Volkgeistes als unhintergehbare Bedingung dafür genannt, daß der Weltgeist überhaupt (in seinen endlichen Spezifikationen) Realität gewinnen kann. Einem schlechterdings allgemeingültigem Volksgeist würde die Existenz abgehen.

293 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 347, in: Werke, Bd. 7, S. 506; vgl. auch ders., Rechtsphilosophie Henrich, S. 81: „Indem das welthistorische Volk eine besondere Stufe des Weltgeistes ausdrückt, so ist dies das Herrschende. Es macht sich geltend gegen das Recht der anderen Völker, die einer früheren Stufe angehören, und diese werden überwunden, sie mögen sich benommen haben, wie sie wollen“; vgl. dazu Coppieters (1994), S. 74 f.; Peperzak (1987), S. 74. 294 Hegel, Phil. d. Gesch., in: ders., Werke, Bd. 12, S. 33. 295 Vgl. z. B. Fukuyama (1992).

3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte 3.1. Die Staatsgründung als Beginn der weltgeschichtlichen Existenz der Völker Rückblickend auf die bisherige Argumentation der Grundlinien läßt sich festhalten, daß der sich entwickelnde allgemeine sittliche Geist sein Realelement in besonderen Volksgeistern,296 insbesondere in den je herrschenden Sitten und den ihnen jeweils entsprechen rechtlichen Formen der Freiheit hat.297 Sein schlechthin adäquates Daseinselement aber finde der Weltgeist weder in der mit Zufällen behafteten Mannigfaltigkeit der Sitten, noch im Recht überhaupt, sondern in den Staatsverfassungen. Denn diese nehmen insofern eine Sonderstellung ein, als sich in ihnen die ,natürliche‘ Sittlichkeit eines Volkes als abstrahiertes, auf ihre wesentlichen Bestimmungen reduziertes Prinzip oder System von Prinzipien darstellen und dadurch auch objektiviert werden. Zwar erfahren die ,natürlichen‘ Volkssitten durch ihre Konstitutionalisierung eine Modifikation, die jedoch, soll die Verfassung substanziell sein bzw. als solche gelten können, nicht bis zur Verselbständigung gehen kann. Die „Verfassung ist [. . .] die an und für sich seiende Grundlage des rechtlichen und sittlichen Lebens eines Volkes und wesentlich nicht als etwas Gemachtes und subjektiv Gesetztes zu betrachten. Ihre absolute Ursache ist das in der Geschichte sich entwickelnde Prinzip eines Volksgeists.“298 Auch die Griesheim-Mitschrift hebt die Bestimmtheit als Wesenszug des Volksgeistes und der ihm entsprechenden Verfassung hervor, womit zumindest gesagt wird, daß die Entwicklungsmöglichkeiten eines Volksgeistes nicht unendlich, sondern endlich sind, weil jeder Volksgeist durch ein bestimmtes ,Sitten-

296 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Homeyer, § 134, S. 341: „In der Weltgeschichte macht sich der allgemeine Geist als allgemeiner wirklich in dem besonderen Volk als besonderer.“ 297 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 257, in: Werke, Bd. 7, S. 398: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee – der sittliche Geist, als der offenbare sich selbst deutliche, substantielle Wille, der sich denkt und weiß und das, was er weiß und insofern er es weiß, vollführt. An der Sitte hat er [der Staat] seine unmittelbare und an dem Selbstbewußtsein des Einzelnen, dem Wissen und Tätigkeit desselben seine vermittelte Existenz, so wie dieses [Selbstbewußtsein] durch die Gesinnung in ihm [dem Staat] als seinem Wesen, Zweck und Produkte seiner Tätigkeit, seine substantielle [als Verfassung statuierte] Freiheit hat.“ 298 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 134, S. 189.

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

gesetz‘ geprägt ist, zu dem, weil es den Rahmen dessen definiert, was jeweils als ,gerecht‘ bzw. als ,Recht‘ angesehen werden kann, nur eine sehr begrenzte Anzahl politischer Verfassungen passen. Jedes Volk hat deswegen „seine eigene Verfassung“, weil jede Verfassung „nur ein Produkt, eine Manifestation des eigenthümlichen Geistes eines Volks und der Stufe der Entwicklung des Bewußtseins seines Geistes“ ist.299 Die Explikation des sittlichen Prinzips eines Volksgeistes als Verfassung geschieht bereits in vergleichsweise vernünftiger Form, so daß allererst in dieser abstrahierten, von ,naturhaften‘ Kontingenzen weitgehend befreiten Gestalt der ,innere‘ begriffliche und daher auch allgemeine Inhalt jenes Prinzips erkennbar wird. Der Begriff der Verfassung, den Hegel in diesem Zusammenhang verwendet, ist allerdings nicht mit dem der positiven Verfassung identisch. ,Verfassung‘ bedeutet hier zuallererst die reelle Organisation der Staatsgewalt, deren Struktur nicht unbedingt in der Form öffentlicher Kodifikation festgelegt sein muß.300 Der dritte Abschnitt der rechtsphilosophischen Weltgeschichte (§§ 349–352) behandelt „Anfang und Ziel der Geschichte“, wobei in § 349 unter dem Titel „Der vorstaatliche Zustand eines Volkes“ zunächst die allgemeine Beziehung zwischen Volksgeistern, Staatsgründung und Verfassunggebung dargestellt wird. „Ein Volk ist zunächst noch kein Staat, und der Übergang einer Familie, Horde, Stammes, Menge usf. in den Zustand eines Staats macht die formelle Realisierung der Idee überhaupt in ihm aus. Ohne diese Form ermangelt es als sittliche Substanz, die es an sich ist, der Objektivität, in Gesetzen, als gedachten Bestimmungen, ein allgemeines und allgemeingültiges Dasein für sich und für die anderen zu haben, und wird daher nicht anerkannt; seine Selbständigkeit, als ohne objektive Gesetzlichkeit und für sich feste Vernünftigkeit nur formell, ist nicht Souveränität.“301

Erst dadurch, daß sich ein Volk (als mehr oder minder heterogenes Insgesamt von besonderen Sittlichkeitsverbänden) zum Staat organisiere, realisiere sich die Idee der Freiheit als in Raum und Zeit stehende Form sittlicher, speziell rechtlicher Freiheit. Der „Staat an und für sich ist das sittliche Ganze, die Verwirklichung der Freiheit, und es ist absoluter Zweck der Vernunft, daß die Freiheit wirklich sei. Der Staat ist der Geist, der in der Welt steht“.302 Nur in Form eines Staates (sei es im ,existentiellen‘, sei es im konstitutionellen Sinne)303 könne sich der sittliche Geist eines Volkes zum beständigen Gel299 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie des Rechts nach der Vorlesungsnachschrift von H. G. Griesheim (im folgenden zitiert als „Rechtsphilosophie Griesheim“), § 274 A, in: Ilting (1973), Bd. 4, S. 663. 300 Vgl. Franz Rosenzweig, Hegels Begriff der politischen Verfassung, in: Riedel (1975), Bd. 2, S. 342–360. 301 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 349, in: Werke, Bd. 7, S. 507. 302 Vgl. ebd., § 258, Zus., in: Werke, Bd. 7, S. 403.

3.1. Staatsgründung als Beginn der weltgeschichtlichen Existenz der Völker

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ten von gesetzlichen Freiheitsregeln objektivieren, denn vermittels eines realen Staates können die Sitten eines Volkes für sich selbst und für andere Selbständigkeit und anerkennungsfähige Geltung beanspruchen.304 Ohne die institutionelle Realität der Gesetze, die als solche lediglich gedachte allgemeine Bestimmungen der Freiheit seien, könne die Sitte eines Volkes weder für das eigene noch für das Bewußtsein anderer Kollektive als eine souveräne Substanz da sein.305 Die nur erst subjektive sittliche Identität eines Volkes ohne feste Rechtsordnung, Institutionen und Verfassung habe weder für sich noch für andere Dasein.306 Sie sei nicht dem objektiven Geist zuzurechnen, sondern gründe sich in letzter Instanz auf die Gesinnung der Bürger,307 weswegen die Stabilität der ,politischen‘ Integration letzten Endes dem Zufall überantwortet bleibe.308 Der Patriotismus als bloß subjektiv gemeinsamer Wille eines Volkes kann bestenfalls ein vorläufiges Substitut der staatlichen Selbstorganisation eines Volkes sein, denn nur diese wäre (völkerrechtlich) anerkennungsfähig.309 Allererst die existierende Individualität der politischen Sittlichkeit eines Volkes in Form eines einzelnen Staates ermöglicht Souveränität im inneren und

303 Aus Hegels weltgeschichtlicher Perspektive ist die positivrechtliche Form nicht notwendig mit dem Begriff des Staates verbunden: Der politische Status eines Gemeinwesens mag sich als kodifizierte Verfassung oder als gewohnheitsrechtliche oder auch bloß faktische Verfassungspraxis in Form eines effektiven institutionellen Arrangements darstellen. 304 Vgl. dazu Fulda (1986), S. 74 f. 305 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 349, in: Werke, Bd. 7, S. 507. 306 Hegels anerkennungstheoretische Kritik des ,individualistischen‘ Naturrechts kann als Analogon zur Souveränitätsproblematik im außenpolitischen Kontext gelesen werden: „Das Dasein ist als bestimmtes Sein wesentlich Sein für anderes [. . .]. Diese Beziehung von Willen auf Willen ist der eigentümliche und wahrhafte Boden, in welchem die Freiheit Dasein hat. Diese Vermittlung, Eigentum [z. B. als Staatsgebiet] nicht mehr nur vermittels einer Sache und meines subjektiven Willens zu haben, sondern ebenso vermittels eines anderen Willens und hiermit in einem gemeinsamen Willen zu haben, macht die Sphäre des Vertrags aus. [. . .] Der Vertrag setzt voraus, daß die darein Tretenden sich als Personen und Eigentümer anerkennen; da er ein Verhältnis des objektiven Geistes ist, so ist das Moment der Anerkennung schon in ihm enthalten und vorausgesetzt“; vgl. Hegel, Grundlinien, § 71, in: Werke, Bd. 7, S. 152 f. 307 Die „Gesinnung ist immer nur subjektiv, willkührlich und zufällig, abstrahirt von der Willkühr, nur ein allgemeines Wollen, Patriotismus, – sein Inhalt nur abstrakt. [. . .] Theils ist also die Gesinnung das Unthätige, Unwirkliche, so lange sie in der Form der Gesinnung bleibt (Politische Quäker). Wird sie thätig und bleibt das Abstrakte, so wird sie Willkühr. – (Fanatismus der französischen Revolution)“; vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Homeyer, § 118. Anm., S. 326 f. 308 Hegel bemängelt an kontraktualistischen Staatstheorien, daß sie den atomisierten Einzelwillen der Privatpersonen zum legitimierenden Prinzip des allgemeinen Staatswillens machen und dadurch die Souveränität des letzteren in eine unendliche Anzahl von subjektiv-gemeinsamen Willenskonsensen (nach dem Muster privatrechtlicher Verträge) auflösen; vgl. z. B. Hegel, Grundlinien, §§ 257 ff. 309 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 349, Anm., in: Werke, Bd. 7, S. 507.

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

äußeren Verhältnis.310 Laut § 350 ist daher der Akt der Staatsgründung der eigentliche „Anfang des geschichtlichen Daseins“ eines Volksgeistes; dies jedenfalls dann, wenn der Staatsgründungsakt „gesetzliche Bestimmungen und [. . .] objektive Institutionen“ hervorbringt, mithin eine Verfassung im doppelten Sinne zustande kommt.311 „In gesetzlichen Bestimmungen und in objektiven Institutionen, von der Ehe und dem Ackerbau ausgehend [. . .], hervorzutreten, ist das absolute Recht der Idee, es sei, daß die Form dieser ihrer Verwirklichung als göttliche Gesetzgebung und Wohltat oder als Gewalt und Unrecht erscheine; – dies Recht ist das Heroenrecht zur Stiftung von Staaten.“312 Insofern die Verwirklichung der Idee der Freiheit in einem Staat und einer ihn strukturierenden ,Verfassung‘ das unbedingte Recht der Völker und zugleich die „absolute Pflicht“ der Individuen sei,313 müsse die Staatsgründung314 als ein strikt extranormatives Geschehen betrachtet werden. Der faktische Ursprung eines positivrechtlich bzw. institutionell verfaßten Staates – sei es Gesetzesprophetie, sei es ein Staats- bzw. Verfassungsvertrag315 oder aber, wie meistens, ein Akt der Gewalt – könne für die Legitimität des hernach bestehenden Rechtszustandes nicht maßgebend sein.316 Ob daher ein Staat „aus patriarchalischen Verhältnissen hervorgegangen ist oder durch äußere Gewalt und Not, ist 310 Als endliche Wirklichkeit der sittlichen Idee ist die innere Souveränität eines Staates von der durch wechselseitige Anerkennung vermittelten äußeren nicht zu trennen: „Als solcher für den anderen zu sein, d. i. von ihm anerkannt zu sein, ist seine erste absolute Berechtigung. Aber diese Berechtigung ist zugleich nur formell und die Forderung dieser Anerkennung des Staats, bloß weil er ein solcher sei, abstrakt [. . .]. So wenig der Einzelne eine wirkliche Person ist ohne Relation zu anderen Personen [. . .], so wenig ist der Staat ein wirkliches Individuum ohne Verhältnis zu anderen Staaten“; vgl. Hegel, Grundlinien, § 331, in: Werke, Bd. 7, S. 498. 311 Vgl. Hegel, Enz. III, § 549, Anm.: „In dem Dasein eines Volkes ist der substantielle Zweck, ein Staat zu sein und als solcher sich zu erhalten; ein Volk ohne Staatsbildung (eine Nation als solche) hat eigentlich keine Geschichte, wie die Völker vor ihrer Staatsbildung existieren und andere noch jetzt als wilde Nationen existieren.“ Kant bezeichnet staatslose Völker als „Völkerschaften“ (vgl. Kant, RL, § 53, in: AA, Bd. VI, S. 343), die obwohl sie weder unter das Staatsrecht noch unter das Völkerrecht fallen, dennoch Weltbürgerrechte geltend machen können. So etwa besäßen Völkerschaften ein ursprüngliches „Recht, da zu sein, wohin die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) sie gesetzt hat. Dieser Besitz [. . .] ist ein gemeinsamer Besitz, wegen der Einheit aller Plätze auf der Erdfläche, als Kugelfläche“; vgl. Kant, RL, § 13, in: AA, Bd. VI, S. 262. Fremde, die den von Völkerschaften bewohnten Boden nutzen wollten, hätten daher zuvor einen diesbezüglichen Vertrag abzuschließen, was von den europäischen Kolonisten, einschließlich den Briten grundsätzlich nicht für nötig erachtet wurde; vgl. ders., ZeF, Dritter Definitivartikel, in: AA, Bd. VIII, S. 357. 312 Hegel, Grundlinien, § 350, in: Werke, Bd. 7, S. 507. 313 Hegel, Rechtsphilosophie Henrich, S. 210. 314 Vgl. ebd., S. 283: „Die wahre Bedingung für die Weltgeschichte ist, daß Staaten sind. Das Werden der Staaten liegt vor der Weltgeschichte und fällt in eine Sagenund Mythenzeit.“ 315 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 134, S. 190. 316 Vgl. auch ebd., § 124, S. 174.

3.2. Die Weltreligionen als ,Weichensteller‘ der Verfassungsgeschichte

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eine gleichgültige Sache. Es kann Gewalt und Unrecht sein, wodurch ein Staat begründet wird; dies ist für die Idee gleichgültig.“317 Entscheidend sei vielmehr, daß der Akt der Staatsgründung, gleichgültig in welcher Form er geschehe, die Bedingung dafür darstellt, daß das Volk eine politische ,Verfassung‘ erhält, die den Inhalt seines besonderen Sittlichkeitsprinzips objektiviert und entwickelt.318 Unabhängig davon, ob diese Verfassung eine formelle Kodifikation der Kompetenzen (und Kompetenzgrenzen) der öffentlichen Gewalt enthält oder nicht, so sei sie doch der Beginn der weltpolitischen Existenz eines Volkes: „Das Volk mit seinem Geist ist vorhanden.“319

3.2. Die Weltreligionen als ,Weichensteller‘ der Verfassungsgeschichte Hegel untergliedert seine von „äußerliche[n] Notwendigkeit[en]“320 abstrahierende Darstellung der Stufen der welthistorischen Entwicklung anhand der spekulativ-logischen „Reflexionsbestimmungen“: unmittelbare Identität, Unterschied (Verschiedenheit oder Gegensatz), Widerspruch321 und vermittelte Identität. Diese Reflexionsbegriffe dienen dazu, vier „Weltanschauungen“322 typologisch voneinander abzugrenzen, die zugleich Stufen des sittlichen, insbesondere staatsrechtlichen Verhältnisses zwischen einzelnen und allgemeinem Willen, persönlicher Freiheit und politischer Sittlichkeit bezeichnen. Der Beurteilungsmaßstab ist dabei derjenige Grad an individueller Freiheit, deren rechtliche Gewährleistung im Rahmen der betreffenden Verfassung mit dem substanziellen Fortbestand des politischen Gemeinwesen jeweils vereinbar ist.323 § 353 unterscheidet die generellen Entwicklungsstufen des wesentlichen Verhältnisses zwischen allgemeinem und besonderem sittlichen Geist dadurch voneinander, daß er die qualitativ gestuften Prinzipien sittlicher Freiheit benennt, die sich in den verschiedenen Verfassungstypen artikulieren.324 317

Hegel, Rechtsphilosophie Henrich, S. 210 f. Vgl. Hegel, Grundlinien, § 274, in: Werke, Bd. 7, S. 440, Rechtsphilosophie Griesheim, § 274, A, S. 663. 319 Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 134, S. 190. 320 Hegel, ViG, S. 29. 321 Hegel, Logik II, in: Werke, Bd. 6, S. 5 ff. 322 Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 165, S. 258. 323 „,Fortgeschritten‘ sind [. . .] nach Hegels Rechtsphilosophie die Kulturen und Völker, die ein höheres Maß an rechtlicher Freiheit der Individuen mit der Handlungsfähigkeit des Gemeinwesens verbunden haben“; vgl. Ludwig Siep, Das Recht als Ziel der Geschichte. Überlegungen im Anschluß an Kant und Hegel, in: Fricke u. a. (1995), S. 355–379, 70. 324 Wegen der (dialektischen) Struktur des historischen Prozesses des sittlichen Geistes gibt es vier Prinzipien der Auslegung der sittlichen Idee in endlichen Volksgeistern. Die Vierstufigkeit der Geschichte des Weltgeistes in der Endlichkeit kommt da318

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

(1) Die erste Manifestation des allgemeinen sittlichen Geistes habe die Form der Unmittelbarkeit. In Staaten, deren Verfassungen auf dieses Sittenprinzip gebaut sind, sei daher der einzelne Wille differenzlos in den allgemeinen Willen „versenkt“, so daß die Subjektivität als solche vollkommen rechtlos bleibe, während alles Recht auf Seiten des Staates monopolisiert ist. Gemeinwesen und Person, natürliche Sitte und individuelle Freiheit seien auf dieser Entwicklungsstufe (noch) vermittlungslos und ungegliedert identisch: In der „ersten als unmittelbaren Offenbarung hat er [der Geist] zum Prinzip die Gestalt des substantiellen Geistes als der Identität, in welcher die Einzelheit in ihr Wesen versenkt und für sich unberechtigt bleibt.“ (2) Auf der zweiten Stufe der Verfassungsgeschichte wird das Gemeinwesen zum „positive[n] Inhalt“ und Endzweck der unselbständigen Einzelwillen. Das individuelle Selbstbewußtsein bewähre sich im aktiven Dienst an der Polis, wobei diese Art Sittlichkeit wohl die Verschiedenheit, aber noch keinen Gegensatz bzw. Widerspruch zwischen politischer Substanz und (akzidentieller) Subjektivität kenne: Das „zweite Prinzip ist das Wissen dieses substantiellen Geistes, so daß er der positive Inhalt und Erfüllung und das Fürsichsein als die lebendige Form desselben ist, die schöne sittliche Individualität.“ (3) Die dritte sittliche Realisierungsstufe des Freiheitsbegriffs sei dadurch ausgezeichnet, daß der subjektive Wille die Form der allgemeinen Freiheit der abstrakten Rechtspersönlichkeit annehme und somit als ,selbständiges Extrem‘ unvermittelt dem ebenso abstrakten anderen Extrem – dem Staat – entgegenstehe: Das „wissende Fürsichsein“ versteift sich zur „abstrakten Allgemeinheit

durch zustande, daß Hegel an die erste Stufe, die unmittelbare Identität von Wille und Staat (Orientalische Staaten) anschließend, die zweite in Unterschied (Griechenland) und Gegensatz (Rom) differenziert, weswegen die Stufe der vermittelten Einheit (Christentum) als vierte gerechnet wird. Die Verdoppelung des zweiten Moments der ,sich naturalisierenden‘ Freiheitsidee (in ,Unterschied‘ und ,Gegensatz‘ bzw. ,Widerspruch‘) ist ebenso Spezifikum der ,logischen Idee‘ als wesentlich dialektische Begriffsbewegung: „Die Bewegung, die nach Hegels Auffassung innerhalb des Zweiten stattfindet, zeichnet sich gegenüber derjenigen, die vom Ersten zum Zweiten führte, dadurch aus, daß das Zweite obwohl zunächst nur als einfache Bestimmung vorhanden die auch als solche genommen werden kann – in Wahrheit und ohne daß zu einem anderen fortgegangen werden müßte, ein in sich Geteiltes ist und dann auch alsbald eine Beziehung zweier oder ein Verhältnis; aber nicht ein Verhältnis stets gegeneinander neutraler, gleichgültiger Relata die in ihrer Beziehung ebenso nicht stehen könnten, sondern eine spannungsvolle Beziehung solcher, zu deren Wesen es gehört, einen Gegensatz zu bilden oder auszubilden. Die weitere Bewegung geht nicht vom Einfachen aus, das nur an sich einen Unterschied in sich enthält sondern vom Geteilten“; vgl. Hans Friedrich Fulda, Hegels Dialektik als Begriffsbewegung und Darstellungsweise, in: Rolf Peter Horstmann (Hg.), Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, Frankfurt am Main 1978, S. 124–174, 143 f.; vgl. auch Brauer (1982), bes. S. 105– 115. Zur Unterteilung der zweiten Phase der Weltgeistentwicklung in griechisches und römisches Reich vgl. ebd., S. 131–133.

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und damit zum unendlichen Gegensatze gegen die somit ebenso geistverlassene Objektivität.“325 (4) Das Prinzip des letzten Typs einer sittlichen Freiheitsordnung hebe den Gegensatz, der noch den dritten Typus beeinträchtigte, auf. Die Innerlichkeit, Subjektivität und damit Freiheit des Willens werde einerseits als wahrhaftig und berechtigt anerkannt. Indem andererseits die sittliche Substanz, der Staat, ihrerseits als Wille oder Souveränität (und nicht mehr als naturhaftes Sein) durchsichtig werde, könne das politisch verfaßte Gemeinwesen als durch Subjektivität vermittelte Identität der Willen erkannt werden:326 „Das Prinzip der vierten Gestaltung ist das Umschlagen dieses Gegensatzes des Geistes, in seiner Innerlichkeit seine Wahrheit und konkretes Wesen zu empfangen und in der Objektivität einheimisch und versöhnt zu sein und, weil dieser zur ersten Substantialität zurückgekommene Geist der aus dem unendlichen Gegensatze zurückgekehrte ist, diese seine Wahrheit als Gedanke und als Welt gesetzlicher Wirklichkeit zu erzeugen und zu wissen.“327

Hegel erläutert die mittels der spekulativ-logischen Reflexionsbegriffe konstruierten Stufen der Entwicklung der volksgeistrelativen Verfassungsprinzipien näher durch die typologische Unterscheidung der „welthistorischen Reiche“. Dabei fällt auf, daß er unter den Sparten des absoluten Geistes die Religion als den letztlich entscheidenden ,Weichensteller‘328 für die kulturelle und insbesondere die politische Entwicklung eines Volkes bzw. einer Gruppe von Völkern wertet. 325 Hegel, Grundlinien, § 353, in: Werke, Bd. 7, S. 508. Homeyers Mitschrift nennt die dritte Stufe das „Reich der Trennung [. . .,] der abstrakten formellen Allgemeinheit, und der abstrakten und seiner Allgemeinheit verlustigen Einzelheit (Zerreissung, Gegensatz)“; vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Homeyer, § 137, S. 344. 326 Vgl. auch Hegel, Grundlinien, § 260, Zus., in: Werke, Bd. 7, S. 407: „Das Wesen des neuen Staates ist, daß das Allgemeine verbunden sei mit der vollen Freiheit der Besonderheit und dem Wohlergehen der Individuen, [. . .] daß [. . .] die Allgemeinheit des Zwecks nicht ohne das eigene Wissen und Wollen der Besonderheit, die ihr Recht behalten muß, fortschreiten kann. Das Allgemeine muß also betätigt sein, aber die Subjektivität auf der anderen Seite ganz und lebendig entwickelt werden. Nur dadurch, daß beide Momente in ihrer Stärke bestehen, ist der Staat als ein gegliederter und wahrhaft organisierter anzusehen.“ 327 Hegel, Grundlinien, § 353, in: Werke, Bd. 7, S. 508 f. 328 Max Weber hat in kritischer Auseinandersetzung mit dem Historischen Materialismus die elementare Funktion der Religionen für die Entwicklungsrichtung gesellschaftlicher, politischer und kultureller Interessen hervorgehoben: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ,Weltbilder‘, welche durch ,Ideen‘ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte. Nach dem Weltbild richtete es sich ja: ,wovon‘ und ,wozu‘ man ,erlöst‘ sein wollte und – nicht zu vergessen: – konnte“; vgl. Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Einleitung, in: ders., Soziologie, Universalgeschichtliche Analysen, Politik, hg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Stuttgart 1973, S. 398–440, 414.

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

Dies betrifft zunächst das vermittels der Religion indirekt zur Darstellung gelangende Selbstbild eines Volkes, das seinerseits, je nach Grad der reflexiven Durchdringung der Glaubensüberzeugungen, mehr oder minder limitierend auf die Entwicklungsmöglichkeiten und -grenzen des jeweiligen Volksgeistes zurückwirkt: In der Religion „spricht sich das Prinzip eines Volkes auf das Einfachste aus, wie auf der Religion die ganze Existenz des Volkes beruht.“329 Auch in der Enzyklopädie heißt es, der ,Königsweg‘ für das Verständnis der elementaren Wertprinzipien eines Volkes sei die Analyse seines Glaubenssystems. Hat man die inneren Bestimmungen einer Religion (vor allem den jeweiligen Gottesbegriff) und damit das Wesen des entsprechenden Kultus erfaßt, dann kann man zuverlässige Rückschlüsse auch darüber anstellen, „wie [. . .] das weltliche Selbstbewußtsein, das Bewußtsein über das, was die höchste Bestimmung des Menschen sei, und hiermit die Natur der Sittlichkeit eines Volkes, das Prinzip seines Rechts, seiner wirklichen Freiheit und seiner Verfassung wie seiner Kunst und Wissenschaft dem Prinzip entsprechen, welches die Substanz einer Religion ausmacht. Daß alle diese Momente der Wirklichkeit eines Volkes eine systematische Totalität ausmachen und ein Geist sie erschafft und einbildet, die Einsicht liegt der weiteren zum Grunde, daß die Geschichte der Religionen mit der Weltgeschichte zusammenfällt“.330 Die Religion (und nicht etwa das Recht oder der Staat) sei diejenige Kraft, die Gesellschaften ,im Innersten zusammenhält‘. Indem die Religion das Bewußtsein des jeweiligen Volkes von sich selbst präge, bestimme sie letztlich auch, welcher Typ von politischen Institutionen für ein bestimmtes Volk überhaupt vorstellbar bzw. akzeptabel ist: „Nach dieser Seite steht die Religion in engstem Zusammenhange mit dem Staatsprinzip. Sie ist die Vorstellung des Staates in unbedingter Allgemeinheit [. . .]. Denn, wenn zu sagen ist, daß der Staat sich gründet auf die Religion, daß er seine Wurzeln in ihr hat, so heißt das wesentlich, das er aus ihr hervorgegangen ist und jetzt und immer aus ihr hervorgeht: der bestimmte Staat aus der bestimmten Religion [. . .]. Wie [. . .] die Religion beschaffen ist, so der Staat und seine Verfassung“.331

Religionen limitieren unterschwellig das Spektrum der für ein Volk möglichen Verfassungen. Diese Einsicht bringt Hegel gegen die aufgeklärte Auffassung in Stellung, Verfassungen könnten gemacht, d. h. nach Vernunftprinzipien konstruiert und nach gesellschaftsvertraglichen Regeln legitimiert und in Kraft gesetzt werden. Es sei eine „Torheit unserer Zeit, Staatsverfassungen unabhängig von der Religion erfinden und ausführen zu wollen.“332 So habe Montesquieu uns die Augen dafür geöffnet, daß „z. B. die indische Religion unverträg329 330 331 332

Vgl. Hegel, ViG, S. 127. Vgl. Hegel, Enz. III, § 562, in: Werke, Bd. 10, S. 370 (Herv. v. Verf., U. T.). Hegel, ViG, S. 127 u. 129. Ebd., S. 123.

3.2. Die Weltreligionen als ,Weichensteller‘ der Verfassungsgeschichte

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lich ist mit der geistigen Freiheit der Europäer, und Staatsverfassungen, die oft voneinander weit entfernt sind, selbst unverträglich sind mit einer anderen Religion.“ Auf den ersten Blick sei dies zweifellos ein „sehr abgedroschener Satz.“333 Doch dieser Anschein des Trivialen vergehe sofort, wenn man sich etwa zu der Einsicht bequeme, daß die „katholische Religion, obgleich mit der protestantischen gemeinschaftlich innerhalb der christlichen Religion, [. . .] die innere Gerechtigkeit und Sittlichkeit des Staates nicht“ zulassen könne.334 Zwar äußert sich Hegel nur selten über den Islam, denkt man aber etwa an die Bemerkung, nach der Arabien das „Reich des Fanatismus“ sein soll,335 so besteht wenig Grund zu der Annahme, sein Urteil wäre günstiger ausgefallen als hinsichtlich des Katholizismus. Es scheint, als hätte Hegel von den monotheistischen Weltreligionen allein der jüdisch-christlichen Gotteskonzeption ein Innovations- und Rationalisierungspotential attestiert, das schließlich eine ,friedliche Koexistenz‘ und letztlich eine wechselseitige Kooperation von Kirche und Staat ermöglichte. Dieser Eindruck bestätigt sich auch, wenn man nicht nur der Relevanz der Religion für die Eigenart der besonderen Volksgeister nachspürt, sondern die weitergehende Frage nach ihrer Bedeutung für die ,innere Entwicklungslogik‘ ganzer Zivilisationen aufwirft. Hegel will von § 354 an die allgemeine These von der verfassungsgeschichtlichen ,Weichenstellerfunktion‘ der Religion anhand eines universalen Entwicklungsschemas präzisieren, das nun nicht mehr einzelne Völker oder Staaten, sondern „Reiche“ bzw. Imperien zum Gegenstand hat. Dieses evolutionäre Modell soll den internen Zusammenhang der religiösen Volksgeistkomponente mit dem jeweiligen Gesamtsystem der Sitten und Institutionen, ihrem inneren normativen Prinzip und jeweils möglichen Verfassungstypen darstellen. Er bedient sich dabei eines Idealtypus,336 der vier welthistorische Reiche und entsprechend „vier Weltanschauungen“ voneinander abgrenzt, in denen „der Geist durch diese Stufen zum Wissen seiner selbst kommt.“337 Warum es sinnvoll ist, in der „vernünftigen Geschichte der Verfassung und der Geschichte überhaupt“ mit den „Naturstaaten“ zu beginnen, kommt in der Anmerkung zu § 355 zur Sprache. Die Vorstellung einer vom selbstbewußten 333

Ebd., S. 121. Ebd., S. 123. 335 Hegel, Phil. d. Gesch., in: Werke, Bd. 12, S. 131. 336 Es ist unsinnig, Hegels „spekulative Skizze“ wegen ihrer Einfachheit zu kritisieren. Denn nichts anderes lag in seiner Absicht als eine „Skizze idealtypisierter Epochen der Weltgeschichte“ zu zeichnen, die die wesentlichen Etappen des „Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit“ benennt; vgl. Stekeler-Weithofer (2001), S. 164. 337 Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 165, S. 258. „Nach diesen vier Prinzipien sind der welthistorischen Reiche die viere: 1. das orientalische, 2. das griechische, 3. das römische, 4. das germanische“; vgl. Hegel, Grundlinien, § 354, in: Werke Bd. 7, S. 509. 334

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Willen unabhängigen, schlechthin geltenden und ewig stehenden sittlichen Form sei nämlich in der Entstehungsphase eines jeden Staates eine unbedingte Notwendigkeit. An den orientalischen Staaten trete dieses Moment in seiner idealtypischen Reingestalt, der unterschiedslosen Identität von absolutem, objektivem und subjektivem Geist,338 zutage. Die Philosophie der Weltgeschichte beginne daher mit diesem Prinzip der als Natur verstandenen Sittlichkeit der orientalischen Staaten und gehe stufenweise fort zum anderen Extrem: dem selbstbewußten Willen als Prinzip der ,germanischen‘ Staaten, in denen es sich zur organischen Gewaltenteilung freiheitlicher Verfassungsstaaten ausbildet habe.339 Die Wandlungen, die das Verhältnis zwischen absolutem, objektivem und subjektivem Geist in der Weltgeschichte erfährt, sollen durch das Prinzip des „Fortschritt[s] im Bewußtsein der Freiheit“340 bestimmt sein, dessen Kehrseite die „tendenzielle Aufhebung der Natürlichkeit des Willens“341 in allen drei Dimensionen des Geistes ausmacht. „Ob das Zusammenhalten des Staates auf der Natur oder auf der Willensfreiheit beruht, macht den Unterschied der Verfassungen aus. Der Anfang jedes Begriffs ist das Moment der Unmittelbarkeit, der Natur, und das Ziel ist das Moment der Vernünftigkeit. Es kommt darauf an, wie weit die Vernünftigkeit die Natur verdrängt hat.“342

Das wesentliche Kriterium der qualitativen Unterscheidung der welthistorischen Völker und Kultur besteht darin; die jeweils herrschenden sittlichen ,Grundnormen‘ daraufhin zu untersuchen, ob sie eher dem Prinzip ,Substanz‘ oder eher dem Prinzip ,Subjekt‘ zuneigen. Insofern Hegel die Weltgeschichte aus dem Blickwinkel eines Fortschritts im Bewußtsein und Dasein der Freiheit rekonstruieren will, muß er mit dem Sittlichkeitskeitstyp beginnen, der weitestgehend dem Prinzip der Substanz gehorcht. (1) Den ersten, weitgehend durch Naturreligionen bestimmten Typ politischer Sittlichkeit subsumiert der § 355 unter den Oberbegriff „Das orientalische Reich“, wobei der entsprechende Verfassungstypus als „Despotismus“343 bezeichnet wird. Staaten dieser Art basierten auf einem patriarchalischen (bzw. ,patrilinearen‘) Weltbild, demgemäß Religion, Natur und Staat bzw. Herrscher unmittelbar als eines und dasselbe gälten. Die in sich ungeteilte Staatsgewalt werde theokratisch ausgeübt, denn Verfassung und Gesetzgebung artikulierten nichts anderes als religiöse ,Naturgesetze‘: „Dies erste Reich ist die vom patriarchalischen Naturganzen ausgehende, in sich ungetrennte, substantielle Weltan-

338 339 340 341 342 343

Bautz (1988), S. 20. Vgl. Hegel, Grundlinien, § 355, Anm., in: Werke Bd. 7, S. 510. Hegel, Phil. d. Gesch., in: Werke Bd. 12, S. 32. Bautz (1988), S. 113. Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 135, S. 192 f. Hegel, Rechtsphilosophie Homeyer, § 137, S. 345.

3.2. Die Weltreligionen als ,Weichensteller‘ der Verfassungsgeschichte

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schauung, in der die weltliche Regierung Theokratie, der Herrscher auch Hoherpriester oder Gott, Staatsverfassung und Gesetzgebung zugleich Religion, so wie die religiösen und moralischen Gebote oder vielmehr Gebräuche ebenso Staats- und Rechtsgesetze sind.“344 In diesem „Reich der Erhabenheit, des Unendlichen“345 das keine prinzipielle Unterscheidung zwischen Natur, Staat, Kultur und Religion kenne und dessen Einheit häufig in der Person des zum Gott erhobenen Despoten dargestellt werde, bleibe die Subjektivität aller Nichtpatriarchen rechtlos. In dieser Art Staat könne nur einer frei sein: „In der Pracht dieses Ganzen geht die individuelle Persönlichkeit rechtlos unter, die äußere Natur ist unmittelbar göttlich oder ein Schmuck des Gottes und die Geschichte der Wirklichkeit Poesie.“346 Die Sitten neigten zur zeremonialen Erstarrung, die Regierung zur willkürlichen Despotie und die Sozialstruktur zur völligen Immobilität eines ,naturgesetzlichen‘ Kastensystems: „Die nach den verschiedenen Seiten der Sitten, Regierung und des Staats hin sich entwickelnden Unterschiede werden, an der Stelle der Gesetze, bei einfacher Sitte schwerfällige, weitläufige, abergläubische Zeremonien, – Zufälligkeiten persönlicher Gewalt und willkürlichen Herrschens und die Gliederung in Stände eine natürliche Festigkeit von Kasten.“347 Der Staat sei daher hierarchisch organisiert, in seinen Funktionen mechanisch versteinert und mobil allein in seinem militärisch-expansiven äußeren Souveränitätsgebrauch: „Der orientalische Staat ist daher nur lebendig in seiner Bewegung, welche, da in ihm selbst nichts stet und, was fest ist, versteinert ist, nach außen geht, ein elementarisches Toben und Verwüsten wird. Die innerliche Ruhe ist ein Privatleben und Versinken in Schwäche und Ermattung.“348 (2) Noch das „griechische Reich“ basiert, gemäß § 356, auf einer substantialistischen Weltanschauung, in der Natur und absoluter Geist eine ungeschiedene Einheit bilden, dies allerdings auf neue Weise. Die eine absolute Substanz werde nun nämlich einerseits als vergangene gedacht und in mythischen Erzählungen tradiert und andererseits zum philosophischen Selbstbewußtsein, zur Kunst und politischer Tugend ,sublimiert‘: „Dieses hat jene substantielle Einheit des Endlichen und Unendlichen, aber nur zur mysteriösen, in dumpfe Er344

Vgl. Hegel, Grundlinien, § 355, in: Werke Bd. 7, S. 509. Hegel, Rechtsphilosophie Homeyer, § 137, S. 344. 346 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 355, in: Werke Bd. 7, S. 509; vgl. auch ders., Rechtsphilosophie Wannenmann, § 166, S. 258: „Das orientalische Reich ist die substanzielle Weltanschauung, im Anfang ein patriarchalisches Naturganzes, worin die Individuen als Söhne keine Persönlichkeit, [. . .] Recht und Eigentum für sich gegen den Herrscher haben“. 347 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 355, in: Werke Bd. 7, S. 509. Der „Unterschied der Stände, des bürgerlichen Lebens“ ist „durch die Geburt zu Kasten befestigt“; vgl. ders., Rechtsphilosophie Wannenmann, § 166, S. 258 f. 348 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 355, in: Werke Bd. 7, S. 509. 345

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

innerung, in Höhlen und in Bilder der Tradition zurückgedrängten Grundlage, welche aus dem sich unterscheidenden Geiste zur individuellen Geistigkeit und in den Tag des Wissens herausgeboren, zur Schönheit und zur freien und heiteren Sittlichkeit gemäßigt und verklärt ist.“349 In diesem „Reich der Schönheit, wo die Erhabenheit zur Individualität und Gegenwart wird“350 und man sie nicht mehr nur als abstrakte Unendlichkeit vorstellt, erscheine das Prinzip der persönlichen Besonderheit (der Wille) aber noch nicht als (von der politischen Sphäre abgespaltene) moralische Subjektivität, deren Urteile die Innerlichkeit des Gewissens beträfen, sondern als untrennbar verbunden mit den Zwecken des politischen Gemeinwesens: „In dieser Bestimmung geht somit das Prinzip persönlicher Individualität sich auf, noch als nicht in sich selbst befangen, sondern in seiner idealen Einheit gehalten“.351 Daß das sittliche Prinzip der subjektiven Freiheit nur erst der Möglichkeit nach vorhanden sei und noch nicht als allgemeingültiges, das politische Ganze durchherrschendes Verfassungsprinzip anerkannt werde, zeige sich auf dreierlei Weise: Erstens sei die Polis-Sittlichkeit in eine äußere Vielheit selbständiger Stadtstaaten mit verschiedenen Herrschaftsformen und sittlichen Volksgeistern aufgespalten.352 Zweitens werde die Letztentscheidung rechtlicher und politischer Fundamentalfragen noch nicht dem menschlichen Willen zuerkannt, sondern transzendenten Mächten überantwortet, deren Urteilsspruch sich magisch, d. h. indirekt und zufällig, z. B. durch Orakel353 oder Losentscheid, kundtue. Drittens seien die Freiheitsrechte einschließlich des der republikanischen Selbstherrschaft nur für einige rechtlich garantiert; denn die Sklaven, die ausschließlich dem ,System der Bedürfnisse‘ zugerechnet wurden, blieben von der Teilhabe am ,System der Sittlichkeit‘ ausgeschlossen. Die „persönliche Freiheit war noch nicht als absolut Allgemeines anerkannt, die freien Bürger waren die Aristokraten, und sie hatten noch nicht das Bewußtsein der Notwendigkeit der Freiheit aller.“354 349

Vgl. ebd., § 356, in: Werke Bd. 7, S. 510. Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Homeyer, § 137, S. 137. 351 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 356, in: Werke Bd. 7, S. 510, 2; vgl. ders., Rechtsphilosophie Homeyer, § 137, S. 345: „Demokratie Hauptform des griechischen Staatslebens – Sie setzt Sittlichkeit in ihrer Einfachheit – Tugend voraus – Die Einzelnen haben hier für ihre Besonderheit keine besondere Organisation, wodurch sie in gewaltsamem Zusammenhang gehalten würden, sondern sie könne als Einzelne gelten, die in ihrer Sittlichkeit zugleich identisch sind.“ 352 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Homeyer, § 139, S. 347: „Die Griechen sind, indem das Substantielle aufgelöst ist, natürlich in viele Völkerindividualitäten aufgelöst.“ 353 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Henrich, S. 287. 354 Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 167, S. 261. „Die reguläre Staatsform der griechischen Antike sei einerseits die die Rechtsgleichheit der Bürger unterstellende Demokratie, „welche andererseits noch die Sklaverei in sich enthält“; vgl. ebd. 350

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Die innere Widersprüchlichkeit der griechischen Demokratie zeige sich erstens daran, daß „das Ganze [. . .] in einen Kreis besonderer Volksgeister“ zerfällt, zweitens daran, daß „die letzte Willensentschließung noch nicht in die Subjektivität des für sich seienden Selbstbewußtseins, sondern in eine Macht, die höher und außerhalb desselben sei, gelegt“ ist355 und drittens daran, daß „die dem Bedürfnisse angehörige Besonderheit noch nicht in die Freiheit aufgenommen“ wird, sondern einem „Sklavenstand“ überantwortet bleibt.356 (3) Zwar ist nach Hegel schon die Polissittlichkeit kein unterschiedsloses Ganzes mehr, wie dies bei den theokratisch-despotischen ,Naturstaaten‘ der Fall gewesen sei, doch die reelle Ausdifferenzierung der politischen Sittlichkeit geschieht laut § 357 erst im „römischen Reich“, dessen Verfassung dem „aristokratischen Prinzip“ gehorcht.357 Der Unterschied zwischen Subjektivität und Substanz des sittlichen Willens (als Staat) steigere sich nun zum Gegensatz und letztlich zum Widerspruch zwischen privatem Sonderinteresse und öffentlichem Allgemeinwillen: In Rom „vollbringt sich die Unterscheidung zur unendlichen Zerreißung des sittlichen Lebens in die Extreme persönlichen privaten Selbstbewußtseins und abstrakter Allgemeinheit.“358 Dieser Gegensatz entspringe aus dem Konflikt zwischen dem Interesse der Patrizier am Erhalt ihrer Alleinherrschaft und den demokratischen Selbstbestimmungsinteressen der Plebejer.359 Die Zwecke der ersten Schicht würden mittels oligarchischer Ämterpatronage und die der zweiten mittels plebiszitärer Demagogenherrschaft durchzusetzen gesucht. Wegen dieser konträren Herrschaftsinteressen (und Rechtsauffassungen) zerfalle schließlich die res publica360 und damit das römische Imperium in eine äußere Vielheit von Völkern, die sich, in den sekundären ,Naturzustand‘ versetzt, wie Privatpersonen mit gleichen, aber

355 Zur Bedeutung des Losverfahrens in der athenischen Demokratie vgl. Joachim Bleicken, Die athenische Demokratie, Paderborn u. a. 1985, S. 172 ff. 356 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 356, in: Werke Bd. 7, S. 510; vgl. ders., Rechtsphilosophie Homeyer, § 139, S. 347; zur Stellung der Sklaven vgl. Tuttu Tarkiainen, Die athenische Demokratie, Zürich/Stuttgart 1966, S. 42 ff. 357 Hegel, Rechtsphilosophie Homeyer, § 137, S. 345. 358 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 357, in: Werke Bd. 7, S. 511; vgl. ders., Rechtsphilosophie Wannenmann, § 168, S. 261: „Von dem römischen Reich ist die Zerreißung des sittlichen Einheit in die Extreme des Fürsichseins des Selbstbewußtseins und der abstrakten Allgemeinheit vollbracht worden.“ 359 Dem sozialen Antagonismus entspricht nach Hegel der permanente Konflikt zwischen Staatsformen: „Plebejer gegen Patrizier – demokratisches Prinzip im Gegensatz gegen Aristokratie“; vgl. Hegel, Heidelberger Enzyklopädie, Vorlesungsnotiz zu § 450, S. 209. 360 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Homeyer, § 140, S. 348: „Das römische Reich ist die sich vollbringende Zerreissung der sittlichen Einheit in die Extreme abstrakter Allgemeinheit und des für sich seyenden (einzelnen) Selbstbewußtseyns.“

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nur subjektiven, ,gelten-sollenden‘ Rechten gegenüberstünden. Sowohl im griechischen als auch im römischen ,Verfassungsrecht‘ seien nur einige frei.361 Von § 358 an werden unter dem Oberbegriff „Das germanische Reich“362 die religiösen Wurzeln des modernen Verfassungsstaates nordwesteuropäischer Prägung behandelt, als deren erste Stufe der jüdische Monotheismus zu gelten hat. (4) Der aus dem Zerfall des römischen Imperiums resultierende sekundäre Naturzustand zwischen staatslosen „Völkerindividualitäten“ werde zuerst durch das israelitische Volk überwunden, welches sich im Zustand der absoluten Institutionenlosigkeit seiner sittlichen Identität als Volk vergewissert habe und diese in der Form des rechtsstiftenden Bundes (des auserwählten Volkes) mit Jahwe verstetigt habe. Zwar sei die Struktur des Geistes besonders prägnant am israelitischen Volksgeist ablesbar: Die sittliche Idee sei hier Ursprung ihrer Realität. Der jüdische Monotheismus hätte erstmals die Idee der Einheit Gottes mit der (menschlichen) Natur gedacht. Dennoch sei erst das christliche Prinzip des Versöhnungsgeschehens363 und das der Ebenbildlichkeit Gottes und der Menschen in der Lage gewesen, den Gegensatz zwischen Diesseits und Jenseits aufzuheben: „Aus diesem Verluste seiner selbst und seiner Welt und dem unendlichen Schmerz desselben, als dessen Volk das israelitische bereitgehalten war, erfaßt der in sich zurückgedrängte Geist in dem Extreme seiner absoluten Negativität, dem an und für sich seienden Wendepunkt, die unendliche Positivität dieses seines Innern, das Prinzip der Einheit der göttlichen und menschlichen Natur, die Versöhnung als der innerhalb des Selbstbewußtseins und der Subjektivität erschienenen objektiven Wahrheit und Freiheit, welche dem nordischen Prinzip der germanischen Völker zu vollführen übertragen wird.364 Das Prinzip der Gottesebenbildlichkeit oder des „Anthropomorphismus“365 werde im Christentum als durch Subjektivität und 361 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 357, in: Werke Bd. 7, S. 511: „Die Entgegensetzung, ausgegangen von der substantiellen Anschauung einer Aristokratie gegen das Prinzip freier Persönlichkeit in demokratischer Form, entwickelt sich nach jener Seite zum Aberglauben und zur Behauptung kalter, habsüchtiger Gewalt, nach dieser zur Verdorbenheit eines Pöbels, und die Auflösung des Ganzen endigt sich in das allgemeine Unglück und den Tod des sittlichen Lebens, worin die Völkerindividualitäten in der Einheit eines Pantheons ersterben, alle Einzelnen zu Privatpersonen und zu Gleichen mit formellem Rechte herabsinken, welche hiermit nur eine abstrakte, ins Ungeheure sich treibende Willkür zusammenhält.“ 362 Nach Henning Ottmann hat der Titel „Das Germanische Reich“ nicht das geringste zu tun mit „Germanismen, Rassismus oder Nationalismus“. Er verweise vielmehr auf die christliche Welt; vgl. Ottmann (1997), S. 271. 363 Vgl. dazu Theunissen (1970), S. 93–100. 364 Hegel, Grundlinien, § 358, in: Werke Bd. 7, S. 511. 365 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Homeyer, § 141, S. 349: „In der christlichen Religion (ist gesetzt) das Prinzip (der aus dem Geist hervorgehenden Einheit) als gegenwärtig für alle dargestellt.; israelitisches Volk Geburtsstätte dieses Prinzips – Die göttliche und menschliche Natur dieselbe – Der Anthropomorphismus vollkommen vollen-

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also einen freien Willen vermitteltes Versöhnungsgeschehen Gottes mit seiner endlich-natürlichen Manifestation gedacht. Das christliche europäische Mittelalter wird in § 359 als die Epoche der „Entfremdung von Diesseits und Jenseits“ bezeichnet. Dies Prinzip der Versöhnung Gottes mit seiner Entäußerung komme zunächst als bloß innere, begrifflose Empfindung zu Bewußtsein. Das sich zunächst im Medium empfindender Subjektivität kundtuende Versöhnungsprinzip müsse sich aber, um gewußt, und nicht bloß vage empfunden werden zu können, in der Realität darstellen. Das impliziert bei Hegel: Die zu versöhnenden Momente müssen zuerst als äußere Extreme in der Endlichkeit auseinandertreten. Die Verwirklichungsbewegung der Versöhnungsidee vollzieht sich also zunächst als Ur-Teilung in ein weltliches und ein jenseitiges Reich der Versöhnung, deren Unterschied sich zur Entfremdung oder absoluten Andersheit von natürlichem Diesseits und göttlichem Jenseits verhärtet. Die sittliche Substanz des Diesseits besteht im feudalen Treueverhältnis,366 das wegen der Zwiespältigkeit367 dieses Prinzips – die Willkür des Einzelnen (als der subjektive Grund partikularer sittlicher Bindungen) – jederzeit in eine Vielheit partikularer Willküren zu zerfallen droht. Der Inhalt des jenseitigen Reiches ist zwar die Wahrheit des Geistes, die Versöhnung des Endlichen und des Unendlichen; sie wird aber noch nicht gedacht, sondern ist als Phantasie (z. B. des jüngsten Gerichtes) imaginiert, die Gewissenszwänge368 und Grausamkeit erzeugt: „Die Innerlichkeit des Prinzips, als die noch abstrakte, in Empfindung als Glaube, Liebe und Hoffnung existierende Versöhnung und Lösung allen Gegensatzes, entfaltet ihren Inhalt, ihn zur Wirklichkeit und selbstbewußten Vernünftigkeit zu erheben, zu einem vom Gemüte, der Treue und Genossenschaft Freier ausgehenden weltlichen Reiche, das in dieser seiner Subjektivität ebenso ein Reich der für sich seienden rohen Willkür und der Barbarei der Sitten ist – gegenüber einer jenseitigen Welt, einem intellektuellen Reiche, dessen Inhalt wohl jene Wahrheit seines Geistes, aber als noch ungedacht in die Barbarei der Vorstellung gehüllt ist und, als geistige det aus dem Geiste erzeugt als das innere Freiheitsprinzip der geistigen Religion überhaupt.“ 366 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 169, S. 263 f.: „Bei den Germanen war die Staatseinheit nicht diese orientalisch-natürliche oder religiöse, sondern aus der Innerlichkeit, aus dem Selbst ging sie hervor; der Anfang dieser Einheit beruhte auf der freien Wahl eines Chefs, an den sich freiwillig mit Vertrauen aus freier Wahl das Volk anschließt. Hier ist das Prinzip der Innerlichkeit vorhanden; aus ihm entstand das Feudalverhältnis.“ 367 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 359, in: Werke Bd. 7, S. 511: „Treue und Genossenschaft“ auf der einen Seite stehen „Willkür und Barbarei der Sitten“ auf der anderen gegenüber. 368 Der junge Hegel beschrieb die sozialpsychologischen Mechanismen, derer sich die römisch-katholische Kirche bedient habe, als „ängstliche[n] Apparat“ und als „künstliche[s] System von Triebfedern und Trostgründen“; vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Fragmente über Volksreligion und Christentum, in: Werke, Bd. 1, S. 101.

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Macht über das wirkliche Gemüt, sich als eine unfreie fürchterliche Gewalt gegen dasselbe verhält.“369 Mit der Reformation (§ 360) beginnt die Epoche der „Aufhebung der Entfremdung“. Der Unterschied des weltlichen und jenseitigen Reiches, der in der Idee bzw. ,nach der Vernunft‘ in der Einheit des Absoluten aufgehoben ist, vertiefe sich zum ausschließenden Gegensatz von Kirche und Staat.370 Das jenseitige Reich werde durch die Vermittlung einer geistlichen Institution höchst diesseitig ausgelegt und verweltlicht, und das diesseitige Reich ,idealisiere‘ die vormals abstrakte individuelle Subjektivität zum Rechts- und Staatsprinzip der vernünftigen Freiheit. Durch diese doppelte, komplementäre Bewegung der Verweltlichung des Jenseitigen und der Idealisierung des Endlichen erweise sich der Gegensatz beider Reiche als vermittelbar: „Indem in dem harten Kampfe dieser im Unterschiede, der hier seine absolute Entgegensetzung gewonnen, stehenden und zugleich in einer Einheit und Idee wurzelnden Reiche das Geistliche die Existenz seines Himmels zum irdischen Diesseits und zur gemeinen Weltlichkeit, in der Wirklichkeit und in der Vorstellung, degradiert, das Weltliche dagegen sein abstraktes Fürsichsein zum Gedanken und dem Prinzipe vernünftigen Seins und Wissens, zur Vernünftigkeit des Rechts und Gesetzes hinaufbildet, ist an sich der Gegensatz zur marklosen Gestalt geschwunden“.371

In der aufgeklärten Gegenwart habe sich einerseits das ,weltliche Reich‘ vom Despotismus in einen vernünftig verfaßten Zustand mit prinzipiell gleichen Freiheitsrechten transformiert und andererseits seien die religiösen Mächte gezwungen worden, ihren vormaligen Dogmatismus zugunsten des Toleranzprinzips372 einzuschränken. Politische Geschichte und Religionsgeschichte konvergieren demnach im selben Ziel: der „Verwirklichung der Freiheit im sittlichen Staat“. Daß diese Konvergenz möglich ist, setzt voraus, daß der „Staat der Religion bedarf als im Absoluten verankerten Grundlage seiner Autorität, [. . .] während andererseits die Religion im Staat die weltliche Verwirklichung der in Gott begründeten Freiheit hervorzubringen sucht und findet“.373 Der moderne gewaltenteilige Verfassungsstaat, wie er vorzüglich in den protestantischen Ländern Nordwesteuropas verwirklicht sei, könne deswegen als die objektiv gewordene Versöhnung des Diesseits und des Jenseits gelten, weil in ihm der selbstbe-

369

Vgl. Hegel, Grundlinien, § 359, in: Werke Bd. 7, S. 511 f. Vgl. ebd., § 270, in: Werke Bd. 7, S. 415 ff. 371 Vgl. ebd., § 360, in: Werke Bd. 7, S. 512. 372 Zum Geschichte des Toleranzbegriffs, der aus Religionskonflikten hervorgehend, die Momente der Ablehnung, Akzeptanz und Zurückweisung enthält, vgl. Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, Frankfurt am Main 2003, dazu Jürgen Habermas, Religiöse Toleranz als Schrittmacher kultureller Rechte, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 2005, S. 258–278. 373 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Präsentische Eschatologie in Hegels Geschichtsphilosophie, in: Bubner/Mensch (2001), S. 318. 370

3.3. Ungleichzeitigkeit und Fortschritt in der Verfassungsgeschichte

97

wußte Wille zur wirklichen (und nicht bloß innerlichen) Entfaltung in den Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft und des politischen Staates gelangt sei: „[D]ie Gegenwart hat ihre Barbarei und unrechtliche Willkür und die Wahrheit hat ihr Jenseits und ihre zufällige Gewalt abgestreift, so daß die wahrhafte Versöhnung objektiv geworden, welche den Staat zum Bilde und zur Wirklichkeit der Vernunft entfaltet, worin das Selbstbewußtsein die Wirklichkeit seines substantiellen Wissens und Wollens in organischer Entwicklung, wie in der Religion das Gefühl und die Vorstellung dieser seiner Wahrheit als idealer Wesenheit, in der Wissenschaft aber die freie begriffene Erkenntnis dieser Wahrheit als einer und derselben in ihren sich ergänzenden Manifestationen, dem Staate, der Natur und der ideellen Welt, findet.“374

Staat, Natur und absoluter Geist sind somit zu verstehen als verschiedene, aufeinander nicht reduzierbare, aber sich notwendig ergänzende Manifestationen des unendlichen Geistes in der Sphäre der Endlichkeit. Dies setzt zum einen voraus, daß die Kirche ihre vormaligen politischen Herrschaftsansprüche aufgibt. Zum anderen beschränkt sich der moderne Staat auf die ihm eigentümliche Sphäre des Geistes – das Recht. Indem der Souverän darauf verzichtet, theologische Geltungsansprüche für die von ihm erteilten Rechtsnormbefehle zu erheben, können sich auch die Sphären des absoluten Geistes, Kunst, Religion und Philosophie, in ihrer Eigengesetzlichkeit entfalten. Der Säkularisierung des Politischen entspricht die Autonomisierung des sich ausdifferenzierenden absoluten Geistes, der nun in je besonderen Elementen die Idee der Einheit von Natur und Subjektivität entwirft, wobei der Philosophie die Aufgabe zufällt, Staat, Natur und absoluten Geist als sich ergänzende Manifestationen der Wahrheit zu erklären und darzustellen.

3.3. Ungleichzeitigkeit und Fortschritt in der Verfassungsgeschichte Hegels vierstufiges Schema der welthistorischen Entwicklungsstufen der Sittlichkeitssysteme – orientalische Despotie, griechische Polis, römisches Imperium und europäischer Rechtsstaat – erscheint mindestens so lange als abstrakte, teleologisch abgeschlossene Konstruktion a priori, wie man seine Aussagen über die dynamischen Kräfte ignoriert, die jene weltgeschichtliche Bewegung in Gang hielten (und halten). Die Anmerkung zu § 347, die den Titel trägt: „Die Entwicklungsgeschichte eines Volksgeistes und das Übergehen der Entwicklung an ein anderes Volk“, diskutiert die These von den internen Entfaltungsgrenzen einer sittlichen Totalität in zwischenstaatlichem Kontext, wobei er die zuvor im äußeren Staatsrecht behandelte Frage der völkerrechtlichen ,Gerechtigkeit‘ erneut aufgreift und sie nun im Rahmen einer dynami374

Hegel, Grundlinien, § 360, in: Werke, Bd. 7, S. 512.

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

schen Theorie staaten- und volksgeistübergreifenden verfassungsgeschichtlichen Fortschritts erörtert. Die besondere Geschichte eines „welthistorischen Volks enthält teils die Entwicklung seines Prinzips von seinem kindlichen eingehüllten Zustande aus bis zu seiner Blüte, wo es, zum freien sittlichen Selbstbewußtsein gekommen, nun in die allgemeine Geschichte eingreift, teils auch die Periode des Verfalls und Verderbens; – denn so bezeichnet sich an ihm das Hervorgehen eines höheren Prinzips als nur des Negativen seines eigenen.“375 Die sittliche Kultur eines welthistorischen Volkes durchlaufe – so die evolutionistische These – einen zeitlich limitierten376 Prozeß der Ausdifferenzierung seines eigentümlichen Freiheitsprinzips. Die optimale Entfaltung dieses speziellen Willensprinzips sei dann erreicht, wenn gemäß den Bestimmungen des ,wesentlichen Verhältnisses‘ die institutionelle Realität den Möglichkeiten des je besonderen (und zwangsläufig einseitigen) Freiheitsbegriffs vollkommen entspreche.377 In diesem Stadium des vollkommenen adäquaten Zusammenschlusses des speziellen Begriffs des Willens mit seiner institutionell-organisatorischen Entäußerung sei der betreffende Volksgeist in der Lage, seine welthistorische Avantgarde-Funktion praktisch wahrzunehmen. Sei dieser ,organische Optimalzustand‘ aber erreicht, dann beginne die sittliche Totalität eines Volkes bereits zu zerfallen; die Momente der sittlichen Totalität verwandelten sich in bloße Teile zurück, die zur ,anorganischen‘ Selbständigkeit und damit zur Auflösung des Ganzen tendierten. Diese Neigung der Zivilisationen zur degenerativen Entzweiung des inneren begrifflichen Wesens und der äußeren, speziell der institutionell differenzierten Erscheinung des besonderen Freiheitsbegriffes könne volksgeistimmanent nicht neutralisiert werden,378 so daß die welthistorische ,Mission‘ nun an ein anderes Sittenprinzip ,übergehe‘. „Damit wird der Übergang des Geistes in jenes Prinzip und so der Weltgeschichte an ein anderes Volk angedeutet, – eine Periode, von welcher aus jenes Volk das absolute Interesse verloren hat, das höhere Prinzip zwar dann auch positiv in sich 375

Vgl. Hegel, Grundlinien, § 347, Anm., in: Werke, Bd. 7, S. 506. Vgl. Fulda (1986), S. 68: „Alles Endliche unterliegt einer Dialektik“, die darin besteht, „daß das Endliche sich in einem Widerspruch, den es in sich enthält, aufhebt. Es enthält nämlich untrennbar, ja einander implizierend zwei Momente, die sich wechselseitig negieren: eine Schranke, über die es nicht hinaus kann, und ein Sollen über diese Schranke hinauszugehen. Die Aufhebung des Widerspruchs besteht darin, daß das Endliche vergeht. Es vergeht, indem es zunächst übergeht in ein anderes Endliches. Näher betrachtet aber geht es dabei mit sich selbst zusammen und kommt zur Identität mit sich; allerdings nicht in sich selbst oder in dem anderen Endlichen, sondern in einem anderen als dem Endlichen, also dem Unendlichen.“ 377 Dieser sittliche Optimalzustand besteht in der „Einheit des vernünftigen Willens mit dem einzelnen Willen“ als „einfache[r] Wirklichkeit der Freiheit“; vgl. Hegel, Enz. III, § 485, in: Werke, Bd. 10, S. 303. 378 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 164, S. 256 f.: „Auch das herrlichste, höchste Prinzip eines Volkes ist als Prinzip eines besonderen Volkes ein beschränktes Prinzip, über welches der Zeitgeist hinwegschreitet.“ 376

3.3. Ungleichzeitigkeit und Fortschritt in der Verfassungsgeschichte

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aufnimmt und sich hineinbildet, aber darin als in einem Empfangenen nicht mit immanenter Lebendigkeit und Frische sich verhält, – vielleicht seine Selbständigkeit verliert, vielleicht auch sich als besonderer Staat oder ein Kreis von Staaten fortsetzt oder fortschleppt und in mannigfaltigen inneren Versuchen und äußeren Kämpfen nach Zufall herumschlägt.“379

Verwirklicht sich der universelle Geist in einem anderen, weniger kontingenten und in diesem Sinne ,höheren‘ Sittlichkeitsprinzip,380 dann erscheint dieser qualitative Fortschritt nicht als solcher, sondern lediglich als diskontinuierlicher Austausch des dominierenden Kollektivakteurs der Geschichte, als bloßes Übergehen381 an ein anderes Volk. Doch auch hier sei eine ,List der Vernunft‘ am Werk. Der diskontinuierliche Austausch des jeweiligen Protagonisten welthistorischer Sittlichkeit bewirke nämlich objektiv die Entwicklung und das Aufgehobenwerden des defizitären Sittensystems im fortgeschrittenen. Das vormalige welthistorische Volk dagegen kann seine politische Selbständigkeit verlieren oder „als besonderer Staat oder Kreis von Staaten“ fortbestehen, der durch innere Reformen oder äußere Anerkennungskämpfe seinem Schicksal zu trotzen sucht. Und selbst wenn das rückständige Volk das vernünftigere Freiheitsprinzip adaptieren sollte, so müsse es ihm doch in der Regel äußerlich bleiben.382 Unter dem Titel „Stufen der geschichtlichen Entwicklung als Stufen ungleichen Rechts“ bezieht § 351 die völkerrechtliche Dimension staatlicher Souveränität mit ein. Hier soll gezeigt werden, daß die qualitativen, letztlich durch Naturunterschiede und diesen entsprechenden pragmatischen ,Systemen der Bedürfnisse‘ bedingten Differenzen zwischen den Staatsverfassungen ebenso wie die durch diese beförderten Kämpfe um Anerkennung unterschwellig dafür sorgen, daß der chaotisch scheinende Naturzustand zwischen Staaten trotz aller Zufälligkeit auf ein Ziel hin ausgerichtet ist. Technisch, pragmatisch, sittlich und speziell politisch fortgeschrittene Nationen betrachteten andere, in ihren Sitten weniger entwickelte Völker als rückständig und mit minderen Rechten ausgestattet. Daher werde deren politische 379

Ebd. Vgl. Hegel, Heidelberger Enzyklopädie, § 449, S. 204: „Diese Bewegung ist die Befreyung der sittlichen Substanz von ihren Besonderheiten, in denen sie in den einzelnen Völkern wirklich ist, – die That, wodurch sich der Geist zum allgemeinen, zum Weltgeist wird.“ 381 Hegel selbst unterscheidet den Begriff des Übergehens folgendermaßen von dem der Entwicklung: „Übergehen in Anderes ist der dialektische Prozeß in der Sphäre des Seins und Scheinen in Anderes in der Sphäre des Wesens. Die Bewegung des Begriffs ist dagegen Entwicklung, durch welche nur dasjenige gesetzt wird, was an sich [der Möglichkeit nach] schon vorhanden ist. In der Natur ist es das organische Leben, welches der Stufe des Begriffs entspricht. So entwickelt sich z. B. die Pflanze aus ihrem Keim. [D. h.], daß der Begriff in seinem Prozeß bei sich selbst bleibt und daß durch denselben dem Inhalt nach nichts Neues gesetzt, sondern nur eine Formveränderung hervorgebracht wird“; vgl. Hegel, Enz. I, § 161, Zus., in: Werke, Bd. 8, S. 308 f. 382 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 347, Anm., in: Werke, Bd. 7, S. 506. 380

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

Souveränität lediglich als formell angesehen und behandelt. So geschieht es, „daß zivilisierte Nationen andere, welche ihnen in den substantiellen Momenten des Staats zurückstehen (Viehzuchttreibende die Jägervölker, die Ackerbauenden beide usf.), als Barbaren mit dem Bewußtsein eines ungleichen Rechts und deren Selbständigkeit als etwas Formelles betrachten und behandeln.“383 Der ,Naturzustand‘ zwischen Staaten, wie er sich aus dem Blickwinkel des Kapitels über das äußere Staatsrecht darstellt, war nichts anderes als vernunftlose, in ihrem Ergebnis zufällige, präventive bzw. präemptive Selbstbehauptung des einen Staates gegen den anderen. Aus der jetzt eingenommenen Perspektive der philosophischen Weltgeschichte offenbart sich der zwischenstaatliche Naturzustand als (unvermeidlicher) Kampf um die allgemeine Akzeptanz eines bestimmten Sittensystems (einschließlich eines speziellen Verfassungstyps). Dieser objektive Zweck, eine singuläre politische Realität der Idee sittlicher Freiheit als letztlich universell gültige gegen anders verfaßte Staaten und Völker durchzusetzen, verleihe den Kriegen welthistorische Bedeutung: In den „Kriegen und Streitigkeiten, die unter solchen Verhältnissen entspringen, macht daher das Moment, daß sie Kämpfe des Anerkennens in Beziehung auf einen bestimmten Gehalt sind, den Zug aus, der ihnen eine Bedeutung für die Weltgeschichte gibt.“384 Die eigentliche Triebfeder des Fortschritts im Bewußtsein und Dasein der politischen Freiheit soll in der synchronen Verschiedenheit der in den Verfassungen der politischen Gemeinwesen je besonders verkörperten Freiheitsprinzipien liegen, wobei Hegel in der Neigung der effektiven Souveräne zur expansiven ,Generalprävention‘ eine List der Vernunft am Werk sieht. Vorzüglich dieser militärischen Dimension des Hegemoniestrebens schreibt er verfassungsgeschichtliche Fortschritte zu. Dies ist vor dem zeitgenössischen Erfahrungshintergrund der gegenrevolutionären Koalitionkriege und speziell der Napoleonischen ,Befreiungskriege‘ allemal plausibel. Hegel war anscheinend davon überzeugt, daß die Weltgeschichte der Verfassungen im damaligen Europa ihre letzte Entwicklungsphase erreicht hatte. Ob er dabei annahm, am Ende der Geschichte würde nur eine einzige Staats- und Regierungsform385 stehen, ist damit aber noch nicht geklärt. Er mag ebensogut 383

Vgl. ebd., § 351, in: Werke, Bd. 7, S. 507 f. Vgl. ebd., § 351, Anm., in: Werke, Bd. 7, S. 508. 385 Nach Kant läßt sich die „Form eines Staates“ bzw. die „bürgerliche Verfassung (constitutio civilis)“ (vgl. Kant, Vorarbeiten zum ewigen Frieden, in: AA, Bd. XXIII, S. 164) zunächst bestimmen „nach dem Unterschiede der Personen, welche die oberste Staatsgewalt inne haben“ (Kant, ZeF, in: AA, Bd. VIII, S. 352). Da in jedem Staat die oberste Gewalt mit der Gesetzgebung zusammenfällt, lassen sich in dieser Betrachtungsart die „Staatsform[en]“ je nach dem Inhaber der souveränen, legislativen Gewalt identifizieren (Kant, Vorarbeiten zum ewigen Frieden, in: AA, Bd. XXIII, S. 164). Der „forma imperii“ nach ergeben sich die drei Grundtypen: „Autokratie, Aristokratie, De384

3.3. Ungleichzeitigkeit und Fortschritt in der Verfassungsgeschichte

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erwartet haben, eine bestimmte Verfassungskomponente (z. B. der gewaltenteilige Rechtsstaat) würde sich als Ultimum erweisen, die aber in Hinblick auf einzelne reale Staaten, die diesem Kriterium genügten, eine erhebliche Variationsbreite sowohl hinsichtlich der Regierungsform als auch der Staatsform zuließe. Auf die Frage, welche Verfassung am Ende der Geschichte stünde, gibt das Weltgeschichtskapitel der Grundlinien eine überraschende Auskunft: Jeder Staat, dessen Rechtsstaatlichkeit organisatorisch (z. B. vermittels einer Sieyesschen Jury Constitutionnaire)386 abgesichert wäre, selbst einer, dessen Gesetzgebung strikt volkssouveränitär (und vielleicht sogar plebiszitär) organisiert wäre, müßte als vernunftgemäß gelten können. Abwegig ist dagegen die These, Hegel hätte den Prozeß einer „sich historisch realisierende[n] kosmopolitische[n] Sittlichkeit nicht nach den Prinzipien des inneren Staatsrechts, also nicht in den Begriffen von Einzelstaatlichkeit“ gedacht. Es trifft zwar zu, daß er die Herausbildung jener universellen Sittlichkeit weder von der „Bildung einer Weltverfassung, einer rechtlichen kosmopolitischen Ordnung [. . .] durch die Errichtung eines globalen Leviathan“ erhofft, noch erwartet er, dies würde „durch die abstrakte Formulierung eines bloßen Weltbürgerrechts“ erreicht werden können. Doch kann man daraus nicht folgern, er wäre überzeugt gewesen, die „normative Substanz der Menschenrechte [könnte] kosmopolitisch nur so realisiert werden, daß sich in einem historischen offenen Prozeß globale soziale Kooperationssysteme ausbilden, die durch das mokratie“. Das andere Kriterium, das die „bürgerliche Verfassung“ qualifiziert, bezeichnet Kant als „Form der Regierung (forma regiminis)“. Diese besteht in der jeweiligen Organisation der eigentlichen Staatsgewalt(en), die ihrerseits geprägt ist durch die Bestimmung des Inhabers der Exekutivgewalt(en) (Kant, ZeF, in: AA, Bd. VIII, S. 352). Obwohl es Kant, jedenfalls im gedruckten Text der Friedensschrift, nicht ausdrücklich erwähnt, lassen sich analog zu den Staatsformen die reinen Formen der autokratischen, aristokratischen und demokratischen Regierung voneinander abgrenzen. Als je spezifische Kombinationen von Staatsform und Regierungsform sind Verfassungen entweder rein, d. h. homogen, wenn dieselbe Person die Gesetzgebung und die exekutive Gewalt ausübt, oder gemischt, d. h. heterogen, wenn die beiden Funktion verschiedenen Trägern zustehen. 386 Meines Wissens hat sich Hegel zu Sieyes’ diesbezüglichen Ausführungen von 1795 (vgl. dazu Thiele (2000), S. 63 ff., ders., Advokative Volkssouveränität (2003), S. 254 ff., Hafen (1994), S. 216 ff.) nirgends geäußert und seine ablehnenden Bemerkungen zu den spartanischen Ephoren (vgl. Hegel, Phil. d. Gesch., in: Werke, Bd. 12, S. 321 f.) können als vollwertiger Ersatz angesehen werden. Wenn Hegel schon 1802 moniert, daß die zeitweilig auch von Fichte vertretene Idee einer über den Staatsgewalten stehenden, einem Ephorat ähnlichen „Aufsichtskommission“ unrealistisch sei, insofern dieser keinerlei Zwangsmittel zur Verfügung stünden (Hegel, Naturrecht, in: ders., Werke, Bd. 2, S. 475), so ist daran zu erinnern, daß Sieyes spätestens in seinen Entwürfen zur Verfassung des Jahres VIII dafür plädierte, daß dem Collège des Conservateurs bewaffnete Einheiten der Nationalgarde an die Seite gestellt werden müßten; dies freilich nicht zur Wahrnehmung von Notstandsbefugnissen, sondern allein zum Zweck der Selbstverteidigung gegen etwaige Umsturzversuche seitens eines anderen pouvoir constitué; vgl. Hafen (1994), S. 241 f.; zu Hegels Kritik an Fichtes Ephorat vgl. Coppieters (1994), S. 27.

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

Prinzip reziproker Anerkennung bestimmt sind. Grundrechte haben ihren expliziten Ort im Horizont der bürgerlichen Gesellschaft. Daher ist die Voraussetzung einer globalen Verwirklichung der Menschenrechte die Bildung einer Weltbürgergesellschaft, die aus sich heraus den Charakter einer politischen Gemeinschaft annimmt, die durch Kooperation und reziproke Anerkennung bestimmt ist.“387 Selbst wenn Hegel – was wenig wahrscheinlich ist – eine globale Verwirklichung der Menschenrechte erwartet hätte, dann würde er seine diesbezügliche Hoffnung sicher nicht auf ,zivilgesellschaftliche‘ Vereinigungen gesetzt haben, sondern auf politische Institutionen und ihre Akteure, die freilich ebensosehr von komplementären Lernprozessen abhängig wären, die das Volk mit sich und seiner Geschichte machte. Der Ort, an dem sich jene internationale politische Sittlichkeit manifestieren soll, ist aber allemal der Nationalstaat und seine Verfassung.

3.4. Hat die Verfassungsgeschichte ein Endziel? Hegels universalhistorische Theorie konstruiert die Weltgeschichte als „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“.388 Insofern dieser Fortschritt zugleich eine Generalisierung im Sittlichen sein soll, muß diese Bewegung als allmähliche „Befreyung der sittlichen Substanz von ihren Besonderheiten, in denen sie in den einzelnen Völkern wirklich ist“, vonstatten gehen. Dieser Prozeß der Selbstbewußtwerdung des sittlichen Geistes als allgemeiner oder „Weltgeist“389 hat dementsprechend eine langfristige Nivellierung der Natürlichkeit und Äußerlichkeit aller volksgeistrelativen Sittlichkeit zur Voraussetzung und eine Annäherung der Verfassungsprinzipien zur Konsequenz. Damit sind freilich drei an Hegel zu richtende Fragen keineswegs erschöpfend beantwortet: Unklar bleibt nach wie vor, auf welche Weise sich dieser verfassungsgeschichtliche Homogenisierungsprozeß vollziehen soll, welche Rolle dabei die besonderen Sitten der Völker und die Nationalstaaten spielen und ob diese Entwicklung eine Angleichung in den staatsrechtlichen Prinzipien oder aber eine wechselseitige Verschränkung des Staatsrechts der Nationalstaaten in Formen höherstufigen öffentlichen Rechts zur Folge hat. Eine Hegelsche Argumentationslinie folgt der Annahme, der Anspruch eines einzelnen (z. B. des französischen) Volksgeistes darauf, in der Form seiner politischen Verfassung den schlechthin allgemeinen Geist der Freiheit verwirklicht 387 So aber Thomas M. Schmidt in: ders., Grundrechte einer Weltverfassung? Die Verwirklichung der Menschenrechte in der Perspektive der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Hauke Brunkhorst/Wolfgang R. Köhler/Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt am Main 1999, S. 293–313, 305 f. (Herv. v. Verf., U. T.). 388 Hegel, Phil. d. Gesch., in: Werke, Bd. 12, S. 32. 389 Hegel, Heidelberger Enzyklopädie, § 449, S. 204.

3.4. Hat die Verfassungsgeschichte ein Endziel?

103

zu haben, müsse bereits deswegen als unberechtigt gelten, weil das die Verfassung bestimmende Vernunftmoment jedes Volksgeistes, das jeweilige Bewußtsein der Freiheit, immer auch mit kontingenten, endlichen Bestimmungen natürlicher, pragmatischer, kultureller und nicht zuletzt historischer Art versetzt ist. Danach würde ein adäquates Selbstbewußtsein des Volksgeistes von seinem sittlichen Prinzip aufgrund dieser seiner „immanente[n] Beschränktheit“390 regelmäßig verfehlt.391 „Der Volksgeist enthält Naturnotwendigkeit und steht in äußerlichem Dasein [. . .]; die in sich unendliche sittliche Substanz ist für dich eine besondere und beschränkte [. . .] und ihre subjektive Seite mit Zufälligkeit behaftet, bewußtlose Sitte, und Bewußtsein ihres Inhaltes als eines zeitlich Vorhandenen und im Verhältnisse gegen eine äußerliche Natur und Welt.“392

Nach Adriaan Peperzak zieht Hegel allerdings die weitergehende Folgerung, „daß der Nationalstaat keine adäquate Form des Geistes sein kann. Ein Volk ist etwas Natürliches und Äußerliches. Sein natürlicher Charakter ist verantwortlich für die Art Notwendigkeit, in der die Freiheit sich nicht adäquat verwirklicht findet. Als besondere Gestalt ist ein Volk zu beschränkt, um den unendlichen Geist der Sittlichkeit (d. h. der konkreten Freiheit) auszudrücken. [. . .] Die Weltgeschichte ist das Gericht, das alle beschränkten Gestalten der Sittlichkeit zum Untergang verurteilt.“393 Diese Interpretation kann deswegen kaum überzeugen, weil sie sich ausdrücklich auf den oben zitierten ersten Satz des fraglichen Paragraphen bezieht, in dem vom Volksgeist und nicht von Nationalstaaten die Rede ist. Aus der These von der irreduziblen Endlichkeit der Volksgeister folgt aber keineswegs zwingend, daß dasselbe auch für die Institution des Nationalstaates als solchen gilt. Soll darüberhinaus gezeigt werden, daß das Nationalstaatsprinzip als solches mit der Theorie des Weltgeistes deswegen unvereinbar ist, weil schlechterdings kein empirischer Nationalstaat als adäquate Verkörperung des Weltgeistes in Frage kommen kann, dann müßte man an Hegels Texten zweierlei nachweisen: (1) Ein jeder Staat dürfte ausschließlich den sittlichen Geist eines und nur eines Volkes zur Substanz haben. Daß Hegel der Ansicht war, verschiedene Völker mit spezifischen Sitten besäßen verschiedene Verfassungen, weil sie nur jeweils eine ganz spezielle Staatsverfassung als volksgeistkompatibel anerkennen können, läßt sich belegen. So heißt es, Verfassungen seien „auch die inneren Entwicklungen des Volksgeists, die Grundlage, worin er die Stufe seines 390

Hegel, Enz. III, § 552, in: Werke, Bd. 10, S. 353. Vgl. Hegel, Grundlinien, § 346, in: Werke, Bd. 7, S. 505; ViG, S. 187; ders., Rechtsphilosophie Wannenmann, § 136, S. 196 ff., vgl. dazu Coppieters (1994), S. 15. 392 Hegel, Enz. III, § 552, in: Werke, Bd. 10, S. 353. 393 Peperzak (1987), S. 6. 391

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

Selbstbewußtseins ausdrückt.“394 Jedes Volk habe nämlich „seine Geschichte, führt seinen Geist aus, die nicht die eines fremden Volks ist.“395 Es sei dieser jeweils besondere „Geist des Volkes [. . .], der die Verfassung hervorbringt und entwickelt [. . .]. Der Volksgeist ist die Substanz“.396 Allerdings wird damit nicht gesagt, daß nur solche Völker einer eigenen politischen Verfassung fähig wären, deren Zugehörigkeit auf Abstammung basierte.397 Auch findet man keine normative Aussage über den Grad an sittlicher Homogenität, der die unabdingbare Voraussetzung volksgeistlicher Identität und entsprechender verfassungrechtlicher Stabilität sein könnte. Vielmehr lassen sich alle einschlägigen Passagen auch so lesen, daß lediglich deskriptiv von durchschnittlich herrschenden Sitten der Staatsvölker die Rede ist.398 (2) Wenn der einzelne Volksgeist, insofern sein sittliches Prinzip unabdingbar kontingente Bestimmungen enthält, eine endliche und fragmentierte Manifestation des Weltgeistes darstellt, dann muß dies ebenso für den besonderen Inhalt der im jeweiligen Staat und seiner Verfassung institutionalisierten Freiheitsauffassung gelten. Man kann daher zweitens annehmen, daß das ,Naturmoment‘, das jeder Volksgeist in sich birgt, als solches wirksam bleibt, sich also nicht durch (Selbst-)Erkenntnis der kontingenten Implikate in praktische Vernunft verwandeln läßt. Wäre nämlich das endliche Volksgeistmoment – z. B. unter Vermittlung der verschiedenen Tätigkeiten der kulturellen Institutionen des absoluten Geistes – restlos ,idealisierbar‘, dann könnte auch die entsprechend sich entwickelnde Verfassung ihrer endlichen Bestimmungsgründe verlustig gehen. Ein volksgeistrelatives nationalstaatliches Verfassungsprinzip müßte im doppelten Sinne von natürlichen Bestimmungen frei sein, wenn es beanspruchen können soll, den Inhalt des universellen sittlichen Geistes vollkommen zu repräsentieren. Zwar wäre es denkbar, daß sich zufällige Randbedingungen (geographischer, klimatischer, technologischer und pragmatischer Art), insofern sie die Sitten eines Volkes prägen, in randständigen Institutionen bzw. in peripheren 394

Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 134, S. 190. Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Homeyer, § 121, S. 331. 396 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 134, S. 191 f. 397 Zur spezifisch deutschen Tradition, die sich im Kontext konkurrierender Nationbegriffe insbesondere voluntaristischer bzw. partizipatorischer Art, auf die Kriterien „Sprache, Abstammung und Volkstum“ berief, vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz, in: ders., Staat, Nation Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1999, S. 34–58, bes. 47 ff. 398 Die Verbindung eines normativen politischen Homogenitätsbegriffs, der der Demokratietheorie des 18. Jahrhunderts unterschoben wird, um einem totalitären Begriff der Demokratie als originär auszugeben, die mit der Despotie der gesellschaftlichen Mehrheit zusammenfallen soll, macht den Kern der Verfassungslehre Carl Schmitts aus; vgl. dazu Thiele (2003), S. 140 ff., 395 ff.; vgl. auch ders., Carl Schmitts Klassiker-Interpretation und ihre verfassungsdogmatische Funktion, in: Rechtstheorie 35/2 (2004), S. 232–246. 395

3.4. Hat die Verfassungsgeschichte ein Endziel?

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Bestimmungen der geschriebenen Verfassung wiederfinden; der organisatorische Kern des Staatsaufbaus aber müßte von volksgeistrelativen Kontingenzen strikt befreit sein. Andernfalls nämlich wäre der inhaltliche Universalitätsanspruch des Verfassungsprinzips lediglich einer Generalisierung endlicher Sitten entsprungen und damit von vornherein als mögliche Realisation des Weltgeistes diskrediert. Wenn es zutrifft, daß Hegel die dialektische Beziehung zwischen Volksgeistern und Weltgeist in spekulativ-logischer Perspektive als wesentliches Verhältnis bestimmt, das die drei genannten Merkmale besitzt ,399 so muß er die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß sich langfristig ein Verfassungsprinzip als allgemeingültiges erkennen läßt und sich als solches approximativ auch in der Praxis bewährt. Die weitergehende Annahme jedoch, dieses universelle Verfassungsmodell würde sich vollständig und frei von allen kontigenten Bestimmungen in einem einzigen Nationalstaat entwickeln, wäre prekär. Ein allemal volksgeistrelatives Verfassungsprinzip, das in einer einzelnen Staatsverfassung entfaltet wäre, könnte nur als Glied einer (unabsehbaren) Reihe von besonderen Verfassungen in wesentlichem Verhältnis zum Weltgeist stehen. Andernfalls müßte man die Dialektik von Teil und Ganzem als akzidentielles Merkmal des wesentlichen Verhältnisses werten, was aber seinem Begriff widerspräche. Insofern Hegel die historische Beziehung der Völkergeister und des Weltgeistes logisch als wesentliches Verhältnis deutet, ist es wenig wahrscheinlich, daß er annahm, eine einzelne nationalstaatliche Verfassung könnte den Weltgeist vollkommen repräsentieren.400 Keinesfalls aber folgt hieraus, daß er den Nationalstaat als solchen für eine vergängliche, weil notwendig defizitäre Gestalt der politischen Sittlichkeit gehalten hätte.401 Weder taugt Hegel zum Ahnherren einer Kelsenianischen Weltstaatsutopie, noch können sich zivilgesellschaftliche oder neoliberale Visionäre einer tendenziell staatenlosen Weltgesellschaft auf ihn berufen. Zur Klärung der Frage, wie genau sich Hegel jenen staatsrechtlichen Homogenisierungsprozeß dachte, kann auch die typologische Unterscheidung der „Vier Welthistorischen Reiche“ nichts Entscheidendes beitragen. Hier erfährt

399 (1) Ganzes und Teil werden als gegenseitig sich bedingende und voraussetzende Bestimmungen aufgefaßt. (2) Das wechselseitige Bedingungsverhältnis des Ganzem und seiner Teile ist insofern eine substanzielle Einheit, als sich in der Beziehung beider eine Kraft äußert, die sich in ihrer Äußerung als Kraft erhält. (3) Das Innere ist der inhaltsidentische Grund seines Äußeren, sie sind die zwei Seiten derselben konkreten Totalität (von Innerem und Äußerem) und machen nur als Einheit beider ihren Inhalt aus; vgl. Hegel, Logik II, in: Werke, Bd. 6, S. 164 ff. 400 Dies würde dem Moment des wesentlichen Verhältnisses widersprechen, das das Verhältnis von Teil und Ganzem als gegenseitiges Bedingungsverhältnis darstellt; vgl. Kapitel 2.4. 401 Peperzak (1987), S. 6.

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

man lediglich, ein bestimmtes Verfassungsprinzip markiere das definitive Endziel der Geschichte, doch es fehlt eine klare Auskunft hinsichtlich der organisatorischen Verfassungsbestandteile jener Idealverfassung. So wird weder die Frage nach der optimalen Staatsform, die durch die Person des Gesetzgebers bestimmt wäre, noch die nach der besten Regierungsform beantwortet, sondern allenfalls die nach der (im Kantischen Sinn) optimalen „Regierungsart“.402 Hegel unterscheidet lediglich Stufen der weltgeschichtlichen Entwicklung, die als Annäherungen an den Endzweck – die adäquate Einheit des (philosophischen) Begriffs und der (konstitutionellen) Realität der allgemeinen Freiheit – in ein Rangverhältnis gestellt werden. Der (mehr oder minder) säkulare, ,organisch‘ gegliederte Rechtsstaat nordwesteuropäischer Prägung403 erscheint in dieser teleologischen Betrachtungsart als (vorläufiger) Endpunkt der weltgeschichtlichen Entwicklung der politischen Sittlichkeit, wobei aber jede weitergehende Bestimmung dieser Art Staat unterbleibt. Auch hier bewegen sich die Reflexionen über ein ,Endziel‘ der Verfassungsgeschichte innerhalb des nationalstaatlichen Bezugsrahmens. Nirgends ist von „globale[n] soziale[n] Kooperationssysteme[n]“ einer „Weltbürgergesellschaft“ die Rede, die eine allgemeine Anerkennung menschenrechtlicher Standards befördern würde.404 Ebensowenig erwartet Hegel von überstaatlichen politischen Institutionen, etwa einem föderativen friedenssichernden Staatenbund.405 Universalistische Tendenzen in der Staatsrechtsgeschichte erwartet Hegel definitiv von der geschichtlichen Dynamik, die aus dem Pluralismus der staatlichen Organisationsformen entspringt. Dieser Homogenisierungsprozeß soll quasi naturwüchsig aus der konflikthaften, ungleichen und ungleichzeitigen Entwicklung verschiedener souveräner Formen politischer Sittlichkeit entspringen. Am logischen (nicht notwendig auch historischen) Endpunkt jenes stufenweise rekonstruierbaren staatsrechtlichen Universalisierungsprozesses stünde eine einzige Staatsrechtsgattung und ein ihr entsprechendes Verfassungsbauprinzip.406 Ob jedoch dieses Ideal von einer einzigen nationalstaatlichen Verfassung repräsentiert würde oder ob sich jene Optimalverfassung aus Verfassungskomponenten ver-

402 Zum Verhältnis der Kantischen Begriffe „Staatsform“, „Regierungsform“ und „Regierungsart“ vgl. Thiele (2003), S. 55 ff. 403 Hegel, Grundlinien, § 358, in: Werke, Bd. 7, S. 511. 404 Vgl. Schmidt (1999), S. 306. 405 Kant nahm an, ein Friedensbund souveräner Staaten würde einerseits eine Angleichung des inneren Staatsrechts befördern, wie er andererseits von inneren Demokratisierungsprozessen eine zunehmende Akzeptanz transnationaler Formen des öffentlichen Rechts erwartete; vgl. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 8. Satz, in: AA, Bd. VIII, S. 24 ff. 406 Während die universalgeschichtliche Reflexion der Grundlinien nur sehr allgemeine Bestimmungen jenes Prinzips benennen kann, wird deren rechtsphilosophische Präzisierung im Staatsrechtsteil geleistet.

3.4. Hat die Verfassungsgeschichte ein Endziel?

107

schiedener fortgeschrittener Nationen zusammensetzte, bleibt allerdings nach wie vor offen. Hegels Ausführungen über den vierstufigen „Gang der weltgeschichtlichen Entwicklung“, dessen ,logische‘ Struktur § 352 als wesentliches Verhältnis erläutert, stützen die erste Lesart. Die vierte, im damaligen Europa weitgehend erreichte Stufe der Entwicklung der volksgeistrelativen Verfassungstypen wird als welthistorische Wendemarke gewertet, von der an vielleicht noch eine qualitative Fortentwicklung im verfassungsrechtlichen Detail möglich bleibt, aber keine grundsätzliche Änderung des Verfassungstyps mehr denkbar ist. Denn die modernen Staatswesen hätten die „Idee des Staates“ dadurch vollkommen realisiert, daß „die besonderen Bestimmungen derselben [. . .] zu freier Selbstständigkeit gekommen sind“407 und die austarierte Maximierung individueller Freiheit in politisch-sittlichen Verhältnissen gelungen zu sein scheint. Es bleibt allerdings auch bei dieser Lesart unentschieden, ob Hegel die konstitutionelle (in Ausnahmezuständen auch absolute) Monarchie,408 als deren Fürsprecher er im Staatsrechtsteil auftrat, zu den substantiellen oder den akzidentiellen Bestimmungen des modernen Verfassungstyps rechnet.409 Im ersten Fall wäre die Idee der Volkssouveränität und der Republik als weltgeistinadäquates Verfassungsprinzip diskreditiert und im zweiten Fall wäre die konstitutionelle Monarchie eine volksgeistrelative Spielart des universellen Verfassungsprinzips, die ihre kontingenten Bestimmungsgründe, insbesondere ihr ,naturalistisches‘ Souveränitäts- und Legitimitätsverständnis noch nicht abstreifen konnte. Zwar sieht Hegel speziell in den modernen europäischen Staaten die vierte Stufe der Weltgeistentwicklung erreicht und er führt die zum Teil bereits eingetretene Angleichung der politischen Verfassungen in Europa nicht zuletzt auf die relative Naturunabhängigkeit und die entsprechend größere Freiheit und Allgemeinheit der hiesigen Völkersitten zurück.410 Jedoch darf die These von der relativen sittlichen Homogenität der europäischen Völker nicht dahingehend mißverstanden werden, daß der zeitgenössische Konflikt zweier Staatsformprinzipien volksgeistunabhängig wäre. Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als betrachte Hegel die jeweiligen Volksgeister und deren sittliche Prinzipien letztlich als inkompatible und ahistorische Größen, womit auch die mit ihnen verträglichen Verfassungen bzw. Verfassungsarten ein für allemal festgelegt wären. So heißt es, der 407

Hegel, Grundlinien, § 260, Zus., in: Werke, Bd. 7, S. 407. Vgl. Hegel, Grundlinien, § 279 ff., in: Werke, Bd. 7, S. 444 ff. 409 Hothos Vorlesungsmitschrift von 1822/23 scheint diese Frage insofern beantworten zu können, als Hegel die „konstitutionelle Monarchie als das Ziel der Geschichte“ bezeichnet hat; vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie des Rechts nach der Vorlesungsnachschrift von H. G. Hotho (im folgenden zitiert als „Rechtsphilosophie Hotho“), § 273, in: Ilting (1973), Bd. 3, S. 750. 410 Hegel, ViG, S. 239 ff. 408

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

je spezifische Volksgeist sei das innere Wesen des besonderen Staates und seiner Verfassung: „Der bestimmte Inhalt aber, der diese Form der Allgemeinheit erhält und in der konkreten Wirklichkeit enthalten ist, die der Staat bildet, ist der Geist des Volkes selbst“.411 Daher habe jedes Volk „seine eigene Verfassung, die englische Verfassung ist die der Engländer, und wenn man diese den Preussen geben wollte, so wäre dieß [. . .] absurd [. . .]. Jede Verfassung ist nur ein Produkt, eine Manifestation des eigenthümlichen Geistes eines Volks und der Stufe der Entwicklung des Bewußtseins seines Geistes.“412 Wenn freilich die Entwicklung des Bewußtseins des jeweiligen Volksgeistes von sich und seinen endlichen Bestimmungsgründen den Inhalt des Volksgeistes selbst modifiziert, dann wäre es immerhin nicht unmöglich, daß die Preußen langfristig republikanischen Verfassungsprinzipien den Vorzug geben würden. Denn die selbstreflexive Komponente des Volksgeistes, die die eigenen Sitten in Gegenstände des Nachdenkens verwandelt, kann das „allmähliche Hervorkommen des Vernünftigen“ bewirken.413 Das Naturmoment des Volksgeistes scheint zwar insgesamt für dessen statischen Charakter verantwortlich, wobei jedoch dieser determinierende Einfluß keine Konstante ist. Das begriffliche Moment des Volksgeistes kann nämlich eine reflexive Dynamik freisetzen, in der die zunächst verfassungsstatisch wirkenden endlichen Komponenten als (zuvor unbekannte) Bestimmungsgründe des sittlichen Handelns und Denkens in ihrer bislang determinierenden Rolle erkannt werden können. Im Extremfall verwandelt sich damit die ,Naturgeschichte‘ eines Volksgeistes in seine ,Geistesgeschichte‘, denn die kollektiv verbindlichen Sitten werden nun zunehmend als selbstorganisierende Reaktionen auf kontingente Umweltbedingungen durchsichtig. Dieser Prozeß der Selbstbewußtwerdung eines Volksgeistes hinsichtlich seines ,natürlichen‘ Inhalts ermöglicht idealiter, den Anschein bloßer Naturwüchsigkeit der Sitten aufzulösen und die jeweiligen Sittlichkeitssysteme einschließlich der Staatsverfassungen als begriffs- bzw. prinzipienbestimmte Manifestationen der praktischen Vernunft erkennen, beurteilen und gegebenenfalls auch ändern zu können: „Das instinktartige Tun unterscheidet sich von dem intelli411

Vgl. Hegel, ViG, S. 114 f. Hegel, Rechtsphilosophie Griesheim, § 274 A, S. 663 (Herv. v. Verf., U. T.). Selbst Rousseau, der zwar in der Frage nach der schlechthin legitimen Staatsform keine Abweichung vom Demokratieprinzip zulassen wollte, sah die Regierungsform als durch die jeweilige Lebensform des betreffenden Volkes bedingt an: „Allein ich habe die übrigen Regierungsformen nicht ausgeschlossen, im Gegenteil, ich habe gezeigt, daß jede ihren Grund hat, welcher sie nach Maßgabe der Menschen, der Zeiten und Orte anderen überlegen sein läßt. Statt alle Regierungen zu zerstören, habe ich alle begründet“; vgl. Jean-Jacques Rousseau, Briefe vom Berge, 6. Brief, in: ders.: Kulturkritische und politische Schriften, hg. v. Martin Fontius, Bd. 2, Berlin 1989, S. 272. 413 Hegel, Rechtsphilosophie Griesheim, § 274 A, S. 663. 412

3.4. Hat die Verfassungsgeschichte ein Endziel?

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genten und freien Tun überhaupt dadurch, daß dieses mit Bewußtsein geschieht; indem der Inhalt des Treibenden heraus aus der unmittelbaren Einheit mit dem Subjekt zur Gegenständlichkeit vor dieses gebracht ist, beginnt die Freiheit des Geistes [. . .]. [. . .] Der wichtigste Punkt für die Natur des Geistes ist das Verhältnis nicht nur dessen, was er an sich ist, zu dem was er wirklich ist, sondern dessen, als was er sich weiß; dieses Sichwissen ist darum, weil es wesentlich Bewußtsein [ist], Grundbestimmung seiner Wirklichkeit.“414 Vor diesem geisttheoretischen Hintergrund kann Hegel sagen, daß die Qualität einer „Verfassung vom Entwicklungsstand [des betreffenden] Volkes“ abhängt. Weil der Geist „nur als das wirklich ist, als was er sich weiß, und der Staat, als Geist eines Volkes, zugleich das alle seine Verhältnisse durchdringende Gesetz, die Sitte und das Bewußtsein seiner Individuen ist, so hängt die Verfassung eines Volks überhaupt von der Weise und Bildung des Selbstbewußtseins desselben ab; in diesem liegt seine subjektive Freiheit, und damit die Wirklichkeit der Verfassung.“415 Folglich könnten Prozesse der Umbildung einer weltgeistinadäquaten Verfassung zum Besseren weder beliebig beschleunigt noch auf revolutionärem Wege erzwungen werden, weil Staatsverfassungen nichts anderes kodifizieren, als die den Sitten eines Volkes entspringenden Rechtsprinzipien seiner Freiheit: „Dieser Geist des Volkes ist es, der die Verfassung hervorbringt und entwickelt.“416 Verläuft die Entwicklung der Verfassung organisch und nicht willkürlich, dann befindet sie sich, sowohl was ihre Richtung als auch was ihr Tempo anbelangt, in Homogenität mit der Entwicklung des sich (allmählich) begreifenden Volksgeistes. Wer immer es dagegen unternähme, einem „Volke eine, wenn auch ihrem Inhalte nach mehr oder weniger vernünftige Verfassung a priori geben zu wollen, – [. . .] übersähe gerade das Moment, durch welches sie mehr als ein Gedankending wäre. Jedes Volk hat deswegen die Verfassung die ihm angemessen ist, und für dasselbe gehört“.417 Weil der sittliche Geist eines Volkes die Akzeptanzchancen jeder Verfassungsänderung lizensiert und er sich als Sitte nur sehr langsam umbilden kann, dürfte eine an Vernunftprinzipien des Rechts orientierte Verfassungsreform allenfalls einzelne Komponenten, nicht aber den organisato414

Hegel, Logik I, in: Werke, Bd. 5, S. 27. Hegel, Grundlinien, § 274, in: Werke, Bd. 7, S. 440. 416 Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 134, S. 191. 417 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 274, in: Werke, Bd. 7, S. 440. Als Paradebeispiele für dieses normative „Übergewicht der Geschichtlichkeit über die Vernünftigkeit“ (ebd.) nennt Hegel einerseits den diskontinuierlichen Verlauf der französischen Verfassungsgeschichte seit 1789 (vgl. ders., Rechtsphilosophie Wannenmann, § 133, S. 188) und andererseits Napoleons Versuche, den Spaniern und anderen Nationen eine liberale Verfassung zu oktroieren; vgl. ders., Rechtsphilosophie Griesheim, § 273 A 6 d, S. 659 f. 415

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

rischen Verfassungskern ändern, denn dann würde die derzeit volksgeistadäquate Staatsform als solche revidiert, was ihre Legitimität untergraben muß. Dies sei an der Geschichte der französischen Revolution und ihren Verfassungen ablesbar. Zwar könne an einer Verfassung „Einzelnes [. . .] verändert werden, aber nicht das Ganze, welches allmählich sich ausbildet; und das Volk kann das ganze Bewußtsein seines Geistes nicht auf einmal verändern, welches durch einen ganzen Umsturz der Verfassung geschähe.“418

3.5. Hegels Überlegungen zum Verhältnis zwischen der französischen und der preußisch-deutschen Verfassungsgeschichte Die bisherigen Befunde haben die Eingangsvermutung weitgehend bestätigt, daß das Weltgeschichtskapitel als Grundriß einer verfassungsgeschichtlichen Theorie gedacht ist. Nach wie vor allerdings ist die Frage, wie genau der von Hegel postulierte Homogenisierungsprozeß im Staatsrecht aussehen soll, nicht beantwortet. Allererst wenn man seine Aussagen über das Verhältnis der von ihm als welthistorisch eingeschätzten Volksgeister in Rechnung stellt, ergibt sich eine Lösungsperspektive. Hegel zählt lediglich die Franzosen und die Preußen (nicht aber die Briten oder die amerikanischen Kolonisten) zu den zeitgenössischen welthistorischen Völkern, weil sie je auf ihre Weise zur Ausbildung des modernen Typus des aufgeklärten Rechtsstaates beigetragen hätten, der von nun an die Weltgeschichte beherrschen werde.419 In dieser geschichtsphilosophischen Einschätzung der verfassungsgeschichtlichen Relevanz der französisch-deutschen Aufklärung steht Hegels Einschätzung sicher nicht im Gegensatz zu derjenigen Kants; wohl aber hinsichtlich der Fragen, ob, inwieweit und in welche Richtung eine Angleichung der französischen und der deutschen Verfassung denkbar oder wünschbar wäre.

418 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 133, S. 188. Wenngleich Montesquieu in der im folgenden zitierten Passage nicht ausdrücklich von verfassunggebenden Akten spricht, so können wir ihr doch entnehmen, daß er legislative Versuche überhaupt für ungeeignete Mittel zur Änderung der Sitten eines Volkes hält. „Gesetze [. . .] waren besondere und genau umschriebene Einrichtungen des Gesetzgebers; Sitten und Lebensstil waren Einrichtungen der Nationen im Ganzen. Daraus ergibt sich, daß man Sitten und Lebensstil, falls man sie ändern will, nicht auf dem Weg über Gesetze ändern darf. [. . .] Hat also ein Herrscher mit einer Nation große Veränderungen vor, so muß er durch Gesetze reformieren, was durch Gesetze eingeführt wurde, und am Lebensstil ändern, was durch den Lebensstil eingeführt wurde. Wenn man durch Gesetze ändert, was am Lebensstil geändert werden muß, so ist das eine sehr schlechte Politik“; vgl. Montesquieu (1992), XIX. Buch, 14. Kapitel, S. 294 f. 419 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III (im folgenden zitiert als „Gesch. d. Phil. III“), in: Werke, Bd. 20, S. 314.

3.5. Hegels Überlegungen

111

Kant plädierte hinsichtlich Preußens zugunsten einer Verfassungsreform, die sich einer republikanischen Regierungsart bedienen sollte, um allmählich die Bedingungen für eine Umwandlung der monarchischen in die demokratische Staatsform zu schaffen.420 Dieser reformerische Weg sei deswegen einer revolutionären Änderung der Staatsform vorzuziehen, weil letztere allemal das Risiko des Wiedereintritts in den Naturzustand mit sich brächte.421 Dagegen hält Kant 420 Der Monarch habe nämlich eine „aus dem ursprünglichen Vertrag als Rechtsgrund seiner Herrschaft“ erwachsene „Reformpflicht“ (vgl. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin 1984, S. 304) zu erfüllen, die ihm eine bestimmte Regierungsart abverlangt. Nur unter dieser Bedingung können seine „Machtvollkommenheit“ (vgl. Kant, ZeF, in: AA, Bd. VIII, S. 352), vermöge eines besonderen Erlaubnisgesetzes, vorläufig als ,negatives Surrogat‘ der gesetzgebenden Volkssouveränität legitimiert sein. Mittelfristig jedoch müsse diese bedingt erlaubte, aber dennoch vernunftwidrige Organisation der öffentlichen Gewalt einer republikanischen Verfassung weichen: „Dies sind Erlaubnisgesetz der Vernunft den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst gereift oder durch friedliche Mittel der Reife nahe gebracht worden weil doch irgend eine rechtliche obzwar nur in geringem Grade rechtmäßige Verfassung besser ist als gar keine welches letztere Schicksal die übereilte Reform treffen würde“; vgl. Kant, Vorarbeiten zum ewigen Frieden, in: AA, Bd. XXIII, S. 189. Die konkreten, die Regierungsart betreffenden Pflichten beziehen sich auf die drei Zweige der öffentlichen Gewalt. Erstens hat er Gesetze zu geben, die insofern allgemeingültig und deswegen auch zustimmungsfähig sind, als sie dem Prinzip genügen, daß die gleiche gesetzliche Freiheit der Untertanen die Bedingung allen rechtmäßigen Zwanges ist. Zweitens haben sich alle Zwangsakte in den Schranken der einmal gegebenen Gesetze zu halten. Drittens schließlich hat der Souverän bei der Prüfung der Gesetzmäßigkeit einzelner Exekutivakte wie ein unabhängiger Dritter zu verfahren, der gegebenenfalls von ihm selbst verfügte Zwangsakte für rechtswidrig erklären müßte. Auch wenn der monarchische Souverän „zugleich“ (Kant, ZeF, in: AA, Bd. VIII, S. 352 f. (Herv. im Orig.) Regent und oberster Richter ist, so hat er doch strengstens darauf zu sehen, daß er diese drei Kompetenzen nicht gleichzeitig ausübt. Ob die republikanische, d. h. pseudodemokratische und pseudorechtsstaatliche, durch Gleichbehandlungsgebot, Willkürverbot und mithin allgemeine Konsensfähigkeit limitierte Regierungsart ein (jedenfalls nicht auf Dauer) erlaubter Ersatz der republikanischen Verfassung ist, hängt demnach weitestgehend von der moralischen Selbstverpflichtung und Selbstkontrolle des absoluten Souveräns ab: Er hätte von seiner „Machtvollkommenheit“ wie ein ideales moralisches Subjekt Gebrauch zu machen; vgl. dazu Jan C. Joerden, Das Prinzip der Gewaltenteilung als Bedingung der Möglichkeit eines freiheitlichen Staatswesens, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 1 (1993), S. 207–220, 211 ff.; zur Gesamtkonzeption des Kantischen Reformismus vgl. Claudia Langer, Reform nach Prinzipien. Untersuchungen zur politischen Theorie Immanuel Kants, Stuttgart 1986. 421 Vgl. Kant, RL, § 52, in: AA, Bd. VI, S. 340: „Meuterei aber, in einer schon bestehenden Verfassung, ist ein Umsturz aller bürgerlich-rechtlichen Verhältnisse, mithin alles Rechts, d. i. nicht Veränderung der bürgerlichen Verfassung, sondern Auflösung derselben“. Kants Erwartung bezüglich der wahrscheinlichen Entwicklungsrichtung, die die europäische Staatenwelt, speziell die Monarchien einschlagen würden, richtete sich auf eine Reform nach republikanischen Prinzipien, die vermittels einer aufgeklärten Regierungsart letztlich auch zu einer Angleichung der Verfassungen führen würde. „Die Staatsweisheit wird sich also in dem Zustande, worin die Dinge jetzt sind, Reformen, dem Ideal des öffentlichen Rechts angemessen, zur Pflicht machen [. . .], [um] eine auf Freiheitsprinzipien gegründete gesetzliche Verfassung, als die ein-

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

auch nach der Grande Terreur daran fest, daß die französische Revolution erstens durch ihre Ergebnisse gerechtfertigt und zweitens praktisch alternativlos war, weil sie vom Monarchen selber eingeleitet, wenn nicht erzwungen worden sei.422 Hegel argumentiert in umgekehrter, sittlichkeitstheoretischer Richtung: seiner Einschätzung nach läßt sich eine Verfassung ebensowenig machen wie umstürzen und nur im Akzidentiellen reformieren, weil sich in ihr die jeweilige Stufe des Bewußtseins eines Volkes von sich artikuliert.423 „Die Verfassung ist die Grundlage, der Boden, auf dem alles geschieht. Die Verfassung muß daher als eine ewige Grundlage angesehen werden, nicht als ein Gemachtes. [. . .] Dieser Geist des Volkes ist es, der die Verfassung hervorbringt und entwikkelt; [. . .] Der Volksgeist ist die Substanz; was vernünftig ist, muß geschehen. [. . .] die wahrhafte Vernünftigkeit ist aber die innere Autorität, die Übereinstimmung mit dem Volksgeist. Die Form der Verfassungsbildung durch Verträge ist nicht gerade das Vernünftige, sondern ein bloß Formelles.“424

Während Kant eine allmähliche Angleichung des preußischen an das französische Staatsrecht nicht nur als möglich ansah, sondern auch aus Vernunftgründen für geboten hielt, wobei er gute Gründe zu haben glaubte, dies von einer aufgeklärten Verfassungspraxis, speziell dem Regierungsstil des Monarchen erwarten zu können, macht Hegel, an Montesquieu anknüpfend,425 grundsätzliche sittlichkeitstheoretische Einwände sowohl gegen die Machbarkeit,426 als auch gegen die qualitative, reformerische und speziell revolutionäre Änderbarkeit einer Verfassung geltend.427 Dieses Argument würde die Gegensätze zwischen der französischen und der preußischen Staatsrechtsgeschichte akzentuieren. zige dauerhafte, durch gründliche Reform zu Stande zu bringen“; vgl. Kant, ZeF, in: AA, Bd. VIII, S. 380 Anm. 422 Vgl. dazu Thiele (2003), S. 106 ff. 423 Die „Verfassung ist [. . .] die an und für sich seiende Grundlage des rechtlichen und sittlichen Lebens eines Volkes und wesentlich nicht als etwas Gemachtes und subjektiv Gesetztes zu betrachten. Ihre absolute Ursache ist das in der Geschichte sich entwickelnde Prinzip eines Volksgeistes“; vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 133, S. 189. Da Verfassungen nur Bestand haben, wenn sie den Sitten eines Volkes entsprechen, und sie umgekehrt diese in ihrem Begriff darstellen, läßt sich an ihnen zuverlässig erkennen, welches Prinzip sittlicher Freiheit dem jeweiligen Volksgeist inhäriert: „Alle Verfassungen sind auch die inneren Entwicklungen des Volksgeists, die Grundlage, worin er die Stufe seines Selbstbewußtseins ausdrückt“; vgl. ebd., § 134, S. 190. 424 Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 134, S. 190 ff. 425 Vgl. bes. Montesquieu (1978), Buch XIX, Kap. 5, 6, 14. 426 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Homeyer, § 121, S. 121: „Die Verfassung kann nicht gemacht werden, sondern macht sich selbst, ist [. . .] ein göttliches Geschenk“; vgl. dazu Coppieters (1994), S. 189, Fn. 487. 427 Die Tatsache, daß Preußen zu Hegels Zeiten keine geschriebene Staatsverfassung besaß, und damals nicht absehbar war, ob und wann das im Mai 1815 von Friedrich Wilhelm III gegebene Verfassungsversprechen eingelöst werden würde, stellt so-

3.5. Hegels Überlegungen

113

Auf der anderen Seite finden sich Hinweise dafür, daß Hegel die politischen Kulturen Deutschlands und Frankreichs als Komplemente ein und derselben Endphase der Weltgeistentwicklung wertet. Der Deutsche Idealismus ließe sich aus dieser Sicht als die theoretische, systematische und jedenfalls ins Begriffliche ,verschobene‘ Verarbeitung der revolutionären französischen Praxis erklären: „In diesen Philosophien [gemeint sind Kants, Fichtes, Schellings und wohl auch die eigene] ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen, zu welcher der Geist in der letzteren Zeit in Deutschland fortgeschritten ist; ihre Folge enthält den Gang, welchen das Denken genommen hat. An dieser großen Epoche in der Weltgeschichte [. . .] haben nur diese zwei Völker teilgenommen, das deutsche und das französische Volk. [. . .] In Deutschland ist dies Prinzip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirklichkeit hinausgestürmt.“428

Freilich finden sich unmißverständliche Belege dafür, daß Hegel statt der Republik, die noch für Kant die einzige Staatsform war, die sich mit Vernunftprinzipien des öffentlichen Rechts vereinbaren ließ, die Staatsform der Monarchie429 nicht nur als die derzeit weltgeistadäquateste Stufe, sondern auch als das erkennbare Endziel der Weltgeschichte wertete.430 So definiert Hegel schon 1817/18 die „Konstitutionelle Monarchie“ einerseits als die spezifisch moderne Verfassung, die die Mängel der früheren Verfassungsarten (Despotismus, Demokratie und Aristokratie) überwunden zu haben schien,431 und andererseits als „ein Bild und die Wirklichkeit der entwickelten Vernunft“.432 Für Hegel wurde seine These, die „konstitutionelle Monarchie“ sei „das Ziel der Geschichte“ und das „Prinzip der neuern Welt überhaupt“,433 nicht zuletzt durch die französische Verfassunggeschichte bestätigt. Sie schien sich 1799 von der republikanischen Staatsform verabschiedet zu haben und sich fortan auf die

wohl Hegels Geringschätzung einer formellen Konstitution als auch seine Invektiven gegen verfassunggebende Akte und Gesellschaftsverträge überhaupt in ein zweifelhaftes Licht. Man kann jedoch Hegels verstreute Äußerungen über das absolute Recht des Staatsgründers bzw. Verfassunggebers (vgl. z. B. Grundlinien, § 350) dahingehend deuten, daß er auf einen entsprechenden Akt des Monarchen gerechnet hat. Herbert Schnädelbach zufolge hat „Hegel die Einlösung des Verfassungsversprechens für philosophisch geboten gehalten“; vgl. Schnädelbach (1997), S. 259. 428 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (im folgenden zitiert als „Gesch. d. Phil.“), III, in: Werke, Bd. 20, S. 314. 429 Vgl. Hegel, Heidelberger Enzyklopädie, Vorlesungsnotiz zu §§ 437–439, S. 193: „Constitutionelle Monarchie die einzig vernünftige Verfassung (a) in großen Staaten (b) wo sich das System der bürgerlichen Gesellschaft schon entwickelt hat“. 430 Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 133, S. 187 ff. 431 Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 170, S. 264. Im gleichen Manuskript heißt es „Monarchie überhaupt [. . .] vide supra Vereinigung der vorhergehenden Prinzipien“; siehe ebd., § 137, S. 199. 432 Vgl. ebd., § 170, S. 264 (Herv. v. Verf., U. T.). 433 Hegel, Rechtsphilosophie Hotho, § 273 A1, S. 750.

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

monarchische zuzubewegen. Aus Hegels Perspektive war Frankreich nach zehnjähriger Irrfahrt nun dort angekommen, wo sich Preußen bereits befand. Bis 1799 wären alle französischen Verfassungen mit dem Mangel behaftet gewesen, „daß ihnen die Spitze, die subjektive Einheit, fehlte, und sie entstand nun notwendig als kaiserliche und nun königliche Gewalt.“434 Die „progressive Revolutionierung des Verfassungslebens“, wie es für den französischen Volksgeist typisch sein soll, und das „geduldige Abwartenkönnen“435 der Deutschen schienen, einer List der Geschichte gehorchend, im selben verfassungsrechtlichen Endergebnis zu fusionieren, wobei Hegel freilich großzügig darüber hinwegsieht, daß den preußischen Untertanen bislang weder partizipatorische Grundrechte, speziell das der demokratischen Gesetzgebung, noch eine geschriebene Verfassung überhaupt gewährt worden waren. Kant erklärte noch apodiktisch die republikanische Staatsform, d. h. die demokratische Organisation der die ausführenden Staatsgewalten normierenden und kontrollierenden Legislative, zum vernunftgemäßen Endzweck der Geschichte436 und er konzedierte lediglich, daß der erforderliche Verfassungswechsel in Preußen, anders als in Frankreich, auf reformerischem Wege geschehen könne. Hegel dagegen wertet diesen Verfassungstyp als Minderform des vom sittlichkeitstheoretisch geläuterten Vernunftrecht Gebotenen. Der Mangel dieser Art Verfassung sei nämlich, daß das moderne Prinzip der subjektiven Freiheit ,nur‘ in der Form kollektiver Entscheidungsfindung realisiert werde, während die beiden anderen Staatsfunktionen wie mechanisch wirkende Instrumente des Gesetzgebers gedacht seien. Dagegen biete die konstitutionelle (erbliche) Monarchie den Vorzug, einem natürlichen Individuum teils repräsentative Funktionen437, teils aber auch reelle politische Letztentscheidungsbefugnisse438 anzuvertrauen, durch deren Kombination eine rationale Kooperation der ineinander zu verschränkenden Gewalten überhaupt erst ermöglicht würde.

434

Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 133, S. 187. Hegel, Rechtsphilosophie Griesheim, § 273 A6 e, S. 660. 436 Vgl. Kant, RL, § 52, in: AA, Bd. VI, S. 340 f. (Herv. i. Orig.): „Aber der Geist jenes ursprünglichen Vertrages [. . .] enthält die Verbindlichkeit der konstituierenden Gewalt, die Regierungsart jener Idee angemessen zu machen, [. . .] und jene alte empirische (statutarische) Formen, welche bloß die Untertänigkeit des Volkes zu bewirken dienten, sich in die ursprüngliche (rationale) auflösen, welche allein die Freiheit zum Prinzip, ja zur Bedingung allen Zwanges macht, der zu einer rechtlichen Verfassung, erforderlich ist, und dahin auch dem Buchstaben nach endlich führen wird. [. . .] Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittels ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen.“ 437 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 280, Zus., in: Werke, Bd. 7, S. 451: „In einer wohlgeordneten Monarchie kommt dem Gesetz allein die objektive Seite zu, welchem der Monarch nur das subjektive ,Ich will‘ hinzuzusetzen hat.“ 438 Hegel, Grundlinien, §§ 275, 279 f., in: Werke, Bd. 7, S. 441, 444 f. 435

3.5. Hegels Überlegungen

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Nun läßt sich auch eine erste Antwort auf die Frage nach dem Ziel der als Verfassungsgeschichte verstandenen Weltgeschichte geben: Der Schauplatz jenes Vollendungsgeschehens ist nach Hegel das damalige Europa, wobei den beiden modernen welthistorischen Völkern eine Avantgarde-Rolle zukomme. Denn beide hätten sich – nach einer Reihe revolutionärer Turbulenzen einerseits und allzu geduldigem Abwarten andererseits – schließlich für dieselbe ,konstitutionell‘-monarchische Verfassung entschieden, weil dieser Staatstyp den (nunmehr) aufgeklärten Sitten der involvierten Völker entsprochen hätte. Ein dezisionistischer Zug in Hegels verfassungsgeschichtlichen Theorie, ihrer geisttheoretischen Grundlage opponiert, läßt sich offenbar nicht bestreiten. Zwar postuliert Letztere einen Fortschritt und mithin auch ein Ende der Verfassungsgeschichte, aber auch wo dieser Zenit erreicht scheint, kann sie nicht ausschließen, daß die Volksgeist-Weltgeist-Dialektik von neuem einsetzt und sich das vermeinte Endstadium der Verfassungsgeschichte im Nachhinein lediglich als eine ihrer Etappen erweist. Daß Hegel aber keineswegs völlig frei von Zweifeln hinsichtlich der vermeintlichen Konvergenz der französischen und der deutschen Verfassungsgeschichte war und besonders hinsichtlich der diese Konvergenz ermöglichenden, sich aneinander angleichenden Volksgeistprinzipien skeptisch blieb, läßt sich an seinem ambivalenten Vergleich beider Nationalcharaktere ablesen. So wird einerseits die Terreur als Folge des Versuchs gedeutet, abstrakte Prinzipien, wie das der Gleichheit, in die Wirklichkeit zu ,übersetzen‘. Aber ebenso wird der praktische Sinn der Franzosen gewürdigt, wenn es z. B. heißt, sie hätten sich – anders als die Deutschen – „praktisch an die Wirklichkeit gewendet“.439 Leider sei den Franzosen aber auch ein „Fanatismus des abstrakten Denkens“ eigen, wogegen ihren Nachbarn ein spezifisch unpolitischer Volksgeist attestiert wird. „Wir Deutschen sind passiv erstens gegen das Bestehende, haben es ertragen; zweitens, ist es umgeworfen worden, so sind wir ebenso passiv: durch andere ist es umgeworfen worden, wir haben es uns nehmen lassen, haben es geschehen lassen.“440 Geht man von der Annahme aus, Hegels Weltgeisttheorie formuliere die allgemeine These, daß dem jeweiligen (durch kontingente Faktoren mitbestimm439

Vgl. Hegel, Gesch. d. Phil., III, in: Werke, Bd. 20, S. 331 f. Ebd., S. 297. Die Enzyklopädie führt dazu aus: „Unser Geist ist überhaupt mehr als der irgendeiner anderen europäischen Nation nach innen gekehrt. Wir leben vorzugsweise in der Innerlichkeit des Gemüts und des Denkens. In diesem Stilleben, in dieser einsiedlerischen Einsamkeit des Geistes beschäftigen wir uns damit, bevor wir zu handeln gedenken, erst die Grundsätze, nach denen wir zu handeln gedenken, sorgfältigst zu bestimmen. Daher kommt es, daß wir etwas langsam zur Tat schreiten, mitunter in Fällen, wo schneller Entschluß notwendig ist, unentschlossen bleiben und, bei aufrichtigem Wunsche, die Sache recht gut zu machen, häufig gar nichts zustande bringen“; vgl. Hegel, Enz. III, § 394, Zus., in: Werke, Bd. 10, S. 69. 440

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

ten) Volksgeist ein besonderes sittliches Prinzip eigen ist, das den Akzeptanzspielraum möglicher Verfassungen definiert, dann läßt sich gerade in bezug auf seinen Vergleich zwischen der französischen und der deutschen Verfassungsgeschichte eine Gegenthese formulieren: Was Hegel als vorgängige Eigentümlichkeit des deutschen und des französischen Volksgeistes – Innerlichkeit, theoretische Reflexion sowie „geduldiges Abwartenkönnen“441 hier und zum politischen Fanatismus neigender ,Praktizismus‘ dort – darstellt, läßt sich umgekehrt, allerdings nicht weniger einseitig, als Resultat der jeweiligen realen Verfassungspraxis und des entsprechenden Zustandes der öffentlichen Meinung auffassen. Die sehr unterschiedlichen Erfahrungen, die Angehörige des ,Dritten Standes‘ mit den Institutionen und Repräsentanten der beiden Monarchien machten,442 mußten Rückwirkungen auf ihre jeweiligen politischen Mentalitäten haben, die ihrerseits spezielle Neigungen zur einen oder anderen Staatsform begünstigten. Vor diesem Hintergrund läßt sich das von Hegel herausgestellte Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Sitten eines Volkes und der jeweils passenden Verfassung ebensogut umkehren: Der Umstand, daß die französischen Staatsbürger die absolute Monarchie und insbesondere ihr aristokratisches Herrschaftspersonal als moralisch diskreditiert und politisch schwach wahrnahmen, sowie die praktische Erfahrung der Revolution prägten ihre Sitten so, daß sie, entgegen Hegels Prognose, langfristig trotz aller gegenläufigen Tendenzen der republikanischen Staatsform zugeneigt blieben. Dagegen beförderte die komplementäre, in der Reformphase überwiegend positive Erfahrung mit der aufgeklärten preußischen Monarchie eine politische Mentalität, die eher in rechtsstaatlichen, aber vordemokratischen Verfassungen ihr passendes Gegenstück zu finden schien. Zwar ist es hochproblematisch, wenn die verfassungsgeschichtliche These der Grundlinien, die ,konstitutionelle‘ Monarchie und nicht die Republik habe sich 441

Hegel, Rechtsphilosophie Griesheim, S. 660. Carl Gustav Jochmann beispielsweise sieht die Hauptursache der französischen Revolution in der Reformunfähigkeit der Monarchie: „In Frankreich führte das größte, aller Welt offen zu Tag liegende Elend, und der hartnäckige Gegensatz der Privilegien gegen das Gemeinwohl zu den schreckenvollsten Zuckungen des Innern [. . .]. Im preußischen Staat führte ein minder auffallendes, aber doch nicht geringeres Verderben im Innern des Staatsorganismus zu eine[r] [. . .] Umgestaltung der innern Einrichtungen. [. . .] man darf nur einen Blick auf die den ganzen Staat verwandelnden Gesetze werfen, [. . .] um sich zu überzeugen, daß für Norddeutschland die gefürchtete Revolution vorüber ist.“ Jochmann zählt zu den wichtigsten Reformen die Abschaffung des Feudalismus (1807), die Städteordnung (1808), die Einziehung der Klöster (1810), die Aufhebung des Zunftwesens (1810). „Was Frankreich dem Sturm des Volks verdanken mußte, verdankte Preußen dem Unglück seines Krieges, und dem dadurch belehrten, biedersinnigen Monarchen. Nichts fehlte, als das, was diese heilsamen Befehle und Verordnungen in Gesetze umzuschaffen vermag – das verhießene Staatsgrundgesetz“; vgl. Carl Gustav Jochmann, Die französischen Staatsverwandlungen, in: Carl Gustav Jochmann, Reliquien. Aus seinen nachgelassenen Papieren. Gesammelt von Heinrich Zschokke, Bd. 2, Hechingen 1837, S. 292 f. 442

3.5. Hegels Überlegungen

117

definitiv als weltgeistadäquates Verfassungsprinzip erwiesen, umstandslos einer (im trivialen Sinne) Idealisierung der preußischen Verfassungspraxis zugeschrieben wird.443 Vielmehr bezog Hegel dezidiert eine liberale Position,444 die weniger in der preußischen Monarchie als in Napoleon ihr Leitbild gefunden hatte. Nicht die Demokratie, sondern der liberale Rechtsstaat stellte für Hegel den Zielpunkt der bisherigen Verfassungsgeschichte dar, als deren schlechterdings natürliches staatsrechtliches Daseinselement – so habe man auch jenseits des Rheins schließlich erkennen müssen – sich die konstitutionelle Monarchie erwiesen habe. Jedenfalls kann als gesichert gelten, daß Hegel die noch von Kant für wahrscheinlich gehaltene Entwicklungsmöglichkeit einer mittel- oder langfristigen Konvergenz der deutschen und französischen Verfassungsgeschichte in Richtung auf eine mehr oder minder gleichartige republikanische Staatsform einerseits und einem diesem Ziel dienlichen Friedensbund zwischen beiden vorerst ungleichartigen Staatsgebilden andererseits nicht mehr in Erwägung zog, sondern unter Verweis auf die Abhängigkeit der Staatsformen von den vorherrschen Mentalitäten zu den Akten gelegt. Unbestreitbar kommt Hegels verfassungsgeschichtliche Entwicklungstheorie einer teleologischen Konstruktion a priori bedenklich nahe, jedenfalls dann, wenn sie am konkreten Beispiel erläutert wird. Theorieintern wird diese finitistische Tendenz allerdings ebensowohl wieder abgeschwächt. Indem Hegel unter dem Inbegriff des ,Naturmomentes‘ die äußeren, vernunftunabhängigen Bestimmungsgründe Bestimmungsgründe der Volksgeister berücksichtigt, muß er den auf Verfassungshomogenität hinwirkenden Effekt vernünftiger Faktoren schwächer gewichten. Nimmt man Hegels auf Montesquieu zurückgehenden Zweifel an der Machbarkeit einer Verfassung hinzu, dann ergibt sich – auch in Hinblick auf politische Gegenwartsfragen – das folgende Bild: Einerseits dürfe der aufklärerische Effekt, der aus dem Wechselspiel von Verfassung, Politik und öffentlicher Meinung entspringen kann, nicht überschätzt werden.445 Man habe nämlich das wesentlich begrenzte Rationalisierungspotential der Volksgeister zu berücksichtigen. Demnach wäre der volksgeisttheoretisch begründete Verfassungspluralismus das letzte Wort der Rechtsphilosophie, dem in der Realität – aller von den welthistorischen Reichen ausgehenden Vereinheitlichungstendenzen zum Trotz – ein Pluriversum von souveränen Nationalstaaten entspräche. Diese verfassungs443 Zur mittlerweile klassischen Diskussion um die von Rudolf Haym aufgestellte Akkomodationsthese vgl. Michael Theunissen, Die Verwirklichung der Vernunft. Zur Theorie-Praxis-Diskussion im Anschluß an Hegel, in: Philosophische Rundschau, Beiheft 6, Tübingen 1970. 444 Vgl. Gertrude Lübbe-Wolf, Hegels Staatsrecht als Stellungnahme im ersten preußischen Verfassungskampf, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 35 (1981), S. 476–501. 445 Vgl. Hegel, Grundlinien, §§ 315 ff.

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

geschichtliche Pluralismusthese wird teilweise unter Rekurs auf Montesquieus Lehre von ,naturhaften‘ Dispositionen der Sitten begründet.446 Dementsprechend finden sich mitunter erstaunlich stereotype Äußerungen zu den Völkergeistern, selbst den europäischen, speziell der französischen Mentalität im Verhältnis zur preußischen. Andererseits gelingt es Hegel immer wieder, Tendenzen seiner Volksgeisttheorie zu einer ,naturalistischen‘ (allerdings nirgends rassentheoretisch argumentieren)447 Völkerpsychologie abzumildern, wenn nicht zu neutralisieren. Daß dies möglich war, läßt sich sicher nicht aus der auf Montesquieu zurückgehenden starken Akzentuierung der „geographischen Grundlage der Weltgeschichte“448 herleiten, sondern eher aus Hegels umsichtiger Rezeption, die ihn bewog, neben den natürlichen Einflußfaktoren die kulturgeschichtliche und letztlich auch verfassungsgeschichtliche ,Weichenstellerfunktion‘ der Sphären des absoluten Geistes, allen voran die der Religionen angemessen zu berücksichtigen. So heißt es in der Religionsphilosophie programmatisch: „Im allgemeinen ist die Religion und die Grundlage des Staats eins und dasselbe [. . .]. [. . .] Es kommt hier wesentlich auf den Begriff der Freiheit an, den ein Volk in seinem Selbstbewußtsein trägt. [. . .] Es ist ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat.“449 Die Tatsache, daß die Religion und die Grundlage des Staates „an und für sich identisch“ sind, sieht Hegel vorzugsweise im Protestantismus anerkannt. Weil dieser konsequent das weltliche vom himmlischen Reich trenne, gebühre ihm als der schlechthin modernen Gestalt des religiösen Bewußtseins der Vorzug vor allen anderen Glaubensrichtungen.450 Komplementär zu dieser Selbstbeschränkung religiöser Wahrheitsansprüche sei die Regierungsart Friedrichs II. 446 Vgl. Coppieters (1994), S. 179 ff. In der Enzyklopädie stellt Peperzak lediglich einen von Hegel nicht näher begründeten) Zusammenhang fest zwischen der natürlichen Komponente der Volksgeister und der Pluralität von Staaten, nicht von Verfassungen: „Ohne es zu beweisen, behauptet Hegel in § 545, a) daß ein Staat nur möglich ist als Organisation eines einzelnen Volkes und b) daß ein Volk notwendigerweise natürlich bestimmt ist“; vgl. Peperzak (1987), S. 65. 447 Vgl. dazu Bautz (1988), S. 114 448 Hegel, ViG, S. 187. Auch Rousseau äußert sich ausführlich über die geographischen Bedingungen, die den jeweiligen „Nationalcharakter“ prägen. Letzterer sei unbedingt zu berücksichtigen, wenn die Frage nach der jeweils geeigneten Verfassung beraten werde; vgl. Jean-Jacques Rousseau, Entwurf einer Verfassung für Korsika, in: ders., Kulturkritische und politische Schriften, hg. v. Martin Fontius, Bd. 2, Berlin 1989, S. 386 ff. 449 Hegel, Rel. I, in: Werke, Bd. 16, S. 236 f. (Herv. im Orig.); vgl. auch ViG, S. 125: „Der an und für sich seiende Inhalt des Staates ist der Geist des Volkes selbst. Der wirkliche Staat ist von diesem Geiste beseelt [. . .]. Der wirkliche Geist dieses Bewußtseins, der Mittelpunkt dieses Wissens ist die Religion [. . .]. Die Religion, die besondere Vorstellung von Gott, macht insofern die allgemeine Grenze, die Grundlage des Volkes aus. Die Religion ist der Ort, wo ein Volk sich die Definition dessen gibt, was es für das Wahre hält.“

3.5. Hegels Überlegungen

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als die „weltgeschichtliche Einlösung der mit dem Christentum initiierten Entwicklung des Staates“ zu werten.451 Politik und Religion könnten nun nicht mehr als dichotom zueinander stehende selbständige Mächte angesehen werden, sondern nur noch als komplementäre Ergänzungsstücke desselben sittlichen Ganzen. Dem theologischer Legitimation entsagenden säkularen Rechtsstaat korrespondiere nun die christliche Vernunftreligion, die die staatliche Legalordnung insbesondere deswegen anerkennen könne, weil sie die Geltungsansprüche ihrer Normen auf das Gewissen beschränke, während sie alles äußere Handeln der Untertanen der rechtlichen Autorität des Souveräns unterstellt sehe.452 Friedrich II. habe die spezifisch moderne institutionelle Trennung von Staat und Kirche als im wesentlich bereits vollzogene „voraussetzen“ können,453 ohne daß dies den Zerfall der Gesellschaft zur Folge gehabt hätte, da umgekehrt die „Harmonie“454 dieser Sphären des objektiven und absoluten Geistes in ihrer Fundierung im selben sittlichen Prinzip der subjektiven Freiheit verbürgt gewesen sei.455 Dagegen sei es typisch für die Geschichte katholisch geprägter europäischer Nationen, daß Staat und Religion „entzweit“ seien, insofern sie konkurrierende ,Gesetzgebung‘ betrieben. „Der Boden des Weltlichen und Religiösen ist ein verschiedener, und da kann auch ein Unterschied in Ansehung des Prinzips eintreten.“456 Hegel spielt auf Frankreich und wahrscheinlich auch auf Kant457 an, 450 Vgl. Kurt Rainer Meist, Differenzen in Hegels Deutung der „Neuesten Zeit“ innerhalb seiner Konzeption der Weltgeschichte, in: Hans-Christian Lucas/Otto Pöggeler (Hg.), Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, S. 465–501, 477. 451 Ebd., S. 478. 452 Vgl. dazu insbesondere die Argumentation in Hegel, Rechtsphilosophie Griesheim, S. 732 ff. 453 Meist (1986), S. 479. 454 Hegel, Rel. I, in: Werke, Bd. 16, S. 238. 455 Zwar gab und gibt es – Hegel räumt dies ein – protestantische Staaten, in denen das Prinzip der Harmonie von Staat und Kirche zur Pauschallegitimierung jedweder Art von Regierung mißbraucht wird; doch der Grund liegt nach Hegel darin, daß man in jenen Staaten erstens die Frage nach der richtigen „Grundverfassung“ ausklammerte und zweitens zwischen den Gesetzen des Staates und den Prinzipien der Religion eine vorgängige „ursprüngliche Harmonie“ unterstellte; vgl. Hegel, Rel. I, in: Werke, Bd. 16, S. 238. 456 Vgl. ebd., S. 239. 457 Kant zufolge gehören religiöse Fragen definitiv nicht zu den möglichen Gegenständen staatlicher Normierung, denn dies würde voraussetzen, daß der Staat Anspruch auf den Besitz religiöser Wahrheit erheben würde. Die Forderung religiöser Gewissensfreiheit scheint bei Kant das paradigmatische Beispiel der absoluten Grundund Freiheitsrechte zu sein, die jeden, auch den demokratischen Gesetzgeber binden, indem sie ihm kategorische Eingriffsverbote auferlegen: „Wenn der summus imperans ein allgemein Gesetze giebt, so handelt er wie ein souverain; wenn er decrete giebt, die Befehle aber nicht allgemeine Gesetze sind [. . .] so handelt er als despot. [. . .] Alles ist unter der Würde des Souverains, wo er gegen das Volk Unrecht haben kann

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3. Weltgeschichte als Verfassungsgeschichte

wenn er die mit der französischen Revolution deklarierte und seither im Verfassungsrang stehende Säkularisierung als untauglichen Versuch wertet, Diskrepanzen zwischen ,formeller‘ Verfassung und weltanschaulich-religiös geprägten Sitten zu neutralisieren. „Beide Seiten, die Gesinnung und jene formelle Konstitution sind unzertrennlich und können sich gegenseitig nicht entbehren“. Wieder Erwarten brachte die Säkularisierung die „Einseitigkeit zum Vorschein [. . .], daß einerseits die Konstitution sich selbst tragen soll und Gesinnung, Religion, Gewissen andrerseits als gleichgültig auf die Seite gestellt sein sollen, indem es die Staatsverfassung nichts angehe, zu welcher Gesinnung und Religion sich die Individuen bekennen.“ Als Belegbeispiel dafür, daß das französische Projekt der Säkularisierung des Politischen bislang mißlungen sei, führt Hegels Religionsphilosophie nicht etwa die Wiederkehr des Religiösen in Gestalt des Robespierreschen ,Kultes des höchsten Wesens‘ oder der von Lareveillière-Lepaux zur Zeit des Konsulats eingeführten Ersatzreligion des ,Theophilanthropismus‘ an. Vielmehr spielt er auf die Regentschaft Karls X. an, die Adel und Kirche stark begünstigte, indem sie beispielsweise die kirchliche Schulaufsicht wieder einführte und durch den Erlaß von Sakrileggesetzen de facto eine konfessionelle Pressezensur ermöglichte: Jetzt habe man an der „Spitze der französischen Regierung [. . .] eine religiöse Gesinnung gesehen, die von der Art war, daß ihr der Staat überhaupt für ein Rechtloses galt und daß sie feindselig gegen die Wirklichkeit, gegen Recht und Sittlichkeit auftrat.“ Die Julirevolution von 1830 lasse sich demgegenüber als eine zwiespältig motivierte Reaktion auf die eklatante Mißachtung des verfassungsmäßigen Prinzips der religiösen Neutralität des Staates durch den Monarchen erklären. Diese „letzte Revolution“ sei nichts anderes gewesen als die „Folge eines religiösen Gewissens, das den Prinzipien der Staatsverfassung widersprochen hat, und doch soll es nun nach derselben Staatsverfassung nicht darauf ankommen, zu welcher Religion sich das Individuum bekenne; diese Kollision ist noch sehr weit davon gelöst zu sein.“458 Augenscheinlich behandelt Hegel auch das Verhältnis zwischen der französischen und der preußischen Verfassungsgeschichte gemäß der allgemeinen Programmatik seiner Volksgeisttheorie: Die politische Geschichte der beiden benachbarten europäischen Völker soll aus den jeweiligen Eigentümlichkeiten ihrer kollektiven Sittensysteme erklären werden. Als deren wesentliche Determinanten zieht Hegel aber keine Naturunterschiede in Betracht, sondern allein und also der Vernunft nach dem Urtheile des Volkes unterworfen ist. Nun kann er in der Religionsbestimmung unrecht haben; folglich muß er sie dem Volke (dem publicum) überlassen“; vgl. Kant, Reflexionen zur Rechtslehre, Reflexion No. 7987 u. No. 8006, in: AA, Bd. XIX, S. 573, 580; vgl. auch die Reflexion No. 7658. 458 Hegel, Rel. I, in: Werke, Bd. 16, S. 244 f. (Herv. im Orig.).

3.5. Hegels Überlegungen

121

kulturgeschichtliche Spezifika, die, was das Verhältnis Frankreich–Deutschland anbetrifft, zutiefst durch die Reformation geprägt seien. Durch deren Mißerfolg oder Erfolg seien die Beziehungen zwischen religiöser Ethik und politischer Verfassung langfristig entweder auf Konflikt oder auf Harmonie hin programmiert worden. Es scheint, als wollte Hegel die Kette der französischen Staatsumwälzungen seit 1789 mit der Unterdrückung reformatorischer Bestrebungen in Zusammenhang bringen, die mit dem Beginn der Hugenottenkriege im Jahr 1562 einsetzte und nur kurzfristig durch das Edikt von Nantes im Jahr 1598 unterbrochen wurde.459 Damit sei der (mehr oder minder latente) Dualismus zwischen katholischer Mehrheitskonfession und säkularem Staat in einen Dauerzustand verwandelt worden. Im Gegensatz dazu sei der aufgeklärten preußischen Regierungsart (wenigstens zeitweilig) auf reformerischem Wege eine Umgestaltung der Verfassungspraxis nicht zuletzt deswegen gelungen, weil sie auf eine dem politischen Liberalismus entgegenkommende religiöse Ethik bauen konnte. Daß Friedrich Wilhelm IV. ab 1840 seinerseits eine romantische Theologisierung des Politischen anstrebte, die die Ideen des Gottesgnadentums und des mittelalterlichen Ständestaates wiederbelebte, mag in Hinblick auf Hegels Vertrauen in den im Vergleich mit Frankreich ,sicheren Gang‘ der preußischen Verfassungsentwicklung im nachhinein als Ironie der Geschichte erscheinen.

459 Ludwig XIV. hob das Edikt von Nantes 1682 auf, wies die reformierte Geistlichkeit aus, verbot aber die Auswanderung der Laien. Dies führte zu einer Massenflucht der Hugenotten; vgl. Brock (1999), S. 330.

4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie Hegels Reflexionen über die Zusammenhänge zwischen Religion, Volksgeist und Verfassung sind keineswegs veraltet. Gegenwärtige wissenschaftliche und politische Kontroversen würden von seiner Theorie nicht zuletzt deswegen profitieren, weil sie mindestens eine Zuschärfung, wenn nicht gar Radikalisierung der gängigen Positionen bewirkte. Dies betrifft zum ersten den mittlerweile ins Stocken geratenen europäischen Verfassungsgebungsprozeß, zum zweiten die imperialen Ambitionen der derzeitigen amerikanischen Außenpolitik460 und zum dritten schließlich den Streit um die Vereinbarkeit des Islam mit den klassischen Freiheitsgrundrechten, insbesondere dem der Rechtsgleichheit der Geschlechter einerseits und der Religionsfreiheit andererseits.

4.1. Die Europäische Union zwischen Vertrag und Verfassung Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich die verfassungsgeschichtlichen Traditionen Frankreichs und Deutschlands einschließlich ihrer politisch-kulturellen Werthintergründe offensichtlich soweit angeähnelt, daß eine Fusion beider Staatsrechtsordnungen in einer sie integrierenden europäischen Gesamtverfassung – so jedenfalls die Einschätzung seitens der Parlamente und Regierungen – kaum noch als problematisch empfunden wird. Hegels Detailstudie zur preußisch-französischen Entwicklung wirkt dagegen ebenso antiquiert, wie seine allgemeine religionsphilosophisch begründete These von der Inkompatibilität beider Volksgeister. Könnte man Hegel heute danach fragen, ob er eine europäische Verfassung für möglich oder gar nötig halten würde, fiele seine Antwort wohl negativ aus. Aus der Perspektive des Weltgeschichtskapitels ist anzunehmen, daß er einer verfassungsrechtlichen ,Zusammenschmelzung‘ des Staatsrechts europäischer Nationen zu einer höherstufigen Form des öffentlichen Rechts aus volksgeisttheoretischen Gründen skeptisch gegenüberstünde. Ob dies Verdikt aber in gleichem Maße für einen Typ der Konföderation gälte, der den assoziierten Staaten und ihren effektiven Souveränen nur sehr begrenzte Souveränitätsverzichte 460 Vgl. dazu: Peter Bender, Imperium als Mission. Rom und Amerika im Vergleich, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7 (2005), S. 851–863, Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft vom alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005.

4.1. Die Europäische Union zwischen Vertrag und Verfassung

123

abverlangen würde, weil nur einige wenige gemeinsame Zwecke angestrebt würden, ist immerhin fraglich. Wahrscheinlich würde Hegel auch dieser minderen Form kontraktuell erzeugten ,Staatenrechts‘ nur geringe Stabilitätschancen einräumen; dies jedenfalls dann, wenn sich irreduzible Differenzen zwischen den volksgeistrelativen Sitten der konföderierten Staaten ,feststellen‘ ließen. Unwahrscheinlich wäre eine positive Auskunft aber auch deswegen, weil Hegel in der Auseinandersetzung mit dem Kantischen Völkerrecht immer wieder die Unteilbarkeit der staatlichen Souveränität hervorhob – und dies vor allem in ,logischer‘ Hinsicht: Für Hegel, der in diesem Zusammenhang als Rousseauist agiert, kann ein teilsouveräner Herrschaftsverband, wie immer er sonst auch beschaffen sein mag, unmöglich unter den Begriff des Staates subsumiert werden. Seinerzeit begründete er aber die These von der politisch-ethischen Heterogenität der europäischen Völker weniger mit dem Hinweis auf natürliche, als auf weltanschauliche, speziell religionsbedingte Prägefaktoren. In geschichtsphilosophischem Kontext scheint die Kritik an kontraktualistischen Theorien, nach denen höherstufiges öffentliches Recht aus Verträgen resultiert, daher zu rühren, daß er von der Annahme einer irreduziblen Pluralität der Volksgeister ausgeht. Diese Heterogenität sah er letztinstanzlich im unterschwelligen und nachhaltigen Einfluß der religiösen Traditionen auf die politische Ethik und das Verfassungsdenken der Staatsvölker. Mitunter drängt sich der Eindruck auf, als betrachte Hegel Prozesse der Angleichung verschiedener Verfassungen bzw. Entwicklungen zugunsten inter- oder supranationaler Rechtsformen generell als bloß äußerliche Nivellierungen, denen die erforderliche innere Homogenität der Volksgeister und ihrer letztlich religiös geprägten Sitten fehlte.461 Sein Verzicht auf die Vision einer Assoziation europäischer Staaten, die sich zu einer übergreifenden politischen Einheit zusammenschließen würden, überrascht deswegen nicht. Aus völkergeisttheoretischer Perspektive scheint die Hegelsche Prognose, die Verfassungen der souveränen europäischen Nationen würden in absehbarer Zeit im selben Verfassungsziel, der konstitutionellen Monarchie, konvergieren, sittlichkeitstheoretisch recht schwach untermauert. Denn die divergenten religiösen Determinanten der Volksgeister werden hinsichtlich ihrer Funktion, ,Weichensteller‘ für die Verfassungsgeschichten der Nationen zu sein, jedenfalls nicht expressis verbis relativiert. Doch so eindeutig ist die Sachlage bei weitem nicht: Das Spektrum der für ein Volk passenden Verfassungen soll nämlich weder durch die Religion noch durch den von ihr geprägten sittlichen Geist dieses Volkes ein für allemal defi461 Wäre das der Fall, dann könnte man versucht sein, diesen Aspekt der Hegelschen Theorie zu den Inspirationen der Staatsmetaphysik Carl Schmitts zu rechnen, die ihrerseits jedoch einen mehrdeutigen, zeitweilig völkischen bzw. rassistischen Homogenitätsbegriff verwendet, der in denkbar schärfstem Gegensatz steht zu den rechtsuniversalistischen Prämissen, wie sie noch Hegels Weltgeisttheorie eigen sind.

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4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie

niert sein. Welche Verfassung für welches Volk paßt, soll ebenso von der kognitiven Komponente des Volksgeistes, insbesondere von reflexiven Lernprozessen abhängen, die mit der eigenen sittlichen Tradition (einschließlich ihrer religiösen Grundlage) durchlaufen werden oder unterbleiben. Denn schließlich sei jede Verfassung „ein Produkt, eine Manifestation des eigenthümlichen Geistes eines Volks und der Stufe der Entwicklung des Bewußtseins seines Geistes.“462 Verfassungen sind demnach sowohl bedingt von den externen Bestimmungsgründen des Volksgeistes als auch vom jeweils erreichten Grad der Selbstaufklärung des Volkes über die Natur seines Geistes. Hegel scheint das dynamische Verhältnis zwischen beiden Faktoren wie ein ,Nullsummenspiel‘ gedacht zu haben, so daß jeder Reflexionsfortschritt eine Schwächung des Einflusses statisch wirkender Faktoren zur Folge haben würde. Bezogen auf die Äußerungen zur allgemeinen Stellung der Religionen in der Verfassungsgeschichte würde dies bedeuten: Je weiter sich vermittels kultureller Selbstverständigungsprozesse der Einfluß separierender Faktoren wie z. B. geographischer Gegebenheiten oder religiöser Weltanschauungen abschwächen würde, desto stärker könnte sich umgekehrt der gemeinsame politische Erfahrungshintergrund der Völker geltend machen, wobei die Erinnerung an kriegerische Folgen gescheiterter Verständigungsversuche ein besonderes Gewicht zukommen dürfte. Zwar enthalte der Volksgeist „Naturnotwendigkeit“, er stehe in „äußerliche[m] Dasein“, deswegen realisiere sich der „unendliche sittliche“ Geist in den Volksgeistern nur auf „beschränkte“ Weise. Auf der anderen Seite sei es der „in der Sittlichkeit denkende Geist, welcher die Endlichkeit, die er als Volksgeist in seinem Staate und dessen zeitlichen Interessen, dem System der Gesetze und der Sitten hat, in sich aufhebt und sich zum Wissen seiner in seiner Wesentlichkeit erhebt“.463 Es ist offenbar diese Reflexionsbewegung im Sittlichen, die das selbstverständliche Gelten seiner Normen in Frage stellt, indem sie nach deren letzten Geltungsgründen fragt. Von der Möglichkeit einer solchen reflexiven Negativitätsbeziehung des Sittlichen auf sich soll es abhängen, ob der jeweilige Volksgeist geeignet ist, Moment der Entwicklung des Weltgeistes zu werden. Wie Hegel ausführt, werden nämlich die Divergenzen oder Konvergenzen der sittlichen, sich in konzentrierter Form in den verschiedenen Verfassungen ausdrückenden Prinzipien der Volksgeister sowohl konstatiert als auch, je nach politischer oder anderweitig bestimmter Interessenlage der Urteilenden, interpretiert bzw. konstruiert. Stellt man die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines ,europäischen Volkes‘, kann man von Hegel immerhin lernen, daß kollektive sitt462 463

Hegel, Rechtsphilosophie Griesheim, § 274 A, S. 663 (Herv. v. Verf., U. T.). Hegel, Enz. III, § 552, in: Werke, Bd. 10, S. 353.

4.1. Die Europäische Union zwischen Vertrag und Verfassung

125

liche Identitäten, die die besonderen Volksgeister übersteigen, durch diese sowohl limitiert als auch ermöglicht werden. In der kritischen Reflexion auf und Kommunikation über diese, historische Erfahrungen mitkonstituierenden Selbstund Fremdbilder liegen die größten Chancen für die zukünftige Entwicklung der Kooperation europäischer Nationalstaaten und ihres wie immer zu institutionalisierenden gemeinsamen Interesses. Ob es ein europäisches Staatsvolk geben kann, das nicht nur als legitimatorische Zurechnungseinheit, die die Ausübung ihrer Legislativrechte delegierte, sondern darüber hinaus als reale Sachentscheidungen fällender Aktivsouverän gedacht wäre, hängt weniger von faktischen Divergenzen der Sitten der bisherigen Staatsvölker ab, als vom Grad an Konvergenz in der Beurteilung der europäischen Geschichte und ihrer Katastrophen. Sollte, aller Widrigkeiten zum Trotz, eine europäische Verfassung nicht nur faktisch zustandekommen, sondern darüberhinaus als demokratisch legitimiert gelten können, müßte noch eine weitere prozedurale Bedingung erfüllt sein, die Hegel als völlig indiskutabel bezeichnet hätte: Die Verfahren, mittels derer sich eine europäische Unionsverfassung beraten und beschließen ließe, müßten ihrerseits demokratischen Ansprüchen genügen.464 Blickt man jedoch auf die Bundesrepublik Deutschland, so muß man feststellen, daß bislang keine gesetzlichen oder verfassungsgesetzlichen Vorkehrungen getroffen wurden, die es den Bürgern gestatten würden, auf den Prozeß der europäischen Integration effektiven Einfluß auszuüben. Dieser Befund ist umso problematischer, als bereits die derzeit erreichte Vernetzung europäischer und nationalstaatlicher Rechtssetzungs- und Rechtsdurchsetzungsprozeduren die politische Ordnung des Grundgesetzes de facto erheblich modifiziert hat. Mit der entäußernden Übertragung bestimmter Souveränitätsrechte von nationalen Parlamenten auf europäische Exekutivorgane wurde denn auch zugleich die organisatorische, gewaltenteilungsvermittelte Gewährleistung prozeduraler Volkssouveränität beschnitten. So sind die nationalen Parlamente vielfach verpflichtet, europäische Rechtsverordnungen in nationales Gesetzesrecht umzusetzen, wodurch sich der vormalige Souverän tendenziell in ein heteronomes Vollzugsorgan verwandelte. Um einen solch gravierenden Eingriff in die Verfassungssubstanz zu legitimieren, wäre aber allemal ein besonderer, verfahrensförmig zu organisierender Willensakt des pouvoir constituant erforderlich gewesen.465

464 Vgl. dazu kritisch Oliver Eberl, Notaktion Tankstelle. Der Ratifizierungsprozess der EU-Verfassung treibt groteske Blüten – und verlangsamt sich, in: Frankfurter Rundschau v. 16. 2. 2005. 465 Nach Dietrich Murswieck implizierte bereits der Vertrag von Maastricht die Gründung eines europäischen Staates, da es sich nicht um eine bloße Verfassungsänderung gehandelt hätte, für die Art. 79 Abs. 3 GG maßgeblich gewesen wäre. Vielmehr habe der Vertrag den Effekt gehabt, daß die souveräne Staatlichkeit der Bundesrepublik tendenziell aufgegeben wurde. Für einen solchen Verfassunggebungsakt aber wäre, so Murswieck, unbedingt eine besondere Abstimmung des Volkes als des legiti-

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4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie

Die bundesdeutschen Regierungen bzw. Parlamentsmehrheiten schienen indes wenig geneigt, den Bürgern Kompetenzen für legislative Sachentscheidungen oder gar verfassungsgesetzgebende Gründungsakte zuzugestehen. Sie tendierten vielmehr dazu, die europäische Einigung, wie schon die deutsche Einheit, ,abzuwickeln‘ und dabei den pouvoir constituant des Volkes als ideelle Legitimationsfigur zu beschwören. Verfassungsrechtlich wäre ein demokratisches Entscheidungsverfahren in Hinblick auf eine zukünftige europäische Verfassung nicht nur legitimatorisch erforderlich, sondern auch dogmatisch möglich.466 Zweifellos genügte die Rekrutierung des Personals des europäischen Verfassungskonvents nicht denjenigen demokratischen Anforderungen, die ehemals in der amerikanischen founding-debate467 oder auch von Sieyes erhoben worden waren. Doch diesen legitimatorischen Mangel hätte man hinsichtlich des Ratifizierungsverfahrens nicht wiederholen müssen. Sollte erstens der Fall eintreten, daß z. B. vermittels eines Verfassungsvertrages überstaatliches europäisches Verfassungsrecht ratifiziert würde468 und sollte zweitens (wider Erwarten) jener Verfassunggebungsakt nicht nur durch das theoretische Konstrukt einer „ununterbrochene[n] demokratische[n] Legitimationskette“469 dem mehr oder minder vermuteten Willen des Volkes zugeschrieben werden, sondern de facto aus direktdemokratischen Entscheidungen resultieren, dann wäre ein weiterer Beweis dafür erbracht, daß kontraktualistische Theorien des pouvoir constituant, wie sie Rousseau, Kant und nicht zuletzt Sieyes vertraten, nicht nur in der Theorie richtig sein mögen, sondern ebenso für die Praxis taugen. Das bundesdeutsche Verfassungsrecht steht allerdings eher in der Tradition eines autoritativen Repräsentationsverständnisses, das im Vergleich mit der französischen Konzeption einer zweidimensionalen, verfassungsgesetzgebenden und einfachgesetzgebenden Volkssouveränität geradezu obrigkeitsstaatlich wirkt. Denn für den hypothetischen Fall, daß der vorliegende oder zu überarbeitende Text der europäischen Verfassung dereinst tatsächlich in Geltung gesetzt würde, men Inhabers des pouvoir constituant erforderlich gewesen; vgl. Dietrich Murswiek, Maastricht und der pouvoir constituant, in: Der Staat 32 (1993), S. 161–190, 162 ff. 466 Denkbar wäre eine interpretative Verknüpfung zwischen Präambel, Art. 20 Abs. 2 und Art. 146 GG. 467 Vgl. dazu Ulrich Thiele, Verfassunggebende Volkssouveränität und Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Position der Federalists im Fadenkreuz der zeitgenössischen Kritik, in: Der Staat 39/3 (2000), S. 397–424. 468 Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7 (1998), S. 813 ff., bes. 815; ders., Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm: in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt am Main 1996, S. 185–191. 469 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, Frankfurt am Main 1991, S. 289–378, 299.

4.2. Können Verfassungen ,gemacht‘ werden?

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wäre nicht das deutsche Staatsvolk zu befragen, sondern allein das Parlament zuständig.470 In der deutschen Verfassungsgeschichte ist es geradezu Tradition, daß das Staatsvolk als suspekt gilt und deswegen als Subjekt von Sachentscheidungen weitestgehend neutralisiert wird und allenfalls als legitimatorisches Zurechnungssubjekt an Verfassungsrecht setzenden Akten beteiligt wird.471 Dennoch wären nach demokratischen Legitimitätsprinzipien plebiszitäre Verwilligungsmodi gerade dann erforderlich, wenn höherstufiges Verfassungsrecht erzeugt werden soll, das die Verfassungsorgane des Grundgesetzes in ihren Kompetenzen erheblich beschneiden würde. Denn immerhin hat sich laut Präambel das „deutsche Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz“ und nicht eine höherstufige europäische Verfassung gegeben, die bundesrepublikanische Rechtssetzungs- und Rechtsdurchsetzungskompetenzen schmälern und vielleicht in ihrer Substanz beschädigen könnte. Doch hätte Hegels Einwand mit Sicherheit anders gelautet. Denn er war sicher kein Anhänger der Volkssouveränitätslehre, die bezüglich verfassungsrechtlicher Gründungsakte nicht nur eine deklaratorische, sondern immer auch eine realprozedurale Berücksichtigung des Legitimationsprinzips des pouvoir constituant des Volkes gefordert.

4.2. Können Verfassungen ,gemacht‘ werden? Hegels These, jede Verfassung sei zugleich eine Manifestation des jeweiligen Volksgeistes und seines jeweils erreichten Reflexionsniveaus,472 läßt sich nämlich auch anders verstehen: Er könnte seine eigene evolutionäre Theorie des Verfassungswandels als Gegenprogramm zur französischen Volkssouveränitätstheorie verstanden haben, die insbesondere in Sieyes’ Werk ihren mechanistisch-rationalistischen Zenit erreicht zu haben schien. Für Hegel sind Verfassungen keine ,auf dem Reißbrett‘ zu konstruierenden Artefakte, sondern quasiorganische Gebilde, die aus den Sitten der Völker erwachsen, nicht aber ,gemacht‘ werden können. Verfassungen müßten als ,Organe der Volksgeister‘ angesehen werden, deren willkürliche Veränderung sich daher von vornherein verbiete.

470 Diese Entwicklung war seit November 2004 abzusehen. Zu diesem Zeitpunkt gab die SPD ihre Pläne zugunsten einer Gesetzesinitiative zur Einführung plebiszitärer Gesetzgebungsmodi auf Bundesebene gegen den erklärten Widerspruch der GRÜNEN auf; vgl. Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 10. 11. 2004. Auch das Bundesverfassungsgericht würde wahrscheinlich ablehnend entscheiden. Denn schon im MaastrichtUrteil war die Notwendigkeit plebiszitärer Entscheidungsverfahren verneint worden. 471 Vgl. dazu Oliver Eberl, Europäische Verfassung und deutscher Sonderweg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 11 (2004), S. 1364 ff. 472 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 274, in: Werke, Bd. 7, S. 440.

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4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie

„Die erste Frage und die wichtigste scheint zu sein, wer in einem Volk die Verfassung zu machen habe; allein die Verfassung ist vielmehr als die an und für sich seiende Grundlage des rechtlichen und sittlichen Lebens eines Volkes und wesentlich nicht als Gemachtes und subjektiv Gesetztes zu betrachten.“473

Hegels „evolutionär-historischer Verfassungsbegriff“474 bezieht Stellung insbesondere gegen die von Sieyes vertretene Auffassung, legitime Verfassungen resultierten aus rechtlich ungebundenen Entscheidungen des pouvoir constituant der Völker, die ihrerseits nicht naturalistisch, sondern konstruktivistisch als Rechtsgemeinschaft von Staatsbürgern zu denken seien.475 Aus Hegels Sicht dagegen untergräbt diese nüchtern-prozeduralistische Denkungsart wegen ihrer relativistischen und voluntaristischen Implikationen die Legitimität jeder Verfassung: Es sei daher schlechthin notwendig, „daß die Verfassung, obgleich in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen werde; denn sie ist vielmehr das schlechthin an und für sich Seiende, das darum als das Göttliche und Beharrende und als über der Sphäre dessen, was gemacht wird, zu betrachten ist.“476 Häufig werden sowohl Rousseaus Gesellschaftsvertragslehre, die Hegel als Theorie willkürlicher Rechtssetzung (miß)versteht,477 als auch Sieyes’ PouvoirConstituant-Theorie in Zusammenhang mit der terroristischen Entgleisungsphase der Französischen Revolution gebracht,478 besonders dort, wo das Prinzip der Volkssouveränität im allgemeinen problematisiert wird.479 Es finden sich sogar Formulierungen, die eine innere Verbindung zwischen der Grande Terreur und der Volkssouveränitätslehre als solcher suggerieren, ohne daß auf den Autor des Tiers Etat auch nur angespielt wird.480 473 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 134, S. 189 (Herv. v. Verf., U. T.). 474 Vgl. Pasquale Pasquino, Die Lehre vom ,pouvoir constituant‘ bei Emmanuel Sieyès und Carl Schmitt, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum – Über Carl Schmitt. Vorträge und Diskussionsbeiträge des 28. Sonderseminars 1986 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1988, S. 371–385, 374. 475 Anders dagegen Pasquino, der Sieyes’ Begriff der Nation im Sinne eins „homogene[n] soziale[n] Körper[s]“ versteht; vgl. ebd., S. 376. 476 Hegel, Grundlinien, § 273, in: Werke, Bd. 7, S. 439. 477 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 134, S. 190: „Rousseau stellte die Verfassung als einen Contrat social aller miteinander und aller mit jedem Einzelnen vor; aber darin liegt nun das Belieben, die Willkür der Einzelnen, ob sie [den Vertrag] eingehen wollen oder nicht.“ 478 Nach 1795 ist – so Joachim Ritter – Hegels Bild der französischen Revolution nachhaltig durch Berichte über die Grande Terreur geprägt; vgl. Joachim Ritter, Hegel und die französische Revolution, Frankfurt am Main 1965, S. 20. 479 Vgl. Hegel, Grundlinien, §§ 279, 301, 317, in: Werke, Bd. 7, S. 446 f., 468 f., 483 ff. 480 Seit Talmons Untersuchung über die Ursprünge der totalitären Demokratie (Jacob L. Talmon, The Rise of Totalitarian Democracy, London 1952) hat ein nicht unbeträchtlicher Zweig der Forschung die These vertreten, Sieyes sei für die Entstehung

4.2. Können Verfassungen ,gemacht‘ werden?

129

Wenn Hegel in der Einleitung zu den Grundlinien die „Schreckenszeit der Französischen Revolution“ als Ergebnis eines übersteigerten „Fanatismus“ wertet, der allenfalls „ein Abstraktes“, aber „keine Gliederung“ hervorgebracht habe, dann wird dies aus einer Verabsolutierung des ,negativen‘, repräsentations- und institutionenfeindlichen Aspektes der Gleichheitsidee erklärt, den er mitunter dem Prinzip der Volkssouveränität als solchem anzurechnen scheint. „Deswegen hat auch das Volk in der Revolution die Institutionen, die es selbst gemacht hatte, wieder zerstört, weil jede Institution dem abstrakten Selbstbewußtsein der Gleichheit zuwider ist.“481 Volkssouveränität – so heißt es an anderer Stelle – sei ein in sich zwiespältiges Prinzip: Einerseits bringe es zum Ausdruck, daß der freie Wille und nichts sonst das moderne „Prinzip des Staats“ ist. Andererseits aber könne die Losung der Volkssouveränität zu der Ansicht verleiten, alle staatliche Autorität sei von der „Willkür, Meinung und beliebige[n], ausdrückliche[n] Einwilligung“ der Bürger abhängig, wodurch jede institutionelle Verstetigung ihres Gemeinwillens von vornherein diskreditiert werde. So habe die Französische Revolution, in der die Idee der Volkssouveränität zur reellen „Gewalt“ gediehen sei, erstmals eine Verfassung zustande gebracht, die, nach „Umsturz alles Bestehenden und Gegebenen“, ausschließlich „vom Gedanken“ ausgegangen sei. Der Versuch, von allem Bestehenden abzusehen und der Verfassung nicht das wirkliche, sondern „bloß das vermeinte Vernünftige zur Basis geben zu wollen“, sei dementsprechend zur „fürchterlichsten und grellsten Begebenheit“ geraten,482 denn „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören.“483 Auch in den Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte wird die Instabilität des nachrevolutionären Frankreich beklagt, wo Verfassungen ebenso bedenkenlos geändert, durchbrochen oder suspendiert zu werden schienen, wie man Regierungen oder reguläre gesetzgebende Versammlungen durch Staatsstreiche absetzte. Zwar sieht Hegel nach wie vor die welthistorische Bedeutung der Revolution darin, „daß der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut“;484 doch die Fragilität des staatsrechtlichen Zustandes in Frankreich wird auf Mängel der ,inneren Staatsverfassung‘ und diese auf die abstrahierende Verabsolutierung der Ideen des Egalitaris-

der Terreur zumindest indirekt mitverantwortlich; vgl. Kenneth Murray Baker, Sieyès, in: François Furet/Mona Ozouf (Hg.), Dictionnaire Critique de la Révolution Française, Paris 1988, S. 342 f. 481 Hegel, Grundlinien, § 5. Zus., in: Werke, Bd. 7, S. 52. 482 Ebd., § 258, in: Werke, Bd. 7, S. 400. 483 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: Werke, Bd. 20, S. 331. 484 Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, in: Werke, Bd. 12, S. 529.

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4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie

mus485 und der Volkssouveränität zurückgeführt: „So geht die Bewegung und Unruhe fort.“486 Aus Hegels Perspektive wird die Instabilität des politischen Institutionensystems Frankreichs wesentlich durch Mängel der bisherigen Verfassungen verursacht, wobei er speziell die Systeme der Gewaltenteilung im Blick hat. Speziell die organisatorische Kompetenzverteilung zwischen Legislative und Exekutive sei bisher unzulänglich normiert gewesen, mit dem Ergebnis, daß die beiden Funktionen meistenteils in dichotomer Beziehung zueinander gestanden hätten.487 Auf der einen Seite sei die Legislative meistenteils dominiert worden von „Männer[n] der Prinzipien“,488 die abstrakte Ideale beschworen hätten, statt der Exekutive hinreichend präzise gesetzliche Normen vorzugeben und sie damit zum Handeln zu ermächtigen und zu befähigen. Regierungs- und Verwaltungsakte auf der anderen Seite hätten immer schon unter dem Verdacht gestanden, die Menschen- und Bürgerrechte zu verletzen. Die unterkomplexe verfassungsmäßige Normierung der Beziehung zwischen Legislative und Exekutive äußere sich somit typischerweise im Hiatus zwischen abstrakten Revolutionsidealen der Opposition und pragmatischer, nicht ganz zu Unrecht als willkürlich bewerteter Regierungspolitik.489 Die Crux der nachrevolutionären Politik sieht Hegel darin, daß zwar eine „weiter bestimmte Gesetzgebung, eine Organisation der Staatsgewalten und der Behörden der Administration [. . .] als notwendig zugegeben“ wird. In der politischen Praxis dagegen sei weder die eine noch die andere Forderung eingelöst worden.490 Statt legislative Pflichten (auf der einfachgesetzlichen wie der verfassungsrechtlich-organisatorischen Ebene) zureichend zu erfüllen, habe sich die politische Führungsschicht deklamatorisch auf die Menschen- und Staatsbürger-

485 „Das konsequente Prinzip der Gleichheit verwirft alle Unterschiede und läßt keine Art von Staatszustand bestehen“; vgl. Hegel, Enz. III, § 539, in: Werke, Bd. 10, S. 332. 486 Hegel, Phil. d. Gesch., in: Werke, Bd. 12, S. 535. 487 Vgl. Egon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant. Ein Beitrag zum Staatsrecht der französischen Revolution, Tübingen 1909, S. 410. 488 Hegel, Über die englische Reformbill (im folgenden zitiert als „Reformbill“), in: Werke, Bd. 11, S. 127. 489 Als Indiz für dieses Manko der verfassungsmäßigen Organisation der öffentlichen Gewalt seit 1789 nennt Hegel den Umstand, daß französische Politiker allzu häufig in der Opposition abstrakte Ideale verfechten, denen gegenüber sie als Regierungsmitglieder auf Distanz gehen. Man „liest in französischen Oppositionsblättern naiv Klagen darüber, daß so viele ausgezeichnete Individuen, bei ihrem Durchgang durch Ministerialfunktionen der linken Seite, der sie früher angehörten, untreu geworden, zurückkehren, d.h. daß sie, wenn sie in abstracto vorher wohl zugegeben haben, daß eine Regierung sei, nun gelernt haben, was das Regieren wirklich ist, und daß dazu noch Weiteres gehört als die Prinzipien“; vgl. ebd., S. 126. 490 Vgl. ebd., S. 127.

4.2. Können Verfassungen ,gemacht‘ werden?

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rechte berufen.491 Dadurch hätte jede „Betätigung der Institutionen, welche [in Wahrheit] die öffentliche Ordnung und die wirkliche Freiheit ist“, per se als gleichheitswidrig gelten können.492 Da Hegel nicht nur die unzureichende Gesetzgebung, sondern die mangelnde rechtliche Organisation der öffentlichen Gewalt insgesamt für jenen Zustand verantwortlich macht, kann man folgern, daß er das Mißverhältnis zwischen Legislative und Exekutive, vorzüglich der Regierung, nicht allein revolutionärem Enthusiasmus, sondern gravierenden rechtsphilosophischen Konstruktionsfehlern der bislang diskutierten, verabschiedeten bzw. in Kraft getretenen Verfassungen ursächlich zurechnet. Weder Sieyes’493 persönliches Engagement, noch der eminente verfassungspolitische Einfluß speziell seiner frühen Schriften werden in diesem Zusammenhang erwähnt. Obwohl Hegel im Ganzen das übersteigerte Ideal der Volkssouveränität zu den Hauptursachen der instabilen französischen Verfassungsgeschichte zählte und speziell Sieyes’ Schrift über den Dritten Stand gemeinhin als das demokratische Manifest galt, das als Fanal die revolutionären Ereignisse beschleunigt, wenn nicht sogar initiiert hätte, hält sich Hegel in dieser wirkungsgeschichtlichen Frage auffällig bedeckt. Meines Wissens hat Hegel nur ein einziges Mal – und dies sehr spät – Sieyes ausdrücklich erwähnt, obwohl er doch einer der profiliertesten Aktivisten der Revolution war und darüberhinaus als der eigentliche ,Vater des französischen

491 „Die Staatsgesetzgebung ist für die Männer der Prinzipien im wesentlichen ungefähr mit den [. . .] Droits de l’homme et du citoyen erschöpft“; vgl. ebd. 492 „Gehorsam gegen die Gesetze wird notwendig zugegeben, aber von den Behörden, d.h. von Individuen gefordert, erscheint er der Freiheit zuwider; die Befugnis, zu befehlen, der Unterschied [. . .] des Befehlens und Gehorchens überhaupt, ist gegen die Gleichheit; eine Menge von Menschen kann sich den Titel von Volk geben, und mit Recht, denn das Volk ist diese unbestimmte Menge; von ihm aber sind die Behörden und Beamten, überhaupt die der organisierten Staatsgewalt angehörigen Glieder unterschieden, und sie erscheinen damit in dem Unrecht, aus der Gleichheit herausgetreten zu sein und dem Volke gegenüberzustehen, das in dem unendlichen Vorteil ist, als der souveräne Wille anerkannt zu sein. Dies ist das Extrem von Widersprüchen, in dessen Kreise eine Nation herumgeworfen wird, deren sich diese formellen Kategorien bemächtigt haben“; vgl. ebd. 493 Zur verfassungsgeschichtlichen und verfassungstheoretischen Bedeutung des Abbé Sieyes vgl. z. B. Jean-Denis Bredin, Sieyès. La clé de la Révolution française, Paris 1988; Stefan Breuer, Nationalstaat und „pouvoir constituant“ bei Sieyes und Carl Schmitt, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie LXX (1984), 495–517; Murray Greensmith Forsyth, Reason and Revolution. The Political Thought of the Abbé Sieyès, New York 1987; Thomas Hafen, Staat, Gesellschaft und Bürger im Denken von Emmanuel Joseph Sieyes. Bern 1994; Pasquale Pasquino, The Constitutional Republicanism of Emmanuel Joseph Sieyès, in: B. M. Fontana (Hg.), The Invention of the Modern Republicanism, Cambridge 1994, 107–117; ders., Sieyes et l’Invention de la Constitution en France, Paris 1998; Ulrich Thiele, Volkssouveränität – Menschenrechte – Gewaltenteilung im Denken von Sieyes, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 86/1 (2000), S. 48–69.

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4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie

Konstitutionalismus‘ angesehen werden kann.494 Der Text, in dem der Name Sieyes’ erwähnt wird, bezieht sich ausdrücklich allein auf dessen Verfassungsentwurf von 1799, der sich insofern von allen seinen früheren Plänen abhob, als nun mit der Institution des Grand Electeur eine präsidiale bzw. monarchische Verfassungskomponente in das bisherige, keineswegs simple Gewaltenteilungsmodell eingepaßt werden sollte. Sieyes trug dabei nicht zuletzt der charismatoiden Stimmungslage jener Zeit Rechnung: Mit dem Verfassungsorgan eines Ersten Konsuls sollten die innenpolitischen Machtansprüche Napoleons sowohl anerkannt als auch innerhalb der organisatorisch zu modifizierenden Direktorialverfassung dadurch gebunden werden, daß dem Grand Electeur allein Repräsentationsfunktionen zugedacht waren.495 „Bekanntlich hat Sieyes, der den großen Ruf tiefer Einsichten in die Organisation freier Verfassungen hatte, in seinem Plane, den er endlich bei dem Übergang der Direktorialverfassung in die konsularische aus seinem Portefeuille hervorziehen konnte, damit nun Frankreich in den Genuß dieses Resultates der Erfahrung und des gründlichen Nachdenkens gesetzt werde, einen Chef an die Spitze des Staats gestellt, dem der Pomp der Repräsentation nach außen und die Ernennung des obersten Staatsrats und der verantwortlichen Minister wie der weiteren untergeordneten Beamten zustände, so daß die oberste Regierungsgewalt jenem Staatsrat anvertraut werden, der Proclamateur-électeur aber keinen Anteil an derselben haben sollte.“496

Hegels Bemerkung ist in zweierlei Hinsicht aufschlußreich: Erstens scheinen zu jener Zeit Sieyes’ politische Ideen und selbst seine späten Verfassungsentwürfe diesseits des Rheins recht gut bekannt gewesen zu sein.497 Zweitens hatte Hegel offensichtlich wenigstens im Groben Kenntnis von den frühen und mittleren Verfassungsplänen des Abbé.498 Drittens lobt er Sieyes’ verfassungsrecht494 Paul Bastid, La place de Sieyès dans l’histoire des institutions, in: Revue d’histoire politique et constitutionnelle 3/1, Paris 1939, S. 302. 495 Werner Giesselmann, Die brumairianische Elite. Kontinuität und Wandel der französischen Führungsschicht zwischen Ancien Régime und Julimonarchie, Stuttgart 1977, S. 366 ff. 496 Hegel, Reformbill, in: Werke, Bd. 11, S. 117 f. 497 Dies ist speziell hinsichtlich des erwähnten Verfassungsprojekts von 1799 erstaunlich, das nicht von Sieyes selbst publiziert wurde, sondern nur indirekt durch zwei Gesprächsmitschriften Boulay de la Meurthes in Umlauf kam; vgl. Hafen (1994), S. 228 ff. In deutscher Übersetzung waren damals lediglich die Schriften bis 1795 zugänglich, die 1796 von dem wichtigsten deutschen Sieyes-Anhänger Konrad Engelbert Oelsner ediert worden waren. Hegel selbst erwähnt in einem seiner Berner Briefe an Schelling, der auf das Jahr 1794 oder 1795 datiert wird, Oelsner als „Verfasser der Dir wohl bekannten Briefe in Archenholz’ Minerva“; vgl. Johannes Hoffmeister (Hg.), Briefe von und an Hegel, Bd. 1, 1785–1812, Brief Nr. 6, Hamburg 1952, S. 11. Gemeint sind Oelsners zwischen August 1792 und März 1793 in der Zeitschrift „Minerva“ (Jg. I, S. 284 ff.) erschienene „Historische Briefe über die neuesten Begebenheiten Frankreichs“. 498 Der Einfluß der französischen Verfassungstheorie auf Hegels Überlegungen zur Gewaltenteilung wird in der Literatur überwiegend an Benjamin Constant (vgl. Flo-

4.2. Können Verfassungen ,gemacht‘ werden?

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liche Kompetenz im allgemeinen, wenn er ihm „Erfahrung und gründliches Nachdenken“ zuerkennt. Dennoch läßt Hegel durchblicken, daß auch Sieyes’ Verfassungspläne unzureichend seien, weil ihnen ein solides rechtsphilosophisches Fundament fehle.499 Entsprechend wird die ,Oberflächlichkeit‘ und ,Abstraktheit‘, die französische Verfassungstheorien und ihre öffentliche Diskussion kennzeichne, konfrontiert mit der analytischen Strenge und Systematik der deutschen Verfassungstheorie, die sich nicht zuletzt durch deutlich größeren politischen Realitätssinn und Praktikabilität sowie entsprechende öffentliche Akzeptanz auszeichne. „Ideen, welche die Grundlagen einer reellen Freiheit ausmachen [. . .], die in Frankreich mit vielen weiteren Abstraktionen vermengt und mit den bekannten Gewalttätigkeiten verbunden [waren], [sind] in Deutschland längst zu festen Prinzipien der inneren Überzeugung und der öffentlichen Meinung geworden [. . .] und [haben] die wirkliche, ruhige, allmähliche, gesetzliche Umbildung jener Rechtsverhältnisse bewirkt [. . .], so daß man hier mit den Institutionen der reellen Freiheit schon weit fortgeschritten, mit den wesentlichsten bereits fertig und in ihrem Genusse ist“.500

Nach Hegels Überzeugung ist die diskontinuierliche französische Verfassungsgeschichte aus der revolutionären ,Verwirklichung‘ abstrakter Rechts- und Verfassungsprinzipien zu erklären,501 während die entsprechende Entwicklung in Deutschland, auch ohne geschriebene Verfassung, als kontinuierliche Reform rian Weber, Benjamin Constant und der liberale Verfassungsstaat, Wiesbaden 2004) festgemacht; vgl. Ludwig Siep, Hegels Theorie der Gewaltenteilung, in: ders., Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt am Main 1992, S. 240 f. Diese wirkungsgeschichtliche These ist speziell in bezug auf Hegels Theorie der fürstlichen Gewalt sicher zutreffend, obwohl in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit Sieyes’ Entwurf zur Frimaire-Verfassung von 1799, speziell was der Rolle des Grand Electeur anbetrifft, lohnend sein könnte. 499 Hegels Urteil entspricht im Grundsätzlichen den Eindrücken, die Carl Gustav Jochmann von Sieyes gewann: „Er zersplitterte Alles, löste Alles auf; seine Meisterschaft bestand in einer politischen Scheidekunst (falls es eine politische Chemie giebt). Aber der Überblick und die Kühnheit eines Schöpfers gingen ihm ab. Ein Kleinigkeitssinn, der in der Menge der Einzelheiten das Ganze nicht sah, und es vernachlässigte, machte ihn unfähig, im Großen zu behandeln“; vgl. Carl Gustav Jochmann, Die französischen Staatsverwandlungen, in: ders., Reliquien, Bd. 2, Hechingen 1837, S. 254 f. 500 Hegel, Reformbill, in: Werke, Bd. 11, S. 121. 501 Nicht nur in den Grundlinien, sondern ebenso in anderen Vorlesungen über Rechtsphilosophie widersprach Hegel der Auffassung, Verfassungen könnten gemacht werden; Hegel, Grundlinien, § 274, in: Werke, Bd. 7, S. 440; vgl. auch ders., Rechtsphilosophie Wannenmann, § 134, S. 189 ff.; ders., Rechtsphilosophie Griesheim, § 272, 6, S. 657 ff. Im Kontrast zum revolutionären Enthusiasmus speziell der Franzosen und der entsprechenden Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes plädiert Hegel für das „geduldige Abwartenkönnen“ in der Gewißheit, daß die politische Realität ihrem rechtsphilosophischen Begriff nicht auf Dauer widersprechen kann: „Eine Verfassung überhaupt, wenigstens im Occident wo subjektive Freiheit ist, bleibt nicht stehen, verändert sich immer [. . .]. Das Bewußtsein läuft zwar der Wirk-

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4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie

der politisch-institutionellen Realität nach vernunftrechtlich begründeten Prinzipien502 vonstatten gehe. Dies wirft nun ein gänzlich anderes Licht auf die Bemerkung zu Sieyes. Hegels insgesamt kritisches Urteil über die französische Staatsrechtsphilosophie läßt an dem, was zunächst als Würdigung der Verdienste Sieyes’ erschien, einen ironischen Hintersinn erkennen. Wenn Hegel konstatiert, Sieyes habe den „Ruf tiefer Einsichten in die Organisation freier Verfassungen“, dann besagt dies nichts über die Berechtigung dieses Rufes. Wenn es zudem heißt, Sieyes habe seinen Entwurf der Konsularverfassung „aus dem Portefeuille“ ziehen können,503 dann wird die Qualität nicht nur dieses Planes zumindest in Frage gestellt. Sieyes erscheint nun eher als emsiger Verfassungsbastler, der jederzeit Verfassungsskizzen vorlegen konnte, denen freilich die unerläßliche rechtsphilosophische Fundierung ebenso abging wie der nötige politische Realitätssinn.504 In sachlicher Hinsicht allerdings ist Hegels ironische Geringschätzung des Abbé problematisch: Vergleicht man nämlich die Ausführungen zur Gewaltenteilung in den Grundlinien mit Sieyes’ mittleren Verfassungsplänen, besonders mit dem aus dem Jahr 1795, werden Parallelen sichtbar, die Hegels Distanzierung in gewissem Grade künstlich erscheinen lassen. Beide Autoren teilen immerhin die Überzeugung, daß eine vernünftige und auf Dauer tragfähige Verfassung in ihrer organisatorischen Dimension nicht allein auf das Prinzip der funktionalen Trennung der politischen Gewalten gebaut sein kann. Dieses müsse vielmehr um das Prinzip der (begrenzten) aktiven Teilhabe der einen Gewalt an der anderen ergänzt werden.505 Trotzdem bleiben die Divergenzen zwischen beiden grundsätzlicher Art: Hegel versteht sich dezidiert nicht als Volkssouveränitätstheoretiker, sondern als „Theoretiker der Staatssouveränität.“506 Deswegen kann in seiner Perspektive auch nur ein solches Staatsorgan als „absolut entscheidende[s] Moment des Ganzen“ in Frage kommen,507 das über reale Zwangsmittel gebietet und also lichkeit voraus, aber diese kann nicht bestehen, ist nur leere Existenz wenn sie als Äusseres nicht mit dem Geiste identisch ist“; vgl. ebd., § 272, 6e, S. 660. 502 Vgl. Langer (1986), bes. S. 11 ff., 81 ff., 95–137. 503 Hegel, Reformbill, in: Werke, Bd. 11, S. 127. 504 1879 bringt Treitschkes Urteil über das Thermidormodell Hegels Anspielung auf den Begriff, insofern Sieyes als „Verfassungskünstler“ bezeichnet wird, der Rousseaus Volkssouveränitätslehre mit Montesquieus Überlegungen zur Gewaltenteilung zu vereinen versucht habe; vgl. Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, 5. Aufl. Leipzig 1897, Bd. II, S. 109. 505 Vgl. dazu Ulrich Thiele, Gewaltenteilung bei Sieyes und Hegel. Die Thermidorreden von 1795 im Vergleich mit den Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Hegel-Studien 37 (2002), S. 139 ff. 506 Siep (1992), S. 318; vgl. Hegel, Grundlinien, § 279 und § 279 Zus., in: Werke, Bd. 7, S. 44 ff. 507 Hegel, Grundlinien, § 279, in: Werke, Bd. 7, S. 444.

4.2. Können Verfassungen ,gemacht‘ werden?

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jedenfalls der Staatsgewalt im engeren Sinne zuzurechnen ist.508 Sieyes dagegen blieb auch in seinen mittleren und späten Projekten, trotz unbestreitbarer ,justizstaatlicher‘ bzw. präsidialdemokratischer Tendenzen, letzten Endes Volkssouveränitätstheoretiker, der repräsentative mit plebiszitär-demokratischen Verfahren auch und gerade in verfassungsrechtlichen Grundsatzfragen kombinieren wollte und auch für den Ausnahmezustand keinen der pouvoirs constitués (einschließlich der Jury constitutionnaire)509 für entscheidungsbefugt erklären mochte.510 Eine (freilich mehrdeutige) Erklärung für die ungleichartige Entwicklungsrichtung der deutschen und der französischen Verfassungstheorie und -praxis seit 1789 gibt der späte Hegel selbst: „[In der deutschen Philosophie] ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen [. . .]. In Deutschland ist dies Prinzip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirklichkeit hinausgestürmt. Was in Deutschland von Wirklichkeit hervorgetreten, erscheint als eine Gewaltsamkeit äußerer Umstände und Reaktion dagegen. [. . .] Die Franzosen sagen: Il a la tête prè du bonnet; sie haben den Sinn der Wirklichkeit, des Handelns, Fertigwerdens, – die Vorstellung geht unmittelbar ins Handeln über. So haben sich die Menschen praktisch an die Wirklichkeit gewendet. So sehr die Freiheit in sich konkret ist, so wurde sie doch als unentwickelt in ihrer Abstraktion an die Wirklichkeit gewendet; und Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören. Der Fanatismus der Freiheit, dem Volke an die Hand gegeben, wurde fürchterlich. In Deutschland hat dasselbe Prinzip das Interesse des Bewußtseins für sich genommen; aber es ist theoretischerweise ausgebildet worden. Wir haben allerhand Rumor im Kopfe und auf dem Kopfe; dabei läßt der deutsche Kopf eher seine Schlafmütze ganz ruhig sitzen und operiert innerhalb seiner.“511

Eine bloß negative Beantwortung der Frage, ob Verfassungen ,gemacht‘ werden können, würde demnach das Niveau der Hegelschen Erörterungen deutlich unterbieten. Denn empirisch muß die Frage zweifellos bejaht werden: Tatsächlich hat sich das französische Volk bzw. seine autorisierten oder selbsternannten Stellvertreter seit 1789 rund alle zwei Jahre eine neue Verfassung gegeben, 508 Vgl. Guy Planty-Bonjour, Du Régime représentatif selon Sieyes à la Monarchie constitutionnelle selon Hegel, in: Hans-Christian Lucas/Otto Pöggeler (Hg.), Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstadt 1986, S. 13–36. 509 Zur Jury Constitutionnaire vgl. Gerhard Robbers, Emmanuel Joseph Sieyés – Die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit in der französischen Revolution, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, hg. v. Walther Fürst, Roman Herzog, Dieter C. Umbach, Berlin/ New York 1987, Bd. 1, S. 247–263; Thiele (2000), S. 63 ff. 510 In der Frage, inwieweit die verfassungsarchitektonisch fundamentale Rolle, die Sieyes’ Plan von 1795 der Jury constitutionnaire zuweist, der Stellung der fürstlichen Gewalt in den Grundlinien entspricht, gibt Planty-Bonjour nur eine allgemeine negative Auskunft; vgl. ders. (1986), S. 21, 27, 35 ff. 511 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: Werke, Bd. 20, S. 314 u. 331 f. (Herv. i. Orig.),

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4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie

während das preußische Staatsrecht noch lange Zeit seiner Kodifizierung harren mußte. Wenn Hegel darauf insistiert, Verfassungen könnten nicht gemacht werden, dann zielt er auf den artifiziellen Charakter von Vernunftverfassungen, die, im naturrechtlichen Begriffslaboratorium konstruiert, der ,defizitären‘ Wirklichkeit abstrakte Ideale entgegenstellen, was bezogen auf die in de facto geltenden Sitten zerstörerisch wirken müsse. Dagegen setzt Hegel, der sich in diesem Punkt durch die französische Erfahrung der Jahre 1793/94 bestätigt sehen kann, das Konzept einer ,organischen‘ Verfassungsentwicklung, die dem jeweiligen Stand des Volksgeistes nicht opponiert, sondern korrespondiert. Verfassungen sollten demnach keine rechtlichen Abstraktionen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit applizieren, sondern umgekehrt die immanente Vernünftigkeit der gewachsenen gesellschaftlichen Sitten aufgreifen und sie, indem sie die in ihnen wirksamen Rechtsprinzipien zum Ausdruck bringen, rekursiv stabilisieren. Insofern der Volksgeist nichts anderes darstelle als das aktuelle normative Selbstverständnis eines Volkes, gingen Versuche, volksgeistwidrige Vernunftverfassungen zu oktroieren in der Regel mit dem Risiko einher, den Bürgerkrieg und die schließliche Restauration des vernunftwidrigen, aber sittlichkeitskonformen alten Staatsrechts zu begünstigen.512

4.3. Die Endlichkeit welthistorischer Reiche In Hinblick auf die kritische Zurückweisung des Kantischen Völker- und Weltbürgerrechts läßt sich festhalten: Zumindest auf den ersten Blick kann Hegels Skizze der Weltgeschichte des Staatsrechts beanspruchen, eine ,realistische‘ Theoriealternative zu sein. Denn in der Tat schien seine Konstruktion des langfristigen ,Fortschritts‘ im Staatsrecht als eine Abfolge des Aufstiegs und Untergangs welthistorischer Imperien, die schließlich mit der universellen rechtlichen Verwirklichung der persönlichen Freiheit enden würde, gerade zum Ende des 20. Jahrhunderts nicht unplausibel zu sein. Spätestens seit dem sozialökonomischen und politischen Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1989 konnte man den Eindruck gewinnen, als wäre die Weltgeschichte in die nachdualistische bzw. nachpluralistische Epoche der Hegemonie der westlichen Zivilisation eingetreten. Nur vor diesem Hintergrund sind (aus heutiger Sicht) naive, sich auf Hegel berufende universalgeschichtliche Heilslehren wie diejenige Fukuyamas erklärlich.513 512 Die (bisherige) Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes eignet sich deswegen nicht als Gegenbeispiel, weil spätestens seit 1848 in der politischen Kultur Deutschlands eine starke liberaldemokratische Strömung existierte, die sich zwischen 1918 und 1933 auch staatsrechtlich durchsetzte. 513 „Was wir heute erleben ist vielleicht das Ende der Geschichte als solcher, das heißt der Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit und die Universalisierung der westlich-liberalen Demokratie als definitiver Regierungsform des Menschen.

4.3. Die Endlichkeit welthistorischer Reiche

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Allerdings war bereits seit dem Herbst 2003 absehbar, daß die imperiale Außenpolitik der Vereinigten Staaten an ihre Grenzen stoßen würde, denn in Afghanistan und im Irak wuchs die Gefahr, ,den Frieden zu verlieren‘. Von Hegel wäre zu lernen gewesen, daß jede Kultur exportierende Besatzungspolitik, erst recht, wenn sie einen Verfassungsoktroi einschließt, scheitern muß, da sie die volksgeistspezifischen Sitten des zu ,befreienden‘ Volkes nicht ausreichend berücksichtigt. Eingedenk der Hegelschen Lehre, daß Verfassungen den konkreten Lebensformen der Bürger nicht widersprechen dürfen, hätte man sich z. B. fragen müssen, inwieweit die Brüderlichkeitsethik des Islam, die beispielsweise die Armensteuer und ein striktes Zinsverbot miteinschließt, mit einem wirtschaftlichen System vereinbar sein kann, dessen Ethik (jedenfalls in der nordamerikanisch-puritanischen Variante) nicht nur spezifisch unbrüderlich ist, sondern geradezu ,sozialdarwinistische‘ Züge besitzt. Denn schließlich betrachten Religionsgemeinschaften, die sich in der Tradition Calvins sehen, den wirtschaftlichen Erfolg oder Mißerfolg und jenseitiges Heil oder Unheil als gleichursprünglich (im göttlichen Willen beschlossen), weswegen ihnen das Sozialstaatsprinzip im Grunde fremd bleiben muß. Demnach wäre auch die komplementäre religions- und verfassungspluralistische und in diesem Sinn ,antiimperiale‘ Dimension in Hegels Theorie der Weltgeschichte nicht zu gering zu veranschlagen: So seien die Innovationskapazitäten eines Volksgeistes prinzipiell begrenzt. Sie sollen entscheidend von seiner religiösen Substanz abhängen und das bedeutet natürlich auch: von dem Grad, in dem religiöse Vorstellungen überhaupt die Sitten eines Volkes prägen. Doch wie gegensätzlich die Kantische Völkerrechtstheorie und die Hegelsche Weltgeisttheorie auch beschaffen sind, in einem wesentlichen Punkt herrscht Einigkeit: Beide lehnen eine Vorstellung des Fortschritts im Staatsrecht ab, nach der es erlaubt wäre, einem ,rückständigen‘ Staatsvolk eine ,vernünftige‘ Verfassung zu oktroieren. Doch schon in Hinblick auf die jeweilige Begründung dieses Verbotes spaltet sich die Theoriegeschichte erneut: Während Hegel den Verfassungsexport sowohl aus pragmatischen als auch aus legitimatorischen Gründen ablehnt, spezifizierte Kant die letzteren volks- bzw. völkersouveränitätstheoretisch und näherte sich damit weitgehend der französischen Theorie des pouvoir constituant des Volkes an, die aus Hegels Sicht die Schwäche aller kontraktualistischen Legitimitätstheorien des Politischen teilen muß. Ihr Mangel liege darin, daß sie den staatlichen Willen an die schwankenden Willen der

[. . .] Der Krieg der Ideen ist zu Ende. [. . .] Im großen und ganzen hat die liberale Demokratie gesiegt. Die Zukunft wird nicht mehr großen berauschenden Kämpfen um Ideen gewidmet sein, sondern der Lösung nüchterner ökonomischer und technischer Probleme“; vgl. Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, London 1992, S. 4, übers. v. Jean-Pierre Bussalb, in: ders., Carl Schmitts völkerrechtliches Großraumprinzip, in: Rechtstheorie, 25/2, (2004), S. 251.

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4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie

Privatpersonen rückbinden und ihn damit dem unpolitischen Privatinteresse überantworten.514 Auch wenn Hegel keine demokratische Konzeption legitimer Verfassunggebung vertritt, so ist er doch mit Kant darin einig, daß advokative Arten des Verfassungswandels vernunftrechtswidrig und in diesem Sinne ungerecht sind. Jede oktroierte Verfassung kranke nämlich an einem doppelten Defizit: Im Vergleich mit einer Verfassung, die aus dem je konkreten, durch Religion zuinnerst geprägten Volksgeist und seinem jeweiligen Entwicklungsstadium zwanglos bzw. ,organisch‘ erwächst, sei eine ,implantierte‘ Verfassung ihrer Inkongruenz mit den vorfindlichen Volkssitten wegen durch einen Mangel an Akzeptanz beeinträchtigt, weswegen das so installierte Staatswesen zur Instabilität neige. Schon Kant hatte außer normativ-legitimatorischen Einwänden noch ein zusätzliches erkenntnistheoretisches Argument genannt, das gegen Verfassungsexporte spricht: Da Vernunftideen, wie die der (reinen) Republik, keine präzisen Regeln enthielten, die vorschrieben, wie sie in der jeweils komplexen gesellschaftlichen Realität umzusetzen wären, könne es auch keine Pauschalverfassung geben, die für alle möglichen situativen Kontexte taugte. Jedes Volk müsse daher die jeweils spezifische Verfassungsform (als Kombination einer Staatsform und einer Regierungsform)515 finden, die es selbst für geeignet hält. Selbst die Republik erlaube viele spezielle organisatorische Arrangements. So wäre zunächst zwischen einem unmittelbaren oder einem repräsentativen Modus demokratischer Gesetzgebung zu wählen. Sodann müßte man sich zwischen einer eher monarchischen und einer eher aristokratischen Regierungsform entscheiden.516 Analoges würde in Hinblick auf die Organisation der rechtspre514 „Rousseau [hat] das Verdienst gehabt, [. . .] den Willen als Prinzip des Staats aufgestellt zu haben. Allein indem er den Willen nur in bestimmter Form des einzelnen Willens [. . .] und den allgemeinen Willen nicht als das an und für sich Vernünftige des Willens, sondern nur als das Gemeinschaftliche, das aus diesem einzelnen Willen als bewußtem hervorgehe, faßte, so wird die Vereinigung der Einzelnen im Staat zu einem Vertrag, der somit ihre Willkür, Meinung und beliebige, ausdrückliche Einwilligung zur Grundlage hat, und es folgen die weiteren bloß verständigen, das an und für sich seiende Göttliche und dessen absolute Autorität und Majestät zerstörenden Konsequenzen. Zur Gewalt gediehen, haben diese Abstraktionen deswegen wohl einerseits das [. . .] erste ungeheure Schauspiel hervorgebracht, die Verfassung eines großen wirklichen Staates mit Umsturz alles Bestehenden und Gegebenen nun ganz von vorne und vom Gedanken anzufangen und ihr bloß das vermeinte Vernünftige zur Basis geben zu wollen; andererseits, weil es nur ideenlose Abstraktionen sind, haben sie den Versuch zur fürchterlichsten und grellsten Begebenheit gemacht“; vgl. Hegel, Grundlinien, § 258, in: ders., Werke, Bd. 7, S. 400 (Herv. v. Verf., U. T.). 515 Zur Terminologie vgl. Ulrich Thiele, Repräsentation und Autonomieprinzip. Kants Demokratiekritik und ihre Hintergründe, Berlin 2003, bes. S. 56 ff. 516 Die demokratische Regierungsform verbietet sich für Kant aus freiheitsrechtlichen Gründen, denn eine Volksregierung im Verein mit einer Volksgesetzgebung würde das Gewaltenteilungsprinzip verletzen und wäre despotisch zu nennen; vgl. ebd., S. 64 ff.

4.4. Die Weltreligionen und die Menschenrechte

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chenden Gewalt zu leisten sein. Außerdem – und dies ist sicher das gewichtigere Argument – widerspreche es dem Menschenrecht auf legislative Selbstbestimmung, wenn die elementarsten aller Gesetze, die Verfassungsgesetze, aus einem wesentlich fremden Willen resultierten. Sollte eine so ,gegebene‘ Verfassung dem jeweiligen Volkswillen widersprechen, so könnte sie noch nicht einmal vermöge eines speziellen Erlaubnisgesetzes der Vernunft als provisorisch legitim gewertet werden. Kants Rezeption der französischen Theorie der verfassunggebenden Gewalt fällt insofern nicht unter Hegels sittlichkeitstheoretisches Verdikt über die Gesellschaftsvertragstheorien, als die Kantische Version strikt vom empirischen und nicht vom idealen Gemeinwillen der sich zu Bürgern eines Verfassungsstaates vertraglich verbindenden Personen ausgeht. Es ist gerade diese prozedurale Quintessenz des demokratischen Kontraktualismus,517 die ihn vor den Gefahren des sittlichkeitsfeindlichen Konstruktivismus bewahrt und zugleich von allen Varianten advokativen Mißbrauchs des Volkssouveränitätsprinzips abgrenzt.518

4.4. Die Weltreligionen und die Menschenrechte Hegels Kritik an demokratischen Theorien der verfassunggebenden Gewalt (speziell an ihrer Kantisch-Sieyesschen Version) könnte sich immerhin in einer Hinsicht als überlegen erweisen. Manches deutet darauf hin, daß Hegels negativer Bescheid hinsichtlich der ,Machbarkeit‘ von Verfassungen vor allem auf deren inhaltliche Qualität abstellt: „Einem Volke eine, wenn auch ihrem Inhalte nach mehr oder weniger vernünftige Verfassung a priori geben zu wollen, – dieser Einfall übersähe gerade das Moment, durch welches sie mehr als ein Gedankending wäre.“519 Aus dem Kontext des bekannten Passus, geht hervor, daß Hegel in erster Linie Napoleons Versuch, den Spaniern eine moderne, auf dem liberalen Prinzip der rechtlichen Gleichheit (der Stände und Geschlechter) basierende Verfassung zu oktroieren, vor Augen stand.520 Demnach wären es ganz besonders li517

Vgl. ebd., S. 96 ff. Vgl. dazu Ulrich Thiele, Advokative Volkssouveränität. Carl Schmitts Konstruktion einer ,demokratischen‘ Diktaturtheorie im Kontext der Interpretation politischer Theorien der Aufklärung, Berlin 2003, bes. S. 215 ff., 497 ff. 519 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 274, in: Werke, Bd. 7, S. 440 (Herv. v. Verf., U. T.). 520 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 274, Zusatz, in: Werke, Bd. 7, S. 440: „Der Staat muß in seiner Verfassung alle Verhältnisse durchdringen. Napoleon hat z. B. den Spaniern eine Verfassung a priori geben wollen, was aber schlecht genug ging. Denn eine Verfassung ist kein bloß Gemachtes: sie ist die Arbeit von Jahrhunderten, die Idee und das Bewußtsein des Vernünftigen, inwieweit es in einem Volk entwickelt ist. Keine Verfassung wird daher bloß von Subjekten geschaffen. Was Napoleon den Spaniern gab, war vernünftiger, als was sie früher hatten, und doch stießen sie es zurück als ein 518

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4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie

berale, freiheitsrechtliche Verfassungen, deren Applizierbarkeit Hegel bestreitet. Daß dies auch für Restaurationspläne gelten würde, die beabsichtigten, ungleiche Rechtspositionen zu reetablieren, wird jedenfalls ausdrücklich nirgends gesagt. „In neuerer Zeit ist die Vorstellung sehr geläufig geworden eine Verfassung zu machen und wir haben so Verfassungen machen sehen aus abstrakten Gedanken, aber die sogenannten Liberalen die aus abstrakten Grundsätzen Verfassungen gemacht haben, haben überall, in Frankreich, Spanien, Neapel, Portugal, Piemond, Irrland pp Bankrutt gemacht.“521 Da Staat und Verfassung zum objektiven Geist zu rechnen sind, trifft für beide das zu, was für den Geist im Allgemeinen gilt: Weil der „Geist nur als das wirklich ist, als was er sich weiß, und der Staat, als Geist eines Volkes, zugleich das alle seine Verhältnisse durchdringende Gesetz, die Sitte und das Bewußtsein seiner Individuen ist, so hängt die Verfassung eines Volkes überhaupt von der Weise und Bildung des Selbstbewußtseins desselben ab; in diesem liegt seine subjektive Freiheit, und damit die Wirklichkeit der Verfassung.“522 Insofern Verfassungen den Volksgeist reflektieren und ihr Bestand von dieser sittlichen ,Bodenhaftung‘ abhängig sein soll, kommt ihnen das Merkmal relativer Unverfügbarkeit zu. Sie sind jedenfalls nicht beliebig änderbar: Eine Verfassung ist nämlich „kein bloß Gemachtes, denn eine Verfassung ist das Werk von Jahrhunderten, die Idee, das Bewußtsein des Vernünftigen, in wie weit es in einem Volk entwickelt ist. Und dies Bewußtsein läßt sich nicht so bloß machen.“523 Zusätzlich zu ,geographisch-pragmatischen‘ Prägefaktoren sei nämlich das Selbstbewußtsein eines Volkes, sowohl was sein Prinzip, als auch was sein durch dieses Prinzip generiertes ,Bildungspotenzial‘ anbetrifft, durch kulturelle Faktoren limitiert, in erster Linie durch die in ihm vorherrschende Religion: „So wie ein Volk sich Gott vorstellt, so stellt es sich auch seine Beziehung zu Gott oder so stellt es sich selber vor; so ist die Religion auch Begriff des Volkes von sich. Ein Volk, das die Natur für einen Gott hält, kann kein freies Volk sein; erst dann, wenn es Gott für einen Geist über der Natur hält, wird es selbst Geist und frei.“524 ,Natur‘ und ,Geist‘, ,Substanz‘ und ,Subjekt‘ markieren in einer kontinuierlich abgestuften Reihe die denkbaren Extreme, zwischen denen die jeweils konihnen Fremdes, da sie noch nicht bis dahinauf gebildet waren. Das Volk muß zu seiner Verfassung das Gefühl seines Rechts und seines Zustandes haben, sonst kann sie zwar äußerlich vorhanden sein, aber sie hat keine Bedeutung und keinen Wert.“ 521 Hegel, Rechtsphilosophie Griesheim, S. 659. 522 Ebd., S. 663 (Herv. v. Verf., U. T.). 523 Hegel, Rechtsphilosophie Hotho, S. 752 f. 524 Vgl. Hegel, ViG, S. 126; vgl. auch ebd., S. 127.

4.4. Die Weltreligionen und die Menschenrechte

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kreten Gottesbilder einzuordnen wären, die ihrerseits indirekt Aufschluß über das im Volk vorherrschende, aber nicht notwendigerweise auch bewußte Menschenbild geben. Je stärker in dieser Sicht die herrschende Gottesvorstellung am Leitbild der Naturnotwendigkeit orientiert ist, desto stärker scheinen die menschlichen Handlungsoptionen durch (nicht oder doch nur in geringem Maße beeinflußbare) Naturvorgänge determiniert und desto fatalistischer wären folglich auch die entsprechenden Mentalitäten gefärbt. Die naturreligiös eingebundenen Sitten tendierten zur rituellen Erstarrung, nicht aber zur methodisch disziplinierten Lebensführung, womit eine wesentliche Bedingung der kapitalistischen Erwerbswirtschaft einerseits und des liberalen Verfassungsstaates andererseits nicht erfüllt wäre:525 Insofern der gesellschaftliche Status der Individuen von der Natur bestimmt scheint, kann die Ungleichheit der Rechte, insbesondere die der Geschlechter, nicht als vernunftwidriges Skandalon durchschaut werden, sondern muß als naturnotwendig und zugleich gottgewollt legitimiert werden, wodurch eine gesellschaftliche und politische Modernisierung nach westlichem Vorbild ausgeschlossen ist. Folglich hängt neben dem Spektrum möglichen Privatrechts auch das Spektrum der Verfassungen, die zu einem bestimmten Volk passen, definitiv von seinem Gottesbild ab, wobei diese Zuordnung jedenfalls manchmal statisch gedacht scheint. So erklärt Hegel zunächst all jene Religionen für aufklärungsresistent – d. h. subjektivierungsresistent –, die ohne Einschränkung dem Paradigma ,Substanz‘ zugeordnet werden müssen, weil sie von einem „patriarchalischen Naturganzen“ ausgehend, eine theokratische Organisation des Staates fordern, dessen Herrscher als Gott vorgestellt wird, während man gesellschaftliche, insbesondere rechtliche Ungleichheiten aus Unterschieden der Geburt herleitet. In diese Kategorien sollen neben dem Hinduismus oder dem Buddhismus auch der Konfuzianismus sowie die allermeisten vorderasiatischen Religionen fallen.526 Erstaunlich ist Hegels Einschätzung des Islam, bei dem anzuerkennen sei, daß er die deutlichsten Analogien zur jüdisch-christlichen Gotteskonzeption aufweise. Er sei nämlich eine wesentlich ethische Religion, die neben „Verfassungs- und Rechtsgesetze[n]“ auch „Gebote der Höflichkeit“ enthält. Deswegen sei der Islam als „Reinigung der orientalischen Weltanschauung“ zu werten. Dennoch könnten die muslimischen Nationen an der freiheitsrechtlichen Verfassungsgeschichte nicht teilnehmen, da gemäß dem Koran der „Geist ebenso als Naturelement, als Sonne, angesehen“ werde.527 Auch sei den orientalischen Re525 Vgl. dazu Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 4. Aufl., Tübingen 1947, S. 17 ff., bes. 163 ff., vgl. auch ders., Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1980, S. 321 ff. 526 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Wannenmann, § 166, S. 258 f. 527 Vgl. ebd., § 166, S. 260. Diese Bemerkung ist umso merkwürdiger, als der Koran den Islam unzweideutig als Schöpfungsreligion ausweist, womit eine pantheisti-

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4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie

ligionen insgesamt eine Geringschätzung des Diesseits eigen, die mit einer Geringschätzung individueller Freiheit und einem fatalistischen Geschehenlassen einhergehe: Alles Endliche erscheint „bloß als ein Vorübergehendes, als ein Verschwindendes“ und nicht zugleich auch als Bleibendes, als im Absoluten Aufgehobenes. „Diese orientalische Anschauung der substantiellen Einheit bildet nun zwar die Grundlage aller wahrhaften weiteren Entwicklung, allein es kann dabei nicht stehengeblieben werden; was derselben noch fehlt, das ist das abendländische Prinzip der Individualität“528 Dem Judentum komme das Verdienst zu, den tradierten Gottesbegriff denaturalisiert zu haben. Mit dieser Entsinnlichung der Gottesvorstellung sei eine entsprechende Rationalisierung des Glaubens und Spiritualisierung des Gottesdienstes möglich geworden, die dazu beigetragen hätten, daß magische Heilstechniken immer mehr in den Hintergrund getreten wären.529 Dennoch sei die jüdische Religion aufgrund ihrer starken Akzentuierung der Zeremonien, der Tradition und der Form überhaupt in Hinblick auf ihre Rationalisierungsfähigkeit beschränkt.530 Vor allem beanstandet Hegel den Gedanken der Auserwähltheit des jüdischen Volkes, da sie einen dem modernen Gleichheitsprinzip zuwiderlaufenden Gnadenpartikularismus zur Folge haben müsse.531 Dagegen ließe sich einwenden, daß alle Religionen einen mehr oder weniger exklusiven Anspruch auf Erlösung erheben. Hätte sich Hegel in seiner Kritik dagegen auf das in Hinblick auf die Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft vorherrschende Abstammungskriterium konzentriert, dann hätte er unter der Hand die Höherwertigkeit eines voluntaristischen Mitgliedschaftskriterium unterstellen müssen, was aber seiner generellen Kontraktualismuskritik widersprochen hätte: Die Zughörigkeit zu einer sittlichen Gemeinschaft im allgemeinen und einer Glaubensgemeinschaft im besonderen soll gerade nicht als etwas Beliebiges gelten.532 Genau das nämlich wird gegen den jüdischen Bunsche Auslegung ausgeschlossen wird: So heißt es etwa, Allah sei „Gott, der Schöpfer, der Verfertiger, der Bildner. Er hat die herrlichsten Namen. Ihn preiset, was im Himmeln und was auf Erden ist, ihn, den Allmächtigen, den Allweisen“; vgl. Der Koran, Sure 59, 24, übers. v. L. Assmann, Paderborn 2005). Auch heißt es, Allah „schuf Himmel und Erde in Wahrheit“. „Hocherhaben ist er über alles, was sie ihm zur Seite setzen. [. . .] Er zwingt die Nacht und den Tag, euch zu dienen, und durch seinen Befehl zwingt es auch die Sonne, den Mond und die Sterne zu euerem Dienste“; vgl. ebd., Sure 16, 3–5, 8, 10–17, 20–21. Noch unmißverständlicher heißt es, Allah sei „der, der Himmel und Erde geschaffen“ hat; vgl. ebd., Sure 36. Da demnach Allah als Schöpfergott gedacht wird, wäre er als Geist und nicht „als Naturelement“ anzusehen. Hegels Deutung stünde folglich auf einem denkbar schwachem Fundament. 528 Hegel, Enz. I., § 151, Zus., in: Werke, Bd. 8, S. 295. 529 Vgl. die Belege in Grossmann (1996), S. 42. 530 Vgl. Hegel, Rel. II, in: Werke, Bd. 17, S. 89. 531 Vgl. Hegel, Phil. d. Gesch., S. 241, 244. 532 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 258, in: Werke, Bd. 7, S. 666.

4.4. Die Weltreligionen und die Menschenrechte

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desgedanken533 vorgebracht. Dieser soll als solcher anstößig sein,534 weil er, jedenfalls aus Hegels sittlichkeitstheoretischer Perspektive, das Absolute relativiert, insofern die Beziehung des Menschen zu Gott in Analogie zur Welt der (aufkündbaren) Verträge gedacht wird.535 Der letzte und eigentliche Einwand besagt, daß – eine Konsequenz des Mosaischen Bilderverbots – der jüdische Gott letztlich ein Abstraktum bleibe, ein „Gott des Gedankens“, der nicht „zur Anschauung des Menschen“ gelangen könne, weil sich Gott nicht als Mensch, sondern als Gesetz manifestiert habe.536 Nur eine Religion, deren Begriff von Gott dessen Menschwerdung notwendig einschließt, kann – so der Grundgedanke – eine menschenrechtliche Staatsverfassung theologisch begründen und legitimatorisch tragen. Aus alledem zieht Hegel den Schluß, daß das Judentum unbestreitbar die entscheidende ,Weiche‘ für die weitere Entwicklung der Weltreligionen gestellt hat. Dennoch sei ausschließlich das Christentum als eine Religion zu werten, die mit Verfassungen vereinbar sei, in denen das Freiheitsrecht des Menschen staatsrechtlich anerkannt werde. Jedoch meldet er auch hier einen Vorbehalt an: Aus der „evangelischen Religion“ gehe nämlich ein „anderes Staatsleben hervor als aus der katholischen“.537 Nur in protestantischen Ländern lasse sich daher eine liberale Verfassung durch Reformen verwirklichen, in katholischen müsse sie durch Revolutionen oder Oktroi eingeführt werden. Denn – so die Weltgeschichtsvorlesung von 1830/31 – in „Deutschland war die Aufklärung auf Seiten der Theologie, in Frankreich nahm sie sogleich eine Richtung gegen die Kirche.“538 Eine ,friedliche Koexistenz‘ von menschenrechtlichem Verfassungsstaat und katholischer Kirche, die deren wechselseitige Anerkennung voraussetzte, könne, mangels hinreichender normativer Kompatibilität beider Systeme, unmöglich von 533 Zur komplexen Figur des „Berith“ vgl. Max Weber, Das antike Judentum, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. III, 7. Aufl. Tübingen 1983, S. 81 ff., 126 ff. 534 Vgl. Hegel, Rel. II, in: Werke, Bd. 17, S. 85 f. 535 Hegels Klassifizierung der jüdische Religion als im Vergleich mit dem Christentum defizitäres Glaubenssystem hinderte ihn allerdings nicht daran, für die Emanzipation der Juden einzutreten; vgl. Hegel, Grundlinien, § 270, Fn., in: Werke, Bd. 7, S. 421; vgl. dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am Main 1991, S. 115–142, 134 f. In Hinblick auf andere nichtchristliche Religionen neigt Hegel weder dazu, eine repressive Politik zu rechtfertigen, noch dazu, die Forderung laizistischer Rechtsegalität aufzustellen. Statt dessen sei „Toleranz“, d. h. „Duldung und Übersehen“ am Platz; vgl. dazu Böckenförde (1991), S. 134. 536 Vgl. Grossmann (1996), S. 39. 537 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Griesheim, S. 646; vgl. dazu Kapitel 5. 7. 538 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (1830/31), hg. v. Karl Hegel, zitiert in: Grossmann (1996), S. 508.

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4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie

Dauer sein.539 So hätten denn auch „katholische Staaten, romanische Völker [. . .] seit 30 Jahren Revolutionen erlitten, Frankreich, Spanien, Portugal, Neapel, Piemont, Irrland [. . .]. In den protestantischen Staaten ist dagegen das religiöse Prinzip, das innerste Prinzip und das Prinzip der wirklichen Welt ein und dasselbe und deswegen sind die Gesetze, Einrichtungen, Sitten pp ganz religiöser Natur oder von der Religion nicht in der Wesentlichkeit unterschieden, sind vortrefflicher, wahrhaft göttlicher als in katholischen Staaten.“540 Insofern in beiden Sphären die subjektive Freiheit anerkannt wird, habe es zu einem komplementären Ergänzungsverhältnis zwischen Staat und Kirche kommen können, ohne daß rigide staatsrechtliche Eingriffe nötig gewesen wären. Deswegen sei protestantischen Ländern auch die aufgeklärte ,Radikalkur‘ einer konsequenten Säkularisierung erspart geblieben, die etwa in Frankreich unausweichlich schien. Allerdings findet sich bei Hegel noch eine weitere Denkfigur, die zu der oben dargestellten statischen Zuordnung von Gottesbegriff und Verfassung quer zu liegen scheint: Er will offenbar der religionsdynamischen Komponente eine eigene Wirksamkeit zugestehen, wenn er dem Bildungsaspekt des religiösen Selbstbewußtseins eine relative Selbständigkeit zuerkennt. Jede monotheistische Erlösungsreligion habe einen entscheidenden Selbstaufklärungsschritt zu vollziehen, bevor sie mit einer liberalen oder auch liberaldemokratischen Verfassung zunächst äußerlich, sodann aber auch in Hinblick auf ihr inneres Prinzip koexistieren könne: Sie müsse sich zu der Einsicht bequemen, daß staatliche und religiöse Normen notwendigerweise verschiedene Materien haben: Während der Staat der Geist sei, „der in der Welt steht“, habe die Religion „den Geist zum Gegenstand wie er rein, frei, an und für sich ist. Beides kann ganz gut neben einander bestehen.“541 Der Verzicht der Kirche auf angemaßte weltliche Autorität, insbesondere auf ,konkurrierende Gesetzgebung‘, und die korrespondierende Selbstbeschränkung des politischen Souveräns auf die gesetzliche Normierung äußerer Handlungen,542 so daß die durch individuelle Abwehrrechte garantierte Gewissens- und Bekenntnisfreiheit vor staatlichem Zugriff geschützt wäre, ist nach Hegel der entscheidende Schritt, der aus freiheitsrechtswidrigen Zuständen politischer Theologie bzw. theologischer Politik herausführt. Besonders anschaulich wird diese Überlegung dort, wo Hegel den gewaltsamen Egalitarismus der Grande 539 Zu Hegels Verständnis der Beziehung zwischen Staat und katholischer Religion bzw. Kirche vgl. Böckenförde (1991), S. 128 ff. Böckenförde erwägt auch, ob Hegels Polemik gegen den Katholizismus für die Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65) im allgemeinen zugetroffen haben mag, für die Zeit danach aber nur noch von historischen Interesse sein könnte; vgl. ebd., S. 133. 540 Vgl. ebd., S. 650. 541 Vgl. ebd., S. 647; vgl. auch Hegel, Rechtsphilosophie Hotho, S. 730 ff. 542 Vgl. dazu Böckenförde (1991), S. 131, Fn. 23.

4.4. Die Weltreligionen und die Menschenrechte

145

Terreur als Theologisierung der Politik deutet: Der religiöse Fanatismus, der daraus resultiere, daß „die Frömmigkeit das Innerlichsein gegen die Wirklichkeit“ geltend mache, sei keineswegs die einzige Erscheinungsform des Fanatismus. Vielmehr kann der auch einer des „Gedankens sein, so daß sich dieser abstrakt hält gegen die Wirklichkeit, so ist z. B. Fanatismus der Politik, wie in Frankreich die abstrakte Freiheit, darauf folgt sogleich Gleichheit, so kann keine Organisation bestehen, denn jede bringt Ungleichheit mit sich, jede Behörde pp muß sich geltend machen gegen die Individuen, und so ist sogleich Ungleichheit, Beschränkung vorhanden. Es ist dieser Fanatismus die Nivellierung aller Unterschiede, aller Ordnung und es ist die gefährliche Weise, wie sich das Verhältnis der Religion zum Staat gestalten kann, indem sie auf dem Inneren besteht, das Weltliche verachtet“.543 Mit der gebührenden historischen Distanz kann und muß man heute fragen, ob nicht, systematisch betrachtet, Hegel allen monotheistischen Religionen, die die Kriterien des Erlösungs- und Offenbarungsglaubens erfüllen, also auch dem Islam und dem Judentum, prinzipiell dasselbe Potential zur „Bildung“, d. h. zur Anerkennung der rechtssetzenden und -durchsetzenden Autonomie des Politischen, die mit einer ethischen Rationalisierung der entsprechenden Glaubenslehre und -praxis einherginge, zusprechen müßte, wie er es in Hinblick auf das Christentum getan hat. Nirgends wird (jedenfalls für den heutigen Leser) stichhaltig begründet, wieso ausschließlich das Christentum und zwar ausschließlich in seiner protestantischen Ausprägung die Voraussetzungen für eine synergetische Beziehung zum modernen Verfassungsstaat erfüllen kann.544 Die Einnahme des Lessingschen Standpunktes, der es gestatten würde, die drei streng monotheistischen Weltreligionen als gleichrangige Fragmente der einen theologischen Wahrheit zu betrachten, hätte freilich eine größere Distanzierung von zeitgenössischen Stereotypierungen der konkurrierenden Weltreligionen erfordert,545 als sie Hegel zu leisten in der Lage bzw. Willens war. Daß ihm die Einnahme einer solchen kulturell exzentrischen Perspektive nicht eben nahelag, läßt sich an seinen Ausführungen über den Zusammenhang von Religion, Volksgeist und Verfassung ablesen. Wenn Hegel sagt, die Religion sei die

543

Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Griesheim, S. 649. In Bezug auf den Islam könnte diese Behauptung nur dann überzeugen, wenn u. a. der Nachweis geführt würde, daß sozialstaatliche Eingriffe in die marktgesteuerte Privateigentumsordnung Fremdkörper im liberalen Verfassungsrecht wären. Dann ließe sich nämlich auch die muslimische Brüderlichkeitsethik und insbesondere das Institut der Armensteuer als freiheitsrechtswidrig darstellen. Doch dieser Weg ist Hegel versperrt. Denn insbesondere in den Grundlinien wird der Ansicht widersprochen, der ökonomische und der politische Liberalismus wären zwei Seiten einer Medaille. 545 Vgl. etwa Montesquieus Zuordnung von „mohammedanischer“ Religion und despotischen Regierungsformen einerseits und der von christlicher Religion und „gemäßigter Regierung“ andererseits in: ders. (1992), Bd. 2, S. 163. 544

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4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie

„Basis der Sittlichkeit und des Staates“,546 dann meint er, daß – allen etatistischen Hegel-Interpretationen zum Trotz – der Staat gerade nicht für sich selbst bestehen kann, sondern einer „religiösen Beglaubigung“ bedarf, eben weil er „als Ordnung der konkreten Freiheit nicht autark und selbsttragend“ sein kann.547 Doch die Beziehung zwischen religiöser Basis und ,politischem Überbau‘ ist nicht als unvermittelte Kausalrelation gedacht. Vielmehr beruhe der Bestand politischer Institutionen in letzter Instanz auf der Sitte der Bürger. Die Sitte aber, deren Substanz Normen sind, die sich aus letzten, als unbedingt gültig angesehenen Prinzipien ableiten, kann, so Hegel, diesen absoluten Geltungsanspruch ihrer Verhaltensvorschriften aus sich heraus nicht begründen. Sittliche ,Grundnormen‘ bedürfen ihrerseits einer metaphysischen Beglaubigung: „Indem die Religion das Bewußtsein der absoluten Wahrheit ist, so kann das, was als Recht und Gerechtigkeit, als Pflicht und Gesetz, d. i. als wahr in der Welt des freien Willens gelten soll, nur insofern gelten, als es Teil an jener Wahrheit hat, unter sie subsumiert ist und aus ihr folgt.“548 Denn keine andere Instanz als die Religion (sie mag als solche auftreten oder nicht) repräsentiert das, „was den Menschen, welche in einem sittlichen Ganzen zusammenleben, als das Höchste und zugleich als Grund ihrer Sittlichkeit gilt“.549 Wenn demnach die eigentliche, wenngleich verborgene Basis des Staats die Religion, der wahrhafte Staat aber freiheitsrechtlichen Charakter haben soll, dann kann nach Hegel nur eine einzige Religion dieses sittliche Fundament bereitstellen: Denn daß das „wahrhafte Sittliche Folge der Religion sei, dazu wird gefordert, daß die Religion den wahrhaften Inhalt habe, d. i. die in ihr gewußte Idee Gottes die wahrhafte sei.“550 Wer immer sich heute von diesen Ausführungen über das Bedingungsverhältnis zwischen Religion und modernem Verfassungsstaat überzeugen ließe, würde wahrscheinlich doch zögern, sich auch der weitergehenden Argumentation anzuschließen, nach der ausschließlich der Protestantismus mit einer menschenrechtlichen Verfassung und Politik vereinbar ist. Denn schließlich lehrt das jüngste Beispiel des amerikanischen ,Kreuzzuges gegen den Terrorismus‘, daß auch christliche Nationen, deren Sicht des Verhältnisses von Staat und Kirche maßgeblich durch die Reformation geprägt ist, in den vormodernen Zustand theologisierter Politik zurückfallen können.551 Hegels Prognose, von den protestantischen Sekten, wie etwa den „Wiedertäufern“, sei keine derartige Gefahr zu 546

Vgl. Hegel, Enz. III, in: Werke, Bd. 10, S. 356. Vgl. Böckenförde (1991), S. 132. 548 Vgl. Hegel, Enz. III, in: Werke, Bd. 10, S. 355. 549 Vgl. Hans Friedrich Fulda, Hegels Begriff des absoluten Geistes, in: Hegel-Studien 36 (2001), S. 171–198, 181. 550 Ebd. 547

4.4. Die Weltreligionen und die Menschenrechte

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fürchten, weil sie „an dem Staat keinen Anteil“ hätten und ihre „Mitglieder [. . .] nur bourgeois, nicht citoyen“ seien,552 ist heute offensichtlich widerlegt. Wie sich schon an den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts lernen ließ, ist keine politische Kultur gegen die Gefahr gefeit, in den Zustand politischer Theologie zurückzufallen, in dem eine atheistische Doktrin verkündet, dabei aber eine Theologisierung des Staates und eine Vergöttlichung seines Herrschaftspersonals betrieben wird. Wie es scheint, lassen sich religiöse Bedürfnisse nicht verdrängen bzw. unterdrücken, ohne daß der Preis ihrer pervertierten Wiederkehr zu zahlen wäre. Was jedoch eine liberaldemokratische Verfassung, die keine Staatsreligion und eigentlich auch keine Form des Konkordats dulden kann, leisten muß, ist einerseits die Gewährleistung des Grundrechts auf Bekenntnisfreiheit (was trivialerweise das Recht auf religiöse Bekenntnislosigkeit miteinschließt). Damit aber muß der Staat unter der Hand das Recht auf religiöse Intoleranz zugestehen, denn eine Religion (worunter auch ein fanatischer Atheismus zu zählen wäre), die keinen absoluten Geltungsanspruch ihres Glaubensinhaltes erheben würde, widerspräche ihrem Begriff. Toleranz kann man demnach den Religionsgemeinschaften allenfalls ,ansinnen‘, aber sie darf ihnen nicht anheim gestellt werden. In der liberalen Demokratie muß praktische Toleranz vielmehr mit rechtsstaatlichen Mitteln erzwungen werden. Denn nur auf diese Weise kann das Recht auf religiöse Selbstbestimmung, die der eine in Anspruch nimmt, mit dem gleichen entsprechenden Recht des Anderen „zusammen vereinigt werden“.553 Die ,französische‘ Lösung, der Kant zuneigt, ist in dieser Hinsicht dem sittlichkeitstheoretisch argumentierenden Plädoyer Hegels zugunsten eines ,gemäßigten‘ Konkordats zwischen dem preußischen Staat und der protestantischen Kirche überlegen. Denn der in Religionsfragen neutrale Staat Kants kann seine Legitimität nicht dadurch erhöhen, daß er sich dem Glauben der Mehrheit verpflichtet, wie er umgekehrt nicht berechtigt ist, eine Minderheitsreligion zu benachteiligen. Die gleiche Freiheit des religiösen Bekenntnisses (oder Nichtbekenntnisses) stellt für Kant geradezu das Urbild aller Freiheits(grund)rechte dar,

551 Die pseudotheologische Ideologie, mit der die Kriege in Afghanistan und dem Irak begleitet wurden, zielte darauf ab, Angriffskriege mit der überlegalen Legitimität eines eschatologisch gedeuteten Naturrechts auszustatten. Im metaphyischen Szenario der Neocons traten die Vereinigten Staaten als der Kat-echon des radikal Bösen auf. Dieser Manichäismus erinnert allerdings nicht nur an Carl Schmitts Version der Freund-Feind-Theorie, sondern stärker noch an Theodor Däublers expressionistische Losung „Der Feind ist unsre eigne Frage als Gestalt. Und er wird uns, wir ihn zum selben Ende hetzen“; vgl. Theodor Däubler, Sang an Palermo, in: ders., Hymne an Italien, München 1916, S. 58. 552 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie Griesheim, S. 648 (Herv. i. Orig.). 553 Vgl. Kant, RL, Einleitung in die Rechtslehre, § B, in: AA, Bd. VI, S. 229.

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4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie

in die normierend einzugreifen schlechterdings jedem Souverän, und sei es auch dem demokratisch legitimierten Repräsentanten des Volkes oder sogar diesem selber, untersagt sei: „Selbst das Volk kann so gar nicht einstimmig in ansehung der religion positive Zwangsgesetze machen.“554

Keine wie immer qualifizierte Mehrheit, selbst wenn sie einstimmig entschiede, was doch immerhin dem Vernunftideal der reinen Republik entspräche, könnte es rechtfertigen, die Freiheit der Religion durch Gesetze inhaltlich zu beschneiden: Dies nämlich hieße nichts anderes, als daß der Gesetzgeber ein Gesetz beschlösse, „wodurch man sich selbst die Freyheit der deliberation über die Freyheit raubt“.555 Weil nur jeder Einzelne in Hinblick auf seine religiöse Überzeugung und seine Weltanschauung überhaupt zu urteilen befugt ist, sei es dem Souverän verwehrt, per Gesetz die eine oder andere Religion zu protegieren oder sie gar zur Staatsreligion zu erheben. Andernfalls würde er allemal problematische Aussagen über transzendente Gegenstände als dogmatisches Wissen ausgeben: Wo der Souverän den Glauben an Unwißbares als positive Rechtspflicht statuiert, muß er sich von vornherein ins Unrecht setzen, weil er Wahrheitsansprüche aufstellt, die sich prinzipiell nicht einlösen lassen: „In sachen der religion und überhaupt der Meinungen ist niemand iudex competens als des Menschen eigene Vernunft oder Gott selber. Der äußere Richter kann nur statt finden darin, daß er die freyheit, die ein jeder hat, auf den Grad einschränke, daß er die freyheit anderer nicht störe.“556

Ein Gesetz, welches einer bestimmten transzendenten Lehre Wahrheit attestierte, würde nicht nur die erkenntniskritische Grenze zwischen Glauben (als eine Weise des Für-wahr-Haltens) und Wissen einreißen, sondern darüberhinaus dem Autonomiepostulat der praktischen Vernunft widersprechen. Sowenig sich der Einzelne seiner Freiheit des Glaubens oder Nichtglaubens entäußern kann, sowenig können dies das Volk oder seine Stellvertreter: „Worüber das ganze Volk selbst nicht disponieren kann, darüber kann auch kein souverain, als sich aller religionsuntersuchungen zu entschlagen und [sich] diese Freyheit zu verbieten.“557

Dieses politische Eingriffsverbot gegenüber den durch überpositivrechtliche Freiheitsrechte und positivrechtliche Freiheitsgrundrechte ausgegrenzten Zonen privater Autonomie558 gilt nach Kant kategorisch. Keine noch so anspruchs554

Vgl. Kant, Reflexion 7795, in: AA, Bd. XIX, S. 519. Vgl. Kant, Reflexion 7532, in: AA, Bd. XIX, S. 448. 556 Vgl. Kant, Reflexion 7758, in: AA, Bd. XIX, S. 479. 557 Vgl. Kant, Reflexion 7797, in: AA, Bd. XIX, S. 519 f. 558 Zum Menschenrecht der Redefreiheit als der Basis aller anderen poltischen Freiheitsrechte vgl. Peter Niesen, Kants Theorie der Redefreiheit, Baden-Baden 2005, bes. S. 129 ff. 555

4.4. Die Weltreligionen und die Menschenrechte

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volle Prozeduralregel könnte zureichen, den von absoluten Abwehrrechten definierten Schutzbereich der staatlichen Intervention zu öffnen. Mit diesem Tabu wird hinsichtlich der klassischen Freiheitsgrundrechte zugleich ein maximaler Minderheitenschutz gewährleistet. Die Menschen- und Bürgerrechte sind in Kants Verständnis nicht allein Rechte gegen staatliche Willkür, sondern zugleich Rechte gegen (legislative) Mehrheiten.559 Allerdings scheint dieses Interventionsverbot keineswegs allein auf die einfache Gesetzgebung gemünzt zu sein. Das Beispiel der Religionsfreiheit legt vielmehr den Gedanken nahe, daß Kant ein absolutes Verbot von Gesetzesvorbehalten hinsichtlich der klassischen Freiheitsgrundrechte aussprechen wollte, das auch die Verfassungsgesetzgebung beträfe. Und nicht einmal das Volk in seiner Funktion als legitimatorischer „Urgrund aller öffentlichen Verträge“,560 d. h. als pouvoir constituant, könne, ohne sich selbst zu widersprechen, dem einzelnen Bürger einen bestimmten Gebrauch seiner Freiheitsrechte vorschreiben. Wohlgemerkt, Kant sagt nicht, das verfassunggebende Volk dürfe keine positive Religionsgesetzgebung betreiben, sondern es könne dies nicht. Denn wer immer, sei es das Individuum, sei es der Verfassunggeber, in einer freien Entscheidung beschlösse, sich fortan ebendieser Freiheit zu begeben, beginge einen performativen Selbstwiderspruch. „[Jeder] Mensch [hat] doch seine unverlierbaren Rechte [. . .], die er nicht einmal aufgeben kann, wenn er auch wollte, und über die er selbst zu urteilen befugt ist“.561

Auf der anderen Seite hatte Kant zugestanden, daß auch die beste „Staatsverfassung“, die republikanische, in der alle Untertanen Legislatoren wären, keine sich selbst reproduzierende causa sui ist, sondern „am Ende auf die Moralität des Volkes“ angewiesen wäre.562 Vor diesem Montesquieuschen Reflexionshintergrund wird aber die Unverzichtbarkeit der Hegelschen Einsichten über die Zusammenhänge zwischen Religion, Volksgeist und Verfassung evident; dies zumal dann, wenn man, wie Jürgen Habermas, einräumt, daß „[r]eligiöse Überlieferungen [. . .] für moralische Intuitionen, insbesondere im Hinblick auf sensible Formen eines humanen Zusammenlebens, eine besondere Artikulationskraft“ besitzen, die durch keine andere Kulturleistung ersetzt werden kann. Sie bieten immerhin Anregungen für die jüngere Debatte über die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der politischen Einflußnahme auf die Modi der Koexistenz der Religionsgemeinschaften. Schließlich wäre es, jedenfalls aus einer Hegelisch sensibilisierten Perspektive, Sache der Politik, dafür Sorge zu tragen, daß die auch in den religiösen Glau559 560 561 562

Vgl. Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, London 1977, S. 133. Kant, RL, § 52, in: AA, Bd. VI, S. 342. Kant, Gemeinspruch, S. 161. Vgl. Kant, Vorarbeiten zum ewigen Frieden, in: AA, Bd. XXIII, S. 162.

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benssystemen (mehr oder minder) verankerten egalitaristischen sittlichen Prinzipien nicht verkümmern bzw. daß diese, wo sie durch den Glauben behindert werden, politisch-ethisch bzw. didaktisch, aber auch rechtlich-institutionell gestärkt werden.563 Doch gerade diese reziprozitärethischen Prinzipien kann die liberale Demokratie nicht erzeugen, sosehr sie ihrer auch bedarf. Freiheitsrechtliche Politik, die die französische Option einer radikalen Säkularisierung ausschlägt, hätte das Kunststück zu vollbringen, Strategien zu ersinnen, mittels derer die sittlichen Bedingungen der Koexistenz rivalisierender metaphysischer Weltanschauungen stabilisiert werden könnten, die sich doch aufgrund ihres jeweils absoluten Geltungsanspruchs negieren. Ein ,Dialog der Weltreligionen‘ würde ein ,diskursethisches‘ Verhältnis zwischen Religionsgemeinschaften voraussetzen, das ihren Mitgliedern gestattete, „ihre religiösen Auffassungen selbstreflexiv zu den Aussagen konkurrierender Heilslehren in ein Verhältnis zu setzen, das den eigenen exklusiven Wahrheitsanspruch nicht gefährdet“.564 Außerdem wäre dieser interreligiöse Diskurs um einen Dialog zwischen religiösen und säkularen Bürgern zu ergänzen, der sowohl die „Pathologien in der Religion“ wie die „Pathologien der Vernunft“ zu berücksichtigen hätte.565 Dabei würden an beide Seiten bestimmte, keineswegs triviale performative Erwartungen gestellt: Von den religiösen Bürgern müßte einerseits die Bereitschaft zur ,Übersetzung‘ theologischer Aussagen in profane Aussagen eingefordert werden können, was jedenfalls dazu zwänge, bei der Letztbegründungsversuchen von ethischen Normen eine „allgemein zugängliche Sprache“ zu verwenden.566 Der Verweis auf die göttliche Provenienz einer zur Debatte stehenden ethischen Norm könnte dann nicht mehr wie ein Trumpfkarte ausgespielt werden, sondern hätte zu unterbleiben. Andererseits kann im Rahmen einer liberaldemokratischen Verfassung der Verzicht auf ,konkurrierende religiöse Gesetzgebung‘ (rechtlich) verlangt und gegebenenfalls auch erzwungen werden, soweit diese mit der profanen Legislation in Widerspruch geriete und den Gläubigen zum Rechtsbruch aufforderte. Von den säkularen Bürgern wäre umgekehrt eine per563 So kann beispielsweise das strafrechtliche Verbot der Zwangsehe seinen egalitären Zweck nur dann erreichen, wenn den betroffenen Frauen pragmatische Möglichkeiten geboten werden, sich dem sittlichen Zwang der Familie effektiv zu entziehen. Dem Strafrecht müßten hier die Kommunalverwaltungen assistieren. 564 Vgl. Jürgen Habermas, Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den ,öffentlichen Vernunftgebrauch‘ religiöser und säkularer Bürger, in: ders. (2005), S. 119–154, 143. 565 Josef Ratzinger, Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, in: Jürgen Habermas/ders. (Hg.), Dialektik der Säkularisierung, Freiburg u. a. 2005, S. 56. 566 Jürgen Habermas, Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den ,öffentlichen Vernunftgebrauch‘ religiöser und säkularer Bürger, in: ders. (2005), S. 119–154, 146.

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formative Einstellung zu verlangen, die darauf verzichtete, ihre gläubigen Mitbürger als „kognitiv [. . .] rückständig“ zu diskreditieren.567 Das würde jedoch – dies läge jedenfalls in der Konsequenz der Habermasschen Argumentation – eine spiegelbildliche Entzauberung der Aufklärung voraussetzen. Dem säkularen Bürger müßte das szientifisch-technologische Weltbild, das im Zuge der kapitalistischen Modernisierung immer weiter dogmatisiert wurde, seinerseits als eine metaphysische Glaubenslehre durchsichtig werden, deren Wahrheitsanspruch ebenso problematisch wäre wie der theologischer Systeme. Der Verweis auf naturwissenschaftliche Fakten könnte dann ebensowenig zur argumentativen Rechtfertigung einer ethischen Norm herangezogen werden wie der Rekurs auf den vermeintlichen Willen einer absoluten Instanz. Paradoxerweise wäre der „religiös unmusikalische Bürger“ gehalten, eine performative Einstellung anzunehmen, in der die eigene naturwissenschaftlich fundierte ,Weltanschauung‘ als fallibel betrachtet würde.568 Das würde aber dem überzeugten Atheisten nichts Geringeres zumuten, als eine metafallibilistische Erkenntnisperspektive einzunehmen, „die aus einer selbstkritischen Vergewisserung der Grenzen der säkularen Vernunft hervorgeht“.569 In dem Maße, in dem der „Szientismus“570 lediglich als ein metaphysisches Glaubenssystem unter anderen angesehen würde, müßte der solcherart metaaufgeklärte Bürger im Dialog mit dem religiösen immerhin prinzipiell die Möglichkeit der Bekehrung einräumen. Zwar mag man dieses von Habermas skizzierte, für beide Seiten gleichermaßen anspruchsvolle Diskursdesign als unrealistisch abtun – und in der Tat mußte spätestens der Streit um die dänischen ,Mohammed-Karikaturen‘ einerseits und prekäre Einbürgerungsfragebögen andererseits diesbezügliche Zweifel verstärken.571 Eine radikale ,metaphysische Abrüstung‘ scheint derzeit weder islamischen oder christlichen Fundamentalisten noch fundamentalistischen Szientisten zumutbar. Allerdings läßt sich die den weltanschaulichen Kontrahenten angemutete Forderung nach einer wechselseitigen Perspektivenübernahme nicht allein als Diskurvoraussetzung, sondern ebensogut als ideales Diskursresultat verstehen. Damit wäre immerhin eine Strategie für eine öffentliche Debatte umrissen, die im optimalen Fall einer bürgerschaftlich-diskursiven und politischinstitutionellen, ethischen und rechtlichen Auflösung des ,Böckenförde-Dilemmas‘ den Weg bereiten könnte: 567

Vgl. ebd., S. 152. Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates, in: ebd., S. 106–118, hier: 118. 569 Jürgen Habermas, Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den ,öffentlichen Vernunftgebrauch‘ religiöser und säkularer Bürger, in: ders. (2005), S. 119–154, 146. 570 Ebd., S. 147. 571 Vgl. dazu z. B. Albert Scharenberg, Politik der Provokation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3 (2006), S. 263 ff. und Albrecht von Lucke, Der Mut zur Meinung, in: ebd., S. 267 ff. 568

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4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“572

Auch bei Habermas bleibt allerdings die Frage offen, ob der eingeforderte ,Dialog der Weltreligionen‘ nicht den Rahmen des inkonsequenten bundesdeutschen Staatskirchenrechtes sprengen muß und eine am französischen Modell orientierte Lösung verlangt. So wird einerseits aus dem „Prinzip der Trennung von Staat und Kirche von den staatlichen Institutionen strenge Unparteilichkeit im Umgang mit Religionsgemeinschaften“ abgeleitet. Doch wird andererseits der politische Laizismus als eine „zu enge Auslegung dieses Prinzips“ zurückgewiesen,573 ohne daß jedoch klar würde, wie genau denn eine positive Bezugnahme des Politischen auf die Religionen rechtlich normiert und institutionell organisiert werden könnte. Die von Kant verfochtene radikal-säkulare französische Lösung hätte immerhin den Vorzug, auch angesichts einer sich weiter weltanschaulich-ethisch ausdifferenzierenden Gesellschaft dem Gleichheitsgebot gerade hinsichtlich des Grundrechts auf freie private Religionsausübung Genüge zu tun. Der Preis, der zu zahlen wäre, ist allerdings nicht gering zu veranschlagen: Der säkulare Staat hätte sich aller legitimatorischen Rückbezüge auf die Religion zu enthalten, was immerhin eine diesbezügliche Abstinenz seitens aller öffentlichen Gewalten einschließen müßte. Entschiede man sich demgegenüber dafür, die bisherige kirchenstaatsrechtliche Praxis der Bundesrepublik574 beizubehalten, dann dürfte über kurz oder lang kein Weg daran vorbeiführen, die islamischen Glaubensgemeinschaften sowohl steuerrechtlich als auch im schulischen Bereich mit den christlichen Konfessionen gleichzustellen. Dem überkommenen gemäßigt ,kommunitaristischen‘ Staatskirchenrecht, das die beiden christlichen Konfessionen begünstigt, opponierte von Anfang an die laizistische Tendenz der Freiheitsgrundrechte. Solange aber die religiöse Orientierung der Gesellschaft relativ homogen war, schien diese Spannung akzepta572 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt am Main 1976, S. 60, vgl. auch ders., Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am Main 1991, S. 92–114, 112 f. 573 Habermas (2005), S. 129. 574 Vgl. dazu Winfried Brugger/Stefan Huster (Hg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, Baden-Baden 1998.

4.4. Die Weltreligionen und die Menschenrechte

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bel. Doch unter zunehmend pluralistischen kulturellen Bedingungen verwickeln sich Argumentationen zugunsten eines (gemäßigten) Staatskirchenrechts in Widersprüche, und der (Kantische) ,Neutralitätsliberalismus‘ gewinnt erneut an Überzeugungskraft.575 Eine Entscheidung zwischen dem kommunitaristischen und dem liberalen Modell scheint unvermeidlich. Tertium non datur. Doch leider ist die Sachlage bei weitem nicht so eindeutig, wie man anzunehmen geneigt ist: Denn immerhin sah Kant den Staat nicht zu einer Religionspolitik verpflichtet, die jedwede Glaubensgemeinschaft unterschiedslos unter den Schutz absoluter Freiheitsgrundrechte gestellt sah. Diesen könnten vielmehr allein solche Gemeinschaften geltend machen, deren Lehre zu Recht beanspruche, ein „allgemeine[r] wahre[r] Religionsglaube“ zu sein, der mithin dem „Bedürfnisse der praktischen Vernunft gemäß“ wäre. Der Anspruch, Vernunftreligion zu sein, lasse sich allerdings nur dann einlösen, wenn eine triadische bzw. trinitarische Gotteskonzeption vorliegt: „Diesem Bedürfnisse der praktischen Vernunft gemäß ist nun der allgemeine wahre Religionsglaube der Glaube an Gott 1) als den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, d.i. moralisch als heiligen Gesetzgeber, 2) an ihn, den Erhalter des menschlichen Geschlechts, als gütigen Regierer und moralischen Versorger desselben, 3) an ihn, den Verwalter seiner eignen heiligen Gesetze, d.i. als gerechten Richter.“576

Nur dort, wo die göttliche Gerechtigkeit als Analogon577 einer vollkommenen republikanischen Regierungsart578 gedacht werde, die in allen drei Funktionen des, das Staatsrecht strukturierenden „praktischen Vernunftschlusses“579 frei von Irrtum oder Willkür wäre, könne von einer Vernunftreligion die Rede sein, die in ihrer Lehre den organisatorischen Prinzipien eines freiheitsrechtlichen Staates entspricht. Das Kriterium, woran sich vernünftige von unvernünftigen Religionen scheiden, liegt nach Kant „in dem Begriffe eines Volks als eines gemeinen Wesens, worin eine solche dreifache obere Gewalt (pouvoir) jederzeit gedacht werden muß, nur daß dieses hier als ethisch vorgestellt wird, daher diese dreifache Qualität des moralischen Oberhaupts 575 Diese Tendenz läßt sich auch an der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ablesen; vgl. dazu Erich Röper, Integration ins Recht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4 (2006), S. 395–399, 396. 576 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft (im folgenden zitiert als „Religion“), in: AA, Bd. VI, S. 139. 577 Zu den Grenzen dieser Analogie vgl. Hans Friedrich Fulda, Zur Idee eines tractatus theologico-politicus in der Religionsphilosophie, in: Michael Wladika (Hg.), Gedachter Glaube. Festschrift für Heimo Hofmeister, Würzburg 2005, S. 201–217. 578 Zur terminologischen Abgrenzung von ,Staatsform‘, ,Regierungsform‘ und ,Regierungsart‘ vgl. Ulrich Thiele, Repräsentation und Autonomieprinzip. Kants Demokratiekritik und ihre Hintergründe, Berlin 2003, S. 55 ff. u. 79 f. 579 Vgl. Kant, RL, § 45, in: AA, Bd. VI, S. 313.

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4. Die Aktualität der Hegelschen Weltgeisttheorie

des menschlichen Geschlechts in einem und demselben Wesen vereinigt gedacht werden kann, die in einem juridisch-bürgerlichen Staate nothwendig unter drei verschiedenen Subjecten vertheilt sein müßte.“580

Eine Vernunftreligion sei dadurch gekennzeichnet, daß sie Gott als schlechterdings gerechten Souverän denkt, der seiner Vollkommenheit wegen zugleich Regierer und Richter in ein und derselben Person sein müsse, wohingegen Einschränkungen wie die Teilung der öffentlichen Gewalten oder die rechtsstaatliche Trennung zwischen Moralität und Legalität lediglich Vorsichtsmaßnahmen für die Gerechtigkeit seien, wie sie von fehlbaren menschlichen Wesen erwartet werden kann. Vor diesem Hintergrund drängt sich der Eindruck auf, daß Kants Einnahme der Perspektive des französischen Laizismus keine normative Positionseinnahme zugunsten eines strikten Neutralitätsliberalismus bedeuten muß. Vielmehr läßt sich nun ebensogut denken, daß Kant unter pluralistischen gesellschaftlichen Bedingungen eine Religionspolitik für zulässig erachtet hätte, die eine aktive Förderung solcher Religionen oder solcher Strömungen in den Religionen implizierte, die ihrerseits dem gewaltenteiligen Rechtsstaat zugeneigt wären. Daß sich dies keineswegs auf christliche Konfessionen zu beschränken hätte, wird an der Stelle klar, wo es heißt, die Trinitätslehre enthalte „eigentlich kein Geheimnis; weil [sie] lediglich das moralische Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlechte ausdrückt; auch bietet [sie] sich aller menschlichen Vernunft von selbst dar, und wird daher in der Religion der meisten gesitteten Völker angetroffen.“581 So gilt für die Alternative zwischen französischem Neutralitätsliberalismus und (gemäßigtem) Hegelschen Staatskirchenrecht eben doch: Tertium datur.

580 581

Kant, Religion, S. 140. Ebd.

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Sachverzeichnis Abstraktion 132 ff.

Natur 74 ff.

Basis – Überbau 145 f.

Offenbarung 58 ff.

Dasein 31 f., 37 f., 84 f. Dialektik 45 Fn. 143, 56 f., 63 Fn. 216, 68 ff., 85 Fn. 324, 98 Fn. 376

Politische Theologie 144 f., 146 f. Protestantismus 96 f., 118 f., 144 ff.

Erlaubnisgesetze 22 Erscheinung 57, 69 f. Europa 122 ff.

Rationalisierung 140 ff. Raum 75 ff. Realisierung 58 ff. Reform nach Prinzipien 111 f., 114, 133 f.

Fürstliche Gewalt 33, 39 f., 133 Fn. 498

Substanz 43, 140 ff.

Geist 45 f., 50 ff., 55 ff. Geschichtsphilosophie 64 f. Gewaltenteilung 29 f., 32 f., 38 ff., 138 Fn. 516 Grundrechte 33, 119 Fn. 457, 129 ff., 139 ff., 147 ff.

Teleologische Tätigkeit 59 ff. Terreur 128 f., 144 f.

Heilsgeschichte 65, 136 f. Idee 42 ff., 52, 56 f., 61, 76 Fn. 272 Islam 141 f. Judentum 142 Kampf der Kulturen 97 f. Katholizismus 95, 119 f., 143 f. Kontraktualismus 25 ff., 83 Fn. 308, 112 ff., 128, 137 f. Kosmopolitismus 47, 84 Fn. 311, 101 f. Krieg 32 ff., 40 ff.

Übergehen 58, 98 f. Universalgeschichte 12 f., 34 ff. Vereinigte Staaten von Amerika 11 f., 122, 126, 137 Verfassunggebende Gewalt 21 ff., 125 ff., 133 ff. Verfassungsevolution 127 ff. Verfassungsoktroi 109 f., 137 ff. Volk 124 f., 128 Völkerbund 12 ff., 25 ff. Völkerrecht 12 f., 99 f. Völkerstaatsrecht 14 f., 18, 25 Volkssouveränität 16, 21 ff., 129 f., 135

Liberalismus 117, 119 Fn. 457, 139 ff. List der Vernunft 73 f., 99, 114

Weltgeist 35 ff., 51 ff., 102 ff. Weltstaat 18 ff. wesentliches Verhältnis 66 ff., 105 Wille 57 f. Fn. 190, 60 f.

Monarchie 33, 107, 113 ff.

Zeit 78 ff.