Verdrängte Moderne - vergessene Avantgarde: Diskurskonstellationen zwischen Literatur, Theater, Kunst und Musik in Österreich 1918-1938 9783737004947, 9783847104940, 9783847004943


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Verdrängte Moderne - vergessene Avantgarde: Diskurskonstellationen zwischen Literatur, Theater, Kunst und Musik in Österreich 1918-1938
 9783737004947, 9783847104940, 9783847004943

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Primus-Heinz Kucher (Hg.)

Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde Diskurskonstellationen zwischen Literatur, Theater, Kunst und Musik in Österreich 1918–1938

Mit 21 Abbildungen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0494-0 ISBN 978-3-8470-0494-3 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0494-7 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Forschungsrats der Alpen-Adria Universität Klagenfurt aus den Mitteln der Privatstiftung Kärntner Sparkasse und der Fakultät für Kulturwissenschaften/Alpen-Adria Universität Klagenfurt. Ó 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Erika Giovanna Klien, »Gang in die Großstadt«, Ó Wien Museum, Inv.Nr. 171.551/39 Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Primus-Heinz Kucher Einleitende Bemerkungen zu »Moderne« und »Avantgarde« in Österreich

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I. Zoltan Peter Zur Frage des »dritten Weges« in der Wiener Avantgarde der 1920er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Barbara Les‚k Die österreichische Theateravantgarde 1918–1926. Ein Experiment von allzu kurzer Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Anke Bosse Abstraktion der Bühne und Depersonalisierung. Katalysatoren einer Technifizierung des Theaters der Moderne und der Avantgarden (Karel ˇ apek und Friedrich Kiesler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C

65

Jürgen Doll Sozialdemokratisches Theater im Wien der Zwischenkriegszeit. Vom Sprechchorwerk zu den Roten-Spieler-Szenen . . . . . . . . . . . . . . .

79

Arturo Larcati Zur Rezeption des italienischen Futurismus in Wien während der 1920er und 1930er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

II. Evelyne Polt-Heinzl Raum (neu) denken. Oskar Strnad – der unterschätzte Pionier der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

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Inhalt

Rebecca Unterberger Ernst Krenek, Theodor Wiesengrund-Adorno und der »Begriff der Avantgarde, mit dem man in Deutschland heute nicht gern zu tun hat«. Dissonanzen zu: Fortschritt und Reaktion, (alt-)neuen Formen und dem Phänomen Surrealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Julia Bertschik Janusköpfige Moderne: Der Querschnitt zwischen künstlerischer Avantgarde, Neuer Sachlichkeit und ›Habsburgischem Mythos‹ . . . . . . 171 Primus-Heinz Kucher ModernIsmus-AvantgardeIsmus am Beispiel der Debatten in den Musikblätter[n] des Anbruch (1919–1930). . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

III. Walter Fähnders Zwischen Vagabondage und Avantgarde: Hugo Sonnenschein, Emil Szittya und andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Vivien Boxberger Emanzipation der ›Neuen Tochter‹ in Mela Hartwigs Das Verbrechen (1927) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Jürgen Egyptien Vom Soteriologischen Mysterienspiel zum Konversationsstück über die Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Aneta Jachimowicz Statistik als »Werkzeug des proletarischen Kampfes«? Otto Neuraths statistisches Denken und Rudolf Brunngrabers Individuum-Auffassung in Karl und das 20. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Die Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Primus-Heinz Kucher

Einleitende Bemerkungen zu »Moderne« und »Avantgarde« in Österreich

Avantgarde und Moderne scheinen begrifflich-konzeptuell, literatur- wie kulturgeschichtlich gesehen im Hinblick auf die entsprechenden österreichischen Potentiale im frühen 20. Jahrhundert unverrückbar verortet und asymmetrisch festgeschrieben zu sein: Einer prononciert europäischen, interdisziplinär ausgerichteten Wiener Moderne der langen Jahrhundertwende (1890–1914) mit ihren epochalen, wissenschaftliche Erkenntnis und sprachästhetische Ausdrucksformen revolutionierenden Infragestellungen sowie mit ihren innovativen Verschränkungen seit Ernst Mach, folgt ein kurzes expressionistisch-aktivistisches Intermezzo (1917–1920/21) und diesem wiederum eine dem Kontext des Niedergangs und chaotischen Aufbruchs nach 1918/1919 verpflichtete NachModerne mit punktuell radikalen Ansätzen. Letztere stehen, sofern sie wahrgenommen werden, meist im Schatten der die Literatur- und Kulturgeschichte dominierenden Debatten und Tendenzen der Berlin-zentrierten Weimarer Republik bis hin zu deren abruptem Ende 1933.1 Auch Wendelin Schmidt-Dengler hat in seinen verdienstvollen Arbeiten zur Literatur der Zwischenkriegszeit Aspekte der Avantgarde angesprochen, diese aber im Vergleich zu anderen Leitthemen (z. B.: Abschied von Habsburg, Komplex Militär, Wiener Kreis) eher peripher eingestuft. Immerhin sprach er Walter Serners 1920 erschienenem 1 Vgl. dazu die gängigen Literaturgeschichten, die hinsichtlich der Zwischenkriegszeit eine unübersehbare Fokussierung auf die Weimarer Republik aufweisen und experimentellavantgardistische Bewegungen und Konzepte ausschließlich dort verorten. Erst in neueren Arbeiten werden die Abgrenzungen zwischen Moderne und Avantgarde durchlässiger gefasst, wobei bekanntlich der Epochenbegriff der Moderne nach wie vor kontroverser erscheint als jener der offenbar klarer eingrenzbaren der Avantgarde, sofern er sich auf die historischen Avantgarden der 1910er und 1920er Jahre einschließlich ihrer kunstpolitischen wie ästhetisch interdisziplinären Ansätze insbesondere der frühen 1920er Jahre bezieht. Vgl. dazu: Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne. 1890–1933. Lehrbuch Germanistik. 2. aktualisierte und verbesserte Aufl. Stuttgart-Weimar : Metzler 2010, S. 123f. u. S. 276. Zur Konkurrenzsituation insbes. im Kontext der Moderne-Konzeptionen zwischen Berlin und Wien vgl. Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache-Ästhetik-Dichtung im 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck 2004, S. 26.

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Primus-Heinz Kucher

Band aphoristischer Prosa Letzte Lockerung die potentielle Funktion einer »Initialzündung einer spezifischen österreichischen Avantgarde« zu, und zwar im Sinn einer antizipierenden Ouvertüre für die in den 1950er Jahren durchbrechende Neoavantgarde, bekannt auch als Wiener Gruppe2. Ist es also gerechtfertigt, vor dem Hintergrund eher verstreuter Hinweise auf einzelne Texte, Kunstwerke, Gruppenbildungen oder Theaterexperimente die Frage nach Avantgarde und Moderne im Hinblick auf die österreichische Kultur und Kunst der 1920er Jahre überhaupt zu stellen? Folgt man den Fragestellungen und Thesen eines neueren Bandes, dessen Beiträge die Rolle von Metropolen für die Ausbildung von Avantgarde-Zentren an Fallbeispielen vermessen, wird man schon aufgrund struktureller Veränderungen und Auswirkungen der Metropolen im Hinblick auf den urbanen Alltag sowie aufgrund der veränderten Rolle und Wahrnehmung von Technik, Bewegung, Konsum und Kultur davon ausgehen können, dies auch für Wien zu vermuten.3 In der Tat rubriziert Hubert van den Berg in jenem Band auch Wien unter die avantgardefähigen Metropolen, deren er insgesamt knapp fünfzig für die Zeit zwischen 1910 und 1930 ausmacht, angereichert durch einige in demographischer Hinsicht eher kleinstädtische oder periphere Avantgarde-Zentren wie Zürich, Zagreb oder Witebsk. Unter den eigentlichen Metropolen, d. h. den zehn größten Städten der Welt, hebt er für 1910–1925 vier wichtige AvantgardeZentren hervor (Paris, Berlin, Petersburg, Tokyo) und gruppiert diesen drei weitere, »in der die Avantgarde in geringerer Weise vertreten war«, zu: neben London und New York überraschenderweise auch Wien, womit dieses jedenfalls in einen prominenten Kontext situiert wird.4 Dass sich die angeführten Zentren in ihrer Ausrichtung und in ihren Stil-Aspekten mitunter stark unterschieden, liegt auf der Hand; was sie allerdings strukturell verbunden hat, war ihre transnationale, tendenziell mehrsprachige Identität, die kulturell-künstlerische Mobilität ihrer Protagonistinnen und Protagonisten sowie ihre Vernetzung in einen gesamteuropäischen Kontext. Für Wien sprach dabei nicht nur die erforderliche kritische Größe, sondern, entgegen gängiger Krisenbefunde, wonach die Stadt nach dem Ende der k.u.k. Monarchie aufgrund des Wegfalls ihres 2 Wendelin Schmidt-Dengler: VerLockerungen. Österreichische Avantgarde im 20. Jahrhundert. Studien zu Walter Serner, Theodor Kramer, H.C. Artmann, Peter Handke und Elfriede Jelinek. Wien: Präsens 1994. 3 Vgl. Thomas Hunkeler, Edith Anna Kunz (Hgg.): Metropolen der Avantgarde. M¦tropoles des avant-gardes. Bern-Berlin u. a.: P. Lang 2011, bes. S. 11–14 (Einführung). Zum urbanen, sich technisierenden Alltag vgl. auch Evelyne Polt-Heinzl: Österreichische Literatur zwischen den Kriegen. Plädoyer für eine Kanonrevision. Wien: Sonderzahl 2012, bes. Abschnitt III, der sich dem Großstadtleben und den Medienwelten widmet. 4 Hubert van den Berg: Provinzielle Zentren – metropolitane Peripherie. Zur Topographie der europäischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts und ihrer Vernetzung. In: Ebd. S. 175–186, hier bes. S. 178f.

Einleitende Bemerkungen

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kulturellen und ökonomischen Umfeldes an Attraktivität für KünstlerInnen nachhaltig eingebüßt hätte, – »Wien war nach 1918 nicht mehr die anziehungskräftige Metropole der weit sich ausdehnenden und kulturell reichen Donaumonarchie…«5 – eine fast ungebrochene, Projekte aufgreifende wie auch eigenständige Ideen lancierende kulturell-künstlerische Gemengelage, die auch im verkleinerten staatlichen Rahmen international ausgerichtet war. Auf konzeptueller Ebene hatte Wien immerhin schon »um 1910 spektakuläre und für die weiteren Entwicklungen der Avantgarden bedeutende Auftritte gehabt«6, so Maria Stolberg über die Voraussetzungen experimenteller Kunst, die um 1920 aktueller denn je waren. Sie erinnert dabei an Adolf Loos, Oskar Kokoschka und Arnold Schönberg und an Entwicklungen, die gerade an ihre Ideen anknüpften. In den Bereichen der Musik, der Malerei und des Theaters war die Wiener Szene ja auch erstaunlich gut vernetzt, wie dies an der rasanten Entwicklung konstruktivistischer Ansätze im Umfeld der 1919/20 aus Ungarn nach Wien emigrierten Künstler im Umfeld von Lajos Kass‚k, Bela Uitz und, für die Entwicklung einer modernen Filmtheorie maßgeblich, an Bela Bal‚zs und seiner in Wien seit 1922 entstandenen Schrift Der sichtbare Mensch (1924) und deren Wirkung auf bzw. produktive Anverwandlung durch zeitgenössische Autoren abgelesen werden kann.7 Ablesbar ist dies u. a. an der ersten Präsentation russischer Konstruktivisten wie Alexander M. Rodtschenko, Kasimir Malewitsch oder Wladimir J. Tatlin, die bereits am 13. 11. 1920 durch den TASS-Korrespondenten Konstantin Umanskij im Zuge eines Lichtbildervortrags stattfand, ferner an einer von Kass‚k und Tristan Tzara organisierten DADA-Matinee im Oktober 1921, an dem im MA-Heft vom 15. 3. 1922 erschienenen Manifest Kass‚ks Bildarchitektur oder an mehreren Ausstellungen und Initiativen durch den Kunsthistoriker Hans Tietze sowie an den Bemühungen der Franz Cizek (urspr. Cizˇek)-Schule, den Wiener Kinetismus an den internationalen Konstruktivismus heranzuführen. Nach der impulsgebenden Ausstellung im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie 1923 und den zeitgleich einsetzenden Arbeiten von Erika Giovanna Klien und Friedrich Kiesler sollte dies auch in erstaunlich kurzer Zeit gelingen8. In einzelnen visuellen sowie perfor5 Vgl. H. Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne; wie Anm. 1, S. 27. 6 Maria Stolberg: Das Wien der 20er Jahre. Neue Kunst zwischen Expression und Konstruktion. In: Günther Dankl, Raoul Schrott (Hgg.): DADAUTRICHE 1907–1970. Innsbruck: Haymon 1993, S. 171–185, hier S. 175. 7 Zu Bal‚zs vgl. Gustav Frank: Musil contra Bal‚zs. Ansichten einer visuellen Kultur um 1925. In: Musil-Forum 29 (2003–2004) S. 104–152; dazu auch: Norbert Wolf: »Neue Erlebnisse, aber keine neue Art des Erlebens«. Musils Ästhetik und die Kultur des Films. In: Wolf Gerhard Schmidt, Thorsten Valk (Hgg.): Literatur intermedial. Paradigmenwechsel zwischen 1918 und 1968. Berlin: De Gruyter 2009, S. 87–113. 8 Vgl. dazu Dieter Bogner : Wien 1920–1930. »Es war als würde Utopia Realität werden«. Zit. nach: http://www.bogner-cc.at/theorie/5585/Wien_1920_1930/, S. 6 (Zugriff vom 5. 7. 2015)

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mativen Künsten wie z. B. dem Tanz, vermochte Wien ebenfalls mit impulsgebend für avantgardistische Entwicklungen wirken.

Abb. 1: Lajos Kassak: Bildarchitektur IV (1922/24; Privatarchiv Kucher).

Unter prominenter Beteiligung und mit großer internationaler Resonanz präsentierte sich daraufhin die 1924 abgehaltene Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik im Rahmen des Musik- und Theaterfestes der Stadt Wien gleichsam in einer neuen Rolle: Nicht nur gelang es, die europäische Avantgarde nach Wien zu holen, sondern es waren da auch österreichische Beiträge zu sehen, die auf Teilhabe auf europäischer Ebene abzielten, – eine Ausstellung mit Wendepunktcharakter, auf die in der Folge noch Bezug genommen wird. Im Sammelband Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Über Avantgarden (2001) greift ein Beitrag gerade jene »Impulse« aus Wien im Zusammenhang mit Debatten und Entwicklungen aus bzw. im Umfeld der Theaterarbeit auf, – inzwischen jener Bereich, in dem durch Ausstellungen und begleitende Forschungen in den letzten Jahren wichtige, in Vergessenheit geratene Ansätze und Beiträge wiederentdeckt und entscheidende Fortschritte erzielt werden konnten.9 sowie M. Stolberg: Das Wien der 20er Jahre, S. 180; zu Kass‚k vgl. Êva Bajkay : Lajos Kass‚k und S‚ndor Barta. Zwei Vertreter von Dada Ungarn im österreichischen Exil. In: DADAUTRICHE 1907–1970, S. 189–199. S. 197. Zum Kinetismus ferner die Beiträge im Katalogband zur gleichnamigen Ausstellung Kinetismus. Wien entdeckt die Avantgarde. Hg. von Monika Platzer und Ursula Storch im Auftrag des Wien Museums. Ostfildern: Hatje Cantz 2006. 9 Vgl. Evelyn Deutsch-Schreiner : Impulse aus Wien für die Theater-Avantgarde. In: Heinz L. Arnold (Hg.): Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Über Avantgarden. = Sonderband Text+Kritik,

Einleitende Bemerkungen

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Früher als in der Literaturwissenschaft und in der von Peter Bürgers einflussreichen Theorie der Avantgarde (1974) mit geprägten Grundsatzdebatte über die Differenz zwischen Avantgarde und Moderne haben Forschungsarbeiten im Bereich der visuellen Künste einige vergessene und verdrängte Konstellationen ans Licht gebracht. Nicht nur punktuelle Ergänzungen in Bezug auf österreichische Beiträge zum Dadaismus oder Konstruktivismus vermochten diese Recherchen und Ausstellungen wieder zu heben und zu sichern, sondern darüber hinaus auch die Epochenwahrnehmung in ihren festen Parametern neu zur Diskussion zu stellen, wenngleich die ihnen zugrunde liegenden Werke und Programme wirkungsgeschichtlich meist von begrenzter Resonanz waren.10 Max Oppenheimer/MOPP, Erika Giovanna Klien oder Leopold W. Rochowanski, – wer kennt heute noch diese Namen und die mit ihnen verbundenen Konzepte und Wirkungsfelder, wenn selbst Friedrich/Frederic Kiesler, der innerhalb weniger Jahre europaweit im produktiven Austausch stehen sollte, etwa mit F. L¦ger oder der De Stijl-Gruppe (Theo van Doesburg, Piet Mondrian u. a.) und ab 1926 in den USA seine noch in Wien entwickelte konstruktivistische Raumbühne und deren lebenslange Ausgestaltung zum endless theatre-Projekt vorantrieb, fast nur Insidern ein Begriff ist und erst seit wenigen Jahren eine angemessene Rezeption und Würdigung erfährt?11 Dass die österreichische Kultur von experimentellen Ansätzen aus der Wiener Moderne gerade im Hinblick auf Projekte mit Avantgarde-Charakter mitgeprägt war, unterstreicht auch der von Andreas Puff-Trojan gezeichnete Beitrag für das Metzler Lexikon der Avantgarde (2009) mit gleich mehreren einschlägigen Konstellationen: mit jenem im Bereich der Zwölftonmusik (Josef M. Hauer, Arnold Schönberg) und ihrem »großen Einfluss auf die avantgardistischen Musikströmungen in den USA«, mit der »streng geometrischen Ausrichtung« der Bauten und der theoretischen Arbeiten des Architekten Adolf Loos, die ihn in unmittelbare und eigenständige Nähe zum Dessauer Bauhaus aber auch einen Mies von der Rohe gebracht haben sowie mit den Auswirkungen der Psycho-

red. von Hugo Dittberner u. a. München: edition text+kritik 2001, S. 120–137. Unter diesen Impulsen figurieren die expressionistischen, im Dadaismus aufgegriffenen Körperbilder Kokoschkas wie z. B. in Sphinx und Strohmann, Schönbergs Lichtregie-Experimente rund um sein Drama Die glückliche Hand (UA 1924), Kieslers Raumbühne-Konzepte, die Freie Tanz-Bewegung, insbesondere Bodenwiesers Dämon Maschine (1924) sowie die Arbeitersportfeste Ende der 1920er Jahre. 10 Vgl. z. B. Günther Dankl, Raoul Schrott (Hgg.): DADAUTRICHE 1907–1970 (wie Anm. 6) mit Beiträgen über Emil Szittya, Walter Serner, Karl Kraus, Oskar Kokoschka und deren Beziehungen zu DADA, zu Max Oppenheimer, Max Ernst, Raoul Hausmann, zum Wiener Kinetismus oder zu Beziehungen zwischen Psychoanalyse und Surrealismus. 11 Vgl. Barbara Les‚k, Thomas Trabitsch (Hgg.): Frederick Kiesler. Theatervisionär – Architekt – Künstler. Wien: Brandstätter 2012.

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analyse und der Sprachphilosophie bzw. Sprachkritik auf die zeitgenössische Literatur.12 Die vermutlich gerade die Wiener Situation besonders kennzeichnenden subterranen Beziehungen zwischen einer avanciert sich verstehenden Moderne, einem Interesse für international als avantgardistisch firmierende Ansätze bei gleichzeitiger programmatischer Zurückhaltung, d. h. auffallend geringer Manifest-Produktion, ist schon zeitgenössischen Beobachtern aufgefallen. Sie hat aber keineswegs dazu geführt, diese als unzureichend zu disqualifizieren. Im Gegenteil und wie bereits angesprochen war Wien – in diesem Sinn bildete es eine Art exterritoriale Enklave im zeitgenössischen Österreich – Kreuzungspunkt verschiedener Avantgarden und bereits vor der epochalen Internationalen Theaterausstellung von 1924, die von ihrem Organisator David J. Bach, analog zu seinen Ansichten über die Sozialistische Kunststelle, auch unter dem Blickwinkel der »Wiedergewinnung der Kunst als Funktion des gesellschaftlichen Organismus« gesehen wurde, Treffpunkt herausragender Künstlerpersönlichkeiten, z. B. zwischen Theo van Doesburg und Friedrich Kiesler, Johannes Itten und Franz Cizek oder El Lissitzky und Otto Neurath.13 Avantgarde-Moderne-Debatten sind unter diesem Selbstverständnis und in Verbindung mit dem Manifestantismus der internationalen historischen Avantgarde vor 1914 in Österreich in sichtbarer und programmatischer Form daher kaum und in den frühen 1920er Jahren eher in Feldern anzutreffen, die weitgehend durch etablierte Kunstpraxen wie Musik oder Tanz besetzt waren. Einer solchen, d. h. prononciert manifesten Avantgarde-Vorstellung, wird in neueren Diskussionen inzwischen nicht mehr unwidersprochen das Wort geredet, markiere sie nämlich nicht nur jene schillernde »traditionskritische […] normbrechende Programmierung von Kunst und Literatur«, sondern zugleich einen fraglichen zeitlichen Sukzessionsmechanismus, in dem sich Avantgarden gleichsam permanent selbst überholen, somit Differenzierungen erschweren und Kontinuitäten durch Abfolgen von Diskontinuitäten suggerieren.14 Das Modell einer »dialektisch prozessierenden Fortschritts-Geschichte«, die am Kampfplatz Raum auch Zeitgrenzen zwischen einer traditionsverpflichteten (passatistischen) Gegenwart und radikal sich positionierenden Zukunft mit jeweils kongenialen sozialen und politischen Utopien zu überschreiten sich zum Ziel setzt, figuriert dabei mit ihren Ansprüchen auf Aufhebung von Differenzen zwischen Kunst und Leben, Kommunikation und Politik als Profilierungsparadigma gegen die Autonomiekonzepte der Moderne. Gleichzeitig geht es ihr um 12 Vgl. Hubert van den Berg und Walter Fähnders (Hgg.): Metzler Lexikon der Avantgarde. Stuttgart-Weimar : Metzler 2009, S. 242–247, bes. S. 243. 13 Zit.nach M. Stolberg, wie Anm. 6. 14 Vgl. Gerhard Plumpe: Avantgarde. Notizen zum historischen Ort ihrer Programme. In: H.L. Arnold (Hg.): Aufbruch ins 20. Jahrhundert; wie Anm. 3, S. 7–14, hier S. 7.

Einleitende Bemerkungen

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eine Versicherung einzelner ihrer progressiven Potentiale wie z. B. der Arbeit am Unbewussten15. Ergänzend zur ebenfalls angeführten wegweisenden »kollektive[n] Einübung der Attitüden der Zukunft« im Kontext von Benjamins Autor als Produzent-Reflexionen bzw. der Lehrstückutopie Brechts können hier bereits frühe (performativ ausgerichtete) Modifikationen im Verständnis von Autorschaft wie z. B. im Umfeld der Tanzpantomimen Hofmannsthals ausgemacht werden.16 Dagegen hat eine performative Kunstpraxis mit vielfältigen Infragestellungen wie Modifikationen des Autonomiestatus des Kunstwerks und seiner Verknüpfung mit gesellschaftsverändernden Visionen bzw. Ansprüchen sowie einer Ausdifferenzierung ihrer medialen und technischen Kommunikationsapparate sehr wohl eine Revolutionierung der Formensprache in verschiedenen KunstBereichen (Musik, Malerei, Architektur, Film, Konstruktivismus) auch in Österreich hervorgebracht, künstlerische Experimente begleitet und auf internationale Entwicklungen reagiert bzw. an ihnen aktiver partizipiert, als dies die Kulturgeschichtsschreibung nahelegt. Zwar dominierten, wie Günther Bogner deutlich gemacht hat, im Wien der Zwischenkriegszeit »die traditionellen Kunstformen«, die »vielfach einer ganz bestimmten Ausdrucksform, dem expressiven, subjektiv bestimmten Gestalten« zugeschrieben wurden.17 Und doch entwickelten sich gegen sie bzw. ohne auf sie Bezug zu nehmen, dagegen aber in internationalen Austausch eintretend, bedeutende, dem Konstruktivismus verpflichtete und somit der zeitgenössischen europäischen Avantgarde nahestehende theoretische wie kunstpraktische Ansätze und Werk-Realisierungen, wie Bogner an anderer Stelle festhält: Die kulturelle Szene Wiens prägten damals radikale Erneuerer. Zu ihnen gehörten Arnold Schönberg und Josef Matthias Hauer, Adolf Loos und Friedrich Kiesler, Oswald Haerdtl und E.A. Plischke, Lajos Kass‚k und Bela Uitz, Franz Cizek und L.W. Rochowanski, Otto Neurath und Rudolf Carnap, Sigmund Freud und Christian von Ehrenfels, Hans Tietze und Hans Sedlmayr. Zwölftonmethode, Gestalttheorie, strukturorientierte Kunstgeschichte, positivistische Philosophie, Konstruktivismus und Kinetismus leisteten wegweisende Beiträge Österreichs zur Kultur und Wissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. Gemeinsam ist diesen Neuerern ein analytisches, strukturorientiertes bzw. konstruktivistisches Denken und Gestalten. Dieses schloß an theoretische und künstlerische Ansätze und Leistungen der ersten Wiener Moderne der Jahrhundertwende an. In diesem kreativen Milieu fand ein intensiver Austausch mit den Entwicklungen in der europäischen Avantgarde statt.18 15 Ebd. S. 8f. 16 Vgl. dazu Gabriele Brandstetter : Poetics of Dance. Oxford: Oxford University Press 2015, S. 73ff. 17 Vgl. Dieter Bogner : Wien 1920–1930. »Es war als würde Utopia Realität werden«; abrufbar unter : http://www.bogner-cc.at/theorie/5585/Wien_1920_1930/ (Zugriff vom 22. 6. 2015). 18 http://bogner-cc.at/suche/?q=museion (Zugriff vom 20. 7. 2015).

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Die vorliegende Publikation entstand im Rahmen der Tagung Vergessene Avantgarde-verdrängte Moderne zu einem im Jahr 2012 abgeschlossenen sowie im Vorfeld eines neuen, inzwischen angelaufenen FWF-Forschungsprojekts zu transdisziplinären Konstellationen in der Literatur, Kunst und Kultur der österreichischen Zwischenkriegszeit.19 Bedauerlicherweise haben nicht alle Tagungsteilnehmer ihre Beiträge zur Verfügung stellen wollen bzw. können; einige Beiträge sind eigens für diesen Band und seine drei Themenfelder eingeworben worden. Konnten auch nicht alle »radikalen Erneuerer« gebührend erfasst, gewürdigt bzw. verortet werden – so ist es z. B. leider nicht gelungen, die interessanten Entwicklungen im Film- und Tanzbereich ausführlicher und am neuesten Diskussionsstand ausgerichtet darzulegen – so will dieser Band die noch immer weit verbreiteten Fokussierungen auf Einzelphänomene des Moderne-Avantgarde-Diskurses durch eine tendenziell Grenzen überschreitende, interdisziplinäre Auseinandersetzung überwinden und zu einer Neubewertung des vergessenen wie verdrängten, jedenfalls hochproduktiven literarisch-kulturellkünstlerischen Feldes der 1920er und 1930er Jahre in Österreich einen Beitrag leisten. Den Auftakt bildet ein Versuch einer Vermessung des Wiener Avantgardefeldes durch den Sozialwissenschaftler und Kass‚k-Spezialisten Zoltan Peter. Ausgehend von den Bewegungsräumen aber auch den nach 1918 global veränderten ideologisch-politischen Angeboten sowie einen um Robert Müller identifizierbaren aktivistischen Interessenspol arbeitet sein Beitrag drei Aspekte heraus, die zugleich grundlegende wie voneinander differente Positionierungen anzeigen und thematisieren: zum einen den Transfer des Ma-Kreises (neben Kass‚k insbesondere noch Sandor Barta und Bela Uitz) aus Budapest nach Wien und die von ihm ausstrahlenden konstruktivistischen Impulse wie z. B. das Bildarchitektur-Konzept, das z. B. bei Hans Suschny in einer bemerkenswerten Bühnenkomposition Niederschlag fand, aber auch gesellschaftspolitisch polarisierende Ideen, die zu einer baldigen Aufspaltung der Gruppe in eine Proletkult-orientierte sowie in eine an De Stijl ausgerichtete führen sollte. Zum anderen widmet sich Peter dem Architekten Josef Frank und seiner ambivalenten Beziehung zum Funktionalismus, zu dem er dennoch über die 1932 realisierte Werkbundsiedlung einen international beachteten Beitrag lieferte, nicht ohne zuvor auch im Rahmen des Wohnbauprogramms des Roten Wien tätig gewesen zu sein, d. h. also zwischen den metaphysischen und sozial-utopischen Konstruktivisten einen konventioneller wirkenden pragmatischen bzw. dritten Weg aufgezeigt zu haben. Barbara Les‚k wiederum zeichnet in ihrem Beitrag die maßgeblichen und (im Ansatz) radikal neuen Theaterkonzepte, die zu Beginn der 1920er Jahre in Wien 19 Es handelt sich hierbei um die FWF-Projekte P 20402 (2008–2012) bzw. P 27549.

Einleitende Bemerkungen

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sich konsequent gegen die etablierte Bühnenpraxis stellten, nach: Friedrich Kieslers Railway-Theater, Rudolf Steiners sprach-, gestisch- und mimisch-orientierte Mysterienspiele, seine bahnbrechende Lichtregie und Jakob Levy Morenos raumbühnenartiges Stegreiftheater, aus dem er später, im Exil, seine Konzeption des Psychodramas entwickelt hat. Neben den Genannten widmet sich L¦sak auch Überlegungen von Adolf Loos, die sich partiell dem Dadaismus und dem Surrealismus verdankten und Lajos Kass‚ks strikt am Mechanischen ausgerichtetes Revue-Konzept sowie der Würfelbühne des Tiroler Architekten Hans Fritz und den in ihrer puristischen Radikalität wegweisenden Skizzen für ein Kinetisches Marionettentheater von Erika Giovanna Klien. Die drei nachfolgenden, den ersten Block ausdifferenzierenden Beiträge explizieren fallstudienartige Konstellationen, die vorwiegend innovative und zeitbezogene Aspekte der Theaterpraxis in den Blick nehmen: Anke Bosse ˇ apek und Friedrich Kiesler zeichnet anhand der Kooperation zwischen Karel C im Zuge der Berliner Aufführung des Roboterstücks R.U.R. (1923) grundlegende Abstraktions- und Technifizierungstendenzen in der Bühnenästhetik und Bühnenpraxis seit 1900 und deren internationalen Kontexte nach, während Jürgen Doll die Stationen der sozialdemokratischen Theaterpraxis zwischen Sprech-Chorwerken und politischem Kabarett mit ihren Protagonisten Ernst Fischer, Fritz Rosenfeld, Josef Luitpold Stern sowie dem stärker an Erwin Piscator orientieren Robert Ehrenzweig darlegt und dabei die strukturellen Differenzen zwischen Festkultur und revueartigem Agitationstheater herausarbeitet. Letztere zeigten Affinitäten zur Proletkult-Bewegung und damit einer spezifischen Form der Verbindung von Avantgarde und Lebenspraxis, schöpften in den 1930er Jahren aber auch aus dem kritisch-satirischen Potential der Wiener Zauberpossen-Tradition aus dem Vormärz. Arturo Larcati beschließt den ersten Themenblock mit einer minutiösen Rekonstruktion der erstaunlich vielfältigen Beziehungen zwischen dem italienischen Futurismus und vergleichbaren Wiener Kunsttendenzen sowie dessen Rezeption in Wien/Österreich. Das Interesse am Futurismus hat bereits vor 1914 eingesetzt, erreichte 1924 anlässlich der Internationalen Theaterausstellung ihren Höhepunkt und konnte 1935 in Gestalt einer Ausstellung zur italienischen Luft- und Flugmalerei von Arturo Ciacelli nochmals einen Nachklang erleben. Dabei werden anhand von unveröffentlichten Brief- und Nachlassmaterialien u. a. die wenig bekannten Kontakte zwischen Enrico Prampolini, Hans Tietze und Friedrich Kiesler sowie Fortunato Depero, die nach 1924 auch in Paris und New York aufrecht blieben, nachgezeichnet und in ihrer rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung verortet. Der zweite Themenblock setzt sich mit Entwicklungen in den Bereichen der Architektur- und Musikästhetik auseinander sowie mit ausgewählten, für Moderne-Debatten maßgeblichen Zeitschriften durchaus unterschiedlichen Zuschnitts. Mit dem vielfach im Schatten von Adolf Loos wie Josef Frank stehenden

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Primus-Heinz Kucher

Architekten Oskar Strnad, einem wegweisenden Anreger für Margarete SchütteLihotsky bis herauf zu Friedrich Achleitner, setzt sich Evelyne Polt-Heinzl auseinander, um an seinen Entwürfen und Bauten die Weiterentwicklung von Leitkonzepten der Moderne und ihre Verankerung in einem konkreten sozialen Raum, sichtbar etwa an der Werkbundsiedlung, darzulegen. Strnad war darüber hinaus aufgrund seiner zahlreichen Bühnenbild-Arbeiten für das Theater eine bedeutende Referenzgestalt, u. a. für Max Reinhardt, Alfred Bernau aber auch für Ernst Krenek und Arthur Schnitzler, und antizipierte mit seiner ins Grundsätzliche zielenden Rundbühne Ideen, die Kiesler kurz danach umsetzte. Ausgehend von divergierenden Positionen zur sogenannten Schlagwortkultur im Umfeld von Revolte, Chaos und Form, Fortschritt und Reaktion und ihren z. T. hochprominenten Protagonisten – von Adorno über Brecht hin zu Breton, Fischer, Krenek oder Weill – unternimmt Rebecca Unterberger den Versuch, grundlegende Aspekte der Avantgarde-Debatte anhand der musikalischen Produktion Kreneks, aber auch feuilletonistischer Texte und Kontroversen in den Blick zu nehmen und dabei vor allem die bislang systematisch kaum aufgearbeiteten Potentiale des Surrealismus und damit auch Querverbindungen zwischen deutscher, österreichischer und französischer Diskurse in den Blick zu nehmen. Dabei entpuppt sich Krenek als alerter wie frankophiler Groß-Player in nahezu allen Debatten, versteht sich in Überblendungen von surreal(ist)en und magisch-realen Konzepten und somit als ungewöhnlicher Brückenbauer zwischen Kokoschka, Cocteau, Gide, Milhaud und sich selbst in bewusster Abgrenzung zur Mahagonny-Welt Brechts, nicht ohne am Ende in ein doch fragwürdiges Konstrukt einer (austro)katholischen Avantgarde einzumünden. Zwei Zeitschriftenanalysen von Julia Bertschik und Primus-Heinz Kucher runden diesen Themenblock fallbeispielartig ab: zum einen das Beispiel des in Berlin erschienenen, von österreichischen AutorInnen mitbelieferten und zeitweise mitredigierten Zeitgeistmagazins Der Querschnitt, zum anderen die in Wien erschienene führende Spartenzeitschrift Musikblätter des Anbruch. An der Zeitschrift Querschnitt führt Julia Bertschik vor, wie künstlerische Avantgarde, Neue Sachlichkeit aber auch habsburgmythische Reminiszenzen in »bewusst widersprüchlicher Montage einer janusköpfigen Moderne« nebeneinander zu stehen kommen bzw. aufeinanderstoßen. Das kaleidoskopische Prinzip erinnert dabei an zwischenkriegszeitliche Formen der Revue und der Collage mit entsprechender Aufmerksamkeit für Aspekte des Visuellen wie z. B. dem Film(Betrieb), der Kleidung und damit verknüpft der zeitgenössischen Girl-Kultur. Kaleidoskopisch verfuhren auch die Musikblätter des Anbruch, allerdings, um die Heterogenität der musikalischen Diskurse und Konzepte im Schnittbereich von Moderne und Avantgarde überhaupt in den Blick zu bekommen und daher auch betont international ausgerichtet, sei es über länderspezifische Schwerpunktnummern (Frankreich, Italien, Großbritannien, Russland, Ungarn oder

Einleitende Bemerkungen

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Tschechoslowakei), sei es über themenzentrierte Hefte wie z. B. solche zum Jazz, zum Tanz oder zu Musik und Maschine. Tendenziell leistete die Zeitschrift damit einen wesentlichen Beitrag zur internationalen Stabilisierung des von der Wiener Schule rund um Arnold Schönberg, Alban Berg, Ernst Krenek und Anton Webern ausgearbeiteten, begrifflich von Paul Bekker schon 1919 lancierten Neue Musik-Verständnisses unter Verwendung tonaler wie atonaler Techniken und bewies eine couragierte Offenheit avantgardistischen Ansätzen (ohne diese als solche zu benennen) gegenüber. Der dritte Themenblock ist schließlich der Literatur im engeren Sinn gewidmet, wobei literarästhetisch gängige Zuschreibungen und Marginalisierungen unter neuen Perspektiven gesehen bzw. aufgebrochen werden. Walter Fähnders eröffnet ihn mit einem Blick auf Autoren wie Emil Szittya, Hugo Sonnenschein (Sonka), Rudolf Geist und Jakob Haringer, die u. a. der Status des (bewussten) Außenseitertums miteinander verband, was Fähnders zum Anlass nimmt, die bereits im Zürcher Cabaret Voltaire 1916 vorgetragene programmatische Begrüßung Hülsenbecks mit dem Komplex Vagabondage als potentielle avantgardistische Lebenspraxis zu verknüpfen. Dabei präsentiert er eine Reihe von theoretischen wie poetologischen Zeugnissen, die zeigen, wie stark die Idee einer neuen Kultur und Gesellschaft – der Vagabund als Partisan der Freiheit (Sonnenschein) – verwurzelt war und damit Grundanliegen einer politisch sich exponierenden Avantgarde reflektierte, die der in Budapest geborene Szittya auch in (kurzlebige) Zeitschriftenprojekte transferierte. Vivien Boxberger legt in ihrer Fallstudie zu Mela Hartwigs Aufsehen erregenden Erzählung Das Verbrechen die Ambivalenz, aber auch das implizit revolutionäre Potential des Freudschen psychoanalytischen Diskurses als gleichermaßen machtbetont-hysterisierenden wie zu radikalen Ausstiegen drängenden, hier zur Absage an das genealogische, töchterliche Muster, frei, um dabei die (tödliche) Ungleichgewichtigkeit innerhalb der patriarchalisch geordneten Geschlechter- und Familienkonstellation sichtbar zu machen und – literarhistorisch gesehen – diese einem frühen Dekonstruktionsprozess zu unterwerfen. Jürgen Egyptien, ausgewiesener Ernst Fischer-Kenner, zeichnet in seinem Beitrag unter Heranziehung von teils unveröffentlichten Bühnenmanuskripten und Einarbeitung der zeitgenössischen Kritik sowie poetologischer Reflexionen des Autors und Kritikers Fischer selbst die weitgehend verdrängte und heute kaum mehr präsente, im Rückblick jedoch nahezu fulminante Bühnenpräsenz des jungen Fischer zwischen 1924 und 1928 nach, die im seinerzeit vielbeachteten Lenin-Stück kulminierte, das Egyptien als Synthese aus revolutionärer Vernunft und rebellischem Pathos sowie »die rasende Sachlichkeit unserer Zeit« einfangend begreift. Beschlossen wird das literarische Themenfeld durch eines der ungewöhnlichsten Romanprojekte der österreichischen Zwischenkriegszeit, durch Rudolf

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Primus-Heinz Kucher

Brunngrabers Karl und das 20. Jahrhundert, das aufgrund seines Veröffentlichungszeitpunktes (1933) zwar kurzfristig noch ein gewaltiges Echo, mittel- und langfristig jedoch marginalisiert worden ist. Aneta Jachimowicz rekonstruiert in ihrem Beitrag die fruchtbare Beziehung zwischen dem austromarxistischen Theoretiker und Mitbegründer der Sozialstatistik Otto Neurath und dem Schriftsteller Brunngraber. Diese ist in der Folge wesentlich in die statistischästhetische Signatur des Romans eingegangen und zwar im Sinn einer radikalen, antimetaphysischen, wissenschaftlich-technizistischen Weltauffassung als einem in vielfacher Hinsicht innovativen Instrumentarium zur literarischen Gestaltung von Krisenerfahrungen, traditioneller wie jene der Desillusionierung des bürgerlichen Subjekts, aber auch epochal neuer wie jener der totalen Auslieferung an einen anonymen, undurchsichtigen Zirkel von Kapital und Macht sowie an einen progressiven Identitätsverlust einer solcherart agierenden Wirklichkeit gegenüber. Am Ende möchte ich nochmals meinen Dank den Beiträgerinnen und Beiträgern abstatten, den externen kritischen Leserinnen und Lesern, die wertvolle Anregungen gelieferte haben, den Institutionen, die die Drucklegung unterstützen, allen Einrichtungen, die als Inhaber von Rechten den Abdruck der Abbildungen gewährt und ermöglicht haben, allen voran dem Wien Museum, dem Österreichischen Theatermuseum, der Universal Edition und der Universität für angewandte Kunst Wien sowie meiner Familie, die in der Endphase der Banderstellung auf wertvolle gemeinsame Freizeit verzichten musste. Klagenfurt, Juli 2015

I.

Zoltan Peter

Zur Frage des »dritten Weges« in der Wiener Avantgarde der 1920er Jahre

Im vorliegenden Beitrag werden einige Thesen ausgelotet, die im Hinblick auf einzelne Aspekte der historischen Avantgardeforschung im österreichischen, d. h. eigentlich im Wiener Kontext von Relevanz sein könnten. Im Grunde und über weite Strecken ist er als eine Art Generator möglicher, weiterführender Forschungsideen zu verstehen, noch geringfügig Erschlossenes vertiefend zu erforschen. Der erste Teil skizziert zwei Teilbereiche der Avantgardekunst der 1920er-Jahre, die meiner Wahrnehmung nach bis jetzt verhältnismäßig selten und eher oberflächlich thematisiert worden sind. Im zweiten Teil der Arbeit wird die Grundstruktur des Wiener Avantgardefeldes rekapituliert. Dabei werden drei wichtige und z. T. bereits eingehend beforschte Künstler der Wiener Avantgarde im Hinblick auf ihre ihnen im Feld der Avantgarde zukommenden Positionen kursorisch verortet. In diesem Zusammenhang wird ein bis dato nur in ungarischer Sprache vorliegendes Theaterstück von Hans Suschny, einem kaum bekannten, fast spurlos verschwundenen Wiener Schriftsteller und Künstler, präsentiert und rekontextualisiert. Der dritte Teil befasst sich mit Aktivitäten des Architekten Josef Frank sowie mit seiner gegen die etablierten Richtungen der Avantgarde zielenden Kritik. Im abschließenden Teil werden Thesen, den Sonderweg der Wiener Avantgarde und deren Bedingungen betreffend, resümierend formuliert, die jenen eingangs erwähnten Ausgangspunkt für weitere Forschungsarbeiten darstellen (könnten).

1.

Die Stellung der Kunst der 1920er Jahre im Feld der Macht

Auf einer globalen Ebene hat nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur Österreich, wie dies in zahlreichen Studien thematisiert wurde und ich selbst ebenfalls herauszustreichen unternommen habe, Wesentliches im Hinblick auf den Wirkungsgrad seines kulturellen Diskurses (oder : seiner Leitkulturfunktion) verloren, sondern tendenziell ganz Europa, das sich vor neue Herausforderungen

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Zoltan Peter

und Re-Positionierungen gestellt sah1. Auch für den 1896 geborenen Germanisten und an neusachlichen Entwicklungen interessierten Bruno Erich Werner stellte sich das Feld der transnationalen Machtgefüge in ähnlicher Weise dar : Das alte europäische ›Konzert der Mächte‹ wurde von neuen Tönen mächtiger Instrumente unterbrochen, und die Ahnungen, die Historiker und Philosophen des 19. Jahrhunderts geäußert hatten, bestätigten sich jäh. Am Ende des Ersten Weltkrieges wurde es deutlich, daß die Amerikaner die erste Weltmacht geworden waren. Wenn Max Weber noch kurz nach Kriegsende in einem Brief gemeint hatte, daß die amerikanische Weltherrschaft unabwendbar sei, so hatte er hinzugefügt: ›Hoffentlich bleibt es dabei, daß sie nicht mit Russland geteilt wird.‹ Aber wenige Jahre später rückte die Sowjetunion deutlich als die kommende zweite Weltmacht ins allgemeine Bewusstsein. […] Beide Programme, das amerikanische wie das russische, waren erdumspannend. Die Rolle, die Europa bisher gespielt hatte, musste unter diesem gewaltigen Druck beträchtlich schrumpfen. […] ›Die Zwanziger Jahre‹, das ist die Zeit zwischen zwei Dämmerungen. Sie begann nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und endete in Deutschland am 30. Januar 1933. Ihre Morgendämmerung kam wie ein Frühlingsgewitter, geladen von Hoffnungen, Erwartungen und erzeugte einen Wirbel von angestauten Kräften. Als sie 1926 ihren Höhepunkt erreicht hatten, kündigte sich bereits das Ende an, und als das Ende kam, verstummten die lebendigsten Kräfte und traten in den Hintergrund.2

Mit den Zwängen bzw. Bewegungsräumen der beschriebenen politischen Machtsphären hatten sich Künstler auseinanderzusetzen, selbst wenn sie sich um Distanz bemühten. Es stellt sich zugleich die Frage, ob und inwiefern gerade die Verweigerung maßgeblicher Künstler der Politik gegenüber oder der Versuch, sich polarisierenden Orientierung zu entziehen nicht auch zu der in den 1930er-Jahren eintretenden »Verstummung« der Kunst ungewollt beigetragen hat. Ist also jenen Künstlern, die sich ab 1920 von der Politik abgewendet haben, 1 Zoltan Peter : Lajos Kass‚k, Wien und der Konstruktivismus. Wien: Peter Lang 2010. In Bezug auf die Moderne und ihre Ausdifferenzierungen vgl. Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache. Ästhetik. Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München: C.H. Beck 2004; zur spezifisch deutschen Situation z. B. Peter Gay : Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit (Originaltitel: Weimar Culture: The Outsider as Insider, 1968). Aus dem Amerikanischen von Helmut Lindemann. Frankfurt/M.: Fischer, Neuausgabe 2004. Zur spezifisch österreichischen Situation vgl. Karl Müller und Hans Wagener (Hgg.): Österreich 1918 und die Folgen. Geschichte, Literatur, Theater und Film. Wien-Köln-Weimar 2009 sowie Primus-Heinz Kucher/Julia Bertschik (Hgg.): »baustelle kultur«. Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918–1933/38. Bielefeld: Aisthesis 2011. 2 Bruno E. Werner : Die Zwanziger Jahre. München: Bruckmann 1962, S. 8. Einschränkend ist hinzuzufügen, dass Werner trotz seiner Bauhaus-Affinität und seines Eintretens für entartetet deklarierte Expressionisten wie z. B. Kokoschka in den ersten Jahren der NS-Kunst- und Kulturpolitik eine hochambivalente Position einnahm und seine spätere Selbstzurechnung zur Inneren Emigration trotz zeitweiligen Berufsverbots doch umstritten ist. Vgl. dazu Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt/M.: Fischer 2007, S. 658.

Zur Frage des »dritten Weges« in der Wiener Avantgarde der 1920er Jahre

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eine gewisse Mitverantwortung an der zunehmenden Machtlosigkeit bzw. Ohnmacht der Kunst anzulasten, speziell an der Machtlosigkeit der Kunst, wie diese etwa ab 1930 manifest wurde? »Heute weiß ich«, schreiben George Grosz und Wieland Herzfelde 1925, »daß unser einziger Fehler war, uns mit der sogenannten Kunst überhaupt ernsthaft beschäftigt zu haben.« Die Dadaisten schwebten zwischen den Klassen und waren nicht bereit »Mitverantwortlichkeit dem Leben der Allgemeinheit gegenüber« zu übernehmen. Anstatt sich den neuen Problemen zu stellen, so die Autoren weiter, wanderten sie nach Frankreich oder anderswohin aus: Wir anderen aber sahen die neue große Aufgabe: Tendenzkunst im Dienste der revolutionären Sache. Die Forderung einer Tendenz erregt in der Kunstwelt heute noch, ja vielleicht mehr als früher, entrüsteten und geringschätzigen Widerspruch. […] Wo heute Kunstfreunde ein Werk mit dem Hinweis auf seine Tendenz prinzipiell oder als Sensationsmache abzutun versuchen, stehen sie nicht der Arbeit des Künstlers kritisch, sondern der Idee, für die er eintritt, feindlich gegenüber.3

Ob und inwiefern Grosz und Herzfelde hiermit eine Schwachstelle der europäischen Kunstszene der Zwischenkriegszeit benannt haben, würde eine eingehendere Analyse erfordern. Das Zitat vermag zumindest aufzuzeigen, dass die avantgardistische Literatur, die bildende Kunst und Architektur der 1920er Jahre von den weltumspannenden Ideologien, d. h. der Kommunismus- versus Kapitalismus-Debatte, und den in Russland und in Amerika zu Erfolg gekommenen künstlerischen Praktiken – Stichwort: Tendenzkunst – gewiss nicht unberührt blieb. Gerade die europäische avantgardistische Kunst stand unübersehbar im Spannungsfeld des russischen Konstruktivismus, den sie interessiert rezipierte; sie rezipierte aber auch den amerikanischen Film, den Jazz, die Architektur und vieles andere mehr. Die amerikanische Herausforderung umfasste vor allem zwei eng miteinander verbundene Aspekte. Zum einen die allgegenwärtige Rationalisierung, die in Wirtschaft, Technik, Kultur und auch in den sozialen Beziehungen zur Geltung kam, zum anderen die Verbreitung der modernen Massenkultur, die als Prozess der Normierung und Trivialisierung verstanden wurde.4

3 George Grosz/Wieland Herzfelde: Die Kunst ist in Gefahr. Ein Orientierungsversuch 1925. In: Uwe M. Schneede (Hg.): Die zwanziger Jahre, Manifeste und Dokumente deutscher Künstler. Köln: Du Mont 1979, S. 133 und 136. 4 Vgl. Thomas Raithel: »Amerika« als Herausforderung in Deutschland und Frankreich in den 1920er Jahren. In: Themenportal Europäische Geschichte (2007), einsehbar unter : http:// www.europa.clio-online.de/2007/Article=193 (Zugriff 09. 04. 2014). Dazu auch Egbert Klautke: Unbegrenzte Möglichkeiten. ›Amerikanisierung‹ in Deutschland und Frankreich (1900–1933). Wiesbaden: F. Steiner 1996 sowie Philipp Gassert: Was meint Amerikanisierung? Über den Begriff des Jahrhunderts. In: Merkur 54, H.9/10 (2000), S. 785–796.

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Zoltan Peter

Natürlich waren diese politischen wie künstlerischen Kräfte auch in Wien spürbar, und dementsprechend fanden sich sowohl Befürworter als auch Gegner beider Herausforderungen, die bereits 1920 Robert Müller in seinem über Österreich hinaus diskutierten Essay Bolschewik und Gentleman in einer bündigen wie treffenden Titel-Formulierung zusammengefasst hat. Auch hier böte sich eine ausführlichere Untersuchung an, um die aufgeworfenen Thesen am Beispiel einiger wichtiger Zeitgenossen eingehender zu prüfen; es darf hier nur in Erinnerung gerufen werden, dass Lajos Kass‚k sein im Juli 1919 (gleich nachdem B¦la Kun seine Zeitschrift Ma verboten hatte) »im Namen der ungarischen Aktivisten« verfasstes, aber erst in Wien publiziertes Manifest An die Künstler aller Länder in eine die konkreten Revolutionserfahrungen (in der Sowjetunion, in Ungarn) kritisch brechende, individualistisch anmutende Brüderlichkeits- und Revolutionssemantik kleidete5.

2.

Zur Grundstruktur des Wiener Avantgardefeldes

Die Wiener Avantgarde wies zwischen 1910 und 1918 einen ähnlich strukturierten Pol der Tendenzkunst oder des Aktivismus auf wie zum Beispiel die Berliner oder die Budapester. Im Unterschied zu Berlin verschwand jedoch der aktivistische Pol in Wien um 1920 so gut wie vollständig. Sämtliche Repräsentanten des Aktivismus (wie z. B. Egon Erwin Kisch, Franz Blei, Robert Müller, Albert Ehrenstein oder Pierre Ramus) wanderten von Wien weg oder wurden politisch weitgehend inaktiv.6 Ende 1920 kam es durch die Übersiedlung des Ma-Kreises aus Budapest nach Wien zu einer Wiederbelebung des Aktivismus. Doch lediglich der um 1922 abgespaltene Teil des Kreises (S‚ndor Barta, B¦la Uitz etc.) orientierte sich am transnationalen Pol der politisch engagierten Avantgarde und vernetzte sich von Moskau bis Berlin mit zahlreichen engagierten Künstlern der linken Szene, im Besonderen mit den Anhängern der Proletkult-Bewegung wie z. B. mit dem Kreis um die Zeitschrift Die Aktion oder mit G. Grosz7. Dagegen richteten sich Lajos Kass‚k, Friedrich Kiesler und die Repräsentanten 5 Vgl. Lajos Kass‚k: Lasst uns leben in unserer Zeit. Gedichte, Bilder und Schriften zur Kunst. Auswahl und Nachwort von Jûzsef Vadas. Budapest: Corvina 1989, S. 59–61; Erstabdruck in Ma 1–2, 5. Jg. (1920) S. 2–4. 6 Vgl. Ernst Fischer : Expressionismus – Aktivismus – Revolution. In: Klaus Amann, Armin A. Wallas: Expressionismus in Österreich. Die Literatur und die Künste. = Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur Bd. 30, Wien-Köln-Weimar : Böhlau 1994, S. 19–48, bes. S. 38. 7 Dazu überblickend: Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1900–1955. München: Beck 2005, bes. Kap. IV (Soziologie von Künstlergruppen) und XIV (Positionierung zur Politik).

Zur Frage des »dritten Weges« in der Wiener Avantgarde der 1920er Jahre

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des Wiener Kinetismus an dem von den holländischen Konstruktivisten (De StijlGruppe) wesentlich mitbestimmten anderen, d. h. dem entpolitisierten Pol der Avantgarde aus oder standen ihm in unterschiedlicher Weise nahe. Es war dies jenes Spektrum, dem u. a. Theo van Doesburg, El Lissitzky, Kurt Schwitters oder Raoul Hausmann zuzurechnen wären. Im Wiener Kontext lassen sich darüber hinaus Karl Kraus, Josef Frank und B¦la Bal‚zs als renommierte Gegner des Aktivismus, Expressionismus, Dadaismus und Konstruktivismus, die weder mit der einen noch mit der anderen Richtung der Avantgarde etwas anzufangen wussten, gerade aufgrund ihrer Polemiken gegen sie zu einer eigenen Gruppe zusammenfassen, die letztlich einen »dritten Weg« angezeigt und beschritten hat8. Der weitgehend unbekannte Künstler und Dichter Hans Suschny war dagegen der einzige Vertreter des konstruktivistisch orientierten Ma-Kreises, der gebürtiger Wiener war und zu den engsten Anhängern Lajos Kass‚ks gehörte9. Sein bis dato nur in ungarischer Übersetzung bekanntes Theaterstück, dessen Originalversion als verschollen gilt, kann als ein Musterbeispiel für jene konstruktivistischen Werke gelten, die um 1920–25 für Aufsehen wie für Kontroversen sorgten. Hans Suschnys Werk, von dem ein Ausschnitt dem deutschsprachigen Publikum erstmals zugänglich gemacht wird, kommt hier also eine paradigmatische Rolle zu: Es versucht an jene Kritiker, Kunstliebhaber, Künstler und auch Künstlerinnen zu erinnern, die in der Konfrontation mit dadaistischen und konstruktivistischen Werken eine Gefahr für die Kunst an sich erblickt haben. Hans Suschnys Bühnenstück erschien 1924 in der Zeitschrift Ma unter dem Titel Sz†npadi Kompoz†ciû 1 (Bühnen Komposition 1)10. Wie schon in anderer zeitgenössischer avantgardistischer bildenden Kunst zeigt sich auch in diesem Werk eine klare Absage an die traditionelle Formensprache. Bereits das Bühnenbild – ein schwarzes und ein rotes Quadrat sowie eine schwarze und rote Scheibe – erinnert unweigerlich an die konstruktivistische Malerei, z. B. an Das schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch und an zahlreiche andere Bilder, ja tendenziell an die »Bildarchitektur« Lajos Kass‚ks insgesamt11.

8 Zu K. Kraus vgl. meinen Beitrag: Karl Kraus und die Avantgarde – eine mehrschichtige Beziehung. In: Lithes, Graz, Nr. 6 (2011), S. 1–33; einsehbar unter : http://lithes.uni-graz.at/ lithes/beitraege11_06/ zoltan_peter_karl_kraus.pdf (Zugriff 14. 1. 2015). 9 Vgl. Peter Weibel: Beyond Art: A Third Culture. A Comparative Study in Culture. Arts and Science in 20th century Austria and Hungary. Wien-New York: Springer 2005, S. 67. 10 Aus der ungarischen Übersetzung von Rûbert Reiter. In: Ma, Nr. 3–4/1924. S. 7–12. Rückübersetzt von Katalin Butt, Ernst-Christian Mathon und Zoltan Peter, April 2014. 11 Der Ausdruck Bildarchitektur wurde von Kass‚k erstmals im Vorwort zu seiner gleichnamigen Mappe 1922 verwendet. In: Ma 4/1922, S. 53.

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Abb. 1a: Bühnenkomposition 1.

Zoltan Peter

Zur Frage des »dritten Weges« in der Wiener Avantgarde der 1920er Jahre

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Abb. 1b: Bühnenkomposition 1.

Dieses Werk halte ich für ein konstruktivistisches Bühnenstück par excellence, für ein Gesamtkunstwerk, das eine tiefere literaturwissenschaftliche Analyse sowie eine zeitgemäße Bühneninszenierung und -aufführung verdienen würde. Hier verwende ich es als Illustration für das Phänomen des Feindbildes Avantgarde im Allgemeinen und im Speziellen als ein Theaterstück, das so »milde« Reformer der klassischen Moderne wie Karl Kraus und Josef Frank vermutlich abgelehnt hätten. Ihre Kritik hätte gewiss einige Aspekte enthalten, die polemisch formuliert und zugespitzt gewesen wären. Josef Frank hätte wohl beanstandet, dass wir es hier mit einer zu überspitzten Abwendung von der Tradition und ihrer Formensprache, mit einer bloßen Positionierung zu tun haben, welche ihm als strategisch motiviertes, modisches und daher als vorübergehendes Phänomen erschienen wäre12.

12 Vgl. dazu etwa sein als Interview angelegtes Gespräch Vom neuen Stil, in dem Frank Tradition programmatisch als »Notwendigkeit, Überkommenes anzuerkennen« umriss. In: Josef Frank: Schriften in zwei Bänden. Band 1: Veröffentlichte Schriften von 1910 bis 1930. Herausgegeben von Tano Bojankin, Christopher Long und Iris Meder. Wien: Metroverlag 2012, S. 318–334, hier S. 320.

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3.

Zoltan Peter

Josef Frank und die Avantgarde

Hans Suschnys etwa 16 Seiten umfassende Bühnen Komposition wirft zahlreiche Fragen auf, zum Beispiel, ob und inwiefern das Werk rein konstruktivistische oder ob und inwiefern es auch dadaistische Stilelemente enthält, ferner, ob und inwiefern das Werk als eine Hommage oder Kritik des Konstruktivismus mit eigenen Mitteln verstanden werden kann bzw. soll. Wie das nachfolgende Zitat andeutet, hätte Josef Frank dieses Theaterstück in seiner uns vorliegenden Form wahrscheinlich abgelehnt, aber es wäre ihm zugleich wohl nicht gleichgültig gewesen. Als kunstsinniger und gesellschaftskritischer Architekt hätte er auf Anhieb erkannt, dass bereits die Darstellungsform des Textes, d. h. das Theaterstück mit seinem Drehbuchcharakter, grundlegend architektonisch strukturiert ist. Er hätte in ihm vielleicht ein Bildgedicht wahrgenommen, das ihn an ein konstruktivistisches Gebäude hätte denken lassen, zu dem er wie folgt Stellung bezogen hat: Das Stilgewirre und der darauffolgende Purismus waren notwendige Erscheinungen, damit das Tote erkannt und ausgeschieden wird. […] Eine Zeit der Läuterung, eine Flucht in die Schlichtheit des Altertums, wie dies unsere heutige Baukunst in ihrem Archaismus versucht, war jederzeit eine Folge von Erschütterungen, die Zweifel an dem Wert des Existierenden geweckt haben; diese Gedanken absoluten Ästhetentums haben sich bewusst von denen des Volkes getrennt. Wir haben den Kopf in den Sand gesteckt, damit uns das Leben nicht verwirre. Wir müssen wieder suchen, den Zusammenhang zu finden, der durch Spekulationen verlorengegangen ist, um uns aus dem Reich der Schatten durch dieses Purgatorium ans Tageslicht zu retten.13

Josef Frank, ein Wiener Architekt und Designer jüdischer Herkunft, galt andererseits in den 1920er Jahren als der Repräsentant österreichischer avantgardistischer Architektur im Ausland schlechthin.14 Der jüdische Hintergrund hat dabei für die Entstehung der Wiener Moderne und Avantgarde eine wesentliche Rolle gespielt, trugen ja, so Joachim Riedel, gerade die jüdischen Zuwanderer zur Reform der Stadtkultur auf eine besondere Weise bei: Der verbreiteten Auffassung einer plötzlichen intellektuellen und künstlerischen Explosion steht die Hypothese gegenüber, die wahrscheinlich bedeutendste Kulturleis13 Josef Frank: Architektur als Symbol. Elemente deutschen neuen Bauens, Wien: Löcker 1981, S. 190. 14 Die wichtigsten Eckdaten zu Josef Frank sind im Architekturlexikon des Architekturzentrums Wien online zugänglich; abrufbar unter www.architektenlexikon.at (Zugriff 14.1. 2014). Ferner dazu: Maria Welzig: Josef Frank. 1885–1967. Das architektonische Werk. Wien-Köln-Weimar : Böhlau 1998. Zur Re-Kontextualisierung der international vielbeachteten Werkbundsiedlung vgl. Anton Holzer : Moderne weiße Häuser in Lainz. In: Wiener Zeitung, 11. 1. 2012, einsehbar unter : http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/wien/stadt leben/424371_Weisse-Haeuser-in-Lainz.html (Zugriff 14. 1. 2015).

Zur Frage des »dritten Weges« in der Wiener Avantgarde der 1920er Jahre

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tung des vergangenen Jahrhunderts, die Entdeckung des modernen Weltbildes, verdankt sich nicht so sehr der gegenseitigen Befruchtung, sondern viel eher ihrem Gegenteil: Sie war das Produkt junger, jüdischer Zuwanderer, die eine Gegenwelt zu dem eingesessenen Wiener Establishment entwarfen. Weil die Wiener nicht Platz machen wollten, schufen sie genau das, was sie zu verhindern suchten: die geistige und kulturelle Erneuerung. Dieser Prozess setzte sich zu Beginn der Ersten Republik fort.15

Vor allem Josef Frank im Bereich der Architektur und Karl Kraus im Literaturbetrieb lehnten sich in den 1920er-Jahren sowohl gegen die etablierten Akteure des jeweiligen Berufsstandes in Wien als auch gegen die international gerade zum Durchbruch gekommenen Avantgarden, insbesondere gegen den Konstruktivismus, Funktionalismus und Purismus nachdrücklich auf. Zugleich weisen beide Lebensläufe eine kurze Phase auf, in der sie aktive Mitglieder des internationalen Avantgarde-Netzwerks waren. Für Kraus lässt sich diese Periode auf die Jahre um und nach 1909 datieren, als er die Veröffentlichung von literarischen Texten junger expressionistischer Autoren in der Fackel ermöglicht hat, eine Periode, die etwa drei Jahre dauern sollte. Nach 1921 wollte er mit den Repräsentanten des Expressionismus, Futurismus und Dadaismus nichts mehr zu tun haben. Ähnlich wie Karl Kraus gegen die »Neutöner«, wie er in Glossen zugespitzt formulierte16, hörte auch Josef Frank sein ganzes Leben lang nicht auf, gegen das Bauhaus zu polemisieren. In einem 1939 in New York verfassten Brief an Trude Waehner bezeichnete er das Bauhaus noch immer als »gräulich«.17 Was immer er damit gemeint haben mag, es bleibt die merkwürdige Tatsache bestehen, dass letztlich die Unterschiede zwischen dem Stil des Bauhauses und jenem seiner eigenen architektonischen Kreationen eigentlichen nur im Bereich der Innenarchitektur fassbar werden, z. B. im Bereich des Möbeldesigns, die an den von der schwedischen Firma Svenskt Tenn bis heute produzierten Möbel und Gebrauchsgegenständen auch erkennbar sind. In ihrer Grundstruktur un-

15 Joachim Riedel: Füreinander, nebeneinander, gegeneinander. In: Ders.(Hg.): Wien, Stadt der Juden. Die Welt der Tante Jolesch. Wien: Zsolnay, 2004, S. 15. 16 Vgl. dazu meinen Beitrag: Karl Kraus und die Avantgarde (siehe Anm.8). Die Spitze gegen die Neutöner richtete sich dabei allerdings nicht gegen Arnold Schönberg. Vgl. dazu Mathias Schmidt: Musik ohne Noten. Arnold Schönbergs »Pierrot lunaire« und Karl Kraus. In: Studien zur Musikwissenschaft. Beihefte der Denkmäler der Tonkunst in Österreich. Bd. 47 (1999) S. 365–393. 17 Vgl. Sabine Plakolm: Josef Frank an Trude Waehner (1938–1965). Das Nachleben des Werkbundes in der Kritik am Bauhaus: In: Volker Thurm-Nemeth (Hg.): Konstruktion zwischen Werkbund und Bauhaus, Wissenschaft – Architektur – Wiener Kreis (= Schriftenreihe Wissenschaftliche Weltauffassung und Kunst, Bd. 4), Wien: Hölder-Pichler-Temsky, 1998, S. 142 (123–158). Zur kritischen Distanz Franks im Sinn einer Kritik am Funktionalismus vgl. Friedrich Achleitner : Die vertriebene Architektur. In: Friedrich Stadler (Hg.): Die vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–1940. Teilband 2, Münster : LIT 2004, S. 622–624, bes. S. 623.

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Zoltan Peter

terscheiden sich Franks Häuser von jenen des Bauhauses jedenfalls nicht radikal.

3.1.

Josef Frank, ein Skeptiker der Moderne

Anlässlich des hundertsten Geburtstags von Josef Frank bezeichnete ihn der österreichische Architekt Otto Kapfinger als »Skeptiker« der Moderne: Josef Frank ist der schöpferische Skeptiker im Rahmen der Moderne. Man kann ihn weder als einen leicht fasslichen Programmatiker noch als einen unkritischen Pragmatiker bezeichnen. Die Stärke und Lebendigkeit seiner Anschauungen liegt in einem durch und durch paradoxen Wesen, das sich mit großer Bestimmtheit äußert – und doch kaum bündig festzulegen ist.18

Eine der Ambivalenzen Franks liegt also gerade in seiner Beziehung zum Funktionalismus. Fühlt er sich zum einen der österreichischen Architektur der vorangehenden Generation verpflichtet, so konnte und wollte er sich zum anderen den Impulsen der um 1920 immer stärker werdenden internationalen Avantgarde auch nicht entziehen19. Letzteres schon deshalb nicht, weil er bemüht war, auch außerhalb Wiens zu wirken. Ein solches Wirken war für einen angehenden Architekten, der gerade international Fuß fassen wollte, ohne Funktionalismus-Bezug jedoch eher schwierig. Die Technische Hochschule Wien, an der er Architektur studierte, dürfte ihn ebenfalls für internationale Zusammenhänge neugierig gemacht haben.20 Frank stieß mit seinem Hang zum populären Geschmack, mit seinen bunten, blumigen Möbeln und Stoffen bei den bestimmenden Akteuren des transnationalen Felds der avantgardistischen Architektur freilich auf erheblichen Widerstand. Die in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung ausgestellte Inneneinrichtung seines Hauses sorgte für Polemik. Während andere mit provokanten Anmerkungen wie »Bordell Frank« oder »Wiener Gschnas« für Aufmerksamkeit sorgten, wollte Theo van Doesburg in Franks Innenarchitektur eher eine Art »femininen« Stil erkennen.21 Den Ursprung seines Interesses für das Blumige und Bäuerliche lokalisiert Maria Welzig in Franks nach England, Holland und Skandinavien gerichtetem Blick: 18 Otto Kapfinger: Zum Geleit. In: Um Bau, Nr. 10/ Aug. 1986, S. S. 1–5, hier S. 3. 19 Vgl. dazu J. Frank: Wiens moderne Architektur bis 1914. In: Der Aufbau, 1926, S. 165. 20 Vgl. Maria Welzig: Die Wiener Internationalität des Josef Frank. Wien [Dissertation] 1994, S. 13 sowie:: Frank und die Internationale Architekturavantgarde. In: Diess.: Josef Frank 1885–1967; S. 136–148. 21 Vgl. Zum Geleit, S. 85. Siehe Anm. Nr. 18. Zu Van Doesburg vgl. u. a. Gladys Fabre, Doris Wintgens Hotte (Hgg.): Van Doesburg & the International Avant-Garde: Constructing a New World. London: Tate Publications 2009.

Zur Frage des »dritten Weges« in der Wiener Avantgarde der 1920er Jahre

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Diesen Ländern ist eine hohe Wohnkultur eigen, die nicht von einer kleinen, reichen Oberschicht, sondern von der Bauern- und Bürgerschicht in relativ demokratischen Gesellschaften entwickelt und getragen ist – diesem allgemeinkulturellen Hintergrund ist hinsichtlich Franks Rezeption eine wesentliche Bedeutung zuzumessen.22

Wilfried Posch zufolge entsprangen die kräftigen Farben und Motive bei Frank dagegen »verschiedenen südosteuropäischen und asiatischen Kulturen«, wobei seine »Hinneigung zum textilen Gestalten […] sicherlich« durch den Vater und insbesondere die Mutter geprägt worden war. Denn der aus Ungarn zugewanderte Vater war Textilhändler, die Mutter künstlerische Gestalterin von Textilien.23 Frank ließ sich von dieser, aus prominenten Kreisen (Le Corbusier, Ludwig Mies van der Rohe etc.) des transnationalen Avantgardefeldes kommenden Kritik an seinem Hang zum populären Geschmack nicht irritieren. Die direkte Konfrontation gab er allerdings bald auf und wandte sich einer Gruppe von Architekten zu, die nicht den reinen Funktionalismus repräsentierten bzw. pflegten.

3.2.

Zu Franks nationaler und internationaler Position

Josef Franks Architektur knüpft, wie schon angesprochen, maßgeblich an die Wiener Tradition an, unter anderem an Otto Wagner, Josef Hoffmann und Adolf Loos, und stellt eine gewisse Synthese insbesondere zwischen Hoffmann und Loos dar.24 Wie Adolf Loos war auch Josef Frank ein engagierter Anhänger der Siedlerbewegung, die ab 1921 im Österreichischen Verband für Siedlungs- und Kleingartenwesen zusammengefasst und eine Organisation der Sozialdemokratischen Partei war. Zur großen Enttäuschung ihrer Anhängerschaft entschied sich die Gemeinde Wien jedoch ausschließlich für die Unterstützung des mehrgeschossigen Massenwohnbaus und gestand der Siedlerbewegung ab 1923 fast keinen Spielraum mehr zu. Im Gegensatz zu Loos, der daraufhin Wien verließ, arbeitete Frank weiterhin auch für die Gemeinde Wien. Er erhielt – obwohl eigentlich gegen diese Bauform argumentierend – »fünf Aufträge für Wohnblöcke im Rahmen des Wiener Bauprogramms und wurde 1928 zu einem Wettbewerb für ein Großprojekt der Gemeinde eingeladen.«25 Frank hatte 1916–1926 auch eine Professur für Architektur an der Kunstgewerbeschule (heute: Universität für angewandte Kunst) inne, wo bekanntlich 22 Die Wiener Internationalität des Josef Frank, S. 57. Siehe Anm. 20. 23 Vgl. Wilfried Posch: Josef Frank eine bedeutende Persönlichkeit des österreichischen Kulturliberalismus. In: Um Bau, Nr. 10/Aug. 1986, S. 30 (21–38). 24 Vgl. Hermann Czech: Ein Begriffsraster zur aktuellen Interpretation Josef Franks. In: Ebd. S. 105–107. 25 Vgl. Die Wiener Internationalität des Josef Frank, S. 109–110. Siehe Anm. 20.

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auch Franz Cizek seine Jugendkunstklasse betreute, aus der in den 1920er Jahren immerhin der Wiener Kinetismus, eine der wichtigsten Avantgarderichtungen der Stadt, hervorging.26 1925 gründete Frank mit Oskar Wlach die Einrichtungsfirma Haus & Garten. Die Firma stand zwar in krassem Gegensatz zu Hoffmanns Wiener Werkstätte, doch sie vertrat mehr als eine bloße Gegenposition zur Wiener Werkstätte. Die Möbel und Gebrauchsgegenstände der Firma weisen nämlich einen überaus eigenständigen und zukunftsweisenden Stil auf.27 Josef Frank zählte seit Ende der 1920er Jahre bis zu seiner Emigration nach Schweden im Jahr 1933 zweifellos zum Kreis der bestimmenden Architekten Wiens. 1928 beteiligte er sich wesentlich an der Reorganisation des Österreichischen Werkbundes und wurde dessen neuer Vizepräsident.28 1932 wurde dann unter seiner Leitung die Wiener Werkbundsiedlung realisiert. Ihm kam auch am bestimmenden Pol des transnationalen Felds der Architektur, das von 1922 bis zirka 1930 von rationalistisch-funktionalistischen Richtungen (Funktionalismus, Neue Sachlichkeit, Konstruktivismus etc.) besetzt war, eine maßgebliche Stellung zu, die er aber nur eine relativ kurze Periode innehatte. Genau genommen dauerte sie von 1927 bis 1929, breiter gefasst von 1925 bis 1932. Die faktische Zugehörigkeit zu diesem Pol entwickelte und ergab sich im Rahmen seiner Teilnahme an der 1927 in Stuttgart abgehaltenen Architekturausstellung Die Wohnung, bei der er mit einem Doppelhaus vertreten war. Von 1928 bis 1929 fungierte er als einziger Vertreter der österreichischen Architektur auf den CongrÀs Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM). Die 1932 in Wien unter Franks Leitung fertiggestellte Werkbundsiedlung mag zwar gegen diesen etablierten Pol gerichtet gewesen sein, doch stellte sie im Endeffekt eine Bereicherung der funktionalistischen Architektur dar. Die Werkbundsiedlung galt daher im österreichischen Kontext als ein revolutionäres Unternehmen und stand dem internationalen Trend deutlich näher als dem nationalen. Denn während in Österreichs Kunstbetrieb der Expressionismus noch immer als die aktuellste Avantgarderichtung galt (von wenigen Ausnahmen abgesehen), wurde er andernorts für pass¦ erklärt. »Etwa ab 1921/22«, so Volker Thurm-Nemeth, »wurden die Nachkriegserfahrungen in einem anderen Duktus dargestellt, in dem Planbarkeit, Strategien, Realismen wieder neue Bedeutungen erhielten und deren Legitimität sich auch außerhalb nur rein indi-

26 Vgl. z. B. den Katalog zur Kinetismus-Ausstellung des Wien-Museums: Kinetismus. Wien entdeckt die Avantgarde. Hgg. von Monika Platzer, Ursula Storch. Ostfildern-Berlin: Hatje Cantz 2006. 27 Vgl. Martina Wallner : Haus & Garten – Frank & Wlach, ein Beitrag zur österreichischen Wohnkultur. Wien: Technische Univ. Graz 2009, S. 25ff. 28 Vgl. Die Wiener Internationalität des Josef Frank, S. 113ff. Siehe Anm. 20.

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viduell-schöpferischer Bezugssysteme verankern konnten.«29 Aus dem Weimarer Bauhaus verschwanden ab 1921 Schritt für Schritt die expressionistischen Züge in Lehre und Praxis. Zwischen Johannes Itten und Walter Gropius brach denn auch über diese Frage ein Konflikt aus, der 1923 mit dem Abgang Ittens vom Bauhaus endete30. Nach Thurm-Nemeth gewann in diesem Konflikt der von Theo van Doesburg ausgehende konstruktivistische Einfluss an entscheidender Bedeutung. Van Doesburg hielt nämlich damals gerade öffentliche Vorlesungen über die Inhalte seiner konstruktivistischen Kunstauffassung in Weimar. Unter den Besuchern seiner Vorlesungen waren auch Bauhaus-Schüler, die mit Ittens Kunstauffassung unzufrieden waren. Obgleich Theo van Doesburg für Gropius zu radikal erschien und deshalb auch nicht als Nachfolger von Itten genommen wurde, gilt sein Beitrag zur Abwendung des Bauhauses vom Expressionismus als wesentlich.31 Starke Einflüsse kamen auch von Seiten des russischen Konstruktivismus: Die am 15. Oktober 1922 in Berlin eröffnete Russische Kunstausstellung galt in dieser Hinsicht als besonders wirksam. Offensichtlich setzten sich von verschiedenen Seiten kommend diejenigen künstlerischen Bewegungen durch, die auf einem Formenvokabular geometrischer Abstraktionen einerseits aufbauten und andererseits den überindividuellen Abdruck des Maschinellen oder Technischen und der darin symbolisierten Dynamik zur Darstellung zu bringen versuchten. Diese unterschiedlichen Kunstrichtungen lassen sich umfassend mit dem Begriff ›Konstruktivismus‹ beschreiben.32

Thurm-Nemeth unterscheidet in der Folge zwischen einem »metaphysischen« und einem »sozial-utopischen« Konstruktivismus. Zu den metaphysischen Konstruktivisten gehören demnach Kasimir S. Malewitsch mit seinem Suprematismus und die Gruppe um die holländische Zeitschrift De Stijl, – insbesondere Piet Mondrian. Die Klasse des »sozial-utopischen« Konstruktivismus bestimmen ihm zufolge die Russen, insbesondere El Lissitzky, Lyubov Popova, Alexander M. Rodtschenko, Wladimir J. Tatlin usw. Der »Bauhausstil« war allerdings von beiden Richtungen beeinflusst worden, doch weder der eine noch der andere Ansatz wurde eins zu eins übernommen.33 29 Volker Thurm-Nemeth: Konstruktion des modernen Lebens – ein Fragment. Wiener Kreis und Architektur, wie Anm. 17, S. 9–78, hier S. 24. 30 Vgl. Christoph Wagner : Streit ums Bauhaus? Walter Gropius und Johannes Itten. In: Ute Ackermann (Hg.): Streit ums Bauhaus. Begleitband zur Ausstellung in der Kunsthalle Erfurt. Jena 2009, S. 100–108; einsehbar unter : http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/ 1433/1/Wagner_Streit_am_Bauhaus_Walter_Gropius_und_Johannes_Itten_2009.pdf (Zufgriff 15. 1. 2015). 31 Vgl. Thurm-Nemeth: Konstruktion des modernen Lebens; wie Anm. 29, S. 34–35. 32 Ebd., S. 36. Zur Kunstausstellung vgl. auch den Katalog: Erste Russische Kunstausstellung. Galerie van Diemen & Co. Berlin 1922. Hg. von Eberhard Roters u. Horst Richter. Berlin: König 1988 (Reprint). 33 Etwas Ähnliches ließe sich übrigens über Lajos Kass‚ks in Wien ausgearbeitetes Bildar-

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In der Bauhauslehre und -praxis ist es nicht die erhalten gebliebene Distanz einerseits zur radikalen, gesellschaftspolitischen Utopie der russischen Konstruktivisten, sondern es ist hauptsächlich die von Walter Gropius durchgesetzte Auffassung des Verhältnisses zwischen Kunst bzw. Architektur und Industrie, in der das Spezifikum des Bauhauses beschrieben werden muß.34

Im Verständnis Thurm-Nemeths war Gropius eine Art synthetisierende Kraft im Hinblick auf die vielen und teilweise extremen Standpunkte der konstruktivistischen Szene. Er hat sich »an der Konstruktion moderner Lebensformen beteiligt« und diese Vorhaben in einer »konventionellen« Art und Weise unterstützt. Als »Vertreter und Erhalter von Konventionen, aber auch darüber hinaus gelang es ihm – freilich unter Abgleichung von Extremen –, verschiedene Tendenzen der Architekturentwicklung der Zwanziger-Jahre zu einer neuen und wirkungsmächtigen Konvention zusammenzufassen: dem »Internationalen Stil«, wie er sich nach dem Zweiten Weltkrieg bekanntlich weltweit durchgesetzt hat.«35 Josef Frank sprach sich freilich bereits um 1928 kritisch über diesen synthetisierten Funktionalismus aus: Die Wörter Funktionalismus, Konstruktivismus, Elementarismus und ähnliche kamen auf, um nun neue Arten der Dekoration zu betreiben, die sich heute nicht mehr mit dem Schmuck des fertigen Gegenstandes befassen, sondern alles ergreifen, vom Grundriß bis zur Orthographie; dies erhebt die Dekoration zu solcher Monumentalität, daß sie nur mehr schwer erkennbar ist.36

4.

Zur Frage des »dritten Weges«

Gleich anderen Architekten war auch Josef Frank sehr bemüht, seine Pläne zu verwirklichen und somit die nationale und internationale Architekturlandschaft möglichst stark und nachhaltig mitzugestalten, zumal die Architektur mit ihrer Affinität zur Konstruktion sowie ihrem Interesse für das Material zahlreichen avantgardistischen Künstlerinnen und Künstlern eine Art Referenzkunst dargestellt hat. Zu seinen renommiertesten und zugleich dem Funktionalismus am nächsten stehenden Bauten werden unter anderen das Haus Beer, sein Doppelhaus in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart sowie die von ihm geplante Wiener Werkbundsiedlung gezählt. Es handelt sich dabei um Bauten, die durchaus als österreichischer Beitrag zur Etablierung einer funktionalistischen Architektur zu verstehen sind, um eine von Josef Frank vermutlich bewusst angestrebte und chitektur-Konzept sagen; es enthält sowohl sozial-utopische als auch gewisse metaphysische Elemente. 34 Ebd., S. 50. 35 Ebd., S. 54. 36 J. Frank: Architektur als Symbol, S. 129. Wie Anm. 20.

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schließlich auch erreichte österreichische Position innerhalb der internationalen avantgardistisch orientierten Architektur einzunehmen. Wie die Mehrzahl der Schriftsteller, Künstler und Architekten, die im Wien der 1920er Jahre wirkten und weniger am Erhalt als an der Reform der künstlerischen Landschaft und ihrer Ausdruckspotentiale interessiert waren, lehnte auch Josef Frank die konstruktivistisch-funktionalistischen Reformbewegungen als zu radikal ab. Er versuchte einen ›dritten Weg‹ vor- und einzuschlagen. Dabei konzentrierte er sich auf eine Position, die an einer Synthese aus dem Stil der Wiener Gemeindebauarchitektur und dem Stil der neuesten internationalen Strömungen des Funktionalismus bemüht war. Insofern strebte Frank nach dem Ersten Weltkrieg einen Neubeginn an, der, unter Beibehaltung bestimmter Errungenschaften der Tradition, auf die aktuellen Bedürfnisse des Menschen und die schlechte ökonomische Situation Rücksicht zu nehmen habe. Er zeigte weder für die Bewunderer der Vergangenheit und ihrer dekorativen Ästhetik noch für die radikalen, bloß die Funktionalität von Kunst und Architektur forcierenden Akteure viel Verständnis. Bemerkenswerterweise haben sich nicht nur gut platzierte reformistische künstlerische Kräfte um einen »dritten Weg« bemüht, sondern auch die politischen. So beschritt die sozialdemokratische Baubehörde der Gemeinde Wien in ihrer Stadtplanung einen ähnlichen Weg zwischen Tradition und Erneuerung; ein Umstand, der auf gemeinsame Interessenslagen schließen lässt37. In dieser Gemengelage macht sich eine wie auch immer motivierte Teilnahme der am Wettstreit der Metropolen Beteiligten bemerkbar ; es wird der Eindruck erweckt, als würden die Beteiligten an einem Strang ziehen: sich für Wien zu engagieren und ihm auf der Landkarte der Metropolen eine gute Position zu verschaffen. »Stadtpolitik war«, so Lutz Musner in seiner Studie über Wiens Geschmack, » immer auch zu einem gewichtigen Teil Identitäts- und Machtpolitik, das heißt ein symbolisch und politisch aufgeladenes Definitionsprojekt, das ein imaginiertes distinktes Eigenes gegenüber Fremden und Anderen bzw. Mitstreitern im Feld der Städtekonkurrenz in Stellung brachte.«38 Den möglichen Ursprung des Antiradikalismus der Wiener Künstler, Literaten und Architekten haben zahlreiche Autoren thematisiert. Obgleich manches darauf hindeutet, dass der »HabsburgischeMythos« den Einzug radikaler Kunstrichtungen in Österreich eingebremst habe, wäre es sicher voreilig, in dieser Erkenntnis den einzigen Grund für die Abwehrhaltung gegenüber radikalen Erneuerungen zu erblicken. Claudio Magris geht zum Beispiel davon aus, 37 Vgl. dazu u. a. Helmut Weihsmann: Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 1919–1934. Wien: promedia 2001, 2. Aufl. 2002. 38 Lutz Musner: Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt. Frankfurt/M. u. a.: Campus, 2009, S. 18.

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dass selbst bei den größten Skeptikern der österreichischen Moderne eine hohe Loyalität zu Österreich zu registrieren war. Die Kontinuität der österreichischen Tradition besteht in einem fortwährenden Aufbegehren gegen ebendiese Tradition, und die großen Interpreten des Kaiserreiches, von Grillparzer bis Musil und Roth, haben ihre tiefe Liebe zu ihm nicht in billigen Lobsprüchen, sondern in widerständigem Protest, durch ihre illusionslose Kritik und Ironie ausgedrückt.39

Das Phänomen hatte auch politische Dimensionen: Den Beamten des Stadtplanungsbüros war die symbolische Bedeutung der Architektur und ihre Eignung, die Herzen der Bewohner zu erobern, sehr wohl bewusst. Und wie keine andere Institution hatte sie auch die nötigen Mittel, Symbole gesellschaftlich durchzusetzen und das erfolgreiche Architekturprogramm propagandistisch zu nützen. »Grundprinzip des Roten Wien war«, so Helmut Weihsmanns, »eine Einheitsfront gegen das reaktionäre Bürgertum zu repräsentieren; eine monumentale und ebenso emotionale Architektur sollte das symbolisieren«40. Friedrich Achleitner zufolge waren die Sozialdemokraten jedoch auch pragmatischprogrammatisch ausgerichtet: Sie mieden die moderne Bautechnologie konsequent, »um durch arbeitsintensive (also ausschließlich handwerkliche) Bauherstellung die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.«41Die Stadtplanungsstelle des »Roten Wien« besaß, wie Siegfried Mattl herausstreicht, alles in allem eine besondere, bis in die Verhaltensweisen der Stadtbewohner eindringende Macht: Während die Planung künftiger Verkehrswege, Siedlungs- und Gewerbegebiete letztlich nur indirekt durch Hebung oder Senkung des Bodenwertes und durch explizite Nutzungsverbote die Entwicklung der Stadtstruktur beeinflussen kann, wirkt die Formulierung allgemeiner Zielsetzungen massiv auf die kollektive Einbildungskraft und die Identifizierung der Bürger mit der Stadt ein.42

Die vergleichsweise geringe Bereitschaft zu einem radikalen Neuanfang in Kunst und Architektur hänge, so Helmut Weihsmanns These, freilich auch mit dem … antirevolutionären sozialreformistischen Konzept der Wiener Sozialdemokraten zusammen, die selbst in der Architektur durchaus Versöhnung und Ausgleich suchten und fanden. So ist es kein Zufall, daß gerade diese pluralistische Architekturauffassung auf hohe Akzeptanz unter der Wiener Bevölkerung stieß, damals wie heute, vielleicht auch deshalb, weil die Gemeindebauten voller historischer Zitate und Anspielungen

39 Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur (1966). Wien: Zsolnay 2000, S. 13. 40 Helmut Weihsmann: Das Rote Wien, wie Anm. 30, S. 137. 41 Achleitner zitiert nach Weihsmann, ebd., S. 135. 42 Siegfried Mattl: Wien im 20. Jahrhundert. Wien: Pichler 2000, S. 116.

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sind – eine Architektur der Erinnerungen […], die in einem Spagat die Elemente des bürgerlichen Wohnens im Arbeiterwohnungsbau […] zu vereinigen versuchte.43

Auch Joachim Riedel führt das Interesse der reformistischen Kräfte an einem dritten Weg letztlich auf die Politik zurück: In gewisser Weise ist Wien ein riesiges Freiluftlabor, in dem Sozialmechaniker ein gewaltiges Experiment wagen. Es ist nicht risikolos, aber gleichzeitig auch nicht tollkühn. Selbst die radikalsten Geister scheinen zu berücksichtigen, daß eine gesellschaftliche Umwälzung sich in die Künste des Machbaren bescheiden muß. Für Scharlatane ist kein Platz. Als der Feuergeist B¦la Kun nach der Niederschlagung der Ungarischen Räterepublik nach Wien flieht, findet er sein erstes Asyl im städtischen Irrenhaus am Steinhof.44

Andere Ansätze thematisieren dagegen weniger die politische, sondern die künstlerische und wissenschaftliche Seite. Dieter Bogner zum Beispiel verortet dieses doch überwiegend fortschritts- und theorieskeptische Klima in Wien in einem gewissen Hang der Intellektuellen zum »polarischen« Denken, das er insbesondere bei den Schriftstellern der Wiener Moderne konstatiert: In Wien hat sich [z]wischen Extrempositionen vermittelnd […] die Möglichkeit eines durch Skeptizismus geprägten relativierenden (polarischen) Lebensentwurfs entwickelt.«45 Eine weitere Erklärung für die Wahl des dritten Weges lässt sich in der verbreiteten Einstellung zum Rationalismus festlegen. Der Musiksoziologe Kurt Blaukopf vertrat zum Beispiel die These, dass die österreichische Musik sich generell durch einen Verzicht auf Spekulation auszeichne.46 Friedrich Achleitner erblickt ebenfalls eine mehr an Fakten und weniger an theoretischen Systemen orientierte Ausrichtung in der österreichischen Architektur. Für ihn haben wir es in der Wiener Architektur mit einem kontinuierlichen Antagonismus zu tun: »Ich glaube, es wäre leicht möglich, den Wiener Antagonismus zwischen Utopie (vor allem rückwärtsgewandte) und Pragmatismus bis in die Gegenwart herauf zu verfolgen.«47 Frank sei ein Architekt gewesen, der, und darin sei er ein »wahrhafter« Avantgardist der ersten Stunde gewesen, »eine radikale Verbin-

43 H. Weihsmann: Das Rote Wien; wie Anm. 40, S. 120. 44 J. Riedel: Füreinander, nebeneinander, gegeneinander ; wie Anm. 15, S. 12. 45 Dieter Bogner : Denn der Österreicher lebt polarisch! Abrufbar unter : http://www.bognercc.at/theorie/4803/Denn_der_Osterreicher_lebt_polarisch (Zugriff 23. 11. 2014). 46 Kurt Blaukopf: »Denken in Musik« – Die historischen Wurzeln der österreichischen Moderne. In: Friedrich Stadler (Hg.): Wissenschaft als Kultur. Österreichs Beitrag zur Moderne. Wien- New York: Springer 1997, S. 133–152, hier S. 133. 47 Friedrich Achleitner : Architektur in Wien – zwischen Lebenspraxis und rückwärtsgewandter Utopie. In: Ebd. S. 176.

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dung von Architektur und gesellschaftlicher Wirklichkeit«48 angestrebt und auch realisiert habe.

5.

Fazit

Josef Frank gehörte zweifellos zu jenen Akteuren des Wiener architektonischen Raumes, die aufmerksam, aber auch mit skeptischer Distanz zeitmoderne, international bedeutende Tendenzen wahrgenommen haben. Nachdem sich die in den 1920er-Jahren ausgetragenen Kämpfe zwischen den Ismen gelegt haben und die Werkbundsiedlung (Franks Position) knapp vor der Fertigstellung stand, beschrieb er in Architektur als Symbol »die Wiener« wie folgt: Während Deutschland durch die jäh sich jagenden Moden und fortwährenden Umstellungen auf Neues, vergebliche Verkleidungen und fehlende Entwicklung verwirrend wirkt, macht das neue Wien den Eindruck, als würde hier überhaupt nicht gedacht. Es herrscht hier eine starke Einmütigkeit aller, die da bauen, […]; sie gehen gänzlich ahnungslos an jedem Problem vorbei, sei es welcher Art immer […]. Während der Deutsche sich bemüht, irgendwelche alte Wirkungen zwar falsch, aber effektvoll anzuwenden, kennt sie der Wiener überhaupt nicht. […] Der überaus realistische Sinn des Wieners […] versteht den immerhin problematischen Zusammenhang zwischen Form und Inhalt überhaupt nicht und wünscht ihn auch nicht kennenzulernen. […]49

Franks Ausführungen über die Wiener Mentalität spiegeln ironisch grundiert auch seine persönlichen Einstellungen. Jenes dezidierte Interesse für die Theorie der Kunst und Architektur, das bei deutschen, französischen, holländischen und russischen Künstlern und Architekten prononciert ausgeprägt war, wertete er für sich selbst als ähnlich unmaßgeblich wie für den Wiener Architekten im Allgemeinen. Als er während seiner Mitwirkung bei dem CIAM das Gefühl hatte, einzelne Mitglieder würden die Formfrage zu sehr betonen, ja geradezu übertreiben, reagierte er, analog zu dem von ihm charakterisierten prototypischen Wiener Architekten, durch Rückzug vom bestimmenden Pol des avantgardistischen Architekturfeldes aufgrund eines dort vorherrschenden mangelnden Realitätssinns. In seinem Brief an den Sekretär des CIAM gibt er als Hauptgrund für seinen Rücktritt daher die forcierte, seiner Meinung nach an wesentlichen Fragen vorbeisehende Formdebatte an: Der wichtigere Punkt ist aber der, dass ich die ganze Einstellung des Kongresses […] für eine durchaus unehrliche halte. Wenn wir hier über moderne Architektur verhandeln sollen, so ist es selbstverständlich, dass es sich um Dinge handeln muss, durch die wir uns von ähnlichen, diese Frage des Kleinwohnungsbaues bis zum Überdruß 48 Ebd. S. 176. 49 J. Frank: Architektur als Symbol; wie Anm. 13.

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behandelnden Vereinen unterscheiden. […] Ich bin wie auch viele andere der Ansicht, dass die Form eine sehr wichtige Rolle spielt, die neben der freilich wesentlicheren des Grundrisses etc. nicht vernachlässigt werden darf. Ich überschätze sie keineswegs. Hier wird dies aber in jeder Weise zurückgewiesen, während alle in Wirklichkeit an nichts anderes denken und sie somit maßlos übertreiben. Diese Art aneinander vorbeizureden, macht jedes Besprechen unmöglich und ich sehe keine Möglichkeit auch in späteren Tagungen etwas zu erreichen.50

Josef Frank war dennoch einer der wenigen Architekten, der sich auf theoretische Auseinandersetzungen über Kunst und Architektur intensiv einließ. Bis zu dadaistischen und konstruktivistischen Ansätzen stieß er dabei nicht vor, weshalb er an zahlreichen Debatten über die Thematik des Verhältnisses von Form und Inhalt letztlich nicht teilnahm. Als eine der Arbeitshypothesen wurde in diesem Aufsatz eine ausgeprägte Identifikation der Wiener Intellektuellen der 1920er Jahre mit der Stadt im Allgemeinen postuliert. Als Karl Kraus einen seiner Artikel mit »Die Stunde des Todes« betitelte, so geschah dies u. a. auch aus einem kulturkritisch bestimmten Engagement für die Stadt heraus. Es war ihm unerträglich, dass jemand wie der Zeitungsverleger Imre Bekessy, den er für korrupt hielt, gegen den er Prozesse anstrengte und dessen Boulevardjournalismus er als gefährlichen Angriff auf die Sprach-Kultur denunzierte, sich in Wien aufhielt und das geistige Klima der Stadt mitprägte: Aber die Bestrebung, ihn aus dem Land zu bringen […], hielt ich für die lebenswichtigste, ja die geistigste und sublimste Aufgabe, die einem heute und hier gewährt ist, wenn man überhaupt die Leidenschaft hat, dem Vaterlande nützlich zu sein, und ich kann von mir sagen, daß ich mich dieser Aufgabe mit einem Patriotismus hingegeben habe, dem in der Geschichte des Weltkriegs kaum ein Beispiel an die Seite zu stellen wäre.51

Ähnliches war unter den Intellektuellen und Künstlern des »Roten Wien« wiederholt anzutreffen. Bei Josef Frank ist zwar von explizitem Engagement für die Stadt zwar kaum die Rede, doch mit seinen realisierten Projekten trug er zur Etablierung einer »gemäßigten« Avantgarde bei. In seinen Attacken gegen das Bauhaus dürfte Frank dagegen eine wichtige Funktion der radikalen Avantgarde insgesamt übersehen oder ausgeblendet haben: dass eine durch und durch tradierte und etablierte künstlerische Position, – jene die heute als klassische 50 Josef Frank zitiert nach: Marlene Ott: Josef Frank (1885–1967) – Möbel und Raumgestaltung. Wien [Dissertation] 2009, S. 96. 51 Karl Kraus: Die Stunde des Todes. In: Die Fackel, Nr. 732–734, August 1926, S. 1–2. Zit. nach: Austrian Academy Corpus. URL: http://corpus1.aac.ac.at/fackel/. (Zugriff 23.11.14) Zur kulturkritischen Position von Kraus und zur Konfrontation mit Bekessy vgl. Irina Dsassemy : Der »Produktivgehalt kritischer Zerstörarbeit«. Kulturkritik bei Karl Kraus und Theodor W. Adorno. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 270f.

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Moderne firmiert -, wenn überhaupt, so nur mit einem radikalen Gegenprogramm zurückgedrängt werden kann. Er hat indes alles »Böse« dem deutschen Funktionalismus untergeschoben und die mobilisierende, synthetisierende Kraft des Bauhauses, die auch Thurm-Nemeth klar herausgearbeitet hat, dabei übersehen: jene Leistung, die die Durchsetzung der viel radikaleren Avantgarden (insbesondere der russischen und holländischen) erschwerte, doch den Funktionalismus international salonfähig machte. Das eingangs zitierte Theaterstück Hans Suschnys, das meines Wissens niemals breiter rezipiert, geschweige denn aufgeführt wurde, ist durchaus als konstruktivistisches Theaterstück zu bezeichnen. Man kann es jenen Kunstwerken der 1920er Jahre zurechnen, die Josef Frank als »radikal-modern« bezeichnete und die er wegen ihrer Radikalität, ihres vermeintlichen Dogmatismus ablehnte. Er hielt die konstruktivistischen Bemühungen für modische, vorübergehende Erscheinungen. Der Versuch, alles einem Schema unterordnen zu wollen, d. h. den ganzheitlichen Ansatz, den er bei den Konstruktivisten wahrzunehmen meinte, fand er problematisch, aufzwingend und z. T. sogar langweilig. In seinen mitunter polemisch formulierten Schriften führte er die verschiedensten Gründe an, weshalb Modernismus, Purismus und Konstruktivismus problematische Ismen seien. Die nachfolgend zitierte Textpassage aus einem 1934 erschienenen Artikel erlaubt, da sie über die spezifische Themenstellung hinaus auch Einblick in Franks künstlerische und architektonische Vorstellung gewährt, Rückschlüsse oder zumindest Hypothesen, wie er mit dem zitierten konstruktivistischen Theaterstück umgegangen wäre. Neben der ihm üblichen ablehnenden Einschätzungen zeichnen sich darin immerhin auch Überlegungen ab, die auf eine gewisse Offenheit gegenüber avantgardistischen Werken hindeuten. Der Wohnraum mit rechteckigem Grundriß ist der gewöhnlichste, aber auch der schlechteste, weil er überhaupt keinen Charakter hat. Je quadratischer der Grundriß ist, desto schlechter ist er. […] Man soll dann immer versuchen, den Raum auf irgendeine Weise durch Möbel und auffallende Farben zu charakterisieren, um seine Leere mit Dekorationen zu verschleiern. […] Der rechteckige Raum der Einzimmerwohnung wirkt immer wie eine Art Gefängnis. Dieser Eindruck verschwindet aber, wenn der Raum eine Einteilung hat. Die Räume haben eine geometrische Form, wie auch viele Möbel. Diese Formen sind unorganisch und machen die Einrichtung des Raumes steif. […] Der Stoff und der Teppich, deren Zeichnung nicht mehr an irgendeine Technik gebunden ist, sollen daher immer das Ornament behalten, das die Fläche teilt und sie kleiner macht. Je freier das Muster ist, desto besser. Der ›horror vacui‹, der noch immer Menschen dazu treibt, ihre Wohnungen mit unnötigem Gut vollzustopfen, wird noch mehr gesteigert durch eine mißverstandene ›Reinheit‹ der Form, die zu einem modischen Purismus entartet. Hat man dagegen einen einzigen Fleck mit einem gemusterten Stoff oder Teppich ausgefüllt, so wird man befriedigt, denn dieser zerstört geometrische Härte und Kälte (und

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damit ein abstraktes Prinzip) und füllt den Raum. Die einfarbige Fläche wirkt unruhig, die gemusterte beruhigend, denn der Betrachter wird unwillkürlich von der langsamen, ruhigen Darstellungsweise beeinflußt. Den Reichtum des Ornaments kann er nicht so schnell ergründen, die einfarbige Fläche dagegen löst er sofort auf und damit bietet sie nichts mehr von Interesse. Wer auf einem persischen Teppich sitzt, wird ruhig, wer jedoch durch Räume laufen muß, wo solche liegen, bekommt ein unsicheres Gefühl, denn er meint immer, etwas hinter sich gelassen zu haben, mit dem er nicht fertig geworden ist. Ein einfarbiger Teppich hat die gegenteilige Wirkung. Jedes Ding, dem wir Interesse entgegenbringen können (und das sollte jedes Ding in unserer Wohnung sein, sonst dient es nicht dazu, unsere persönlichen Verhältnisse auszudrücken und bleibt tot), muß irgendwie ein Rätsel für uns sein, muß etwas Geheimnisvolles verbergen, auf dessen Grund wir nicht vordringen können. Jedes Kunstwerk ist ein Rätsel. Ein Gebrauchsgegenstand kann es auf Grund seiner Form, seiner Technik, seiner Konstruktion, seiner Ornamentik oder seiner Herkunft sein, weil er auf Grund eines uns unbekannten und unergründlichen Gedankenganges entstanden ist. Deshalb haben wir eine besondere Vorliebe für fremde Gegenstände. Der Künstler, der dies alles viel schneller auffaßt, liebt das Exotische. Wenn wir allzu leicht in die Gedankengänge und Absichten eindringen können, die der Herstellung zugrunde liegen, so sind wir mit dem fraglichen Gegenstand allzu bald fertig. Er wird uninteressant, langweilig, zuwider.52

Hans Suschny war in seinem 1925 veröffentlichten Manifest der Meinung, dass der Konstruktivismus, im Unterschied zu den Nachbarländern Österreichs, letztlich eingeschränkt wirksam sei und nur den in Wien ansässigen Ma-Kreis (dem er angehörte) erreicht habe. Wir schufen den Grundriß und fanden den Spitzbogen. Damit ist das Werk des Konstruktivismus beendet. Damit begräbt sich der letzte -Ismus. […] Österreicher! In den Ländern um euch zerbrechen die Kalkmauern. In den Hirnen ringsum platzen die klassischen Vorurteile. Nur in Wien werden noch immer die Häuserwände mit ›lieblichen‹ Stukkaturen beklebt, die Zimmer mit violetten Akten und blühenden Landschaften verunstaltet, die Plakatwände mit Pornographien, sentimentalen Liebespaaren und ›ästhetischen‹, stilisierten, weichfarbigen Reklamen beschmutzt.53

Suschny erklärt hier den Konstruktivismus als durchgesetzt, und zwar bevor er in Österreich überhaupt richtig angekommen sei. Dass es in Wien 1925 keine modernen Häuser gab, ist natürlich eine zugespitzte Argumentation. Richtig ist aber, dass es 1925 die Wiener Werkbundsiedlung noch nicht gab; jene Siedlung, die mittlerweile als ein synthetisierendes Manifest der Wiener Moderne figuriert 52 Josef Frank: Raum und Einrichtung. In: Tano Bojankin (Hg.): Josef Frank. Schriften in zwei Bänden. Bd. 2; (wie Anm.12), S. 296–298 [288–304]. [Der Artikel erschien ursprünglich auf Schwedisch unter dem Titel »Rum och inredning«. In: Form, Jg. 30, Nr. 10. Stockholm 1934. (Übersetzung aus dem Schwedischen von: Peter Gebhart, Hermann Czech und Dagmar Grill, Sabina Prudic-Hartl)]. 53 Hans Suschny : Manifest [Ausschnitt]. In: Ma, Jg. 10, Nr. 2/1925. S. 10–12.

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und aus heutiger Sicht als Inbegriff der Wiener Avantgarde zu verstehen ist. Die 2012 stattgefundene Ausstellung im Wien-Museum und die einschlägigen Beiträge des Ausstellungskatalogs stützen diese These. Als »ein Ganzes ist die Werkbundsiedlung« vor allem deshalb zu sehen, so Wolfgang Kos im Vorwort des Katalogs, »weil sie von kohärenten Ideen getragen war : einerseits glückliches Wohnen (Glück und neu waren omnipräsente Versatzstücke fortschrittlicher Parolen), andererseits Kritik an einer strengen Auslegung des Funktionalismusbegriffs«54. »Als Manifest«, schreibt Otto Kapfinger resümierend in seinem Aufsatz, »verkörpert diese kleine Siedlung in Lainz zentrale Inhalte der Architektur- und Kulturgeschichte ihrer Zeit.« Es handelt sich um »ein Dokument der liberalen, fortschrittlichen Kritik sowohl am kleibürgerlichen Pathos der Gemeindebauten als auch am avantgardistischen Pathos technischer Dogmatik.«55 Die Werkbundsiedlung entstand jedoch nicht allein aus fachlich-konzeptuellen Positionierung, sondern sie zielte auch auf allgemeine Bedürfnisse des Menschen ab; so z. B. darauf, dass der Mensch, der nach der Arbeit nach Hause kommt, in seiner Wohnung nicht weiterarbeiten, sondern sich entspannen und Glück empfinden möchte. Alle Menschen haben, so Franks oft geäußerte Ansicht, auch sentimentale Bedürfnisse. Ein gemütliches, Freiheit gewährendes Haus, dem sich ein Garten anschließt, kann zur Beglückung des Menschen wesentlich beitragen. »Es ist genau dieses Prinzip der Beglückung der Menschen«, wie Sabrina Rahman festhält, »das sich mit den architektonischen Vorstellungen hinter der Werkbundsiedlung deckt und zugleich die Verwirklichung von Otto Neuraths Konzept des ›Glücksmaximums‹ andeutet.«56

54 Wolfgang Kos: Vorwort. In: Andreas Niehaus/Eva Maria Orosz (Hgg.): Werkbundsiedlung Wien 1932. Ein Manifest des neuen Wohnens. = Ausstellungskatalog Wien Museum. Salzburg: Müry Salzmann 2012. 55 Otto Kapfinger: Anspruch und Ausgang. In:Ebd., S. 55–57, bes. S. 36–63. 56 Sabrina Rahman: »Glückliches Wohnen« und »Lebendiges Schaffen«. Otto Neurath, Josef Frank und die Werkbundsiedlung als Lebensmodell. In: Ebd. S. 90–95, bes. S. 94.

Barbara Les‚k

Die österreichische Theateravantgarde 1918–1926. Ein Experiment von allzu kurzer Dauer

1.

Voraussetzungen – Kontexte

An die bedeutende Theatertradition, die auch im klein gewordenen Österreich der Ersten Republik in der ehemaligen Kaisermetropole Wien immer noch (auch im Vergleich zu Deutschland) eine wichtige Rolle spielte, klammerten sich große Teile des kulturpolitischen Apparates wie an einen Strohhalm. Für grundlegende ästhetische und strukturelle Reformeingriffe am Theaterbetrieb der offiziellen Staatsbühnen wie Burg und Oper, in denen sich die einstige Größe der Nation noch immer widerzuspiegeln schien und die noch nie Motoren der Veränderung waren, gab es daher keinen allzu großen Bedarf. Denn diese Institutionen wurden alsbald zu wichtigen Identifikationsfaktoren emporstilisiert, an denen man sich zur alten Größe aufrichten zu können vermeinte. Zwar hatte man nach Außen hin an Glanz und Gewicht verloren, doch die Bedeutung der großen Hofbühnen, nun in ›Staatsbühnen‹ umgewandelt, war erhalten geblieben, was sich u. a. in den durchaus richtungsweisenden Besetzungsentscheidungen für das Burgtheater (Albert Heine) und das Deutsche Volkstheater (Alfred Bernau) ausgedrückt hat1. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als trotz der katastrophalen Kriegsfolgen eine bemerkenswerte kulturelle Aufbruchsstimmung zu verspüren war, weil neue gesellschaftliche Kräfte zu politischer Mitverantwortung aufgestiegen waren und bislang unbekannte Möglichkeiten breiterer Mitgestaltung sich eröffneten, flammten abseits des regulären Theaterbetriebs vor allem in 1 Zu den politischen Kontexten in Österreich und Europa um 1918 vgl. Helmut Konrad, Karin M. Schmidlechner (Hgg.): Revolutionäres Potential in Europa am Ende des Ersten Weltkrieges. Die Rolle von Strukturen, Konjunkturen und Massenbewegungen. Wien-Köln-Weimar: Böhlau 1991; ferner Armin A. Wallas: Drama der Revolution – Theater der Revolution? Revolutionäre Österreich-Konzeptionen im Theater der frühen Ersten Republik. In: Ders.: Österreichische Literatur-, Kultur- und Theaterzeitschriften im Umfeld von Expressionismus, Aktivismus und Zionismus. Hg. von Andrea M. Lauritsch. Wuppertal: Arco 2008, S. 215–253, bes. S. 218f.

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Wien unterschiedlichste, von neuen Kunstströmungen wie Futurismus und Konstruktivismus inspirierte Ideen auf, wie das Theater zu reformieren oder gar zu revolutionieren sei. Neben einem sogenannten Kopftheater gab es aber auch einige wenige Projekte, die umgesetzt wurden. Diese theaterpraktischen Projekte zielten kompromisslos auf ein modernes, auf die Gegenwart reagierendes Theater ab. Die Protagonisten, die solche Neuorientierungen anstrebten, waren in Österreich durchwegs sehr unterschiedliche Einzelkämpfer, wie z. B. Jakob Levy Moreno oder Friedrich Kiesler, die ihrer Zeit voraus waren, deshalb zumeist aber auch wirkungslos in ihren Bestrebungen zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen in der Theaterrealität blieben. Ihre Ideen, Experimente und Projekte gerieten nämlich bald nach 1925, als die erste euphorische Welle der Avantgarde vorbei war und sich sukzessive eine Desillusionierung breit machte, ins Hintertreffen. Das lange, nachhaltige Vergessen der österreichischen Theateravantgarde setzte dann in den dreißiger Jahren auf Grund der politisch brisanten Umbrüche ein. Die Kulturpolitik des Austrofaschismus (ab 1934) und in der Folge des Nationalsozialismus (ab 1938) zielte auf eine Verfemung der Avantgardebewegungen ab. Nach 1945 dauerte es unverhältnismäßig lange, der Wiederentdeckung der Avantgarde den Boden zu bereiten. Es ist daher an der Zeit, dass diese Protagonisten – unter ihnen auch Persönlichkeiten jüdischer Herkunft, die sich in die Emigration retten konnten – endlich aus dem Dunkel der Geschichte treten können. Über Jahrhunderte hinweg erfüllte das Theater seine Funktionen innerhalb der ihm zukommenden dramatischen Theorie und Praxis. Überaus lange hatte es daher seine Position als moralische Anstalt ebenso wie als populäres Unterhaltungsmedium halten können. Kleine Justierungen und Anpassungen an veränderte dramaturgische Regeln sowie an neue Spiel- und Bühnentechniken gab es wohl immer wieder, doch sie verblieben meist im Rahmen der Tradition. Das veränderte sich schlagartig, als gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Vielfalt technischer Erfindungen und gesellschaftlicher Umwälzungen massiv ins soziokulturelle Leben der Menschen eingriff, wovon das der Theaterschaffenden nicht ausgenommen blieb: Der Phonograph, das Telefon, das Radio, die Fotografie und als Gipfel der neuen, faszinierenden Unterhaltungs- und Kommunikationstechnik die Kinematografie – um nur die größten Erfindungen auf dem Gebiet audio-visueller Techniken zu erwähnen. Daran sollten sich von nun an, das heißt seit Beginn des 20. Jahrhunderts, die alten Kulturtechniken messen. Vor allem der Film, aber auch die neuen attraktiven Massenveranstaltungen wie z. B. große Sportereignisse (Autorennen, Flugshows u. a.) sowie populäre theatralische Vergnügungen wie das Cabaret, die Music Hall oder das Variet¦ ließen das Theater plötzlich altmodisch aussehen, obwohl es immer wieder, etwa

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im Umfeld von Gastinszenierungen, zu interessanten, auch die neuen medialen Möglichkeiten integrierenden Theaterereignissen kam.2 Die mit einer Ausnahme unter dem weiten Dach der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie geborenen Protagonisten, die in den 1920er Jahren auf den Plan treten, um das Theater von Grund auf zu reformieren, lassen sich in unterschiedliche Typen einteilen. Die hier getroffene Auswahl – das sei vorweg gesagt – ist subjektiv und entspricht nicht den gängigen Kriterien einer theaterhistorischen Sicht, die sich eher auf professionelle Theaterschaffende konzentrieren würde als – wie hier – Kandidaten aus Avantgardezirkeln, aber auch aus theaterferneren Berufsfeldern auszuwählen. Nicht ihre berufliche Herkunft oder ihr Wirken auf welchem Gebiet auch immer ist hier von Relevanz, sondern ihre grundlegend neue, obsessive oder originelle Perspektive für das Theater. Zunächst ist es der elitäre Typus des Visionärs und Utopisten, der das Theater derart radikal denkt, dass es in der Zeit, in der er es propagiert, nicht zu realisieren oder nur exklusiven Zirkeln Gleichgesinnter vorbehalten war. Zu dieser Kategorie gehören Friedrich Kiesler, ein durch und durch zukunftsorientierter Theatervisionär, der auch in anderen Kunstsparten stets nur das Aktuelle und Neueste extrahierte; Rudolf Steiner, der unter seinen vielen Rollen auch die eines Theatervisionärs inne hatte und als solcher an einer anthroposophisch orientierten Theatererneuerung arbeitete, die sich zugleich als traditionsbewusst und revolutionär verstand, und schließlich der Mediziner, Psychoanalytiker sowie expressionistische Theatervisionär und Zeitschriftenbegründer Jakob Levy Moreno, der dem Theater völlig neue Funktionen beimaß und es dabei auch in therapeutische Gewässer steuerte3. Für den mehr zur Reflexion denn zur Proklamation neigenden Typus des Kritikers und Theoretikers, der den Jetzt-Zustand des Theaters analysiert und aus dem positiv Vorhandenen neue Wege für das Theater sucht, stehen der Architekt Adolf Loos sowie Lajos Kass‚k, der ungarische Konstruktivist und linke Aktivist, der 1920–1926 in Wien im Exil lebte, und von hier aus seine höchst zeitgemäßen Ideen zum Theater

2 Zur Geschichte des Cabarets vgl. Rudolf Weys: Cabaret und Kabarett in Wien. MünchenWien: Jugend & Volk 1970 sowie kompakt: http://www.kabarettarchiv.at/Ordner/geschichte. htm (Zugriff vom 12. 3. 2015). 3 Vgl. Brigitte Marschall: »Ich bin der Mythe«: von der Stegreifbühne zum Psychodrama Jakob Levy Morenos. In: Institut für Theaterwissenschaft an der Universität Wien (Hg.): Maske und Kothurn. Beiheft 13. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1988., bes. S. 54: »Glaubte Moreno ursprünglich das Theater und den ästhetischen Anspruch revolutionieren zu können, sah er nun im darstellenden Spiel eine mögliche Therapieform.« Ferner dazu: Ulrike Fangauf: Moreno und das Theater. In: Ferdinand Buer (Hg.): Morenos psychotherapeutische Philosophie. Opladen: Beske+Budrich 3.Aufl. 1999, S. 95–115, bes. S. 104f. (zum Stegreiftheater-Experiment).

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entwickelte4. Und schließlich ist an den Typus des Theaterpraktikers zu erinnern, der nicht nur theoretisch für eine Erneuerung des Theaters kämpft, sondern an einer direkten Umsetzung interessiert war wie die Malerin Erika Giovanna Klien, zugleich eine der führenden Vertreterinnen des Wiener Kinetismus, oder der pragmatisch funktionalistisch ausgerichtete Tiroler Architekt Hans Fritz, wobei in diese Kategorie auch Friedrich Kiesler gehört, da ihm doch einige Realisierungen wie 1923 die Elektro-mechanische Kulisse oder 1924 die Raumbühne gelungen sind.

2.

Visionäre und Utopisten: Friedrich Kieslers Railway-Theater und Raumbühne, Rudolf Steiners Bühne am Goetheanum und Jakob Moreno Levys Theater ohne Zuschauer.

Der 1890 in Czernowitz geborene Friedrich Kiesler kam erst 1908 zum Studium nach Wien. Seine beiden Studien, zunächst Architektur, dann Malerei und Grafik, schloss er – was sich für ihn als ein Glücksfall herausstellen sollte – nicht ab. So vermied er, vorzeitig auf den Status eines Spezialisten festgelegt zu werden und konnte, seinen vielseitigen Begabungen folgend, sich dank der neuen, supranationalen, elementaren geometrischen Kunstsprache des Konstruktivismus als Gestalter vielfältiger kreativer Aufgaben annehmen. Die Rolle des Visionärs und Utopisten, die er sein ganzes Künstlerleben hindurch ausfüllte, war ihm auf den Leib geschrieben. In den 1920er Jahren war der Visionär überdies jene Gattung Mensch, die in den kulturell-künstlerischen Metropolen nachgefragt war, um die Gestaltung der Welt nach einem neuen, noch unbekannten Muster in Angriff zu nehmen. Man denke nur an den De Stijl-Künstler Piet Mondrian, den holländischen Pionier der Abstraktion, der sein Prinzip des Neoplastizismus für alle Lebens- und Gestaltungsfragen parat hielt. Es nimmt nicht Wunder, dass gerade Kiesler – übrigens als einziger österreichischer Künstler – zum Mitglied der holländischen De Stijl-Gruppe erwählt wurde5, kreierte er doch das Theater als eigenen Kosmos, der alle Facetten einer zukünftigen Vision von Welt modellhaft in sich barg. Kiesler verschaffte sich bekanntlich zunächst als Theaterkünstler in Berlin Gehör. 1923 kam er auf Einladung des Regisseurs Eugen Robert nach Berlin, um dort für R.U.R., das damals zum Welterfolg eilende Science-Fiction-Stück des ˇ apek, ein Bühnenbild zu entwerfen. Daraus tschechischen Dramatikers Karel C 4 Zu Kass‚k und Wien vgl. Zolt‚n Peter : Lajos Kass‚k, Wien und der Konstruktivismus. Frankfurt/M. u. a.: P. Lang 2010. 5 Vgl. Michael White: De Stijl and Dutch Modernism. Manchester : Manchester Univ. Press 2003, mit Bezugnahme auf Kiesler S. 139.

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entstand die Elektromechanische Kulisse, die zum durchschlagenden Sinnbild des neuen Maschinenkults in den Künsten der Zwanziger Jahre wurde. Schon damals war sich Kiesler sehr wohl bewusst, etwas Neues geschaffen zu haben6. Denn er hatte weder eine realistisch noch expressionistisch oder monochrom bemalte Kulisse entworfen, sondern eine Kulisse, die sich aus verschiedenen Apparaten mit optischen oder akustischen Funktionen zusammensetzte und als Maschinenkomplex unterschiedliche Funktionen übernahm: Aussenden von Lichtsignalen, Lautsprecherdurchsagen, Filmprojektionen, Erscheinen von Miniaturszenen mit Hilfe eines optischen Trickgeräts (Tanagra-Theater) usw. Daneben schrieb der mit großem Talent ausgestattete Kiesler im Berliner Tagblatt und im Börsen-Courier seine Reformideen für das Theater nieder. So schlagend hatte sie noch keiner formuliert, weder die mit dem professionellen Theater unzufriedenen Theaterkünstler noch die überaus fortschrittlich gesinnten Bauhaus-Künstler, die sich intensiv mit dem Theater beschäftigten, aber unter Lothar Schreyer expressionistisch geprägt und unter Oskar Schlemmer vor allem auf den Tanz fixiert waren. Kiesler lehnte ganz apodiktisch die ›lauwarmen‹, wie er sich ausdrückte, »reformierte(n) Bühnenmaskeraden«7 ab. Dem hielt er entgegen: »Soll das Theater uns noch etwas zu sagen haben, soll es ein lebendiger Faktor der Zeit sein, dann muss es aus dem Boden der Zeit wachsen.«8 Die in Berlin verfassten Zeitungsartikel Das Theater der Zeit sowie die in zwei Teilen erschienenen Texte Schauspieler, Bildbühne, Raumbühne9, bilden die Vorstufe für sein späteres Manifest, in dem er seine radikal technoide Theatervision formuliert. Diese in schlagkräftige, knappe Worte gegossene TheaterUtopie erscheint 1924 unter dem Titel Das Railway-Theater10 im Katalog der von Kiesler organisierten und gestalteten Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik, die in Wien einen Überblick über Europas Theateravantgarde bot. Kiesler hat mit diesem Text seine für ihn so typische polemische Form gefunden. Vom essayistisch abwägenden, argumentierenden Stil geht er über zu einem apodiktischen sowie proklamierenden Stil des Visionärs. Die Überzeugungsarbeit erfolgt nicht allein durch Argumentation, sondern durch die große 6 In einem Brief vom 22. Mai 1923 an den fortschrittlichen Architekturpublizisten Adolf Behne beschreibt Kiesler mit gewissem Stolz seine Neuerungen im Bühnenbild für Karel ˇ apeks R.U.R.: »Ich habe daher den Versuch unternommen, den Bühnen-Raum in die C Hauptprospektfläche zu projizieren« zit. nach: Bauhaus-Archiv, Berlin, Inv.-Nr. 1997/36.82. 7 Friedrich Kiesler : »Das Theater der Zeit«. In: Barbara Les‚k: Die Kulisse explodiert. Friedrich Kieslers Theaterexperimente und Architekturprojekte 1923–1925. Wien: Löcker 1988, S. 42. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 63–69. 10 Friedrich Kiesler : »Das Railway-Theater«. In: Friedrich Kiesler (Hg.): »Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik«. Katalog. Wien: Würthle & Sohn 1924. Reprint: Löcker und Wögenstein 1975, o. S.

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sprachlich Geste, die emphatische Haltung, die pathetische Übertreibungsformel, die den Leser mitreißen soll in ihm unbekannte Gefilde. Ausgangspunkt für Kiesler ist seine überbordende Technikeuphorie, aus der heraus das RailwayTheater seine Form annimmt. Sie inspiriert sich, wie dieses von Kiesler genial erfundene Kompositum schon sagt, an den ›Railways‹, der amerikanischen Bezeichnung für die in Stahlskelettbauweise errichteten tollkühnen ›Achterbahnen‹. Das Railway-Theater bezieht sich formal sowohl auf die großen Sportstadien für den neuen Massensport als auch auf die Kurvenform, wie sie auf der hypermodernen Teststrecke für Automobile am Dach der Fiat-Fabrik in Lingotto zur Anwendung kam. Kiesler hat sie alle aufgesaugt, diese neuen Phänomene seiner Zeit, und sie für die Konstruktion eines neuen Theatertypus – das Railway-Theater – dienstbar gemacht. All diese neuen Ingredienzien fasste er wie folgt zusammen: »Das Theater der Zeit ist ein Theater der Geschwindigkeiten. Deshalb ist seine konstruktive Form und das Spiel der Bewegung poly-dimensional, das heißt: sphärisch.«11 Sein Railway-Theater ist größtmöglicher Transparenz verpflichtet und folgt dabei einem Dogma des neuen Bauens. Allerdings wird es von Kiesler in einer Weise durch nicht existente Baumaterialien von sagenhafter Transparenz derart hypertrophiert, dass er »(p)lastische Formen […] aus glasartigem Ballonstoff«12 einfordert. Anstatt der Kulissen-Dekoration schlägt er Filmprojektionen vor, um eine akzentuierte »Milieu-Suggestion«13 zu erreichen. In dieser abstrakten Bühnenwelt, die Kiesler hier entwirft, wird auch der Schauspieler dem Prinzip des Mechanischen unterworfen und zum lenkbaren Objekts innerhalb eines wie eine Maschine funktionierenden Theatermechanismus. »Der individualistische Schauspieler«, so Kieslers Forderung, »verschwindet vollständig in einer übernatürlichen Typenform.«14 Die Spielvorlage, seit alters her die schriftlich niedergelegte Komödie oder Tragödie (alle Formen des improvisierten Spiels beiseite genommen), wird von Kiesler rundum abgelehnt. Die Verbannung des Wortes von der Bühne, die Opposition gegen die Übermacht des Dramatikers, die Befreiung aus den Fesseln einer Handlung, der Ausstieg aus dem RealismusDiktat – das sind Kriterien, die Kiesler vom futuristischen Theater übernimmt. Denn das moderne Theater seiner Zeit, so Kieslers Kritik, hätte sich nicht wirklich vom Realismus befreit. Die Wirklichkeitswiedergabe auf der Bühne hielt sich beharrlich: sie konnte tiefenpsychologisch ausgelotet sein wie bei Konstantin S. Stanislawski, verzerrt und übersteigert wie beim expressionistischen Theater, banal wie am Boulevardtheater oder aber radikal-politisch wie 11 12 13 14

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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auf der Bühne eines Erwin Piscators, – aber in allen genannten Fällen blieb sie letztlich einem Realismus-Gebot verpflichtet. Kiesler wertet im Railway-Theater-Manifest die Funktion des Dramatikers bzw. des Dichters in die eines technisch versierten Ingenieurs um, der zugleich ein an szenischen Abläufen mit abstrakten Formen, Licht- und Toneffekten interessierter Künstler zu sein hat. Kiesler konstatiert: »Der Dichter unserer Zeit ist Ingenieur der mit höchster mathematischer Präzision berechneten optophonetischen Spielsymphonie.«15 Kiesler gelingt es als einzigem unter seinen Künstlerkollegen immerhin, einen Teil seiner Theatervision, die Raumbühne, zu realisieren. In der technisierten Vision des Manifests mutet sie noch sehr utopisch an: Die Raumbühne des Railwaytheaters, des Theaters der Zeit, schwebt im Raum. Sie benützt den Boden nur mehr als Stütze für ihre offene Konstruktion. Der Zuschauerraum kreist in schleifenförmigen elektromotorischen Bewegungen um den sphärischen Bühnenkern.16

In der realisierten, von Kompromissen geprägten Form von 1924, aufgebaut im Mittleren Saal des Wiener Konzerthauses für die Dauer von drei Wochen während der Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik, bestand die Raumbühne aus einem runden Turm mit schleifenförmigen Rampen als Spielfelder und einer obersten runden Bühnenplattform sowie einem elektrischen Lift in der Turmachse zur Beförderung der Schauspieler zu den Spielfeldern. Das Publikum saß u-förmig auf dem Balkon des Konzertsaales um das oberste Bühnenrund herum. Diese bühnentechnische Kompromissform jedoch genügte, um einen unglaublichen Sturm sowohl negativer als auch zustimmender Kritik zu entfachen. Kieslers Raumbühnen-Experiment lebte allerdings nur für kurze Zeit in den Köpfen der Theaterkritiker weiter. Der Erfinder der Raumbühne war 1925 schon nicht mehr in Wien, sondern bereits in Paris.1926 hatte er Europa hinter sich gelassen, um in New York sein Leben als Visionär zunächst des Endless Theatre, später auch des Universal Theatre, erfolgreich weiter zu führen17. Rudolf Steiner (1861–1925) ist der älteste unter den sogenannten Theatervisionären und wahrscheinlich auch der umstrittenste. Auf Grund seines Wirkens in den von seinem anthroposophischen Ideengut durchtränkten, sektiererisch agierenden Glaubenszirkeln – 1913 kam es zum Bruch mit der 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Einen Überblick über das gesamte theatralische Schaffen Kieslers bietet der Beitrag der Autorin: Die Theaterbiographie des Frederick J. Kiesler. Stationen eines Theatervisionärs: Czernowitz, Wien, Berlin, Paris, New York. In: Barbara Les‚k und Thomas Trabitsch (Hgg.): Frederick Kiesler : Theatervisionär–Architekt–Künstler. Ausstellungskatalog. Wien: Österreichisches Theatermuseum, Brandstätter 2012, S. 19–121.

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Abb. 1: Friedrich/Frederic Kiesler : Die Raumbühne (1924) Ó Österreichische Nationalbibliothek Wien.

Theosophischen Gesellschaft, die zur Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft unter der Leitung Steiners führte – hatte ihn die österreichische Theatergeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts nicht wirklich wahrgenommen bzw. an den Rand gedrängt. Ihr spielte auch der Umstand in die Hand, dass das Zentrum seiner Theateraktivitäten nie in Österreich selbst lag, sondern hauptsächlich in der Schweiz und zwar in Dornach, dem Ort, wo Steiner seine Aktivitäten konzentrierte, da er hier ein Areal zur Verfügung gestellt bekam, um seine lebensreformerischen Aktivitäten zu realisieren. Zu ihnen gehörte neben der Baukunst vor allem das Theater wie auch die von Steiner entwickelte Bewegungskunst, die Eurythmie. Hier entstand von 1925 bis 1928 nach Plänen von Steiner posthum das zweite Goetheanum (das erste wurde 1923 durch einen Brand vernichtet), das sich vom ersten Bau ganz wesentlich durch seine expressiv-plastische Gestaltung unterschied, die durch die Verwendung des organisch formbaren Baumaterials Stahlbeton ermöglicht wurde. Die enorme Bedeutung, die Steiner dem Theater im Hinblick auf seine Bewegung beimaß, kommt in diesem Festspielhaus, das einen tausend Zuschauer umfassenden Saal mit großer Bühne beherbergt, gut zum Ausdruck. Es lohnt sich, die Theaterideen von Steiner genauer zu betrachten – zumal Steiner aus einer intensiven Kenntnis sowohl der Schauspielkunst als auch der Dramenliteratur, wie sie am Burgtheater seiner Zeit gepflegt wurde, schöpfte, um seine

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Abb. 2: Hauptfassade des Zweiten Goetheanum (1928, Dornach, Rudolf Steiner) Ó Goetheanum, Dornach, CH.

neue Form des Zugangs zur Schauspielkunst wie auch zur Theaterarchitektur und Inszenierung teilweise im Widerstand dazu oder in dessen Wertschätzung zu artikulieren. Vom 5. bis zum 23. September 1924 hielt Steiner in Dornach eine nicht nur von seinen Anhängern viel beachtete Vortragsreihe zur Sprachgestaltung und dramatischen Kunst18. Auch in seinen Theatervisionen war er von einem Erneuerungswillen getragen wie in den Zwanziger Jahre viele seiner Zeitgenossen unter den Künstlern – nur unter ganz anderen Vorzeichen. In seinen Vorträgen brachte er, sparsam dosiert, auch seine Kritik am Theater seiner Zeit zum Ausdruck. So verurteilte er die seiner Ansicht nach allzu ästhetisierende Illusionskunst des »Reinhardtismus«19 ebenso wie den plakativen Realismus des naturalistischen Theaters. Von den ultramodernen, von Maschine und Technik inspirierten, abstrakten Theaterexperimenten hatte er dagegen wohl wenig Kenntnis; jedenfalls schienen sie auf seinem Radarschirm, auf dem er wahrlich viel auffing, nicht auf und wurden daher auch nicht von ihm kritisiert. Steiner konzentrierte sich ganz auf die Sprachgestaltung des Schauspielers, 18 Rudolf Steiner, Marie Steiner-von Sivers: Sprachgestaltung und Dramatische Kunst. Vorträge über Sprachgestaltung. Dornach/Schweiz: Rudolf Steiner 1981. 19 Abfälliger Ausdruck von Steiner gegen die Inszenierungsweise des berühmten österreichischen Regisseurs Max Reinhardt (1873–1943).

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zu der er ein sehr eigenwilliges System der Lautbehandlung entwickelt hatte, das von einem ungeheuren Wissen um die Physiologie der Sprechorgane und der Prosodie geprägt war. Mit einer erlesenen Sprachkultur, die er für die Bühne forderte, stand er außerhalb seiner Zeit ebenso wie mit seiner Gestik- und Mimiklehre, die er von den fünf olympischen Disziplinen der alten Griechen ableitete. Der Herausgeber der Bühne, Hans Liebstöckl, der in Dornach unter den Zuhörern war, veröffentlichte allerdings erst 1926, als Steiner bereits verstorben war, einen Bericht20 darüber. Liebstöckl erinnert sich darin an Steiners Empfehlungen an die Schauspieler, esoterische, also irrationale (im Gegensatz zum von ihm verpönten realistischen Theater) sowie okkulte, also übersinnliche, Praktiken zu üben, um dem Theater wieder ein Geheimnis und eine Aura zu verleihen, wie es solches bereits in den antiken Mysterienkulten hatte, aus dem heraus es ja entstanden ist. In den heute noch in Dornach aufgeführten Inszenierungen der vier Mysterienspiele, die Steiner zwischen 1910 und 1913 verfasst hatte, werden diese Spieltechniken und seine besondere Dekorations- und Kostümkunst gepflegt21. Als Erneuerer des Theaters erwies sich Steiner jedoch in seinen bahnbrechenden Überlegungen zur Lichtregie. Er wollte die Vorgänge auf der Bühne in abstrakte, jedoch auf farbpsychologischen Erkenntnissen beruhende FarbLicht-Orgien tauchen, womit er an das sinnliche Verstehen des Zuschauers zu appellieren trachtete. Mit seinem Rückzug auf das Geistige (Übersinnliche) durch Entfesselung sinnlicher Effekte wie durch farbiges Licht und spezielle Farbgebung in den Kostümen wehrte sich Steiner gegen den Rationalismus und Naturalismus seiner Zeit. Er war darin in geistiger Verwandtschaft mit einem Pionier der Abstraktion wie Wassily Kandinsky, der in seinem Theaterstück Der gelbe Klang von 1912 ähnliche, radikal abstrakte Farbräume imaginierte. Als 2010 zum 85. Todestag von Rudolf Steiner eine allumfassende wie eindrucksvolle Retrospektive seiner stupenden Tätigkeiten vom Designmuseum Vitra veranstaltet wurde, setzte sich Julia Althaus mit seinem Theaterschaffen ausführlich auseinander. Sie kam trotz aller Widersprüchlichkeiten im theatralischen Werk Steiners, das stark zwischen Esoterischem und Traditionellem oszilliert, zum Schluss: »Doch gerade in seiner Überwindung des Realismus kann man ihm eine Modernität zugestehen […]«22 20 Hans Liebstöckl: »Rudolf Steiners Gedanken über die Bühnenkunst«. In: Die Bühne, Heft 96, Wien, 1926, S. 12. 21 Es handelt sich um die Dramen Die Pforte der Einweihung, Die Prüfung der Seele, Der Hüter der Schwelle und Der Seele Erwachen; sie sind von Goethes Märchen in seinen Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter inspiriert. 22 Julia Althaus: »Rudolf Steiner und die darstellenden Künste«. In: Matteo Kries, Alexander von Vegesack (Hgg.): Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags. Weil am Rhein: Vitra Design Museum 2010, S. 62.

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Kiesler hatte 1924 einen Konkurrenten und zwar den Arzt und Psychiater Jakob Levy Moreno (1889–1974), der ihn des Plagiats23 bezichtigte und behauptete, er sei der wahre Erfinder der Raumbühne. Der aus Rumänien stammende und 1919 in Österreich eingebürgerte Levy Moreno war eine ungemein schillernde Persönlichkeit: Neben seiner medizinischen Disziplin war er schriftstellerisch wie verlegerisch tätig und machte vor allem aber auch mit seiner völlig neuen Spieltheorie, des von ihm neu interpretierten Stegreifspiels, von sich reden. Er schuf das sogenannte ›Stegreiftheater‹, das gleichfalls eine Rundbühne aufwies, die er vor der Kieslerischen Raumbühne erfunden haben wollte. Aus der Distanz der Zeit und im Rückblick betrachtet, muss man beim Vergleich der beiden Bühnenformen – Raumbühne versus Rundbühne des ›Stegreiftheaters‹ – feststellen, dass sie vom Prinzip her grundverschieden sind. Es ist verbürgt, dass Kiesler den Begriff Raumbühne24 bereits 1923 in Berlin für seine Bühnenbildkonstruktion prägte, die er für Eugen O’Neills Drama Kaiser Jones entworfen hatte. Die Raumbühne ist in der Folge zu einem veritablen Terminus technicus geworden, der mit Kiesler untrennbar verbunden ist und für eine ganz neue, vom traditionellen Guckkasten befreite Bühnenform des Maschinenzeitalters steht. Bei Levy Moreno, dem Exzentriker des Theaters, dessen maßlos expressionistisch übersteigertes Ich in Kiesler einen Rivalen sah, ist die runde Bühnenform, die er auch nicht als Raumbühne bezeichnet, nur sekundäre Stützform für etwas primär Wichtigeres, nämlich für das von ihm völlig neu konzipierte Stegreifspiel. Sie ist nicht nur äußerlich ganz anders aufgebaut – bei dem vom Architekten Rudolf Hönigsfeld nach den Ideen Levy Morenos ausgeführten Entwurf handelt es sich um ein Konglomerat von fünf runden Bühnenformen in der Art einer Rosette, in deren Mitte die rundförmige Hauptbühne liegt –, sondern ihre Funktionsweise ist auch eine völlig andere. Die nicht minder als die Raumbühne faszinierende Idee Levy Morenos eines Theaters ohne Zuschauer, wie er die architektonische Hülle für sein ›Stegreifspiel‹ nennt, dient einem idealen Spiel der Zukunft. In diesem Zukunftstheater, in dem nicht wie im Kommunismus Klassenunterschiede, sondern die fest gefahrene, geradezu eherne Unterscheidung in passives Publikum auf der einen und aktive Schauspieler auf der anderen Seite in utopischer Weise aufgehoben würden, wollte Levy Moreno den in jedem Menschen steckenden, ureigenen schöpferischen Spieltrieb zu Tage fördern. Jeder Zuschauer war darin ein potenziell (Mit)Spielender, die Trennung von Kunst und Leben sollte nicht mehr existieren. Wie er sich das vorstellte, beschrieb Levy Moreno in seinem 1924 erschienenen Buch Das Stegreiftheater, das auf höchst komplizierte Weise eine 23 Eine ausführliche Darstellung des Plagiatsstreits befindet sich in der Publikation von Barbara Les‚k: Die Kulisse explodiert (vgl. Anm. 7). S. 112–120. 24 Friedrich Kranich konzediert in seinem Standardwerk: Bühnentechnik der Gegenwart. 2. Bd., München/Berlin: R. Oldenbourg 1933, S. 266–267, Kiesler die konsequente Anwendung und Analyse des Begriffs Raumbühne.

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Anleitung zum spontanen Spiel sein will. Das wahre Zielpublikum für diese anfangs noch etwas unklar formulierten Ideen sollte ein Therapiepublikum sein, das mit Hilfe des von Levy Moreno in den USA weiterentwickelten Psychodramas sich und seine Probleme im Spiel erkennen konnte25. Bereits 1925 hatte Levy Moreno Europa verlassen und war in die Vereinigten Staaten von Amerika eingewandert. Levy Morenos neuer Therapieansatz, der vom elementaren Spieltrieb eines jeden Menschen ausging, fiel auf äußerst fruchtbaren Boden und wurde weltweit in verschiedene therapeutische Richtungen weiterentwickelt26.

Abb. 3: Rudolf Hönigsfeld – Jakob Levy Moreno: Das Theater ohne Zuschauer (Entwurf 1924) Ó Archiv Les‚k, Wien.

3.

Die Theater-Theoretiker: Adolf Loos The Theatre27 und Lajos Kassák Revue-Konzept.

Der Architekt Adolf Loos (1870–1933) pflegte über vieles nachzudenken, zumal sein Denkradius weit gesteckt war. Dass er neben Architektur, Hygiene, Kleidung, Wohnstil und gutes Benehmen auch noch das Theater im Visier hatte, ist 25 Jacob Levy Moreno: Psychodrama und Soziometrie. Essentielle Schriften. Bergisch-Gladbach: Edition Humanistische Psychologie (2. Aufl.) 2001. 26 »Gegenwärtig kennt die Psychotherapie über dreihundert Psychodrama-Varianten, die alle Morenos therapeutisches Konzept zur Grundlage haben.« Vgl. Anm. 3, B. Marschall:«Ich bin der Mythe«, S. 59. 27 Adolf Loos: The Theatre. In: The Little Review. Special Theatre Number. New York: Winter 1926, S. 92–96. Die Zitate daraus wurden von der Autorin übersetzt.

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nicht verwunderlich; schließlich stellt das Theater für Architekten eine lohnenswerte Bauaufgabe dar. Seit 1898 arbeitete er in mehreren Etappen bis 1921 an seinem Theater für 4000 Personen28 . Wie schon die Bezeichnung erschließen lässt, sollte es ein Theater für die Massen sein. Diese in der Theaterliteratur bislang kaum wahr genommenen Entwürfe zeigen, dass Loos die Zeichen seiner Zeit früh erkannt hatte. So entwarf er ein Theater, das auf die neue, am Horizont sich abzeichnende Massengesellschaft abgestimmt sein sollte. Zu ihr gehörte die zahlenmäßig dominierende Klasse der Arbeiter und kleinen Angestellten, die man – nach Ansicht von Loos– nicht mehr vom elitär höfisch-bürgerlichen Theater ausschließen sollte29. Auch formal ist dieser Entwurf sehr ungewöhnlich, weil er für das Theaterinnere eine Blasenform vorschlug, wie sie etwa fünfzig Jahre später sehr detailliert von Friedrich Kiesler in seinem Universal TheatreProjekt realisiert wurde. Es ist nicht bekannt, ob Loos die Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik in Wien besucht und dort vielleicht auch eine Aufführung auf Kieslers Raumbühne erlebt hat. Für einen Besuch spricht der Umstand, dass er in seinem Text The Theatre auf die Raumbühne als eine Bühnenform verweist, der er eine große Zukunft prophezeit. Als Kiesler 1925 eingeladen wurde, die österreichische Theaterausstellung auf der Exposition Internationale des Arts D¦coratifs et Industriels Modernes in Paris zu gestalten, dürften sich die beiden dann wohl getroffen und kennengelernt haben. Kiesler blieb das Jahr über in Paris, da er von dort aus eine dritte Version einer Theaterausstellung organisieren wollte, die in New York Anfang des Jahres 1926 stattfinden sollte. Dazu hatte ihn Jane Heap, die amerikanische Herausgeberin des Avantgardeblattes The Little Review, eingeladen. Von Paris aus trieb er seine europäischen Freunde, die sich ebenfalls für ein neues Theater eingesetzt hatten, an, Beiträge für den New Yorker Katalog beizusteuern. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Loos auf Kieslers Anregung hin diesen Text geschrieben hat. Der Text von Loos ist bis heute weitgehend unbekannt geblieben, da der englischsprachige Katalog nicht den Weg nach Europa fand. Loos entwickelt in diesem kurzen, nicht mehr als drei Seiten umfassenden Text seine geradezu pessimistisch grundierten Ansichten über das Theater seiner Zeit. Das heutige Theater – damit meinte Loos die Dramenproduktion seiner Zeitgenossen – habe nicht mehr die Bedeutung wie in den goldenen Epochen des europäischen Theaters, so sein mehr als pejoratives Urteil. In enger Anlehnung an Oswald Spenglers Ideen vom Aufstieg und Fall der Hochkulturen, 28 Zu seinen verschiedenen Theaterentwürfen siehe den Ausstellungskatalog: Adolf Loos. Wien: Graphische Sammlung Albertina 1989, S. 374–375, S. 380, S. 392–393, S. 396–397. 29 Loos legte seine Ansichten zur Demokratisierung der in ›Staatstheater‹ umgewandelten Hoftheater im schmalen Band: Richtlinien für ein Kunstamt. Wien: Richard Lanyi 1919, nieder.

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die dieser 1919 in seinen populären wie umstrittenen Betrachtungen Der Untergang des Abendlandes skizzierte, hielt Loos die Hoch-Zeit des Theaters ebenfalls für abgeschlossen und nicht wiederholbar30. Die Blüte des europäischen Theaters siedelt Loos in längst vergangenen Zeiten an, bei einzelnen Dramatikern wie Lope de Vega in Spanien, Shakespeare in England, MoliÀre in Frankreich sowie Goethe in Deutschland. Dieser sehr vereinfachende Nenner, mit dem Loos hier operiert, ist sicherlich der Kürze des Textes geschuldet. Daher kommt er auch rasch zum wenig erfreulichen Befund des westeuropäischen Theaters seiner Zeit, dem er, ohne lang zu zögern, den Totenschein ausstellt. Einen Hoffnungsschimmer lässt er allerdings aufglimmen, wenn er behauptet, es bestünde die Hoffnung, dass in Ländern wie Russland, den baltischen Staaten oder dem Balkan, deren Theater bislang im Schatten großer Vorbilder standen, eine neue Theaterkultur sich entwickeln könne. Da die Theaterkulturen dieser Länder nach Ansicht von Loos noch unverbraucht und folglich noch nicht »ausgelaugt« seien, wären gerade sie es, die das Potenzial zum Neuen hätten. Mit Russland beziehungsweise der damaligen Sowjetunion hatte Loos durchaus recht, denn im Osten Europas war – beflügelt von der proletarischen Revolution 1917 – eine ganz neue Theaterform entstanden, der sogenannte Theaterkonstruktivismus. Es wäre nicht Loos, wenn er nicht doch noch einen Rettungsversuch für das westliche Theater parat gehabt hätte. Gegen sowjetischen Proletkult, Produktionskunst, Maschinenkult und rationales konstruktivistisches Gestalten setzte er u. a. auf Ideen des Futurismus, Dadaismus sowie des französischen Surrealismus. Das waren Geisteshaltungen, die er, da in Paris lebend, hautnah erlebte, zumal der Bauherr, für den Loos eine Villa im Pariser Stadtteil Montmartre entworfen hatte, Tristan Tzara war. Dieser war bekanntlich ein wichtiges Mitglied der internationalen Dadaisten, der wie einige andere auch nach 1924 zur surrealistischen Bewegung wechselte. Die neuen Ideen, die in den Köpfen der Surrealisten als Antriebsmittel ihrer Kunst fungierten, wie das Unbewusste, Übersinnliche, Magische und Spontane, faszinierten auch Loos. Für ihn war gutes Theater wie eine – und nun verblüfft Loos den Leser mit seinem spiritistischen Vokabular –»planchette«31. Mit diesem Vergleich trifft Loos die Sache des Theaters, wie es seiner Meinung nach sein sollte, gar nicht so schlecht. Die Futuristen forderten ein ›magisches Theater‹, während Loos für dieselbe Sache eine treffende Analogie, nämlich die ›planchette‹, wählte. Die ›planchette‹ war ein besonderes Holzbrettchen zum Schreiben (es verdeckte die Hand des 30 Zur Kritik an Spengler vgl. u. a. Robert Musils Essay Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind. (1921). In: Ders.: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hg. von Adolf Fris¦. Rowohlt: Hamburg: 1955, S. 651–667. 31 »The Theatre«, vgl. Anm. 27, S. 94.

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Schreibenden, damit ihm das Geschriebene nicht bewusst werde), das von den Spiritisten bei ihren S¦ancen verwendet wurde, um die Botschaften zu notieren, die von der Geisterwelt, mit der man Kontakt aufgenommen hatte, quasi diktiert wurden: aus dem Unbewussten durch Trancezustände emanierte irreale Sprachbilder, die dann interpretiert wurden. Als Êcriture automatique ist diese Schreibweise, die den kontrollierenden Verstand ausschalten bzw. umgehen wollte, durch die Anwendung der Surrealisten berühmt geworden. Die Analogie der ›planchette‹ zum Bretterboden der Bühne liegt auf der Hand und ist von Loos geschickt gewählt. Für die Surrealisten wurde die automatische Schreibweise mit ihrem Ursprung in Praktiken spiritistischer Gesellschaften zum Gestaltungsmittel par excellence. Genau wie dieser ekstatische Vorgang, von der die gesamte spiritistische Tischgemeinschaft erfasst war, sollte nach Loos auch das neue Theater sein, nämlich ein ›magisches‹ Gemeinschaftserlebnis zwischen Darstellern auf der Bühne und dem Publikum im Zuschauerraum, das die Ereignisse auf der Bühne befeuert und trägt. Loos wollte allzu kopflastige Intellektualität aus dem Theater verbannen und das Sinnliche zurückgewinnen. Als warnendes Beispiel eines allzu intellektualisierten Theaterstoffs führt Loos Robert Brownings Lesedrama Paracelsus an, das gar nicht mehr für eine Aufführung geschrieben war. Für Loos ist das Publikum mindestens so wichtig wie das Geschehen auf der Bühne. Zu welch verheerenden Ergebnissen der Ausschluss des Publikums vom Theaterereignis führen kann, illustriert Loos anschaulich am Beispiel des verrückt-exzentrischen bayerischen Königs Ludwig II. Für ihn als einzigen Zuschauer wurde einmal eine Theateraufführung veranstaltet, die in einem Desaster für die Schauspieler endete, da sie quasi Echo-los spielen mussten. Die Mittel, die Loos aufzählt, um die Nerven des Theaterpublikums in Höchstspannung zu versetzen, wurden bereits von den Futuristen, Dadaisten und schließlich den Surrealisten, (die seit 1924 in der Pariser Kunstszene eine herausragende Position einnahmen) propagiert. Wie diese en d¦tail geartet sind, erläutert Loos im Folgenden: »Ein Boxkampf, ein Totschlag, ein Geräusch (wenn man so will Musik), ein Revolverschuß; das sind die Mittel, um Nervensensationen zu erzeugen […]«32 Loos schlägt nicht vor, eine neue Theaterform zu erfinden und zu begründen, nach der Kiesler wie auch Levy Moreno rangen, sondern er empfiehlt, auf eine jahrhundertealte, bei Menschen aller Gesellschafts- und Altersklassen beliebte Form, nämlich die des Zirkus, zurückzugreifen: »Für die alle Arten und Sorten von Menschen umfassende Menge ist der Zirkus genau die Sache«33, konstatiert Loos. Der Zirkus war zur Entstehungszeit des Textes von Loos tatsächlich ein 32 Ebd., S. 96. 33 Ebd., S. 94–96.

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liebevoll gehätscheltes Kind der Intellektuellen, aber auch schon Peter Altenberg verfasste vor dem Ersten Weltkrieg begeisterte Berichte über die Körperkünste der in Wien auftretenden Variet¦künstler und hob sie, die so ungerechter Weise auf der untersten Sprosse der Theaterschmiere standen, in die hohen Sphären der Kunst empor. Loos wiederum rühmt vor allem das Erfindungspotential des Zirkus: »Vielfalt […] durch unmögliche Möglichkeiten […] (durch) Dinge, die niemals gewesen sein können […] (durch) Dinge, von denen Menschen meinten, daß sie nicht sein können«34, wie er kryptisch ausführt. Loos schließt seinen Text mit einer Fußnote, in der er sich auf Kieslers Raumbühne von 1924 bezieht, der er großes Hoffnungspotenzial für eine Erneuerung des Theaters beimisst: »Für die Zirkusform hat F. Kiesler die ›Raumbühne‹ geschaffen, welche die Saat für eine Revolutionierung der Bühnenmittel in sich birgt.«35 Den Ausblick auf ein neues Theater hat Loos allerdings in eine Fußnote abgeschoben und dadurch letztendlich auch marginalisiert. Der ungarische, links orientierte Schriftsteller, Kunsttheoretiker, konstruktivistische Maler Lajos/Ludwig Kass‚k (1897–1967), als junger Mensch vagabundierender Landstreicher von hohem intellektuellen Niveau, der 1911 Paris zu Fuß erreichte und dort mit Künstlern wie Picasso oder Apollinaire in Kontakt trat, lebte von 1919 bis 1926 in Wien im Exil. Dort schaltete er sich in den 1920er Jahren in den Theaterdiskurs ein, der von der Theaterzeitschrift Die Bühne trotz ihrer liberal-konservativen Tendenz auch mit einigen jungen, fortschrittlich gesinnten Intellektuellen geführt wurde. 1926 wurde sein Beitrag mit dem Titel Für die neue Theaterkunst36 in der Bühne veröffentlicht. Darin preist Kass‚k ohne propagandistische Untertöne für die linke Sache das russisch-sowjetische Modell einer gelungenen Theaterrevolution, allerdings nicht ohne an Alexander Tairoff, dem berühmten Schöpfer des Entfesselten Theaters Kritik zu üben, und zwar an seiner, wie er meinte, einseitigen Wertlegung auf die Schauspielkunst. Kass‚k missfiel dessen einseitige Betonung auf die Schauspielkunst als Erneuerungsmotor des Theaters: »Wenn bisher ganz unrichtig der Dichter oder der Maler der allmächtige König der Bühne war, so macht Tairoff ebenso falsch den Schauspieler statt ihrer zum Herrscher.«37 Tairoff hatte die Schauspieler vom strengen Reglement der Wirklichkeitsnachahmung befreit, indem diese ihre Körper-Artistik ausspielen durften. Für Kass‚k hingegen lag die wahrhaft große Leistung der sowjetischen Theaterkünstler (im Text wird nur von »russischen« gesprochen) in der Befreiung des Theaters von der Bühnenmalerei. Die russischen Theaterkünstler hätten Schluss gemacht mit der Illusion auf der Bühne 34 Ebd., S. 96. 35 Ebd. 36 Ludwig Kass‚k: »Für die neue Theaterkunst«. In: »Die Bühne«, Wien 1926, Heft 106, S. 13–14. 37 Ebd., S. 14.

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und somit eine Tabula rasa-Situation geschaffen, die bewirke, so Kass‚k mit Bewunderung, dass »der freie Raum als grundlegendes Element der Theaterkunst geboren (wurde).«38 Kass‚ks Interpretation zeugt von großer Weitsicht, indem er den leeren Raum hervorhob und nicht die nackten Konstruktionen, die sich als Kulissenersatz ebenfalls auf der russischen Bühne befanden. Mehr als vierzig Jahre später, 1968 wurde der leere Raum vom englischen Regisseur Peter Brook zum Hauptelement seiner Inszenierungskunst erklärt. In einem nächsten Schritt nimmt sich Kass‚k der damals populären, höchst umstrittenen Revueform an, einer – wenn man so will – westlichen Erfindung. Genauso wie die dadaistischen Theaterexperimente hätte die Revue, so die Meinung Kass‚ks, dem Theater (ganz) neue und wichtige Impulse gegeben. Die Dadaisten hätten die Theatertradition, wie sich Kass‚k modern ausdrückt, »dekonstruiert«, die Revue hingegen habe am Aufbau eines neuen Theaters mitgewirkt. Nach seiner Sicht war die Revue39 im Gegensatz zum traditionellen Theater, das unter dem Druck des Kinos und neuer Unterhaltungsformen an einem verheerenden Besuchermangel litt, zum regelrechten Publikumsmagneten geworden. Die Revue zog in aller Welt das Publikum magisch an, so dass es begeistert in die allerorts neu geschaffenen Revuetempel hineinströme, um sich »an dem Spiel von Farbe, Ton, Licht und Formen […]«40 zu erfreuen. Was aber die Revue gegenüber dem herkömmlichen Theater so zeitgemäß machte, war nach Kass‚ks Analyse das absolut Mechanistische ihres Aufbaus, den sie weniger einem dramatischen Dichter verdanke als dem erfindenden Ingenieur. Daraus resultiere die Nähe der Revue im Besonderen zur Maschine und zur modernen Großstadt, die mit ihren mechanisierten Abläufen, den prächtigen Reklamelichtspielen und Verkehrsflüssen selbst zu einem theatralischen Ereignis wurde. Auch Kiesler maß schon 1923 dem Dramatiker eine ganz neue Rolle zu: nämlich die des »Ingenieur(s) des Bühnenkunstwerkes.«41 Kass‚k empfahl daher seinen Zeitgenossen die Revue als »eine neue Kunstgattung, die die Gefühle und Gedankenwelt der heutigen Menschen in Zeit und Raum ausdrückt.«42 Die ›romantische Idee der Gesamtkunst‹, wie sie Richard Wagner und in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts noch manchen Köpfen vorschwebte, hatte Kass‚ks 38 Ebd., S. 13. 39 Die Gattung der Revue feierte freilich nicht nur auf Variet¦-Bühnen weltweit ihre Triumphe, sondern sie zog auch in die seriösen Theater ein. Erwin Piscator setzte auf ihre Stilmittel in seinen politischen Revuen, um auf lockere und eingängige Weise kommunistische Ideen zu transportieren. Und 1925 stand, wie die Wiener Theaterzeitung Die Bühne zu berichteten wusste, die Revue Kukirol sogar am Spielplan des Moskauer Kammertheaters von Tairow. Er habe, so Die Bühne, die Form einer Revue gewählt, »weil diese Form am meisten einer modernen zeitgemäßen Vorstellung entspricht.« (Die Bühne, 3. Jg., H. 88, Wien 1926, S. 19). 40 Ebd., S. 14. 41 F. Kiesler : »Das Theater der Zeit«, vgl. Anm.7, S. 42. 42 »Für die neue Theaterkunst«, vgl. Anm. 36, S. 14.

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Meinung nach endgültig ausgedient. Es ist daher das Verdienst Kass‚ks, für sein Wiener Lesepublikum klar formuliert zu haben, aus welchen Bestandteilen sich eine neues, zeitgemäßes Theater zusammenzusetzen habe und zwar aus »Sachlichkeit«, reiner »Materialität« und »strenger Konstruktion«43. Die Revue hat sich allerdings zum seichten Unterhaltungstheater hin entwickelt und nicht den Weg eingeschlagen, den ihr Kass‚k prophezeit und als der Zeit entsprechend zugesprochen hatte, nämlich eine ernsthafte neue Kulturform für eine im Anbruch befindliche neue Zeit zu werden.

4.

Die Theater-Praktiker: Hans Fritz und seine Würfelbühne sowie Erika Giovanna Kliens Kinetisches Marionettentheater

Der Tiroler Architekt und Otto Wagner-Schüler Hans Fritz (1883–1952)versuchte von Innsbruck aus, wo er für die 1919 gegründeten Kammerspiele der Exl-Bühne vorübergehend als Bühnenbildner arbeitete44, die elementaristischen wie auch funktionalistischen Bauhaus-Methoden auf das individualistisch schwankende und illusionistisch gefärbte Ausstattungswesen des Theaters zu übertragen. Er unterzog diese Volksbühne, die Tiroler Mundartstücke ebenso wie Dramen von Hugo von Hofmannsthal aufführte, einer gründlichen Modernisierung. Dabei nutzte er die Chance, sein Prinzip der Würfelbühne in diesem kleinen Kammertheater zu erproben. Davon zeugen einige seiner wenigen hinterlassenen Bühnenbildentwürfe45, die den Gebrauch der von ihm propagierten Würfel-Elemente auf der Bühne (einmal sogar auch als Filmset für Franz Kranewitters Stück Um Haus und Hof in Verwendung) dokumentieren. Die Würfelelemente in der Gestaltung durch Fritz waren einfache, wenig wiegende Lattenkonstruktionen, die mit Leinwand bespannt wurden, deren Schauseiten mit einfachsten Gegenständen wie Tür und Fenster bemalt oder auch neutral gestaltet waren. Diese rechteckigen Raumelemente in unterschiedlichen Größen gliederten und dynamisierten den Bühnenraum. Das aus den Würfel-, Quadern oder Dreiecksprismen geschaffene Raumvolumen wirkte auch, so wie es auf der Bühne stand, aus sich heraus als reines Formgebilde und nicht nur als das Stück illustrierender Hintergrund. Der auf Grund seiner Ausbildung architektonisch gestaltende Bühnenbildner Fritz machte sich den elementaren Trieb des Kindes, aus einfachen, abstrakten Körpern gegenständ43 Ebd. 44 Zur Rolle der Exl-Bühne vgl. Elisabeth Koch: Die Entwicklung der Exl-Bühne. Diss. Univ. Innsbruch 1961. Besonders intensiv gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem Raimundtheater. 45 Bühnenbildentwürfe sowie Dokumente zur Würfelbühne befinden sich im Theatermuseum, Wien.

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liche Welten zu schaffen, für das Theater zu nutze. Schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte dies der Pädagoge Friedrich Fröbel46 entdeckt und zur Förderung des konstruktiven kindlichen Spieltriebs die sogenannten Spielgaben (ein System aus vielteiligen Klötzchen) entwickelt.

Abb. 4: Hans Fritz: Die Würfelbühne (Entwurf, 1925) Ó Archiv Les‚k.

Der Architekt Fritz verlagerte nun das kreative Gestalten mit Hilfe von elementaren Würfelformen von der Kinderstube auf die Bühne, der Maßstab war etwas verändert, aber die Grundidee, aus Klötzen Welten entstehen zu lassen, blieb gleich. Im Laufe der Zeit radikalisierte Fritz seine Idee, er verließ die Bühne des Exl-Theaters, wo er notgedrungen zu Kompromissen gezwungen war, und widmete sich ganz seiner Würfelbühne, die er sich 1925 sogar patentieren ließ. Vorher wurde sein Entwurf der Würfelbühne 1924 auf der Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik in Wien gezeigt. Die Idee der Würfelbühne war bereits im Entwurf soweit perfektioniert, dass er die Bühne und das Ausstattungswesen ganz und gar diesem einem Prinzip unterwarf. Auf der Würfelbühne wurde ausschließlich mit Würfeln bzw. mit einfachen Baukörpern wie Pyramiden, Quadern und Prismen gearbeitet. Um äußerste Flexibilität im schnellen Wechsel der Dekorationen zu erzielen, konnten die Elemente direkt aus den 46 Richard Lange (Hg.): Die Pädagogik des Kindergartens. Gedanken Friedrich Fröbel’s über das Spiel und die Spielgegenstände des Kindes. Berlin 1862: Verlag von Th. Chr Fr. Enslin. Einige dem Band beigegebene lithographische Tafeln zeigen sehr klar die Logik der Fröbelschen Spielgaben (so nannte Fröbel seinen Baukasten), derer sich Fritz für seine Würfelbühne bediente.

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Depoträumen, wo sie rationell gelagert waren, auf die Bühne geschoben werden. Der Bühnenboden selbst war in Kuben gerastert, die sich nach Bedarf hydraulisch emporheben oder versenken ließen. Das Echo auf die Würfelbühne war groß: Sie wurde in der Architekturzeitschrift Österreichs Bau- und Werkkunst vorgestellt47 – und der in Wien bekannte Streiter für alles, was neu war, Leopold W. Rochowanski nahm sich ihrer engagiert an. 1925 wurde in Paris auf der im Rahmen der Exposition Internationale des Arts D¦coratifs et Industriels Modernes veranstalteten Sonderschau des europäischen Theaterschaffens in der österreichischen Sektion von Hans Fritz ein neues, sogar elektrisch betriebenes Modell der Würfelbühne präsentiert. Nachdem Rochowanski die Ausstellung besichtigt hatte, resümierte er begeistert aus Paris: Das wertvollste Objekt, ein Weiser in die Zukunft, ist ein großes, bewegliches Modell der Würfelbühne […] Denn die Würfelbühne ist ganz und gar für die Zeit geschaffen […]«48 Als zusätzlichen historischen Zeugen für die Richtigkeit der Verwendung des Würfels führte Rochowanski die Autorität eines Johannes Kepler an, der in seinem Mysterium Cosmographicum wundervolle Sätze über die Würde des Würfels geschrieben habe. Das Modell ist leider verschollen, aber erhalten hat sich die Würfelbühne in Form eines vielteiligen Baukasten, den Hans Fritz 1927 für seinen vom Fürsprecher zum guten Freund gewordenen L. W. Rochowanski anfertigen ließ. Mit den hölzernen Elementen dieses Baukastens ließen sich auf spielerische Weise verschiedenste Figurationen unterschiedlichster Volumina für eine höchst imaginäre Bühne herstellen. Dieser nur in einem Exemplar existierende Bausatz befindet sich heute im Theatermuseum in Wien. Dass auch E.G. Klien (1900–1957) erst spät wiederentdeckt wurde, geht auf den Umstand zurück, dass sie schon Ende der zwanziger Jahre Österreich verlassen hatte und in die USA ausgewandert ist. Die Gründe für diese Emigration waren vor allem privater Natur49. Ihre höchste kreative Phase erlebte sie allerˇ izˇek, dem dings in Wien als hochbegabte Studierende in der Klasse von Franz C theoretischen Begründer des Wiener Kinetismus an der Wiener Kunstgewerbeschule. In den USA musste sie den harten Überlebenskampf bestehen, der viel Energie kostete, sie aber dennoch auch großartige Bilder hervorbringen ließ50. ˇ izˇek Noch in der Klasse für Ornamentale Formenlehre von Professor Franz C 47 L. W. Rochowanski: »Die Würfelbühne«. In: Österreichs Bau- und Werkkunst, Oktober 1925, S. 137–142. 48 L. W. Rochowanski: »Oesterreich auf der Pariser Ausstellung«. In: Innsbrucker Nachrichten, Nr. 132, 13. Juni 1925, S. 9. 49 Wie persönlich motiviert die Gründe Kliens für ihre Auswanderung in die USA waren, erläutert Marietta Mautner Markhof im Ausstellungskatalog: Erika Giovanna Klien. 1900–1957. Wien: Museum Moderner Kunst 1987, S. 41. 50 Zu den in den USA entstandenen Bildern vgl. ebd., S. 42–48 und S. 92–104.

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Abb. 5: Erika Giovanna Klien: Das Kinetische Theater (Szene: Strasse mit Menschen, 1926) Ó Theatermuseum Wien.

entstanden ihre großartigen Entwürfe zu einem Kinetischen Marionettentheaˇ izˇek-Klasse war ein überaus fruchtbarer Boden für verschiedene ter51. Diese C Formen des Experimentierens, in gewisser Weise vergleichbar mit dem Bauhaus, aber in kleinstem Rahmen und ohne vergleichbares Echo in einer breiteren Öffentlichkeit. Hier fand in aller Stille Kliens Auseinandersetzung mit einem mechanischen Theater statt, einem in sich geschlossenen, allein von der Künstlerin bestimmten Spielkosmos, zu dem sie das Szenarium verfasste und sich eine im Grunde einfache Technik erdachte. Kliens Kinetisches Marionettentheater bedeutete eine Kulmination aller Stilversuche mit abstrakten Formen, die hier zu einem Thema gebündelt und einem zeitlich geregelten Ablauf unterworfen waren: Kreis, Kegel, Quadrat, Rechteck und die anderen Grundformen, mit denen die Moderne damals operierte, sie wurden von Klien aus ihrer Statuarik herausgeholt und – wäre das Marionettentheater realisiert worden – in Bewegung versetzt. Denn Bewegung, Dynamik, Rhythmus bedeutete ihr alles, und dieses zumindest mechanische Leben wollte Klien ihren Formen einhauchen. Ihr Kinetisches Marionettentheater entstand in der ersten Hälfte des Jahres ˇ izˇek, dem auch andere Studierende folgten, von 1924 auf Anregung von Franz C 51 Vgl. zum Kinetischen Marionettentheater : Barbara Les‚k, »Der Wiener Theaterkinetismus«. In: Monika Platzer, Ursula Storch (Hgg.): Kinetismus. Wien entdeckt die Avantgarde. Ausstellungskatalog. Wien, Ostfildern: Wien Museum, Hatje Cantz 2006, S. 138–153.

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deren Ergebnisse jedoch allenfalls nur Fotos überliefert sind. Es folgten 1926 weitere Entwürfe für ein Kinetisches Theater, die man nicht nur als bloße Skizzen interpretieren sollte, obwohl sie erst in der Realisierung ihren vollen Wert erlangen, sondern sie entfalten darüber hinaus auch als autonome, eigenständige Bilder ihre Wirkung. Kliens Kinetisches Marionettentheater freilich wurde letztlich nicht realisiert, damit teilte es das Schicksal vieler experimenteller Projekte dieser Zeit. In Österreich gehört es jedenfalls zu den einzigartigen Dokumenten eines puristischen radikalen Theaters aus dem Geist der Abstraktion, ebenbürtig den Projekten einer Merzbühne von Kurt Schwitters oder El Lissitzkys Entwürfen zur futuristischen Oper Sieg über die Sonne von Alexej Krutschonych und Michail Matjuschin.

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Abstraktion der Bühne und Depersonalisierung. Katalysatoren einer Technifizierung des Theaters der Moderne und der Avantgarden (Karel Cˇapek und Friedrich Kiesler)

1.

Kontext

Mit der Moderne um 1900 formierte sich europaweit eine Bewegung, die es auf die (Wieder-)belebung des Theaters als eigenständiger Kunst anlegte: die Retheatralisierung. Diese wiederum schrieb sich ein in den für die Moderne und die Avantgarden spezifischen Abstraktionsprozess. Er vollzog die Abwendung vom Mimesis- und Illusionsgebot durch konsequente Reflexion und Reduktion auf das Material der jeweiligen Kunst, auf ihr Medium:1 in der Literatur auf Sprache, in der Malerei auf Farbe, in der Musik auf Ton und Rhythmus, im Theater auf Bühne und Schauspieler. Reflektiert wurden die medialen Qualitäten des Materials, seine Grenzen ausgetestet, seine Potenziale freigesetzt. Dass die Sprachkrise um 1900 als Teil einer Wahrnehmungs- und Repräsentationskrise die Literatur erschütterte und damit auch das Drama, kam der Retheatralisierung entgegen. Das Theater entliterarisierte sich, wurde eigenständig. Zugleich gelang ihm eine nie da gewesene Öffnung dank zweier Extensionen. In diachroner Extension reaktivierte es ältere nicht-literarische Theaterformen wie Jahrmarkts- und Marionettentheater.2 In synchroner Ex-

1 Ich beziehe mich hier auf den sogenannten starken bzw. weiten Medienbegriff: In Anlehnung an Herbert Marshall McLuhan wird das Medium nicht nur als technisch-neutraler Träger von Informationen gesehen (= schwacher bzw. enger Medienbegriff), sondern vielmehr darauf insistiert, dass das Medium die vermittelte Information grundsätzlich prägt und sich ihr medienspezifisch einschreibt, wodurch es den menschlichen Zugriff auf Wirklichkeit wesentlich determiniert. Vgl. Jochen Schulte-Sasse: Medium. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hgg. von Karlheinz Barck u. a. Stuttgart-Weimar : Metzler 2000–2005. Bd. 4, S. 1–2. 2 Diese diachrone Extension konnte zurückgehen bis zu den Ursprüngen des europäischen Theaters, dem dionysischen Tanzritual. So zumindest entwarf es Friedrich Nietzsche 1872 in seiner überaus wirkungsmächtigen Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Gegen das – aristotelische – Theater der Re-Präsentation, das eine Trennung von Schauspieler und Zuschauer allererst etablierte, machte Nietzsche das kollektive Erlebnis der Ekstase stark. Dass er Theater als eigenständige Kunst der Performance beschrieb und seinen Ereignis-

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tension integrierte das Theater sprach-lose, auf das Medium Körper zentrierte Künste wie Akrobatik, Pantomime und modernen Tanz, integrierte ferner die neuen analogen Medien Fotografie, Phonograph und Film sowie allgemein neue Techniken wie z. B. Elektrizität. Vor allem zog das Theater die Nachbarkünste bildende Kunst, Musik und Architektur auf sich,3 welche wiederum umgekehrt das Theater und dessen vollsinnliche Wirkungsmacht für sich entdeckten. So wurde Theater mehr als je zuvor zu einer wesentlich plurimedialen, synästhetischen, zunehmend technifizierten Kunst und vor allem zu dem Experimentierfeld, dem Labor der Moderne und der Avantgarden. Im vorliegenden Beitrag konzentriere ich mich darauf zu zeigen, wie die beiden theaterspezifischen Medien, Bühne und Schauspieler, in den Abstraktions- und Extensionsprozess involviert waren. Die Stoßrichtung war eindeutig: Es ging um die maximale Aktivierung der Aisthesis4, der Zuschauerwahrnehmung. Der Zuschauer sollte zum imaginierenden Mit-Schöpfer werden. Da die Kinesis, die Bewegungen im Bühnenraum, wesentlich vom Schauspieler ausgehen, brauchte man dringlich ihn für eine der Sprache überlegene Körpersprache. Dies bedeutete für die Semiosis – die Produktion von Zeichen und ihre Deutung durch den Zuschauer –, dass ein Maximum an Zeichenproduktion von genau diesem Schauspielerkörper und seinen Bewegungen im Bühnenraum ausgehen musste.

charakter hervorhob, machte seine Schrift zu einem wesentlichen Referenztext der Retheatralisierungsbewegung. 3 Daher kultivierten so viele Künstler ihr Multitalent, daher organisierten sich verschiedene Künstler – Dichter, Maler, Bildhauer, Musiker, Theatermacher, Schauspieler – in Gruppen und kreierten gemeinsam neue theatrale Formen. Daher hatte ein die Künste über- und umgreifendes Konzept wie Richard Wagners Gesamtkunstwerk so anhaltende Attraktivität in der Moderne und bei den Avantgarden. Letztere allerdings radikalisierten dieses Konzept, das letztlich nur in einer Addition bestehe – vgl. insbesondere Wassili Kandinskys Forderung einer dezidiert syn-ästhetischen Vereinigung der Künste zur »Bühnenkomposition«, die »Seelenvibrationen« im Zuschauer auszulösen hatte. Vgl. Wassili Kandinsky : Über Bühnenkomposition. In: Ders./Franz Marc (Hgg.): Der blaue Reiter [1912]. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit. München: Piper 102006, S. 137–142. 4 Vgl. Helmar Schramm: Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts. Berlin: Akademie-Verlag 1996, S. 44. Schramm führt damit Modi zusammen, die zuvor getrennt von Elizabeth Burns (Wahrnehmungsmodus), Joachim Fiebach (Kinesis) und Erika Fischer-Lichte (Semiosis) entworfen wurden.

Abstraktion der Bühne und Depersonalisierung

2.

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Abstraktion, Depersonalisierung und Technifizierung

Mein Fokus liegt im Folgenden zunächst auf dem Schauspieler und seiner Depersonalisierung,5 die dann im nachfolgenden Kapitel mit Abstraktion und Extension im Bühnenraum verbunden werden. Gerade der Körper des Schauspielers stellte das Theater vor ein fundamental anthropologisches und wirkungsästhetisches Problem. Denn dem Zuschauer präsentiert sich ein menschlicher Schauspieler immer und gleichzeitig als konkreter phänomenaler Körper des Schauspielers X wie auch als semiotischer Körper, als Zeichenträger der dargestellten Figur. Mit Blick auf den Zuschauer war es daher zentrales Anliegen der Moderne und der Avantgarden, den Schauspieler durch Depersonalisierung zum perfekten Zeichenträger, zum reinen Medium zu modellieren. Sein phänomenaler Körper sollte hinter dem semiotischen verschwinden oder, radikaler, ersetzt werden durch eine rein semiotische Kunstfigur. Der erste Impuls kam um 1890 von dem belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck. Er forderte ein »th¦–tre d’androdes«6, das den Schauspieler durch ein anthropomorphes Simulakrum ersetzt.7 Als dem Menschen scheinbar ähnlich und zugleich doch fremd sollte es im Zuschauer Schrecken auslösen angesichts seines unausweichlichen Tods. Mit diesem Determinismus der Conditio humana im Blick kam nun speziell die Marionette als Simulakrum in Frage, denn in ihr kreuzen sich drei Funktionen: 1. Es gibt sie als konkrete Puppe im Marionettentheater, das in einer bis in die Antike zurückreichenden europäischen Volkstradition verankert ist.8 In diachroner Extension darauf zuzugreifen, war attraktiv, weil die Marionette rein semiotischer Körper ist und die mitschaffende Imagination des Zuschauers herausfordert.

5 Vgl. dazu ausführlicher Anke Bosse: Depersonalisierung des Schauspielers. Zentrales Movens eines plurimedialen Theaters in Moderne und Avantgarden. In: dies. (Hg.): Plurimedialität: Theaterformen der Moderne und der Avantgarden in Europa (= Êtudes Germaniques 4/ 2011). Paris: Klincksieck 2011, S. 875–890. 6 So der ursprüngliche, weitaus provokativere Titel seines Essays, der dann unter dem Titel Menus propos in der Zeitschrift La Jeune Belgique (1890), S. 331–336, erschien. Wiederabdruck in: Maurice Maeterlinck: Œuvres. Êdition ¦tablie et pr¦sent¦ par Paul Gorceix. 3 Bde. Bruxelles: Êditions Complexe 1999. Bd. 1, S. 457–463. 7 »L’Þtre humain sera-t-il remplac¦ par une ombre, un reflet, une projection de formes symboliques ou un Þtre qui aurait les allures de la vie sans avoir la vie ?« (Ebd., S. 462). 8 Es gibt Hinweise darauf, dass das Marionetten- und Puppentheater älter ist als das Theater mit menschlichen Schauspielern. Vgl. dazu den Artikel Marionnettes in: Encyclopedia universalis. 30 Bde. Bd. 14. Paris: Encyclopedia universalis 31995, S. 573–577, hier S. 574.

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2. Aus diesen Gründen ist die Marionette als ästhetisches Modell überaus präsent im Depersonalisierungsprozess des Mediums Schauspieler. Die konkrete und die Modell-Funktion sind also in der Ästhetik zu verorten. 3. Die Marionette fungiert aber auch als Metapher innerhalb eines anthropologischen Diskurses. Von einem Marionettenspieler an Draht oder Faden geführt, steht sie als Metapher für Determinismen menschlicher Existenz. Der zweite Impuls kam vom französischen Dramatiker Alfred Jarry, der genau hier ansetzte. Maeterlinck überbietend, zielte Jarry auf eine Aisthesis und Semiosis des Zuschauers anregende Abstraktion. Seine wegweisende Lösung: Abstraktion der Bühne zum leeren Raum und – gemäß der Marionette als ästhetischem Modell – Depersonalisierung des Schauspielers zur »abstraction qui marche«. Exemplarisch durchgeführt hat Jarry dies in seinem Drama Ubu Roi von 1896: »Ubu Roi est une piÀce qui n’a jamais ¦t¦ ¦crite pour marionnettes, mais pour des acteurs jouant en marionnettes, ce qui n’est pas la mÞme chose.«9 Jarrys Strategie: Extension zur bildenden Kunst. So wurde der Schauspieler durch eine Rollen-Maske und ein groteskes Kostüm transformiert, das ihn zu marionettenhafter Kinesis zwang. Der von einer deregulierten Grausamkeit angetriebene Ubu aktivierte aber auch die Funktion der Marionette als anthropologischer Metapher : Als Hybrid, als Mensch-Marionette hält er dem Zuschauer die Gefahr eines Rückfalls in archaische Grausamkeit vor.10 Der dritte und stärkste Impuls kam vom englischen Theatervisionär Edward Gordon Craig und seinem wegweisenden Essay The Actor and the Über-Marionette von 1908.11 Im Handstreich verabschiedete Craig die konkrete Marionette der Volkstradition und fusionierte in seiner Über-Marionette die Funktion der Marionette als ästhetisches Modell und als anthropologische Metapher. Denn die Über-Marionette sollte nicht nur »more than marionettes« sein, sondern auch »more than actors«12 – also in Anlehnung an Friedrich Nietzsches ÜbermenschEntwurf13 auch Überwinderin des menschlichen Schauspielers:14 9 Alfred Jarry : Discours prononc¦ — la premiÀre repr¦sentation d’Ubu roi. Abgedruckt in: Andr¦-Ferdinand Herold: Les Th¦–tres. In: Mercure de France 21/85 (Januar 1896), S. 218. 10 »[…] il nous ressemble (par en bas) — tous«. Alfred Jarry : Autre pr¦sentation d’›Ubu roi‹. In: ders.: Œuvres complÀtes. Bd. 1. Paris: Gallimard 1972 (= BibliothÀque de la Pl¦iade 236), S. 402. 11 Craig veröffentlichte The Actor and the Über-Marionette 1908 an höchst programmatischer Position, nämlich als Kopfessay auf S. 3–15 von Heft 2 des ersten Bands seiner Theaterzeitschrift The Mask, mit der er europaweit Resonanz und Einfluss gewann. 12 Craig an Harry Graf Kessler : The Correspondence of Edward Gordon Craig and Count Harry Kessler. Hg. von L. M. Newman. London: Modern Human Research Association 1995, S. 50. 13 Nietzsche übernahm den Terminus des »homme sup¦rieur« vom französischen Philosophen Claude Adrien Helv¦tius. Nach Nietzsche soll es die Aufgabe des Menschen sein, einen Typus hervorzubringen, der höher entwickelt ist als er selbst, den »Übermenschen«. Damit ist aber nicht – wie die Nationalsozialisten dann fatal missdeuteten und missbrauchten – eine neue

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The actor must go, and in his place comes the inanimate figure – the über-marionette we may call him, until he has won for himself a better name.15

Es zeigt sich: Schon der Name ›Über-Marionette‹ war ein provisorischer Platzhalter für ein Konzept, das Craig letztlich nur diskursiv umkreiste, aber nie in konkrete theatrale Praxis umsetzten konnte.16 Wir haben hier ein Beispiel für den Manifestantismus, wie er für die Avantgarden konstitutiv werden sollte: Denn gerade als bloß diskursives Phantasma sollte die Über-Marionette eine umso größere Schubkraft für den Prozess der Abstraktion und Depersonalisierung entwickeln – gerade bei den Avantgarden, europaweit. In Extension zur bildenden Kunst und zur Technik tendierten sie zur Hybridisierung anthropomorpher Formen mit mechanomorphen oder anderen Formen sowie zur Ganzkörpermaske, die den Schauspieler zum ›rein semiotischen‹ Körper modellierte. Ich beschränke mich hier auf einige wenige Beispiele. Sie führen uns zu Oskar Kokoschkas frühexpressionistischen Hybridfiguren in Sphinx und Strohmann und zu den roboterähnlichen Doubles in Filippo Tomaso Marinettis La donna À mobile von 1909, zu Wassily Kandinskys Der gelbe Klang von 1912 mit abstrakten, durch einfarbige Kostüme depersonalisierten Figuren. Sie führen uns zu den Dadaisten, zu Hugo Ball in der Ganzkörpermaske als »magischer Bischof«17 oder zu Sophie Taeuber-Arps Figurinen für Gozzis König Hirsch. Sie führen uns ferner zu den Expressionisten, etwa den hochstilisierten Ganzkörpermasken des Sturm-Dramatikers Lothar Schreyer oder den Blau- und Gelbfiguren in Georg Kaisers Gas 2. Sie führen uns schließlich zu den Futuristen, bei denen Ganzkörpermasken nun dezidiert unter dem Vorzeichen der Technifizierung zum Einsatz kamen.18 Bei ihnen dominierte

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Gattung oder gar ›Rasse‹ avisiert. Vielmehr geht der Übermensch aus dem einzelnen Menschen hervor, der, über sich selbst hinausschaffend, sich selbst überwindet. Craig: The Actor and the Über-Marionette; siehe Anm. 11, S. 8. Ebd., S. 11. Immerhin gibt es hierzu Entwürfe in Craigs Nachlass. Überraschend dabei: es handelt sich um keine »inanimate figures«, sondern um Schauspieler, die, inspiriert vom antiken Theater, depersonalisierende Masken tragen oder ihre anthropomorphe Körperlichkeit in Umhängen camouflieren – ein offensichtlicher Widerspruch zu »the actor must go«, und ein offensichtlich ungelöster. Vgl. Bosse: Depersonalisierung des Schauspielers; siehe Anm. 5, S. 880–882, 889f. Aufzeichnung vom 26. Juni 1916. In: Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit. Hg. sowie mit Anmerkungen u. Nachweisen vers. von Bernhard Echte. Zürich: Limmat-Verlag 1992, S. 105f. Es ist allerdings zu betonen, dass die Futuristen ein breite Palette von Bühnenwerken schufen, so anfangs hunderte von Mikroszenarien, deren Protagonisten durch eine extreme Stilisierung der Kinesis und durch die Reduktion auf einen Farbeindruck mittels einfarbiger Kleidung sowie durch technische Accessoires depersonalisiert waren. Später rückte die Maschine ganz ins Zentrum. Die Palette reicht von Filippo Tommaso Marinettis La Donna À

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die mechanomorphe Form nun die anthropomorphe, erfasste auch Gesicht, Kinesis und Sprache wie bei Fortunato Depero.19 Depersonalisierung ging über in Dehumanisierung.20 Dies bewirkte wohl die erwünschen Schock-Effekte beim Zuschauer, unterlief aber zugleich die futuristische Glorifizierung der Maschine. Denn in der Funktion als anthropologische Metaphern evozierten maschinenhafte, marionettisierende Ganzkörpermasken auch die Gefahr einer den Menschen überwältigenden Technifizierung – wie bei Ruggero Vasaris Maschinenangst.21 Doch in dem Maße, wie sich Depersonalisierung und Abstraktion radikalisierten, wurde Theater zum Schauplatz anderer, sich ihrerseits theatralisierender Künste und Techniken. So sind die Figuren in Oskar Schlemmers Triadischem Ballett mobile Raumplastiken – und sprachlos.22 Theater geht über in Tanztheater,23 in kinetische Kunst. In diese Richtung gingen dann auch die weiteren Radikalisierungen im Bauhaus und im Konstruktivismus. Nur sollte bei ihnen der anthropomorphe Akteur völlig verschwinden – so z. B. bei Roman

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mobile (1909) bis zu den »mechanischen Balletten«, die den Schauspieler zum mechanomorphen Hybridwesen machen und einer Metamorphose zur tanzenden Puppe unterziehen. Anfang der 1930er Jahre plante Bruno Munari dann, den Schauspieler völlig durch riesige mechanische Figuren zu ersetzen, die wie aufziehbares Spielzeug funktionieren. Anihccam del 3000. »Anihccam« ist das Palindrom zu »macchina«. Bereits 1910 schreibt Filippo Tomaso Marinetti in Der multiplizierte Mensch und das Reich der Maschine: »Es gilt daher, die unmittelbar bevorstehende Identifikation des Menschen mit der Maschine vorzubereiten, indem man einen ununterbrochenen Austausch von Intuition, Rhythmus, Instinkt und metallischer Disziplin erleichtert und vollendet, […]. Gewissenspein, Güte, Gefühl und Liebe stellen nichts als zerfressende Gifte der unerschöpflichen vitalen Energie dar, […]. Sie werden eliminiert werden. […] Obschon das Bedürfnis nach Gefühl in den Adern des Menschen noch nicht zerstörbar ist, muß man es unbedingt verringern, will man die Bildung des a-humanen, mechanischen, durch die Veräußerlichung seines Willens potenzierten Menschen vorbereiten […].« In: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Hg. von Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Reinbek: Rowohlt 1993, S. 107–110. Vgl. Giovanni Lista: La scÀne futuriste. Paris: Êdition du Centre National de la Recherche Scientifique 1989, S. 279f. »Erst war das Kostüm, die Figurine. Dann ward die Musik gesucht, die jener am ehesten entsprach. […] Aus Musik und Figurine entwickelte sich der Tanz.« Der Tänzer stattet »nicht so sehr die Kostüme aus, sondern die Kostüme statten ihn aus, nicht so sehr er trägt sie, sondern die Kostüme tragen ihn.« Oskar Schlemmers Brief an Hans Hildebrandt vom 4. Oktober 1922. In: Oskar Schlemmer – Das Triadische Quartett. Hg. von Dirk Scheper und Hans-Joachim Hespos. Berlin: Akademie der Künste 1977, S. 11. – Das Spezifische von Schlemmers Kreation war die Spannung zwischen einem nicht mehr ganz Humanen und einem noch nicht ganz Mechanischen. Mit dem Triadischen Ballett, das am 30. September 1922 am Landestheater Stuttgart uraufgeführt wurde, empfahl sich Schlemmer für die Bauhausbühne. Siehe ausführlich zum Triadischen Ballett und zu Schlemmers nachfolgenden Experimenten an der Bauhausbühne: Dirk Scheper : Oskar Schlemmer. Das triadische Ballett und die Bauhausbühne, Berlin: o. Verl. 1988 (= Schriftenreihe der Akademie der Künste, 20).

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Clemens – und die neuesten Medien und Techniken wie Film und Elektrik erschlossen werden. So ist bei L‚szlû Moholy-Nagys Lichtrequisit einer elektrischen Bühne, bei den Reflektorischen Lichtspielen Kurt Schwerdtfegers und Ludwig Hirschfeld-Macks und bei Enrico Prampolinis Lichtbühne der Akteur – Licht.24

3.

Cˇapek, Kiesler & Co.

Wo ist in diesem Prozess jener Text angesiedelt, auf den ich abschließend foˇ apeks Drama R.U.R. – Rossum’s Universal Robots. kussieren möchte: Karel C Utopistisches Schauspiel mit einer Eingangskomödie und in 3 Akten?25 Dank des Wortes ›Roboter‹ ist das Drama alles andere als vergessen oder verdrängt – wohl aber seine Positionierung im genannten Abstraktions- und Depersonalisierungsprozess. »R.U.R.«, »Rossums Universal-Roboter« ist der Name der Firma, die in Serienproduktion künstliche Wesen herstellt und Schauplatz des Dramas ist.26 Das Wort Roboter geht zurück auf das tschechische Wort robota; es bedeutet Arbeit, auch in der Form von Frondienst und Zwangsarbeit und signalisiert, dass die künstlichen Wesen in R.U.R. als billige und rechtlose Arbeits-

24 Vgl. ebd., S. 100–111. Auf Prampolinis »Lichtbühne« soll »für menschliche Darsteller kein Platz mehr sein«, statt dessen gibt es »wirklich luftige Darsteller«, nämlich »Vibrationen, Formen, die das Licht hervorbringt,« die »zucken und sich krümmen und ständig in Bewegung sein werden«. – Zu Prampolinis vehementer, an Craig orientierter Ablehnung jedes menschlichen Schauspielers auf der Bühne siehe Enrico Prampolini: Die futuristische Bühnenatmosphäre [1924]. In: Manfred Brauneck: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Kommentare. Reinbek: Rowohlt 2009, S. 98–102. 25 Orig.: Rossumovi Univerz‚ln† Roboti. Uraufführung am 2. Januar 1921 in Hradec Kr‚lov¦ durch die Laienspielgruppe Klicpera. In den Jahren 1922 und 1923 dann Übersetzung in mehrere Sprachen und europaweite Aufführungen. – In der englischen Übersetzung entfiel der Hinweis auf die Utopie und den damit angespielten Science-Fiction-Kontext, dafür wurde die Anspielung auf die Massenphänomene des 20. Jahrhunderts verstärkt: A collective Drama In Three Acts With A Comedy Prelude. In der deutschen Übersetzung von Otto Pick, die bereits ab Juni 1921 in Fortsetzungen unter dem Titel W.U.R. (Werstands Universal ˇ apek in der Prager Presse veröffentlicht Robots). Utopistisches Kollektivdrama von Karel C und von Illustrationen seines Bruders Josef begleitet wurde, fällt die Qualifizierung des Vorspiels als »Komödie« weg. Nach dem Wunsch des Autors bemühte sich Pick, das Spiel mit der Orthographie im Namen des Erfinders der Roboter auch in der deutschen Übersetzung wiederzugeben: Die ironische Konsonantenverdoppelung »s« in »Rossum«, abgeleitet von tschechisch »rozum« (Verstand), übernimmt im Deutschen das doppelte »V« in »W«: »Werstand« statt Verstand. 26 Der Name ›Rossum‹ ist abgeleitet vom tschechischen Wort rozum, das Vernunft, Verstand bedeutet, hier eine ironische Anspielung auf die menschliche Vernunft ist, die in ˇ aGrößenwahn ausartet und in Unvernunft insofern kippt, als sich ihre Erzeugnisse – in C peks Stück die Roboter – gegen sie kehren.

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kräfte eingesetzt werden.27 Das Wort Roboter hat sich dann völlig verselbständigt, ist in die Alltagssprache eingedrungen und wurde bezogen auf stationäre oder mobile Maschinen, die darauf programmiert sind, festgelegte Aufgaben zu erfüllen. Sie können, müssen aber nicht anthropomorph sein. Vor der Erfindung und der Übertragung des Worts Roboter wurden solche Maschinen als Autoˇ apek hätte maten bezeichnet. Ihre Geschichte geht zurück bis in die Antike.28 C sich also einer überaus reichen kultur- und technikgeschichtlichen Tradition bedienen können. Doch die künstlichen Wesen in R.U.R. sind keine Maschinen, ihnen eignet ˇ apeks Roboter sind künstliche Mennichts Mechanomorphes, Technoides.29 C schen, Androiden, genauer Homunculi. Sie werden durch nie näher definierte, sondern nur diskursiv in der Teichoskopie evozierte bio-chemische Prozesse im Labor erzeugt und revoltieren am Ende gegen ihre Produzenten. Nicht umsonst ˇ apeks Stück immer wieder in der Tradition von Mary Shelleys Franwurde C kenstein und der heimischen Prager Golem-Legende gesehen. Doch dies greift ˇ apek die industrielle Massenproduktion der Roboter zu kurz: Denn neu ist bei C und ihre Zurichtung auf Fabrik- und Kriegsarbeit – Determinismen, mit denen die Funktion der Marionette als anthropologischer Metapher sowie Dehumanisierung aufgerufen sind. Zweifellos kritisiert das Drama die Vermassung des Menschen,30 seine Entfremdung durch Fließbandarbeit,31 den Komplex aus kapitalistischem Profitstreben, Technifizierung und Massenproduktion, der dazu

ˇ apeks Bruder Josef brachte die Namensge27 Sie sollten ursprünglich »Labori« heißen, erst C bung Roboter ein. 28 Schon in der griechischen Mythologie gibt es eine Menge künstlicher Vögel, gehender und sprechender Statuen und künstlicher Diener. Homer berichtet in seiner Ilias, dass Hephaistos, der Gott des Handwerks, selbstfahrende Fahrzeuge und sogar künstliche Dienerinnen, die intelligent waren und Handwerke erlernten, angefertigt habe. Historiker bieten ausführliche Beschreibungen von selbstfahrenden und -gehenden Mechanismen wie Herons Theaterwagen (vgl. Alexandrinische Schule, Uhrwerk, Windorgel etc.). Ca. 320 v. u. Z. philosophiert Aristoteles über eigenständig arbeitende Werkzeuge. Im 18./19. Jahrhundert kam es zu einem regelrechten Boom bei der Konstruktion von Automaten. Vgl. insbesondere die automatische Ente des französischen Ingenieurs und Erfinders Jacques de Vaucanson von 1738. 29 »Die Roboter sind im Vorspiel wie Menschen gekleidet. Ihre Bewegungen und ihre Redeweise sind knapp, ihre Mienen ausdruckslos, ihr Blick starr. Im eigentlichen Drama tragen sie ˇ apek: blaue Leinwandkittel, Riemengürtel und eine Messingnummer auf der Brust.« Karel C W.U.R. – Werstands universal Robots. Utopistisches Kollektivdrama in 3 Aufzügen. Deutsch von Otto Pick, Prag, Leipzig 1922, S. 6 [Hervorhebung im Orig.]. 30 Vgl. dazu den Untertitel »Kollektivdrama«, der in der englischen und deutschen Übersetzung neu hinzukam. 31 Fließbandtechniken gab es bereits im Venedig des 15. Jhs., und 1902, kurz vor Henry Ford, führte Ransom Eli Olds das »progressive assembling« ein. Ford hat die einzelnen Gestelle zu einem permanenten Fließband perfektioniert, der »moving assembly line«.

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führt, dass – wie der Erste Weltkrieg gerade gezeigt hatte – Menschen sie selbst vernichtende Produkte herstellen.32 Der Hauptdiskurs des Dramas ist denn auch weniger ein technophober oder -kritischer denn ein kritisch anthropologischer, in dem es weniger um das Verhältnis Mensch-Technik geht als darum, dass Menschen Roboter einsetzen, ˇ apeks offenum sich selbst von den Mühen der Arbeit zu befreien. Daher C sichtliches Desinteresse am Stand der damaligen Technik. Seine wenigen Angaben zum biochemischen Massenproduktionsprozess der Roboter sind höchst abstrus und alchimistisch angehaucht.33 In dem Maße, in dem dieser Prozess obskur und der Imagination des Zuschauers anheim gestellt bleibt, bedient er nolens volens obskure technophobe Ängste. R.U.R. behauptet eine Dehumanisierung, die das Stück nicht wirklich überzeugend darzustellen vermag: Roboter sollen wie Menschen minus Gefühls- und Sexualleben sein. Einer neuen Robotergeneration aber werden Gefühle (man weiß nicht wie) injiziert, was zur überraschenden Schlussidylle führt, zur Liebe zwischen den Robotern Primus und Helene inklusive angedeuteter laborfreier natürlicher Fortpflanzung. Dehumanisierung wird suspendiert durch harmoniebedürftige Rehumanisierung, die der Sehnsucht nach vorindustrieller Idylle und Happy Ending geschuldet ist. Ist die alchemistische Grundierung der Roboterproduktion schon rückwärtsgewandt, so auch dieses Ende. Das im Untertitel deklariert »Utopistische« dieses Dramas wird Opfer seiner Konventionalität, die ihm zwar ein großes Publikum erschloss, gegen die Alfred Polgar aber überaus treffend ätzte: Wohnräume utopischer Dramen sind ja kein Problem – man stellt einfach Sachen von heute hinein; die utopistischen Bewohner haben sich eben dann, wie die reichen Leute heutzutage, alt möbliert. Aber ein Fabrikkontor von übermorgen ist schon schwieriger vorzustellen. Dafür hat sich der junge Wiener Maler Kiesler ein rechtes Märchen von der Technik einfallen lassen, gewissermaßen deren Chiffren zu einer so blanken wie geheimnisvollen Formel ineinandergefügt.34

ˇ apek an der Darstellbarkeit des ›Utopistischen‹ Der Clou ist nämlich, dass C scheitert, den Techniken industrieller Massenproduktion,35 und dass dies erst 32 Dies hatte Georg Kaiser bereits in seinen Dramen Gas 1 und Gas 2 auf den Punkt gebracht. ˇ apek bekannt gewesen sein. Gas 2 wurde im tschechischen Brünn uraufgeführt und dürfte C 33 Vgl. W.U.R., S. 22f.: »[…] Mischbottiche für den Teig. In jedem wird gleichzeitig Stoff für tausend Roboter gemischt. Dann die Kufen für Lebern, Hirne und so weiter. Dann werden Sie die Knochenfabrik sehen. Dann zeige ich Ihnen die Spinnerei.« (= Nervenspinnerei, Adernspinnerei) Dann die Montage, »wo das zusammengestellt wird, wissen Sie, wie Automobile. Jeder Arbeiter befestigt nur einen einzigen Bestandteil, und dann läuft es wieder selbsttätig weiter …«. Die Roboter werden dann unterrichtet bzw. »appretiert« und »lernen sprechen, schreiben und rechnen.« 34 Alfred Polgar : W.U.R. In: Die Weltbühne 45 (Berlin, 8. 11. 1923), S. 457. 35 Auch Massenproduktion und Depersonalisierung bis zur Dehumanisierung hat Georg

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durch Technik, Friedrich Kieslers elektromechanische Bühnengestaltung fassbarer wird.36 Auf zwei uns erhaltenen Fotografien ist Kieslers Bühnenprospekt einmal von der Seite, einmal frontal abgebildet. Der Prospekt nahm die ganze Bühnenrückwand ein, als riesige Montage. Via visuelle und akustische Techniken setzte ˇ apek scheiterte.37 In seinem Kieslers Kontroll- und Maschinenwand um, woran C Essay De la nature morte vivante erklärte Kiesler dazu: […] L’aimable auteur a ordonn¦: Zimmer, an den Wänden Landkarten, Tabellen. Schreibtisch, Klubsessel-Garnitur. Großes Fenster, durch das man Fabriken sieht. Excusez moi, ce que j’ai fait: Erster Versuch einer elektro-mechanischen Kulisse. Die Bildstarre zum Leben erweckt. Die Kulisse ist aktiv, spielt mit. De la nature morte vivante. Mittel der Verlebendigung sind: Bewegung der Linien; grelle Kontrastierung der Farben. Überleitung von Flächen in Relief-Formen bis zu Rundplastik Mensch (Schauspieler). […] ˇ apek gekannt haben Kaiser bereits kurz zuvor im Drama Gas 2 aufrüttelnd dargestellt, dass C dürfte (vgl. Anm. 33). 36 Dies hat der Theaterunternehmer Eugen Robert erkannt, als er den völlig unbekannten Maler und Architekturautodidakten Kiesler für diese Bühnengestaltung 1922/23 nach Berlin holte: »Seine malerische Vision der Welt, in der sich ›W.U.R.‹ abspielt, weicht von jedem öden Expressionismus weit ab und entwirft mit starker originaler Kraft Gebilde, die zwischen Phantasie und Realität schwebend, die Atmosphäre des Zukünftigen vortäuschen.« W.U.R. und sein Regisseur. Ein Gespräch mit Eugen Robert. Zeitungsausschnitt (Zeitung unbekannt), vermutlich 1924. Zitiert nach: Barbara Les‚k: Die Theaterbiographie des Frederick J. Kiesler. Stationen eines Theatervisionärs: Czernowitz, Wien, Berlin, Paris und New York. In: dies./Thomas Trabitsch (Hgg.): Frederick Kiesler. Theatervisionär – Architekt – Künstler. Wien: Brandstätter 2012, S. 19–121, hier S. 25, 119). Robert hat also sehr schnell erfasst, inwiefern Kieslers Bühnenbildentwürfe überhaupt erst die utopistische Dimension eröffˇ apeks Untertitel behauptet. neten, die C ˇ apeks Drama und der 37 Carl Einstein hat den Kontrast zwischen der Konventionalität von C Avanciertheit des Kieslerschen Bühnenprospekts wundervoll persifliert: »W.U.R. / Herr Kiesler in rotgewürfelter Bettdecke erstickt […]. Der mechanische Mensch der Butler und ˇ apek zur Erotik korrumpiert. Vorher streikt er, da Villiers wird in W.U.R. von den Brüdern C man gewerkschaftlich organisiert ist. Aus beiden phantastischen Gründen nennen die Zerarbeiter das Stück utopisch. […] Zwischen verrosteten und doch öligen Maschinenallegorien stramme Wiener Sexualität und kitschender Gott. […]. Zum Beschluß die utopische Garantie: Beischlaf wird wieder eingeführt. Hier klatscht Publicus begeistert. Selbstverständlich lösen die böhmischen Brüder auch die Entstehung der – man kann es nicht lassen – Seele. Sie keimt aus die Liebe uff. Freu dich, Fritzchen. Einfach, überzeugend, und wer könnte gegen diesen auswälzenden Blödsinn der Majorität an […]. Herr Kiesler wollte die erfolgreichen Pralin¦automaten in konstruktive Raumbühne stellen. Es verblieb dank der ungemeinen Intelligenz der Bühnenleute bei einem technisch amüsanten Hintergrund, dessen bedauerlich armselige Ausführung jedem die Zahlungsunfähigkeit Deutschlands demonstrieren mag. Vor diesem maschinell gegliederten Plan reddete der Weltkonzern zur Erzeugung der W.U.R.-Papiermazzen; […] Sulla, das Freudsche Maschinenweib, trug einen Babyhänger aus gewürfeltem Kattun: Kurfürstendamm konstruktivism. Bettdecke, ein utopisches Symbol. Gute Nacht. Herr Kiesler in rotge-…«: siehe oben. Carl Einstein: W.U.R. In: Ders.: Das Querschnittbuch 1923, Frankfurt/M.: Querschnitt-Verlag 1923, S. 75.

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ˇ apeks W.U.R. (Seitenansicht, 1923). Abb. 1: Friedrich Kiesler : Bühnenprospekt für K. C ˇ apeks W.U.R. (Frontalansicht, 1923). Abb. 2: Friedrich Kiesler : Bühnenprospekt für K. C Beide: Ó Friedrich und Lilian Kiesler Privatstiftung, Wien.

Links eine große Irisblende, […] Die Blende öffnet sich langsam: Der Filmprojektor rattert, auf der Kreisfläche spielt ein Film, blitzschnell abgekurbelt; die Blende schließt sich. Rechts, in den Kulissen eingebaut, ein Tanagra-Apparat. Klappt auf, zu. Der Direktor kontrolliert den Warteraum im Spiegelbild des Apparates. Die Tastatur am Schreibtisch organisiert seine Befehle. Der Seismograph (in der Mitte) rückt stoßweise vorwärts. Die Turbinenkontrolle (Mitte unten) rotiert ununterbrochen. Die Zahl der

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Fertig-Fabrikate springt. Arbeitssirenen signalisieren. Megaphone sprechen Bestellungen, geben Antwort. [Hervorhebung im Orig.]38

Es kommt so zu einer bemerkenswerten Verkreuzung: Beeinflusst vom Konstruktivismus steht Kiesler affirmativ zur Technifizierung des Theaters und setzt Technik ein für ein Drama, das seinerseits technophobe Ängste beim Zuschauer gerade dadurch schürt, dass es sein utopistisches Programm, die Darstellung industrieller Massenproduktion, der Imagination eben dieses Zuschauers überantwortet, um diesen dann mit einem unglaubwürdigen Happy Ending in der technikfreien Idylle zu trösten. Das Paradox besteht nun nicht darin, dass Kieslers elektromechanischer Bühnenprospekt im Gegensatz dazu eine »Hommage auf die Schönheit der Maschine« sei.39 Das Paradox besteht in Überbietung. Denn Kieslers elektromechanischer Bühnenprospekt übte diverse Kontrollfunktionen aus, funkte Lichtzeichen, sandte akustische Signale. Film und ˇ apek wenig gelungene Teichoskopie. Der Tanagra-Apparat ersetzten die bei C eine gab Einblick in die fantastische Welt der mysteriösen Roboterfabrik, der andere visualisierte Vorgänge, die nicht im Sehbereich des Direktors lagen. So ließen sich damals noch utopische Kontrollvorrichtungen simulieren. Kiesler feiert hier nicht einfach die avanciertesten Mittel der Technik, sondern setzt sie ˇ apek ›überbietet‹. Indem nämlich diese Maschinenwand als so ein, dass er C wirkliche technische Apparatur zum Kontroll- und Überwachungsgerät wird, ja sogar aktiv ins Geschehen eingreift, konkretisiert sie eine utopische Situation, die potenziell in der damaligen Technik bereits schlummerte und von R.U.R. noch nicht auf den Punkt gebracht wurde: das Eigenleben der Maschine und die totale Überwachung. Mit Kieslers dynamischem Bühnenprospekt als eigenständigem Akteur dominiert nun die abstrakte, technifizierte Bühnengestaltung den depersonalisierten, dehumanisierten Akteur. So lag der nächste Schritt nahe, der zu einem abstrakt-mechanischen Theater wie in Kieslers Entwurf eines optophonetischen Theaters,40 eine von einem 38 [Friedrich Kiesler, Hg.:] Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik. Konzerthaus [Katalog]. Wien: o. Verl. 1924, S. 20f., begleitet mit den zwei einzigen überlieferten Fotos vom Bühnenprospekt. – »De la nature morte vivante« = Vom lebendigen Stillleben. 39 Barbara Les‚k: Die Kulisse explodiert. Friedrich Kieslers Theaterexperimente und Architekturprojekte 1923–1925. Wien: Löcker 1988, S. 75. Da die Avantgarden ihrerseits dazu ˇ apeks konventionellem Drama zu tendierten, Kieslers Bühnenprospekt unabhängig von C feiern – er wurde in allen damaligen Blättern der Avantgarde abgebildet, in Herwarth Waldens Sturm, Theo van Doesburgs De Stijl, Hans Richters G und Enrico Prampolinis Noi – missverstanden auch sie ihn als »Schlüsselwerk des theatralischen Maschinenoptimismus« (ebd., S. 26). 40 Nie ausgeführte Entwürfe von 1925. – Auch Kiesler folgte so einer in allen Avantgarden verbreiteten Strategie: In vorzugsweise voraus greifenden Manifesten die eigenen kühnen Werke zu entwerfen. So konnten die diskursiven Entwürfe noch abstrakter, noch radikaler,

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elektrischen Schaltpult aus zu steuernde Symphonie aus Farben, Lichteffekten, Klang und Formen in Bewegung.41 Wie bei El Lissitzky, Moholy-Nagy, Prampolini erreicht der Abstraktions- und Depersonalisierungsprozess hier seine äußerste Radikalisierung. Depersonalisierung wird ›Entpersonalisierung‹, der anthropomorphe Akteur verschwindet gänzlich. So allerdings fehlt dem Zuschauer sein Double auf der Bühne – und damit jeder metaphorisch-anthropologische Bezug. Bühnenabstraktion und Technifizierung fusionieren und dominieren. Theater wird zu kinetischer Kunst. Bleiben am Schluss zwei Fragen: Ist kinetische Kunst noch Theater?42 Und kann dies noch dem ursprünglichen Impuls des Abstraktions- und Depersonalisierungsprozesses gerecht werden: nämlich den Zuschauer als imaginierenden Mit-Schöpfer zu mobilisieren?43 An diesem Punkt scheinen sich das Theater und der Abstraktions- und Depersonalisierungsprozess gegen sich selbst zu wenden: das Theater suspendiert sich selbst, der genannte Prozess widerläuft seinen ursprünglichen Zielen.

noch utopischer sein und blieben letztlich der mitschaffenden Phantasie des Lesers übertragen (und seiner Verantwortung). So sicherte man aber auch diskursiv seine neueste Innovation ab, setzte ein Copyright gerade für den Fall, dass das theoretisch Entworfene nicht, womöglich nie Praxis werden sollte. Dieser Fall, das zeigte die Erfahrung, trat meistens ein, entweder weil die Pläne zu kühn und unrealisierbar waren oder an den sehr beschränkten Produktionsbedingungen scheiterten, denen die Avantgarde unterworfen war. Die unter Innovations- und Konkurrenzdruck gesteigerte Publikation von Manifesten wurde treffend Manifestantismus genannt. 41 Die Ideen des dynamischen Theaters, einer beweglichen Architektur in den frühen 20er Jahren gründeten sich zu einem guten Teil auf Technikenthusiasmus. Übertragen auf das angestrebte mechanische Theater hatte dies zur Folge, dass der Schauspieler von beweglichen Dekorationen ersetzt wurde, oder er blieb wie bei Kiesler bestenfalls als »übernatürliche Typenform« erhalten. Les‚k: Die Kulisse explodiert; siehe Anm. 40, S. 58. 42 Seit den Anfängen des Theaters ist das ko-präsente Gegenüber von Akteuren/Bühne und Zuschauern zur selben Zeit am selben Ort Voraussetzung der Repräsentation. Siehe dazu Anke Bosse: Retheatralisierung in Theater und Drama der Moderne – das Spiel im Spiel. In: Thomas Anz, Heinrich Kaulen (Hgg.): Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Aspekte. Beiträge zum Deutschen Germanistentag 2007. Berlin-New York: De Gruyter 2009, S. 417–430. 43 Und nicht zuletzt bestätigt sich auch hier die Produktivität des Theaters als Labor, als Experimentierraum der Avantgarden: Kieslers Theaterschaffen hat lange im Schatten seines architektonischen Schaffens gestanden. Dass es ins Licht rückte, ja das Theatralische sogar als Ausgangspunkt aller Werkgruppen Kieslers anzusehen ist, das ist das Verdienst von Barbara Les‚k. Ihre These, »der kreative Schaffensakt« sei »bei Kiesler zutiefst theatralisch getönt«, bestätigt sich auf das Überzeugendste. Vgl. B. Les‚k: Die Theaterbiographie; siehe Anm. 36, S. 13.

Jürgen Doll

Sozialdemokratisches Theater im Wien der Zwischenkriegszeit. Vom Sprechchorwerk zu den Roten-Spieler-Szenen

Die Sprechchorwerke Das linke politische Theater entwickelte sich im Rahmen der sozialdemokratischen Fest- und Feierkultur, die bis in die Anfänge der österreichischen Arbeiterbewegung zurück reicht. Die wichtigsten unter den zahlreichen Feiern im ›proletarischen Festkalender‹ waren die Märzfeier in Erinnerung an die Revolutionäre von 1848, die den Kindern gewidmete Frühlingsfeier (ab 1931 Tag des proletarischen Kindes), der 1. Mai, der Tag der Republik am 12. November, später auch der Gedenktag an die Opfer des 15. Juli 1927. Diese Feiern sollten vor allem die Gefühle ansprechen, die Verbundenheit mit der Partei stärken und die neuen, ungeschulten Mitglieder emotional an die Partei binden. Nach 1918 übernahm man aus der Vorkriegszeit die Form der sogenannten Akademie, eine Aneinanderreihung von Gedichtrezitationen im Einzelvortrag oder im Sprechchor, umrahmt von Musikdarbietungen zwischen Beethoven-Ouvertüre und Lied der Arbeit, sowie als Mittelpunkt des Festes die Rede eines führenden Parteifunktionärs. So wurden etwa bei Märzfeiern im ersten Teil bevorzugt Gedichte von Vormärzautoren und im zweiten Gedichte von Arbeiterdichtern vorgetragen und so den Teilnehmern der für das sozialdemokratische Selbstverständnis grundlegende Traditionsstrang von der bürgerlichen Revolution zur Arbeiterbewegung bewusst gemacht. Um die starren Schemata aufzulockern, wurden im Laufe der Jahre Szenen aus Theaterstücken, Tanzvorführungen, Bewegungschöre und schließlich auch Filme in die Programme aufgenommen. Kennzeichnend für die sozialdemokratischen Feiern war der von den Bildungsreferenten und Festfunktionären in den Zeitschriften Bildungsarbeit und Die sozialistische Erziehung unermüdlich angemahnte, den hohen Zielen des Sozialismus gemäße ›weihevolle‹, ›erhabene‹ Ton der Darbietung, der Unterhaltung oder gar Humor wenig Raum ließ.1 1 Zur sozialdemokratischen Feier- und Festkultur siehe Josef Weidenholzer : Auf dem Weg zum ›Neuen Menschen‹. Bildungs- und Kulturarbeit der österreichischen Sozialdemokratie in der

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Dieser weihevolle Ton charakterisierte auch die ab Mitte der 1920er Jahre speziell für die Feiern verfassten Sprechchorwerke, die erste Form eigenständigen sozialdemokratischen Theaters seit dem Krieg.2 Theorie und Form des Sprechchorwerks wurden aus Deutschland übernommen, wo es vor allem in der sozialdemokratischen Festkultur lebendig blieb, während sich die Kommunisten bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit davon abgewandt hatten. Die Verbindung zur deutschen sozialdemokratischen Chorbewegung war eng. So wurden vornehmlich deutsche Sprechchordramen zur Aufführung empfohlen, Auszüge aus dem bekannten Leitfaden für Sprechchöre von Adolf Johannesson in der Bildungsarbeit veröffentlicht, Chorwerke österreichischer Autoren im Arbeiterjugend-Verlag Berlin publiziert. Zwischen 1925 und 1928 entspannte sich in der sozialdemokratischen Presse eine theoretische Debatte um Inhalt, Form und Funktion des Sprechchors, an der u. a. Ernst Fischer, Fritz Rosenfeld, Elisa Karau, die Leiterin des Sprechchors der Sozialdemokratischen Kunststelle, und die Volkstheaterschauspielerin Maria Gutmann, viel beschäftigte Regisseurin von Sprechchorwerken und sozialistischen Theaterstücken, teilnahmen.3 Der Sprechchor wurde von allen als die proletarische Kunstform schlechthin, als direkter Ausdruck der Gemeinschaft, des Kollektivs definiert. Er wurde mit dem Chor der griechischen Tragödie und den mittelalterlichen Mysterienspielen in Verbindung gebracht, mithin sein kultischer Charakter betont, da es seine Aufgabe sei, als »Weihespiel bei Arbeiterfesten« (Rosenfeld) zu fungieren. Wenn schon in der bisherigen Festkultur das katholische Ritual regelmäßig als Vorbild zitiert wurde, so verstärkten sich bei den Sprechchorwerken noch die liturgischsakralen Bezüge. Alle Theoretiker aber waren sich einig, dass das Sprechchorwerk sich in seinen Anfängen befinde und erst in den nächsten Jahren bzw. Jahrzehnten seine gültige Form finden werde. Die beiden ersten österreichischen Chorwerke, Kerker von Fritz Rosenfeld4

Ersten Republik. Wien: Europaverlag 1981 ; B¦la R‚sky : Arbeiterfesttage. Die Fest- und Feierkultur der sozialdemokratischen Bewegung in der Ersten Republik Österreich 1918–1934. Wien: Europaverlag 1992. 2 Im 19. Jahrhundert verfassten sozialdemokratische Arbeiterschriftsteller wie Andreas Scheu und Joseph Schiller, genannt Schiller Seff, Festspiele und allegorische Stücke. Schiller Seffs die Tradition des Wiener Volkstheaters aufnehmenden, humorvoll-satirischen Szenen Kampf der Wahrheit mit der Lüge (1880) und Selbstbefreiung (1883) können als frühe Beispiele agitatorischen Theaters angesehen werden. Siehe Friedrich Knilli, Ursula Münchow (Hgg.): Frühes deutsches Arbeitertheater 1847–1918, München: Hanser 1970, S. 202–210, 303–318. 3 Ernst Fischer: Sprechchor und Drama, Arbeiterwille, 8. 11. 1925 ; Fritz Rosenfeld: Gedanken zum Sprechchor. In : Der Kampf 19, Nr. 2/1926, S. 85–88 ; Elisa Karau: Was trägt der Sprechchor vor? In: Bildungsarbeit 13, Nr. 5–6/1926, S. 97–98, und Bildungsarbeit 15, Nr. 1/ 1928, S. 98–100; Maria Gutmann: Sprechchöre. In: Kunst und Volk 3, Nr. 1/1928, S. 14–15. 4 Fritz Rosenfeld: Kerker. Ein Sprechchor. Wien: Anzengruber-Verlag, 1925.

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und Der ewige Rebell. Ein proletarisches Passionsspiel5 von Ernst Fischer wurden im Rahmen der Republikfeier 1925 respektive im Wiener Konzerthaus und im Grazer Opernhaus aufgeführt. Beide schließen an die expressionistischen Erlöserdramen an, insbesondere an Ernst Tollers Tag des Proletariats (1920), das am 1. Mai 1924 vom Sprechchor der Kunststelle als erstes Sprechchorwerk in Wien aufgeführt worden war. In Fischers allegorischem Chorwerk Der ewige Rebell handelt es sich, wie im Untertitel angekündigt, bis in die Einzelheiten um eine Umsetzung der Lebensgeschichte Christi von der Verkündigung an Maria bis zur Auferstehung, wobei die Auferstehung des Helden vom Tode den nie erlahmenden Widerstandswillen des unterdrückten Volkes illustrieren soll. Die Sprache dieser Werke ist durch biblische Analogien und ein heute schwer erträgliches expressionistisches Pathos charakterisiert. Fischers nächstes Chorwerk, das im Rahmen der Republikfeier 1927 im Deutschen Volkstheater aufgeführte Rote Requiem, dessen Titel zwar wiederum ein religiöses Genre zitiert, dessen Ton aber deutlich sachlicher ist, ist direkter politisch.6 Es stellt dem Chor des Volks den Gegenchor der Mächtigen gegenüber und handelt von der Verurteilung und Hinrichtung der amerikanischen Anarchisten Sacco und Vanzetti, wobei allerdings nicht nur die Mächtigen, sondern auch, direkt an die Zuschauer gerichtet, die Linke angeklagt wird, die zu wenig getan habe, um die amerikanischen Genossen zu retten. Da das Stück wenige Monate nach dem 15. Juli 1927 aufgeführt wurde, liegt die Vermutung nahe, dass es sich auch um eine Kritik an der zögernden und unentschlossenen Politik der österreichischen Sozialdemokratie nach dem Justizpalastbrand handelt, wie die zynische Behauptung des Gegenchors zu bestätigen scheint: »Wir sind die ewige Gewalt,/ ihr seid die ewige Geduld«. Auch die Gegenüberstellung von (proletarischem) Chor und Gegenchor der Mächtigen konnte die neue Gattung nicht vor einem gewissen Schematismus retten, zumal die von beiden Seiten vorgebrachten Argumente dem sozialdemokratischen Publikum von vornherein vertraut waren. Dies veranlasste Fritz Rosenfeld, in seinem fast abendfüllenden Chorwerk Die Stunde der Verbrüderung, das von seiner pazifistischer Haltung Zeugnis ablegt, die auf der Bühne agierenden Chöre weiter zu differenzieren.7 Es stehen sich je vier, zwei Ländern angehörige Chöre gegenüber, die schwarzen Chöre der Mächtigen, die gemeinsam die Völker in den Krieg hetzen wollen, die gelben Chöre der Ordnungskräfte, die grauen der indifferenten Masse und die roten der Sozialisten. Dazu kommen noch die unsichtbaren Chöre der Aktien und der Granaten sowie 5 Ernst Fischer: Der ewige Rebell. Zwei Szenen aus einem proletarischen Passionsspiel. Arbeiterzeitung, 12. November 1925; Kunst und Volk 3, Nr. 9/1928, S. 89–97. 6 Ernst Fischer : Rotes Requiem. In: Kunst und Volk 2, Nr. 8/1927, S. 2–9. 7 Fritz Rosenfeld: Die Stunde der Verbrüderung. Ein dramatisches Chorwerk. Berlin: Arbeiterjugend-Verlag 1928.

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die allegorische Figur des Spielmanns Tod. Im Laufe der Handlung gelingt es den roten Chören, die grauen und gelben Chöre auf ihre Seite zu ziehen und so die schwarzen Chöre zu isolieren und den Frieden zu retten. Für Rosenfeld scheint der Sprechchor ursächlich mit dem Expressionismus zusammen zu hängen, denn in diesem 1928 veröffentlichten Werk bedient er sich einer an den frühen Toller angelehnten, geradezu karikaturistisch anmutenden expressionistischen Sprache, Jahre, nachdem dieser Sprachstil obsolet geworden war. Dieses Werk Rosenfelds scheint im Rahmen deutscher Feiern aufgeführt worden zu sein, zu Aufführungen in Österreich hingegen ließen sich keine Belege finden. Eine besondere Stellung unter den österreichischen Autoren nimmt der Volksbildner Josef Luitpold Stern ein, der mit der 1925 zur Eröffnung des EngelsHofs aufgeführten ›Kantate‹ Die neue Stadt ein von expressionistischen Einflüssen freies genuin austromarxistisches Chorwerk verfasst hat.8 Es handelt sich in erster Linie um ein Werk zum Ruhme der Wohnbaupolitik des Roten Wien, doch werden auch andere sozialdemokratische Errungenschaften und Werte gefeiert: die Bildungsarbeit, die rationale Planung, der Gemeinsinn, der künftige ›neue Mensch‹. Das Werk hat die Form eines langen allegorischen Gedichts, wobei die Aufteilung auf Einzelstimme und Chor den Ausführenden überlassen bleibt. Durch die Verwendung eines psalmodierenden Tons und einer biblischen Sprache soll eine antikatholische, »erdengläubige« Haltung zum Ausdruck kommen. Allerdings ist diese Transposition des religiösen Vokabulars auf ein profanes Thema kaum als gelungen zu bezeichnen, und es fällt schwer, Karl Kraus unrecht zu geben, wenn er dieses von ihm als »Stadtbauamtspsalm« ironisierte Werk als Kitsch empfindet.9 In ähnlich schwülstiger Form präsentiert sich Luitpold Sterns nächstes Chorwerk, das auf dem Sozialistischen Jugendtag im August 1927 vor 5000 Jugendlichen aufgeführte Klagenfurter Fackelspiel, das, den allegorischen Weg vom Dunkel zum Licht illustrierend, die nach dem 15. Juli niedergeschlagenen Gemüter der Jugendlichen wieder aufrichten sollte.10 Auch das vielleicht am häufigsten aufgeführte Festspiel, Viktor Kordas Oratorium Die Stunde der Befreiung basierte auf Texten Luitpold Sterns. Luitpold Stern, der sich sehr für den Einbau des sozialistischen Oratoriums in die Festtage einsetzte, musste sich jedoch eingestehen, dass es sich beim Sprechchorwerk um eine »von den Massen noch wenig verstandene Kunst-

8 Josef Luitpold Stern: Die neue Stadt. Kantate. Berlin: Arbeiterjugend-Verlag 1927; auch in: Alfred Zohner (Hg.): Das Josef-Luitpold-Buch. Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung 1948, S. 197–201. Dieses Werk wurde erneut 1926 am Vortag des Republikfeiertags im Großen Wiener Konzerhaussaal mit Musik von Paul A. Pisk als Oratorium aufgeführt. 9 Karl Kraus: Die Wohnbaukantate. In: Die Fackel Nr. 820–826/1929, S. 57–64. 10 Josef Luitpold Stern: Das Klagenfurter Fackelspiel. In: Alfred Zohner (Hg.) : Das JosefLuitpold-Buch (Anm. Nr. 8), S. 202–209.

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form«11 handle, dieses also nur einen begrenzten Erfolg verzeichnete. In der Tat hatten sich die Hoffnungen der Theoretiker auf eine Weiterentwicklung der Gattung und also eine Erneuerung des sozialistischen Theaters durch den Sprechchor nicht erfüllt. Nach 1928 entstanden keine Sprechchorwerke mehr, deren Autoren wandten sich neuen Gattungen zu, Rosenfeld neusachlichen Szenenfolgen, Fischer dramatischen Versuchen wie seiner Revolutionstragödie Lenin (1928), in der der Sprechchor dazu bestimmt war, die »Melodie der Zeit« zu verkörpern. Neben den allzu begrenzten dramaturgischen Möglichkeiten und dem Fehlen jeder kämpferischen Dynamik war es wohl vor allem die eigentümliche, vom Weihecharakter der Festkultur geforderte übertrieben feierlichpathetische Sprache der meisten Chorwerke, die das Publikum ermüdete und die Autoren dieser Gattung den Rücken zukehren ließ.12

Die Sozialistische Veranstaltungsgruppe und das Politische Kabarett Anfang der 1930er Jahre änderte sich angesichts der progressiven Schwächung der Partei wie der nationalsozialistischen Gefahr und des Erstarkens der faschistischen Kräfte im Inland die offizielle Politik der Partei: die nach innen gerichtete Fest- und Feierkultur machte einer nach außen gerichteten Propagandatätigkeit Platz, wovon etwa die Gründung der Propagandastelle 1932 zeugt. Massendemonstrationen, Festumzüge, ›proletarische‹ Sportveranstaltungen, Massenspiele im Stadion nahmen immer mehr Raum ein, Blaue-Blusen-Gruppen der SAJ wurden im Wahlkampf eingesetzt.13 Parallel dazu entwickelten sich, im Umkreis der Jungfront- und der Linksopposition, die von der Sozialistischen Veranstaltungsgruppe ins Leben gerufenen Rote-Spieler-Gruppen.Doch reicht die Tätigkeit der von Ludwig Wagner, Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda und Hans Zeisel gegründeten Sozialistischen Veranstaltungsgruppe in eine Zeit zurück, als die traditionelle Festkultur noch unangefochten dominierte. 1925 wurde im Rahmen der Ferienkolonie des VSM in Ferlach von den sich ›Rote Spielleute‹ nennenden Mittelschülern und Studenten eine historische Revue über den Bauernkrieg erarbeitet, die in vielen sozialdemokratisch verwalteten Gemeinden aufgeführt wurde, 1926 folgte Achtzig Jahre Märzrevolution, 1927 Krieg dem 11 Zit. in Hans Rusinek: Der Arbeiterbildner Josef Luitpold. In: Arbeit und Wirtschaft, 1. 5.1951. 12 Zu den Sprechchorwerken siehe ausführlich Jürgen Doll: Theater im Roten Wien. Vom sozialdemokratischen Agitprop zum dialektischen Theater Jura Soyfers. Wien, Köln, Weimar : Böhlau, 1997, S. 62–78; Pia Janke: Politische Massenspiele in Österreich zwischen 1918 und 1938. Wien, Köln, Weimar : Böhlau, 2010, S. 87–113. 13 Siehe dazu B¦la R‚tky : Arbeiterfesttage (Anm. Nr. 1), S. 100–139.

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Kriege!, historische Szenenfolgen, die von den sowjetischen Massenspielen beeinflusst waren.14 Doch tat die Sozialistische Veranstaltungsgruppe den entscheidenden Schritt zur Moderne erst, als sie sich statt mit der Geschichte mit der politischen Aktualität befasste und als sie sich formal vom historischen Bilderbogen ab und den Formen des modernen Unterhaltungstheaters wie Variet¦, Revue und Kabarett zuwandte. Dabei spielte Robert Ehrenzweig, einer der späteren Verantwortlichen der Gruppe, der zuweilen mit ›Neon‹ zeichnete, eine bestimmende Rolle. Als Mitbegründer des Politischen Kabaretts erklärt er dessen Ziele und Praxis 1927 als Versuch, das Lachen in den Dienst der Propaganda der Partei zu stellen, publiziert 1929 den Artikel ›Revue‹, in dem er die Revue als ›Zeittheater‹, als ›Stoff vom Stoff der Zeit‹ begreift und als Vorbilder Die letzten Tage der Menschheit und Tollers von Erwin Piscator als Revue inszeniertes Stück Hoppla, wir leben! angab. Im selben Jahr veröffentlicht er den Artikel ›Agitationstheater‹, in dem er dieses als wirksame Waffe im Klassenkampf definiert, und schließlich 1932 den Aufsatz ›Das Theater der Masse‹.15 Andere Mitglieder der Veranstaltungsgruppe wie Karl Sobel und Jura Soyfer übernahmen die Ideen Ehrenzweigs und entwickelten sie weiter. Sie alle waren Studenten, junge Intellektuelle und angehende Künstler, die sich mehrheitlich am linken Rand der Partei situierten.16 Ihr Ziel war es, die Festkultur nach dem Motto: ›Nicht Feier, sondern Kundgebung‹17 zu politisieren, zu versachlichen und der Aktualität anzupassen. In ihren Bemühungen um ein aktuelles politisch-satirisches Theater waren die Aktivisten der Veranstaltungsgruppe besonders vom revolutionären Theater in der Sowjetunion und im Deutschen Reich beeinflusst, insbesondere von der Moskauer Blauen Bluse, die als erste Truppe Formen des Vari¦t¦s und des Revuetheaters für politische Zwecke adaptierte, sowie von deutschen sozialdemokratischen und kommunistischen Agit-prop-Truppen wie den Dresdner ›Ratten‹, den ›Roten Sprachrohr‹ oder der ›Kolonne Links‹, die ebenfalls dem russischen Beispiel folgten. Das erste Ergebnis ihrer Auseinandersetzung mit ausländischen Experimenten war die Gründung des Politischen Kabaretts, das von Dezember 1926 bis Februar 1933 13 Programme präsentierte.18 Das Politische Kabarett war eine 14 Hans Zeisel: Wir machen Revolution. In : Der Schulkampf, März 1926, S. 3–5. 15 Neon: Politisches Kabarett. In : Kunst und Volk, Dezember 1927, S. 7–8; Neon: Revue. In: Kunst und Volk, Februar 1929, S. 153–155; Neon: Agitationstheater. In: Sozialistische Veranstaltungsgruppe (Hg.): Das Politische Kabarett. Wien 1929, S. 2–4; Robert Ehrenzweig: Das Theater der Masse. In: Die Politische Bühne, Juni 1932, o. S. 16 Victor Gruen [= Viktor Grünbaum], Shopping Town: Memoiren eines Stadtplaners. Wien: Böhlau 2014, S. 103–109. 17 Ludwig Wagner : Antikriegskundgebung, nicht Antikriegsfeier ! In: Die Politische Bühne 2, Nr. 7–8/1933, S. 106–108. 18 Siehe zum Politischen Kabarett die kommentierte Textauswahl von Friedrich Scheu (Hg.):

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satirische Bühne, die Aufklärung und Propaganda durch Lachen befördern wollte. Insofern war die Gründung des Kabaretts auch eine frühe Reaktion auf die angestrengte Feierlichkeit der Festkultur und die pathetischen, rhetorisch überfrachteten Sprechchorwerke. Im Programm des sogenannten ›Urkabaretts‹, das am 4. Juli 1926 vor der Parteiprominenz die Kulturpolitik der Partei aufs Korn nahm, hieß es programmatisch, wenn auch noch etwas unbeholfen: Dein Pathos ist ein leerer Topf! Schweig still! Ich sag’s dir auf den Kopf, Mit deiner tragischen Gebärde Lockst keinen Hund hervor du hinterm Herde!

Das Kabarettteam umfasste rund 30 Mitwirkende. Die Programme schrieben anfangs Ludwig Wagner, Viktor Grünbaum, der auch die Rolle des Conf¦renciers innehatte, und Robert Ehrenzweig, später stießen Karl Sobel und Edmund Reismann dazu und ab 1928 verfassten, nach Aussage von Ehrenzweig, er und Jura Soyfer praktisch die Gesamtheit der Texte. Für die musikalische Begleitung sorgten Hermann Zimbelius, Erwin Leuchter und Fritz Jahoda, die Bühnenbilder schufen Arnold Meiselmann und Walter Harnisch, die auch als Schauspieler mitwirkten. Ernst Fischer arbeitete gelegentlich mit und sorgte mit regelmäßigen begeisterten Besprechungen in der Arbeiterzeitung für Publizität. Eine Besonderheit des Politischen Kabaretts innerhalb des internationalen Agitationstheaters war die Präsenz einer von einer Berufstänzerin ausgebildeten Truppe kurz geschürzter Girls, die die freie, ungezwungene sozialistische Jugend verkörpern und die moralische Heuchelei, die Bigotterie und die überlebten Sitten des christlichsozialen Lagers der Lächerlichkeit preisgeben sollte. Allerdings handelte es sich beim Politischen Kabarett nicht wirklich um Agitationstheater, sondern um eine Parteibühne, die praktisch nur vor sozialdemokratischen Auditorien auftrat, zuerst in den ›Kunstspielen‹ in der Riemergasse, danach in Arbeiterheimen und Gewerkschaftslokalen. Obwohl sie der innerparteilichen Opposition nahestanden und von der Partei finanziell nicht unterstützt wurden, folgten die Kabarettisten immer treu der Parteilinie, einschließlich deren Irrtümern, Fehleinschätzungen und Illusionen, und griffen ausschließlich den politischen Gegner an. Den ersten sechs Programmen, die innerhalb von zwei Jahren von Ende 1926 bis Ende 1928 aufgeführt wurden, lag eine Vari¦t¦-Struktur zugrunde, die sich an sowjetische Vorbilder anlehnte und der Improvisation viel Platz ließ. Thematisch und formal unterschiedliche Szenen wurden durch eine Conf¦rence mitHumor als Waffe. Politisches Kabarett in der Ersten Republik. Wien, München, Zürich: Europaverlag 1977; Susanne Eiselt-Weltmann, Das ›Politische Kabarett‹ und die ›Roten Spieler‹. Agitation und Propaganda der österreichischen Sozialdemokratie 1926–1934. Diss. Univ. Wien 1987; Jürgen Doll: Theater im Roten Wien (Anm. Nr. 11), S. 83–210.

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einander verknüpft. Zielscheibe der Satire waren die christlichsoziale Regierung und einzelne, in Skandale verwickelte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die reaktionäre Presse, das Sumpertum und die Vergangenheitsseligkeit des Wiener Kleinbürgertums. Der Ton war nicht besonders scharf, eher übermütigburlesk, die Christlichsozialen wurden, mit Ausnahme Seipels, eher als dumm und beschränkt denn als gefährlich dargestellt. Dies gilt auch für die Figuren aus dem Volk, die von einem Programm zum anderen wieder kehrten: der Hausbesitzer Zinsgeier, die katholische Jungfer Eulalia, das Bürgerpaar Herr und Frau Pamsti, die Kleinbürgerfrauen Blaschke, Reserl, Sopherl usw. Sie wurden ausschließlich negativ gezeichnet, der Kleinbürger wurde, politisch fragwürdig, systematisch mit dem Spießbürger in eins gesetzt. Zuweilen traten auch Bauern auf wie der Bürgermeister von Hinterstoißen, der übrigens die damals in Wien gastierende Nackttänzerin Josephine Baker auf das Konto der Kinderfreunde buchte. Die einzige positive Figur war der den Schlussappell sprechende heroische Arbeiter. Mögen die ersten Programme zuweilen auch noch etwas schülerhaft wirken, so zeichnen sie sich doch durch großen formalen Reichtum aus: Monologe, Dialoge, Sprechchöre, Lieder, Couplets, Chöre und Tanzeinlagen der KabarettGirls wechseln mit Parodien, Travestien, Allegorien, Traumeinlagen, didaktischen und ernsten Szenen ab. Die letzte Szene ist immer ernst, wobei der Übergang von der Satire zum ernsten Schlussbild nicht immer gelang. Die Dramaturgie ist auf Szeneneffekte aufgebaut, die teils dem Kabarett, teils dem Agitationstheater entlehnt waren und auf die Entlarvung des politischen Gegners abzielten. Anders als die deutschen Truppen komponierten die Mitglieder des Politischen Kabaretts die Musik der Lieder nicht selber, sondern unterlegten den satirischen Texten populäre Schlager- und Volksliedmelodien. Durch den Gegensatz zwischen Text und Melodie wurde der komische Effekt gesteigert und die angestrebte Demaskierung der Figur verstärkt. Neben dem Einfluss des ausländischen Agitationstheater ist in den ersten sechs Programmen besonders jener von Karl Kraus omnipräsent. Mit mehr oder weniger Geschick plünderten die Kabarettisten Die letzten Tage der Menschheit für alle Szenen, die mit dem Ersten Weltkrieg oder mit der Monarchie zusammen hängen, und die Fackel und das Schlüsseldrama Die Unüberwindlichen für solche aus der politischen Gegenwart. Sie polemisierten gegen dieselben, heute großenteils vergessenen Gegner – Castiglione, Weiß, Schober, Vaugoin, Lippowitz -, lehnten sich an Kraus’ Kontrafakturen patriotischer Lieder an und versuchten, allerdings mit gemischtem Erfolg, das von Kraus entwickelte Verfahren des kommentarlosen Zitierens zu imitieren. Ab dem 7. Programm, Hallo, hier Klassenharmonie!, nahmen die Bezüge auf Kraus, der seine Angriffe gegen die Sozialdemokratie aufs heftigste wieder aufgenommen hatte, zusehends zugunsten von Anleihen beim Altwiener Volkstheater ab.

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Das siebte Programm, das im Februar 1929 uraufgeführt wurde, stellt in mehrfacher Hinsicht einen Wendepunkt in der Geschichte des Politischen Kabaretts dar. Die Struktur der Programme änderte sich von Grund auf, der Rückbezug auf das Volkstheater wurde zum dominierenden Element, Jura Soyfer wurde neben Ehrenzweig zum maßgeblichen Autor. Robert Ehrenzweig verbrachte 1928 berufsbedingt mehrere Monate in Berlin, wo er, über Vermittlung Leo Lanias, Kontakt mit dem Piscator-Kollektiv aufgenommen hatte. Diese Erfahrung scheint ausschlaggebend gewesen zu sein für den Übergang vom Nummernkabarett zur politischen Revue.19 An die Stelle einer Folge von untereinander nur lose verknüpfter Szenen tritt die um eine Hauptfigur organisierte, eine durchgängige Geschichte erzählende Szenenfolge, wobei, dem Prinzip des Stationendramas gemäß, weniger die Hauptfigur als die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche, denen sie sich gegenübersieht, thematisiert werden. Es handelt sich um eine rudimentäre, damals aber durchaus innovative Form eines episch-didaktischen Theaters, in dessen Dienst das reichhaltige Arsenal an parodistischen, travestierenden, allegorisierenden, szenentechnischen Verfremdungsmitteln des Kabaretts gestellt wurde. Der von den Kabarettisten gesuchte Publikumsbezug wurde durch die klassischen Vermittler zwischen Bühne und Zuschauer hergestellt: Prolog und Epilog, Spielleiter, direkte Publikumsadressen, eingeschobene Lieder und Chöre, didaktisches Bühnenbild im Sinne Piscators. Diese episierenden Elemente haben die Kabarettisten im Altwiener Volkstheater vorgefunden, in dem sie eine Art Frühform des epischen Theaters erkannten. Dieser Volkstheaterbezug – wie schon vorher jener auf Karl Kraus – weist das Politische Kabarett als genuin österreichisches Unternehmen aus, unterscheidet es grundlegend vom internationalen Agitationstheater, in dem Volkstheateranleihen nur sehr spärlich vorkamen, und verbietet es, in ihm, wie zuweilen unterstellt, eine Wiener Dependance der Piscator-Bühne zu sehen. Im 7. und 8. Programm setzten sich die Kabarettisten mit dem erstarkenden Heimwehrfaschismus auseinander. Die Revue Hallo, hier Klassenharmonie! (1929)20, die sich gegen den sich auf gelbe Gewerkschaften stützenden Betriebsfaschismus und die Ideologie der ›Werksgemeinschaft‹ richtet, parodiert das Alt-Wiener Zauber- und Besserungsstück, wobei Raimunds Der Bauer als Millionär als unmittelbare Vorlage diente. Allerdings handelt es sich nicht um einen Bauern, der Millionär, sondern um einen Millionär, Camilo Goldschieber, der Arbeiter werden will, um sein Motto »Arbeiter der Maschine und des 19 Neben den vier Revuen, von denen im Folgenden die Rede ist, griff das Politische Kabarett bis 1933 in den folgenden drei Programmen auf die Vari¦t¦-Struktur zurück: Österreich, wo gehst hin? (Oktober 1930), Warum? Darum? (Dezember 1931), Wie wählt Wien? (April 1932). 20 Friedrich Scheu (Hg.): Humor als Waffe (Anm. 15), S. 143–183.

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Scheckbuchs gehören zusammen« in der Praxis zu erproben, was ihm von dem im Caf¦ Geisterhof residierenden Geisterkönig ermöglicht wird. Er schreibt sich in die gelbe Gewerkschaft ein und stellt sich, als im Betrieb ein Streik ausbricht, auf die Seite der streikenden Arbeiter. Nachdem er zuerst vergeblich versucht hat, das Wohlwollen des reaktionären Neuen Wiener Journals, hier, wegen der einschlägigen Annoncenpolitik ›Massage-Salon Madame Sligowitz’ genannt21, zu gewinnen, begibt er sich zum Sitz der gelben Gewerkschaft, die mit Hilfe geglückter Szeneneffekte als Filiale des Industriellenverbands vorgeführt wird. Dort wird Goldschieber, anstatt die erwartete Unterstützung zu bekommen, von seinen Kameraden verprügelt und als Aufwiegler der Polizei übergeben. In diesem Moment löst sich der Zauber und Goldschieber wird wieder der harte, ausbeuterische Kapitalist, der er vor seiner Verwandlung gewesen ist. Denn, so die deterministische Erklärung: »Und Sie mögen persönlich auch ein anständiger Mensch sein und den besten Willen haben, die Gesellschaftsordnung zwingt Sie, unanständig zu handeln. Auch Sie sind ein Gefangener des Systems«. Wir haben also mit dieser Revue ein politisiertes Besserungsstück vor uns: An die Stelle der universellen Harmonie Raimunds, wie sie die Kabarettisten interpretierten, trat die Klassenharmonie, deren Unmöglichkeit aufgezeigt werden soll. Wenn sich in Hallo, hier Klassenharmonie! auch verschiedene Anleihen bei Nestroy finden, etwa in der Satire der Zimmerwirtin Frau Dracherl oder der reichen müßiggängerischen Freunde Goldschiebers Herr von Welt, Fräulein Lippenstift und Fräulein Puderdose, so zielt die Parodie in erster Linie auf die dem Besserungsstück zugrunde liegende Ideologie des Sich-Bescheidens, wovon auch die eingeschobene, besonders geglückte, den Hollywood-Film persiflierende Szene vom Schuhputzer handelt, der es dank seiner Heirat mit der Fabrikantentochter zum Millionär bringt. Die faschistische Ideologie von der Klassenharmonie, so die endgültige Botschaft, ist ebenso falsch wie die den biedermeierlichen Besserungsstücken zugrunde liegende Ideologie der sozialen Genügsamkeit. In der folgenden, 1930 aufgeführten Revue Hirnschal macht Weltgeschichte22 macht sich das Kabarett in übermütiger Manier über die zahlreichen, bis dahin nicht realisierten Putschpläne der Heimwehren lustig. Kurz die Geschichte: Der Wiener Kleinbürger Sebastian Hirnschal sitzt im Schlafrock beim Frühstück und erfährt zu seinem Entsetzen, dass die Bäcker streiken, es also keine Kipferln gibt. Da weiß er : »Es muaß was g’schegn!« Er stürmt ins Wirtshaus und gründet dort mit seinen Heimwehr- und Saufkumpanen Hopatatsch, Pallawatsch und Fix Laudon eine Volksbewegung, zu deren Führer er ernannt und die von dem 21 Sligowitz ist der auch von Karl Kraus aus denselben Gründen unermüdlich angegriffene Herausgeber des Neuen Wiener Journal Jakob Lippowitz. 22 Friedrich Scheu (Hg.): Humor als Waffe (Anm. 15), S. 184–206.

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bereits bekannten Goldschieber finanziert wird. Zuerst geht es gegen das Rote Wien, das im Handstreich erobert wird. Darauf fordert Hirnschal sein Jahrhundert in die Schranken. Die Volksbewegung erklärt England den Krieg. Man fährt in einem Schinackl bis zu den Donauquellen und von dort weiter nach England, das im Nu besiegt wird. Amerika wird versehentlich gleich mitgenommen, Hirnschal ist der Herr der Welt. Da beschließt er auch noch den Mond zu erobern, der ihn an sein Frühstückskipferl erinnert. Am Ende des Stücks wird der selbsternannte Diktator schließlich ins Irrenhaus gesteckt. Es handelt sich um eine Hanswurstiade, bei der alle Register der Burleske gezogen werden. Hirnschal, der entfesselte Spießbürger, ist zugleich ein Maulheld und ein Pantoffelheld, unter den Weibern regiert der Tratsch, die verschiedenen Fraktionen angehörenden Heimwehrler prügeln sich auf offener Bühne usw. Bei seinem Putschunternehmen wird Hirnschal von den Heerführern Kahlenberg, Major Putsch und Großmaul unterstützt, hinter denen sich die Heimwehrführer Starhemberg, Pabst und Steidle verbergen. Zu diesen gesellt sich der brave Soldat Schwejk, eine der wenigen positiven Volksfiguren des Kabaretts, der in seiner naiv-dreisten Art die negativen Charakterzüge der einzelnen Heimwehrführer aufdeckt. So amüsant diese Revue auch ist, so fragwürdig ist sie politisch. Wie in den frühen Nummernprogrammen wird der Kleinbürger mit dem Spießbürger gleich gesetzt, wie dort die Christlichsozialen werden nun die Heimwehrler von oben herab, mit Verachtung behandelt und so verharmlost. Der sozialdemokratische Zuschauer konnte beruhigt nach Hause gehen: Hirnschals Abenteuer war nichts als der Wahn eines Verrückten. Die 1931 aufgeführte Revue Denken verboten! lehnt sich an die Nestroysche Posse mit Gesang an.23 Ihr Thema ist Medienkritik, an der Sensationspresse, wiederum am Beispiel des ›Neuen Wiener Skandals‹ des Herrn Sliwowitz, sowie, in einem eingeschobenen Bild, am hurrapatriotischen Film des nazifreundlichen Herrn Hugenhügel alias Hugenberg. Der von Entlassung bedrohte Redakteur Fix erfindet die Geschichte vom Wundermittel Klugolin, das die Dummheit heilt, und rekrutiert als Erfinder des Mittels den heruntergekommenen Maler Schlamp. Gesungenes, wahrhaft utopisches Motto: »Da braucht man nur a klane Dosis Klugolin/ Bald gibt es kane Teppen, kane Teppen mehr in Wien!« Alle Welt, darunter der Heeresminister, Generaldirektor Goldschieber, der Nazi Teut, Sliwowitz, und die Jungfer Eulalia, drängt sich vor dem Sanatorium von Professor Dr. Zacharias Schlamp, um Hilfe für ihre und der Welt Übel zu finden. Goldschieber beschließt, das Wundermittel für eine Million Schilling zu kaufen, um zu verhindern, dass die Menschen zu gescheit werden. Am Ende fliegt der Schwindel auf und die Vertreter der herrschenden Klasse stehen, wie 23 Denken verboten! Eine politische Revue, Nachlass Ehrenzweig-Lucas. (Privatbesitz des Autors)

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bei Nestroy, als betrogene Betrüger da. Die Figur des sympathischen, nicht völlig gesinnungslosen und daher beruflich erfolglosen Fix wie der skeptisch-melancholische Ton der Lieder verraten den Einfluss des von Ehrenzweig verehrten Erich Kästner, dessen Revue Leben in dieser Zeit 1931 in Wien mit großem Erfolg aufgeführt wurde. Demgemäß ist der Ton dieser Revue eher melancholisch als kämpferisch und ihr Schluss eher pessimistisch als aufbauend. Nicht nur, dass der im Grunde anständige Fix gegen den unverfrorenen Schlamp den Kürzeren zieht, sondern auch Goldschieber ist letzten Endes zufrieden, da er lieber betrogen wird als darauf verzichten zu müssen, weiter das Volk zu betrügen. Von der letzten, ambitionierten Revue des Politischen Kabaretts, der AntiUtopie MM1 oder der Triumph der Technik (1933) ist praktisch nichts erhalten. Das Kabarett nahm sich nichts Geringeres vor, als die von der Krise aufgedeckte Dialektik des technischen Fortschritts zu erhellen. Der Maschinenmensch, »die verkörperte Rationalisierung«, ist der ideale Arbeiter und in dem der Krise notwendig folgenden Weltkrieg der ideale Krieger, der bis zur völligen Vernichtung der Menschheit kämpft. Diese enthumanisierte, alptraumhafte Vision der Krise und des totalen Kriegs scheint das Gefühl der Machtlosigkeit zu verraten, das von den Sozialdemokraten in den letzten Monaten Besitz ergriffen hatte. Außerdem fand sich in dieser Revue eine eingehende Kritik an Hitler und dem Nationalsozialismus, wie wir ihr in den Roten-Spieler-Szenen begegnen werden.24

Die Roten Spieler Nach dem erfolgreichen Einsatz der Blauen-Blusen-Truppen und von zwei Gruppen des Politischen Kabaretts im Gemeinderatswahlkampf 1932 forderte die Partei dieses auf, sich in der Propagandaarbeit stärker zu engagieren. So wurden auf dessen Initiative Mitte 1932 die ersten Rote-Spieler-Gruppen gebildet. Im September 1932 bestanden in Wien bereits acht Gruppen, von denen vier in der Provinz auftraten. Im Februar 1933 soll es in ganz Österreich rund hundert Rote-Spieler-Gruppen gegeben haben.25 Nach März 1933 und der Ein24 Robert Plank: Der Triumph der Technik. In: Die Politische Bühne 2, Nr. 3–4/1933, S. 54–55. Nach dem Vorbild des Politischen Kabaretts entstanden in der politisierten Atmosphäre der frühen 1930er Jahre andere ähnliche Truppen wie ›Die gottlosen Spielleute‹, eine Freidenkertruppe unter Leitung von Stefanie Endres, oder ›Das Rote Kollektiv‹, eine linke Abspaltung des Sprechchors der Kunststelle. Allerdings schrieben diese Truppen ihre Texte nicht selbst, sondern griffen auf zeitgenössische politische Chansons und Gedichte zurück, so etwa in dem von Adolf Unger zusammengestellten Programm des Roten Kollektivs Da stimmt was nicht (Arbeiterzeitung, 24. Oktober 1933). 25 Robert Ehrenzweig: Vierhundertmal Politisches Kabarett. In: Die Politische Bühne 2, Nr. 2/ 1933, S. 29.

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schränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit waren sie zusehends Schikanen ausgesetzt, Spielmaterial wurde beschlagnahmt, Rote Spieler wurden verhaftet und eingesperrt. Im November 1933 wurden die Roten-SpielerGruppen von der Regierung Dollfuß verboten, dennoch traten sie, etwa im Rahmen von Sportveranstaltungen, bis zum Februar 1934 auf.26 Die im Februar 1932 gegründete, von Robert Ehrenzweig, Karl Sobel und Jura Soyfer redigierte Zeitschrift der Sozialistischen Veranstaltungsgruppe Die Politische Bühne fungierte als Verbindungsorgan der Roten Spieler. Sie enthielt theoretische Artikel über Agitation und Feiergestaltung, informierte über die Aktivitäten der verschiedenen Gruppen und publizierte eine große Zahl von Rote-Spieler-Szenen. Im Gegensatz zu den Mitarbeitern der Veranstaltungsgruppe, die die Texte verfassten und den Roten Spieler-Gruppen mit Rat und Tat zur Seite standen, waren die Spieler selbst meist junge Arbeiter und Arbeitslose. Sie wandten sich nicht mehr vornehmlich an Parteigenossen, sondern versuchten, mit ihrer Propaganda nichtorganisierte Arbeiter in den Industrieorten und sogar die Kleinbauern auf dem Lande zu erreichen. Damit lösten sie sich aus dem sozialdemokratischen Kommunikationszusammenhang und betrieben zum ersten Mal Agitation im eigentlichen Sinn. Nach 1932 verschwand die Innenpolitik, mit Ausnahme der Wirtschafts- und Sozialpolitik, aus den Programmen. Der wesentliche Kampf galt dem Nationalsozialismus. Es ging vor allem darum, die inneren Widersprüche und die soziale Demagogie der Nazis zu demaskieren. Hitler wurde etwas simpel als Lakai des Kapitals präsentiert, wobei die Kapitalismuskritik von antisemitischen Vorurteilen nicht frei war. Die Szenen waren kurz, leicht verständlich und ausgesprochen didaktisch. Sie waren meist auf die Wechselrede von Sprecher und Sprechchor, auf ein Frage-Antwort-Schema aufgebaut, das häufig bereits im Titel der Szene zum Ausdruck kam: Wer zieht den Draht?, Wer nimmt euren Kindern das Brot?, Wer steckt dahinter?, Vorwärts oder rückwärts? Wohin gehörst du?, Z’was brauch ma a Hakenkreuz? usw. Im Bewegungschor wurde die Antwort gestisch erteilt. Andere Szenen gaben sich kämpferischer : Abrechnung folgt!, Kämpft mit uns! Die Masken herunter! Manchmal durchaus gelungen, setzen die auf eine vorher gegebene Lösung aufgebauten Szenen die Identifikation des Zuschauers voraus, weshalb es zweifelhaft ist, ob sie ein skeptisch oder gar feindlich eingestelltes Publikum überzeugen konnten. Ein weiteres Anliegen der Veranstaltungsgruppe war die Politisierung der sozialdemokratischen Feste, wobei anstelle des Sprechchorwerks die der tag-

26 Siehe zu den Roten-Spielern die Materialsammlung von Hans Magschok (Hg.): Rote Spieler, Blaue Blusen. Wien-Köln-Graz: Böhlau, 1983, S. Eiselt-Weltmann: Das »Politische Kabarett«, wie Anm. 18, S. 144–192 und Jürgen Doll: Theater im Roten Wien (Anm. Nr. 12), S. 238–270.

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espolitischen Aktualität gewidmete Revue propagiert wurde.27 Robert Ehrenzweig hatte bereits für die Maifeier 1930 die Revue von gestern bis morgen verfasst, die unter der Regie von Maria Gutmann und mit einem Bühnenbild von Otto Rudolf Schatz im großen Konzerthaussaal aufgeführt wurde. Ihr Inhalt war die weltweite Unterdrückung der Arbeitenden, die Auswirkungen von Krieg, Inflation und Krise sowie der Kampf der unterdrückten Nationen und Proletarier gegen das organisierte Großkapital. In der Politischen Bühne wurden wenig überzeugende Revuen zum Republiktag von Hans Fischer und Fritz Brainin28 sowie drei Revuen von Willy Miksch abgedruckt. Willy Miksch, vielleicht der einzige Arbeiter unter den Autoren der Veranstaltungsgruppe, hat eine ganze Reihe von Revuen und Festspielen verfasst, von denen die internationalistischen Revuen Der Funkturm der Welt (1932), die ihrerseits Rosenfelds oft aufgeführte Revue Echo der Welt beeinflusste29, und Das Bauvolk der Erde (1933) mit Musik von Kurt Pahlen am gelungensten sind.30 Sie setzen den weltweiten Kampf der Arbeiter in Szene, wobei sich besonders Das Bauvolk der Erde durch seine klare Struktur, nüchterne Sprache und epische Dramaturgie auszeichnet. Das gilt auch für Jura Soyfers ebenfalls in der Politischen Bühne publizierte Rote-SpielerSzene Christbaum der Menschheit (1932), in der die Weihnachtsfeier einer Arbeitslosenfamilie der einer Bankiersfamilie gegenübergestellt wird. Die Sparsamkeit der Mittel, die Strenge der szenischen Anordnung, die didaktische Klarheit der Argumentation machen aus dieser Szene ein Modell der Gattung. Soyfers satirische Szenenfolge für Silvester 1933 König 1933 ist tot – Es lebe König 1934! hingegen weist eine sehr komplexe Struktur auf, und angesichts der burlesken Verskunst, der parodistischen Zitate patriotischer Lieder, der literarischen Anspielungen und Kontrafakturen scheint es wahrscheinlich, dass diese Szenenfolge eher für das Publikum des Politischen Kabaretts als für ein Arbeiterpublikum bestimmt war.31 Es sei noch hinzugefügt, dass die Mitarbeiter der Veranstaltungsgruppe auch an den spektakulärsten sozialdemokratischen Massenveranstaltungen mitge27 Karl Sobel, Über proletarische Feiergestaltung. In: Die Politische Bühne 1, Nr. 2/1932, S. 21–22. 28 Hans Fischer : Der Tag der Republik. In: Die Politische Bühne 1, Nr. 2/1932, S. 30–35 ; Fritz Brainin: Noch sind nicht alle November vorbei. In: Die Politische Bühne 2, Nr. 10/1933, S. 154–166. 29 Robert Ehrenzweig: Echo der Welt. In: Die Politische Bühne 1, Nr. 4/1932, S. 73. 30 Willy Miksch: Das Bauvolk der Erde. In: Die Politische Bühne 2, Nr. 3–4/1933, S. 55–63. Bezeugt sind außerdem Aufführungen von Mikschs Revuen Krieg dem Kriege bei der LeninLiebknecht-Luxemburg-Feier der Jungfront 1932, von Stunde des Gedenkens im selben Jahr, Um unsere Toten. Ein Gedenkspiel für alle, die auf dem ›Felde der Arbeit‹ gefallen sind und Rote Sonnenwende 1933. 31 Jura Soyfer, Szenen und Stücke. Hg. von Horst Jarka. Wien: Europaverlag 1993 (2. Aufl.), S. 29–45. Jura Soyfers mehrfach aufgeführte ›Deutschlandkundgebung‹ Wir klagen an (1933) ist nicht mehr auffindbar.

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wirkt haben. So konzipierte Robert Ehrenzweig das anlässlich der Arbeiterolympiade 1931 im Wiener Stadion aufgeführte Festspiel, an dem in zwei Vorstellungen 4000 Arbeiterturner und Jungsozialisten vor insgesamt 120000 Zuschauern den Befreiungskampf des Proletariats vom Mittelalter bis zur Gegenwart nachstellten. Regie führte der Mitarbeiter Max Reinhardts Stephan Hock, die musikalischen Arrangements besorgten Erwin Leuchter und Leo Human, die szenische Ausstattung, darunter der riesige Turm des Kapitals, war das Werk von Meiselmann und Harnisch. Meiselmann und Harnisch gestalteten auch den von Julius Braunthal konzipierten ›Festzug des neuen Wien‹, der im April 1932 durch die Arbeiterbezirke führte und der Aufbauarbeit der sozialdemokratischen Gemeindeverwaltung gewidmet war. Beim Maifestspiel im Wiener Stadion 1932, das von Stefanie Endres und Marie Deutsch-Kramer verfasst wurde und an dem 6000 Turner und sozialistische Jugendliche mitwirkten, zeichneten wiederum Meiselmann und Harnisch für Kostüme und Ausstattung, Human und Leuchter für die musikalische Gestaltung verantwortlich.32

Ausblick Die Mitarbeiter und Autoren der Sozialistischen Veranstaltungsgruppe haben sich immer dagegen verwehrt, künstlerische Ambitionen zu entwickeln und bestanden darauf, nur der Propaganda zu dienen. Dennoch verdienen es ihre Bemühungen, auch künstlerisch gewertet zu werden. Die beiden Hauptautoren der Gruppe, Robert Ehrenzweig und Jura Soyfer, haben in ihren späteren Werken direkt an ihre frühere Tätigkeit angeschlossen, der eine in den satirischen Hirnschal-Briefen, der andere in seinen Mittelstücken. Sie haben insbesondere den Versuch, das Alt-Wiener Volkstheater in einer politischen Perspektive zu erneuern, weitergeführt, haben aber auch aus Fehleinschätzungen des Politischen Kabaretts die Lehre gezogen und gezeigt, dass die Politisierung des Volkstheaters nicht notwendig parteiische Einseitigkeit und also Verhöhnung des Kleinbürgertums impliziert. In seinen erfolgreichen BBC-Sendungen Briefe des Gefreiten Adolf Hirnschal an seine geliebte Amalie in Zwieselsdorf hat Robert Ehrenzweig unter seinem Exil-Namen Robert Lucas aus dem Hirnschal des Politischen Kabaretts eine Schwejk-Figur gemacht, mit der sich die potentiell

32 Siehe B¦la R‚sky : Arbeiterfesttage (Anm. Nr. 1), S. 100–118; Brigitte Zarzer : Arbeitertheater in der österreichischen Sozialdemokratie (1918–1934). Diplomarbeit Universität Wien 1993; Pia Janke: Politische Massenspiele (Anm. Nr. 11), S. 114–142.

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regimekritischen Radiohörer in Nazideutschland und an der Front identifizieren konnten und, wie wir aus den Einschaltquoten wissen, auch identifizierten.33 Jura Soyfer seinerseits hat in seinen Kleinkunststücken aus den Jahren 1936 und 1937, deren Struktur und Dramaturgie eng an jene der Kabarett-Revuen anschlossen und deren Wortwitz in der Riemergasse ausgebildet worden war, die böse Satire auf die Herrschenden beschränkt und die Volksfiguren mit teilnehmender Ironie gestaltet. Wie sein großes Vorbild Nestroy hat er durchaus deren Schwächen und Unzulänglichkeiten aufgezeigt, aber auch – man denke an Astoria – deren Träume und Wünsche auf die Bühne gebracht. Dieser Lernprozess war durch die Niederlage der Sozialdemokratie 1934 in Gang gebracht worden, eine Niederlage, die auch das Ende aller sozialdemokratischen Theaterexperimente bedeutete.

33 Robert Lucas: Die BBC gegen Hitler. Die Briefe des Gefreiten Adolf Hirnschal an seine Frau in Zwieselsdorf. Zürich: Europaverlag 2007. Dazu Uwe Naumann: Zwischen Tränen und Gelächter. Satirische Faschismuskritik 1933 bis 1945. Köln: Pahl-Rugenstein 1983, S. 121–168; Jürgen Doll: Von Sebastian Hirnschal zu Adolf Hirnschal. Zu den Wandlungen einer literarischen Figur vom Kabarettprogramm ›Hirnschal macht Weltgeschichte‹ (1930) zur BBCRundfunkserie ›Die Briefe des Gefreiten Hirnschal‹ (1940–1945) von Robert EhrenzweigLucas. In: Herbert Arlt, Fabrizio Cambi (Hgg.): Lachen und Jura Soyfer. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 1995, S. 190–205; Jennifer Taylor: The ›Endsieg‹ as Ever-Receding Goal. Literary Propaganda by Bruno Adler and Robert Lucas for BBC Radio. In: Ian Wallace (Hg.): German Speaking Exiles in Great Britain. Bd. 1. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1999, S. 43–57.

Arturo Larcati

Zur Rezeption des italienischen Futurismus in Wien während der 1920er und 1930er Jahre

I.

Prolog

Im Jahr 1924 hält Filippo Tommaso Marinetti in Paris einen Vortrag unter dem Titel Le Futurisme mondial, den wir mit Der globale Futurismus übersetzen können.1 Darin versucht er, die repräsentativsten Autoren der verschiedenen Avantgarde-Bewegungen der zehner und zwanziger Jahre als Futuristen zu präsentieren und zwar als überzeugte oder auch als unbewusste Vertreter der Bewegung. Mit seiner Behauptung will Marinetti offensichtlich einmal mehr provozieren, denn allen war klar, dass sich weder Picasso noch Kandinsky – um nur zwei der repräsentivsten Namen zu nennen, die er zitiert – als Futuristen sahen bzw. für den Futurismus in Anspruch genommen werden können. Wie gewagt seine Interpretationen auch auch sein mögen, hinter seiner Provokation lässt sich dezidiert der Wille erkennen, den Futurismus als die wichtigste europäische Avantgarde zu definieren bzw. den Anspruch des Futurismus auf Hegemonie innerhalb der Avantgarde-Bewegungen zu erheben. In einem zweiten Schritt skizziert Marinetti eine Topographie der futuristischen Bewegungen in Europa und führt die wichtigsten Städte an, in denen die Ästhetik und die Philosophie des Futurismus rezipiert und weiterentwickelt wurden. Er nennt Paris, London, Berlin zusammen mit den Namen von Kurt Schwitters, Walter Gropius und Hans Richter, Moskau in Verbindung mit Wladimir Majakovski usw. Als er auf Wien zu sprechen kommt, erwähnt er lediglich die Namen von Lajos Kass‚k und L‚szlû Moholi-Nagy. Das ist zwar legitim, weil die beiden ungarischen Künstler in der von ihnen herausgegebenen Zeitschrift MA zwischen 1920 und 1925 von Wien aus Theorie und Praxis des Futurismus mit propagierten.2 Auf der anderen Seite lässt Marinetti aber den Eindruck entste1 Vgl. Il Futurismo mondiale. (Conferenza di F.T. Marinetti alla Sorbona) In: L’Impero (Roma), 20. Mai 1924. 2 Vgl. Peter Weibel: On the Origins of Hungarian Constructivism in Vienna: MA 1920–1925. The Only Instance of Modernism between the Wars. In: Beyond Art: A Third Culture. A

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Arturo Larcati

hen, es habe in Wien gar keine Futurismus-Rezeption durch österreichische Autoren sowie keinen Austauch zwischen Künstlern der italienischen und österreichischen Avantgarde gegeben. Marinettis Annahme von 1924 wurde von der Avantgarde-Forschung eigentlich nie dementiert; in den italienischen Futurismus-Studien spielt Österreich daher auch kaum eine Rolle. So findet sich im Katalog der großen Retrospektive Futurismo e Futurismi (Venedig 1986) kein Hinweis auf die Wiener Avantgarde. Auch später wurde diese Lücke in Italien nicht geschlossen. In den deutschsprachigen Untersuchungen zum Thema wurden die Kontakte zwischen futuristischen und Wiener Künstlern bis auf wenige Ausnahmen, von denen gleich die Rede sein soll, ebenso wenig systematisch untersucht.3 Dieses Defizit der Forschung bildet den Ausgangspunkt für den Versuch einer Rekonstruktion der Geschichte der Futurismus-Rezeption in Wien, die im Folgenden skizziert werden soll. Die Auseinandersetzung mit der futuristischen Avantgarde fängt in Wien mit der Futurismus-Ausstellung von 1912–1913 an, wird in den frühen zwanziger Jahren von Franz Cizek und den Vertretern des Kinetismus weitergeführt, erreicht in der Teilnahme der Futuristen unter der Leitung von Enrico Prampolini an der Internationalen Theaterausstellung von 1924 ihren Höhepunkt, findet jedoch auch Mitte der dreißiger Jahre eine signifikante Fortsetzung, bevor der »Anschluss« von 1938 deren Ende dekretiert. Nachdem die österreichische Rezeptionsgeschichte des Futurismus bis zum Ende des Ersten Weltkrieges im Wesentlichen bereits vorliegt4, konzentiert sich Comparative Study in Cultures, Art and Science in the 20th Century Austria and Hungary, ed. by Peter Weibel. Wien-New York: Springer Verlag 2005, S. 57–70; Zoltan Peter : Lajos Kass‚k. Wien und der Konstruktivismus. Frankfurt/M.: Peter Lang 2010. 3 Das gilt sowohl für die bildenden Künste als auch für die Literatur. Mit Blick auf die Malerei vgl. Dorothea Eimert: Der Einfluß des Futurismus auf die deutsche Malerei. Köln: Kopp Verlag 1974; Johanna Eltz: Der italienische Futurismus in Deutschland 1912–1922. Bamberg: Uni-Druck 1986. Was die Literatur anlangt, vgl. Peter Demetz: Worte in Freiheit. Der italienische Futurismus und die deutsche literarische Avantgarde 1912–1934. Mit einer ausführlichen Dokumentation, München: Piper 1990; Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Die Anfänge der literarischen Avantgarde in Deutschland – Über Anverwandlung und Abwehr des italienischen Futurismus. Ein literaturhistorischer Beitrag zum expressionistischen Jahrzehnt. Stuttgart: M. & P. Verlag für Wissenschaft und Forschung 1991. 4 Der akademische Verband für Literatur und Musik holte diese von Herwarth Walden organisierte Wanderausstellung nach Wien und gab zwei Jahre lang die Zeitschrift Der Ruf heraus. Drei Sonderhefte waren dem Karneval, dem Frühling und dem Krieg gewidmet und zeigten auffallende Affinitäten zur futuristischen Ästhetik: so z. B. hinsichtlich der Bedeutung des Lachens im VarietÀ-Theater, von dem später die Rede sein wird, oder der Verbindung von Krieg und Technik im dritten Heft. Vgl. Arturo Larcati: La fortuna del Futurismo Italiano nell’Austria di inizio secolo: la rivista viennese »Der Ruf« (1912–1913) e Robert Müller. In: Dialoghi interartistici e intermediali nella letteratura italiana del Novecento. A cura di Bart Van den Bosche e Sara Bonciarelli. Firenze: Franco Cesati Editore 2014, S. 53–71.

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der folgende Aufsatz auf die Zwischenkriegszeit. Gegenüber der ersten Phase (dem so genannten historischen Futurismus) veränderten sich dabei einige Rahmenbedingungen des Kulturtransfers. Für die Wirkungsgeschichte des sogenannten zweiten Futurismus außerhalb Italiens spielt z. B. neben Marinetti zunehmend Enrico Prampolini (1894–1956) eine Schlüsselrolle. Mit ihm – und das ist die zweite relevante Veränderung – gewinnt das Theater als Gattung neben den bildenenden Künsten immer mehr an Bedeutung, nicht zuletzt, weil er selbst Bühnenbildner war. Dass Prampolini nach dem Ersten Weltkrieg zum vielleicht wichtigsten futuristischen Künstler avancierte, was die Wirkung der Bewegung nach außen betrifft, hängt aber auch mit dem Tod von Umberto Boccioni 1916 zusammen. Boccioni, der innerhalb des Futurismus neben Marinetti den grössten Einfluss ausübte, privilegierte als Maler und Kunsttheoretiker der Bewegung vor allem die bildenden Künste und den sogenannten Manifestantismus, während ihm das Theater kein Anliegen war. Hinzu kam, dass er Prampolinis Profilierung innerhalb der Bewegung aufgrund persönlicher Antipathie nach Kräften verhindert hat. Daher führt Prampolini während der sogennanten heroischen Phase des Futurismus ein Schattendasein, seine Beiträge zur Theorie und Praxis der Künste werden nicht anerkannt oder heruntergespielt. Nach dem Krieg hingegen reklamiert er die ihm in seinen Augen zustehende Rolle innerhalb der Bewegung und kann sich schließlich als führende Persönlichkeit neben Marinetti profilieren. Für die europäische Wirkung des Futurismus nach 1918 ist Prampolini neben Marinetti auch deshalb als zentrale Figur anzusehen, weil er sich als europäischen Künstler gesehen und Kooperationen mit anderen Avantgarde-Bewegungen favorisiert hat. Die Offenheit für die Künstler anderer Länder mag bei einem futuristischen Künstler vielleicht verwundern, hat sich der Futurismus ja stark als nationale Bewegung verstanden und parallel zum Kampf um die Hegemonie innerhalb der europäischen Avantgarde auch offen die imperialistischen Bestrebungen des Faschismus unterstützt. In dieser heiklen Frage hat Prampolini allerdings immer eine doppelte Strategie verfolgt bzw. einen schwierigen Spagat zwischen der Verherrlichung der Italianit— auf allen Ebenen und einer Öffnung über die Grenzen Italiens hinaus versucht: auf der einen Seite hat er die Erfolge der futuristischen Kunst in Europa als Siege der italienischen Kunst im Ausland gefeiert; auf der anderen hat er jedoch den Dialog mit den fortgeschrittensten Künstlern Europas intensiv gepflegt.5

5 Vgl. dazu den Ausstellungskatalog: Enrico Prampolini. Dal futurismo all’informale. A cura di Enrico Crispolti. Roma: Edizioni Carte Segrete 1992; ferner Filiberto Menna: Enrico Prampolini. Roma: De Luca 1967 und Giovanni Lista: Prampolini futurista europeo. Roma: Carocci 2013.

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II.

Arturo Larcati

Futurismus und Kinetismus in Wien

Die erwähnte Futurismus-Ausstellung von 1912–1913 bildet die Initialzündung für das Interesse der Wiener Kinetisten an der italienischen Kunstbewegung. Der Kinetismus ist bekanntlich eine künstlerische Avantgarde, die in der Klasse von Franz Cizek an der Wiener Kunstgewerbeschule entsteht und ihren Höhepunkt um 1924 erreicht. In seinem Kurs für ornamentale Formenlehre hatte Cizek versucht, die Impulse der kubistischen, expressionistischen und futuristischen Avantgarde in eine produktive Synthese zusammenzuführen und für die Schulung des Empfindens zu nutzen. Dass das Experimentieren mit »formalen Methoden, die das Ziel hatten, Formen und Farben in rhythmisierende Bewegungen zu versetzen und Bewegungsabläufe feinsinnig zu zerlegen«6, ohne eine Auseinandersetzung mit dem Futurismus nicht auskommen kann, versteht sich von selbst. Die Werke von Erika Giovanna Klien, Elisabeth Karlinsky oder Marianne/ My Ullmann zeigen diese Hinwendung auf eindrucksvolle Weise. Das bedeutet allerdings nicht, wie Patrik Werkner präzisiert, dass es sich beim Wiener Kinetismus um einen »Futurismo Viennese« handelt. Nichtsdestotrotz, resümiert er, »gibt es neben den offensichtlichen formalen und inhaltlichen Zusammenhängen zahlreiche Verbindungslinien, die vom Futurismus wie vom Kinetismus zu einem gemeinsamen Status naturwissenschaftlicher und philosophischer Literatur um die Jahrhundertwende zurückführen«.7 Es lassen sich zumindest zwei Stationen im Prozess der Anverwandlung und Abwehr der futuristischen Avantgarde im Umkreis des Kinetismus darstellen. Der Kunsttheoretiker und »Ideologe« der Bewegung Leopold W. Rochowanski (1885–1961) reagiert auf einen italienischen Zeitungsartikel aus dem Jahr 1923, in dem der Wiener Kinetismus als »futurismo viennese« bezeichnet wurde8, und verteidigt die Originalität des kinetistischen Ansatzes und dabei insbesondere das Werk von Erika Giovanna Klien gegenüber den Futuristen, indem er diese zu Impressionisten und somit zu Realisten degradiert: Dieser Kinetismus ist nicht identisch mit dem Futurismus der Marinettigruppe, obwohl er durch die 1912 in Wien gemachte Ausstellung futuristischer Arbeiten angeregt 6 Wolfgang Kos, Monika Platzer, Ursula Storch: Vorwort. Der Kinetismus – eine unwienerische Avantgarde. In: Kinetismus. Wien entdeckt die Avantgarde, hg. von Monika Platzer und Ursula Storch im Auftrag des Wien Museums. Østfildern: Hatje Cantz Verlag 2006, S. 6–7; hier. S. 6. 7 Patrik Werkner : Der Wiener Kinetismus – ein Futurismo Viennese? In: gerald bast, agnes husslein-arco, harald krejci, patrick werkner (hgg.): wiener kinetismus. eine bewegte moderne. viennese kineticism. modernism in motion. Wien-New York: Springer 2011, S. 56–67; hier S. 60. 8 Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Rezension von Rochowanskis Buch Der Formwille der Zeit, die im Piccolo della sera (Triest) erschienen war.

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wurde. Der Futurismus gibt nur den Eindruck der Bewegung, hat also eine impressionistische Quelle. Der Kinetismus dagegen gibt dem rhythmischen Ablauf der Bewegung.9

Mit der spürbaren Degradierung der Futuristen (von 1912) zu Nachahmern und der Negation ihrer Kreativität greift Rochowanski ein altes und verbreitetes Vorurteil auf. Indem er den Futuristen unterstellt, keinen eigenen RhythmusBegriff zu haben, stellt er sich von Anfang an gegen eine in die Tiefe gehende Auseinandersetzung mit den Futuristen, wie sie zum Beispiel der Schriftsteller Robert Müller geführt hat.10 Das zweite Moment der Diskussion betrifft den Tanz. In seinen Überlegungen zum Tanz unter dem Titel Der tanzende Schwerpunkt (1923) betrachtet Rochowanski die Futuristen so wie die Dadaisten als wichtige Vorbilder im Kampf gegen die bürgerlichen Schönheitsvorstellungen und lobt ihren Einsatz für Dynamik und Abstraktion, für Prinzipien, die auch im Zentrum der kinetistischen Ästhetik stehen: Ebenso verständlich [wie die Dadaisten] erscheinen die Mailänder Futuristen, die unter der Führung von F.T.Marinetti ein Manifest veröffentlichten, in dem sie verlangen, dass der Tanz ungraziös, unsymmetrisch und dynamisch sei! Ja, ja, ja! Unsymmetrisch, ungraziös, eckig, ja, ja, ja! Herrlich! Endlich! Ein paar dynamische Ohrfeigen in das Gesicht der dösenden Schönheitssentimentalisten (dessen Körper so schön ist, dass man in keine öffentliche Badeanstalt gehen kann), dessen ›trunkenes‹ Auge immer die runde Linie sucht (weil sein Kunstsinn ein Eck hat), der sich an der steifen Zehe berauscht, auf der die Tänzerin minutenlang herumstelzt!11

Rochowanski schränkt dann aber seine Bejahung des futuristischen Tanzkonzeptes wieder ein, indem er sein Ideal vom Tanz am Leitfaden einer expressionistischen Begrifflichkeit definiert und als Teil einer expressionistisch geprägten Ästhetik konzipiert: »Also futuristischer Tanz? Aber nein! Fort mit den Wänden! Fort mit den Schleieraugen! Fort! Hinauf! Dynamik! Freie Bahn! Luft Atem! Erdumarmung! Wir!«12 Mit der Verherrlichung der Natur als lebensspendender und kunstfördernder Kraft distanziert sich Rochowanski maß9 Leopold Rochowanski: Das kinetische Marionetten-Theater der E. G. Klien. In: Die neue Schaubühne (Berlin), 5 (1925), H. 1, S. 47–48, hier S. 47. 10 Mit seinem Aufsatz Der Futurist (1914) zählt Robert Müller zu den besten zeitgenössischen Kennern, die im deutschsprachigen Raum die italienische Avantgarde gewürdigt haben, weil er eine differenzierte Interpretation der futuristischen Poetik und Lebensanschauung liefert und zu Recht auf verschiedene Widersprüche aufmerksam macht. Vgl. dazu Arturo Larcati: La fortuna del Futurismo Italiano nell’Austria di inizio secolo (siehe Anm. 4). 11 Leopold Rochowanski: Der tanzende Schwerpunkt, Zürich u. a.: Amalthea 1923, S. 20. Rochowanski bezieht sich auf Marinettis Manifesto della danza futurista [1917]. In: Ders.: Teoria e invenzione futurista, a cura di Luciano De Maria. Milano: Mondadori 1968, S. 144–152. 12 Ebd.

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geblich von den Futuristen, die sich bekanntlich an den Prinzipien der modernen Zivilisation und Technik orientieren. Als Kunsttheoretiker zeigt sich Rochowanski in seiner Auseinandersetzung mit dem Futurismus zwar auf der Höhe der Zeit, weil er die futuristischen Manifeste wie jenes über den Tanz im Original liest. Seine Wahnehmung und Rezeption der futuristischen Theoreme ist jedoch selektiv. Während sich Robert Müller auch für die futuristische Verherrlichung der Gewalt, des Krieges und des Nationalismus empfänglich zeigt, interessiert sich Rochowanski lediglich für die modernistischen Elemente der futuristischen Ästhetik. Damit hat seine Haltung gegenüber dem Futurismus etwas Symptomatisches und Zukunftweisendes. Sie erscheint als symptomatisch, weil sie auch für die Haltung von Friedrich Kiesler und anderer Konstruktivisten repräsentativ ist, und als zukunftweisend, weil sie anzeigt, dass und wie man die futuristische Ästhetik produktiv rezipieren kann, ohne Marinettis problematische Ideologie teilen zu müssen. Mit anderen Worten: Es ist das große Verdienst von Rochowanski, dass er den Futurismus nicht unter einen ideologischen Globalverdacht stellt, dass er nicht, wie es im Laufe der Futurismus-Rezeption im deutschsprachigen Raum oft geschehen ist, das Kind mit dem Bade ausschüttet. Rochowanskis genaue Unterscheidung zwischen Ästhetik und Ideologie hat keineswegs zur Folge, dass er jeden Punkt von Marinettis Tanzästhetik bejaht; so zeigt er sich beispielsweise von dessen Theoretisierung des mechanischen Tanzes wenig beeindruckt. Gerade die Ästhetik der Maschine bildet aber den Boden für die fruchtbare Begegnung der Futuristen und der Konstruktivisten, im Besonderen von Enrico Prampolini mit Friedrich Kiesler.

III.

Die Teilnahme der futuristischen Künstler an der Wiener Theaterausstellung von 1924

Die Strategie der Öffnung gegenüber Entwicklungen der europäischen Avantgarde, die in Wien von Cizek und den anderen Kinetisten verfolgt wird, kulminiert im Jahre 1924, als Hans Tietze die Ausstellung Internationale Kunst in der Sezession und Friedrich Kiesler die Internationale Theaterausstellung neuer Theatertechnik im Konzerthaus organisieren. Bei dieser Gelegenheit kommen die Spitzen der internationalen Avantgarde in die österreichische Hauptstadt: Fernand L¦ger, dessen Film Ballet m¦canique zum ersten Mal gezeigt wird, Konstruktivisten wie Theo van Doesburg und El Lisickij und natürlich die Futuristen: Angeführt von Enrico Prampolini bilden sie mit acht Künstlern die größte ausländische Delegation. Es ist nicht verwunderlich, dass gerade Enrico Prampolini nach Wien ein-

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geladen und mit der Leitung der italienischen Delegation betraut worden war. Als Erneuerer des Theaters und Vertreter des Futurismus hatte er sich durch die Teilnahme am Internationalen Künstlerkongress von 1922 in Düsseldorf und durch die Veröffentlichung seiner Schriften in den Zeitschriften des Kunstruktivismus wie De Stijl und MA sowie anderen Organen der Avantgarde im deutschen Sprachraum einen Namen gemacht. Prampolini war für die genannte Führungsrolle demnach prädestiniert, hatte er nämlich als Kunstvermittler wie kein anderer Futurist die Zusammenarbeit mit den Vertretern den anderen europäischen Avantgarden intensiviert und in der von ihm und seinem Bruder herausgegebenen futuristischen Zeitschrift NOI (1917–1925) seit Beginn der zwanziger Jahre den Dialog mit ihnen gepflegt.13 Dazu kommt, dass er das Sonderheft 6–7–8–9 (1924) dieser Zeitschrift dem Theater (Teatro e scena futurista) gewidmet hatte – möglicherweise als Vorbereitung auf die Wiener Ausstellung. Dass darin neben der russischen, tschechischen und französischen Theater-Avantgarde auch Kieslers Bühnenbild für die 1923 in Berlin aufgeführte ˇ apek gezeigt wurde, darf kaum als phantastische Komödie R.U.R. von Karel C Zufall betrachtet werden. Prampolinis Strategie des Dialogs mit anderen Avantgarde-Bewegungen findet sein Pendant in der Haltung von Friedrich Kiesler. Im Vorwort des Ausstellungskataloges, wohlgemerkt auf Französisch verfasst, fordert dieser die Autoren der Avantgarde dazu auf, sich über die Positionen der einzelnen Bewegungen hinwegzusetzen und gemeinsam zum Fortschritt der Kunst beizutragen.14 Ein Brief von Prampolini an Hans Tietze dokumentiert denn auch diese ersten Kontakte mit dem Organisationskomitee in Bezug auf die Teilnahme der Futuristen an der Theaterausstellung: Rom, 24. 6. 1924 Via Tronto 89

An das Komitee der Musik- und Theaterausstellung Wien Sehr geehrter Herr Tietze, ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen und teile Ihnen daraufhin noch Folgendes mit: ich habe mich inzwischen mit meinen Freunden, die ebenfalls die Ausstellung beschicken wollen, in Verbindung gesetzt und wir werden, so schnell wie möglich, die von Ihnen angeforderte Liste der auszustellenden Objekte einschicken. Ich muss aber noch einmal bemerken, dass die Realisation unserer Ideen von einer schnellen Verständi-

13 Bereits der Titel der Zeitschaft ist programmatisch: NOI (auf Deutsch: WIR) kann sowohl auf die Gemeinschaft der futuristischen Künstler bezogen werden als auch auf jene der gesamten europäischen Avantgarde. Vgl. dazu auch: http://it.kurageart.com/noi-sul-teatro/ (Zugriff vom 14. 8. 2015). 14 Friedrich Kiesler : Vorwort. In: Internationale Ausstellung Neuer Theatertechnik im Rahmen des Musik- und Theaterfestes der Stadt Wien 1924. Katalog, Programm, Almanach, hrsg. von Friedrich Kiesler. Wien: Löcker & Wögenstein 1975. (= Nachdr. d. Orig.-Ausg. Wien: Würthle 1924).

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gung mit den Ihnen bezeichneten Behörden hier abhängt, d. h. von der Bewilligung einer für unsere Zwecke absolut nötigen Summe, die vom italienischen Staat zur Verfügung gestellt werden muss. Falls die Briefe noch nicht abgeschickt sind, bitte ich ausdrücklich zu bemerken, dass ich bereit bin, als Vertreter Italiens und Organisator nach Wien zu gehen. Aber schreiben Sie bitte sofort auch an mich, wann die Briefe ungefähr hier zu erwarten sind. Der Weg über die Behörden ist ja, wie Sie auch wissen, langsam und umständlich und ich würde es sehr bedauern, wenn die Angelegenheiten dadurch verzögert oder gar aufgehoben würde. Dann bitte ich noch um Auskunft, wie die Transportkosten geregelt werden sollen: franko oder Nachnahme? Die Fläche, die ich für unsere Ausstellung benötige, würde ungefähr 40 Meter Länge und 2 Meter Höhe für die Leistungen ausmachen, ausserdem für 6–4 Miniaturtheater, die ich einschicken will, einen zusammenhängenden Platz von 2 Cubikmetern. Ich will versuchen, das Material für die Liste bis zum 1. Juli zusammenzubringen. Noch eins: ich würde noch die Erlaubnis der Exportation und die erforderlichen Zollpapiere gebrauchen, die von Ihrer Seite eingefordert werden müssen. Mit bestem Dank und kollegialem Gruss, Enrico Prampolini15

Prampolini, der in Vorfeld mit einer Gruppe von Futuristen nach Wien reist, bleibt dort mehrere Wochen, um den italienischen Beitrag zu den Veranstaltungen vorzubereiten. Als die Ausstellung im Oktober 1924 eröffnet wird, kommt auch Marinetti nach Wien.16 Am Kunsthistorischen Institut hält er den Vortrag über den globalen Futurismus, von dem anfangs die Rede war. Gemeinsam treffen Marinetti und Prampolini sowohl Friedrich Kiesler als auch Franz Cizek und Theo van Doesburg. Ein Photo dokumentiert diese Begegnung. In der Ausstellung selbst präsentieren die futuristischen Künstler rund 200 Werke17, im Katalog ist die Bewegung als einzige Kunstrichtung mit drei Manifesten vertreten. Es sind dies F.T. Marinettis Wir erfinden das anti-psychologische Theater ; Luigi Russolos Die Kunst der Geräusche und Enrico Prampolinis L’atmosfera scenica futurista.18 Mit Blick auf die neuesten Theatertechniken, um die es in der Ausstellung geht, ist sicher das dritte Manifest das interessanteste: Darin präsentiert Prampolini seine Vorstellung der Szenographie als Architektur und kündigt die Entstehung des sogenannten spazioscenico polidimensionale an, des polydimensionalen szenischen Raums. Hier sieht er seine alte Utopie der Abstraktion und Depersonalisierung der Bühne verwirklicht. Hatte er bereits in 15 Brief von Enrico Prampolini an Hans Tietze vom 24. 6. 1924, Wienbibliothek im Rathaus der Stadt Wien, Nachlass Tietze, Inv. Nr. 43.688. 16 Vgl. den Bericht von M.E.: Futuristenkongreß im Hotel Erzherzog Karl. Marinetti verantwortet sich vor seinen Nachfolgern. In: Der Tag, Wien, 8. 10. 1924, S. 4. 17 So zumindest gemäß Giorgio Carmelich in seinem Artikel: La nuova scenografia italiana alla Esposizione di Vienna. In: Il Piccolo di Trieste, Novembre 1924. 18 Vgl. Internationale Ausstellung Neuer Theatertechnik (wie Anm. 14) S. 26, 35, 67, 71, 73, 75, 77.

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Abb. 1: Enrico Prampolini: Giulietta e Romeo (ohne Dat., Bühnenbild). Abb. 2: Enrico Prampolini: La renaissance de l’esprit (ohne Dat., Bühnenbild). Beide: Ó Kunsthistorisches Museum Wien – Österreichisches Theatermuseum.

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früheren Arbeiten den Schauspieler durch plastische Elemente ersetzt oder mechanisiert, so soll an seine Stelle nun eine autonom gewordene, dynamische Bühne treten, auf der alle Elemente aus eigener Kraft interagieren. In einer Selbsteinschätzung des futuristischen Beitrags zur Wiener Theaterausstellung sieht Prampolini die Veranstaltung als internationale Bestätigung der Relevanz des Futurismus bzw. seiner eigenen Arbeit und als Ausdruck einer Anerkennung, die ihm und der Bewegung in Italien noch versagt werde. Während in Russland und Deutschland die wichtigen Reformen auf dem Gebiet des Theaters bereits Wirklichkeit geworden sind, hätten, so Prampolini, die Futuristen mit der »heroischen Beharrlichkeit der Vorkämpfer« an deren Durchsetzung bis zum großen Erfolg in Wien gearbeitet. Die enorme Leistung der futuristischen Bühnenbildner habe darin bestanden, »das Wunder geschaffen zu haben, sich ehrenhaft auf die Ebene der meisten ausländischen Bühnenbildner gestellt zu haben«. Dabei hätten sie »an der Quelle ihrer Phantasie geschöpft«, anstatt, wie die Kollegen, ihre Prinzipien auf den Bühnen der europäischen Theater zu experimentieren.19 Die Führungsrolle, die Prampolini hier für sich beansprucht, wird in einem weiteren Artikel bestätigt, dessen anonymer Verfasser hinzufügt, dass der Italiener 60 Entwürfe in Wien präsentiert und dadurch das größte Interesse des Publikums erweckt habe. Der Schluss des kurzen Essays ist entsprechend überschwänglich: Die vom futuristischen Maler Prampolini organisierte italienische Sektion ist diejenige, die aufgrund der Einheitlichkeit des futuristischen Einsatzes den größten Erfolg erreicht hat. Der typisch italienische Charakter unterscheidet sie von allen anderen ausländischen Sektionen.20

In seinem Kommentar zur Ausstellung zitiert der aus Triest stammende Futurist Giorgio Carmelich, ebenfalls miteingeladener Künstler, die emphatischen Worte Prampolinis über die Zukunft der italienischen Theaterkunst und ihre führende Rolle in Europa: Wenn wir italienische futuristische Bühnenbildner, die wir in Wien triumphiert haben, den in der Heimat finden werden, der für den lyrischen Gesang empfänglich sein wird, der aus unseren Erbauerhänden entspringt, dann wird die italienische Theaterkunst sicher an die Spitze der anderen Nationen gelangen.21

Während Prampolini und Carmelich den Wiener Auftritt der Futuristen als internationalen Durchbruch der italienischen Kunst im Ausland und als Auftakt einer thriumphalen Zukunft für die Bewegung in Europa feiern, versucht der 19 Enrico Prampolini: La scenografia futurista italiana all’Esposizione Internazionale di Vienna. In: Rinascita (Roma), 1924. 20 L’esposizione teatrale a Vienna (September 1924); nicht identifizierter Zeitungsausschnitt. In: Depero-Archiv ; MART. 21 G. Carmelich: La nuova scenografia italiana alla Esposizione di Vienna (wie Anm. 17).

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Ingenieur Benedikt Fred Dolbin, wirtschaftlicher Leiter der Wiener Ausstellung, in seinem Bericht für die Zeitschrift Der Sturm die Besonderheit der futuristischen Innovationen im Unterschied zu jenen der anderen Avantgarden sachlicher zu bestimmen. Dabei interessiert ihn vor allem das Zusammenspiel von architektonischen Elementen und Farbeffekten auf der Bühne: Die ›futuristische‹ Bühnentechnik der Italiener unter Führung von Enrico Prampolini erzielt mit Hilfe einer chromatischen Komponente und klarer architektonischen Großformen (insbesondere Panaggi) die Neugestaltung des Bühnenbildes. Die psychische Wirkung der einzelnen Farbtöne des Spektrums wird bühnendynamisch zur Interpretation der dramatischen Handlung verwendet (das Farbentheater von A. Ricciardi, Rom). Die Farbe spielt hier im C h r o m o d r a m (diese Wortbildung sei wegen des Vergleichs gestattet) zum ersten Male jene untermalende Rolle, die der Musik im Melodram zukommt.22

Das futuristische »Theater der Ueberraschungen«, darin dem Stegreiftheater von Jakob Moreno Levy oder der Merzbühne von Schwitters vergleichbar, stellt dagegen für Dolbin, »einen heute untauglichen Versuch dar, die Masse in das Spiel zu ziehen.«23 Von diesen Beobachtungen ausgehend lassen sich einige Konvergenzpunkte in den Positionen von Enrico Prampolini und Friedrich Kiesler skizzieren, die ihren gemeinsamen Nenner in der Vorwegnahme des »postdramatischen Theaters«24 haben. Beide Künstler schreiben der Szenographie die Funktion zu, die neuen Protagonisten der theatralischen Handlung zu integrieren. Für Prampolini etwa sind die chromatischen, plastischen und architektonischen Elemente weit wichtiger als die Dialoge der Schauspieler oder die Texte der Stücke. Sie sollen neben dem Schauspieler bzw. an dessen Stelle treten. Diese Elemente haben die Funktion, Empfindungen des Autors bei der Konzeption der Figuren zum Ausdruck zu bringen und für das Publikum erkennbar zu machen: entweder durch mechanische Kostüme, durch die Verwendung von farbigen Gasen, von Lichteffekten oder auch durch die Strukturierung der Volumen. Eine ähnliche Mechanisierung der Bühne und Konvergenz der Künste versuchte ja auch Kiesler auf seine Weise zu verwirklichen. Wie Prampolini plädiert er für »[d]ie Vertreibung der literarischen Vorlage aus der Bühne«.25 Beide Künstler 22 B. F. Dolbin: Die internationale Ausstellung neuer Theatertechnik in Wien. Nachworte. In: Der Sturm 1925, S. 97–100; hier S. 99. 23 Ebd. 24 Die Formel »postdramatisches Theater« geht auf ein Buch von Hans-Thies Lehmann zurück, der allerdings die Autoren der Avantgarde nicht als Vorgänger der modernen Formen postdramatischen Theaters betrachtet, weil sie in seinen Augen noch zu sehr dem Text verbunden bleiben. Mag dieses Urteil für einzelne Autoren zutreffend sein, für Prampolini und Kiesler gilt es sicher nicht. 25 Barbara Les‚k: Die Theaterbiographie des Frederick J. Kiesler. Stationen eines Theatervisionärs: Czernowitz, Wien, Berlin, Paris und New York. In: Frederick Kiesler. Theatervi-

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rehabilitieren das theatrale und relativieren das dramatische Element, indem sie sich vom Text, von den Schauspielern, vom Plot, vom Theater im aristotelischen Sinne maßgeblich entfernen. Stattdessen favorisieren sie ein Theater als Gesamterlebnis, als ästhetische Erfahrung, die sowohl mit Farben, Tönen, Musik, Lichteffekten, als auch mit der Wirkung der plastischen und architektonischen Elemente im weitesten Sinn zu tun hat.

IV.

Fortunato Depero, Friedrich Kiesler und der Film

Nach Wien kreuzen sich die Wege von Kiesler und jene der Futuristen auch in Paris und in New York. In Paris hatte Kiesler 1924 von Josef Hoffmann den Auftrag bekommen, den österreichischen Pavillon auf der Exposition Internationale des Arts D¦coratifs et Industriels Modernes zu gestalten. Dort begegnet er neuerlich Enrico Prampolini und Fortunato Depero, die wieder Italien und den Futurismus auf der Exposition International vertreten. Der vielseitige Künstler Fortunato Depero (1892–1960), um einige Jahre jünger als Prampolini, kann in der französischen Hauptstadt seinen ersten internationalen Durchbruch feiern, nachdem er sich in Wien bereits profiliert hatte. In seinem Aufsatz über die Wiener Ausstellung betont Giorgio Carmelich, dass Depero mit seinem Beitrag zu den Innovationen des Bühnenbildes eine Schlüsselrolle unter den Futuristen spiele. Er erinnert insbesondere an die 1917 konzipierten Bühnen-Entwürfe für die geplanten Aufführungen des russischen Ballets von Sergei P. Djagilew sowie an »die sehr bunten, mechanischen balletti plastici, welche neue, unerwartete Rhythmen im Raum hervorbringen.«26 Auch Dolbin zollt Deperos Erfindungen hohe Anerkennung: »Aber auch auf diesen Wegen zur Gewinnung einer dynamischen Komponente wird das mechanische Ballett erreicht (Prampolini und Depero: Psicologia di Macchina).«27 Als Friedrich Kiesler 1926 nach New York auswandert, möchte er ein Standbein in Europa beibehalten. Vor diesem Hintergrund bietet Prampolini seinem Freund Depero an, Kieslers frei gewordene Wohnung in Paris samt Atelier zu einem Drittel zu übernehmen. So teilt sich Kiesler die Miete für die Wohnung mit Depero und einer dritten Person auf. In New York organisiert Kiesler vom 27. Februar bis zum 15. März 1926 mit Jane Heap nach dem Muster der Wiener Ausstellung eine weitere Internationale Theaterausstellung mit dem Titel International Theatre Exposition im Steinway Building. Auch diesmal lädt sionär – Architekt – Künstler. Hgg. von Barbara Les‚k und Thomas Trabitsch; Wien: Brandstätter 2012, S. 19–122; S. 29. 26 G. Carmelich: La nuova scenografia italiana alla Esposizione di Vienna (wie Anm. 17). 27 B.F. Dolbin: Die internationale Ausstellung neue Theatertechnik in Wien (wie Anm. 22), S. 99.

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er für die italienische Sektion eine große Gruppe futuristischer Künstler ein: darunter M. Ago, A. G. Bragaglia, G. Dottori, V. Marchi, F. De Pistoris, L. Russolo, Tato, A. Valente und Fortunato Depero, der sogar 15 Werke nach New York schickt.28 In Amerika intensiviert sich Deperos Beziehung zu Kiesler. Davon zeugt u. a. ein noch unveröffentlichter Brief von Kiesler an Depero, datiert vom 30. März 1926. Darin bittet Kiesler Depero darum, seinen Teil der Miete für die Pariser Wohnung rechtzeitig zu bezahlen, um dann anzufügen: Sie haben in New York sehr viel Interesse erweckt. Ich habe Ihnen zweimal Zeitungsausschnitte nach Paris geschickt und auch einen Katalog. Schreiben Sie Herrn Guttmann ihre Adresse, damit er Ihnen die Briefe nach Rovereto nachschickt. Die Ausstellung hat einen enormen Erfolg gehabt. Ich bleibe noch eine kurze Zeit in Amerika.29

Ermuntert nicht zuletzt durch den »enormen Erfolg«, kommt Depero 1928 nach New York und bleibt dort für zwei Jahre. Mit ihren Wolkenkratzern und ihrer zukunftsgerichteten Gestalt galt New York den Futuristen als Stadt des »verwirklichten Futurismus«, obwohl Depero der einzige futuristische Künstler war, der tatsächlich länger in New York geblieben ist. Von seinem zweijährigen Aufenthalt hat er uns ein beeindruckendes literarisches Dokument mit dem Titel Un futurista a New York (Ein Futurist in New York) hinterlassen.30 Depero wollte das Buch in einem synthetischen Stil schreiben und hat es als »erlebten Film« konzipiert, in dem die Erzählsequenzen nach dem Prinzip der Montage aneinander gereiht werden. Der Film war in dieser Schaffensphase Depero überaus wichtig, und in einem 1929 für die amerikanische Zeitschrift Movie Makers konzipierten Aufsatz mit dem Titel Das Kino und die dynamische Malerei hält er fest: Das Kino hat sehr dazu beigetragen, unsere Beeindruckbarkeit zu beschleunigen. Die Geschwindigkeit und die Gleichzeitigkeit der Bilder sind im Film von einer Intensität, die mit denen, die im Leben erlebt werden, nicht zu vergleichen sind.31 28 Für das Sonderheft der amerikanischen Zeitschrift The Little Review (Frühling 1926) verfasst Prampolini einen Beitrag mit dem Titel The Magnetic Theatre. Es handelt sich um einen Anhang zu seinem Manifest L’atmosfera scenica futurista. 29 Brief von Friedrich Kiesler an Forunato Depero vom 30. März 1926. Archiv Depero im MART, Trento. Depero stammte bekanntlich aus Rovereto, und nach seinem Tod haben die Erben bestimmt, dass der Nachlass dort verbleibt. 30 Fortunato Depero: Un futurista a New York. Hg. von Claudia Salaris. Montepulciano: Editori del Grifo 1990. 31 Zit. nach Giorgio Mascherpa: Depero, der Film und die »Montage« der Künste. In: Maurizio Fagiolo dell’Arco, Nicoletta Boschiero Depero (Hgg): Depero. Milano: Electa 1988, S. 213–225; hier S. 218. Für die Futuristen ist das Kino noch nicht das revolutionäre Medium, von dem Walter Benjamin gerade in diesen Jahren spricht, es wird noch nicht als das Medium der Zukunft, sondern als eine Form des Theaters angesehen, – eine Fortsetzung der theatralischen Kunst mit anderen Mitteln.

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Von dieser Prämisse ausgehend beschreibt er die futuristische Malerei als »kinematische Malerei, ausgestoßen vom dynamischen und mechanischen Anbruch unseres Lebens, das völlig originell ist und anders ist als das Leben in der Vergangenheit.«32 Daraus leitet er Folgendes ab: »[A]ntikes Bild verhält sich zu futuristischem Bild wie statische 50 Jahre alte Photographie zu heutigem dynamisch sprechenden Film.«33 Im Zuge seiner Begeisterung für das neue Medium verfasst Depero auch einen kurzen Aufsatz über Kiesler als »Erfinder des idealen Kinos«. Der Text war ebenfalls für die Zeitschrift Movie Makers konzipiert, die ihn aber nicht veröffentlichte, deshalb ging er in das New-York-Buch ein.34 Depero, den Kiesler ˇ apeks R.U.R. kannte, beschreibt ihn als schon als Autor des Bühnenbildes für C genialen Architekten, der in New York die bereits erwähnte Ausstellung und in Paris die österreichischen Pavillons für die Weltausstellung von 1924 gestaltet habe. Schon dessen Gesicht sei Spiegel seiner Genialität: »Er ist klein«, schreibt Depero, »hat scharfe Augen und die clevere Nase einer Maus.«35 Ferner erinnert er sich daran, dass Kiesler einen kühnen Entwurf für ein ideales Kino nach dem Modell einer Kamera aus Pappmachee gebaut und wie er für das Projekt auch zwei Förderer gefunden habe. Es handelt sich dabei um Kieslers Film Guild Cinema, das 1929 eröffent wurde. Als er den »Kino-Palast« besucht, »dessen äußere Architektur sowie die Interieurs sowohl im Stil als auch in ihrer mechanischen Funktion von einer Kamera inspiriert war«, sei dieses ideale Kino noch nicht fertig gewesen. Das Innere des Salons ähnle einem trapezförmigen Trichter, hinten gebe es den Bühnenvorhang, der auf- und zugehe wie die Blende einer Zeiss. Der Saal erhellte sich allmählich durch sanfte, indirekte Lichter, welche die Wände streiften: Hellblaue, violette, rosa, rote und dann weiße Lichter. Die Atmosphäre sei magisch und originell, – kinematisch im psychologischen Sinn. Der Zuschauer könne die Filmvorführungen »versunken in einem Gefühl der inneren, ungestörten Durchdringung erleben.« Der zentrale Begriff, der Deperos Ausführungen zugrunde liegt, ist der des »Erlebens«. Im Kino wie im Theater steht für ihn das Gesamterlebnis im Zentrum: der Zuschauer spüre in seinen Augen das Gefühl, das Film-Ereignis nicht von außen, sondern gleichsam von innen her zu erleben. Daher auch der Spitzname von »100 % Cinema«, der auf Kieslers Kino-Konzept gemünzt war. Für eine totale Involvierung der Zuschauer ins filmische Geschehen sorgen, so Depero, die architektonische Gestaltung des Raums einerseits und die Lichteffekte andererseits. Der italienische Künstler nennt dieses Kino »ideal«, weil es dabei zu 32 33 34 35

Ebd. Ebd. Das Manuskript des Aufsatzes wird im Archiv Depero des MART (Rovereto) aufbewahrt. Fortunato Depero: Un futurista a New York. Das Manuskript des Aufsatzes befindet sich ebenfalls im Archiv Depero des MART.

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einer perfekten Osmose von Architektur, Kino und Theater im weitesten Sinn komme. Der Raumbühme ähnlich erscheint ein derart gestaltetes Kino als idealer Raum, in dem alle Elemente dynamisch interagieren. Insofern wird das Publikum in Bann gezogen und »mit allen Mitteln« überwältigt.36 Als Depero 1947 dank finanzieller Unterstüzung durch das Unternehmen Cartiere Bosso ein zweites Mal New York aufsucht, kommt es zu einer weiteren Begegnung mit Kiesler, der seinen alten Freund nicht vergessen hat und ihm zu helfen versucht. In einem Brief vom Januar 1948 an seine Frau berichtet der Künstler über seine beruflichen Kontakte und schreibt voller Zuversicht: Gestern Abend waren hier im Atelier und sind bis halb eins in der Nacht geblieben: Arch. Kiesler (dem ich zufällig begegnet bin), die Sermolino mit der sehr bekannten Kunstschriftstellerin Elisabeth Sakartoff (Russin), die mir bei den englischen Telephongesprächen hilft. […] Ich bereite gerade gedruckte Einladungen für das erste Treffen mit der Presse und mit Persönlichkeiten aus der Kunstszene und der BusinessWelt vor. Ich warte nun auf Architekten Nelson, der eine Fabrik von Luxusmöbeln hat. Kiesler wird einen weiteren wichtigen Fabrikanten von Luxusmöbel und Interessenten an Innendekoration: Alfred Auerbach mitbringen usw. Mit diesen kurzen Andeutungen möchte ich dir sagen, dass meine Tätigkeit erst jetzt beginnt und dass diese Kontakte hoffentlich nützlich sein werden.37

Leider wird Depero auch diesmal als Künstler und Dekorateur in New York keinen Erfolg haben. Die Unterstützung, die er als Futurist den Faschisten gewährt hat, soll ihm im Wege gestanden sein. Für Kiesler hingegen scheint diese Vergangenheit keine Rolle gespielt zu haben. Desillusioniert kommt Depero 1949 nach Italien zurück.

V.

Futurismus-Rezeption in Wien während der dreißiger Jahre

Die Teilnahme der futuristischen Künstler an der Internationalen Theaterausstellung von 1924 markiert zweifellos den Höhepunkt der Wirkungsgeschichte der italienischen Avantgarde in Österreich. In den dreißiger Jahren folgt ihr keine weitere Initiative mit auch nur annähernd vergleichbarer Resonanz. Aber zwei weitere futuristische Aktivitäten in Wien, die Ruggero Vasari und Arturo Ciacelli zu verdanken sind, müssen in diesem Kontext erwähnt werden, weil sie paradigmatisch aufzeigen, wie in jener politisch brisanten Zeit die österreichi36 Vgl. B. Les‚k: Die Theaterbiographie des Frederick J. Kiesler ; S. 62. Les‚k sieht Kiesler als »Vorbereiter aller späteren Versuche, mit Cinemascope-Leinwand. Dolby Stereo-Ton und 3D-Brillen diesen Effekt [der sinnlichen Überwältigung] zu erzielen.« (Ebd.) 37 Brief von Fortunato Depero an Rosetta (Amadori Depero) vom 27. Jänner 1948, DeperoArchiv ; MART.

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sche Kulturpolitik vor dem Anschluss in ihrer Auseinandersetzung mit der Kunst der Avantgarde demonstrativ andere Wege beschritt als die deutsche. Der Sizilianer Ruggero Vasari (1898–1968) gilt in der Phase des sogenannten zweiten Futurismus als einer der wichtigsten Mitstreiter von Prampolini, wenn nicht sogar als wichtigster. Gemeinsam mit ihm tritt Vasari für die Verbreitung des Futurismus außerhalb der Grenzen Italiens ein. In der Zeitschriftt NOI ist er für die Rubrik über die internationalen Zeitschriften zuständig. Während sich Prampolini nach dem Düsseldorfer Kongress von 1922 und nach der Wiener Theaterausstellung von 1924 allerdings verstärkt nach Frankreich orientiert, konzentriert Vasari seine Aktivitäten in Deutschland. Er lässt sich in Berlin nieder, wo er er in deutscher Sprache die Zeitschrift Der Futurismus (1922–1923) herausgibt und mit Herwarth Walden intensiv zusammenarbeitet. Auf seine Vermittlung hin präsentierte Der Sturm in den zwanziger Jahren aktuelle, fortschrittliche Texte der italienischen Literatur sowie Werke der italienischen Kunstavantgarde. Die Zeitschrift veröffentlicht auch Beispiele aus Vasaris Lyrik und seiner eigenen Dramen.38 In Berlin wohnte er, nebenbei bemerkt, auch der Aufführung von Capeks R.U.R. mit Kieslers Bühnenbild bei, ein Stück, das er seinen eigenen Dramen verwandt empfindet.39 Mitte der dreißiger Jahre bringt Vasari eine Ausstellung mit dem Titel »Italienische futuristische Luft- und Flugmalerei« nach Wien, die in der Neuen Galerie im Februar und März 1935 gezeigt wird. Darin werden dabei 58 Gemälde und Graphiken von 28 futuristischen Künstlern – darunter Prampolini, Fill‡a, Dottori, Benedetta Marinetti, Tato, Crali und anderen – vorgestellt. Bei der Eröffnung hält Marinetti einen Vortrag über L’arte futuriste italien, dessen Inhalt von Vasari in deutscher Sprache erläutert wird, und der Komponist Aldo Giustini führt am Klavier »Synthesen von Flugmusik« aus.40 1934 war diese Ausstellung auch in Hamburg (Februar-März) und Berlin (März) zu sehen gewesen und sie hatte für eine heftige Auseinandersetzung gesorgt. Vom Völkischen Beobachter, der sich auf Alfred Rosenberg berief, wurde sie nämlich als Ausdruck eines internationalen und bolschwistischen Geistes angegriffen.41 Vasaris Ver38 Vgl. Peter Demetz: Walden, Ruggero Vasari und das kulturpolitische »Interregnum« 1933/34, in: Ders.: Worte in Freiheit, S. 137–152. 39 Vgl. Ruggero Vasari: R.U.R. In: L’Impero (Roma), 16. 4. 1924. Ein weiterer Konvergenzpunkt der Interessen von Vasari und Kiesler bestand in der Hochschätzung von Yvan Golls Methusalem; Kiesler wollte auf seiner Raumbühne das Stück inszenieren, das Vasari ins Italienische übertragen hatte. 40 Vgl. dazu den Artikel: Mostra d’arte futurista a Vienna, in: Nuovo Futurismo (Torino), März 1935. (MART-Archiv, Trento); zur Flugmalerei vgl. auch Elisa Sai: Aeropittura, Futurism and Space in the 1930s: Continuity, Innovation and Reception. PhD-Thesis, University of Bristol 2010, S. 12–30. 41 Vgl. Peter Demetz: Walden, Ruggero Vasari und das kulturpolitische »Interregnum« 1933/34, in: Ders., Worte in Freiheit, S. 137–152.

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teidigung des Existenzrechtes des Futurismus und der Avantgarde in seinem Buch Flugmalerei – Moderne Kunst und Reaktion (Leipzig 1924) wurde ebenfalls scharf kritisiert. Dass sich auch Prampolini im September mit einem Pamphlet zugunsten der modernen Kunst42 in die Kontroverse einschaltete, änderte an der Avantgarde-feindlichen Linie der nationalsozialistischen Kulturpolitik kaum etwas. In Wien wird die futuristische Flugmalerei ganz anders, nämlich positiver aufgenommen als in Hamburg und Berlin. Die Turiner Zeitung Nuovo Futurismo feiert sie als großen Erfolg: »Alle österreichische Zeitungen haben der Ausstellung lange Artikel gewidmet und deren hohen künstlerischen Wert hervorgehoben.«43 Ähnlich der Tenor des Berichts im Piccolo aus Triest: »Die Ausstellung erweckt das größte Interesse beim Publikum der österreichischen Hauptstadt und in der Presse.«44 Auch die Reaktionen der österreichischen Presse fielen entsprechend positiv aus, glichen in ihrer Emphase fast den italienischen: Die Futuristen werden als Maler gepriesen, die »den Himmel stürmen«.45 Die Artikel in der Wiener Zeitung, der Neue[n] Freie[n] Presse und im Neuen Wiener Journal suggerieren ein den Ideen des Futurismus gegenüber offenes kulturelles Klima in der österreichischen Hauptstadt, eine bemerkenswerte Offenheit, wenn man in Rechnung stellt, dass es sich um eher konservative Zeitungen handelt. Das positive Bild des Futurismus ist freilich nicht vom Charisma Marinettis zu trennen. In den Artikeln, die von seinem Vortrag über futuristische Kunst im Vorfeld der Ausstellung berichten, werden seine rhetorischen Fähigkeiten und Inszenierungskünste schrankenlos gelobt. Gegenüber dem »Propheten des Futurismus«46 wird Vasari, der eigentliche Organisator der Ausstellung, auf die Rolle eines Sekretärs degradiert: »Der Vortrag [von Marinetti]«, berichtet Born, »wird in deutschen Worten mit einer Erläuterung von Ruggero Vasari über die italienische futuristische Bewegung eingeleitet.«47 Der Anspruch auf Originalität und Modernität, wie er der »Luft- und Flugmalerei« eingeschrieben sei, folgt dabei Marinettis Maxime: die neue Kunst 42 Enrico Prampolini: Il futurismo, Hitler, e le nuove tendenze, in: Stile Futurista, I, 3. September 1934, S. 7. Auch Marinetti hatte im selben Jahr einen offenen Brief an Hitler verfasst, den er allerdings nicht veröffentlichte. 43 Ebd. 44 Vgl. den Artikel Mostra di aeropittura a Vienna. In: Il Piccolo (Trieste), 10. März 1935. (Archiv des MART, Trento) 45 Wolfgang Born: Maler, die den Himmel stürmen! Marinetti in der Futuristenausstellung in der Neuen Galerie, in: Neues Wiener Journal, 20. Februar 1935, S. 7–8; hier S. 7. 46 Ebd., S. 7. 47 Ebd.; ähnlich auch der mit A. gezeichnete Bericht in der Wiener Zeitung vom 20. 2. 1935, S. 11, abrufbar unter : http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=wrz& datum=1935022 0& seite=11& zoom=33 (Zugriff 9. 7. 2015).

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stehe im Zeichen von »Zusammenfassung, Bewegung, Gleichzeitigkeit und Abstraktion«, und sie zeichne sich inhaltlich durch Sujets »aus der Gegenwart« aus.48 Die Verfasser der Artikel bekunden nicht nur ihr großes Interesse, sie zeigen darüber hunaus eine bemerkenswerte Sensibilität für die Neuigkeiten der »Aereopittura«. Zu Recht betonen sie eine Nähe zwischen Flugmalerei und Collagekunst, bei der sowohl die Grenzen zwischen den verschiedenen Disziplinen als auch jene zwischen Kunst und Lebensalltag ineinander fließen: Die Futuristen musizieren auch mit den tastbaren Valeurs, das heißt: mit einer rhythmischen Gruppierung stofflicher Unterschiede, mit der Abwechslung von Rauh und Glatt, von Metallisch-Hart und Schwammig-Weich. So bringen sie Schwämme, gespannte Schnüre, Ringe, schwimmende Metallplatten, Baumrinden an ihren Gemälden und wirken nicht nur durch die Illusion, sondern zuweilen auch durch die Dinge selbst.

W. D. spricht auch eine Verwandtschaft zwischen der Flugmalerei und jener der Bauhauskunst vor dem Hintergrund des Konzepts der Amalgamierung der Künste an: Der Futurismus will durch den Rhythmus in seinen Farben und Formen Vorstellung und Gefühl ganz unmittelbar und heftig in der Seele des Betrachters wachrufen; er will mit Stimmungselementen frei musizieren. Darin berührt er sich mit der Kunst des Schweizers Itten.49

Unter den Künstlern wird neben Benedetta Marinetti, der Frau von Marinetti, vor allem Enrico Prampolini herausgehoben, der in Wiener Fachkreisen bereits als bekannte Künstlerpersönlichkeit galt und als Doppelbegabung gefeiert wird. Die Wiener Zeitung begrüßt die Werke des »als Bühnendekorateurs bekannten Malers« ausdrücklich.50 W. D. preist Prampolini als »Flieger des Weltalls«, als »lyrische[r] Ausdruck der Maschinenbewunderung und der Einsamkeit des Fliegers im Unendlichen«, weshalb dies »ein bleibendes Kulturdokument« sei.51 Ganz besonders wird das Bild der »vierten Dimension« herausgehoben. Auch Wolfgang Born erscheint Prampolini der »talentierteste« unter den futuristischen Künstlern zu sein: ein »Mann von dekorativer Originalität«.52 In ideologischer Hinsicht formulieren weder W. D. noch Wolfgang Born Einwände gegen die avantgardistische Orientierung des Futurismus wie dies etwa der nationalsozialistische Völkische[r] Beobachter tat. Anstatt auf die 48 W. D.: Marinetti über futuristische Kunst. In: Neue Freie Presse, 20. 2.1935, S. 8, abrufbar unter: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=nfp& datum=19350220& seite=8& zoom=33 (Zugriff 9.7. 2015). 49 Ebd. 50 Italienische futuristische Luft- und Flugmalerei (siehe Anm. 47). 51 Ebd. 52 Wolfgang Born: Maler, die den Himmel stürmen! (siehe Anm. 45), S. 7.

Zur Rezeption des italienischen Futurismus in Wien (1920er und 1930er Jahre)

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Spannung von Avantgarde und offizieller Kunstpolitik hinzuweisen, registrieren sie, dass der Futurismus als offizielle Kunst Italiens bzw. als faschistische Kunst aufzufassen sei.53 Beide Kritiker sind dem Futurismus gegenüber so positiv eingestellt, dass sie sich auch nicht weiter wundern, wenn Marinetti mit der Flugmalerei auch »eine Brücke zur religiösen Malerei« schlagen möchte54, obwohl der Futurismus stets eine sehr kritische Haltung zur Kirche und zum Katholizismus bezogen hatte. So stellen sie nicht die Frage, ob bzw. inwieweit diese kirchenfreundliche Orientierung als kulturpolitisches Zugeständnis des Faschismus gegenüber der Kirche zu deuten sei, das letztlich doch im Widerspruch zum anarchisch-libertären Ausgangsanspruch des Futurismus bzw. zu dessen Forderung nach einer totalen Erneuerung des Lebens stehe. Ebenso wenig stören sich W.D. und Born daran, dass ein Bild von Ambrosi eine Hommage an D’Annunzios berühmten Flug über Wien vom August 1918 darstellt. Jene Provokation formuliert W. D. im Zuge seiner Bewunderung für die italienische Kunst sogar in eine Geste der Versöhnung um: »Er [D’Annunzio] warf damals, im dritten Kriegsjahre, friedliche Manifeste ab«.55 Es versteht sich von selbst, dass Vasari von den Attacken gegen die Flugmalerei und den Futurismus in Deutschland enttäuscht war. Über seine Statistenrolle in Wien dürfte er ebenfalls wenig begeistert gewesen sein, ebenso darüber, dass die Flugmalerei-Ausstellung in finanzieller Hinsicht ein Misserfolg war. In einem Brief vom 15. September 1935 an seinen Freund Gerardo Dottori spricht Vasari mit bitterem Unterton aus, dass der Futurismus dank der Ausstellungen in Hamburg, Berlin und Wien wohl in moralischer Hinsicht Siege errungen habe, dass zugleich jedoch kein Werk verkauft worden sei, was für das tägliche Überleben grundlegend gewesen wäre.56 Im Jahr 1937 kommt mit Arturo Ciacelli (1883–1996) ein weiterer Futurist nach Wien, um dort bis nach dem Zweiten Weltkrieg zu bleiben. Obwohl er als Künstlerpersönlichkeit nicht so prominent wie Prampolini oder Vasari ist, darf er für sich in Anspruch nehmen, den Futurismus in den skandinavischen Ländern bekannt gemacht zu haben, insbesondere in Schweden, wo er viele Jahre, auch wegen familiärer Bindungen, gewirkt hat. Vor seiner Übersiedelung nach Wien hatte er sich in avantgardistischen Kreisen in Frankreich und Deutschland bekannt gemacht. Apollinaire hatte ihm seine Soir¦es gewidmet; 53 W. D. behauptet sogar, die ausgestellten Werke seien »Leihgaben aus dem Besitze des Königs von Italien und des Duce« (siehe Anm. 48). 54 Wolfgang Born zitiert diesbezüglich folgende Passage aus Marinettis Vortrag: »Wir haben eine futuristischer Ausstellung kirchlicher Kunst in Padua veranstaltet, und wir glauben, daß unsere ganz abstrakte Kunst besonders geeignet ist, die urgeistigste Lehre des Katholizismus auszurücken!« 55 W. D.: Marinetti über futuristische Kunst (siehe Anm. 48). 56 Vasaris Brief stammt aus dem Archiv Dottori. In: Archivio Tancredi Loreti, Perugia.

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Arturo Larcati

im März 1928 stellt er seine Gemälde und seine Grafik in der Sturm-Galerie aus, im Heft 1 der Zeitschrift Sturm des gleichen Jahres präsentiert Walden als Zeugnis seiner Sympathie für den Futurismus zwei Reproduktionen seiner Werke. Walden kommt auch in den Besitz zweier Werken von Ciacelli, die der Zarathustra-Thematik gewidmet sind. In dieser Phase seines Schaffens steht Ciacelli der Flugmalerei nahe und folgt Giacomo Balla als Vorbild.57 Anlässlich der Wiener Ausstellung von Ciacelli in der Galerie Würthle 1937 erscheint im darauffolgenden Jahr ein Katalog, in dem der Künstler selbst, Marinetti, französische und österreichische Kunstkritiker zu Wort kommen.58 Der Artikel von Arthur Pfannstiel, hier stelltvertretend für die anderen Essays zu sehen, enthält eine enthusiastische Rechtfertigung der futuristischen Kunst im Allgemeinen und der Werke Ciacellis im Besonderen, welche die hymnischen Positionen von 1935 zugunsten der Flugmalerei bestätigend aufgreifen. Als »Schrittmacher unseres Zeitalters der Geschwindigkeit und als Verkünder des großen Krieges« werden die Futuristen neuerlich tituliert, »jener Katastrophe«, so Pfannstiel, »die die Menschheit über die Grenzen des Gewissensbewusstseins drängt.«59 In der Malerei von Ciacelli sieht der österreichische Kritiker eine Entwicklungsphase der futuristischen Kunst erreicht, in der sich Tradition und Moderne nicht wiederprechen und zudem mit dem Geist des Faschismus im Einklang stehen: »Sein Geist, zugleich dynamisch und klassisch, scheint mir ein Hauptzug des faschistischen Geistes des neuen Italiens.«60 Ciacellis Kunst könne einerseits »Maschinen-Malerei« sein, die im futuristischen Sinne Fetische der Moderne wie »[d]ie Schnelligkeit eines Autos« und die »Triebkraft eines Flugzeugs« feiere, und zugleich »eine klare neue Ausdrucksform eines neues Klassizismus« verkörpern. Diese perfekte Verschmelzung von Futurismus und Faschismus in der Kunst von Ciacelli lasse die Entstehung einer Spannung von avantgardistischer Kunst und konservativer (Kultur)politik, die in Deutschland zur Verurteilung des Futurismus geführt hatte, gar nicht aufkommen. Ob diese Interpretation der Malerei von Ciacelli mit dem futuristischen Kampf gegen den Passatismus im Einklang steht, fragt sich Pfannstiehl dagegen nicht. Auf der anderen Seite muss man konzidieren, dass der Futurismus in dieser Phase seine prinzipielle Abneigung gegen die Tradition stark zurückgenommen hat. In seiner eben genannten Schrift über Flugmalerei unterscheidet nämlich Vasari zwischen einem epigonalen Traditionalismus, der für ihn der platten Nachahmung und damit der »Reaktion« gleichkomme, und einer pro57 Marina Bressan: Der Sturm e il Futurismo. Gorizia: Edizioni della Laguna 2010, S. 418. 58 Ein Maler des faschistischen Italien: Arturo Ciacelli, besprochen durch Dr. Karl Hareiter, Dr. Arthur Pfannstiel, S. Ex. F. T. Marinetti, Dr. Pierre Jean-Robert und andere Kunstkritiker. 34 Reproduktionen. Wien: Verlag Kunsthandlung Würthle 1938. 59 Arthur Pfannstiel: Arturo Ciacelli. In: Ebd. S. 6. 60 Ebd., S. 9.

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duktiven Aneignung der Tradition, zu der sich der Futurismus bekennt. Ebenso wenig darf man vergessen, dass Marinetti in der Flugmalerei eine gelungene Synthese von futuristischer Kunst und katholischem Geist erkannt hatte. Aber es ist hier nicht der Ort zu diskutieren, ob Marinettis und Vasaris Versuche, den Futurismus in einer Zeit der Krise durch Anpassung und Zugeständnisse an die faschistische Ideologie zu erneuern und am Leben zu halten, theoretisch konsequent waren und ästhetisch gelingen konnten. Viel wichtiger ist es festzustellen, dass die Glanzzeit, die der Futurismus zwei Jahrzehnte lang in Wien erleben konnte, vor ihrem Ende stand. Wahrend Ciacelli seine Werke in Wien ausstellt, sanktioniert die Münchner Ausstellung über »entartete Kunst« die Verurteilung der Avantgarde durch das NS-Regime. Mit dem darauf folgenden Anschluss vom März 1938 wird die nationalsozialistische Kulturpolitik auch offizielle Kulturpolitik der »Ostmark«. Danach wird der Futurismus weder nach Österreich noch nach Deutschland zurückkehren.61

61 Zu Dank bin ich Federico Zanoner (Archiv des MART, Trento), Barbara Les‚k (Theatermuseum, Wien) und Thomas Trabisch (Theatermuseum, Wien) verpflichtet, die mir Materialien zur Verfügung gestellt bzw. deren Veröffentlichung erlaubt haben.

II.

Evelyne Polt-Heinzl

Raum (neu) denken. Oskar Strnad – der unterschätzte Pionier der Moderne

Oskar Strnad, geboren am 26. Oktober 1879 in Wien, begann seine Ausbildung an der Technischen Hochschule bei Carl König – ein Schüler Heinrich Ferstels und gleich alt mit Otto Wagner – und bei dessen Assistenten Karl Mayreder, Max Ferstel und Ferdinand Fellner. Alle vier waren der Tradition verpflichtete Vertreter des klassizistischen Umbaus von Wien. Das neue Stadtbild war 1900 mit den großen Ringstraßenbauten beinahe abgeschlossen, am letzten Projekt, dem Ausbau der neuen Burg unter Friedrich Ohmann, ebenfalls ein König-Schüler, arbeitete Strnad nach Studienabschluss 1903 kurze Zeit mit, und er hat wohl auch gegen den Geist dieser Zeit das Monumentale, Pathetische und Fassadenzentrierte stets vermieden. Strnad begann als »Revolutionär der Stille« und das ist er auch geblieben: »Im Gegensatz zu anderen modernen Künstlern seiner Zeit, die vorerst alte Konventionen in neue Formen kleideten, schuf er (vorerst noch mit konventionellen Formen) neue Inhalte«1.

1.

Prägungen

Prägend für eine ganze Generation von Architektinnen und Architekten aber wird Strnads frühe Berufung 1909 an die Kunstgewerbeschule durch Josef Hoffmann; auch der Direktor Alfred Roller, Ausstattungschef der Wiener Oper und des Burgtheaters, schätzte und förderte Strnad. Es war eine mutige Entscheidung, einen Architekten, der noch kaum gebaut hatte, zum Lehrer des Baufachs zu machen. »Seine Gabe war ein völliges Auslöschen jeder Distanz zwischen Lehrer und Schüler«, urteilte Joseph Gregor, der später – wie Strnad – am Schauspielseminar Max Reinhardt unterrichtete, »genau so wie die Meister der alten Bauhütten ihre Schüler herangezogen haben«2. Antiautoritäres Ver1 Otto Niedermoser. In: Johannes Spalt (Hg.): Der Architekt Oskar Strnad. Zum hundertsten Geburtstag am 26. Oktober 1979. Wien: Löcker 1979, S. 28f., S. 28. 2 Joseph Gregor : Rede auf Oskar Strnad. Wien: Reichner 1936, S. 13.

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halten und kooperativen Arbeitsstil als relevanten Teil des Projekts Moderne zu sehen, ist bisher nicht in den Blick gekommen. Joseph Gregor suchte in der zitierten Rede, gehalten am 2. Dezember 1935, drei Monate nach Strnads Tod, bei einer Gedenkveranstaltung des Österreichischen Werkbundes im Kleinen Musikvereinssaal in Wien, nach einem Künstler-Typus, mit dem Strnad vergleichbar wäre, und fand ihn eben in »jenen deutschen Werkmeistern«, deren Namen »die Dome, die sie wölbten, nur mühselig und zufällig bewahren, weil sie es vollkommen verstanden, hinter der Größe ihrer Werke zurückzutreten«3. Das ist ehrend gemeint, doch das Bild vom »Dombaumeister« bombt Strnad zugleich in die Vormoderne zurück. Das ist besonders tragisch, da zur nachhaltigen Implementierung eines Repräsentanten der Moderne seit 1900 die offensiv praktizierte soziale Geste des Neuerers gehört samt entsprechender Eigen-PR. Auf beides hat Strnad verzichtet. Es hat seine Karriere »gewiss nicht erleichtert«4, dass er die Aufgabe des Gestalters nicht in der Propagierung der eigenen Person oder eines eigenen Stils sah. Für Margarete Schütte-Lihotzky wird Strnad in Österreich wie international auch deshalb viel zu wenig gewürdigt, weil er im Vergleich etwa zu Adolf Loos oder Josef Frank »fast nichts geschrieben hat, und Schreiben macht den Architekten erwiesenermaßen weit populärer als ›bloß‹ Lehren oder Bauen«5. Auch sie hat im Übrigen wie Strnad nur praxisbezogene Aufsätze hinterlassen. Die Folgen für Strnads Nachleben sind bis heute spürbar. Während der geschickte Networker und Branding-Spezialist Adolf Loos, der in der Praxis weder dem Ornament noch dem Dysfunktionalen abhold war, sich als Avantgardist eingeschrieben hat und entsprechend beforscht wird, ist die Beschäftigung mit Oskar Strnad eher dürftig geblieben. Auch wer ihn lobt, tut das gern mit Formulierungen und Bildern, die ihn von der Moderne abschneiden. Joseph Gregors Rede hat hier eine Reihe von Rezeptionskonstanten begründet. Denn die Dombaumeister, so Gregor, fühlten, »daß sie nur berufen waren, die Konzeption eines Höheren auszuführen«6. Diese Beschwörung eines »Höheren« regte ebenso zu Missverständnissen an wie die Festlegung Strnads auf einen verkürzt interpretierten Harmonie-Begriff. »Sinn hat die Tätigkeit des Architekten nur dann, wenn er fähig ist, Harmonien zu schaffen. Worte, Töne, Farben, Formen, lebende und tote Dinge können zu Harmonien gebracht werden«7, schrieb Strnad im

3 Ebd., S. 10f. 4 Gerhard Vana: »Ein leichtes lebhaftes Nachspiel«? Zu einigen Details in Strnads Arbeiten für den Film. In: Iris Meder, Evi Fuks (Hgg.): Oskar Strnad 1879–1935. Salzburg-München: Pustet 2007, S. 77–83, S. 77. 5 Margarete Schütte-Lihotzky : Warum ich Architektin wurde. Salzburg: Residenz 2004, S. 16f. 6 Gregor 1936 (Anm. 2), S. 11. 7 Oskar Strnad.: Harmonie in der Baukunst (1932). Abgedruckt in: Max Eisler : Oskar Strnad.

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Buch über die Werkbundsiedlung 1932, und das meint eben kein Behübschungsprogramm, sondern den analytischen und zugleich gesellschaftspolitisch verantwortlichen Umgang mit allen Elementen der Baukunst.

2.

Realisierungsfragen

Strnad hat in seinen spärlichen theoretischen Schriften auf jeden Verkündergestus verzichtete, die Leitkonzepte der Moderne aber ständig weiterentwickelt, zumindest in den Entwürfen. Denn selbst wenn Strnad bei einem Wettbewerb den ersten Preis errang, wie 1922 für den Bau des Wiener Krematoriums, erhielt der zweitplatzierte Clemens Holzmeister den Auftrag. »Strnad projektierte eine niedrige, axial geordnete Anlage mit einer Abfolge landschaftlicher Elemente, von Baulichkeiten und Wasserflächen, den Widerstreit von Leben und Tod symbolisierend«; Holzmeister, der »als Architekt eine Art Verkörperung der verkleinerten Alpenrepublik« war, einen »schlossartigen Baukomplex, dessen Bekrönung, ein Kuppelbau, durch seine architektonische Gliederung mit Spitzbögen und zinnenbewehrten Mauern ein einprägsames romantisches Bild ergab«8, so Friedrich Kurrent, der aber hinzufügt, dass Holzmeister, auch bei seinen späteren Theaterbauten, nie vergaß, auf die Bedeutung von Strnads Ideen hinzuweisen. Liest man das Werkverzeichnis9 im 2007 erschienenen Begleitbuch zur Ausstellung im Jüdischen Museum über Werk und Person Oskar Strnads, ist die Ausdauer zu bewundern, mit der er sich immer wieder vergeblich an Wettbewerben beteiligte. Und das Buch zeigt mit kurzen Lebensabrissen von Bauherrn und Kollegen Strnads auch, wie flächendeckend der Nationalsozialismus Kulturträger und Akteure der Moderne aus Österreich vertrieben hat. Realisieren konnte Strnad 1910 den Umbau der Stadtwohnung für Hugo von Hofmannsthal in der Stallburggasse, ein Mietshaus (gemeinsam mit Oskar Wlach, 1912) in der Stuckgasse in Wien 7, einige Grabmäler, das Haus Hock (1910/12) und das Haus Jakob Wassermann (1914), beide in Wien 19. Nicht erhalten sind die Empfangshalle der Wiener Urania oder das Doppelhaus in der Wiener Werkbundsiedlung. Wenig Glück brachte Strnad der Umbau des Stadthauses in der Liechtensteinstraße im 9. Bezirk (1915) und des Landsitzes in Raach bei Gloggnitz (1915–17) für den Wiener Anwalt und Kriegsgewinnler Josef Kranz, der in einer langen und unerfreulichen gerichtlichen Auseinandersetzung mündete. Mit den ausgewählten Schriften des Künstlers und 31 Bildtafeln. Wien: Gerlach und Wiedling 1936, S. 58f., S. 58. 8 Friedrich Kurrent: Oskar Strnad und der Theaterbau. In: Meder/Fuks 2007 (Anm. 4), S. 51–57, S. 56f. 9 In: Meder/Fuks 2007 (Anm. 4), S. 132–160.

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Kranz, der Geliebte und Adoptivvater von Gina Kaus, dem Franz Werfel in seinem Roman Barbara oder Die Frömmigkeit (1929) in der Figur des Unternehmers Aschermann ein literarisches Denkmal setzte, wurde 1917 wegen Preistreiberei vor Gericht gestellt. Der medial umfänglich ausgeschlachtete Prozess wurde als eine Art Sedativum für das Hinterland inszeniert, wo der Unmut über Versorgungsengpässe und das sinnlose Massensterben an den Fronten wuchs. »Verstanden hat das große Publikum, dem dieser Prozeß gegeben wurde«, schrieb Walther Rode über die »Sittenkomödie« dieses Gerichtsspektakels, »weder das Bier-, noch das Rum-, noch das Marmeladegeschäft, noch die Transaktionen der Bank und schon gar nicht die Anwendbarkeit der Preistreibereiverordnung auf diese verwickelten Umstände. Verstanden hat es nur, daß die Justiz plötzlich unerbittlich geworden ist gegen einen Reichen und Mächtigen, daß plötzlich alle gleich geworden sind vor dem Gesetz, daß der Staatsanwalt plötzlich Front macht gegen die Feinde des Volkes«10. Kranz war zweifellos eine schillernde Figur des deregulierten Wirtschaftslebens der Kriegsjahre, die jedoch auch willkürlich bzw. mit deutlich antisemitischen Motiven als Opfer ausgewählt wurde. Strnad hat die neue Rolle des mächtigen Wirtschaftsführers bei der Neugestaltung des Innenhofes im Palais Kranz in der Liechtensteinstraße architektonisch eingefangen: Der Boden wurde erhöht »und mit einem breiten Steinmuster gepflastert«, die »Wände mit Bogen und Giebeln gegliedert«, also historische Motive, »aber neuartig gemessen und geordnet, um für die alte, bewegte Figurenreihe in der Mitte einen streng skandierten Bezirk zu bereiten, gering im Ausmaß, vielleicht gedrängt, aber bedeutend in seiner Wirkung«11, analysierte Max Eisler in seinem Essay aus dem Jahr 1936, der in vielem bis heute an analytischer Genauigkeit nicht übertroffen wurde. Strnad fragte stets nach den Zusammenhängen »zwischen historisch-gesellschaftlicher Situation und baulich-künstlerischem Ausdruck«12.

3.

Was aber ist Moderne?

Als Margarete Lihotzky 1915 ihr Studium begann, hatte sie in Bezug auf ihre Lehrer wenig Wahlmöglichkeit. An der Technischen Hochschule waren Frauen zum ordentlichen Studium erst ab dem Studienjahr 1919/20 zugelassen. Als Ausweg blieb die K.K. Kunstgewerbeschule am Stubenring mit drei Architek10 Walther Rode: Zum Prozeß Kranz. In: Ders.: Österreichs fröhliche Agonie. Hg.: Gerd Baumgartner. Wien: Löcker 2007 (Werkausgabe. 1), S. 268–271, S. 268f. 11 Max Eisler : Oskar Strnad, sein Leben und Werk. In: Eisler 1936 (Anm. 7), S. 5–40, S. 27. 12 Ebd., S. 17.

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turklassen. In Josef Hoffmanns Klasse waren Studentinnen nur in kunstgewerblichen Fächern zugelassen, in Heinrich Tessenows Architekturklasse, die Strnad nach dessen Weggang 1918/19 übernahm, schloss Elisabeth Nießen aus Schlesien 1917 ihre Ausbildung als Architektin ab. In Strnads Architekturklasse, die er von 1914 bis zu seinem Tod 1935 führte, war der Frauenanteil besonders hoch. Die Klasse »Allgemeine Formenlehre«, mit der Strnad seine Unterrichtstätigkeit an der Kunstgewerbeschule im Studienjahr 1909/10 begann, besuchten 15 Studenten und 9 Studentinnen. Als seine Klasse 1914/15 zur »Fachklasse für Architektur und allgemeine Formenlehre« ausgeweitet wurde, schrieben sich 16 Studenten und 12 Studentinnen ein; 1915/16 ist dann Margarete Lihotzky darunter13. Strnad wie Schütte-Lihotzky wären gute Beispielfälle, das Konzept Moderne in der Architekturgeschichtsschreibung zu überdenken und die Frage der Relativität von historischen Markierungen wie fortschrittlich/antibürgerlich, die sich im Diskurs über die Wiener Moderne verfestigt haben, neu aufzurollen. Während Loos den Bohemien-Gestus inszeniert, der nach dem alten GenieKonzept zur Grundausstattung des Künstlers gehört, kümmert sich Strnad nicht um sein Image, sondern beschäftigt sich mit konkreten Fragen sozial verantwortlichen Gestaltens und Bauens. Dass Architektur nicht im Häuserbauen besteht, »sondern in der Gesinnung«14 – das hat Loos formuliert, Strnad gelehrt und Schütte-Lihotzky gelebt. Strnads Wirkung »auf das Architekturgeschehen in Österreich ist an den vielen Persönlichkeiten ablesbar, die seine SchülerInnen oder AssistentInnen waren15, wie Ilse Bernheimer, Karl Augustinus Bieber, Erich Boltenstern, Anton Brenner, Mathilde Flögl, Oswald Haerdtl, Karl Hagenauer, Fritz Janeba, Otto Niedermoser, Robert Obsieger, Ernst Plischke, Franz Schuster, Margarete Schütte-Lihotzky oder Hans Vetter. Und viele seiner SchülerInnen trugen die Überzeugung von sozialer Verantwortlichkeit architektonischer wie künstlerischer Arbeit weiter. Dazu gehört etwa auch der Maler und Holzschneider Otto Rudolf Schatz, Jahrgang 1900, der in Strnads Klasse »Allgemeine Formenlehre« seine entscheidenden Prägungen erhalten hat. »Heute«, so Ilse Bernheimer, »würde er verstanden werden, würde er Aufträge […] erhalten«16. Trotzdem blieb Strnad immer kompromisslos. Zum Beispiel hielt er der damals modernen Funktionstrennung der Wohnräume eine multifunktionale Raumkonzeption entgegen. »Ein Speisezimmer ist ein toter Punkt 13 Die Liste von Strnads StudentInnen ist abgedruckt in: Spalt 1979 (Anm. 1), S. 61–63. 14 Edith Friedl: Nie erlag ich seiner Persönlichkeit … Margarete Lihotzky und Adolf Loos – ein sozial- und kulturgeschichtlicher Vergleich. Wien: Milena 2005 (Feministische Theorie. 47), S. 338. 15 Johannes Spalt: Oskar Strnad zum hundertsten Geburtstag. In: Spalt 1979 (Anm. 1), S. 5. 16 Ilse Bernheimer. In: Ebd., S. 6f., S. 6.

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im Haus, steht fast immer unbenützt und man soll lieber nicht immer starr an dem gleichen Platz speisen«17, soll er einem Auftraggeber gegenüber geäußert und damit den Auftrag verloren haben. Manches ist einfach in Vergessenheit geraten, z. B. dass in seiner Klasse das Kartonmodell entwickelt wurde, das die alten Gipsmodelle ablöste18, wie Karl Augustinus Bieber berichtet, Strnads Assistent 1927/28. Mit manchen Ideen war Strnad seiner Zeit um etliche Jahrzehnte voraus. So entwarf er für ein Wohn- und Geschäftshaus an der Ruprechtsstiege, im Sichtfeld des einzigen erhaltenen romanischen Sakralbaus in Wien, ein Gebäude, »das nur aus Eisenbeton und Glas bestehen sollte […]. Sein Entwurf wurde ausgelacht, als unausführbar zurückgewiesen. »Dieses Haus wird noch oft gebaut werden«19, soll Strnad zu Ilse Bernheimer gesagt haben – und hat damit recht behalten. Bereits 1924 war er vom neuen Material Eisenbeton fasziniert und überzeugt, dass darin die Zukunft der Architektur liege, die allerdings mit größter »künstlerischer Disziplin« damit umgehen müsse, denn Baukunst bestehe nicht »in der Lösung technischer Probleme«, sondern fange »nach deren Lösung«20 erst an. Richtungsweisend wäre auch das Bürohaus geworden, das Strnad 1914 gemeinsam mit Josef Frank und Oskar Wlach – es war die letzte Gemeinschaftsarbeit der drei – für den Baublock an der Stiege zur Kirche Maria am Gestade geplant hat. Der Entwurf sah nicht nur einen zweckdienlichen Neubau vor, sondern die Schaffung eines adäquaten Umraums für die gotische Kirche mit modernen Mitteln. Die Fassadenfront verzichtete auf jeden Zierat. Die Mauern blieben glatt, die Fensterfront wurde in einer strengen Horizontale geführt und damit am oberen Ende der Treppe die Vertikale der Kirche betont.

4.

Bauen im Roten Wien

Oskar Strnad selbst kam kaum dazu, sich in das Wiener Stadtbild einzuschreiben und auch nicht in die Geschichte des sozialen Wohnbaus der Gemeinde Wien. Die Sozialdemokratie favorisierte jene Architekten, die aus der Tradition der imperialen Geste der Otto Wagner-Schule kamen, vielleicht auch, weil für die monumentalen Blockverbauungen ein Denken in diesen Dimensionen durchaus nützlich war. Parteibindung spielte dabei kaum eine Rolle, es gab, so Friedrich Achleitner, »eine sehr bunte Palette von Auftragnehmern, die alle in der Monarchie ausgebildet worden waren und alle in einer mehr oder weniger bürger17 18 19 20

Ebd. Karl Augustinus Bieber. In: Ebd., S. 8–14, S. 9. Bernheimer, in: Ebd., S. 6f., S. 6. Otto Niedermoser. In: Ebd., S. 28f., S. 29.

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lichen Tradition standen«21. Ein wenig mag das auch damit zu tun haben, dass die Gemeinde Wien im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit »planmäßig arbeitsintensiv baute«22. Technologische Rationalisierungen und damit die Frage nach einer neuen Ästhetik für neue Verfahrensweisen und Baustoffe waren mit dieser Vorgabe programmatisch kein Thema, und das galt selbst für ein künstlerisch avanciertes Bauprojekt wie die Werkbundsiedlung in Lainz. Auch dieser Zusammenhang stellt die Frage des Moderne-Begriffs in ein neues Licht, gewissermaßen Sozialpolitik – Kampf gegen Arbeitslosigkeit und für leistbaren Wohnraum – versus technisches Experiment. Auch wenn zweifellos stimmt, dass die Auftraggeber in der Gemeinde Wien genauso wie die künftigen Mieter bombastischer Außen- und kleinbürgerlicher Innenausstattung durchwegs gewogener waren als ästhetischen wie wohnraumtechnischen Experimenten. Als die Fassaden der Gemeindebauten um 1930 deutlich ›sachlicher‹ wurden, war das keine ästhetische, sondern eine rein ökonomische Entscheidung der Gemeindeverwaltung. ArchitektInnen mit reflektierter Nähe zur Moderne, so Achleitner, wie »Brenner, Frank, Lichtblau, Plischke, Schuster, Schütte-Lihotzky, Sobotka, Strnad, Vetter«23, kamen jedenfalls kaum zu Aufträgen bei den zwischen 1924 und 1933 mehr als 60.000 fertiggestellten Wohnungen24. Ein Bauteil im WinarskyHof im 20. Bezirk, eine Wohnhausanlage Ecke Holochergasse/Loeschenkohlgasse, mehr hat Strnad nicht gebaut. Für die Mieter ist das bedauerlich, denn er achtete mehr auf Querlüftbarkeit, Lichtführung und sonstige Aspekte der Wohnqualität als auf den äußeren Festungscharakter. Er plante nicht von der repräsentativen Fassade aus, sondern von der Logik des Wohnraums im Inneren. Das konnte für die Außenansicht auch das Aufbrechen der Achsen und Symmetrien bedeuten. Die Innenräume sollten optimale klimatische Verhältnisse haben – in Zeiten steigender TBC-Erkrankungen auch eine gesundheitspolitische Notwendigkeit – und den Bewohnern alle Möglichkeiten offen lassen. Über die Vorgeschichte des Winarsky-Hofs hat Margarete Schütte-Lihotzky wiederholt berichtet. Otto Neurath habe als Generalsekretär des Österreichischen Verbandes für Siedlungswesen dem Wiener Baustadtrat vorgeworfen, dass die Vergabepraxis für den Gemeindewohnbau an den international berühmten Wiener Architekten völlig vorbei gehe. Darauf erhielt der Verband den Auftrag zur Planung des Winarsky-Hofes und organisierte die »Weitergabe der Pro21 Friedrich Achleitner : Wiener Architektur der Zwischenkriegszeit. Kontinuität, Irritation und Resignation. In: Norbert Leser (Hg.): Das geistige Leben Wiens in der Zwischenkriegszeit. Wien: ÖBV 1981, S. 277–293, S. 284. 22 Ebd., S. 284. 23 Ebd., S. 286. 24 Ernst Glaser : Im Umfeld des Austromarxismus. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des österreichischen Sozialismus. Wien-München-Zürich: Europaverlag, 1981 S. 474.

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jektierung an die Modernen, die bei der Gemeindeverwaltung als halbverrückte Spinner galten«25. So wurden 1924–26 neben Peter Behrens, der für den größten Abschnitt zuständig war, auch Josef Hoffmann, Adolf Loos, Oskar Strnad (Mitteltrakt), Josef Frank, Oskar Wlach und Franz Schuster mit jeweils kleineren Einheiten betraut. Dass die Bautätigkeit der Gemeinde Wien in der Ersten Republik bis heute mehr als sozialpolitische Tat wahrgenommen wird, denn als Projekt der Moderne, hat wohl damit zu tun, dass kaum Architekten der künstlerischen Moderne dabei beschäftigt waren – mit Ausnahme einiger baulicher Experimente wie der Werkbundsiedlung, zu der 32 Architekten eingeladen wurden, darunter auch Strnad, Schütte-Lihotzky und Loos. Strnad hat trotzdem nicht gezögert, vor den Nationalratswahlen am 20. April 1927 den Aufruf der Sozialdemokratie »Eine Kundgebung des geistigen Wien. Ein Zeugnis für die große soziale und kulturelle Leistung der Wiener Gemeinde« in der Arbeiter-Zeitung zu unterschreiben, gemeinsam mit Franz Cizek, Sigmund Freud, Robert Musil, Alfred Polgar oder Anton Webern und den Architekten Ernst Lichtblau, Otto Prutscher und Karl Witzmann26.

5.

(Wohn-)Raum denken

»Raumvorstellung gibt es erst durch eine vollständige Begrenzung des Raumes, durch ein Abschließen«27, formuliert Strnad 1913 in einem Vortrag im Wiener Ingenieur- und Architektenverein zu theoretischen Fragen der Raumgestaltung. Raum ist für Strnad eine Kategorie der Wahrnehmung, und zentral ist sein Begriff der »Raumgelenke«28, die Linien des Umbruchs von Fläche zu Fläche, die nicht überspielt, sondern gestaltet und freigehalten werden sollen. »Raum ist Schicksal. Sich vom Schicksal befreien ist: Weg bauen, Raum begrenzen. Also nicht Wand, sondern Weg, Fußboden erleben. Den Fußboden frei und klar halten.«29 »Eure wohnungen könnt ihr euch nur selbst einrichten«30, formulierte Loos 1903 und tat in der Praxis mit seinem Einbaumobiliar oft das Gegenteil. Strnad 25 Schütte-Lihotzky 2004 (Anm. 5), S. 63. 26 Eine Kundgebung des geistigen Wien. In: Arbeiter-Zeitung, 20. 4. 1927, S. 1. Abrufbar unter : http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=aze& datum=19270420& seite=1& zoom=33. 27 Oskar Strnad: Einiges Theoretische zur Raumgestaltung. Abgedruckt in: Eisler 1936 (Anm. 7), S. 43–51, S. 43. 28 Eisler 1936 (Anm. 11), S. 19. 29 Oskar Strnad: Neue Wege in der Wohnraum-Einrichtung. In: Deutsche Kunst und Dekoration. Darmstadt, Oktober 1922. Abgedruckt in: Eisler 1936 (Anm. 7), S. 52–55, S. 52. 30 Adolf Loos: Trotzdem. 1900–1903. Innsbruck: Brenner Verlag 1931, S. 35.

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hingegen begann 1908 gemeinsam mit Josef Frank und Oskar Wlach konsequent nutzerorientierte Konzepte für die Innenraumgestaltung zu entwickeln, in Abgrenzung zum Historismus wie zum Gesamtkunstwerkgedanken der Wiener Werkstätte – und er hielt sich in der Praxis auch daran. Möbel waren ihm der Wortwurzel nach mobile Elemente mit einem Anspruch auf Umraum, die ihre prinzipielle Beweglichkeit und, mit Füßen am Korpus, ihre Verbindung zum Raum zeigen sollten. 1916 organisierte Strnad am K.K. Museum für Kunst und Industrie die Ausstellung Einfacher Hausrat. Demselben Geist verpflichtet war das spätere Projekt mit seinen Studenten, einfache Möbelformen aus geometrischen Grundelementen zu entwickeln. Das Ergebnis dieser Arbeiten erschien 1933 als Buch mit dem Titel Wohnung für jedermann31, herausgegeben von Strnads Assistenten Erich Boltenstern. Die Grundüberzeugung all dieser Arbeiten aber ist, so Max Eisler : »Es wird Maß gehalten, Menschenmaß.«32 Alles, »was rein praktisch-technischen Zwecken dient, ist aus dem engsten Umkreis der Menschen fortzuschaffen, der an seiner Wohnung Freude haben soll«, schrieb Strnad 1932 in seinem Essay Mit Freude wohnen, denn wir »sollen nicht praktisch wohnen, wir sollen mit Freude wohnen«33. Das ist die Schnittstelle, wo Joseph Gregors Begriff des »Höheren« gerne ansetzt und wo Strnad wie Josef Frank doktrinären Haltungen entgegentritt, die Sachlichkeit als Selbstzweck setzen und nicht in den Dienst der Menschen stellen, für die sie bauen und gestalten. Dass Design über das Gestalten von Dingen hinausgeht, ist ein Faktum, das Moderne-Debatten leicht aus dem Auge verlieren. Strnads Wohnentwürfe sehen raumsparende Schrankkabinen vor als Stauraum für alles Notwendige aber nicht Erfreuende, nicht aber die Benutzungsweise vorgebende, also die Nutzer einschränkende Einbauten von Anrichten, Sitzecken oder die Verwendung zeittypischer »Garnituren« und Ensembles. Raum und Einrichtung sind für Strnad wesenhaft getrennte Elemente, man soll daher nie »mit Möbeln ›Architektur‹ machen wollen, nicht mit ihnen den Raum gliedern wollen. (Nicht Möbel axial stellen, keine ›Garnituren‹!) Möbel sind selbständige Wesen. Sonst entsteht Zwang, Knechtschaft«34, schreibt Strnad 1922. Der Begriff »Diktatur der Garnitur« stammt übrigens von Josef Frank, der immer wieder »gegen das Erfinden neuer, vor allem geschlossener ästhetischer Systeme (Bauhaus, Neues Bauen)«35 polemisierte.

31 32 33 34 35

Erich Boltenstern (Hg.): Wohnung für jedermann. Stuttgart: Julius Hoffmann Verlag 1933. Eisler 1936 (Anm. 11), S. 17. Oskar Strnad: Mit Freude wohnen. Abgedruckt in: Spalt 1979 (Anm. 1), S. 48. Strnad: Neue Wege in der Wohnraum-Einrichtung (Anm. 29), S. 53. Achleitner 1981 (Anm. 21), S. 290.

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6.

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Was ein Haus können muss

Für Strnad sind »Häuser aus Räumen gebaut«, die Bauform muss »ein Ergebnis der Raumform sein […], entwickelt aus dem Grundriß«36. Eines der beiden Privathäuser, die Strnad am Wiener Stadtrand, gemeinsam mit Josef Frank und Oskar Wlach, realisieren konnte, ist 1914 das Haus für den Schriftsteller Jakob Wassermann und seine Frau Julie Wassermann-Speyer in Wien 19, Paul-EhrlichGasse 4. Worum es Strnad dabei ging, hat er Margarete Schütte-Lihotzky bei einer »Begehung« erklärt: »Es sei von grundlegender Bedeutung wie man in ein Haus hineinkommt«, zwischen Architektur und Natur, Innen und Außen sollen nachvollziehbare Übergänge geschaffen werden, es gehe nicht um eine Verwischung der Grenzen, sondern um die sichtbare und damit erlebbare Thematisierung der gegebenen Schwellensituationen37. Ausformuliert ist dieses Konzept in Strnads erst 1936 posthum veröffentlichten Gedanken beim Entwurf eines Grundrisses, wo er drei Schritte beschreibt: Punkt 1: »Finden des Beginns, des Weganfangs (Vorplatz, Vorstufen). Der erste Halt (Tür, Tor, Portal). Weiterführen des Weges und Festlegen von Widerständen in rhythmischer Aufeinanderfolge.« Punkt 2: »Festlegen des Fußbodens dieses Weges in seinen Flächenausmaßen und das Eintragen der Widerstände, Stufen, Türen, als Grenze«. Punkt 3: »Festlegen des Lichts« bzw. »des Lichteinfalls«38. Es ist genau diese Passage, die Friedrich Achleitner in seinem Gedenkartikel 1965 zitiert39. Die Hügellage des Grundstücks für das Haus Wassermann in der EhrlichGasse eignete sich ideal für abgestufte Übergänge aus Terrassen und Treppen. Im Inneren führt eine Holztreppe empor von Absatz zu Absatz sich wendend, sodass man im Emporsteigen einen Rundum-Ausblick gewinnt. Im Parterre führt der Weg zum großen hellen Wohnraum, der dem Winkel der Hauptterrasse folgt und mit Vorhängen in drei Räume teilbar ist. Das sollten ursprünglich Glastüren sein, die dem Bauherrn zu teuer waren. »Die Zeit wird kommen«, hoffte Max Eisler 1936, »die erkennen wird, daß die organisch sprießende Raumform dieses scheinbar beiläufigen Hauses – über Adolf Loos hinaus – einen wichtigen, wesentlichen und wirksamen, einen historischen Fortschritt in der Entwicklung der allgemeinen Architektur bedeutet.«40 Strnads erster wichtiger realisierter Bau war 1910/12, gemeinsam mit Oskar 36 Eisler 1936 (Anm. 11), S. 20. 37 Schütte-Lihotzky 2004 (Anm. 5), S. 22. 38 Oskar Strnad: Gedanken beim Entwurf eines Grundrisses. Aus dem Nachlass abgedruckt in: Eisler 1936 (Anm. 7), S. 56f., S. 56. 39 Friedrich Achleitner : Raum und Bewegung. Neues Bauen kritisch betrachtet: Oskar Strnad. In: Die Presse, 18./19. 12. 1965, S. 5. 40 Eisler 1936 (Anm. 11), S. 22f.

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Wlach, das Haus Hock in der Kobenzlgasse 71, auch das eine Villa in hügeliger Stadtrandlage im 19. Bezirk, was eine dynamisierte Wegführung von außen nach innen unterstützt. Die Geländer, Treppen und Terrassen umschließen hier einen alten Apfelbaum, der dem Ensemble inkorporiert wurde. Der schlichte kompakte Bauwürfel hat mit zwei hohen Bögen als klassischen Motivzitaten ein leises Gegenstück. Beide Häuser sind Beispiele für ein Bauen, das nicht einem Manifest folgt, sondern von den Wahrnehmungssensationen der Betrachter/Bewohner aus denkt. 1912 freilich wollte man dem Bauherrn Oskar Hock, Direktor der Lenzinger Papierfabrik, »›wegen gröblicher Verunstaltung des Stadtbildes‹ die Benützungsbewilligung verweigern, und erst der Einwand, daß die Familie nun im Kobenzlhotel Quartier nehmen werde, bis im Prozeßweg geklärt sei, wer recht bekomme, und allenfalls die Baubehörde zur Ersatzleistung verpflichtet werden könnte, bewog den Verhandlungsleiter, die Bewilligung zu erteilen. 1924 […] hatte [Strnad] wieder Schwierigkeiten, eine Baugenehmigung zu erlangen, und man gab ihm den Rat, doch lieber so ein Haus wie in der Kobenzlgasse zu bauen!«41 Das berichtete sein Assistent Otto Niedermoser 1964, fast drei Jahrzehnte nach Strnads Tod. Was hätte Adolf Loos daraus für eine schöne Anekdote über die heroischen Kämpfe der Moderne gemacht. Auch Strnads Doppelhaus in der Werkbundsiedlung zeichnete sich durch die besondere Thematisierung der Übergänge zwischen Haus und Garten aus. »Dieses kleine Haus will […] spüren lassen, wie der Baukörper als solcher sich gegen die Sonne streckt, sich gegen die Natur öffnet […], wie der Garten in den gebauten Fußboden übergeht und wie die Zimmerwände ins Freie hinausragen. Es ist der Zusammenklang der Natur mit den zum Sinn gewordenen geometrischen Formen, die aber mit der Erde verwurzelt sind«42. Die Berliner Zeitschrift die neue linie, die von Bauhaus-Künstlern wie Herbert Bayer – er entwickelte die serifenlose Universal-Schrift des Blattes – oder L‚szlû Moholy-Nagy gestaltet wurde, widmete der Wiener Werkbundsiedlung einen ausführlichen Bericht und griff drei Projekte heraus: Die Arbeiten von Adolf Loos, Josef Frank, der 1927 als einziger Österreicher auch am Bau der Stuttgarter Weißenhofsiedlung unter Ludwig Mies van der Rohe beteiligt war, und Oskar Strnad, dessen Haus »sich durch besondere Eleganz und Wohnlichkeit«43 auszeichne. Dieselbe Nummer der Zeitschrift widmete sich auch der Frage, welche Konzepte zur Verbindung von Ästhetik und Zweckmäßigkeit in der Innenraumgestaltung zu finden sind und stellte als Beispiel dafür das Kinderzimmer in Strnads Haus vor44 41 Zit. nach Iris Meder : Oskar Strnad – immer bestimmend ist nur der Mensch. In: Meder/Fuks 2007 (Anm. 4), S. 9–31, S. 11. 42 Oskar Strnad: Harmonie in der Baukunst (Anm. 7), S. 59. 43 Wie baut man in Wien? In: die neue linie. H. 12, August 1932, S. 13–15, S. 15. 44 Wiener Charme lebt noch. In: Ebd., S. 19.

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Abb. 1: Werkbundsiedlung – Plakat; Ó Universität für Angewandte Kunst, Wien.

7.

Theater-Raum – Oder: »Als Strnad die Rundbühne erfand«

Strnads Beschäftigung mit dem Theater begann bereits früh, denn kurzfristig hatte er schon 1905 im Büro der Theaterarchitekten Fellner & Helmer gearbeitet. Der Bühnenraum war für Strnad von Beginn an kein starres Bild und es ging ihm nicht um lebendige Kulissen, sondern um eine Bearbeitung und tendenzielle Aufhebung der beiden Theater-Räume: der Welt des Schauspielers und der Welt des Zuschauers. Auch in seinen Arbeiten für Theaterinszenierungen interpretierte Strnad den Bühnenraum als Teil des Theaterraums, nicht als Bühnenbild. Bereits 1915 begann er an programmatischen Projekten zu arbeiten, die ein Aufbrechen der konventionellen Theatersituation anvisierten. Das spektakulärste Konzept ist dann seine Rundbühne, ein um das Publikum herum ange-

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ordneter, beweglicher Bühnenraum, der das Konzept der Guckkastenbühne sprengt. »Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar«45, schrieb Siegfried Kracauer 1930 über die Arbeitsämter. Strnad hat das für das Theater umzusetzen versucht. Die Guckkastenbühne war der räumliche Ausdruck einer monarchischen, streng hierarchisierten Tradition; Raum-Organisation und Raum-Struktur mussten für die Demokratie neu gedacht werden. Sein erstes produktionsfertiges Modell war 1917 das »Dreibühnentheater« für Max Reinhardt. Der Zuschauerraum war von drei Bühnen umgeben, die simultan oder konsekutiv bespielt werden konnten. Unter den Bühnen befanden sich jeweils Unterbühnen, die den alten Drehbühnen-Mechanismus in die Vertikale übertrugen. Die Modellbaupläne für diesen Entwurf eines Schauspielhauses fertigte 1918 Margarete Schütte-Lihotzky als Mitarbeiterin in Strnads Büro aus46. In Strnads Rundbühne sind die Zuschauer dann der Raummittelpunkt, die Bühne umgibt sie im beweglichen Kreisrund. Erst 1920, nach vielen Umarbeitungen, Konkretisierungen und Neuansätzen präsentierte Strnad in der Zeitschrift Der Architekt sein epochales Projekt für ein Schauspielhaus47. Und er tat das mit einer Zurückhaltung, die es seinen Nachfolgern leicht machte, sich als Erneuerer zu positionieren, denn, so Strnad, er veröffentliche jetzt zwar das Resultat seiner mehrjährigen Arbeit, wolle damit aber »keineswegs sagen […], daß diese Form die einzig mögliche ist«48. Zunächst dankt er allen, mit denen er je über sein Projekt gesprochen hat, dann dem Direktor des Deutschen Volkstheaters in Wien, Alfred Bernau, der seit 1914 ein Patent auf eine drehbare Rundbühne besaß und Strnad damit zur Ausarbeitung seiner alten Idee brachte. Dann formuliert er kein Manifest mit durchnummerierten Sentenzen, sondern legt in einem historisch ausgreifenden Essay über die Traditionslinien der Theaterpraxis seine Grundgedanken dar. Die beiden im europäischen Theater separierten Elemente des Theaters, Schauen und Spielen, müssen wieder zusammengedacht werden, damit »die raumwirkende Kraft des dramatischen Spiels nicht im Bühnenrahmen stecken«49 bleibt. Eine Entgrenzung des Raum45 Zit. n.: Peter Sprengel: Das psychoanalytische Feuilleton. Anmerkungen zu Berlin-Texten 1907–1933. In: Kai Kauffmann, Erhard Schütz (Hgg.): Die lange Geschichte der Kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung. Berlin: Weidler, 2000 S. 163–176, S. 173. 46 Christine Zwingl: Die ersten Jahre in Wien. In: Peter Noever u. a. (Hgg.): Margarete SchütteLihotzky. Soziale Architektur. Zeitzeugin eines Jahrhunderts. Wien-Köln-Weimar : Böhlau 1996 (2. verb. Aufl.), S. 17–29, S. 19. 47 Oskar Strnad: Projekt für ein Schauspielhaus 1920. in: Der Architekt. Wien. September 1920. Abgedruckt in: Eisler 1936 (Anm. 7), S. 68–81. 48 Ebd., S. 69. 49 Ebd., S. 70.

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erlebens, die den Zuschauer in die andere, die Welt des Schauspiels, versetzt, wird nicht durch kulissenhafte Imitation einer perspektivischen Scheinwelt erreicht, sondern durch die bewusste Inszenierung der Welt des Spiels. Im konkreten Rundbühnenmodell heißt das: »Die Pfeilerumkleidungen [der Vorbühne], das einzig Endliche, die den Raum überhaupt fühlbar machen, verschwinden nach oben im Velum. Nach unten die Stufen unter die Zuschauer hinweg ins Unkontrollierbare. So lebt der Zuschauer gewissermaßen raumlos, schwebend im Unendlichen-Raumdynamischen der Bühnenwelt. […] Der Zuschauer, der die statisch-reale Welt des Vestibüls, Foyers und Stiegenhauses durchschritten hat, kommt unvermutet in die irreale, raumlose, mimische des Spiels. Das Spiel kann von allen Seiten einsetzen, links und rechts hinter den Treppenwangen der Zuschauertribüne hervor, unter den Sitzen der Zuschauer heraus, oben im Umgang vorbeischwebend, oder aus den Öffnungen heraus und in andere verschwindend.«50

»Kein anderer österreichischer Architekt des 20. Jahrhunderts hat vergleichsweise einen derart profunden, substantiellen Beitrag zum Theaterbau geleistet wie Oskar Strnad – obwohl er gar kein Theater gebaut hat«, so Friedrich Kurrent, das äußere Erscheinungsbild gleiche oft »auf den ersten Blick einem konservativen Bauentwurf«, aber die zugrunde liegende Konzeption ist revolutionär.«51 Kurrent führt die unspektakuläre Außenansicht auf Strnads Ausbildung bei Carl König zurück, doch sie hat wohl eher konzeptionelle Gründe. Da Strnad sein Theater-Modell vom Dispositiv des Theaterbesuchs aus denkt, ist ihm die Fassade des Hauses, der Tradition radikal gegenläufig, primär die notwendige Umhüllung seines Innenraummodells. Strnads 1920 ausformulierte Grundthesen greift dann vier Jahre später Friedrich Kiesler mit seiner Raumbühne auf, und reichert sie mit werbewirksamen Slogans an wie »Die Kulisse explodiert«52. Es hat eine innere Logik, dass Kiesler sich am 20. Juli 1935 brieflich bei Max Reinhardt um das Projekt der Inszenierung von Franz Werfels Oratorium Der Weg der Verheißung (Musik Kurt Weill) in New York bewarb53. Das war Strnads letztes Theaterprojekt, bevor er am 8. September 1935 plötzlich verstarb. Reinhardt antwortete Kiesler erst nach Strnads Tod am 14. September, als der Ersatzmann Norman Bel Geddes bereits gefunden war. Strnads Rundbühne aber blieb ebenso unrealisiert wie seine anderen Theaterbau-Projekte, 1925/26 für ein Theater in Amsterdam und 1930 für Max Reinhardts Schlosstheater in Leopoldskron, das die Inszenierung von Innen- und Außenraum aus Strnads frühen Villenbauten aufgreift. 50 Ebd., S. 80f. 51 Kurrent 2007 (Anm. 8), S. 51. 52 Barbara Les‚k: Die Theaterbiographie. In: Barbara Les‚k, Thomas Trabistsch (Hgg.): Frederick Kiesler. Theatervisionär – Architekt – Künstler. Wien: Brandstätter 2012, S. 19–121, S. 36. 53 Ebd., S. 88.

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Ab 1919 arbeitete Strnad auf Initiative Bernaus verstärkt als Bühnenbildner bzw. -ausstatter beim Deutschen Volkstheater, bald auch im Burgtheater, und in Zusammenarbeit mit Max Reinhardt an deutschen Bühnen, für die Oper und bei den Salzburger Festspielen. Die Zusammenarbeit mit Max Reinhardt war besonders intensiv und fruchtbar. »Strnad muß in Tourandot was Tolles machen. Davon hängt es ab für ihn und für mich, ob Gest es nach Amerika nimmt. Sag ihm das!«54 Schreibt Max Reinhardt am 14. Juli 1922 aus Venedig an Helene Thimig, was die Bedeutung zeigt, die Reinhardt der Arbeit Strnads für seine Theaterprojekte zuschreibt. Helene Thimig wiederum berichtet am 12. Februar 1926 an Reinhardt von einer Veranstaltung über modernes Theater : »Ein Erlebnis war eigentlich der Strnad«, er »sollte nur ›fachmännisch‹ sprechen – aber wie sein Temperament andauernd durchging […] war köstlich.«55 Strnads Raumlösungen für die Bühne waren so konsequent, unorthodox und uneitel wie seine Architekturentwürfe. Es dürften insgesamt an die hundert Inszenierungen gewesen sein, denen Strnad mit seiner Ausstattung einen lebendigen Umraum verschaffte. Was für die Raumgestaltung die neuen Beleuchtungsoptionen durch das elektrische Licht bedeuteten, hat Strnad immer wieder betont und selbst in vielen Inszenierungen vor Augen geführt. Legendär wurden etwa Hamlet am Wiener Volkstheater 1922, König Lear im Theater in der Josefstadt in der Regie von Max Reinhardt 1925, Ein Sommernachtstraum bei den Salzburger Festspielen 1927 oder die Wiener Erstaufführung von Alban Bergs Wozzeck an der Staatsoper 1930. Für viele unvergesslich war die Wiener Erstaufführung von Ernst Kreneks Jonny spielt auf Silvester 1927 in der Wiener Staatsoper, mit der die rechtskonservativen Attacken gegen die »Negermusik« kulminierten. Die NSDAP rief per Plakat zu einer »Riesen-Protest-Kundgebung« auf: »Unsere Staatsoper, die erste Kunst- und Bildungsstätte der Welt, der Stolz aller Wiener, ist einer frechen jüdisch-negerischen Besudelung zum Opfer gefallen. Das Schandwerk eines tschechischen Halbjuden«56. Das hielt den Erfolg beim Publikum freilich nicht auf, und dazu trug ganz wesentlich Strnads »sensationelle Bühnenszenerie bei«, etwa wie er »durch Aufblinken von Signallichtern die vollkommene Illusion eines Bahnhofes«57 hervorzauberte. »Johnny hat mich sehr amüsirt; ich finde die Oper, wo sie ins spielopernhafte geht, höchst reizvoll, sogar melodiös […]. Die Strnadschen Dekorationen sind hier das

54 Max Reinhardt. Manuskripte. Briefe. Dokumente. Hg.: Hugo Wecherek. Wien: Inlibris 1998, S. 64. 55 Ebd., S. 32. 56 Plakat gegen Jonny spielt auf. 1928. Abgedruckt in: Wolfgang Kos (Hg.): Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930. Wien: Czernin Verlag; Wien Museum 2010, S. 579. 57 Erich Boltenstern: Erinnerungen an Oskar Strnad. In: Spalt 1979 (Anm. 1), S. 15–17, S. 15.

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genialste an der Aufführung. (auch [Alfred] Jerger als Johnny.) Das Geschrei von der ›Entweihung‹ der Oper ist factios und albern.«58

Das schrieb Arthur Schnitzler am 2. Februar 1928 an seinen Sohn Heinrich – er selbst wusste über Hetzkampagnen aus eigener Erfahrung gut Bescheid, bei der Wiener Reigen-Aufführung am 7. Februar 1921 riefen rechtsradikale Randalierer : »Pfui Juden … Schiebah«59. Karl Kraus verarbeitet den Krenek-Skandal in seiner Posse Die Unüberwindlichen: Der Schriftleiter der »Deutsch Österreichische Tageszeitung« verkündet hier, »daß der Jude, der an der Verblödung des arischen Wirtsvolkes arbeitet, seinem Ziel […] durch Verpflanzung tschechischer Negermusik in unsere Staatsoper […] mit jedem Tag näher kommt.«60 Kurz nach der Premiere von Jonny spielt auf, am 17. Jänner 1928, besuchte Schnitzler Oskar Strnad und trug ihm die »Idee einer theatralischen Aufführung der Else vor«61. Elisabeth Bergner wollte die Theaterrolle prinzipiell spielen, noch während der Dreharbeiten an der Verfilmung schrieb sie am 13. März 1928 an Schnitzler : »[…] die ›Else‹ auf der Bühne würde mir die glücklichste ElseStation bedeuten«62. Zu einer Realisierung kam es allerdings nicht, obwohl Schnitzler bis kurz vor seinem Tod immer wieder mit unterschiedlichen Theatern Verhandlungen und Gespräche über eine Bühnenversion führte. Strnad scheint bei Schnitzlers Besuch vage reagiert zu haben, am 15. März 1928 fragt Schnitzler brieflich nach, »ob wir uns noch Hoffnungen machen dürfen, dass Sie in absehbarer Zeit die ganze Frage Ihrer freundlichen Erwägung zu unterziehen geneigt wären oder ob wir bei der eventuellen Durchführung unserer Idee ›Fräulein Else‹ auf die Bühne zu bringen auf Ihre künstlerische Mitwirkung entgiltig Verzicht leisten müssten.«63 Strnad hat einige Zeit später doch noch eine detaillierte Entwurfsskizze für ein Bühnenbild angefertigt und sie offenbar Anfang Februar 1929 an Elisabeth Bergner geschickt, die »Strnads Maßaufstellung« an Schnitzler weitergab. Es war ein »regelrechter Bühnenplan«, allerdings »völlig undurchführbar ; – es gibt auf der ganzen Welt kein Theater, das die 58 Arthur Schnitzler : Briefe 1913–1931. Hgg. von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik und Heinrich Schnitzler. Frankfurt/M.: S. Fischer 1984, S. 528. 59 Arthur Schnitzler : Tagebuch 1920–1922. Hgg von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik, Reinhard Urbach. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1993, S. 139. 60 Karl Kraus: Die Unüberwindlichen. Nachkriegsdrama in vier Akten. In: K.K.: Schriften. Hg.: Christian Wagenknecht. Bd 11: Dramen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 221–346, S. 324. 61 Arthur Schnitzler : Tagebuch 1927–1930. Hgg.von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1997, S. 121. 62 Brief Elisabeth Bergner an Arthur Schnitzler 1926–1931. Deutsches Literaturarchiv Marbach. HS.1985.0001.02490. 63 Brief Arthur Schnitzler an Oskar Strnad. Deutsches Literaturarchiv Marbach, HS1985.0001.02022.

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von Str. geforderten Maße besitzt – – man würde die – – 3–4fache Breite brauchen. […] Strnad kennt doch die Theater!«64, schreibt Schnitzler am 15. März 1929 irritiert an Clara Pollaczek. Strnads unkonventionelle Entwürfe und Gedankengänge haben Zeitgenossen im ersten Moment nicht selten überfordert. Gegen Ende seines Lebens wandte Strnad sich noch dem jungen Tonfilm zu. Wie genau er bei in der Ausstattung der beiden Filme Maskerade (1934, Regie Willi Forst) und Episode (1935, Regie Walter Reischl) die Prinzipien seiner Arbeit – genaue Strukturierung der Räume wie der Raumgelenke – weiterverfolgt, zeigen die erhaltenen Skizzen und Bewegungsablaufstudien. In einer Einstellung von Maskerade – es ist die einzige Außenaufnahme des Films – fokussiert die Kamera (Franz Planer) auf Gehsteig und Sockelbereich eines Straßenstückes. »Die Schauspieler agieren nur mit den Beinen oder als Schattenriss«65. Strnad hat die Kulisse dazu minutiös geplant, sein »Gebäudesockel zeigt uns Wien […] als historisch gewachsene Stadt mit versetzten Baufluchtlinien, die die einzelnen Perioden hinterlassen haben.«66 In den Innenraum-Szenarien aber bebildert Strnad gleichsam seine Position zur Debatte um Wohnraumgestaltung: Die Wohnung des Arztes Harrandt zeigt die starre Wohnausrüstung als Gesamtkunstwerk nach dem Prinzip der Wiener Werkstätte, die Heterogenität und flexible Anordnung der Möbel in der Wohnung des Künstlers aber die »Neue Wiener Wohnkultur« im Sinne Oskar Strnads.

64 Schnitzler 1984 (Anm. 58), S. 598f. 65 Gerhard Vana: Wiener Muff und Wiener Mädel. Oskar Strnads Kulissen zu »Maskerade«. In: Armin Loacker (Hg.): Willi Forst. Ein Filmstil aus Wien. Wien: Filmarchiv Austria 2003, S. 383–415, S. 388. 66 Ebd., S. 394.

Rebecca Unterberger

Ernst Krenek, Theodor Wiesengrund-Adorno und der »Begriff der Avantgarde, mit dem man in Deutschland heute nicht gern zu tun hat«. Dissonanzen zu: Fortschritt und Reaktion, (alt-)neuen Formen und dem Phänomen Surrealismus

En avant: Zur »Schlagwortkultur« »Revolte gegen das starre Gesetz«: In diese Formel bannt Ernst Fischer 1928 das »Grundprinzip dieser Zeit«. Der bislang »in die Bezirke der Religion, der Philosophie, der Kunst« verbannte Geist »[bricht] in die Wirklichkeit ein« – mit dem Anspruch, als »moderne Gesellschaftswissenschaft« (d.i. Marxismus) »Natur und Gesellschaft um[zu]formen«, Form im bzw. dem »Chaos« zu geben.1 »Dem Leben eine Form zu geben und diese Form lebendig zu erhalten« definiert der Komponist Ernst Krenek als »eine der höchsten Aufgaben einer menschlichen Gesellschaft«,2 als er 1927 seinen Versuch einer Synthese zwischen modernem Leben und Opernbühne, die Jazz- respektive Zeitoper3 Jonny spielt auf, rechtfertigt. »Mauern«, die zwischen abgesonderten Kunst-»Gebieten« (»Theater, Kammersaal und Zirkus«) fallen, und »neue Formen« wie die »Farbenorgel« oder »abstrakte Filme mit Musik« verzeichnet Wassily Kandinsky im selben Jahr als Symptome einer »synthetischen Kunst«. Eine solche propagiert der russische Maler, zu dieser Zeit als Lehrer am Bauhaus in Weimar tätig, als kongeniale Ausdrucksform des notwendigerweise »dem Zeichen Und« unterstellten 20. Jahrhunderts, denn: »Von aussen [sic] gesehen kann unsere Zeit im Gegensatz zur ›Ordnung‹ des letzten Jahrhunderts – ebenso mit einem Wort bezeichnet werden – Chaos«.4 Ein »synthesesuchende[r] Geist« erringe sich gegenwärtig »ins Chaos projizierte Punkte«, die verbunden einen neuen 1 Ernst Fischer : Der babylonische Turm. In: Arbeiter-Zeitung (24. 6. 1928), S. 18. 2 Ernst Krenek [nachfolgend: EK]: »Materialbestimmtheit« der Oper. In: Musikblätter des Anbruch [nachfolgend: MdA] 9 (1927), H. 1/2, S. 48–52, zit. S. 49f. 3 Als Gattungsbezeichnung für in der Zwischenkriegszeit populäre Bühnenwerke mit in der Gegenwart angesiedelter Handlung und Anleihen bei populären Musikformen; zu Jonny spielt auf als Zeitoper vgl. den Forschungsbericht bei: Rebecca Unterberger : Zwischen den Kriegen, zwischen den Künsten – Ernst Krenek. »Beruf: Komponist und Schriftsteller.« Klagenfurt 2014, Diss. phil. (Typoskr.), hier S. 184–188. 4 [Wassily] Kandinsky : Und. Einiges über synthetische Kunst. In: i10 1 (1927), Nr. 1, S. 4–10.

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»Geistraum ergäben«, konstatiert Hugo von Hofmannsthal gleichfalls 1927 in der Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation: Ich spreche von einem Prozeß, in dem wir mitten inne stehen, einer Synthese […]. Der Prozeß, von dem ich rede, ist nichts anderes als eine konservative Revolution von einem Umfange, wie die europäische Geschichte ihn nicht kennt. Ihr Ziel ist Form, eine neue deutsche Wirklichkeit, an der die ganze Nation teilnehmen könne.5

Ein Hunger nach Form, Ordnung, Synthese, kurz: der Formwille der Zeit6 kann, wie die hier kursorisch zusammengeführten Dokumente belegen, für die Zwischenkriegszeit als prädominante Stimmungslage über nationale bzw. ideologische Grenzen hinweg verzeichnet werden. Kandinskys Punktation ist in der international lancierten Amsterdamer Avantgarde-Revue i10 erschienen, der Werkstattbericht von Krenek, einem weiteren i10-Beiträger aus dem Jahr 1927,7 in den Wiener Musikblättern des Anbruch. Fischers Essay wird unter dem Ver(w)irrungen, Chaos indizierenden Titel Der babylonische Turm in der ArbeiterZeitung, dem Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie, veröffentlicht. Mit dem Aufruf zu einer Konservativen Revolution verweist Hofmannsthal in der Schrifttum-Rede, so Hans Ulrich Gumbrecht, auf »zeitgenössische Bemühungen […], in Kulturen der Vergangenheit und außereuropäischen Kontexten Problemlösungen für die damalige Gegenwart zu finden«.8 Der konjunkturelle Gebrauch des Begriffs Form indiziert einen »Bedarf an Form«, an »Einheitlichkeit und Stabilität«, worauf in Reaktion auf eine scheinbar in Auflösung begriffene Wirklichkeit literarisches und gesellschaftliches Engagement fokussieren.9 Darauf hat Barbara Wildenhahn in ihrer Arbeit über das Feuilleton zwischen den Kriegen hingewiesen, in der Debatten über (Leit-) Begriffe wie Geist, Wille, Form als Ringen um eine »kategoriale Ordnung der Wirklichkeit« in den Blick genommen werden: Wildenhahn liest sie als Versuche, »dem Verlust tradierter Identitäten und Integrationsmodelle neue Mythen und Begriffe entgegenzusetzen«, und damit als Reflexe auf die für die Weimarer 5 Hugo v. Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. Rede, gehalten im Auditorium Maximum der Universität München am 10. Januar 1927. Online unter : http:// gutenberg.spiegel.de/buch/natur-und-erkenntnis-971/20 (Stand: Mai 2015), o.S. 6 In Anlehnung an L.W. Rochowanskis Studie Der Formwille der Zeit (1922), in der u. a. vom gegenwärtigen »Kampf der Ordnung gegen die Unordnung« die Rede ist. Zit. bei: Volker Thurm (Hg.): Wien und der Wiener Kreis. Orte einer unvollendeten Moderne. Wien: Facultas 2003, S. 313f. 7 Zu seinen beiden i10-Beiträgen von 1927 vgl. Unterberger, Krenek, S. 114f. 8 Hans Ulrich Gumbrecht: Surrealismus als Stimmung. In: Friederike Reents (Hg.): Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur. Berlin-New York: De Gruyter 2009, S. 23–34, hier S. 29. 9 Vgl. Barbara Wildenhahn: Feuilleton zwischen den Kriegen. Die Form der Kritik und ihre Theorie. München: Wilhelm Fink 2008, S. 10 bzw. 12–15.

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Republik charakteristische Konstellation der Krise(n).10 »Die Parolen sind ein Ausdruck der schwindenden Sicherheit selber«,11 hat demgemäß 1929 Bert Brecht sinniert – über das Schlagwort Reaktion. Auch für das österreichische Feuilleton kann eine Konjunktur des Begriffs Form (bzw. Zerfall der Form)12 festgehalten werden, die mitunter skeptische AperÅus zur tagesjournalistischen Un-Sitte der »Schlagwortkultur« begleiten.13 Die »Tendenz, Entwicklungen oder Wandlungen der Künste möglichst rasch erkenntnismäßig zu durchdringen und schlagwortartig festzulegen«,14 fingiert nämlich laut Krenek z. B. Erkenntnis und damit (Neu-)Ordnung(en). Tatsächlich aber werden Ver(w)irrungen nicht nur in Bezug auf künstlerische Werte durch »unausgesetzte Diskussionen über eine Krise der Kunst« weiter intensiviert.15 Es überrascht nicht, dass das medienkritische Organon von Krenek, der in der Zwischenkriegszeit schreibend u. a. in den Musikblättern des Anbruch (ab 1929: Anbruch) und der Frankfurter Zeitung sowie als (Rundfunk-)Vortragender präsent ist, hier anschlägt: Dass der Komponist »seinem künstlerischen Impetus in immer neuen Idiomen und Techniken Geltung zu verschaffen« versucht hat, lässt etwa Petra Preinfalk appellieren, sein Gesamtwerk – mehr als 240 musikalische Opera in über 70 Jahren Schaffenszeit – »als ›the one-manhistory of 20th-century-music‹ zu begreifen«.16 Seine Zeitgenossen der 1920er und 1930er Jahre haben diese Stil-Volten freilich auch irritiert und zu Krisenbulletins provoziert, wovon u. a. das Krenek-Schema von Theodor Wiesengrund-Adorno aus dem Jahr 1932 Zeugnis ablegt. Für Adornos musikalisches Denken ist die Aufführung von Kreneks Zweiter Symphonie (Kassel, 1923) ein bestimmendes Erlebnis gewesen: Dieser »Maelstrom«-Musik des »ersten« Krenek,17 dem laut konservativ-reaktionärer Kritik 10 Vgl. ebd. 11 Bertolt Brecht: Reaktion [1929]. In: Ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 21: Schriften 1. Schriften 1914–1933. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 350. 12 Zu Zeitstimmen zum »Formenzerfall« im Kontext von Bilanzierungen der »neuen Form« Erste Republik im zehnten Jahr deren Bestehens vgl. Rebecca Unterberger : Auftakt: Ein janusköpfiges Jahr. In: Julia Bertschik u. a.: 1928. Ein Jahr wird besichtigt. Wien: Sonderzahl 2014, S. 16–24. 13 Kritische österreichische Feuilletonstimmen zur »Schlagwortkultur« (Mela Escherich, 1927) finden sich in Auswahl versammelt bei: Unterberger, Krenek, S. 494–497. 14 EK: »Neue Sachlichkeit« in der Musik. In: i10 1 (1927), Nr. 6, S. 216–218. 15 Ders.: Neue Humanität und alte Sachlichkeit [1930]. In: Ders.: Zur Sprache gebracht. Essays über Musik. Hg. von Friedrich Saathen. München: Albert Langen/Georg Müller 1958, S. 105–120, zit. S. 105; vgl. auch ders.: [Moderne Komponisten über die Gegenwartsmusik.] In: Der Wiener Tag (26. 5. 1929), S. 20. 16 Petra Preinfalk: Macht und Musik und der Jahrhundertkomponist. Vorwort. In: Doroth¦e Schaeffer (Hg): Ernst Krenek. Programmheft Bregenzer Festspiele 2008. Dornbirn, 2008, S. 7f. 17 Theodor Wiesengrund-Adorno: Zur Deutung Krˇeneks. Aus einer Rundfunkrede. In: Anbruch 14 (1932), H. 2/3, S. 42 bzw. 44f.

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enfant terrible der als (Musik-)»Bolschewismus« denunzierten Neuen Musik,18 lässt Adorno als eine Art Verfallsstufe »einen zweiten Krˇenek« nachfolgen: den Librettisten und Komponisten der »ersten deutschen Jazzoper« Jonny spielt auf. Einen »dritten Krˇenek«, der mit dem an Franz Schubert orientierten Liederzyklus Reisebuch aus den österreichischen Alpen und der Großen Oper Leben des Orest »einer Art von neue[r] Romantik« zustrebe, umreißt Adorno abschließend als aktuellen Phänotypus des »einen Menschen Krˇenek« anno 1932, der sich mitnichten »durch den üblichen Begriff der Entwicklung« erfassen lasse.19 Der Rückgriff auf die Kategorie Entwicklung ist als versöhnender Abschluss von Adornos Bemühungen, an Kreneks Schaffen sein Verständnis von musikalischem Fortschritt publizistisch zu lancieren, lesbar. Am augenscheinlichsten treten diese Bemühungen in einer im Anbruch ausgetragenen und nachfolgend als Etappe der zwischenkriegszeitlichen »Schlagwortkultur« analysierten Grundsatzdebatte zutage. Fortschritt und Reaktion sind die titelgebenden Reizworte der Zwillingspublikation, in die diese »Krˇenekpolemik«20 (Adorno) 1930 gipfelt und in der zudem beider Kontrahenten divergierendes Visavis zum »Phänomen« Surrealismus Gegenstand ist. Das ist beachtlich insofern, als Oliver Seibt erst kürzlich konstatiert hat: »Eine surrealistische Musik […] gab es nie«.21 Tatsächlich wird bei Krenek und Adorno der musikologische Plan deutlich gesprengt, stehen doch neue Form(en) bzw. die Persistenz alter Ordnung(en) im Künstlerischen und im (Gesellschafts-)Politischen letzthin zur Diskussion. »[D]aß es möglich sein müsse, das alte Vokabular durch ein frisches, ursprüngliches Erlebnis zu verjüngen und wiederzubeleben«,22 davon zeigt sich der als Reaktionär inkriminierte vormalige Neutöner Krenek zur Zeit dieser Diskussion überzeugt. Die Ambition, »Bruchstücke, Materialien aus der musikalischen Vergangenheit in die Gegenwart zu transformieren«, identifiziert der Musikwissenschafter Matthias Schmidt mit surrealistischer Gestaltungsweise.23 18 Vgl. dazu das Kap. Zeit-Dokumente zur frühen Krenek-Rezeption in: Unterberger, Krenek, S. 48–91. 19 Theodor Wiesengrund-Adorno: Zur Deutung Krˇeneks. Aus einer Rundfunkrede. In: Anbruch 14 (1932), H. 2/3, S. 42 bzw. 44f. 20 Adorno an Kracauer (1. 7. 1930), in: Theodor W. Adorno/Siegfried Kracauer: Briefwechsel 1923–1966. Hg. von Wolfgang Schopf. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 228–231, zit. S. 229. 21 Oliver Seibt: Der Sinn des Augenblicks. Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen. Bielefeld: transcript 2010, S. 71. – Diese Feststellung untermauert Seibt mit Michel Leiris, der »viele Jahre nach seinem Ausscheiden aus der surrealistischen Bewegung in einem Interview zu erklären [versuchte]: ›Es konnte keine surrealistische Musik geben. Damit es Surrealismus gibt, muss es Realismus geben«, d. h. »eine Realität, die man bearbeitet. Die Musik […] hat absolut keine Berührung mit der Realität. […]‹« (ebd., S. 72). 22 EK: Im Atem der Zeit. Erinnerungen an die Moderne. Aus dem amerikanischen Englisch v. Friedrich Saathen. Revidierte Übersetzung v. Sabine Schulte. Hamburg: Hoffmann und Campe 21998, S. 731. 23 Vgl. dazu: Matthias Schmidt: Zitierte Weiblichkeit. Zu einigen Frauenfiguren in Ernst

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Krenek aber hat rückblickend bekannt, »nie in der Lage gewesen« zu sein, sich »in der doppelbödigen, ironischen und gekünstelten Form des Surrealismus auszudrücken«. Auch mit dem Eingeständnis seines (andauernden) Unvermögens, Ernst Blochs Reisebuch-Kritik »aus der Sicht des Surrealismus« zu verstehen, markiert er aus der Retrospektive seine Fremdheit gegenüber der Ausdrucksform Surrealismus; eine Fremdheit, die zugleich als Grund dafür ins Treffen geführt wird, »daß er mich so anzieht und fasziniert«.24 Von dieser Faszination zeugen u. a. Pläne für eine (unausgeführte) »surrealistische Revue« in Zusammenarbeit mit Walter Benjamin,25 dessen Aufsatz Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz (1929) für die Vermittlung des surrealistischen Kunstkonzepts in den deutschsprachigen Raum wirkungsreich gewesen ist.26 Mit Giorgio de Chirico, bei dem Kreneks erste Frau Anna Mahler in Rom studiert hat, zeichnet 1930 ein Exponent surrealistischer Malerei27 für die laut dem Komponisten »Ia surrealistisch[en]« Bühnenbilder zur Berliner Erstaufführung der Großen Oper Leben des Orest verantwortlich; »die ›zerfallenen Gehalte‹ stehen als abgebrochene Säulen und abenteuerliche Skulpturen leibhaftig auf der Bühne, es schaut aber immerhin ganz phantasievoll und merkwürdig aus«.28 Zerfallen(d)e Gehalte hat der Journalist Krenek zudem in Prosaskizzen eingefangen, deren (Montage-)Textur sich durchaus mit surrealistischer Gestaltungsweise identifizieren lässt. Noch zu diskutieren ist, ob Krenek hierin einem Magischen Realismus in dem vom deutschen Kunstkritiker Franz Roh 1925 definierten Verständnis nahe kommt. Eine Lanze zu brechen für den »Begriff der Avantgarde, mit dem man in Deutschland heute nicht gern zu tun hat«,29 ist ein Vorsatz Adornos für die Auseinandersetzung mit Krenek. Aus einer tendenziell Krenek-zentrierten

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Kreneks Opern. In: Carmen Ottner (Hg.): Frauengestalten in der Oper des 19. und 20. Jahrhunderts. Wien: Doblinger 2003, S. 255–272, hier S. 270. EK, Im Atem, S. 730f. »[M]an könne solche Dinge heutzutage nicht mehr ernsthaft sagen« (ebd.), habe Bloch damals gegen den Reisebuch-Vers »Nur ein Fischlein springt manchmal mit leisem Schlag über das Wasser« (zit. nach: Ders.: Prosa-Dramen-Verse. München-Wien: Langen-Müller 1965, S. 395) vorgebracht. Vgl. Unterberger, Krenek, S. 545. Vgl. Dirk von Petersdorff: Benjamin, Bohrer und der Streit um die Grenzen der Kunst. In: Reents, Surrealismus, S. 121–133, hier S. 121. Zu de Chirico und dessen Teilhabe an der ersten Gruppenausstellung La peinture surr¦aliste 1925 in Paris vgl. Veronika Wolf: Farewell au Surr¦alisme. Die Rezeption des Surrealismus in der österreichischen Kunst. In: Agnes Husslein-Arco (Hg.): Wien-Paris. Van Gogh, C¦zanne und Österreichs Moderne 1880–1960. Wien: Christian Brandstätter 2008, S. 385–393, hier S. 385. EK an N.N. (27. 2. 1930), in: EK: Briefwechsel mit der Universal-Edition (1921–1941). Hg. v. Claudia Maurer Zenck unter Mitarbeit von Rainer Nonnemann. Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2010/12, S. 561f. Theodor Wiesengrund-Adorno: Reaktion und Fortschritt. In: Anbruch 12 (1930), H. 6, S. 191–195.

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Perspektive hier ein Kapitel der laut Adorno »ungeliebten« Avantgarde(-Diskussion) zu beleuchten, dafür sprechen zum einen die bereits genannten (Quer-) Verbindungen mit der für den Wort-Ton-Künstler typischen Qualität zwischen den Künsten. Zum anderen sei hier auf die damalige Prominenz30 Kreneks hingewiesen: Als der »prosperierende Jonny-Komponist«31 ist er 1928 nach Lehr- und Wanderjahren u. a. in Berlin und Paris heimgekehrt nach Wien, das sein Lebensmittelpunkt bis zur Exilierung 1938 bleiben wird.

(Traum-)Bilder zur fortschreitenden Reaktion An Adorno hat Krenek zu Beginn ihrer Bekanntschaft dessen »häufiges Lob des Surrealismus«, eingebunden in einen »Diskurs voller melancholischer Anspielungen« auf einen »Zerfall aller traditionellen Werte«, fasziniert. Eines seiner »Lieblingsworte war zerfallene Gehalte, und er gebrauchte es so oft, daß wir uns schließlich darüber lustig machten«.32 Dieses Wir umfasst Krenek und Friedrich T. Gubler, seit 1930 Leiter des Feuilletonressorts der Frankfurter Zeitung,33 in der Adorno (als Castor Zwieback) 1931 u. a. Surrealistische Lesestücke veröffentlicht hat. Seine Faszination für den »Rätselcharakter« des Traums spiegeln diese Prosaskizzen34 ebenso wider wie auch das musikkritische Frühwerk zu Krenek. »Der Ton seiner Lieder unternimmt es, die verlorene Frühe der Kindheit so bruchstückhaft und diskontinuierlich zu zitieren, wie sie dem wachen Bewußtsein dann sich darstellt«: Als »surrealistisches Manifest der musikalischen Lyrik«35 rubriziert Adorno den zweiten der Drei Gesänge für Bariton und Klavier op. 56 von Krenek 1928 – vier Jahre, nachdem mit Andr¦ Bretons Manifeste du surr¦alisme »das letzte Kapitel 30 So führt Adorno z. B. bei Alban Berg 1928 Klage, er sei der UE »nicht prominent genug« für eine Anbruch-Stellungnahme zum italienischen Komponisten Alfredo Casella; man wolle »einen wirklich prominenten Mann« wie Krenek (zit. bei: Dörte Schmidt: Musik im »Scheinwerfer«-Licht. Theodor W. Adorno, die Idee einer ›sachlichen Kritik‹ und die Kooperationspläne des Essener Scheinwerfer und des Wiener Anbruch. In: Charlotte Seither (Hg.): Tacet. Non Tacet. Zur Rhetorik des Schweigens. Festschrift für Peter Becker zum 70. Geburtstag. Saarbrücken: Pfau 2004, S. 281–299, hier S. 289). 31 Hans F. Redlich: Heimat und Freiheit. Zur Ideologie der jüngsten Werke Ernst Krˇeneks. In: Anbruch 12 (1930), H. 2, S. 54–58, zit. S. 54. 32 EK, Im Atem, S. 729. 33 Gubler hat den »Wiener Outsider« Krenek 1930 zur freien Mitarbeit am Feuilleton eingeladen. 34 Als Skizzen über groteske Begebenheiten, die an Traumprotokolle erinnern. Vgl. Stefan Müller-Doohm: Traumprotokolle. In: Richard Klein u. a. (Hgg.): Adorno-Handbuch. Stuttgart-Weimar : Metzler 2011, S. 16–20. 35 Theodor Wiesengrund-Adorno: Situation des Liedes. In: MdA 10 (1928), H. 9/10, S. 363–369, zit. S. 369.

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in der Geschichte der mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges endenden historischen Avantgarde«36 aufgeschlagen worden ist. SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung. […] Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit […] vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. […] Der Surrealismus […] manifestiert genügend unseren absoluten NonKonformismus, um nicht im Prozeß gegen die reale Welt als Entlastungszeuge zitiert werden zu können.37

Die surrealistische Kritik richtet sich gegen den »rÀgne de la logique« (Breton), ästhetisch realisiert durch Mobilisierung alternativer Erlebnispotentiale. Phantasie, Imagination, Sinnlichkeit, Emotionalität werden bestimmend im schöpferischen Umgang mit der Realität, um diesen von den Zwängen des (rein) Logischen freizuspielen.38 Êcriture automatique und unbewusst erzeugte Koppelungen kontroverser Bedeutungen in der Bildenden Kunst, die beiden maßgebenden surrealistischen Arbeitsweisen, transportieren die von Breton in Auseinandersetzung mit Sigmund Freud gewonnene »Kampfbereitschaft gegenüber einer Kultur, die er von einem zensierenden Über-Ich bedroht sieht«. Delokalisierte Bilder und widersprüchliche Bedeutungen in Juxtaposition setzen den von den Über-Ich–Instanzen (Kulturbetrieb, Publikum) sanktionierten Kunst-»Gebrauchswert« außer Kraft. »Im Umkreis von Traum, Irrationalem, Bizarr-Hässlichem erkennen die Surrealisten einen Aufstand gegen die normative Psychologie und gegen das Utilitäre.«39 Eine Anfälligkeit dafür, sich mit seinen Kompositionen dem »Gebrauchswert« zu beugen, nimmt Adorno Ende der 1920er mit Unbehagen an der Entwicklung Kreneks wahr. Das Fehlen einer »Gewalt des Absurden, die einmal jenes furchtbare Fortissimo an den Schluß der zweiten Sinfonie setzte«, wird für Jonny spielt auf moniert. »Es ist, als hätte die Gebrauchsmusik das höhlenhafte 36 Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890–1933. Stuttgart-Weimar : Metzler 1998, S. 202. 37 Andr¦ Breton: Manifest des Surrealismus. In: Charles Harrison/Paul Wood (Hgg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews. Für die dt. Ausgabe ergänzt v. Sebastian Zeidler. Bd I: 1895–1941. Ostfildern-Ruit: Cantz 2003, S. 543–549, zit. S. 548f. 38 Vgl. Horst Fritz: Surrealismus. In: Dieter Borchmeyer/Viktor Zˇmegacˇ (Hgg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. 2., neu bearbeitete Auflage. Tübingen: Niemeyer 1994, S. 406–412, hier S. 407f. 39 Vgl. Werner Spies: Surrealismus mehr als Kunst. In: Reents, Surrealismus, S. 11–22, hier S. 11–13 bzw. 16–18.

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Ungetüm gezähmt, das Krˇenek früher auf die Hörer losließ«.40 Adorno erinnert Krenek daran, dass »genug dämonische Kräfte zum Generalangriff« in ihm stecken; es sei an ihm, diese »nicht zur Versöhnung mit einer vorgeblich gemeinschaftsmäßigen Musik [zu] dämpfe[n], die unter dem Mantel neuer Sachlichkeit die herrschenden Bedingungen der Existenz verklären möchte«.41 »Wie der Surrealismus die abgelebten Dinge aus dem Traum zitiert«, strebe auch Krenek danach, »vergangene Oper aus dem Traum heim[zu]bringen«. Nach Adornos Dafürhalten scheitert er daran jedoch mit einem 1928 uraufgeführten Operneinakter-Triptychon: Das, »was als Traum gesucht wird und worin die Dreiklänge als Tagesreste aus weiter Ferne anklingen sollen«, werde »dem hellen Tage verzweifelt ähnlich«; aber »nicht dem von heute, […] sondern dem von vorgestern«. Somit bleibe die »Wildnis des Traumes« in diesen Einaktern unbetreten. Um »an Wahrheit teil[zu]haben«, müsse sich der Künstler »über allem Sicheren, Vorgeformten« gerade in diese »Wildnis« wagen und »den Traum deuten, anstatt hinter ihm und der träumerischen Natur sich zu verschanzen«.42 Dass Krenek (materiale) Tagesreste nicht kritisch analysiert, sondern träumerisch (an-)klingen lässt und folglich ohne »Selbstkritik und Verantwortlichkeit«43 voranschreitet, macht ihn in Adornos Wahrnehmung dafür anfällig, der »Macht ideologischen Scheins« zu erliegen. Das lässt Adorno an »die fragwürdige Musizierlust« Igor Strawinskys denken,44 dessen neoklassizistisches Schaffen ihm als paradigmatisch für eine »stabilisierte Musik« gilt: Diese lenke vom »Ernst der fortschreitenden Entwicklung durch unentwegte Heiterkeit« ab und stabilisiere somit als Genussmittel der Nachkriegs-»Bourgeoisie« deren gesellschaftliche Ordnung.45 Die »Genesis von Musik in der Zeit« müsse aber, analog zum gesellschaftlichen Prozess, ein »Fortschritt der Entmythologisierung« sein, wird Krenek in der Anbruch-Debatte belehrt.46 Musikalischer Fortschritt bedeutet für Adorno, das dem geschichtlichen Entwicklungsstand je 40 Zit. nach: Rudolf Stephan: Einzelheiten zur Musik des jungen Krenek. In: Otto Kolleritsch (Hg.): Ernst Krenek. Wien-Graz: Universal-Edition 1982 (= Studien zur Wertungsforschung; Bd. 15), S. 95–118, hier S. 116. 41 Zit. nach: Heinz Steinert: Adorno in Wien. Über die (Un-)Möglichkeit von Kunst, Kultur und Befreiung. 1. korrigierte Neuauflage. Münster : Westfälisches Dampfboot 2003, S. 128. 42 Zit. nach: Stephan, Zur Musik des jungen Krenek, S. 116. 43 Die er sich gerade von Krenek erwarte: Vgl. Adorno zur Dritten Symphonie op. 16, zit. nach: Ebd., S. 114. 44 Zit. nach: Ebd., S. 115. 45 Vgl. Theodor W. Adorno: Die stabilisierte Musik [1928, unpl.]. In: Ders.: Musikalische Schriften V. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984 (= Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Klaus Schulz; Bd. 18), S. 721–728, hier S. 725f. 46 »Fortschritt heißt nichts anderes als je und je das Material auf der fortgeschrittensten Stufe seiner geschichtlichen Dialektik [zu] ergreifen« (ders.: Reaktion und Fortschritt. In: Anbruch 12 (1930), H. 6, S. 191–195).

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entsprechende Tonmaterial bewusst zu gestalten,47 worin Arnold Schönberg, der »dialektische Komponist«, beispielhaft reüssiere: Indem Schönberg souverän über das Material verfügt, behauptet er »Souveränität gegenüber gesellschaftlichen Normen«.48 Obgleich ein solches Visavis zur Tradition – nicht als »Erbschaft«, sondern als »Kanon des Verbotenen« (Adorno)49 – ein Nebeneinander tonalen und posttonalen Komponierens eigentlich ausschließt, erlaubt50 Adorno Kurt Weill z. B. sehr wohl, musikalisches Erbgut zu reaktiveren: Dessen »›surrealistische‹ Neutonalität« komponiere ja die »Falschheit« der »Musik von damals« aus.51 Unter den »restaurativen Verfahren« — la mode gibt Adorno dem »surrealistische[n] Komponieren« den Vorzug vor neoklassizistischer Stilkopie: Es nutze »die verfallenen Mittel […] als verfallene« und gewinne »ihre Form aus dem ›scandal‹, den die Toten in ihrem plötzlichen Aufspringen unter Lebendigem hervorbringen«.52 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny von Weill und Brecht, »die erste surrealistische Oper«, leiste dergestalt eine dialektische Analyse der bourgeoisen Welt: Durch »Zusammenstellung durchschauter Scherben« werde diese »als absurd, gemessen an einer sozialistischen, die sich verschweigt«, enthüllt. Weills »Montage des Toten«, von »Trümmern der vergangenen Musik« schockiere – als »jähe Vergegenwärtigung der verfallenen Bürgerwelt«.53 Die »Wehmut über den Verlust des Vergangenen«54 hat dahingegen Krenek als Stimulus für (s)eine Praxis der Re-Aktivierung »alten« Materials umrissen: Eine »tiefe Verstimmung gegenüber dem fortschrittlichen Modernismus«, gegenüber der »Zerreibung der […] Werte früherer Epochen unter der knirschenden Schraube des Fortschritts«55 bei Krenek wird um 1930 für dessen Zeitgenossen augenscheinlich. Nur zwei Jahre, nachdem »›Jonny‹ durch sein ›Aufspielen‹ 47 Vgl. Stefan Müller-Doohm: Adorno. Eine Biographie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 245f. 48 Vgl. Steinert, Adorno in Wien, S. 103–105. 49 Vgl. dazu: Gianmario Borio: Fortschritt und Geschichtsbewußtsein in den musik-theoretischen Schriften von Krˇenek und Adorno. In: Heinz Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hgg.): Ernst Krˇenek. München: edition text+kritik 1984 (= MUSIK-KONZEPTE; H. 39/40), S. 129–148, hier S. 132–135. 50 Nach: Theodor Wiesengrund-Adorno: Mahagonny. In: Der Scheinwerfer 3 (1930), H. 14, S. 12–15: »Darum ist es ihr erlaubt, Dreiklänge zu schreiben, weil sie sich selber die Dreiklänge nicht glaubt«. 51 Ders.: Gegen die neue Tonalität [1931]. In: Erhard Schütz/Jochen Vogt (Hgg.): Der Scheinwerfer. Ein Forum der NEUEN SACHLICHKEIT (1927–1933). Essen: Klartext 1986 (= Ruhrland-Dokumente; Bd. 2), S. 207–213. 52 Ders.: Reaktion und Fortschritt. In: Anbruch 12 (1930), H. 6, S. 191–195. 53 Ders.: Mahagonny. In: Der Scheinwerfer 3 (1930), H. 14, S. 12–15. 54 EK: Komponist und Hörer [1964]. In: Ders.: Im Zweifelsfalle. Aufsätze über Musik. Wien: Europaverlag 1984, S. 298–318, zit. S. 303. 55 Ebd., S. 302.

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großen Tumult in der konservativen Partei des musikalischen Weltparlaments hervorgerufen hat«,56 sieht sich der Komponist mit dem »Vorwurf der Banalität«,57 gar der Reaktion konfrontiert – zu Unrecht, wie er im Anbruch darlegt. »WO STEHEN WIR?«, ist am Umschlag als Motto des Heftes zu lesen, in dem die Fortschritt-Reaktion-Zwillingspublikation erscheint. Von einer »akuten« kompositorischen »Dauerkrise« und einem »Metamorphosierungsprozeß von europäischem Ausmaß« ist in der einleitenden Punktation zu den aktuellen Musikströmungen bei Hans F. Redlich die Rede.58 Kreneks Beitrag liest sich wie ein Antidot zu solchen Krisendiagnosen: Die »erneuerte Verwendung der Dur-MollTonalität« etwa im Reisebuch macht er mit seiner (endlichen) Einsicht, dass das »gute, alte und solide« tonale System »vorläufig das vollkommenste Instrument« sei, plausibel. Zudem sei das »rein materiale Moment« der »Einmaligkeit der Person und des schöpferischen Augenblicks« ohnedies untergeordnet, »sonst müßte jeder Schöpfer beinahe für jedes Werk ein neues Material erfinden«. Eine »starke Wirkung« hänge nicht von der »Erstmaligkeit ihres Erscheinens« ab, ihre »Kühnheit« sei vielmehr »an sich selbst« erkennbar, »ohne daß wir von der geschichtlichen Situation der Musik viel zu wissen brauchen«.59

Brecht, Cocteau und die Zwischen-Welt(en) Als »ein Museum von ›horreurs‹« schildert Krenek 1930 im Anbruch die Wohnung Darius Milhauds, bestückt mit »geschmacklosen Gegenständen aus aller Herren Ländern« und »Greueln [sic] aus der Folterkammer des 19. Jahrhunderts«. Aber keine »Haßliebe« oder »das surrealistische Ressentiment des Grauens vor der Abgestorbenheit dieser Formenwelt« verbinden den französischen Komponisten seinem Interieur, »sondern die ehrliche Zuneigung des primitiven Südländers zu den bunten und abgeschmackten Klischees«.60 Zur Rekonstruktion der Milhaud’schen Residenz leistet Krenek schriftlich eine Vereinigung des Unvereinbaren61 und nähert sich damit dem surrealisti-

56 -r. [d.i. Helmuth Holzer]: Was ist Rundfunk-Kultur? Eine interessante Auseinandersetzung mit Ernst Krenek. In: Radiowelt 7 (1930), H. 1, S. 11. 57 EK: »Banalitäten«. In: Der Querschnitt 10 (1930), H. 4, S. 237f. 58 Hans F. Redlich: Die kompositorische Situation von 1930. In: Anbruch 12 (1930), H. 6, S. 187–190, zit. S. 187. 59 EK: Fortschritt und Reaktion. In: Ebd., S. 196–200. 60 Ders.: Darius Milhaud. In: Anbruch 12 (1930), H. 4/5, S. 135–140, hier S. 140. 61 In Anlehnung an: H.H. Stuckenschmidt: Strawinsky oder Die Vereinigung des Unvereinbaren. In: Anbruch 14 (1932), Nr. 4/5, S. 67–70, der als »geistige[s] Inventar, das sich im Lauf von 25 Jahren bei Strawinsky angesammelt hat«, u. a. »über dem elektrischen Klavier ein Kruzifix«, einen »Stahlrohrtisch made in Dessau« und eine »russische Bauernstickerei«

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schen Verfahren der Trümmer-Montage an. Im Zuge der Anbruch-Debatte aber hat er zur gleichen Zeit die surrealistische »Geisteshaltung« als »im Grunde negativ, unproduktiv« charakterisiert, eben da sie mit Trümmern und Abfällen hantiert. Auch scheint sie mir innermusikalisch kaum durchführbar, da sie erst in den literarisch sich ergebenden Kontrasten der bewußt falschen Anwendung, des desavouierten Pathos, der schadenfrohen Konfrontation von unzulänglichem Wollen mit schlecht abgeguckter Geste u.s.f. sich manifestiert.62

Das hält Krenek der »surrealistische[n] Verwendung der Tonalität«63 entgegen, die Adorno – provoziert von der im Krenek’schen »Milhaud-Aufsatz« demonstrierten Wehmut über den Verlust »alter Formenwelt« – als Segment tatsächlichen musikalischen Fortschritts »nach Analogie mit Tendenzen aus Literatur und Malerei«64 umrissen hat. Zudem ist Krenek darüber belehrt geworden, dass Strawinsky »so wenig ein Surrealist heißen darf, wie in der Literatur Cocteau, aber doch so starke unterirdische Beziehungen zum Surrealismus hat wie jener und Picasso«.65 Seitens der Avantgarde-Forschung hat Raymond Spiteri eine »enmity between Cocteau and the Surrealists« mit deren divergierenden Haltungen zu »creative endeavour and its relation to life« veranschaulicht: Die Surrealisten wollen die Distanz zwischen Kunst und Leben, zwischen Kunst und Gesellschaft neutralisieren – in Übereinstimmung mit ihrem politischen Programm, der revolutionären Transformation der sozialen Ordnung.66 Auf eine dahingegen reaktionäre Facette des Cocteau’schen Kunst-Postulats wird 1932 auch in der Essener Theaterzeitschrift Der Scheinwerfer hingewiesen: »Cocteau wahrt Distanz zwischen Werk und Betrachter, durchbricht jedoch nirgends die Grenzen der ästhetischen Genußsphäre«, womit die Distanz nicht zur surrealistischen, sondern zur Brecht’schen Gedankenwelt markiert wird. »Cocteau erneuert, belebt die Tradition, Brecht verändert. Cocteau dichtet zeitferne Stoffe ein in eine eigene gegenwartsnahe Welt«, Brecht »schafft seine Gestalten aus den gesellschaftlichen Gegebenheiten

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verzeichnet. Verwiesen wird auch auf Strawinskys Bekanntschaft mit Cocteau, dem »blendende[n] Dichter und Surrealist[en]« und Anreger des Œdipe. EK: Fortschritt und Reaktion. In: Anbruch 12 (1930), H. 6, S. 196–200, zit. S. 198. Ebd. Vgl. Theodor Wiesengrund-Adorno: Reaktion und Fortschritt. In: Ebd., S. 191–195: »Mit der psychologischen Erklärung aus ›Ressentiment‹ […] dürfte das Phänomen nicht bewältigt sein. Ihm liegt vielmehr die Erkenntnis von der Unwiederherstellbarkeit jenes ›Ursinnes‹ zugrunde, um den die gegenwärtige Verfahrensweise Kreneks ringt«. Ebd. Vgl. Raymond Spiteri: The Blood of a Poet. Cocteau, Surrealism and the Politics of the Vulgar. In: Sascha Bru u. a. (Hgg.): Regarding the popular. Modernism, the avant-garde, and high and low Culture. Berlin-Boston: De Gruyter 2012 (= European avant-garde and modernism studies; v.2504), S. 227–239, hier S. 228 bzw. 239.

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der Gegenwart«. Das Pendel der Opernentwicklung schlage aber »weit mehr in Richtung auf Cocteau als in der Art Brechts« aus.67 Eine zunehmende Verhaltenheit gegenüber künstlerischer Veränderung als Symptom für politische Klimaveränderungen hat auch der Letztgenannte selbst kritisch kommentiert: »[D]er rechten Forderung nach Einstellung der Experimente wird entgegengetreten durch die nach links in die eigenen Reihen weitergegebene Parole, die Experimente nur mehr zu machen, wenn sie ›sicher‹ sind. Das heißt aber, sie nicht zu machen«, polemisiert Brecht etwa über die Reaktion.68 Was wir brauchen, das ist ein Schema, denn »der ›Fortschritt‹ ist nur brauchbar, wo er schematisch gemacht wird«,69 lautet indes seine Empfehlung, um zu neuer (Un-)Sicherheit, zu neuen Formen und Ordnungen (in den Künsten zumindest) zu finden. Ein Schema, in dem Brechts Schaffen ein geistiges Zentrum verkörpert, ist 1932 gleichfalls im Scheinwerfer zu finden: Unter dem Titel Brecht, Cocteau und die Welt dazwischen bemüht sich Hans H. Stuckenschmidt um den Nachweis einer »Verwandtschaft, ja Kongruenz der Standpunkte« der beiden Protagonisten der geistigen Landschaften Deutschland und Frankreich. Obgleich die von Cocteau verfochtene Kunstlehre (»Rückkehr zur Melodie«) heute als »reaktionär« erscheine, habe er als erster »die Volksfremdheit der neueren Musik« erkannt. Brecht berücksichtige Musik (für die Bühne) zwar nur, sofern »sie sich einer pädagogischen Idee unterordnen läßt«, fordere aber »ähnliche Stilwandlungen […] wie Anno 18« Cocteau.70 Rekurriert wird hier auf die Programmschrift Le Coq et l’Arlequin von 1918, mit der Cocteau »EINE MUSIK FÜR ALLE TAGE«71 als definitive Überwindung des Impressionismus und von Richard Wagners (»Nebel«-)Musik propagiert72 und damit, so Stuckenschmidt, eine ganze Komponistengeneration in »Bars, Music-halls, Zirkusse« geführt habe.73

67 Herbert Fleischer : Romantische und aktuelle Oper. In: Der Scheinwerfer 5 (1932), H. 18/19, S. 9–11. 68 Bertolt Brecht: Reaktion [1929]. In: Ders., Berliner und Frankfurter Ausgabe (Bd. 21), S. 350. 69 Ders.: Was wir brauchen, das ist ein Schema [1930]. In: Ebd., S. 386. 70 H.H. Stuckenschmidt: Brecht, Cocteau und die Welt dazwischen [1932]. In: Schütz/Vogt, Der Scheinwerfer, S. 147–150. 71 Zit. nach: Christiane Mühlegger : »Wir brauchen eine Musik für die Erde, EINE MUSIK FÜR ALLE TAGE«. Das Musik- und Schaffensideal bei Cocteau und Stravinskij. In: Dies./Bettina Schwarzmann-Huter (Hgg.): Resonanzen. Innsbrucker Beiträge zum modernen Musiktheater bei den Salzburger Festspielen. Innsbruck-Wien: Studien-Verlag 1998, S. 151–167, hier S. 152f. 72 Von Einfluss sind Cocteaus Prämissen v. a. auf die als Les Six bekannten Komponisten, darunter Milhaud, Arthur Honegger und Francis Poulenc (vgl. ebd., S. 152–159). 73 Laut: H.H. Stuckenschmidt: Brecht, Cocteau und die Welt dazwischen [1932]. In: Schütz/ Vogt, Der Scheinwerfer, S. 147–150.

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Brechts Kampf gegen »die komplizierte bourgeoise Musik« als Aktualisierung von Cocteaus Kampf gegen »Debussysmus«: Durch das Aufzeigen dieser intentionalen Verwandtschaft pariert der Musikkritiker dem nach seinem Dafürhalten »heute für Deutschland […] verhängnisvollste[n] aller Phänomene«, der »Spaltung der geistigen Welt in Ost und West«.74 Eine solche Spaltung konturiert auch die Gedankenwelt Kreneks, der seinen »Lebensstil« Mitte der 1920er rückblickend als »Pariser Philosophie« (im Zeichen von »Flirten und Zweideutigkeiten« sowie Jazz)75 erinnern wird. Dem entspricht im Ästhetischen ein gegen die »Lebensfremdheit« der mitteleuropäischen Musik (und damit gegen Schönberg) zielendes »vivere necesse est, artem facere non«-Credo,76 zu dem Krenek u. a. in Auseinandersetzung mit Jean Cocteaus Schriften gefunden hat. Diese Spaltung der geistigen Welt ist auch Jonny spielt auf – bzw. der Jazzoper darin vergleichbar zwischen Paris und »Mitteleuropa« oszillierenden JazzRomanen – als Topographie der Krise(n) eingeschrieben.77 Für die Handlung der Zeitoper konstitutiv ist schließlich die »Antithese von vitaler und spiritueller Daseinsform des Menschen, inkarniert in den diametral entgegengesetzten Gestalten« des titelgebenden amerikanischen Jazzbandgeigers und des europäischen Komponisten-Genies Max. »Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Lebenssphären unterbleibt, nie kreuzen sich die Wege von Max und Jonny […]. Die Zwiespältigkeit der Welt wird entscheidungslos gestaltet.«78 Mit Leben des Orest hat Krenek dann aber eine »Synthese« dieser Sphären gestalten wollen und folglich auf einen »Gegenwartsstoff« verzichten müssen: In der Gegenwart von 1930 sieht er nämlich »vorläufig noch mehr Abgrund als Brücke«.79 Trotz der Gattungsbezeichnung »Große Oper«, die sich mit dem im Scheinwerfer diskutierten traditionalistischen Pendelausschlag im Musiktheaterbetrieb identifizieren lässt, ist Leben des Orest auch als Zeitoper denkbar : Die antithetischen Lebenssphären, um die Krenek als Komponist und Librettist in Personalunion den antiken Stoff organisiert hat – hie »unter der Sonne des Südens üppig gedeihende[s], tumultuöse[s] und scharf profilierte[s] meridio74 Ebd. 75 EK, Im Atem, S. 582. 76 Ders.: Musik in der Gegenwart. Vortrag, gehalten am 19. Oktober 1925 auf dem Kongreß für Musikästhetik in Karlsruhe. In: Hans Heinsheimer/Paul Stefan (Hgg.): 25 Jahre Neue Musik. Jahrbuch 1926 der Universal-Edition. Wien-Leipzig-New York: Universal-Edition 1926, S. 43–59, zit. S. 58f. 77 Jonnys Auftrittsort ist ein Hotel in Paris, dem Zentrum früher europäischer Jazz-Rezeption, wohingegen Max dem Publikum in Hochgebirgseinsamkeit vorgestellt wird. Nach Paris führen auch die Romane Symphonie für Jazz von Ren¦ Schickele oder Jazz von Hans Janowitz; vgl. Unterberger, Krenek, S. 500f. 78 EK: Von »Jonny« zu »Orest« [1930]. In: Ders., Zur Sprache gebracht, S. 76–78, zit. S. 76f. 79 Ebd., S. 77f.

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nale[s] Leben«, dort das »Nordland« (»viel zwischen den Zeilen zu lesen«)80 –, sind in Zusammenschau mit der Krenek’schen Essayistik zu Frankreich und »Deutschmitteleuropa«81 aktualisierbar.

Überblendungen: Magische Realien – Surrealistische Karussells »[D]ie Unbeirrbarkeit und Sicherheit des begnadeten Menschen, auch in schlimmster Wirrnis und entgötterter (scheinbar entgötterter!) Welt«,82 will Krenek mit seiner Orestie gestaltet haben, und dabei in der Idee der »Gnade« eine »Verwandtschaft des Gedankengutes« mit dem Theaterstück Œdipe von Andr¦ Gide erblicken.83 Die Wahlverwandtschaft84 zu Gide bekräftigt er 1936 nochmals anlässlich seiner Teilhabe an Julius Bahles »Fernexperiment« zum »musikalische[n] Schaffensprozeß«: Krenek räumt ein, seine »Selbstbeobachtung« »nach Art von Andr¦ Gides Tagebuch zu den ›Falschmünzern‹« dokumentiert zu haben.85 Auch Oskar Maurus Fontana z. B. hat dieses »Werk-Logbuch« als Etappenbericht zur »Schlacht um den neuen Roman unserer Zeit«, den ein Aufsteigen »von der Analyse zur Synthese« charakterisiere, geschätzt.86 Der synthetisierende, Ordnende Geist von Gide wird zudem im Frankfurter ZeitungFeuilleton als ein Grund für dessen enormen Widerhall in Deutschland erörtert: Gleichviel, wovon er spricht, in der Analyse ist stets die Synthese beschlossen. Es ist die Synthese einer Sphäre des Menschlichen, das verloren gegangen ist, das aber Gide […] sich aus dem französischen Klassizismus […] bewahrt hat, […] um es als ein fruchtbares Prinzip neu wirken zu lassen und ihm ungeahnte Gebiete zu erschließen.87

Gide verhelfe der ver(w)irrten, »um ein neues, erweitertes Bewußtsein« ringenden Gegenwart »zum großen Bilanzabschluß und zum General-Appell aller irdischen ›Wanderer‹ vor dem Weitergang in eine dunkle Zukunft«, so der Kritiker Wilhelm Michel aus Anlass der deutschen Erstaufführung des Œdipe. 80 Ders.: »Leben des Orest«. Lebendige Oper. In: Anbruch 12 (1930), H. 1, S. 1–4, zit. S. 3f. 81 Vgl. dazu ders.: »Neue Sachlichkeit« in der Musik. In: i10 1 (1927), Nr. 6, S. 216–218: Anders als die »romanisch-internationale« habe die »deutschmitteleuropäische« Musik die vergangenen Jahre mit der »Zersetzung ihres Materials zugebracht«; deren aktuelle Suche »nach der Basis einer breiten Wirksamkeit« sei der Grund für neusachliche Tendenzen in der Musik. 82 Ders.: Der »entlarvte« Orest. In: Frankfurter Zeitung [fortan: FZ] (22. 3. 1930), S. 1f. 83 EK an Gubler (16. 7. 1932), in: EK/Friedrich T. Gubler : Der hoffnungslose Radikalismus der Mitte. Briefwechsel 1928–1939. Hg. v. Claudia Maurer Zenck. Wien: Böhlau 1989, zit. S. 231f. 84 Zu Spuren der Gide-Rezeption im literaturkritischen Werk vgl. Unterberger, Krenek, S. 526f. 85 EK: »Der musikalische Schaffensprozess. Psychologie der schöpferischen Erlebnis- und Antriebsformen.« In: Wiener Zeitung [fortan: WZ] (22. 6. 1936), S. 6. 86 Oskar M. Fontana: Weg des neuen Romans. In: Der Tag (2. 12. 1928), S. 19f. 87 Fritz Schotthöfer : Ordnender Geist. In: FZ (17. 1. 1932), S. 6.

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Diese Fasson der »Aufarbeitung der Antike unter dem Gesichtspunkt heutiger Lebensfragen« entrate nie zu einem »Entlaufen vor der Gegenwart«. Ein »Ueberblendungsstil« charakterisiert laut Michel die Erzähl-Welten Gides oder aber auch Cocteaus, vergleichbar »jenen modernen Gemälden, auf denen sich neben gestürzten Säulentrümmern der Antike und rauchenden Fabrikschloten der Gegenwart die neptunischen Rosse des ewigen Lebens bäumen«.88 Dass Krenek, dessen Orest ja gleichfalls nicht den aktuellen »Antithesen« entlaufen soll, mit dergestalt »überblendenden« Bild-Welten vertraut gewesen ist, belegen Anmerkungen etwa zu den »surrealistischen Fassaden«89 Antonio Gaud†s oder dem »als surrealistisch bekannten Stil«90 Giorgio de Chiricos. Nicht als Surrealisten, sondern als italienische »Parallelerscheinung« zum Magischen Realismus91 berücksichtigt der deutsche Kunstkritiker Franz Roh 1925 De Chirico aber in der Monografie Nach-Expressionismus, gewidmet dem »neuen malerischen Typus Europas von 1920–1925«.92 Rohs Ausführungen über die die abstrakten europäischen Avantgarden ablösenden Kunstströmungen93 sind alsbald in Vergessenheit geraten, obgleich die Programmschrift als deutsches »Äquivalent zu Bretons surrealistischem Manifest« diskutiert werden kann.94 Heute wird der durch die Nach-Expressionismus-Studie popularisierte Terminus Magischer Realismus in der Kunstgeschichtsschreibung v. a. antipodisch zu Tendenzen der Neuen Sachlichkeit gebraucht: für eine der surrealistischen verwandte, aber konservative(re) Spielart neusachlicher Malerei.95 88 Vgl. Wilhelm Michel: Gides Oedipus, der »neue Mensch«. In: FZ (11. 5. 1932), S. 1. 89 EK: Notizen aus Barcelona [II]. In: WZ (12. 5. 1936), S. 7f. 90 Ders.: Italien heute. In: Anbruch 15 (1933), H. 6/7, S. 73–76, hier S. 75. – Vgl. auch ders.: Notizen aus der Schweiz. In: WZ (21. 2. 1937), [Sonntagsbeilage] S. 2f: »Wenige Minuten von jener Grenze entfernt, jenseits welcher man der neuen Kunst das Vernichtungsurteil gesprochen hat, veranstaltet Basel eine große […] Ausstellung ›abstrakter‹ und surrealistischer Kunst. […] Vermag man abzusehen von der Gefahr, die in der Affinität vieler Gestalten dieser Kunst zum […] Kunstgewerbe bestehen, […] gewinnt man bei näherer Betrachtung dieser ›verrückten‹ Sachen doch alsbald den Eindruck, daß da allerlei Wichtiges vorgeht«. 91 Vgl. Gregor Streim: Wunder und Verzauberung. Surrealismus im »Dritten Reich«? In: Reents, Surrealismus, S. 101–119, hier S. 113. 92 Vgl. Franz Roh: Nach-Expressionismus. Magischer Realismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei. Leipzig: Klinkhardt & Biermann 1925, S. 3 bzw. 76. 93 Vgl. Elisabeth Kampmann: Roh, Franz: Nach-Expressionismus [2010]. Online unter : http:// kll-aktuell.cedion.de/nxt/gateway.dll/kll/r/k0826000.xml/k0826000_010.xml?f=templates$ fn=index.htm$q=%5Brank,500%3A%5Bdomain%3A%5Band%3A%5Bfield,body%3Aroh %5D%5D%5D%5Bsum%3A%5Bfield,lemmatitle%3Aroh%5D%5Bfield,body%3Aroh%5D %5D%5D$x=server$3.0#LPHit1 (Stand: März 2014), o.S. 94 Da »nach dem Zweiten Weltkrieg wieder das Paradigma der abstrakten Moderne aufgegriffen wurde« (ebd.). 95 Vgl. Werner Müller : Lateinamerikanischer Zauber – Europäische Sachlichkeit? Eine kritische Auseinandersetzung mit der Kurzprosa von Robert Musil, Franz Kafka, Heimito von Doderer – Jorge Luis Borges, Alejo Carpentier und Gabriel Garc†a M‚rquez. Freiburg i.Br.: Rombach 2011, S. 68.

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Zeitgenössisch haben Rohs kunsttheoretische Ausführungen u. a. eine von L‚szlû Moholy-Nagy mitgetragene internationale Debatte über das Verhältnis von Malerei und Fotografie in i10 stimuliert,96 die auch Krenek mitverfolgt.97 Dass er sich diese (Roh’schen) Erwägungen modifizierend anverwandelt hat, das lassen der i10-Beitrag »Neue Sachlichkeit« in der Musik98 sowie eine Veröffentlichung im Anbruch vermuten: Dem aktuellen Zustand der Gattung Revue (als industriell gefertigtem Kunst-Surrogat) stellt Krenek darin 1929 eine vernichtende Diagnose, ohne die Gattung per se als »unkünstlerisch« verloren zu geben. Schließlich sieht er (seriöse) Revue-Autoren vor eine »dem Ideenkreis des Surrealismus« zugehörige Aufgabe gestellt: Das Revue-»Prinzip völliger Abwesenheit eines äußeren logischen Zusammenhanges« der Szenen gehe Hand in Hand »mit dem Streben nach zusammenhängender Wirkung«, damit »dramatische Einzelelemente« in »ein organisches Ganzes« resultieren. Exemplarisch für diese Konzeption gelten ihm die Mozart’sche Zauberflöte, die Feerien und Zauberstücke von Raimund und Nestroy sowie v. a. Oskar Kokoschkas Drama Hiob, »wo dieser, wie ich es nenne, ›magische Realismus‹ mit einmaligem genialem Griff prächtig gestaltet ist, lange vor der Formulierung der surrealistischen Theorie«.99 In bewusster Abgrenzung zum »surrealisme« hat Roh das Attribut magisch100 für jene nachexpressionistischen Kunstströmungen gewählt, die einen »Umschwung aus rasendem Sturme zur unheimlichen Windstille« indizieren. Für die Literatur verweist er auf die dahingehende Entwicklung Franz Werfels (hin zu 96 Vgl. Kees van Wijk: »Yesterday Art Today Reality«. The Discourse on Neue Sachlichkeit in i10. In: Ralf Grüttemeier u. a. (Hgg.): Neue Sachlichkeit and Avant-Garde. Amsterdam-New York: Rodopi 2013 (= Avant-Garde Critical Studies; 29), S. 51–80, hier S. 61f. – Vgl. Ernst Kallai: Malerei und Photographie. In: i10 1 (1927), Nr. 4, S. 148–157: In dem Initialtext der Debatte zitiert der ungarische Kunstkritiker folgende ›Warnung‹ des »so überzeugte[n] Theoretiker[s] der neuen Sachlichkeit« Roh: dass »die ganze Malerei überrannt werden könnte von jenen prachtvollen Maschinen (Foto und Film), die uns nach der Imitationsseite hin so Unübertreffliches einheimsen«. 97 Mit der »lebhafte[n] Erörterung der Frage ›Malerei und Photographie‹ in ›i 10‹« vertraut zeigt er sich in: EK: Mechanisierung der Künste. In: i10 1 (1927), Nr. 10, S. 376–380. 98 Zu: Ders.: »Neue Sachlichkeit« in der Musik. In: i10 1 (1927), Nr. 6, S. 216–218 (»Der Begriff ›Neue Sachlichkeit‹ ist […] für die bildende Kunst geprägt worden. […] Wenn wir das, was im allgemeinen als ›neue Sachlichkeit‹ bezeichnet wird, ansehen, so gelangen wir bald zur Anschauung, dass es sich im wesentlichen um eine Reaktionsbewegung handelt«, indem »Mittel angewendet werden, die man schon früher angewendet hat.«) vgl. die Rechtfertigung des Nach-Expressionismus als »Rezeptionskunst« bei: Roh, Nach-Expressionismus, S. 97: »Wenn ›Reaktion‹ hier nur wertungsfrei gebraucht wird und allein ein Wiederanknüpfen an ältere Bildmittel bedeuten soll, so kann man den Begriff gelten lassen.« 99 EK: Operette und Revue, Diagnose ihres Zustandes. In: Anbruch 11 (1929), H. 3, S. 102–108. 100 »Unter ›surrealisme‹ versteht man vorläufig etwas anderes. Mit ›magisch‹ […] sollte angedeutet sein, daß das Geheimnis nicht in die dargestellte Welt eingeht, sondern sich hinter ihr zurückhält« (Roh, Nach-Expressionismus, o.S.).

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»Klarheit« und »Wirklichkeitsnähe«) sowie den »modernen Klassizismus« eines Jules Romain oder Andr¦ Gide.101 Diese Anmerkungen haben in jüngerer Zeit Georg Streim und Werner Müller aufgegriffen: Vor dem Hintergrund der verbreiteten Skepsis, eine der französischen vergleichbare deutsche Literaturbewegung des Surrealismus anzunehmen,102 spüren sie magisch-realistischen Schreibweisen als vom Surrealismus unabhängigen, eigenständigen literarischen (bzw. weltanschaulichen) Richtungen nach. Müller definiert als deren Kennzeichen die »Implementierung ›übernatürlicher‹ (nicht-realistischer) Elemente in einen realistischen Rahmen«. Kurzprosatexte von Franz Kafka, Robert Musil oder Heimito von Doderer zeigen eine solche »Bewegung in Richtung Realität, ohne dass damit eine Rückkehr in einen (gewöhnlichen) Realismus vorläge«.103 Streim lokalisiert eine eigene »Poetik der Verzauberung« u. a. im Umfeld der Dresdner Literaturzeitschrift Die Kolonne (1929–1932), in der Begriffe wie Wunder, Verzauberung oder Geheimnis auffallend oft in programmatischen Äußerungen begegnen, und zwar : um Distanz zum Expressionismus, aber auch zur rationalistischen Weltauffassung der Neuen Sachlichkeit zu markieren. Durch eine schriftliche »Wiederverzauberung der rationalistischen Moderne« werden deren Überwindung sowie Vorstellungen einer »anderen« Moderne gestaltet: Die ExponentInnen dieser magisch-realistischen Literatur bemühen sich nicht so sehr um eine Negation als vielmehr um »eine Beseelung der technisch-rationalen Zivilisation«, eingebunden in einen konservativen Diskurs.104 Mit den (französischen) Surrealisten teilen sie die antirationalistische, zivilisationskritische Begründung des ästhetischen Verfahrens (in Reaktion auf die »Ausgrenzung des Alogischen im Zuge des modernen Rationalisierungsprozesses«), nicht aber die (philosophisch, politisch codierte) Konzeption von Wirklichkeit. Laut Streim fällt dabei die Orientierung an romantisch-symbolistischen (deutschen) Konzeptionen des »Überrealen« auf.105 Anders als für die Surrealisten ist der Traum für Ernst Jünger z. B. kein »zweckfreies Spiel der imaginativen Kräfte«: Mit seinen »Traumbildern« gestalte Jünger anstelle unauflöslicher Rätsel »verschlüsselte Erkenntnis«.106 101 Vgl. ebd., S. 76 bzw. 109f. 102 Es bedurfte in Deutschland keiner »surrealistischen Erweckung«, da, so ein Argument, Motive wie »Traum« oder »Fantastisches« bereits durch Romantik, Expressionismus und Dadaismus »erschöpfend freigelegt« wurden (vgl. Friederike Reents: Einführung, in: Dies., Surrealismus, S. 3–9, hier S. 4f.). 103 Vgl. Müller, Lateinamerikanischer Zauber, S. 92f. 104 Vgl. Streim, Wunder und Verzauberung, S. 103f. bzw. 117. 105 In Der Überrealismus (1926), einer der ersten deutschen Wortmeldung zum Surrealismus, übt E. R. Curtius bereits Kritik am französischen »Suprarealismus« (v. a. an dessen linker Tendenz), und markiert die Aktualität der deutschen Romantik als einer Vorwegnahme modernistischen Sehens (vgl. ebd., S. 110f.). 106 Vgl. ebd., S. 110 bzw. 117f.

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»Im Weiterdämmern fällt mir ein, daß die norddeutsche Umgangssprache ein wirklich durchleuchtendes Wort geschaffen hat, das die brutale Langeweile, den gewalttätigen Stumpfsinn des Technischen vorbildlich aussagt: rammdösig. Rrrrammmm-dösig, rrrrammmm-dösig, sagt Minotaurus«107 in einem in der Frankfurter Zeitung veröffentlichten Traumbild Kreneks. Als Minotaurus (re-) mythisiert sich darin ein in seinen (Tag-)Träumen von Arbeitslärm gestörter Mieter die Schuhfertigungsmaschine im Keller einer Wiener Vorstadt-Villa. In dieser – laut Titel – Meditation in der Morgendämmerung gestaltet Krenek seine Skepsis gegenüber dem »fortschrittlichen Modernismus«108 aus der Perspektive des enervierten Tagträumers. Auch in anderen Prosaskizzen zu Alltagsszenerien werden die Maschine(rie)n109 vergleichbar durch (ungewohnte) Perspektivierungen110 oder aus dem Blickwinkel alternativer Bewusstseinszustände, »mit traumhafter Akribie«111 schriftlich wiederverzaubert. Zudem ist Krenek’schen Reiseberichten oftmals ein magisch-realistisches Moment eigen: Moderne Metropolen werden mit »surrealistischen Karussells«, in denen Zeitgeistiges, Modernisiertes, noch zu Modernisierendes und Altes wirbeln (Rotterdam112), mit kafkaesk-grotesken Szenerien (London113), mit Kolossales und Miniaturhaftes, Altes und Neues synthetisierenden »surrealistischen Fassaden« (Barcelona114) aus einer tendenziell Modernisierungs-skeptischen Perspektive »neu« gesehen. Das »typisch englische« Hotel deklariert Krenek gar zum »Modell surrealistischer Gestaltungsweise«: als »unbekümmerte Montage ungleichzeitiger Erscheinungsformen der zivilisatorischen Entwicklung«.115 Eine »Persiflage der Unordnung und Wirrnis des Lebens«116 hinwiederum sieht der sporadische 107 EK: Meditation in der Morgendämmerung. In: FZ (29. 6. 1931), S. 1f. 108 Ders.: Komponist und Hörer [1964]. In: Ders., Im Zweifelsfalle, S. 298–318, hier S. 302f. 109 Anleihen bei dem semantischen Feld ›magische Realität‹ sind bei Krenek zahlreich; am Ende der Kritischen Volksoper Kehraus um St. Stephan (1930) z. B. lässt er seinen Protagonisten »lächelnd » konstatieren: »[D]ie Liebe hat die Maschinen verzaubert« (ders., Prosa-Dramen-Verse, S. 207). 110 Vgl. ders.: Aus Gründen der Kontrolle. In: FZ (20. 1. 1931), S. 1f.: Albtraumhaft erlebt ein Gast darin ein modernes Berliner Hotel – »wie eine Personnage aus einem Kafkaschen Roman«. 111 Diese Akribie würdigt er am Roman Der Stadtpark von Hermann Grab, der, darin Cocteaus Les Enfants Terribles (1929) verwandt, das tendenziell Un-Gesehene fokussiere, sodass die »›großen‹ Ereignisse der Erwachsenen zu undeutlichen Randerscheinungen« werden. »Dieses Mikroskop wirkt auch als Zeitlupe« (ders.: Der Stadtpark. In: WZ (6. 7. 1936), S. 6). 112 Vgl. ders.: Linksrheinisch. In: WZ (14. 3. 1937), [Sonntagsbeilage] S. 1f.: Im »surrealistische[n] Karussell« Hofplein zeigt sich Krenek – wehmütig darüber, dass dem »kurioseste[n] Platz der Welt« »Modernisierung« drohe – das »völlige Durcheinander« verschiedener »Bewegungssysteme«. 113 Vgl. ders.: England zum ersten Mal gesehen. In: WZ (1. 12. 1935), [Sonntagsbeilage] S. 1f. 114 Vgl. ders.: Notizen aus Barcelona [II]. In: WZ (12. 5. 1936), S. 7f. 115 Vgl. ders.: England zum ersten Mal gesehen. In: WZ (1. 12. 1935), [Sonntagsbeilage] S. 1f. 116 Ders.: Micky-Mausefalle. In: FZ (5. 9. 1931), S. 3.

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Filmkritiker in (gelungenen) Trickfilmen mit surrealer Bildlichkeit eingefangen. Der »ganze kommune Hausrat« von der Zuckerdose bis zum Wolkenkratzer wird in den Micky Maus-Filmen schließlich aufgeboten, um »Kritik an der Technologie dieser Welt« zu üben; »wenn das kluge Mäuschen den massiven Teufelszauber angeht, geschehen plötzlich Zeichen und Wunder.«117

Von der Aufgabe, (k)ein Österreicher zu sein Wie Tagebucheinträge Tristan Tzaras belegen, sind von der 1917 in der Zürcher Dada-Galerie aufgeführten Hiob-Fassung »entscheidende szenische Impulse für die Entwicklung des absurden bzw. surrealistischen Theaters« ausgegangen: Impulsgebend wirkt gemäß Jutta Nagel v. a. der souveräne Gebrauch der unter dem Eindruck von Kabarett, Variet¦ und Zirkus wieder-, neu gewonnenen theatralischen Mittel, welche Kokoschka zur Verdeutlichung der einen kausal bedingten Handlungsablauf ersetzenden Assoziationsketten aufgeboten hat.118 Die Zeit, da es Krenek auf einen in Hiob kristallisierten Magischen Realismus als (österreichische) Antizipation des Surreal(istisch)en verschlägt, ist die Zeit, da Adorno seine »Krˇenekpolemik« »in Berlin mit Brecht sehr diskutiert« hat.119 In Brechts Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« findet sich auch eine Anspielung auf die reaktionäre Qualität des nur vermeintlich modernistischen Jonny.120 Vice versa hat sich Krenek um 1930 intensiv mit der »gänzlich haltlosen, phrasenhaften Theoretisiererei« des »bajuvarischen Schädlers«121 befasst, aber eine geplante »Brecht-Polemik« weder im Anbruch noch in der Frankfurter Zeitung platzieren können.122 Das hier angerissene diskursive (Polemik-)Setting veranschaulicht nicht nur die Komplexität des Ton-, Wort- und Bild-Welten synthetisierenden ästhetischen Diskurses bei Krenek, sondern erhellt darüber hinaus auch dessen Affi117 Ders.: Zur Psychologie der Micky und Silly Welt. In: WZ (1. 1. 1935), [Neujahrsbeilage] S. 4. 118 Diese Beobachtung stützt Nagel auf eine 1917 in Dresden aufgeführte Hiob-Fassung (vgl. Jutta Nagel: Kokoschka, Oskar : Hiob. Online unter : http://kll-aktuell.cedion.de/nxt/gate way.dll/kll/k/k0369100.xml/k0369100_030.xml?f=templates$fn=index.htm$q=%5Brank, 500%3A%5Bdomain%3A%5Band%3A%5Bfield,body%3Akokoschka%5D%5D%5D%5B sum%3A%5Bfield,lemmatitle%3Akokoschka%5D%5Bfield,body%3Akokoschka%5D%5D %5D$x=server$3.0#LPHit1 (Stand: März 2015), o.S.). 119 Adorno an Hannes Küpper (18. 4. 1931/11. 9. 1931), zit. bei: Schmidt, Musik im »Scheinwerfer«-Licht, S. 297. 120 Vgl. Bertolt Brecht: Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« [1930]. In: Ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 24: Schriften 4. Texte zu Stücken. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 74–84, hier S. 81f.: Krenek wird als einer der (noch immer) »von Wagner abhängig Produzierenden« vorgeführt. 121 EK an Gubler (22. 2. 1931), in: EK/Gubler, Radikalismus der Mitte, S. 95–97, zit. S. 95f. 122 Vgl. dazu ausführlich: Unterberger, Krenek, S. 504–509.

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nität zum Magischen: Während in Brechts Denken die hypnotische »Magie« im den Zuschauer einschmelzenden (post-)Wagnerianischen Gesamtkunstwerk z. B. ein negativer Fixpunkt ist,123 möchte Krenek für sein Musiktheater auf die Absorption des Zuschauers in die Magie der Bühnenwelt nicht verzichten.124 Das Schlagwort »Mahagonny-Welt«,125 in das sich seine Un-Wertschätzung der Brecht’schen Ideenwelt entlädt, meint eine Welt, in der Kunst nur noch in Abhängigkeit von ihrem »Gebrauchswert« Berechtigung findet; eine typisch deutsche Welt »planer Rationalität«, um hier eine Formulierung aus einer Kokoschkas Schaffen (als »zivilisierte Magie«) berücksichtigenden Besprechung von Thomas Manns »alttestamentarische[m] Romanwerk« Die Geschichten Jaakobs aufzugreifen.126 Dieser »planen Rationalität« hat Krenek 1931 auch die Glosse Aus Gründen der Kontrolle gewidmet: Die einzige Lichtgestalt im amerikanisierten Betrieb eines hypermodernen Berliner Hotels ist darin ein spanischer Kellner mit Affinität zur französischen (cuisine-)Kultur, der – verzweifelnd an der fast food-Unkultur127 – den von Krenek zu Beginn der 1930er wiederholt porträtierten (Ideal-)»Romanen« verkörpert. »Initium facientibus Gallis – wird irgendwo bei Gide zitiert« und als Motto von Paul Stefan für ein dem französischen Musikleben gewidmetes AnbruchHeft 1930 adaptiert. »Wir Nichtfranzosen […] leben dennoch, vom Eigenen abgesehen, am stärksten durch unsere Verhaftung an französische Kunst, an den Geist Frankreichs«, das bereits für Heine, Offenbach oder Hofmannsthal ein »Schutz«-Raum vor dem »Ungeist der Schwere« gewesen sei.128 Kreneks Beitrag zu dem Frankreich-Themenheft, das Milhaud-Porträt, ist (assoziierte) Reiseschreibung, in der der ästhetische Diskurs geodätisch in Natur, in Landschaft transponiert entwickelt wird. Signatur des eingangs mit einem Ford – dem Symbol des technischen »Fordschritts«129 – bewältigten »Traumland[s] der Kurzschlüsse« ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Krenek surrealistisch, als Briccolage des (zeitlich) Disparaten verschriftlicht hat.130 Oder richtiger : magisch-realistisch. Merkbar wehmütig blickt der deutschmitteleu123 Brecht, Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, S. 79: „Alles, was Hypnotisierversuche darstellen soll, […] benebelt, muß aufgegeben werden“. 124 Vgl. Unterberger, Krenek, S. 503f. 125 EK an Gubler (1. 5. 1932), in: EK/Gubler, Radikalismus der Mitte, S. 215–222. 126 Vgl. EK: „Zivilisierte Magie“ [1933]. Ts. (3 Bl.). Teilnachlass E. Krenek, Wienbibliothek im Rathaus [ZPH 291]. 127 Vgl. ders.: Aus Gründen der Kontrolle. In: FZ (20. 1. 1931), S. 1f. 128 Paul Stefan: Der französischen Kunst! In: Anbruch 12 (1930), H. 4/5, S. 131–133. 129 Nach: Karl Kraus: Der Fordschritt. In: Die Fackel 32 (1930), Nr. 838, S. 50. 130 Er sieht Marseiller »Mietskasernen«, die »auf eine gewisse selbstverständliche Art klassisch [e]« provenÅalische Landschaft, einen Abkömmling »griechische[r] Kolonisten« (verkleidet als Telegraphenarbeiter bzw. »Glaser, wie der Ange Heurtebise in Cocteaus ›Orph¦e‹«), dazu »Brandy of Napoleon«-Reklametafeln und »bunte Benzinpumpen« (EK: Darius Milhaud. In: Anbruch 12 (1930), H. 4/5, S. 135–140).

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ropäische Komponist auf die »vieldeutig[e]« Landschaft als genuinem (Kunst-) Ort für Milhaud, der zu einem der vom »Fortschrittssnobismus« nicht affizierten »Provinzfranzosen« stilisiert wird. Deren »historische[s] Bewußtsein« zeige eine eigentümliche »Zeitlosigkeit«: Vergangenes »wird gewissermaßen aufsummiert und immerfort mitgenommen« als »ein Gut, das konserviert werden muß und genau so ins unmittelbare Leben der Gegenwart einzutreten hat, wie eine eben frisch erzeugte Sache«. Diese Typologie stützt Krenek auf das »ausgezeichnete Buch ›Gott in Frankreich?‹« von Friedrich Sieburg,131 das er zudem für den Scheinwerfer Deutschland-kritisch132 rezensiert hat: Frankreich habe sich »den guten, starken, geistigen, freien Individualismus […] als letztes Volk Europas aus der Antike herübergerettet«. Die Aufgabe, vor die Krenek die »ganze europäische Kultur« gestellt sieht, lautet: »von diesem französischen Geist etwas zu lernen«, um nicht »blindlings in die Amerikanisierung hinein[zu]rasseln«. Dank seiner konservativen »Grundhaltung« sei dem Franzosen das »Streben nach sozialem Fortschritt« fremd – nicht aber der Ehrgeiz, »innerhalb der durch die niemals als Fessel empfundene Konvention gezogenen Grenzen absolut und rücksichtslos unabhängig zu sein«.133 Diesen Ehrgeiz beweist er auch im Ästhetischen,134 anders als die deutschen Fortschritt-»Fanatiker«, die allem »zu eindeutigem Gebrauch von der Vergangenheit Bereitgestellte[n]« misstrauen.135 Von einem Ende der West-Orientierung am Ausgang der 1920er Jahre, wie es die in rückblickenden Werk-Kommentaren als Zäsur markierte Verabschiedung der »Pariser Philosophie« (und der Metropole an der Seine als Paradigma »geistiger Aktivität«) nahelegt,136 kann bei Krenek keine Rede sein: Als selbst131 Ebd., S. 135f. 132 Der von Krenek herausgelesene Appell zu einer deutsch-französischen Synthese durch den Transfer französischer Werte nach Deutschland unterscheidet sich von Kaisers Lektüre, der den Erfolg des Buchs während der NS-Zeit u. a. mit dem darin angemeldeten deutschen »Führungsanspruch« erklärt: Vgl. Gerhard R. Kaiser : Altes Europa. USA-kritische Bezüge in der deutschsprachigen nichtfiktionalen Paris-Literatur zwischen 1918 und 1933 (Holitscher, Sternheim, Roth, Tucholsky, Sieburg). In: Walter Fähnders u. a. (Hgg.): Berlin, Paris, Moskau. Reiseliteratur und die Metropolen. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 71–90, hier S. 83–85. 133 EK: Über »Gott in Frankreich?« Von Friedrich Sieburg. In: Der Scheinwerfer 3 (1930), H. 17, S. 18f. 134 Vgl. ders.: »Neue Sachlichkeit« in der Musik. In: i10 1 (1927), Nr. 6, S. 216–218: »Ich glaube z. B. nicht, dass man ihn [den Begriff Reaktion] in den romanischen Ländern überhaupt verstehen wird«, wo man sich nie von der »Basis« der »aus einer Jahrhunderte alten Konvention naturhaft gewachsenen Tonalität« entfernt habe. 135 Ders.: Pro domo. In: Der Scheinwerfer 3 (1930), H. 11, S. 12f. 136 Enttäuscht von der Pariser Jonny-Inszenierung, sei er »für immer geheilt von meiner Verliebtheit in diese Stadt als Zentrum geistiger Aktivität« gewesen (ders., Im Atem, S. 671). Der »wahrhaft europäische Geist« hat sich jedoch, wie hier spitzfindig mit Krenek einzuwenden ist, ohnedies »in die Provinzen geflüchtet«; »ganz Frankreich, inklusive Paris, ist in

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ernannter Proponent einer ständestaatlichen Avantgarde wird er Frankreich zunehmend resigniert zum Nachweis dessen, »[w]ie gut sich künstlerischer ›Modernismus‹ mit vollkommen katholischem Denken und Fühlen verträgt«,137 bemühen.138 Das kündigt sich in den frühen 1930ern mit der Stilisierung des Franzosen zum Befreiten, der sich umso freier fühlt, je fester seine Füße auf dem Boden stehen,139 an: In der Programmschrift Von der Aufgabe, ein Österreicher zu sein z. B. (ideo-)lokalisiert Krenek Österreich »den Romanen viel näher als den Deutschen, die […] das Werdende mehr interessiert als das Gewordene«. Als er 1931 zum Aufbau eines eigenständigen österreichischen Geisteslebens aufruft, ist ihm Heimatlob aber nicht das Primäre – in Anbetracht eines Vorwaltens »spezifisch alpenländischer«, reaktionär-volkstümelnder »Art« und dem (zu) verbreiteten »Begriff des Deutschösterreichers«. Dem hält Krenek ein »in jeder Hinsicht typisch katholisches«, dem »Weltkreis lateinischer Humanität« (und nicht Preußen) nahestehendes (Ideal-)Österreichertum entgegen.140 Die Kontrastierung von Preuße und Österreicher141 oder die Idee Österreich – als geistiges Prinzip und Epizentrum »Mitteleuropas«142 – erinnern an prominente (Prä-)Formulierungen etwa bei Hofmannsthal, der in Kreneks schriftstellerischem Werk aber eine auffallende Leerstelle bildet. Für Adorno jedenfalls ist eine ideologische und ästhetische Kompatibilität der beiden (im »Österreichischen«) evident gewesen143 – verständlicherweise: Denn auch Bekenntnisse

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diesem Sinne eine ungeheure Provinz« (ders.: Über »Gott in Frankreich?« Von Friedrich Sieburg. In: Der Scheinwerfer 3 (1930), H. 17, S. 18f.). Ders.: Wie ich zu »Karl V.« kam. In: Österreichische Akademische Blätter 1 (1935/36), Nr. 6, S. 84f. – Vgl. auch ders.: »Christliche Philosophie«. In: WZ (21. 6. 1937), S. 7: »Der französische Katholizismus ist glücklich zu preisen, weil er sich von allen einengenden […] (und durchaus unkatholischen) Vorurteilen freizuhalten wußte«, was die Korrespondenz von Jacques Maritain mit Cocteau belege. Paul Claudel und Milhaud weisen (ihm) z. B. »neue Wege der Musik im Drama« in Richtung des Epischen Theaters von Brecht-Weill, indes bestrahlt von Claudels »Katholizität« (vgl. Unterberger, Krenek, S. 528f.). Nach: Fritz Schotthöfer : Ordnender Geist. In: FZ (17. 1. 1932), S. 6, der Gide als »französische Abwandlung des Befreiten, der sich um so freier fühlt, je fester seine Füße auf dem Boden stehen«, taxiert. EK: Von der Aufgabe, ein Österreicher zu sein [1931]. In: Ders.: Gedanken unterwegs. Dokumente einer Reise. Hg. von Friedrich Saathen. München: Langen-Müller 1959, S. 13–23. So der Titel eines Hofmannsthal’schen Schemas von 1917. Vgl. dazu: Jacques Le Rider : Mitteleuropa as a lieu de m¦moire. In: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hgg.): A Companion to Cultural Memory Studies. Berlin-New York: De Gruyter 2010, S. 37–46, hier S. 37–41. Und zwar, als er Krenek im November 1934 zur Vertonung des Theaterstücks Der Turm rät. Die im gleichen Brief für A. Berg diagnostizierte, von K. Kraus gezeugte »HofmannsthalPsychose« mag ein Grund für die Verhaltenheit auch Kreneks in Sachen Hofmannsthal sein (vgl. Unterberger, Krenek, S. 31).

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zum Vermächtnis der Antike144 oder Reverenzen vor dem konservativen französischen Künstler145 sind bereits bei Hofmannsthal zu finden. Dass Gumbrecht beim »Erspüren« von national geladenen Stimmungslagen »ikonoklastischer Energie« für die Zwischenkriegszeit die deutsche (wie die österreichische) Konservative Revolution und den französischen Surrealismus zusammengedacht hat,146 gewinnt vor dem Hintergrund der hier nachskizzierten Diskussionen an Plausibilität. Vergangene Formen, Trümmer, lässt Adorno für eine tatsächlich fortschrittliche Musik nach surrealistischer Fasson gelten, sofern die Trümmer Choc zeugen. Krenek hingegen erlaubt (sich) »Wehmut« über das Verfallen(d)e. Eine solche Wehmut spricht auch aus seinen ÖsterreichEntwürfen, die als »Trümmerverwaltungen« zu charakterisieren sind: als Umschauen, ob etwas bzw. was sich aus dem Untergang nach 1918 retten und (wie) neu ordnen lässt. Und da zeigen sich – trotz späterer (Selbst-)Stilisierungen zum großen »Unzeitgemäßen« im Wien der 1930er Jahre, der sich nach Vorbild Karl Kraus’ willentlich außerhalb aller kulturpolitischen Lager positioniert habe147 – überraschende geistige Tuchfühlungen: Das Feuilleton der Neuen Freien Presse z. B., deren Musikkritiker Julius Korngold in dem Neutöner in den 1920ern einen Intimfeind erkannt hat, bleibt dem Schriftsteller Krenek in den 1930ern verschlossen. Gegen »Zeitlakaienschaft« und die in Wien grassierende »Angst, für rückschrittlich zu gelten«, spricht sich am selben Ort Ernst Lothar aus, der zudem eine (Rück-)Besinnung auf Prädikate wie »konservativ oder reaktionär« empfiehlt.148 Ein »Konservativismus und ein gewisses Zögern gegenüber dem Fortschritt und dem jeweils Neuen« zeichnen den »österreichischen Menschen« auch laut Anton Wildgans aus, der mit der am Neujahrstag 1930 in Radio-Wien verlesenen Rede über Österreich einen Sturm an Publikumsreaktionen entfesselt hat. Als bevorzugte Arbeits-»Methode« des prototypischen Österreichers nennt Wildgans »die der schöpferischen Improvisation und des schaffenden Handwerks« anstelle der »mechanischeren Fabrikation«.149 Sein Festhalten auch an alten »Mitteln«, sofern sie »von uns in voller Unbefangenheit als die geeignetsten 144 Hugo v. Hofmannsthal: Das Vermächtnis der Antike. Rede anläßlich eines Festes der Freunde des humanistischen Gymnasiums [1926]. Online unter : gutenberg.spiegel.de/ buch/971/19 (Stand: Mai 2015), o.S. 145 Vgl. ders., Das Schrifttum: In Frankreich bemühe sich das »einzelne Talent«, »sich mit Grazie in seinen Grenzen zu bewegen, wissend, daß diese Bescheidung ihm am meisten einträgt«. 146 Die heute verbreitete Standardassoziation Konservative Revolution=»proto-faschistisch« sei in Bezug auf die historische Situation der 1920er »nicht ganz adäquat«, obgleich »protofaschistische Positionen Teil des kulturellen Spektrums der konservativen Revolution werden sollten« (Gumbrecht, Surrealismus als Stimmung, S. 28f.). 147 Vgl. dazu: Unterberger, Krenek, S. 177f. 148 Ernst Lothar : Die Phrase vom Zeitgeist. In: Neue Freie Presse (19. 1. 1930), S. 1–3. 149 Zit. bei: Unterberger, Krenek, S. 301.

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erfunden wurden«, hat Krenek im September 1929 im Anbruch unter dem Titel Freiheit und Technik. »Improvisatorischer« Stil erörtert.150

»Marxismus ist eine Antwort auf Wien!« Abstraktion, Realismus resp. Surrealismus begegnen Charles Harrison und Paul Wood zufolge in den für die Zwischenkriegszeit zentralen Kunst-(Theorie-) Debatten stets zumindest als – strittige – Begrifflichkeiten. Definitionskämpfe sind dabei mehr als nur ein Gezänk um das Abstecken von Stilterritorien, gravitieren sie doch (mitunter unwissentlich) um eine politische »Schwerkraft«.151 Am intensivsten gestalte sich in den 1930ern die Auseinandersetzung mit dem Konzept Surrealismus und der Schwerkraft Liberaler Kapitalismus, und damit mit der unterstellte[n] natürliche[n] Ordnung der Dinge. Was nottat, war eine selbstbewußte und skeptische Darstellung der modernen westlichen Kultur und ihrer konstitutiven Werte; gewissermaßen eine Analyse von innen, aber unter Verweis auf Begriffe, die von außerhalb stammten – aus dem Außerhalb jener imaginierten Welt der modernen politischen Alternativen, in der Kommunismus und Faschismus entgegengesetzte Pole definierten[.]152

Indem die maßgebenden kulturanalytischen Stimmen (Breton, Kracauer, Benjamin, Bloch, Adorno153) politisch v. a. links positioniert gewesen sind, hat sich Ende der 1920er die »Standard-Assoziation zwischen dem Surrealismus und der Linken«154 stabilisiert. Krenek wird sich um 1930 gleichfalls »der offenkundigen, entsetzlichen Unzulänglichkeiten der bestehenden Ordnung bewußt«.155 Der politische Code, für den seine Definition von Fortschritt (bzw. Surrealismus) transparent ist, unterscheidet sich von dem Adorno’schen aber deutlich. »Von seiner Politik her ist er zum Glück nicht zu verstehen«,156 wird der Ende 1934 Benjamin wissen lassen: Dieses Urteil verdankt sich sicherlich nicht einem Mangel an politischen SelbstPositionierungen Kreneks, der 1932 für seine ideologische Disposition die 150 EK: Freiheit und Technik. »Improvisatorischer« Stil. In: Anbruch 11 (1929), H. 7/8, S. 286–289. 151 Vgl. Charles Harrison/Paul Wood: Freiheit, Verantwortung, Macht. In: Dies., Kunsttheorie, S. 421–427, hier S. 423. 152 Ebd., S. 426f. 153 Vgl. ebd., S. 427. 154 Tatsächlich war die Begrifflichkeit Surrealismus zunächst frei von politischen »Übercodierungen« (vgl. Gumbrecht, Surrealismus als Stimmung, S. 29f.). 155 EK, Im Atem, S. 728f. 156 Adorno an Benjamin (5. 12. 1934), zit. nach: Unterberger, Krenek, S. 419f.

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Formel »Radikalismus der Mitte« gefunden hat. Gemeint ist damit ein Amalgam aus, so Meret Forster, anti-liberalistischen (»gegen die ›demokratische Fiktion der Ubiquität aller Werte‹«), anti-marxistischen (»gegen die ›primitive Schlagwort-Ideologie‹ und die Vermassung der Kunst«) und »Anti-Blubo«-Sentiments, denn einer »Disposition für den NS-Faschismus« hat der Krenek’sche Kulturkonservativismus mitnichten entsprochen.157 Dafür heftet Krenek seine Hoffnungen an (ein »neues«) Österreich, d.i. 1933/34 das austrofaschistische Regime, in dem er ein Bollwerk gegen Nazi-Deutschland erkennen will.158 »Was der neue Staat braucht, ist eine katholische und österreichische Avantgarde«,159 proklamiert er 1935 in der von Engelbert Dollfuß mitinitiierten Wochenschrift Der Christliche Ständestaat – zu einer Zeit, da Krenek bereits erfahren hat müssen, dass im Neuen Staat (wie im Dritten Reich) für Neue Kunst kein Platz zu erobern ist: Das als eine Art ständestaatliches Festspiel konzipierte »Bühnenwerk mit Musik« Karl V. wird 1934 während der Probenphase an der Wiener Staatsoper abgesetzt. Karl V. ist zwar konservativ im Gehalt, den Zeitgenossen aber zu radikal im Ästhetischen: Die erste abendfüllende Zwölftonoper zeugt von einer neuerlichen Stil-Volte des Komponisten.160 Kreneks musikalische Sprachwechsel haben Musikkritik und -wissenschaft immer wieder zu Definitionen werkübergreifender (Leit-)Motive bzw. IdeenBestände herausgefordert.161 Als »roter Faden« ist etwa das austriakische Substrat des Jonny-Komponisten diskutiert worden, und zwar : als Grund für dessen übermäßige und in den 1930ern durchaus katholisch konnotierte ordo-Fixation.162 Der Zerfall der Monarchie als Zäsur, die »die ›alte‹ von der ›neuen‹ Welt« bzw. »die gesicherte von einer ungesicherten Ordnung trennt«, sei für Krenek von erheblicher Relevanz gewesen. Zu diesem Urteil findet z. B. Petra Ernst, die das Œuvre nach »Gedanken der Synthese« gerastert hat.163 Dass dieses aus157 Vgl. Meret Forster : Reflexe kultureller Modernisierung. Ernst Kreneks Radikalismus der Mitte und der Einfluss von Karl Kraus 1928–1938. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2004 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1886), S. 87 bzw. 95. 158 Vgl. Unterberger, Krenek, S. 415–417. 159 EK: Zwischen »Blubo« und »Asphalt«. In: Der Christliche Ständestaat 2 (1935), Nr. 22, S. 520f. 160 Vgl. Unterberger, Krenek, S. 416f. 161 Zu Mechanismen der Krenek-Rezeption vgl. ebd., S. 10–17. 162 Vgl. z. B. Sebastian Kiefer : Das gute alte Wien und der häßliche Deutsche. Ernst Kreneks Berliner Jahre. In: Hartmut Grimm u. a. (Hgg.): Wien-Berlin. Stationen einer kulturellen Beziehung. Saarbrücken: Pfau 2000, S. 125–142, bs. S. 130f. 163 Vgl. Petra Ernst: »In der Gegenwart sehe ich vorläufig noch mehr Abgrund als Brücke«. Zum Gedanken der Synthese in Ernst Kreneks Libretti der Zwischenkriegszeit. In: Claudia Maurer Zenck (Hg.): »Der zauberhafte, aber schwierige Beruf des Opernschreibens«. Das Musiktheater Ernst Kreneks. Schliengen: Edition Argus 2006 (= Ernst Krenek Studien; Bd. 2), S. 141–164, bs. S. 147.

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triakische Sediment auch in der Anbruch-Debatte mitverhandelt worden ist, das lässt eine Kurz-Befundung von Adornos Visavis zu Wien und den Wienern vermuten. »[I]m Umkreis der neuen Musik selber schärfer zu differenzieren«,164 um die vormaligen Musikblätter des Anbruch als Kampforgan für tatsächlich fortschrittliche Neue Musik zu positionieren: Mit diesem Vorsatz tritt Adorno Anfang 1929 die Schriftleitung des neuen Anbruch an. Ohne die Aufrichtigkeit dieses Vorsatzes in Zweifel ziehen zu wollen: Pro domo ist ihm zudem daran gelegen, sich hiermit musikkritisch bzw. -philosophisch zu stabilisieren.165 So fügt sich die kämpferische Parteinahme für das tatsächlich Avancierte, mit der sich Adorno von den improvisatorischen Redaktionsusancen seines Vorgängers Paul Stefan distanziert,166 praktischerweise in die (kapitalistischen) Verlagsrealitäten: Der Anbruch ist das Hausorgan der Universal-Edition (UE), und die als dessen Hauptangriffsziel ausgewiesene neoklassizistische »Reaktion« (— la Paul Hindemith z. B.) verlegerisch vorzüglich bei dem Konkurrenzverlag Schott in Mainz behaust.167 Laut eines unveröffentlichten Anbruch-»Expos¦s« aus Adornos Hand hat der neue Schriftleiter eine verstärkte Rekrutierung von »Nichtmusikern« vorgesehen: Bloch, Kracauer und Alfred Döblin werden u. a. als potenzielle Beiträger, die mit dem linksdemokratischen Frankfurter Zeitung-Kosmos identifizierbar sind, genannt.168 Im Anbruch-Klangkörper eine fixe Größe ist aber eben auch der »Radikalist der Mitte« Krenek: Der UE-Erfolgskomponist stellt sich Adorno während dessen kurzzeitigen Interregnums als besondere Herausforderung, indem er als eifriger Anbruch-Lektor dessen musikpublizistische Potenz in Zweifel zieht.169 Bereits im Oktober 1929 wird man Adorno seitens der UE wissen lassen, dass seine »bis zum gewissen Grade selbständige Redaktionsführung« nicht beibehalten werden könne, v. a. da »die von Ihnen […] bekämpfte ›Stabilisierung‹ der 164 Die Redaktion: Zum neuen Jahrgang. In: Anbruch 11 (1929), H. 1, S. 1–3, zit. S. 2. 165 Eine ausführliche [Musikblätter des] Anbruch-Analyse bietet: Unterberger, Krenek, S. 269–313. 166 Stefan verarbeitet das je sich Andrängende überparteiisch und bewusst tendenzlos (vgl. ebd., S. 269–273). 167 Das Schott’sche Organ Melos muss auch in einem Anbruch-»Expos¦« als Negativ-Beispiel, für die Unsitte der »Kollektivkritik« z. B., herhalten; vgl. ebd., S. 279–282. 168 Nur Bloch veröffentlicht schließlich im Anbruch; zu den mit Adornos Gedankenwelt kompatiblen »Musiktheorien« v. Kracauer und Döblin vgl. ebd., S. 281–284. 169 Der Briefwechsel zwischen Krenek und der UE beweist, dass Krenek redigierend und von Adorno unautorisiert in dessen Beiträge eingegriffen hat (vgl. ebd., S. 307–313); aber nicht nur redaktionsintern, sondern auch öffentlich wird Adorno »gemaßregelt«, etwa, indem Krenek das »gespenstische Eigenleben« des Materials als Adorno’schen »Glaubensartikel« ridikülisiert (vgl. EK: Fortschritt und Reaktion. In: Anbruch 12 (1930), H. 6, S. 196–200, hier S. 196).

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Musik sich in einer Weise verwirklicht hat, die noch vor einem Jahr nicht denkbar schien«; auch, dass »Schönberg und sein engster Kreis« Vorbehalte gegen den neuen Anbruch hegen, wird als Grund genannt170 und damit ein wunder Punkt bei Adorno getroffen: Bereits der Erstkontakt mit dem idolisierten Schönberg im Zuge von Kompositionsstudien bei Alban Berg in Wien hat sich 1925 enttäuschend gestaltet. Dass der Neo-Komponist Adorno damals keinen »›Schönberg-Kreis‹ im Sinn einer fest gefügten Gruppe« und Aufnahme in einen solchen gefunden hat, mag dessen späteres Engagement in Sachen Anbruch mitprovoziert haben.171 Diese Enttäuschung hat sich Mitte der 1920er unmittelbar in die amikale Korrespondenz mit Kracauer entladen. Adorno urteilt darin krude über die »wirtschaftlich völlig stagnierende, vom Weltverkehr verlassene, sich mit Sensationen mühsam erhitzende Stadt« Wien, eine »Kulturinsel«, auf der sich ihm die »Krise einer Bürgerlichkeit« offenbart, »die, marxistisch zur Probe gedacht (Marxismus ist eine Antwort auf Wien!), außerhalb der Dialektik liegt«. Hier sei »aller Radikalismus nur Schein […] (Koko[schka]!)«, alle(s) »künstlerisch (und soweit ich sehe) philosophisch im Grunde reaktionär«, was den Wienern mit ihrer »wunderlichen Seldwyler Naivetät [sic] dem eigenen gegenüber« aber verborgen bleibe.172 Dieser mit Kokoschka exemplifizierte Befund antizipiert Adornos späteres Urteil über den im Künstlerischen scheinbar radikalen, indes (auch im Politischen) reaktionären Krenek. Der kennt, gleich den Österreichern Lothar oder Wildgans, gleichfalls keine Berührungsängste mit »Prädikaten« wie konservativ oder reaktionär.

Beschließendes Bereits in den 1920ern attestiert Adorno dem Sohn des Donau-Seldwylas »Naivetät«.173 Kreneks kompositorisch ausagierte reflexionslose Naivität174 hat Paul Bekker dahingegen zu dieser Zeit zum Paradigma einer tatsächlich avancierten Musik deklariert. Laut dem maßgebenden Musikkritiker der frühen Weimarer Republik, der in einem Vortrag über das jüngste Musikschaffen 1919 Hans Heinsheimer an Adorno (1. 10. 1929), zit. nach: Müller-Doohm, Adorno, S. 183f. Vgl. Steinert, Adorno in Wien, S. 32 bzw. 124f. Adorno an Kracauer (10. 4. 1925), in: Adorno/Kracauer, Briefwechsel, S. 37–43, hier S. 41. Z.B. im Falle der Dritten Symphonie op. 16 (zit. nach: Stephan, Zur Musik des jungen Krenek, S. 114). 174 U.a. als musikantische »Freude am Spiel des Klanges« (Paul Bekker : Ernst Kreneks Erste Symphonie. In: MdA 5 (1923), H. 1, S. 16–18); zur Wirkmacht der Bekker’schen KrenekLabels vgl. Unterberger, Krenek, S. 72ff.

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den Terminus Neue Musik geprägt hat, »ist [diese] keine Musik des Fortschrittes« mehr. »[D]ie Jugend, für die der Fortschrittsgedanke mit all seinen verschiedenen Auswirkungen künstlerischer, ästhetischer, sozialorganisatorischer, kunstpolitischer Art gegenstandslos geworden ist, geht ihre eigenen Wege, sie biegt ab von jener Fortschrittsbahn, die als natürliche Entwicklungslinie vorgezeichnet zu sein scheint.« Bei der alten »Fortschrittspartei«, die »wie der Wilde auf sein Fetisch« – d.i. die »unbewußte Fiktion« Fortschritt – schwöre, stoße dieses Ausscheren aus der »Fortschrittsbahn« aber noch auf Unverständnis.175 Dass »[n]ur der rationalistische Aberglaube […] an die gewisse spiralenhafte Fortentwicklung [glaubt]«, wird ein Jahrfünft später Krenek gegen den Fortschritt als einen der »Wahnbegriffe«, der gegenwärtig »menschenwürdige Daseinsformen« verhindere, vorbringen,176 um dafür von Adorno belehrt zu werden: »Der Begriff des Fortschritts ist in der bürgerlichen Gesellschaft in Verruf geraten, seit sie als solche gegenüber den Trümmern feudaler Macht so gründlich sich durchgesetzt hat, daß jeder Fortschritt einem Schritt über sie hinaus und somit ihrer Bedrohung gleichkommt.«177 Dass Bekker (noch) keine Nötigung empfunden hat, als das Neue nur das je Fortgeschrittenste gelten zu lassen, lässt sich mit dem allgemeinen Aufbruch zu Beginn der 1920er erklären: Damals kann er zur Beruhigung der Fortschrittspartei noch garantieren, dass das aktuelle »Ausdrucksbedürfnis« ohnedies »mit den Mitteln der alten Technik nichts anzufangen« wisse.178 Darauf vertraut Adorno ein Dezennium später nicht mehr – im Angesichte einer fortschrittlich daherkommenden, dabei jedoch alte Formen und Ordnungen stabilisierenden Musik: 1929 verlautbart etwa Alfredo Casella im Anbruch eine »Epoche des ›zurück zu …‹«. Sowohl im Ästhetischen als auch im Politischen stehe Ordnung wieder hoch im Kurs: Die Politik beschränke zugunsten der »Staatsautorität viele individuelle Freiheiten«, und die musikalische »Renaissance der alten Formen« sei das »Resultat der definitiven Liquidation des atonalen Intermezzos«.179 Adorno entschlüsselt diese Proklamation als Begründung des »Neoklassizismus durch den Fascismus«,180 nachdem Krenek in seiner Replik an Casella »die Alternative: Atonal oder gar nicht« nicht als »unausweichlich« (an-) erkennen hat wollen.181 175 Paul Bekker : Die Fortschrittspartei. In: MdA 6 (1924), H. 3, S. 87–91. 176 EK: Das Schubert-Jahr ist zu Ende. In: Anbruch 11 (1929), H. 1, S. 11–15. 177 Theodor Wiesengrund-Adorno: Reaktion und Fortschritt. In: Anbruch 12 (1930), H. 6, S. 191–195, zit. S. 191. 178 Paul Bekker : Die »Rückkehr zur Natur«. In: MdA 2 (1920), H. 13, S. 451–455, zit. S. 454. 179 Alfredo Casella: Scarlattiana. In: Anbruch 11 (1929), H. 1, S. 26–28. 180 Theodor Wiesengrund-Adorno: Atonales Intermezzo? In: Anbruch 11 (1929), H. 5, S. 187–193, hier S. 187–190. 181 Gleichermaßen skeptisch begegnet er sowohl der »Parole ›zurück zu …‹« als auch der

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Auch die Casella-Debatte und das Milhaud-Porträt sind Etappen der Fortschritt-Reaktion-Kontroverse, deren Strahlkraft über den Wiener AnbruchKosmos hinaus auf den Scheinwerfer, ein Forum für neusachliche Diskussionen, oder die Frankfurter Zeitung, eine der maßgebenden liberalen Tageszeitung der Weimarer Republik, belegt werden kann.182 Dass diese Debatte hier vor dem Hintergrund der Krenek’schen Gedankenwelt aufgefächert worden ist, trägt dem Umstand Rechnung, dass sich anno 1930 eben mitnichten eine bereits etablierte musikphilosophische »Großmacht« (d.i. Adorno) und ein (heute tendenziell) wenig gekannter Komponist gegenübergestanden sind.183 Krenek wird auf eine Fortführung der Debatte im Scheinwerfer verzichten, obgleich er selbst Ende der 1920er eine Kooperation zwischen der Essener Zeitschrift und dem Anbruch (mit-)initiiert184 hat: Den neutonalen Standpunkt verficht im Scheinwerfer ohnedies Hanns Gutman z. B. mit Vehemenz – als eminent fortschrittliche Einsicht, »daß keine Kunst in Willkür leben kann«185 –, und qualifiziert dabei en passant auch Adornos musiktheoretisches Handwerkzeug(s), d.i. die vage, »vielzitierte Dialektik«, ab.186 Die Krenek’sche Positionierung steht zudem für ein zwischenkriegszeitlich durchaus prominent besetztes Verständnis von Fortschritt. Indem Bekker z. B. als Schlagwortgeber Leo Kestenbergs fungiert, erlangen seine musikhistorischen Reflexionen auch kulturpolitische Relevanz. Als Musikreferent im preußischen Kultusministerium inauguriert Kestenberg ein umfassendes Reformwerk (Demokratisierung der Kunst durch Musikalisierung des Volkes), im Zuge

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Parole »vorwärts zu …« (EK: [Zu Casellas Aufsatz »Scarlattiana«]. In: Anbruch 11 (1929), H. 2, S. 79f.). Neben der bereits analysierten Zwillingspublikation erscheinen 1929/30 noch weitere aufeinander Bezug nehmende Aufsätze im Anbruch: Krenek selbst wird die Kontroverse als »von ausführlichster Privatkorrespondenz begleitete öffentliche Diskussion« und als deren eigentlichen Initialtext seinen Aufsatz über das Schubert-Jahr (Anbruch, Jänner 1929) erinnern. Zudem wird ein Gespräch der beiden Kontrahenten im Südwestdeutschen Rundfunk in der FZ publiziert (»Arbeitsprobleme des Komponisten«, 10. 12. 1930), in deren »Literaturblatt« gleichfalls für die Anbruch-Debatte transparente Rezensionen von Adorno und Krenek erschienen sind (vgl. Unterberger, Krenek, S. 268). Aus einer Adorno-zentrierten Perspektive wird Krenek eher (nur) eine »Schleifsteinposition« zugesprochen, dass seine Ein- und Widersprüche Adorno – immerhin – zu einer Präzisierung von »Hintergrundannahmen« gezwungen haben (Ferdinand Zehentreiter : Die hohe Kunst der kategorialen Manipulation oder : Theodor W. Adorno versucht, Ernst Krenek für den musikalischen Fortschritt einzunehmen. In: Susanne Schaal-Gotthardt u. a. (Hgg.): »… dass alles auch hätte anders kommen können«. Beiträge zur Musik des 20. Jahrhunderts. Mainz: Schott 2009 (= Frankfurter Studien; Bd. 12), S. 249–260, hier S. 249). Vgl. dazu: Schmidt, Musik im »Scheinwerfer«-Licht. Hanns Gutman: Man trägt wieder Dur [1931]. In: Schütz/Vogt, Der Scheinwerfer, S. 201–207. Ders.: Über die Zukunft der Atonalität [1931]. In: Ebd., S. 214–216.

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dessen u. a. Ferruccio Busoni als Kompositionslehrer an die Berliner Akademie der Künste berufen wird.187 Seine Ästhetik einer »die Errungenschaften der musikalischen Vergangenheit reflektier[enden] und sie für die Gegenwart fruchtbar mach[enden]«188 Neuen Musik hat der italienische Komponist 1920 in einem Offenen Brief an Bekker als Junge Klassizität umrissen. Busonis Postulat, »alle musikalischen Errungenschaften über alle generischen und zeitlichen Grenzen hinweg auf optimale Weise zu benutzen«,189 ist von Einfluss auf Kreneks Opern-Ästhetik gewesen. Franz Roh kann zudem als ein »Adept« Busonis entdeckt werden: In der Nach-Expressionismus-Studie zitiert er dessen Brief-Manifest »als eines der frühesten Dokumente«190 magisch-realistischer Tendenzen, denen er in der Musik den nachexpressionistischen Schönberg zuschlägt.191 Was Roh zugunsten der als »Reaktion« inkriminierten »Rezeptionskunst« Magischer Realismus vorbringt,192 nimmt Gehalte der von Krenek späterhin gegen Adorno aufgebotenen Argumentation vorweg. Anwürfe, die Magischen Realisten lassen »das Chaos, mindestens die feindliche Gespanntheit der Epoche nicht spüren«,193 entkräftet Roh, indem er den Glauben »an einen geradlinigen Fortschritt der Kunst«194 hinterfragt. Im Künstlerischen, aber auch »im Ethischen, ja im Politischen« vernimmt er einen »Ruf nach Normen, Festigkeiten«, der in der »Ahnung, daß uns der ¦lan vital (etwa der Lebensphilosophie der vorigen Generation) nicht retten kann«, gründe.195 Unleugbar »[arbeiten] eine Fülle von Ordnungsversuchen (rechter wie linker) in den Seelen heutiger Menschen« und »[drängen] gerade die Besten nach Statik […], nach Bändigung des naturalistischen Chaos, als das sie die Bezüge zwischen den Nationen und zwischen den Klassen ansehen«.196 Von Statik ist zu Beginn der 1930er dann auch

187 In Auseinandersetzung mit Bekkers Schriften konkretisiert Kestenberg z. B. das Konzept der Gebrauchs- bzw. einer »schichtenumspannenden« Musik, mit dem er einen Nerv der Zeit, nämlich: den »allgemein verbreiteten ›Hunger nach Ganzheit‹ (Gay)«, getroffen hat (vgl. Unterberger, Krenek, S. 89f.). 188 Ricarda Wackers: Dialog der Künste. Münster : Waxmann 2004 (= Veröffentlichungen der Kurt-Weill-Gesellschaft Dessau; Bd. 5), S. 134. 189 Pieter Berg¦: Der Einfluss von Busonis Opernästhetik auf die sogenannten »Zeitopern« Ernst Krˇeneks. In: Revue Belge de Musicologie 59 (2005), S. 205–218, zit. S. 216f. 190 »Unter einer ›jungen Klassizität‹ verstehe ich die Meisterung, die Sichtung und Ausbeutung aller Errungenschaften vorausgegangener Experimente: ihre Hineintragung in feste und schöne Formen. […] Diese Kunst wird alt und neu zugleich sein« (zit. bei: Roh, NachExpressionismus, S. 112). 191 Da »auch hier neue Zusammenziehungen fühlbar [werden]«; ebd., S. 111. 192 Ebd., S. 97–99. 193 Ebd., S. 69. 194 Ebd., S. 97. 195 Ebd., S. 33. 196 Ebd., S. 70. – Vgl. dazu: Streim, Wunder und Verzauberung, S. 104: Mit Statik als zugleich auch ästhetischer Kategorie markiert Roh die Distanz der magischrealistischen Malerei

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bei Krenek wiederholt die Rede, etwa in einem Schema zu Französischem und deutschem Musikempfinden: Französische Musik sei dem Wesen nach »statisch, hell, klar organisiert, überschaubar, endlich in Struktur und Tendenz«, schließlich kultiviere der Franzose ein »statisches Lebensgefühl«. Der Deutsche dahingegen erfahre die »Welt in ununterbrochener, womöglich im Sinne eines unaufhaltsamen Fortschrittes zielhafter Bewegung« und fetischisiere folglich ein »kinetische[s]« Lebensgefühl.197 Dass damit auch politische »Empfehlungen« transportiert werden, das erhellt sich in Zusammenschau mit der bereits kommentierten Sieburg-Kritik: Der Konservativismus der Franzosen wird darin als (Königs-)Weg an jedwedem »Streben nach sozialem Fortschritt«, an Kollektivismen (»Versklavung des Individuums zu sinnlosem Zweck«) bzw. an Kämpfen »für das chimärische Ideal eines ›besseren‹ Lebens der kommenden Generationen« vorbei herausgestellt; »denn jede gewaltsame Veränderung der Lebensziele bringt Unordnung, Umstellung und Arbeit mit sich«.198 Diese politische Codierung des (Ideal-)Franzosen als Anti-Revolutionär199 datiert übrigens in das Erscheinungsjahr des Zweiten Surrealistischen Manifests, in dem die Annäherung der Surrealisten an den Marxismus offen zutage tritt: Le surr¦alisme au service de la r¦volution lautet der bezeichnende Titel einer gleichfalls 1930 neugegründeten Zeitschrift.200 Einen »Künder proletarischer Kampfziele«201 hat die Musikkritik in den 1920ern im frühen Krenek erkennen wollen und ihn etwa mit der »Szenischen Kantate in einem Akt« Die Zwingburg im politischen Spektrum links lokalisiert.202 In seinem ersten Musiktheaterwerk hat Krenek ja tatsächlich ein Revolutionsszenario entworfen – um aber, so Sebastian Kiefer, »das (gegenwärtige) Unvermögen der Masse, mit der ihr geschenkten Freiheit umzugehen«, abzu-

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zum Surrealismus, deren Bildwerke »nicht auf die zeitliche Verflüssigung, sondern auf die Illusion einer statischen Zeitlosigkeit der Dinge« zielen. EK: Französisches und deutsches Musikempfinden. In: Anbruch 11 (1929), H. 2, S. 53–57. Ders.: Über »Gott in Frankreich?« Von Friedrich Sieburg. In: Der Scheinwerfer 3 (1930), H. 17, S. 18f. – Vgl. die Reverenz vor dem vom »Gespenst der Rentabilität« noch nicht affizierten »statischen Wirtschaftsleben« im 18. Jh., das es dem feudalen Fürsten erlaubt habe, mäzenatisch tätig zu sein, in: Ders.: Das Weltbild der Musik. Vortrag für die Sozialdemokratische Kunststelle, Wien, 3. 11. 1932. Ms. (8 Bl.). Teilnachlass E. Krenek, Wienbibliothek im Rathaus [ZPH291]. Den Konstruktcharakter und somit die ideologische Geladenheit von Typisierungen wie der Deutsche/der Franzose reflektiert Krenek in: Ders.: Französisches und deutsches Musikempfinden. In: Anbruch 11 (1929), H. 2, S. 53–57, hier S. 53f. Vgl. Knut Nievers/Gerhard Wild: Breton, Andr¦: Manifeste du surr¦alisme. Online unter : http://kll-aktuell.cedion.de/nxt/gateway.dll/kll/b/k0098000.xml/k0098000_020.xml?f=tem plates$fn=index.htm$3.0 (Stand: März 2015), o.S. Eberhard Preußner : Ernst Krenek. In: Anbruch 11 (1929), H. 4, S. 154–159. Vgl. Unterberger, Krenek, S. 71 bzw. 75f.

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bilden.203 Kreneks spätere Affinität zu Statik als Ordnung (im epochalen Chaos) zeigt sich also bereits lange vor 1930.204 Das Zwingburg-Libretto hat mit Werfel205 der für Roh markanteste Vertreter magisch-realistischen Schreibens redigiert. Mit Kokoschka ist Krenek gleichfalls persönlich bekannt gewesen: Der Text zu Kreneks 1926 in Kassel uraufgeführter Oper Orpheus und Eurydike stammt schließlich aus der Feder des »Maler-Poeten«. Ernst Krenek, von den Nazis als »entarteter Künstler« diffamiert und vertrieben, ist nach 1945 nicht aus seinem US-amerikanischen Exil ohne Ende206 zurückgekehrt. Als umso ergiebiger erweist es sich, für den Komponisten und Schriftsteller an Vergessenes zu erinnern, etwa: an dessen Teilhabe an bzw. Rezeption von Avantgarde-Debatten von Wien aus. Mit »Überblendungen« des Surreal(istisch)en hin zu Oskar Kokoschka (bzw. dem Magisch-Real(istisch)en) oder zu Andr¦ Gide (bzw. dem Synthetischen) demonstriert Krenek in den hier zitierten Textzeugen seine Affinität zum »Romanischen« (Cocteau, Milhaud, Gide) in bewusster Abgrenzung zu der in seiner Wahrnehmung auch im Politischen präponderanten »deutschmitteleuropäischen« (Mahagonny-)Welt. Indes: An das Vergessene zu erinnern kann hier nicht zufriedenstellend gelingen, lässt man sich dabei nicht auch auf (gerne) tendenziell Verdrängtes ein. Der Glaube an eine katholische Avantgarde bzw. ein Radikalismus der Mitte gehören gleichfalls zum geistigen Inventar Kreneks, dessen partiell arriÀregardistische Disposition (heute noch) mitunter zu irritieren vermag.

203 Vgl. Kiefer, Kreneks Berliner Jahre, S. 126f. 204 Die Sehnsucht nach Ordnung sei eine Erklärung für das (nicht nur in Zwingburg) auffallende, Joseph Roths Sentiments verwandte »Zugleich« von tendenziell »monarchistischen und ›sozialistischen‹ Neigungen«. Aber die »reinliche Scheidung in ›links‹ und ›rechts‹ ist eh ein Wunschbild der Ideologen« (ebd., S. 129–131). 205 Krenek hat das Libretto gemeinsam mit dem Berliner Kinderarzt Fritz Demuth 1922 konzeptioniert. Dieser Ur-Text ist nicht erhalten, sodass das Ausmaß von Werfels Bearbeitung nicht nachvollzogen werden kann; uraufgeführt wurde das Werk 1924 in Berlin (vgl. Unterberger, Krenek, S. 73–75). 206 Für den Krenek-Kontext geprägt wurde diese Formel bei: Claudia Maurer Zenck: Ernst Krenek – ein Komponist im Exil. Wien: Lafite 1980.

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Abb. 1: Bühnenbild von Ernst Pirchan zu Ernst Krenek: Die Zwingburg, Staatsoper Berlin. In: Musikblätter des Anbruch 9 (1927) H.1/2 S. 103; mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition Wien; Ó Universal Edition Wien.

Abb. 2: Götter und Heroen [Strawinsky-Schönberg-Hindemith-Berg-Krenek-Bekker]. In: Der Auftakt 5(1925) H. 5–6, S. 131.

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Abb. 3: Collage (Textausschnitte aus (v.o.n.u.): Leipziger Neueste Nachrichten (11. 1. 1930), S. 16; Anbruch 12 (1930), H. 6 [Umschlag]; Der Querschnitt 10 (1930), H. 4, S. 237f.; Anbruch 14 (1932), H. 2/3, S. 42 bzw. 44f. – Bilddetails aus G. de Chiricos Römische Landschaft bzw. Stadtplatz, beide in: Franz Roh: Nach-Expressionismus. Leipzig: Klinkhardt & Biermann 1925 [Bildteil o.S.]).

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Janusköpfige Moderne: Der Querschnitt zwischen künstlerischer Avantgarde, Neuer Sachlichkeit und ›Habsburgischem Mythos‹*

Geht man mit Peter Bürger davon aus, dass die historischen Avantgardebewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts »die für die autonome Kunst wesentlichen Bestimmungen negieren«, nämlich die Abgehobenheit der Kunst von der Lebenspraxis sowie die individuelle Produktion und Rezeption,1 dann ließen sich von hier aus nicht nur Verbindungslinien zur davon lange abgetrennten Literatur-, Kunst- und Kulturbewegung der Neuen Sachlichkeit in den 1920er und frühen 1930er Jahren ziehen, sondern auch zum damit eng verbundenen Feld von Journalismus und proliferierendem Zeitschriftenwesen dieser Zeit. Zwar fehlt der Neuen Sachlichkeit ein gemeinsamer Gruppencharakter, verbunden mit einem avantgardetypischen Manifestismus ebenso wie der Wille zur öffentlichkeitswirksamen Provokation.2 In ihrer gleichwohl programmatischen Transgression der Grenzen zwischen journalistischer Reportage und Literatur, Literatursystem und Umwelt, Hoch- und Populärkultur, Kunst und Markt, Original und Kopie, Realität und Simulation arbeitet die technik-, medien- und konsumaffine Gebrauchsästhetik der Neuen Sachlichkeit in selbstironisch-didaktischer Weise indes ebenfalls an einer Überführung der Kunst in kollektive Lebenspraxis.3 Vordergründig scheint dies jetzt sogar für jedermann möglich und zugänglich zu sein, entbehrt aber dennoch nicht Tendenzen des Geniekults * Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten am 05. 07. 2013 im Rahmen der Tagung »Deutsche illustrierte Magazine – Journalismus und visuelle Kultur in der Weimarer Republik« an der Universität Erfurt und am 25. 01. 2014 im Rahmen der Ausstellung »Wien Berlin. Kunst zweier Metropolen. Von Schiele bis Grosz« in der Berlinischen Galerie. 1 Peter Bürger : Theorie der Avantgarde. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 72. 2 Vgl. Gregor Streim: Einführung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, S. 45f. sowie Wolfgang Asholt, Walter Fähnders: Einleitung. In: Dies. (Hgg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938). Sonderausgabe. Stuttgart-Weimar : Metzler 1995, S. XV–XXX. 3 Vgl. hierzu bereits Julia Bertschik: Die Ironie hinter der Fassade. Vicki Baums neusachliche Komödie aus dem Schönheitssalon »Pariser Platz 13« (1930). In: Vicki Baum: Pariser Platz 13. Eine Komödie aus dem Schönheitssalon und andere Texte über Kosmetik, Alter und Mode. Hg. u. mit einem Nachwort v. J. B. Berlin: AvivA 2012 (aktualisierte Neuaufl.), S. 192–216.

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und der Re-Auratisierung.4 Das lässt sich besonders gut am Beispiel der Zeitschrift Der Querschnitt zeigen, wo künstlerische Avantgarde, Neue Sachlichkeit und ›Habsburgischer Mythos‹, Berlin und Wien, in bewusst widersprüchlicher Montage einer janusköpfigen Moderne aufeinandertreffen. Zeitschriften wie Der Querschnitt fungieren dabei als wesentliche Foren, in denen die ästhetischen Debatten neusachlicher Künstler ausgetragen und formuliert werden.5 Gleichzeitig spielt insbesondere die illustrierte periodische Presse im Zeitalter der Massenmedien eine immer wichtigere, paratextuelle Rolle für die Positionierung und Inszenierung des Autors im literarischen Feld. Vor dem Hintergrund des historischen Avantgarde-Diskurses entsteht in der Nachfolge von Marcel Duchamps Ready-mades jetzt ein künstlerischer Produktionsbegriff, der sich durch den Akt des Auswählens und Zusammenstellens charakterisieren lässt: »Der Künstler löst sich damit einerseits von einem traditionellen Gedanken der künstlerischen Neuschöpfung, um andererseits das vorgefundene und ausgewählte Material neu zu arrangieren«.6 Ein solcher Begriff von »Produktion als Rezeption« entspricht damit schon Roland Barthes’ Vorstellung vom Tod des Autors, der hier im Konzept des Autors als Arrangeur erscheint.7 Wie im Folgenden zu sehen, entspricht ein solch avantgardistisches Autorkonzept aber in geradezu idealtypischer Weise sowohl Namen wie Programm der Berliner Zeitschrift Querschnitt. Neben dadaistischen Einflüssen der Collagetechnik, insbesondere im Text-Bild-Bereich, mag hier auch Karl Kraus in seiner für Österreich und Wien widersprüchlichen Rolle der Verhinderung wie der Stärkung avantgardistischer Strömungen8 eine Rolle gespielt haben. Denn eine kaleidoskopische Kombination des Heterogenen als adäquatem »Ausdruck der [Zwischenkriegs-]Zeit«, vergleichbar mit den zeittypischen Unterhaltungs- und Kunstformen des Kabaretts und des Schaufensters, der Revue und der Collage, gilt als Gestaltungsprinzip des Querschnitt, dessen Name

4 Vgl. Julia Bertschik: »Mr. Ford nimmt Pferde in Zahlung…«. Reklame als Alltagsdiskurs neusachlicher Ästhetik in Stefan Großmanns Zeitschrift Das Tage-Buch (1920–1933). In: Primus-Heinz Kucher, J. B. (Hgg.): »baustelle kultur«. Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918–1933/38. Bielefeld: Aisthesis 2011, S. 331–348. 5 So auch Sabina Becker : Neue Sachlichkeit. Bd. 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920–1933). Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2000, S. 48. 6 Felix Vogel: Autorschaft als Legitimation. Der Kurator als Autor und die Inszenierung von Autorschaft in The Exhibitionist. In: Sabine Kyora (Hg.): Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld: transcript 2014 (Praktiken der Subjektivierung, Bd. 3), S. 157–176, hier S. 159f. (herausgehoben im Orig.). 7 Ebd., S. 172. 8 Vgl. dazu Zolt‚n P¦ter : Karl Kraus und die Avantgarde – eine mehrschichtige Beziehung. In: LiTheS Nr. 6/2011, S. 62–94 und seinen Beitrag im vorliegenden Band sowie Marko Milovanovic: »… ich habe gemalt, was sie nur taten«. Karl Kraus und die Neue Sachlichkeit. Bonn: Weidle 2013 (Edition Kritische Ausgabe, Bd. 4).

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damit Programm ist.9 1921 wurde er zunächst als Mitteilungsblatt für bildende Kunst im Selbstverlag gegründet vom Düsseldorfer Galeristen Alfred Flechtheim, einem wichtigen Förderer avantgardistischer Kunst. Das dann seit 1924 von Hermann von Wedderkop im renommierten Berliner Ullstein-Verlag unter wechselnden Redakteuren herausgegebene Zeitgeistmagazin für moderne Kunst, Lifestyle, Sport und Erotik erreichte zu seinen Glanzzeiten zwischen 1928 und 1929 eine Auflage von ca. 20.000 Exemplaren. Von Anfang an gehörten Österreicher wie Franz Blei, Alexander Roda Roda und Anton Kuh nicht nur zu den festen Mitarbeitern des Blattes. Sondern es fungierten mit Wilhelm Graf von Kielmansegg, einem Nachfahren von im österreichischen Exil lebenden Adligen,10 und Victor Wittner auch Österreicher in den verantwortlichen Positionen zeitweiliger Herausgeber und Chefredakteure des Querschnitt, der seit 1926 zudem eigene Büros in Wien und Prag unterhielt.11 Die zum damals stattlichen Preis von 1,50 Mark verkaufte Zeitschrift sollte kein Massenblatt darstellen, sondern im mondänen, ja snobistischen Sinne alte und neue Eliten, Aristokraten ebenso wie neureiche Millionäre und Kunstsammler der Zwischenkriegszeit ansprechen.12 Während das in jüngerer Zeit zunehmende Interesse am Querschnitt als dem – laut Gregor Streim – »publizistischen Flaggschiff der Neuen Sachlichkeit« dabei in erster Linie der avantgardistischen Sportberichterstattung bzw. den systematischen Analogisierungen und Kontaminationen von Sport und Kunst im Text- und Bildbereich als einer »Transgression der Grenze von Eliten- und Massenkultur« galt,13 so lässt

9 Vgl. Wilmont Haacke: Längsschnitt des Querschnitt. In: W. H., Alexander von Baeyer (Hgg.): Facsimile. Querschnitt durch den Querschnitt. München-Bern-Wien: Scherz 1968 (Facsimile. Querschnitte durch Zeitungen und Zeitschriften, Bd. 11), S. 5–24, hier S. 10f. u. S. 13; Anne Fleig: Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports. BerlinNew York: De Gruyter 2008 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 51), S. 102 sowie Bettina Deininger, Ulrike Felger : »Der Stoff liegt auf der Straße« – Der Querschnitt. In: Patrick Rössler : Moderne Illustrierte. Illustrierte Moderne. Zeitschriftenkonzepte im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Württembergische Landesbibliothek 1998, S. 27–37, hier S. 34. 10 Vgl.: Familien-Chronik der Herren, Freiherren und Grafen von Kielmansegg. Zusammengestellt v. Eduard Georg Ludwig William Howe Grafen von Kielmansegg, Erich Friedrich Christian Ludwig Grafen von Kielmansegg. Leipzig-Wien: F.A. Brockhaus 1872. 11 Vgl. Christine Schulze: Der Querschnitt (1921–1936). In: Heinz-Dietrich Fischer (Hg.): Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts. Pullach: Verlag Dokumentation 1973 (Publizistik-Historische Beiträge, Bd. 3), S. 379–391, hier S. 385. 12 Vgl. Haacke: Längsschnitt des Querschnitt (wie Anm. 9), S. 11 u. S. 18. 13 Vgl. Gregor Streim: Zwischen Weißem Rößl und Mickymaus. Wiener Feuilletonisten im Berlin der zwanziger Jahre. In: Bernhard Fetz, Hermann Schlösser (Hgg.): Wien – Berlin. Mit einem Dossier zu Stefan Großmann. Wien: Zsolnay 2001 (Profile Jg. 4, Bd. 7), S. 5–21, hier S. 6 und Kai Marcel Sicks: »Der Querschnitt« oder: Die Kunst des Sporttreibens. In: Michael

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sich für eine Analyse der österreichischen Beteiligung (nicht nur) an diesem Berliner Ullstein-Magazin der Zwischenkriegszeit jedoch eher von einem Forschungsdesiderat sprechen.14 Ihm sollen die folgenden Überlegungen entgegenwirken. Denn im elitär ausgerichteten Querschnitt lieferten gerade österreichische Autorinnen und Autoren wie Billie Wilder, Joe Lederer, Leo Lania oder Lili Körber nicht nur Berichte in den bekannten Alltags-, Lifestyle-, Geschlechter-, Amerika- und Russland-Kontexten der Neuen Sachlichkeit. Im Gegenteil. Im Querschnitt schrieben ebenso an Rokoko-, Dandyismus- und BohÀme-Kontexten interessierte Beiträger wie Franz Blei und Richard von Schaukal sowie in adlig-militärisch-katholische Kontexte der Vorkriegszeit involvierte Autoren wie Adalbert Graf Sternberg, Alexander Lernet-Holenia oder Leopold Wölfling, der ehemalige Erzherzog von Österreich. Sie bedienten im Querschnitt zudem das ›spezialdiskursive‹ Kontrastprogramm zur Neuen Sachlichkeit, nämlich die Anbindung und Fortführung dessen, was seit dem italienischen Germanisten Claudio Magris als das Fortleben des »habsburgischen Mythos in der modernen österreichischen Literatur« nach dem Ersten Weltkrieg bekannt geworden ist15 – so lautet der Titel seiner Studie von 1963, neuaufgelegt im Jahr 2000. Mit einer Darstellung eben solcher Konfrontationen von ›Habsburgischem Mythos‹ und Neuer Sachlichkeit kann aber gerade das querschnitthafte »Durcheinander des Salat-Prinzips«16 dieser durch Österreicher mitgeprägten Berliner Zeitschrift, im Sinne avantgardistischer, das Material neu arrangierender Autorschafts-Modelle, dokumentiert werden. Die Spezialität des Querschnitt bestand dabei nicht nur in der kontroversenartigen Text-Montage unterschiedlicher Artikel progressiver und konservativer Ausrichtung, sondern auch im ausführlichen Abbildungsmaterial. Dieses befindet sich sowohl zwischen den Artikeln eingestreut wie in eigenen Bildteilen angeordnet, welche das Cowan, K.M. S. (Hgg.): Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933. Bielefeld: transcript 2005, S. 33–47, hier S. 34. 14 Vgl. hier inzwischen jedoch: Julia Bertschik, Primus-Heinz Kucher, Evelyne Polt-Heinzl, Rebecca Unterberger : 1928. Ein Jahr wird besichtigt. Wien: Sonderzahl 2014, S. 106–152. 15 Vgl. Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur [Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna 1963]. Übers. v. Madeleine von P‚sztory, Renate Lunzer. Wien: Zsolnay 2000 und Rolf Parr : Kompetenz: Multi-Interdiskursivität. In: Dieter Heimböckel [u. a.] (Hgg.): Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un-)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften. München: Fink 2010, S. 87–100, hier S. 89 sowie insbesondere Leopold Wölflings Beiträge für den Querschnitt-Jahrgang von 1933: Wie benimmt sich ein Exprinz zu seinen Standesgenossen. In: Der Querschnitt 13, Nr. 1/1933: Der neue Knigge, S. 29f.; Getäuschte Restaurationshoffnungen. In: Der Querschnitt 13, Nr. 9/1933: Familie und Verwandtes, S. 593–595 sowie: Familienszene unter Habsburgern. In: Der Querschnitt 13, Nr. 9/1933: Familie und Verwandtes, S. 621f. 16 So Haacke: Längsschnitt des Querschnitt (wie Anm. 9), S. 6.

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neue Medium der Fotografie nutzen. Auch hier geht es, über die rein drucktechnischen Gegebenheiten hinaus, um das Prinzip der kontrastiven Gegenüberstellung durch die systematische Anordnung scheinbar unvereinbarer, polarer Codes wie Mensch und Tier, Mensch und Maschine, Individuum und Masse. Durch die emblematische Kombination mit Bildüber- und Unterschriften wurden deren Ironiesignale zusätzlich noch unterstrichen. So finden sich in einem Bildteil des Jahrgangs 1932 unter dem Titel »Kameradschaft« untereinander angeordnet ein Foto von Alexander »Roda Roda als Reitlehrer in Slavonien (1900)«, der unter seinem Pferd sitzt, mit einer Abbildung »Im Berliner Zoo«, wo eine Ziege unter einem Elefanten sitzt.17 Zugleich geht es hier um eine ironische Auseinandersetzung mit dem österreichisch-ungarischen Reit- und Militärhintergrund Roda Rodas im Kontext des ›Habsburgischen Mythos‹, also um die nostalgisch eingefärbte Erinnerung an die untergegangene k.u.k. Doppelmonarchie der Jahrhundertwende. Neben den unterhaltenden Effekten wurden dadurch im neusachlichen Sinne eines ›strukturellen Sehens‹ und des bilddidaktischen Vergleichs vermeintliche Medienkompetenzen der Leser im Querschnitt immer wieder auf die Probe gestellt. In ihrer feldübergreifenden medialen Ästhetik der Bedeutung generierenden, »intra- und intermedialen Differenz« von um-, ein- und überschreibenden »Transkriptionen« des wechselseitig-oszillierenden Kommentierens wirkte der Querschnitt damit zwar stilbildend für andere Zeitgeist-Magazine, war jedoch nicht ohne Vorbild.18 Und dieses stammt – möglicherweise – wiederum aus Österreich. Denn gerade in den Anfangsheften des Querschnitt wird wiederholt, in lobender wie kritischer Hinsicht, auf Karl Kraus, sein Dokudrama Die letzten Tage der Menschheit, seine Aphorismen und seine satirische Zeitschrift Die Fackel hingewiesen.19 Hier hatte Kraus bereits vor dem Ersten Weltkrieg in dadaistischer Manier, verbunden mit politisch operativen, sprachund literaturkritischen Absichten, ein (foto)montierendes Kontrast- und Zi17 Der Querschnitt 12, Nr. 1/1932 [unpag.]. 18 Vgl. hingegen Gerhard F. Hering: Der Querschnitt. In: W. Joachim Freyburg, Hans Wallenberg (Hgg.): Hundert Jahre Ullstein 1877–1977. Bd. 2. Frankfurt/M.-Berlin-Wien: Ullstein 1977, S. 209–255, hier S. 247 (»[…] diese Methode des Kontrastierens [im Querschnitt] zum ersten Male entwickelt […] wurde«) sowie Sicks: »Der Querschnitt« (wie Anm. 13), S. 41 und Ludwig Jäger: Die Verfahren der Medien: Transkribieren – Adressieren – Lokalisieren. In: Jürgen Fohrmann, Erhard Schüttpelz (Hgg.): Die Kommunikation der Medien. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 69–79, hier S. 71. 19 Vgl. [Anonym:] Letzter Bücher-Querschnitt. In: Der Querschnitt 3, Nr. 1/2/1923, S. 79–81, hier S. 80 (positive Rezension über Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit); Rosenthal: Letzter Bücher-Querschnitt I. In: Der Querschnitt 3, Nr. 3/4/1923, S. 175–180, hier S. 179 (Lese-Empfehlung von Kraus’ Fackel); Rosenthal: Karl Kraus: Sprüche und Widersprüche. In: Der Querschnitt 4, Nr. 1/1924, S. 55 (Hinweis auf dieses leider vergriffene Kraus-Buch) und Franz Blei: II. Amerikanisches. I. Menckens American Mercury. In: Der Querschnitt 4, Nr. 2/3/1924, S. 163f. (Vergleich mit Kraus’ Fackel, allerdings zu Ungunsten von Kraus).

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tatschema im Text- und Bildbereich etabliert, wie es ein Beispiel aus der Fackel von 1913 demonstriert: Zu sehen ist Kraus’ beliebtes Hassobjekt, der JungWiener Schriftsteller Hermann Bahr, als – laut Überschrift – »Ein gut erhaltenen Fünfziger« im Reformkleid am Lido in Venedig. Die beiden Texte darunter bieten eine widersprüchliche, sich wechselseitig kommentierende Parallelmontage aus Bahrs Geldforderung gegenüber dem Theaterdirektor Gabor Steiner auf der linken (»Gabor Steiner kontra Hermann Bahr«) und einem autobiografischen Statement Bahrs auf der rechten Seite (»Das Geld«), in dem er seine angebliche Abneigung gegenüber ›schmutzigen Geldgeschäften‹ schon seit Kindertagen darstellt.20 Gerade eine solche Fortsetzung dadaistischer Methoden der dokumentarischen Montage in neusachlichen Kontexten der zwanziger Jahre ist charakteristisch für das Profil und vor allem für die Bildmontagen des Querschnitt. Zugleich operierte Kraus als Autor-Arrangeur im avantgardistischen Sinne auch schon mit Verfahrensweisen, die im Sinne eines archäologischen Indizienparadigmas der Moderne aus den vorgefundenen »kleinen Tatsachen des Lebens« – Heiratsannoncen oder Reklameplakate – das »Extrakt« der modernen Alltagswelt destillierten.21 Dieser typisch neusachliche »Enthusiasmus für das Detail der Dinge«, für vorgefundene und neu arrangierte Objekte und Sachen erzeugt – dann auch im Querschnitt – eine kulturphysiognomische ›Phänomenologie der Oberfläche‹, die als Zeitsignatur der Zwischenkriegszeit gelten kann.22 Im Querschnitt wird dies erneut – und diesmal explizit – mit einem weiteren österreichischen Vorläufer verbunden, nämlich mit Freuds Psychopathologie des Alltagslebens von 1904. Dieser Text gilt im Querschnitt-Beitrag Das Metarestaurant des Wieners Paul Hatvani 1928 als Vorbild für eine heutzutage, wo alltägliche »Symptome so oft Symbole sind«, zu schaffende »Metaphysik des Dining-Rooms«, ganz im neusachlichen Sinne einer »Soziologie der Speisenkarte«. Seine eigenen Betrachtungen versteht Hatvani dabei als (nicht nur augenzwinkernde) »[Vorbemerkungen] zu [dieser] künftigen Wissenschaft«, die sich nicht vor Alltagsbanalitäten zu fürchten habe.23 Im Querschnitt orientierte 20 Karl Kraus: Ein gut erhaltener Fünfziger. In: Die Fackel 15, Nr. 381–383/19. 09. 1913, S. 33–41, hier S. 33–36. 21 Vgl. Karl Kraus: Die Welt der Plakate. In: Die Fackel 11, Nr. 283–284/26. 06. 1909, S. 19–25, hier S. 19 u. S. 21 sowie Karl Riha: ›Heiraten‹ in der »Fackel«. Zu einem Zeitungs-Zitat-Typus bei Karl Kraus. In: Text + Kritik 1975, S. 116–126. 22 Vgl. Stefan Großmann: Der rasende Reporter. In: Das Tage-Buch 5, Nr. 47/22. 11. 1924, S. 1654f., hier S. 1655 sowie Julia Bertschik: ›Arbeit am Klischee‹ oder »Vom Wesen der Mode«: Helen Hessel-Grund und Vicki Baum. Zwei Beiträge zur Zeitsignatur der Oberfläche in der Weimarer Republik. In: Primus-Heinz Kucher (Hg.): Literatur und Kultur im Österreich der Zwanziger Jahre. Vorschläge zu einem transdisziplinären Epochenprofil. Bielefeld: Aisthesis 2007, S. 119–134, hier S. 119f. 23 Vgl. Paul Hatvani (Wien): Das Metarestaurant. In: Der Querschnitt 8, Nr. 4/1928, S. 255–257,

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man sich allerdings eher am Kraus’schen Kontrastschema einer paradoxen Parallelmontage ›aktueller Ewigkeitswerte‹, wie es auch die widersprüchliche Gestaltung direkt aufeinander folgender Titelbilder demonstriert:24 So 1931 durch die von George Grosz im dynamisch-neusachlichen Stil gestaltete Titelzeichnung einer Filmszene mit ihrem biedermeierlichen Pendant nur ein Heft später, nämlich einem volkstümlichen Stich von Paul Gavarni, einem französischen Mode- und Gesellschaftslithografen des 19. Jahrhunderts. Letztere könnte geradezu einen Kostümentwurf für das Wiener Volkstheater vorstellen – Reminiszenzen an Johann Nestroy finden sich ebenfalls durchgehend im Berliner Querschnitt, ganz im Gegensatz zu Nestroys weitgehender Nichtexistenz auf deutschen bzw. auf Berliner Bühnen damals wie heute. Ein solch janusköpfiges Kontrastschema entsteht im Querschnitt gerade aus der ungleichzeitigen Kombination von Klischeebildungen im Sinne des österreichischen Spezialdiskurs vom ›Habsburgischem Mythos‹ und imWesentlichen mit der Weimarer Republik verbundenen, neusachlichen Themen und Positionen, also mit Berlin und Wien, Tradition und Moderne, wie im Folgenden weiter zu sehen. So findet sich im ersten Heft des nun vom Österreicher Victor Wittner verantworteten Querschnitt-Jahrgangs von 1929 ein von ihm selbst verfasster Artikel über prominente amerikanischen Filmdiven wie Colleen Moore. Sie verkörpert auch für Wittner den quirlig-dynamischen, neusachlichen Frauentyp des »Girl«.25 Ein dafür typisches Foto Moores mit kurzer Bubikopf-Frisur und auffälligem Make-up ist allerdings nicht hier, sondern im späteren Bildteil abgedruckt, und zwar direkt neben einem Artikel von Karl Tschuppik über Die hundert Familien. Österreichische Gesellschaft gestern und heute. Die Lobpreisung der Tradition altösterreich-ungarischer Adelsgeschlechter, denen sich später auch die Wiener Finanzdynastie angeschlossen habe, bewegt sich in Tschuppiks Artikel dabei ganz im nostalgischen Sinne des ›Habsburgischen Mythos‹: Der Untergang Oesterreichs und die Degradierung Wiens zur Hauptstadt eines kleinen Landes haben die genau hundert Jahre alte, ehedem »zweite« Gesellschaft völlig zerstört, nicht aber die vor dreihundert Jahren geborene Hofgesellschaft der österreichischen Aristokratie. Die berühmten hundert Familien verloren an Reichtum, Macht und politischer Geltung; ihr sozialer Zauber, ihre Ausschließlichkeit – von einzelnen hier S. 255 u. S. 257 sowie in ähnlicher Ausrichtung auch Vivo [d.i. Victor Wittner]: Zur Soziologie und Weltgeschichte der Ohrfeige. In: Der Querschnitt 11, Nr. 7/1931, S. 494f.; Franz Blei: Das Schlagwort. In: Der Querschnitt 11, Nr. 12/1931, S. 848 und ders.: Zigaretten und Zigarren. In: Der Querschnitt 9, Nr. 11/1929, S. 792–794. 24 Vgl. Hermann von Wedderkop: Standpunkt. In: Der Querschnitt 3, Nr. 1/2/1923, S. 1–6, hier S. 5 sowie: Der Querschnitt 11, Nr. 1/1931 und: Der Querschnitt 11, Nr. 2/1931. 25 Victor Wittner : Filmdiven. In: Der Querschnitt 9, Nr. 1/1929, S. 7–9, hier S. 9.

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Absplitterungen abgesehen – sind geblieben. Das Kunstwerk aus Fleisch und Blut hat den politischen Bau überlebt.26

Das »alte habsburgische Österreich« stellt sich hier zudem »als eine glückliche und harmonische Zeit [dar], als geordnetes und märchenhaftes Mitteleuropa […], in dem die Zeit nicht so schnell zu vergehen sch[eint] […] Im verwandelnden Spiegel der Erinnerung [ist] Österreich-Ungarn ›ein alter Staat, von einem greisen Kaiser beherrscht, von alten Ministern regiert […]‹«, angefüllt mit festen Werten, aber auch mit musikalischen Stimmungen, übernational und hedonistisch. Nicht anders lautet später dann ja auch die Charakteristik in Claudio Magris’ einflussreicher Studie,27 welche dazu einleitend auf Stefan Zweigs, allerdings erst im späteren Exil verfasste Erinnerungen an eine Welt von Gestern – so der Titel bei Zweig – zurückgreift. Eine solche Beschreibung steht damit in deutlichem Gegensatz, aber auch in partieller Übereinstimmung zum modisch-modernen Image des einerseits temporeich-jugendlichen, unabhängig-berufstätigen, andererseits naiv-nüchternen und sexuell aufgeschlossenen, also selbst schon in sich widersprüchlichen ›Neuen Frauen‹-Typs. So, wie er am Beispiel des amerikanischen Filmstar-›Girls‹ der im Querschnitt dazu beigeordneten fotografischen Abbildung zu sehen ist. Und auch der charakteristische Rubrikentitel Bücher-Querschnitt der Buchrezensionen ist in diesem Sinne wiederum Programm: Findet sich hier 1931 doch z. B. Paul Elbogens positive Rezension einer Anthologie konservativvolkstümlich ausgerichteter Autoren wie Karl Heinrich Waggerl und Guido Zernatto als »echt österreichisch« neben Franz Bleis gleichfalls lobender Besprechung von Dos Passos’ zeitgenössischem Kultbuch des filmischen »Kameraugen«[!]-Stils in dessen Roman Der 42. Breitengrad.28 Ein Jahr später ist es wieder Victor Wittner, der auf ein- und derselben Seite des Querschnitt sowohl im neusachlichen Sinne einer ›männlichen‹ Literatur die »Schule Hemingway [s]« als »Schule der Härtung« allen »europäischen Kunstschülern« empfiehlt als auch eine von Karl Kraus edierte Buchauswahl Peter Altenbergs als willkommene Ablösung der »neuen Sachlichkeit« durch eine unvergängliche »neue Herzlichkeit« und damit zugleich – ganz im Sinne des ›Habsburgischen Mythos‹ – als den »reichste[n] Bilderatlas der Kulturgeschichte Wiens, des verlorenen Paradieses Österreich[s]« anpreist.29 Inwiefern Neue Sachlichkeit und ›Habsburgischer Mythos‹ im Querschnitt 26 Karl Tschuppik: Die hundert Familien. Österreichische Gesellschaft gestern und heute. In: Der Querschnitt 9, Nr. 1/1929, S. 12–15, hier S. 15. 27 Magris: Der habsburgische Mythos (wie Anm. 15), S. 19–33, hier S. 19. 28 Bücher-Querschnitt. In: Der Querschnitt 11, Nr. 1/1931, S. 66–71, hier S. 69f. 29 Vgl. V[ictor] W[ittner]: George Milburn: Die Stadt Oklahoma. Verlag Rowohlt, Berlin. In: Der Querschnitt 12, Nr. 11/1932, S. 838 und ders.: Peter Altenberg, Auswahl aus seinen Büchern von Karl Kraus. Verlag Anton Schroll, Wien. In: ebd., S. 838f.

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aber nicht nur nebeneinander existieren, sondern sogar miteinander verzahnt werden können, macht 1931 eine Rezension Wittners über den Roman Karriere seines Landsmanns Robert Neumann deutlich. Durch Kurt Tucholskys später entkräfteten Plagiatsvorwurf wurde gerade Neumanns Text, aufgrund seiner auffälligen thematischen wie sprachlichen Analogien, – fälschlicherweise – als Prätext für Irmgard Keuns ein Jahr später erschienenen, dezidiert neusachlichen Roman Das kunstseidene Mädchen angesehen.30 Die zeittypischen inhaltlichen wie stilistischen Parallelen beider Texte lassen sich besonders anschaulich an der Synopse einer dafür exemplarischen Textstelle demonstrieren, vor allem, was das hier jeweils eingesetzte Dingsymbol des Prestigeobjekts eines beide Male entwendeten Pelzmantels aus der Sicht der Provinz-flüchtigen Protagonistinnen von Keuns Doris, welche in Berlin bekanntlich ein ›Glanz‹ werden will, bzw. von Neumanns österreich-ungarischer Erna betrifft: Mit einem Pelzmantel kann die Dame nicht auskommen. Höchstens schwarz, weil man das nicht gleich wiedererkennt, wenn sie am Vormittag den Kragen offen tragt auf der Promenade und am Abend für die Lokale ihn aufstellt – besonders natürlich wenn sie einen anderen Hut nimmt. Das hab ich auch dem Ren¦ gesagt. »Lieber Baron«, hab ich ihm gesagt, »lieber Ren¦, entweder einen zweiten Mantel – oder mit zehn Rössern bringst du mich nicht mehr auf die Promenad!« Er aber immer nur »wart nur, ja, wart nur, nächstens, bis wir in Amerika sind!« Das mit Amerika hat mir gleich nicht geschmeckt. Was macht ein Baron in Amerika? […] Ich also nach Warschau – einen Pelzmantel übrigens hat unterwegs eine Dame in einer Bahnhofsrestauration mit meinem Gummi[-Regen]mantel verwechselt, er laßt schon durch, so ein Zufall – […] (Robert Neumann: Karriere 1931)31 Da sah ich an einem Haken einen Mantel hängen – so süßer, weicher Pelz. So zart und grau und schüchtern, ich hätte das Fell küssen können, so eine Liebe hatte ich dazu. Es sah nach Trost aus und Allerheiligen und nach hoher Sicherheit wie im Himmel. Es war echt Feh [d.i. Eichhörnchenfell; J. B.]. Zog ich leise meinen Regenmantel aus und den Feh an […] So hochelegant bin ich in dem Pelz. Der ist wie ein seltener Mann, der mich schön macht durch Liebe zu mir. Sicher hat er einen dicken Frau unrichtig gehört – einer mit viel Geld. Er hat Geruch von Schecks und Deutscher Bank. (Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen 1932)32

30 Vgl. dazu Walter Delabar : Was tun? Romane am Ende der Weimarer Republik. OpladenWiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999, S. 113–116. 31 Robert Neumann: Karriere. Stuttgart: Engelhorn 1931 (Blinde Passagiere, Bd. 2), S. 58 u. S. 61. 32 Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen. Roman. Nach dem Erstdruck von 1932, mit einem Nachwort u. Materialien hg. v. Stefanie Arend, Ariane Martin. Berlin: Classen 2005, S. 59f. u. S. 62.

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Victor Wittner schreibt nun im Querschnitt über Neumanns Roman – und dies ließe sich mit wenigen Abstrichen ebenso gut auf Keuns späteren Roman beziehen: Die Karriere seiner Heldin, des Tingeltangelmädchens Erna, die in Arad, einer Stadt zwischen Budapest und Bukarest, beginnt und in Arad endet, wird von ihr selbst erzählt, nein, gesprochen, und vom Autor mit phono-, ja pornographischer Naturtreue wiedergegeben. Der Stil ist naturalistisch, der Ton ordinär, die Erzählung sehr amüsant. Das ist die ewige österreichisch-ungarische Sprache, das Komiß-Deutsch der Provinz, und diese Sprache wird trotz dem Zerfall der vielsprachigen Monarchie nie untergehn.33

Was hier im Sinne des ›Habsburgischen Mythos‹ als »ewige österreichisch-ungarische Sprache« der inzwischen zerfallenen »vielsprachigen Monarchie« angesehen wird, ist für Neumanns wie für Keuns Roman aber gemeinhin als alltagssprachlich-neusachlicher Jargon ihrer kleinbürgerlich-karrieristischen Protagonistinnen mit den dafür typischen Ellipsen und Zeugmata unpassender oder ganz fehlender grammatikalischer Verbindungen charakterisiert worden.34 Genau in dieser umwertenden Verbindung finden also im programmatischen ›Durcheinander des Salat-Prinzips‹ des Querschnitt paradoxerweise die ›aktuellen Ewigkeitswerte‹ ihren Platz, etwas, was »uralt ist und doch immer wieder frisch und jung schmeckt«, wie es hier auch an anderer Stelle heißt.35 Und das sollte nicht das einzige Beispiel bleiben. So vermischt etwa Anton Kuh im Querschnitt von 1927 in gleich vier Artikeln das Wiener Klischee der ›süßen Mädel‹ als »Makart-Ausgabe[n] der RevueGirls« mit dem amerikanisierten Girl-, bzw. dem neusachlichen GarÅonneTypus französischer Prägung.36 Billie Wilder begründet im Querschnitt von 1929 den Hollywood-Erfolg des österreichischen Schauspielers und Regisseurs Erich von Stroheim gerade mit dessen Kenntnis Alt-Wiener Klischees. In Wilders 33 Wtt. [Victor Wittner]: Robert Neumann, Karriere. In: Der Querschnitt 11, Nr. 9/1931, S. 653. 34 Vgl. Helmut Lethen: Der Jargon der Neuen Sachlichkeit. In: Germanica 9/1991, S. 11–35, hier S. 19 sowie Julia Bertschik: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770–1945). Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2005, S. 210–212. 35 Oskar Maurus Fontana: Hans Carossa. In: Der Querschnitt 13, Nr. 3/1933, S. 227. 36 Vgl. Anton [Kuh]: Das K. K. Ballettmädel. In: Der Querschnitt 7, Nr. 2/1927, S. 96–98, hier S. 97 (»Sie waren sozusagen die Makart-Ausgabe der Revue-Girls«); ders.: Margarete Köppke. In: Der Querschnitt 7, Nr. 3/1927, S. 221f., hier S. 221 (»[…] Elite- und ParforceBackfisch der Wiener Bühne […] Natürlich neuesten Jahrgangs, — la garÅonne; so daß man ihr neben Juckpulverspäßen auch Hotelabenteuer zutraut«); ders.: Charlies »culpa«. In: Der Querschnitt 7, Nr. 3/1927, S. 232–234, hier S. 232 (»[…] die kindisch-freche, sportdressierte, amerikanische Zuckerpuppe […] Der Wiener […] nennt solche Geschöpfe ›Katzerln‹«) und ders.: Gisela Werbezirk. In: Der Querschnitt 7, Nr. 8/1927, S. 578f. (»dieser Name [wirkt] so barock und trivial zugleich wie seine Trägerin […] [er] kündet einen Bezirk – und welchen andern, als jenen bestimmten, Leopoldstadt genannten, den Kaiser Joseph II. den Wiener Juden als Domizil zuwies?« vs. »ihre geniale, sachliche Unromantik«).

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Berlin-typischem Beitrag Die B.Z.-Frau und der deutsche Kronprinz kombiniert er im selben Jahr zudem neusachliche Ingredienzien der Jetztzeit (den Serienmörder Fritz Haarmann, Lindbergh- und Zeppelinflug) mit einer Aristokratieseligen Vorkriegs-Anekdote um den – diesmal – deutschen Kronprinzen.37 Und sogar im neusachlichen Sinne typisch Amerikanisches, wie ein Interview mit der schwarzen Nackttänzerin Josephine Baker durch den ungarischen QuerschnittKorrespondenten Emerich Seidner oder ein Besuch des preußischen Prinzen Louis Ferdinand bei Henry Ford, dem Perfektionisten der Fließbandtechnik im Automobilbau, wird hier mit hegemonial Österreichischem wie Wiener Schnitzel und »Altwiener Walzerweisen« wie der »Schöne[n] blaue[n] Donau« in Verbindung gebracht, selbst noch in Amerika gespielt von einer »[Heurigen-]›Schrammelkapelle‹, die ebenso gut irgendwo [im Wiener Stadtteil] Grinzing hätte sitzen können«.38 Damit scheint sich im Querschnitt eine Diskursstrategie abzuzeichnen, die als paradigmatisch für die neusachlich geprägte Moderne der Zwischenkriegszeit gelten kann. Sie enthüllt einmal mehr, »daß Versuche, schattenlose Diskurse der Modernität herzustellen (ohne die Schatten der Ambivalenz, der Ungleichzeitigkeit, der Risiken) fatal an ihren unsichtbaren Gegenspieler gebunden bleiben« und sich in ihnen daher »Wärme- und Kälteströme mischen«. So hat Helmut Lethen sein eigenes Polaritätsschema humanistisch gesinnter Modernisierungsgegner und neusachlich eingestellter Modernisierungsbefürworter innerhalb des dafür signifikanten Technikdiskurses dieser Zeit selbst wieder relativiert.39 Auf die Verschränkung von Neuer Sachlichkeit und Geniekult an Brechts Bild vom einsam boxenden Dichter hat darüber hinaus Kai-Marcel Sicks aufmerksam gemacht, während, laut Norbert Bolz, gerade der Wiener Architekt »Adolf Loos das Programm der Neuen Sachlichkeit als Vollzugsform einer

37 Vgl. Billie Wilder : Stroheim, der Mann, den man gern haßt. In: Der Querschnitt 6 [!], Nr. 4/ 1929, S. 293–295 und ders.: Die B.Z.-Frau und der deutsche Kronprinz. In: Der Querschnitt 9, Nr. 2/1929, S. 143f. 38 Vgl. Emerich Seidner : Warum haßt Josephine Baker ihre Heimat? In: Der Querschnitt 12, Nr. 3/1932, S. 204–206, hier S. 205 und Dr. Louis Ferdinand Prinz von Preußen: Ein Besuch bei Henry Ford. In: Der Querschnitt 13, Nr. 6/1933, S. 373–379, hier S. 377 sowie zur ›wienerischen Eingemeindung‹ Josephine Bakers als ›süßem Mädel‹, anlässlich ihres umstrittenen Auftritts in Wien 1928 auch: Roman Horak: Josephine Baker in Wien – oder doch nicht? Über die Wirksamkeit des »zeitlos Popularen«. In: R. H. [u. a.] (Hgg.): Metropole Wien. Texturen der Moderne. Bd. 1. Wien: WUV Universitätsverlag 2000 (Wiener Vorlesungen, Bd. 9), S. 169–213, hier S. 196–209. 39 Helmut Lethen: Freiheit von Angst. Über einen entlastenden Aspekt der Technik-Moden in den Jahrzehnten der historischen Avantgarde 1910–1930. In: Götz Großklaus, Eberhard Lämmert (Hgg.): Literatur in einer industriellen Kultur. Stuttgart: J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger 1989 (Veröffentlichungen der deutschen Schillergesellschaft, Bd. 44), S. 72–98, hier S. 82f., S. 86 u. S. 98 (herausgehoben im Orig.).

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Theologie der Großstadt formuliert« habe.40 Umgekehrt lässt sich aber auch, wie Regina Nörtemann und Nikolaus Scholvin gezeigt haben,41 das zu Beginn erwähnte Rokoko-Interesse Franz Bleis im zeitgenössisch-neusachlichen Kontext von erotischer Libertinage, rationalistischer Ästhetik, Essayistik und ›kleiner Form‹ verstehen. Und damit als – gerade zum neusachlichen Snobismus des Querschnitt passende – Janusköpfigkeit von Zeitgeiststreben und Aristokratismus im Sinne einer »aromatischen Kontrafaktur zur kühlen Moderne« und selbstreflexiven »Arbeit am [Habsburgischen] Mythos«.42 Darüber hinaus dokumentiert eine solche Mixtur aus aktuellen Zeitgeistströmungen und konservativ-nostalgischen Tendenzen, wie sie gerade der im Ullstein-Verlag erscheinende Querschnitt unter österreichischer Beteiligung vertritt, einmal mehr das heterogene Konzept der spezifischen ›Ullstein-Kultur‹ in der Weimarer Republik. Hier wurde gezielt für den Markt produzierte Konfektionsware hergestellt. Sie präsentierte nicht nur die gesamte Bandbreite der Berliner Unterhaltungsindustrie, sondern kombinierte gerade unterschiedliche, ja widersprüchliche Interessen und Genres in einem »Raum kommunikativer Interaktion«, um ein möglichst breites Lesepublikum zu erreichen.43 Am Beispiel der österreichischen Beiträge im Berliner Querschnitt zeigt sich dabei, dass eine solche Diskurs- und Marketingstrategie sogar in einer transnationalen Mixtur aus Elementen des ›Habsburgischen Mythos‹ und der Neuen Sachlichkeit bestehen kann. Neue Sachlichkeit und ›Habsburgischer Mythos‹ sind also gerade nicht als unvereinbare Gegensätze zu sehen, wie es sich seit Magris durchgesetzt hat. Dass sich dies als eine Tendenz bei österreichischen 40 Vgl. Kai-Marcel Sicks: Sollen Dichter boxen? Brechts Ästhetik und der Sport. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 12/2004, S. 365–404, hier S. 391 sowie Norbert Bolz: Theologie der Großstadt. In: Manfred Smuda (Hg.): Die Großstadt als »Text«. München: Fink 1992, S. 73–89, hier S. 74f. und zur paradoxen Auratisierung neusachlicher Gebrauchsästhetik am Beispiel der Reklame-Debatte ästhetizistisch geschulter Beiträger in Stefan Großmanns Berliner Wochenschrift Das Tage-Buch: Bertschik: »Mr. Ford nimmt Pferde in Zahlung…« (wie Anm. 4), S. 343–348. 41 Regina Nörtemann, Nikolaus Scholvin: Die rationalistische Landschaft der Literatur. Franz Blei und das Rokoko. In: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 4/1998, S. 101–123, hier S. 110f. u. S. 117. 42 Vgl. Christiane Zintzen: Kakanien – elegisch bis szenisch. In: NZZ Online (07. 03. 2008). http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/buchrezensionen/kakanien_elegisch_bis_szenisch_ 1.684655.html (abgerufen 29. 06. 2010) sowie im Anschluss an Blumenberg: Sven Achelpohl: Eine Welt von gestern – ein Mythos von heute? Über Claudio Magris’ »Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur«. In: literaturkritik.de 3, Nr. 6/2001, S. 1f., hier S. 1 (herausgehoben im Orig.) (http://www.literaturkritik.de/public/rezension. php?rez_id=3725; abgerufen 04. 05. 2009). 43 Vgl. Julia Bertschik: Roman-Konfektion. Wilhelm Speyers Werk bei Ullstein. In: Helga Karrenbrock, Walter Fähnders (Hgg.): Wilhelm Speyer (1887–1952). Zehn Beiträge zu seiner Wiederentdeckung. Bielefeld: Aisthesis 2009 (Moderne-Studien, Bd. 4), S. 37–54 sowie Streim: Einführung in die Literatur der Weimarer Republik (wie Anm. 2), S. 10.

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Autoren auch über die Querschnitt-Recherche hinaus beobachten lässt, zeigen abschließend Joseph Roths Artikel für die Frankfurter Zeitung in der Zwischenkriegszeit. So z. B. eine Passage seines Reiseberichts aus der Sowjetunion Wie sieht es in der russischen Straße aus? von 1926: Ihm [dem revolutionären Russland] fehlt noch das heitere Weiß, das die Farbe der Zivilisation ist, wie Rot die Farbe der Revolution. Ihm fehlt der helle Frohsinn, den nur eine alte, formvollendete Welt hervorbringt, niemals eine werdende.44

Hartmut Scheible hat bereits auf die intrikate Farbsymbolik von Rot und Weiß als den Nationalfarben Österreichs aufmerksam gemacht, »die hier unversehens ins Spiel kommen, wie zweifellos auch die untergegangene Monarchie gemeint ist, wenn von einer ›alten formvollendeten Welt‹ [!] die Rede ist«.45 Eine ähnlich hybride Mischung nimmt Roth darüber hinaus 1928 in seinem Essay Weihnachten moderner Junggesellen vor. Diesmal besteht sie aus der neusachlichen Innenarchitektur einer Berliner Bar, die allerdings eher an die Loos Bar in Wien erinnert, deren ›vollendete Zweckmäßigkeit‹ »bereits die Wirkung des Schaurigen auszuüben beginnt« und den dazu passenden, morbiden Aspekten des ›Habsburgischen Mythos‹, denn: »Diese Bar erinnert [mit ihrem »sarkophagförmige[m] Bartisch«] an eine kahle Gruft unter einer Kapelle«. Hier schlagen die zwischen den übertrieben neusachlich gekennzeichneten Berliner Barbesuchern (»Köpfe wie Lederhauben, Augen wie Autobrillen, Stoppuhren in der Brust, Tempo im Leib«) platzierten, ironisch-nostalgischen Gefühls-Klischees Alt-Österreichs in der gleichfalls personifizierten Form ›alt-neuer Herzlichkeit‹ zudem unversehens wieder in marktstrategisch-nüchtern und (neu)sachlichpragmatisch eingesetzte Reklame um: Merkwürdig ist nur, daß plötzlich ein Klavier ertönt. Ein Mann aus einem vergangenen Jahrhundert, er erinnert an einen Walzer, keine Spur von Lederhaube oder Aeroplan, nur Leierkasten und Harfe, verkörperte Drehbewegung, ein erstarrter Schnörkel, viele schwarze Haare, Falten im Gesicht; dieser Mann beginnt zu singen. Daß er aus Wien stammt, daß ein nationaler Anschlußwille ihn hierhergetrieben hat: Wer kann es bezweifeln? Schon singt er das »Fiakerlied«. Schon den »Schönbrunner Park«. Schon »Wien, nur du allein«. Und schon erglüht auf dem Klavier ein bengalischer Weihnachtsbaum, hergeholt aus einem Wald von Pappe, ausgesägt aus einer Theaterdekoration (die man jetzt nicht mehr braucht), ein Baum aus Karton, mit Nadeln aus Filz, 44 Joseph Roth: Wie sieht es in der russischen Straße aus? In: Ders.: Werke 2. Das journalistische Werk 1924–1928. Hg. v. Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 622–625, hier S. 623 (Heraushebung durch J. B.). 45 Hartmut Scheible: Joseph Roths Reise durch Geschichte und Revolution. Das Europa der Nachkriegszeit: Deutschland, Frankreich, Sowjetunion. In: Michael Kessler, Fritz Hackert (Hgg.): Joseph Roth. Interpretation – Kritik – Rezeption. Akten des internationalen, interdisziplinären Symposions 1989, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Tübingen: Stauffenburg 1990 (Stauffenburg Colloquium, Bd. 15), S. 307–334, hier S. 324.

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mit Sternen aus Glühlampen. Auf der Baumspitze steckt eine Tafel: Hier können Junggesellen Weihnachten feiern.46

Der kommodifizierende Affirmationsgestus wird durch die (selbst)ironische Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Formen einer boomenden Warenästhetik auf den klischeehaft ausgestellten Feldern Berlins und Wiens einer gesellschafts- und institutionskritschen Subvertierung unterzogen. Eine diesbezügliche Sensibilität resultierte hier sicher auch daraus, dass die zwischen Wien und Berlin pendelnden Österreicher »als Grenzgänger zwischen den Kulturen schon immer mit der zwischen Kitsch und Kunst changierenden Konstruktion des ›Österreichischen‹ in der deutschen und insbesondere in der Berliner Unterhaltungskultur konfrontiert waren«.47 Damit zeigt die journalistische Gebrauchsästhetik österreichischer Neuer Sachlichkeit aber gerade, dass es nicht nur eine »falsche [da warenästhetisch unterworfene] Aufhebung« des künstlerischen Autonomiestatus geben muss,48 wie Peter Bürger dies noch als die andere Seite des Scheiterns einer lebenspraktischen Annährung der Künste durch die Avantgarden innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft konstatiert hatte.

46 Joseph Roth: Weihnachten moderner Junggesellen. In: Ders.: Werke 2 (wie Anm. 44), S. 1000–1002, hier S. 1001f. (herausgehoben im Orig.). 47 Streim: Zwischen Weißem Rößl und Mickymaus (wie Anm. 13), S. 18. 48 Vgl. Bürger : Theorie der Avantgarde (wie Anm. 1), S. 72f. sowie dazu auch weiterhin: Peter Bürger : Nach der Avantgarde. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2014.

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Abb. 1: Der Querschnitt (Cover) H.1 (1932). Abb. 2: Der Querschnitt (Cover) H. 2 (1931). Abb. 3: Der Querschnitt H.1 (1929) S. 13, Foto Colleen Moore. Alle: Ó Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek.

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Primus-Heinz Kucher

ModernIsmus-AvantgardeIsmus am Beispiel der Debatten in den Musikblätter[n] des Anbruch (1919–1930).

1.

Auftakt

Unter den künstlerischen Bewegungen, die nach 1918 dezidiert die Termini radikal, modern oder neu und damit, wenngleich eher implizit, auch avantgardistisch für sich reklamierten, kam der zeitgenössischen Musik eine herausragende Rolle zu. Die sogenannte Wiener Schule der »neuen« Musik, d. h. der Kreis um Arnold Schönberg, dem eine Reihe weiterer Komponisten, Musikwissenschaftler und Kritiker nahe standen und der mit vielfältigen Beiträgen zum System der Zwölftonmusik, einem Reihenprinzip, sowie zu einer Neukonfigurierung des Harmoniebegriffs analog zur Bildenden Kunst, einen radikalen Paradigmenwechsel herbeigeführt hat, gilt unbestritten als eines der Gravitationszentren der europäischen Musikmoderne. Die Aufgabe bzw. Neubewertung eines tonalen Zentrums wird dabei seit 1910 und in den 1920ern im Hinblick auf radikale Konzepte (z. B. im Sinn von Geräuschkompositionen, TonFarbe-Relationen oder tendenziell evolutionäre Anbindungen an formbewusste, der Tonalität verpflichtete zeitgenössische Tendenzen im Musik-Theater-Bereich), freilich unterschiedlich gesehen und beurteilt.1 Abgesehen von den (eher) potentiellen Schnittmengen zur freien Atonalität in der futuristischen Musik, zur russischen und französischen Musikmoderne bzw. Musikavantgarde (Strawinsky, Milhaud, Honegger, Satie) sowie zu zeitgenössischen Jazz-Debatten, zum Tanz- und Marionettentheater, aber auch zu kulturrevolutionären Aspekten (Arbeitersymphonie-Konzerte, Konzepte und Werke 1 Vgl. Theodor W. Adorno: Philosophie der Neuen Musik. In: Ders.: Gesammelte Schriften (GS), Bd. 12, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973. Diese wichtige Schrift Adornos besteht bekanntlich aus zwei Hauptteilen: Schönberg und der Fortschritt (36–126) sowie Strawinsky und die Restauration (127–196) und entstand vorwiegend, v. a. Schönberg betreffend, im Exil zwischen 1940 und 1949. Zum Potential der ›Neuen Musik‹ vgl. auch: Hartmut Krones (Hg.): Struktur und Freiheit in der Musik des 20. Jahrhunderts. Zum Weiterwirken der Wiener Schule. Wien-Köln-Weimar : Böhlau 2002 sowie Ders. (Hg.): Multikulturelle und internationale Konzepte in der Neuen Musik. Wien-Köln-Weimar : Böhlau 2008.

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Primus-Heinz Kucher

der 1924 gegründeten russischen Assoziation für zeitgenössische Musik/ Assotsiatsiia sovremennoi muzyki) zeichnete die sogenannte Wiener Schule und die ihr verbundenen Musiktheoretiker und Musikkritiker, aber auch die von Paul Bekker 1919 mitausgelöste Positionsdebatte über Neue Musik – so der gleichnamige Titel seiner Programmschrift – eine heute zum Teil in Vergessenheit geratene, programmatisch-kritische Komponente aus, die sich u. a. in einer Reihe von z. T. Manifest-artigen Reflexionen, Kritiken und Texten niederschlug. Als zentrale publizistische Plattform dieser Reflexion kristallisierte sich die Zeitschrift Musikblätter des Anbruch (MdA) heraus, paradoxerweise zugleich das Hausorgan des den Markt dominierenden Musikverlags Universal Edition, der neben der Wiener Moderne die meisten zeitgenössischen Komponisten Europas seit der Jahrhundertwende unter Vertrag hatte, zudem ab 1924 die von Erwin Stein geleitete Fachzeitschrift Pult und Taktstock sowie eine eigene musikgeschichtliche Abteilung editorisch betreute.2 Im Folgenden werden daher die Grundzüge dessen, was unter moderner Musik in den MdA verhandelt wurde, nachgezeichnet und dabei mögliche Schnittflächen wie Differenzen hin zu Avantgarde-Diskursen ausgelotet. Aufgrund der umfangreichen und mitunter sehr spezifischen Diskussionslage muss sich diese Nachzeichnung auf einige Themen und Schwerpunkthefte konzentrieren und begrenzen, u. a. neben frühen Diskussionen über das ›Moderne‹ der ›Neuen‹ Musik auf die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen russischen Musik-Kultur, auf die Diskussion über die Neubestimmung des Verhältnisses von Musik und Tanz, auf den gerade für avantgardistische Konzepte wichtigen Bereich der Technik und des Maschinellen, sowie auf die Auseinandersetzung mit der französischen Moderne und ihrer neben Schönberg z. T. wegweisenden Neuansätze. Die Diskussion für und wider bzw. über die Konturen der Moderne lief zunächst verhalten an, obwohl sich in der seit November 1919 erscheinenden Zeitschrift nicht nur die österreichische Musikmoderne (Komponisten wie 2 Das Spektrum reichte dabei von Anton Bruckner über Gustav Mahler bis Arnold Schönberg, von B¦la Bartûk über Issai Dodrowen, Louis Gruenberg, Leos Janacˇek zu Darius Milhaud, von Alban Berg, Josef Matthias Hauer, Ernst Krenek zu Kurt Weill, Egon Wellesz und Alexander Zemlinksy, aber auch zu heute kaum mehr bekannten Komponisten. Einzelnen Heften wurde ein Schwerpunktkatalog beigelegt, z. B. dem Jazz-Heft 1925 einer zur russischen Musik, der auf rund 450 Werke verweist und nahezu alle russischen Komponisten seit Tschaikowski umfasst. Die Zeitschrift selbst weist aufgrund von Doppelnummern meist zehn Ausgaben/ Jahr auf; der Umfang der einzelnen Hefte variiert und kann aufgrund der Anhänge, insbesondere der Eigenwerbung zu Noten und Ausgaben des Verlags der Universal-Edition, bis zu 150 Seiten betragen. 1929 erfolgt eine Vereinfachung des Titels durch Weglassung von ›Musikblätter‹ in: Anbruch. Vgl. dazu das Editorial: Zum neuen Jahrgang. Anbruch, H.1/1929, S. 1–3, in dem die Änderung mit einer Tendenz zur Rationalisierung und zugleich mit einem Festhalten an Grundanliegen der ›neuen Musik‹ begründet wird.

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Kritiker) versammelt fand, sondern auch namhafte deutsche Musik- und Theaterexperten wie Paul Bekker, Oskar Fried, Hans Heinsheimer oder Hans H. Stuckenschmidt sowie eine Reihe international anerkannter Komponisten-Kritiker mitwirkten, wie z. B. Viteˇzslav Novak und Erwin Schulhoff (beide Prag), B¦la Bartûk und Alexander Jemnitz (Budapest), Viktor Belaiev und Igor Glebow/ Boris W. Asaf ’ev (Moskau, Leningrad), Darius Milhaud (Paris), Paul Rosenfeld und Cesar Searchinger (New York) oder – ab Mitte der 1920er Jahre – Theodor Wiesengrund Adorno und Ernst Bloch3. Von Beginn an war daher der Blick auf das gesamteuropäische Musikspektrum, im Besonderen auf das ost-mitteleuropäische, gerichtet und punktuell, d. h. in den Themen-Sonderheften, durch herausragende Künstler und Theoretiker des Avantgarde-Diskurses mitbesetzt, z. B. mit L‚szlû Moholy-Nagy und Oskar Schlemmer im Musik und MaschineHeft 1926. Ein Grund für die anfängliche Zurückhaltung kann aus dem Eröffnungsbeitrag von Egon Lustgarten erschlossen werden, der sich dezidiert gegen eine als »einseitig« klassifizierte empirische Musiktheorie stellte und meinte, »statt einer empirischen wollen wir eine metaphysische Theorie begründen helfen«. Auch sei »der ontologische Gehalt der Kunst […] klarzulegen.«4 Ein weiterer dürfte in der Ausrichtung der Zeitschrift auf den zeitgenössischen Musik-Konzert-Betrieb und die Platzierung ihrer Komponisten gelegen sein, ein anderer in der kunstpolitisch instabilen Lage in Österreich um 1919/20 sowie im abwartenden Beobachten, ob und wie sich die verschiedenen Ansätze moderner Musik behaupten würden. Programmatisch fasste dies Paul Stefan 1926 in die aufschlussreiche Formulierung: »Unsere Zeitschrift, die gern auch radikalen Manifesten das Wort läßt, im allgemeinen aber doch wohl behutsam und sachlich sagt, was zu sagen ist.«5 Überdies war das Spektrum der sich zur »Moderne« bekennenden Wiener (teils auch als Komponisten tätigen) Kritiker in sich recht heterogen und reichte von traditions- bzw. formbewussten wie Egon Lustgarten, Hugo Kauder, Joseph Dasatiel (Rinaldini), dem Franz Schreker- und Erich W. Korngold-Biographen Rudolph St. Hoffmann, bis hin zu den neueren Entwicklungen gegenüber offenen, d. h. dem Schönberg-Kreis und Neue MusikKonzepten stärker verpflichteten wie Hans Holländer, Egon Wellesz, Paul A.

3 Das Editorial zu 1/1929 merkt am Schluss an, dass Adorno seit diesem Heft Mitglied der Redaktion geworden sei. Sein erster Beitrag war freilich schon 1925 erschienen und betraf die Uraufführung von A. Bergs Wozzeck; MdA, H.10/1925, S. 531–537. In dasselbe Jahr datiert auch die Mitwirkung Adornos an Pult und Taktstock, beginnend mit dem Essay Zum Problem der Reproduktion in H.1/1925, S. 51–55. 4 Egon Lustgarten: Philosophie der Musik. In: MdA, H.1/1919, S. 2–6, hier S 5f. 5 Paul Stefan: Zum IV. Fest der Internationale. In: MdA, H.6/1926, S. 249–250, hier S. 250.

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Pisk, u. a. Gründungsmitglied der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, oder dem Dirigenten und Musiktheoretiker Erwin Stein.6

2.

Moderne-Positionierungen um 1920 in den Musikblättern des Anbruch

Den ersten programmatischen Moderne-Akzent nach Lustgarten setzte eine selbstbewusst vorgetragene Autopositionierung Franz Schrekers, zweifellos um 1918/19 neben Schönberg die zentrale Gestalt der Wiener (und Berliner) Musikmoderne und meistbehandelter Komponist in den MdA der 1920er Jahre7. Seine »musikdramatische Idee« umreißt Schreker fast anarchisch und im Ansatz ambivalent: einerseits komme es auf den »reinen« Klang an, auf eine Konzentration auf Elementares in der Ausdrucksform, andererseits schwebe ihm eine – in sich wiederum komplexe – »Beziehung der Musik zum Drama durch Vereinfachung [sic!] des Stils, durch Plastik in Wort und Ton« vor, realisierbar durch eine »Art Entmaterialisierung des Orchesters«, also eine postdramatischpostmusikalische Konzentration auf Grundelemente und ihrer synästhetischen Verknüpfung.8 Zwar nicht direkt auf Schreker reagierend, aber prominent platziert als Leitartikel, fasste Hugo Kauder im zweiten Heft seine Vorstellungen zur musikalischen Form zusammen, die zunächst ein Fehlen präziser Theoriekonzepte monierte. Seine Vorstellungen, die im künstlerischen Schaffen eine Offenbarungsidee im Sinne Schellings (den Kauder auch zitiert) vertrat, zielten darauf, »technische Formen der Musik« mit der »reinen Kunstform« bzw. tonale

6 Vgl.: Thomas Brezinka: Erwin Stein. Ein Musiker in Wien und London. Wien-Köln-Weimar : Böhlau 2005. 7 Zu Schreker, dem die MdA bereits 1920 ein erstes Sonderheft widmeten, vgl. die gleichermaßen würdigende wie kritische Einschätzung in dem als Radiovortrag konzipierten Essay Quasi una fantasia von Th. W. Adorno; in: Ders.: Musikalische Schriften I–III, GS, Bd. 16, hg. von R. Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 348–391. Ferner S. 369 mit einem Seitenhieb ähnlichen Verweis auf den üppigen Prunk — la Debussy : »Die Konfiguration von verschwenderischer Fülle, rücksichtsloser Gewagtheit und einem unübersichtlichen und unreglementierten Bild von Moderne leuchtete attraktiv aus dem Schrekerschen oeuvre.« Weit positiver zeichnete ihn der prominente deutsche Musikkritiker Paul Bekker in seinem Einleitungsbeitrag zum o. a. Sonderheft (H.1–2/1920) unter dem Titel Die Persönlichkeit, S 3–7; er rückte dabei weniger das ›Moderne‹ in kompositorischer Hinsicht in den Vordergrund als vielmehr eine dramatische »Tonsprache«, vermittels derer die Musik die Dichtung durchdringe und der Oper neue Perspektiven anzeige (S. 4). Dieses Sonderheft druckt auch einen längeren, hymnischen Beitrag von Cesar Searchinger aus dem Musical Courier (New York) vom August 1919 mit dem bezeichnenden Titel The Messiah of German Opera ab. Ebd. S. 68–69. 8 F. Schreker : Meine musikdramatische Idee. In: MdA H.1/1919, S. 6–7, hier bes. S. 7.

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Techniken und schöpferische Prinzipien zusammenzuführen, um letztlich den Primat des künstlerischen Ich über das Material durchzusetzen.9 »Wenn Rhythmus und Melos die leitenden Momente bleiben«, um die »Tonmasse« zu strukturieren, so wieder Egon Lustgarten in einer Glosse zum Thema Lärmende Musik, dann können auch die »wilden Orchesterausbrüche Mahlers«, also eine Instrumentierung an den Grenzen des klassischen Harmoniebegriff, als Versuch einer »polyphonen Zusammenballung« angesehen und als Weiterentwicklung des tradierten Form- und Ausdrucksspektrums akzeptiert werden.10 Diese um Nuancen offenere Position als jene Kauders, die sich einerseits um eine integrative Sicht technischer Neuerungen bemüht, hält andererseits an der Vorstellung einer Klang- »Veredelung« fest und stellt sich somit gegen eine grundsätzliche Neupositionierung des Ton-Materials. Die Mächtigkeit, aber auch die Zukunft des Tonalitätsprinzips bildet das Thema eines weiteren, prominenten Leitartikels von Hermann Scherchen, der als Dirigent 1912 an der Uraufführung von Schönbergs Pierrot lunaire mitgewirkt hatte und nach 1918–19 sich zunehmend der russischen Musikmoderne öffnete. Bereits sein Einleitungssatz deutet die Möglichkeit eines Paradigmenwechsels an: »Unsere Epoche ist die der Überreife des Tonalitätsprinzips«, weshalb neben einer »Reihe bewundernswerter schematischer Möglichkeiten« eine Weiterentwicklung auf dieser Grundlage kaum möglich erscheine.11 Scherchen identifiziert in der Kontraposition zwischen der Fülle der (tonalen) Erscheinungen und dem Bedürfnis nach Gesetzmäßigkeit das Grundproblem der sich abzeichnenden Spaltung pro und contra des Tonalitätsprinzips, ohne sich klarer positionieren zu wollen, obwohl eine Präferenz für das Tonale anklingt. Nichtsdestotrotz wird aus seinem Beitrag deutlich, dass »die zentralisierende Kraft der Tonalität« künftig auch anderen, nicht-tonalen Konzepten gebührenden Raum zugestehen werde müssen, eine Tendenz, die Joseph Dasatiel unter dem Titel Intellektualisierung der Musik wiederum als besorgniserregende, das Technische ins Zentrum rückende und somit in Relation zur Musik als Klangkunstwerk als »wesensfremde« Entwicklung wahrnimmt.12 Im Lauf des Jahres 1921 zeichnet sich in den Musikblättern – nach Schwerpunktheften zu Gustav Mahler und Ferruccio Busoni als Ikonen einer dem Tonalitätsprinzip verpflichteten Musikmoderne13 – doch eine offenere Einstellung 9 10 11 12

H. Kauder: Zum Problem der musikalischen Form. In: MdA, H. 2/1919, S. 37–41, bes. S. 41. E. Lustgarten: Lärmende Musik. In: Ebd. S. 66–67, bes. S. 67. H. Scherchen: Das Tonalitätsprinzip. In: MdA, H. 3–4/1919, S. 79–82, hier S. 79. Ebd. S. 82. Ferner : Joseph Dasatiel: Intellektualisierung der Musik; MdA, H.19/1920, S. 619–623, hier S. 623. 13 Vgl. dazu die Schwerpunkthefte 7–8/1920 (Mahler) und 1–2/1921 (Busoni). Zu Busoni merkt allerdings bereits der Eingangsartikel im o. a. Heft von Jean Ph. Chantavoine (Paris) an, dass dessen Kompositionen auf eine »absolute Musik« (einen Terminus, den Busoni selbst in

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der neuen Musik und ihren internationalen Referenzen gegenüber ab. Diese Öffnung lässt sich z. B. in einem Beitrag von Paul Rosenfeld über Igor Strawinsky anlässlich der Nachkriegsaufführungen von Le sacre du printemps in London und Paris (1920) erkennen14. Strawinsky figuriert darin als Bruch zu aller vorangegangenen Musik, würden nämlich die klassischen Komponenten des Melos wie z. B. die impressionistischen Klangkörper durch den Rhythmus der Maschinen-Wirklichkeit und die Geräuschkulisse der Großstadt abgelöst: Denn mit Strawinskij halten die Rhythmen der Maschine in die Kunst der Musik ihren Einzug. Mit diesem Meisterwerk beginnt ein neues Kapitel der Musik […] Durch ihn entsteht eine Musik, deren Stil gerade die Kehrseite des impressionistischen ist. Durch ihn wird die Musik wieder würflig, quadrisch, massig, mechanistisch. Ihr Glitzern ist vorbei.15

Rosenfelds Charakterisierung der musikalischen Lärmkulisse Strawinskys erinnert an Luigi Russolos Konzept der Geräuschkunst, wie er sie in seinem Manifest L’arte dei Rumori (1913/1916) skizziert hat, allerdings mit dem Unterschied, dass Strawinsky nicht wie Russolo dazu eigens konstruierte mechanische Apparaturen zur Erzeugung dieser ›rumori‹ heranzieht, sondern die Instrumente eines Orchesters auf diese verpflichtet: Der Verkehr, die rastlose Hast der Menschenmenge, der Lärm der Wagen, das Geklapper der Pferdehufe auf dem Pflaster, die Menschenrufe und Schreie über den Grundbaß des Straßengeräusches, ein paar Leierkastenmänner, die einander zu überleiern suchen, eine des Weges kommende Bläserkapelle, der Donner eines Eisenbahnzuges, der sich über Meilen von Stahl einherwälzt, die Sirenen von Dampfern und Lokomotiven, das Brausen von Städten und Häfen werden ihm zur Musik.16

Damit wird das gängige Verständnis von Moderne entscheidend Richtung Materialität, Reduktion und Konzentration auf rhythmische Ausdruckspotentiale verschoben sowie im Sinn eines avantgardistischen Verständnisses von Aktivierung der Zuhörer erweitert: Strawinskijs Kunst zielt darauf hin, zu beleben, anzustecken, eine Handlung zu beginnen, die der Zuhörer in sich selbst vollenden muß. Sie ist eine Art musikalischer seinem Beitrag Junge Klassizität, ebd. S. 25–27, reklamiert) zielten, wolle er doch, »Musik von allen Fesseln der Materie befreien« und auch die Notation als nicht mehr zwingend anerkennen. In: MdA, H.1–2/1921, S. 1–12, S. 6. 14 Paul Rosenfeld (1890–1946), einflussreicher New Yorker (Musik)Journalist und Kritiker, u.a. für Zeitschriften wie The Dial, Modern Music oder The New Republic. In letzterer erschien auch der Strawinsky-Beitrag der MdA, 11/1921, S. 191–195, zum ersten Mal (14.4.1920, S. 207–210). Dazu auch: Monika Woitas: Strawinskys Transformation des Urbanen. Zit. nach: http://www. act.uni-bayreuth.de/de/archiv/2010-01/02_woitas_strawinsky/index.html; Zugriff vom 4.2. 2015. 15 P. Rosenfeld; Igor Strawinskij. In: MdA, H.11/1921, S. 191–195, hier S. 191. 16 Ebd. S. 192.

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Kurzschrift […] Es ist, als ob Strawinksij die Bestandteile der Musik auf ihre knappsten und einfachsten Urformen zurückführen wollen.17

Folgt man der Argumentation Rosenfelds müsste man Strawinsky, z. B. in seiner Komposition Petruschka, eine Vorreiterfunktion für die musik-mechanischen Ballette und Pantomimen etwa Oskar Schlemmers oder für die GeräuschmusikExperimente eines Alexander W. Mosolow zuerkennen, seien nämlich Petruschka wie Frühlingsweihe »Stücke, die den Automaten in der menschlichen Seele darstellen«.18 Diese ungewöhnliche Deutung erklärt sich vermutlich daraus, dass Rosenfeld Strawinsky in Abgrenzung und Ergänzung zu Debussy skizziert und das Maschinenhafte an anderer Stelle als Möglichkeit deutet, daran »sein eigenes Selbst« bzw. die »Bewußtheit des Körpers« zu erkennen und zu verstärken.19 Zu Jahresbeginn 1922 unternimmt die Zeitschrift einen weiteren Versuch, den Standort der modernen Musik zu bestimmen. Egon Wellesz eröffnet ihn mit dem vom Titel her dezidiert gesellschaftliche Bezüge einfordernden Kurzbeitrag Der Musiker und diese Zeit, in dem er einerseits den aktuellen Zustand als den der »Krisis des Individualismus« diagnostiziert und, daraus abgeleitet, »das Anbrechen einer neuen Epoche, das Wirken einer neuen Generation« aufkommen sieht, einer Generation, »die anders zum musikalischen Ereignis steht als die vorangegangene«.20 Dieses Andersheit drücke sich u. a. in einer veränderten Einstellung zur Kunst und ihrem Material aus, die – in klarer, wenngleich verdeckter Stoßrichtung gegen den Wagnerismus und dessen postromantische Ableger – »strengere Zucht als das schrankenlose Aufgehen im Triebhaften« sowie »Klarheit, die das gärende Erlebnis zu bändigen vermag« einfordere und damit einer intellektuellen Konzeption von Musik entgegenkomme.21 Nach Wellesz kommt Rudolf R¦ti, Mitbegründer der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (1922), mit einer prononciert vorgetragenen Polemik gegen eine auf substanzlosen Konstruktivismus verengte Moderne zu Wort. Er tut dies unter dem expliziten Verweis darauf, dass ihn viele eigentlich »unter ihre fanatischsten Anhänger einreihen« würden und begründet seine polemische Distanz damit, im konstruktivistischen Habitus, der ihm als »Handwerkskunst« erscheine, weder einen zu Form sich fügenden Stilbegriff noch eine Harmo17 Ebd. S. 192. 18 Ebd. S. 193. 19 Ebd. S. 192. Dazu kritisch Christoph Flamm: Igor Strawinsky. Der Feuervogel. Petruschka. Le Sacre du printemps. Zusatzmaterial. Quellen und Dokumente. Kassel u. a.: BärenreiterVerlag 2013. Die musikalische Gestaltung wird dabei einerseits als »Rimski-Korsakow verpflichtet« (ebd. S. 40) gesehen, andererseits aber auch (bei Petruschka wie Le Sacre du Printemps) als der folkloristischen (ebd. S.102f bzw. 148f.) mit spezifischen rhythmischen Irregularitäten (ebd. S.154f.). 20 MdA, H.1–2/1922, S. 3–4, hier S. 3. 21 Ebd. S. 4.

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niekonzeption erblicken zu können, nicht ohne zugleich eine Hommage auf Alexander N. Skrjabin und seine Komposition PoÀme vers la flamme auszusprechen : Sie [= diese Handwerkskunst] borgt sich keinen Mantel, geschweige denn den Atem der wahren Kunst. Aber grau-grelle Substanzlosigkeit, ein [in] Leichengeruch getränkter Konstruktivismus, der nichts und nichts zu Formen türmt und – das Entsetzlichste daran – man erkennt es schaudernd: ja, das ist Ausdruck unserer Zeit.22

Im Unterschied zu dieser Distanzierung, in der zugleich ein Bekenntnis zu einem experimentellen Ansatz wie dem Skrjabins enthalten war, setzte der Musikpublizist und Leos Jan‚cˇek-Biograph Hans Holländer (1899–1986) in Wo halten wir? stillschweigend bereits eine umfassende »musikalische Revolution« als gegeben voraus. Diese erstrecke sich vom Rhythmus über die »Klangfarbe des Orchesters und der Instrumente« auch auf das musikalische System überhaupt, womit das Schlüsselwort »Atonalität« fällt. Holländer dehnt dieses allerdings im Sinn »entschwebender« bzw. »beziehungsloser Akkorde« großzügig auf Vorläufer dieser Spielart einer avancierten Moderne aus, nämlich auf Max Reger und Richard Strauss, obgleich für ihn kein Zweifel besteht, dass erst Claude Debussy und insbesondere Arnold Schönberg der entscheidende Durchbruch gelungen sei.23 Die vorgestellten Positionierungen zeigen somit die Bandbreite eines Verständnisses von Musik-Moderne um 1920 an: Kauder und Lustgarten als Verfechter einer Moderne auf tonaler Grundlage, die in Richard Wagner und Gustav Mahler ihre Bezugsgrößen besitze, R¦ti, Scherchen und Schreker, übrigens mit drei Themenheften in den 1920er Jahren24, aber auch von der Zahl der Aufführungsbesprechungen her gesehen der präsenteste ›moderne‹ Komponist, wiederum ein evolutionäres Verständnis mit Bezügen auf die tonale Tradition und in ihr selbst, allerdings experimentierend, verankert; Holländer schließlich jene, die den Traditionsbruch als revolutionäre Errungenschaft bejaht und die atonale Perspektive als »Durchbruch« zu einer neuen Formensprache deklariert. Zugleich machen bereits die ersten programmatischen Reflexionen deutlich, dass die Musik-Debatte in einem breiteren Kontext gesehen wird, in einem gesellschaftlichen ebenso wie in einem internationalen von reziproken künstlerischen Dialogen. Zu Letzterem zählt zweifellos das Bemühen um herausragende Stimmen der internationalen Musikmoderne sowie um eine produktive Auseinandersetzung mit deren musikalischem Schaffen. Bereits im Februarheft 1920 kam ein Brieffragment von Igor Strawinsky zum Abdruck, der auch später mehrmals als Referenz dienen wird. Zwar sind Inhalt 22 R. R¦ti: Gegen die »Moderne«. In: MdA, H. 1–2/1922, S. 4–5; zu Skrjabin S. 5. 23 H. Holländer : Wo halten wir? (Ein Ruf aus Wien), ebd. S. 5–7, hier S. 6. 24 Vgl. die Themenhefte 1–2/1920, 2 /1924 und 3–4/1928.

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und Ausrichtung eher defensiv formuliert, indem sich Strawinsky auf die Position zurückzieht, das eigene Werk nicht kommentieren zu wollen, sondern dies der unmittelbaren Aussagewirkung der Komposition zu überlassen sowie der Bereitschaft des Publikums, eine neue musikalische Sprache anzunehmen oder eben nicht, was er mit einem kurzen Verweis auf sein Sacre du Printemps wie folgt ausführt: »…inutile donc, — mon avis, de forcer le temps que prend le public pour s’accoutumer au nouveau langage, aux nouveaux moyens d’expression.«25 Immerhin verweist auch dieser Text auf die Unausweichlichkeit einer neuen musikalischen Sprache, einer neuen Ausdrucksform, die in den Folgejahren wiederholt auf Strawinsky projiziert werden sollte, aber auch, spätestens ab 1922–23, innerhalb der Redaktion und des Beitragsspektrums weitgehend außer Streit gestellt erscheint, wenngleich daneben sehr wohl auch der tonalen Tradition verpflichtete Tendenzen genügend Raum erhalten. Insofern lässt sich festhalten, dass die MdA in den frühen 1920er Jahren sich sukzessive zu einer der wichtigsten, wenn nicht zur wichtigsten Plattform für neue, experimentelle, auch avantgardistische Konzepte wahrnehmenden bzw. diskutierenden MusikZeitschrift, ja Drehscheibe im Schnittbereich von Musik, Theater, Tanz und technischer Apparaturen entwickelt haben. Sichtbar wird dies an den Schwerpunktheften ab 1924, die nicht mehr primär einzelne Komponisten in den Mittelpunkt rücken, sieht man von verständlichen Sonderheften wie z. B. einem Schreker-Heft anlässlich des Musikdramas Irrelohe oder dem Schönberg-Heft anlässlich seines 50. Geburtstages ab26, sondern vermehrt Themen aufgreifen, die sich im Zusammenhang mit der ›neuen Musik‹ und deren internationalen Positionierung stellen. Unter letzteren sind das Heft zu den Musikfesten in Donaueschingen und Salzburg (1924), die ersten Schwerpunkthefte zur russischen Musik und zur tschechischen Moderne von besonderer Bedeutung sowie, 1925–1926, Hefte zum Jazz, zum Tanz oder zum Verhältnis von Musik und Maschine. Spätestens mit dem Schönberg-Heft und der prägnanten wie provokativ formulierten Einschätzung Arnold Schönberg, der musikalische Reaktionär durch Hanns Eisler war der atonale Durchbruch, an dem auch Josef M. Hauer durch seine Kompositionen wie Nomos und Beiträge seit 1919 Anteil hatte, außer Streit gestellt. Aufschlussreich dabei die Argumentation Eislers, die den Moment des Bruches, also das tendenziell Avantgardistische, dabei ebenso heraushebt, wie Schönbergs Bekenntnis zur Form, zum Handwerklich-Technischen, womit wiederum eine klare Grenzziehung zu improvisatorisch-performativen Kunstpraxen, zu Artistik wie z. B. zu bruitistischer Musik, erkennbar werde: »Schönberg ist heute […] ein Begriff, der Umsturz«, der »einen vollkommenen Bruch mit der Tradition bedeutet.« Mit Blick auf die verschiedenen 25 MdA, H. 4/1920, S. 161. 26 MdA, H. 2/1924 bzw. H. 7–8/1924.

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Stilwandlungen seit dem Monodrama Erwartung (1909, UA 1924) oder seit dem Pierrot lunaire (1912) zeigten jedoch die neuesten Werke, die nach Vorliegen der ausgearbeiteten Zwölftontechnik eine Überwindung der atonalen Phase indizierten, auch »Gliederungen und Formen, wie sie die Klassiker geschrieben haben; ja es gibt sogar Repetitionen, worüber ein richtiger Revolutionäre entsetzt sein müßte.«27

3. Mitte 1922 erschien das erste Schwerpunktheft zur russischen Musik, gefolgt von einem weiteren im März 1925 sowie einem letzten Ende 1931. Anhand dieser Hefte lassen sich Rezeptionsprozesse im deutschsprachigen Raum ebenso nachverfolgen wie Bewertungen durch die zeitgenössische russisch-sowjetische Musikkritik, womit Parameter des Verständnisses von Moderne bzw. Avantgarde im spannenden Zeitraum des ersten nach-revolutionären Jahrzehnts fassbar und Akzentverschiebungen sichtbar werden. Das erste Schwerpunktheft wurde von Oskar v. Riesemann, einem deutschestnischen Musikwissenschaftler und Komponisten, Verfasser von Arbeiten über Mussorgsky, Skrjabin, Rimsky-Korsakoff und Rachmaninoff, eingeleitet. Er versucht zunächst die den beiden Metropolen Petersburg/Leningrad bzw. Moskau zuordenbaren Komponisten bzw. Schulen vorzustellen und kurz zu charakterisieren, d. h. die sich rund um Modest Mussorgsky, Nikolai RimskiKorsakoff und Alexander P. Borodin bereits vor der Jahrhundertwende formierte Petersburger ›Neurussische Schule‹ einerseits, die sich in der Nachfolgegeneration rund um Igor Strawinsky und Sergei S. Prokofieff der westeuropäischen Moderne weit geöffnet habe, und jener, die von Sergei I. Tanejew inspiriert war und von Alexander Skrjabin zu Sergei Rachmaninoff und Nikolai Medtner reichte. Diese firmiert als ›Moskauer Moderne‹, aus der in der Folge auch Issaia Dobrowen hervorgegangen ist.28 Mit dem Schaffen von Strawinsky setzt sich wiederum der Schweizer Dirigent Ernest Ansermet auseinander, der seit 1912 mit dem Komponisten befreundet war und in den 1920er Jahren eine Reihe von Uraufführungen, darunter auch von Werken von Prokofiev aber auch Eric Satie verantwortet hat und darüber hinaus mit Pablo Picasso und Jean Cocteau in produktivem Austausch gestanden ist. In seiner Einführung in das Werk Strawinskijs legte Ansermet seinen Akzent ei27 Hanns Eisler : Arnold Schönberg, der musikalische Reaktionär. In: MdA, H. 7–8/1924, S. 312–313. 28 Dr. Oskar v. Riesemann: Die Strömungen des modernen russischen Musiklebens. In: MdA, H. 11–12/1922: Neue Russische Musik, S. 163–167. Die Schreibweise der Namen (z. B. Korsakoff an Stelle von Korsakow) folgen hier der Form, die Riesemann verwendet.

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nerseits auf den Geist seiner Kompositionen, den er als Dynamismus sowie »Kinomusik« bezeichnete, andererseits auf die »ganz persönliche Art der Kontrapunktik«, die Strawinskijs eigenwillige Polyphonie ausmache. Letztere basiere auf einer ihr zugrunde liegenden »rhythmische[n] Kraft«, welche die metrischen Regeln aufbreche und eine »völlige Befreiung von der Tonalität« anpeile.29 Ansermet weist zugleich darauf hin, dass Strawinskijs Ausbruch aus der Tonalität von jener Schönbergs insofern differiere, als die Vorstellung von Tonalität weniger durch ein atonales System überwunden, sondern durch eine Gleichzeitigkeit von »Akkorden ohne tonalen Zusammenhang« bzw. einer Polyphonie, die in sich verschiedene Tonalitäten aufnehmen könne und »treu dem kontrapunktischen Geiste« erprobte Elemente völlig neu ordne, erreicht werde.30 Es fällt auf, dass Ansermet in seiner Charakterisierung im Vergleich zu Rosenfeld eine geradezu gegenläufige Richtung einschlägt. Das Maschinenhafte und Urbane, das Rosenfeld so sehr in den Mittelpunkt gerückt hat, wird überhaupt nicht thematisiert, obwohl Ansermet 1923 auch die Uraufführung von Arthur Honeggers avantgardistischer Kurz-Symphonie Pacific 231 verantwortet hat. Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass im ersten Schwerpunktheft zur neuen russischen Musik das Neue eher aus der Perspektive einer evolutionären Weiterentwicklung genuin russischer Musiktraditionen gefasst wurde, denn aus dem Bestreben, auf radikal neue Ansätze hinzuweisen bzw. solche zu thematisieren. Wenn vom Neuen die Rede ist, dann unter ideologischen Blickwinkeln, die vorwiegend von Emigranten stammen oder von Kritikern, die die Veränderungen in Russland seit 1917/18 distanziert beobachten, wie dies etwa der inzwischen vergessene Boris Zak bündig zusammengefasst hat: »Gegenwart und Zukunft der russischen Musik liegen im Ausland.«31 Das von Viktor Belaiev zusammengestellte zweite Schwerpunktheft zur russischen Musik vom März 1925 ist dagegen für die zeitgenössische Wahrnehmung der Musikdebatten in Russland bzw. der Rezeption der russischen Moderne im deutschsprachigen Raum von weit größerer Bedeutung als das erste Themenheft. Zum einen war Belaiev, Verfasser u. a. einer Rachmaninov-Biographie und Kenner der Leningrader Philharmonie, in der er seit 1913 leitende Funktionen innehatte, sowie Begründer der Assoziation für zeitgenössische Musik (und über diese mit der Internationalen Gesellschaft für neue Musik gut in der europäischen Musikmoderne vernetzt), ein exzellenter Kenner der Entwicklungen der russischen Musik seit der Vorkriegszeit32. Neben einer kompakten Darstellung

29 Ernest Ansermet: Einführung in das Schaffen Igor Strawinskijs. In: Ebd. S. 169–172, hier bes. S. 170. 30 Ebd. S. 171. 31 Boris Zak: Musik in Russland und bei den Emigranten. In: Ebd. S. 173–177, hier S. 173. 32 Kritisch zur Rolle des ASM und dessen Distanz zur ›proletarischen‹ Musikkonzepten

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der 1923 eingerichteten Moskauer Vereinigung für moderne Musik [ = ASM, Anm. d. Verf.] gelang es ihm, für dieses Heft eine Vielfalt von Stimmen zu versammeln, die neben maßgeblichen Repräsentanten der Musikszene der frühen 1920er Jahre durchaus auch kritische Blicke Probleme der Musikpraxis ebenso wie des Entwicklungspotentials seit der Revolution von 1917 zu werfen im Stande waren33. So benennt z. B. Leonid Sabanejew, Chromatist in der Nachfolge von Skrjabin und bedeutender Musikpublizist, im ersten Themenblock Die neue Zeit offen die Schwierigkeiten, die sich sowohl vor als auch nach 1917 dem Musikleben in den Weg gestellt hätten. Zugespitzt lassen sich diese auf die Formeln der mäzenatischen Abhängigkeit von großbürgerlichem Snobismus mit entsprechend dilettantischen Konzertstrukturen vor 1917 sowie auf forciert revolutionäre Musikpolitik unter dem zuständigen Minister und vom Futurismus inspirierten Musikers Arthur Lour’e, »selbst ein Ultramoderner und Anhänger Strawinskys und Schönbergs« , bringen. Auch das Aufkommen der Arbeiterkonzerte, welche, so Sabanejew, die Masse der Arbeiterschaft kaum erreicht habe, hätte diese nämlich ein »tragisches Schweigen bewahrt«, unterstreiche dies. Zudem konstatierte er eine gerade in Gang befindliche Bewegung Richtung »Wiederherstellung des normalen Lebens«, die er – wenngleich im MdA-Beitrag unausgesprochen – an einer in sich inkonsistenten, formalistischen, d. h. musikimmanenten klangweltlichen Ästhetik ausrichtete, die auch Aspekte der Organisationstheorie des LEF aufnahm, wie er sie 1924 als »zeitgenössische Musik« in der Muzykal’naja Kult’ura programmatisch beschrieben hatte34. Unter dem Namen Igor Glebow legte Boris Asaf ’vev, ebenfalls dem ASM-Kreis nahe stehend und in Leningrad nach seiner Mitarbeit im MUZO (Musikabteilung) des ›Volkskommissariats für Aufklärung‹ eine eigenständige Musik-Moderne aufbauend, eine übersichtsartige Standortbestimmung der symphonischen wie der Kammermusik vor, die er 1925, gerade zum Professor an der Leningrader Musikwissenschaft berufen, unter das Schlüsselwort ›Evolution‹ Wolfgang Mende: Musik und Kultur in der sowjetischen Revolutionskultur. Köln-WeimarWien: Böhlau 2009, S. 301. 33 Viktor Belaiev : Die Moskauer Vereinigung für moderne Musik. In: MdA, H. 3/1925, S. 129–132. 34 L. Sabanejew: Die Musik und die musikalischen Kreise Rußlands in der Nachkriegszeit. In: MdA, H. 3/1925, S. 102–108, hier S. 106 bzw. S. 107. Zu Sabanejew und Skrjabin vgl. L. Sabanejew: Alexander Skrjabin. Werk und Gedankenwelt (1924, dt. 1926); neu hg. von Ernst Kuhn, = Musik Konkret 17, Berlin 2006. Sabanejew emigrierte 1926 nach Paris, weil seine Ansichten und sein Werk in Russland zunehmend auf Schwierigkeiten stießen. Zu seinem Beitrag Sovremennaja Muzyka (Zeitgenössische Musik) in der Muzykal’naja Kult’ura 1924, Nr. 1, S. 8–20; dt. Fassung in Detlef Gojowy : Neue sowjetische Musik der 20er Jahre. Laaber : Laaber Verlag 1980, S. 408–416. Dazu auch W. Mende: Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur, S. 311.

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stellte.35 Aus heutiger Perspektive und Kenntnis der russisch-sowjetischen Musikszene um 1925 mag dieser Überblick einige überraschende Akzentsetzungen beinhalten. Einer längeren historischen Einleitung, die sich vor allem auf den Einfluss von Beethoven auf den Stil von Michail I. Glinka, zentrale Gestalt vor Tschaikowsky, konzentriert, folgt zunächst eine Zuordnung der neueren Komponisten in eine Gruppe mit tendenziell »national-volkstümlichen epischen« Ausrichtung sowie in eine »paneuropäischen individuell-emotionellen« Charakters.36 In weiterer Folge spitzt Glebow/Asaf ’vev diese Polarisierung auf eine »episch-statische« Richtung (Balakirew, Borodin und partiell auch RimskiKorsakoff) und in eine »dramatisch-dynamische« rund um Tschaikowsky zu, dem er einerseits einen »Kultus des Individualismus« vorhält andererseits eine zu Beethoven hin gravitierende Architektonik zuschreibt. Zwar habe diese das »Entstehen der Skrjabinschen Egozentrik« nicht verhindern können, aber immerhin mit Sergej I. Tanejew einen Schüler hervorgebracht, dessen Verbindung von Klangdynamik und »konstruktive Gesetzmäßigkeit« sowie »vielgestaltige thematische Entwicklungen« den Boden der zeitgenössischen Musik aufbereitet habe, – wobei ausdrücklich die harmonische wie tonale Grundlage nicht außer Streit gestellt erscheint37. Samuel Feinberg und Nikolaj Roslavec werden mit kurzen Notenbeispielen ebenso vorgestellt wie Nikolaj Mjaskowsky, über dessen Symphonik Glebow abschließend folgende Einschätzung vorlegt: Die Symphonik Mjaskowskys, bereichert durch die schöpferischen Erfahrungen der Gegenwart, die emotionell gesättigt und dynamisch ausdrucksvoll ist, entwickelt sich mit dem großen Widerstand mittels des Aufbaues komplizierter harmonischer Momente und der Überwindung seiner mit ›Explosivstoffen‹ gesättigten Harmonik.38

Während aus der Perspektive 1924/25 Mjaskowsky also eine prominente, zukunftsweisende Position zugeschrieben und dies durch einen weiteren, nur ihm gewidmeten Beitrag unterstrichen, Roslavec dagegen nur kurzer Erwähnung wert befunden wird, sollte sich diese Rollenverteilung alsbald, d. h. ab 1925/26, ins Gegenteil kehren39. Überraschenderweise findet sich im ganzen Beitrag kein Bezug zu den ab Mitte 1924 in mehreren Artikeln für Muzykal’na kul’tura und Sovremennaja muzyka veröffentlichten Überlegungen des Musikwissenschaftlers (Glebow/Asaf ’vev) über eine anzustrebende Neuausrichtung der musikali35 Igor Glebow: Die Evolution der russischen symphonischen und Kammermusik. In: MdA, H. 3/1925, S. 109–113. 36 Ebd. S. 109. 37 Ebd. S. 110 bzw. 111. Ferner S. 112: »Tanejew ist der einzige unter den russischen Komponisten, der voll und ganz nicht nur die Technik, sondern auch die Dynamik des polyphonen Stiles beherrscht.« 38 Ebd. S. 113. 39 Vgl. I. Glebow: Mjaskowsky als Symphoniker. In: Ebd. S. 144–152. Zu Feinberg vgl. den Beitrag von Anatol Alexandrow, ebd. S. 176–177.

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schen Arbeit auf die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse und einer damit verbundenen Neubewertung des musikalischen Materials, das einerseits die »komplizierten Intonationen und Rhythmen der Stadt«, andrerseits die aus der Revolution abgeleiteten »Paraden, Demonstrationen, Vorführungen, Prozessionen, Feste, Sprechchöre und Lieder aufgreifen solle.40 Dabei schien ihm gerade die Kategorie der Intonation geeignet zu sein, um avancierte formale Tendenzen bürgerlicher Musikkultur mit jenen der Alltagskultur der russischsowjetischen Wirklichkeit produktiv zu verknüpfen. Letzteres erfolgte in seinem zeitgleich entstandenen, allerdings erst 1929 veröffentlichten Buch über Strawinsky, dessen Werk er unter die Spannungsachse aus »westlichem Urbanismus und russischem Melos« stellte.41 So zurückhaltend Glebow/Asaf ’vev in seinem MdA-Beitrag auch argumentiert, wobei die Motive hierfür nicht erkennbar sind, so konsequent arbeitete er in Leningrad selbst an der Weiterentwicklung seiner kunst- und musiktheoretischen Überlegungen sowie an einer Öffnung hin zu avantgardistischen Entwicklungen der europäischen Moderne, die insbesondere durch die enthusiastisch aufgenommene Aufführung von Arthur Honeggers Mouvement symphonique Nr. 1, Pacific 231 im Februar 1926 befördert wurde und insofern einen Wendepunkt markierte42. Diese sich 1924–25 abzeichnenden Öffnungen für formal-ästhetische Tendenzen werden auch in anderen Beiträgen angesprochen, z. B. in einem von Nadjeschda Briussowa, der sich eigentlich den Entwicklungen im Bereich der Musikpädagogik widmet und anmerkt, dass nicht nur die »letzten Werke Skrjabins, sondern auch […] Strawinskys, Prokoffiews, Mjaskowskys, Hindemiths, Schönbergs, Honeggers durch Schüler in den akademischen Konzerten der Konservatorien […] eine ganz normale Erscheinung [ist]43. Adolf Weissmann, einflussreicher Berliner Musikkritiker und regelmäßiger Mitarbeiter an den MdA, meint dagegen in seinem Beitrag zur Rezeption der russischen Musik im Westen in Werken wie Ernst Kreneks Zwingburg eine Art Echo der »rhythmischen Schläge Strawinskys« heraushören können, ohne jedoch auf die Generation der experimentell orientierten jüngeren Komponisten Bezug zu nehmen.44 Erst im letzten Teil des Schwerpunktheftes wird dem »vielen rätselhaft« wirkenden und als »radikalsten« unter den jungen Komponisten geltenden, d. h. Roslavec, eine eigenständige Charakterisierung seines vorlie40 Vgl. insbesondere den programmatischen Artikel Kompozitory, pospesˇite! [Komponisten, beeilt euch!] in Sovremennaja muzyka, Nr. 6/1924, S. 145–149, zit. nach W. Mende: Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur, S. 325. 41 Vgl. Ebd. S. 328 bzw. 336. 42 Vgl. Ebd. 337f. mit Bezugnahme auf Glebows Besprechung von Pacific 231 in der Sovremennaja muzyka Nr. 13–14/1926, S. 69–73. 43 Njadeschda Briussowa: Die Strömungen auf dem Gebiete der musikalischen Bildung. In: MdA, H. 3/1925, S. 117–120, S. 119. 44 Adolf Weissmann: Das Echo der russischen Musik in Europa. In: Ebd. S. 154–158, S. 158.

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genden Werkes und seiner ästhetischen Ansichten gewidmet, – bezeichnenderweise in einem Beitrag, dessen Verfasserschaft nur durch eine Sigle [L.] angedeutet wird.45 Die »Sprache der Harmonien dieses Komponisten« überschreite mit ihren 6-, 7- und 8-tonigen Akkorden sowie ihrer »fremd anmutenden Verdoppelung« das gängige Verständnis von Harmonik und lasse auf Einflüsse »Schönbergs und der modernen Franzosen« schließen, griffen de facto aber Skrjabins Akkordfelder auf. Dazu tendieren auch programmatische Äußerungen Roslavec’, in denen eine Überwindung der »impressionistisch-expressionistischen Tonanarchie« zugunsten einer Suche nach »Erkenntnis neuer Gesetze musikalischen Denkens« gefordert wird, – eine Suche zugleich nach »neuer, klarer, präziser Systeme der Tonbildung«.46 Unter dem Begriff der ›Synthetakkordmethode‹ ist diese neue Form der Tonorganisation als Parallelphänomen zur Zwölftonmusik mit Anklängen an den Futurismus in die Musikgeschichte denn auch eingegangen.47 Ein weiterer das Heft abschließender Beitrag setzt sich schließlich mit der Rezeption moderner europäischer Musik in Russland auseinander, wobei der Wiener Schule ein großer Stellenwert zugemessen wird. Abram Dzimitrowsky, der Anfang der 1920er Jahre nach Wien kam und in der Universal-Edition das Russland-Programm betreute, hob darin vor allem die Schönberg-Schüler Anton Webern, Paul A. Pisk und Hanns Eisler und deren Aufnahme in die Moskauer Musikzeitschrift Zu neuen Ufern heraus, was wiederum anzeigt, dass nicht nur Schönberg, sondern um 1924–25 bereits ein breiterer Kreis der Wiener Moderne für zeitgleiche Debatten in Moskau und Leningrad eine Referenzgröße dargestellt hat48. Aufschlussreich sind auch die Anhänge mit den verlagseigenen Noten-Publikationen. Um 1925 waren demnach in der Universal-Edition (UE) nicht nur Tschaikowsky, Skrjabin und Strawinsky, sondern auch Werke von I. Dobrowen, S. Feinberg, N. Mjaskowsky, L.A. Polovinkin oder A. Tscherepnin verfügbar, Roslavec und andere angekündigt, was neben dem generellen Interesse der UE für moderne russische Musik auf entsprechende Expertisen hindeutet und die bereits funktionierende Zusammenarbeit mit dem russischen Staatsverlag dokumentiert. 45 L.: N.A. Roslawetz; ebd. S. 179–181. 46 Ebd. S. 180. Den Hinweis zu Skrjabin verdanke ich Ch. Flamm. 47 Vgl. dazu Marina Lobanova: Der Fall Roslawez. In: Die Neue Musikzeitschrift Nr. 1/1995, S. 40–43. In einer Besprechung der Studie von W. Mende wird dagegen ebenfalls auf eine Abhängigkeit Roslavec’ von Skrjabin hingewiesen. Vgl.Ljudmila Belkin: Die sowjetische Revolutionskultur – eine kunstübergreifende Diskussion. In: http://www.academia.edu/ 3127660/Fokus_auf_die_Speerspitze._Rezension_zu_Wolfgang_Mende_Musik_und_Kunst _in_der_sowjetischen_Revolutionskultur; Zugriff vom 16. 2. 2015. 48 A. Dzimitrowsky : Russische Kritiken über moderne europäische Musik. In: MdA, H. 3/1925, S. 184–185; zu Dzimitrowsky und seine Rolle in Wien vgl. auch Jascha Nemtsov : Die neue jüdische Schule in Wien. Wiesbaden: Hassarowitz 2004, S. 192f.

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Warum die russische Musikmoderne in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre und d. h. am Höhepunkt ihrer formalen Ausdifferenzierung aus dem Aufmerksamkeitsfokus der MdA-Redaktion geriet, ist schwer nachzuvollziehen. Denn bis zum nächsten Russland- bzw. USSR-Heft verstrichen gut sechs Jahre, in denen einerseits kühne formale Entwicklungen wie z. B. im Bereich der sogenannten industriellen Intonationen vonstatten liefen, andererseits jedoch auch eine Re-Ideologisierung der Musiksphäre insgesamt, ihrer Institutionen und deren Ausrichtung auf die in alle Lebens- und Kunstbereiche durchgreifenden Parameter der ›proletarischen‹ Kunst und Kultur auf der Basis des MarxismusLeninismus systematisch umgesetzt wurden. Als Zäsur ist dabei zweifellos die Übernahme der ASM-Vereinigung (die nahezu alle namhaften Komponisten, auch linker Ausrichtung versammelte) durch die Russische Assoziation der proletarischen Musiker (RAPM) 1929 zu sehen, die zugleich auch als Manifest den Eingangsbeitrag zum Anbruch-Schwerpunktheft vom November/Dezember 1931 abgibt und somit, begleitet von einem kurzen Kommentar von Anatoli Lunatscharsky, den vollzogenen Paradigmenwechsel hin zu einer sowjet-sozialistischen Musikästhetik anzeigt.49 Diesem Paradigmenwechsel, der unter der Formel des Klassenkampfes gegen die ›bürgerlichen Spezialisten‹ bzw. ›Formalisten‹ 1929/30 ausgefochten wurde und sämtliche Vertreter der avancierten Musikmoderne betraf, waren eine erzwungene Rücktrittswelle (z. B. im Fall von Asaf ’ev), erpresste Solidaritätserklärungen (wie im Fall Roslavec) oder Aufführungsverbote (Desˇevov, Mosolow, Prokofiev, Schostakowitsch) vorangegangen. De facto sanktionierten sie das Ende der formal experimentellen Moderne zugunsten einer ideologischen Gleichschaltung unter die kulturpolitischen Prinzipien des Sozialistischen Realismus. Über diese folgenreiche Entwicklung ist in den MdA allerdings nichts zu lesen.50 Belaiev, die zentrale Verbindungsgestalt zwischen Moskauer und Wiener Moderne, kommt in den MdA nur mehr 1927 ausführlicher in einem Beitrag zur zeitgenössischen Klaviermusik zu Wort, obwohl er sich 1926 vehement für einen der interessantesten jüngeren SowjetKomponisten (und baldigen Dissidenten), für Alexander Mossolow, einsetzte, der mit seinem Ballett-Orchesterstück Zavod (Die Fabrik) 1927 eine erfolgreiche, an der Idee der Maschine (Eisengießerei) angelehnte, revolutionäre Gesinnung und avancierte Musik zusammenführende Komposition vorgelegt hat. Er wurde schlicht kalt gestellt, d. h. sein publizistisches Wirkungsfeld drastisch

49 Vgl. Paul Weiss: Musik einer Neuen Welt. In: Anbruch H.8/10/1931, S. 173–178. Zur RAPM und der sowjetischen Musikkultur um 1930 vgl. auch Boris Schwarz: Musik und Musikleben in der Sowjetunion von 1917 bis zur Gegenwart. Aus dem Amerikanischen von Jeanette Zehnder-Reitinger. Wilhelmshaven: Heinrichshofen 1982, = TB zur Musikwissenschaft 67, S. 73–104. 50 Vgl. dazu W. Mende: Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur, S. 361f.

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eingeschränkt und 1936 verhaftet und zu mehrjähriger Zwangsarbeit verurteilt.51 Im erwähnten Klaviermusik-Beitrag versucht Belaiev darzulegen, inwiefern die russische Moderne über Strawinsky, Feinberg und Prokofiev sowohl Anschluss an die westeuropäische gefunden habe, als auch, als neue sowjetrussische Musik traditionszerstörend und die Herausforderungen der Revolution annehmend, dabei sei, neue Wege einzuschlagen, z. B. über Tscherepnin, Polovinkin und Mosolow – ohne diese weiter auszuführen.52 Auch Glebow/Asaf ’vev tritt ab 1927/28 deutlich in den Hintergrund, obwohl in einem Beitrag über die moderne russische Oper »die große soziale Revolution« und die durch sie herbeigeführte Demokratisierung gebührend erwähnt, allerdings der Idee einer Oper des Bolschewismus eine Absage erteilt wird.53 Danach kamen noch Beiträge über die Opern von Mussorgsky und Rimsky-Korsakoff sowie Kurzberichte zum Abdruck, die sich erfolgreichen Aufführungen (Wiener) Neuer Musik in Leningrad widmeten, nämlich Schönbergs Gurre-Lieder, Bergs Wozzeck und Kreneks Sprung über den Schatten sowie die Rezeption der Neuen Musik, einschließlich der außerhalb der Sowjetunion wirkenden Komponisten wie Strawinsky und Prokofieff.54 Umgekehrt blieb es Paul A. Pisk vorbehalten, ebenfalls 1928 neueste Kammermusikwerke und jüngere russische Komponisten wie D. Schostakowitsch oder V. Necˇaev vorzustellen55. Entsprechend der veränderten Rahmenbedingungen sah auch das letzte Russland/USSR-Heft des Anbruch aus: ideologisiert und musikästhetisch deskriptiv wie bescheiden, was sich u. a. in der vollkommenen Negierung der zeitaktuellen, weil letztlich bürgerlichen Moderne und einer Neubewertung des Chorliedes, soweit für die proletarischen Anliegen verwendbar, niederschlug. Nur Mussorgsky und Beethoven werden als »Lehrmeister« der »proletarischen Musik« anerkannt, Mussorgsky u. a. aufgrund seiner Oper 1919 mit ihren revolutionären Chören, N. 51 Ebd., S. 503 (zu Belaiev-Mossolow) bzw. S. 507f. Das Stück ist zugänglich unter : http://www. universaledition.com/Alexander-Wassiljewitsch-Mossolow/composers-and-works/compo ser/492 (Zugriff vom 20. 7. 2015). 52 Viktor Belaiev : Die moderne russische Klaviermusik. In: MdA, H. 8/1927, S. 364–366, bes. S. 365. Über Tscherepnin vgl. auch: MdA H. 10/1927, S.439 (anlässlich der deutschen Erstaufführung des Balletts Der verzauberte Vogel in Magdeburg). 53 I. Glebow: Die russische Oper der Gegenwart. In: MdA, H. 1–2/1927, S. 83–87, bes. S. 85f. 54 I. Glebow: Russland, MdA, H. 1/1928, S. 22–23. Aufschlussreich, wenngleich auf eine schmale Rubrik begrenzt auch der Bericht von S[imon] Ginzburg zur Neuen-Musik-Rezeption in Leningrad; MdA, H. 10/1927, S. 445–446. Unter den ›modernen‹ Kompositionen österreichischer Provenienz werden dabei R. Strauß mit Salome, F. Schrekers Der ferne Klang, A. Bergs Wozzeck und E. Kreneks Der Sprung über den Schatten explizit herausgehoben. Ginsburg, der Asaf ’vev nahestand, nannte in diesem Beitrag auch erstmals eine Reihe junger»begabter Komponisten« (wie z. B. »an erster Stelle« Wladimir Schterbatschew, ferner Wladimir Deschowow, Michail Judin, Dmitrij Schostakowitsch u. a.). 55 Paul A. Pisk: Neue russische Musik. In: MdA, H. 6/1928, S. 222.

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Mjaskowsky, ASM-Mitbegründer, und W. J. Schebalin dagegen, deren Werke »sich prinzipiell gar nicht von der bürgerlichen Musik im Westen unterscheiden«, erhalten aufgrund einer Erklärung, wonach Komponisten teilzunehmen hätten »am Kampf um die Industrialisierung und Kollektivierung« sowie am »unversöhnlichen Klassenkampf gegen die Reste der bürgerlichen Klasse« eine zweite ›Chance‹56.

4. Avantgardeaffine Themen stehen seit 1925/26 wie bereits erwähnt in mehreren Schwerpunkt-Heften zur Diskussion. Im Besonderen sind hier nach dem JazzHeft (April 1925) oder dem Heft zum Prager Musikfest (Mai 1925) zwei Hefte des Jahrgangs 1926 herauszuheben: Tanz in dieser Zeit (März) und Musik und Maschine (Oktober-November). Im Kontext der für die Moderne- und Avantgardebewegungen kennzeichnenden Fokussierung auf die Materialität der Ausdruckspotentiale bzw. der den Künsten jeweils zur Verfügung stehenden ›Sprache‹ wurde dem Tanz sowohl im Bereich der Theater-Dichtung als auch in jenem der Musik und natürlich der Tanz-Kunst selbst vermehrt Augenmerk zuteil. Das breite Spektrum an konzeptuellen ästhetischen Vorstellungen könne, so Paul Stefan in seinem Vorwort, auch als Chiffren der Zeit und ihrer ›modernen‹ Tendenzen angesehen werden: »…Tanz dringt in die Neue Musik ein, Tanz bestimmt den Rhythmus, die Linie, den Ablauf der Zeit.«57 Dieses angesprochene Spektrum erstreckte sich von den magisch-religiösen Vorstellungen eines Walther Klein, die im Tanz eine Synthese aus kultischen Opfergesten und totaler Hingabe an den Körper erblickten, über die technizistisch ausgerichtete Rudolf v. Laban-Schule und ihrer Suche nach einer normierenden Tanzschrift, die 1928 zur Labanotation führte, über Aspekte der Regie, des Rhythmus und der Tanzpädagogik, über (experimentelle) Verschränkungen mit Dichtung (Bal‚zs, Hofmannsthal), der Sprech- oder der Opern-Bühne (Bodenwieser, Wellesz), der Verbindung von Tanz und Revue (Stuckenschmidt) und verschiedenen Tendenzen der Abstraktion bis hin zu Oskar Schlemmers Tanz- Mathematik und deren Realisierung im ›Triadischen‹ Ballett.58 56 Paul Weiss: Musik einer Neuen Welt (= Verlautbarung der Assoziation der proletarischen Musiker). In: Anbruch, H. 8/10/1931, S. 173–178, hier bes. S. 177. 57 Paul Stefan: Tanz in dieser Zeit. In: MdA, H. 3–4/1926, S. 93–94, hier S. 94. 58 Vgl. Mary Wigman: Tänzerisches Schaffen der Gegenwart; ebd. S. 95–97; Walther Klein: Von der Magie des Tanzes; ebd. S. 100–101; Rudolf v. Laban: Vortragsbezeichnungen und Bewegungsbegriffe; ebd. S. 115–119; B¦la Bal‚zs: Tanzdichtung; ebd. S. 109–112; Gertrud Bodenwieser : Tanz auf der Sprechbühne; ebd. S. 148–150; H.H. Stuckenschmidt: Lob der

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Abb. 1: Musikblätter des Anbruch. Sonderheft 8/9 (1926): Musik und Maschine. Abb. 2: Anbruch. Sonderheft 8/10(1931) USSR. Beide: Mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition Wien; Ó Universal Edition Wien.

Den Eröffnungsbeitrag steuerte die deutsche Laban-Schülerin und Pionierin des (post)expressionistischen Ausdruckstanzes Mary Wigman bei. Ihr ging es dabei vor allem um zwei Klarstellungen: um eine scharfe Grenzziehung zwischen klarer Tanzsprache und reizvollem »Dilettantismus«, können nämlich »gut in Szene gesetzte Frauen mit beweglichen Gliedern« noch lange nicht als Tänzerinnen gelten, sowie um die Verpflichtung zu kontinuierlicher Recherche nach eben jenen »Formen tänzerischer Gestaltung«, die erst »im Dauerprozeß des Experimentierens sich kristallisieren.«59 Mit Wigman und Laban kommen zwei Stimmen zu Wort, die prononciert gegen die mystisch-ekstatischen TanzRevue; ebd., S. 153–155, Oskar Schlemmer : Tänzerische Mathematik; ebd. S. 123–125. Von Hofmannsthal wurde das Mittelstück seiner Ballettdichtung Der Triumph der Zeit (1901) abgedruckt; V. Belaiev referierte über den Bühnentanz in Russland, Komponisten wie z. B. A. Casella, E. Krenek, E. Schulhoff oder E. Wellesz antworteten auf eine Rundfrage. Darüber hinaus wurden die wichtigsten Tanz-Schulen im deutschsprachigen Raum gesondert vorgestellt, ebenso ausgewählte Theater mit eigenen Tanz-Ensembles. Zum Verhältnis Tanz/ Körperlichkeit-Musik vgl. auch Tim Becker : Plastizität und Bewegungskörperlichkeit in der Musik und im Musikdenken des frühen 20. Jahrhunderts. Berlin: Frank & Thimme 2005, bes. S. 153f. 59 Mary Wigman: Tänzerisches Schaffen der Gegenwart; ebd. S. 95–97, hier S. 95.

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pantomime der Jahrhundertwende sowie gegen die Subordination des (klassisch-modernen) Balletts unter die Musik, aber auch gegen rhythmische Akrobatik als zeitaktuelle Bühnendekoration Position beziehen. An deren Stelle rücken sie die Eigenwertigkeit des Tanzes und seiner Körper-Materialität und bringen damit auch den Werk-Begriff im Sinn eines Autonomisierungsanspruchs ins Spiel. Dass hierbei die experimentelle Dimension weit gefasst und somit unterschiedliche Vorstellungen von Modernität angesprochen werden, lässt sich als Indiz für Offenheit im Zugang wie für die Dynamik der Debatte selbst interpretieren. So lesen sich z. B. die Vorstellungen der ebenfalls prominenten, sich expressionistisch verstehenden Choreographin und Tanzkünstlerin Gertrud Bodenwieser nicht minder modern als jene Wigmans, obwohl sie ihre Tanz-Kunst wiederholt für eigenwillige Theaterproduktionen zur Verfügung bzw. in Subordination stellte, u. a. für das kontrovers diskutierte FranziskaStück Wedekinds 1924 im Raimundtheater60. Tanz wird von ihr, in Anlehnung an das als »Kind der Revolution« angesehene russische Tanztheater nicht mehr als »Einlage oder Füllsel«, sondern »dem Sinn des Dramas verwoben« begriffen, um kongenial, synästhetisch dessen Wirkungspotential zu entfalten bzw. zu steigern: »Hier galt es, den dämonisch aufgepeitschten, in grellen Dissonanzen wirbelnden Rhythmus dieser Aufführung durch den Tanz noch zu übersteigern.«61 Im Vergleich zu den beiden Choreographinnen argumentiert Bela Bal‚zs’ Essay über Tanzdichtung eher konventionell, insbesondere vor dem Hintergrund seiner exponierten theoretischen Reflexionen, aber auch seinen regietechnischen Arbeiten an den Schnittflächen von Theater und Film, wie er sie in Drehbuch-Projekten skizziert und umgesetzt hat. Der Pantomime und der Tanzkunst schreibt er – im Unterschied etwa zu Hofmannsthal – weniger eine entfesselnde als eher eine ordnende Funktion zu, nämlich die »Seele des Schweigens« sichtbar, die Gebärde dechiffrierbar zu machen. Dabei verwirft er dezidiert experimentelle Formen als Fehlentwicklungen, die nur in eine »Leere der Abstraktion« führten.62 In kaum verdeckten Gegensatz dazu propagiert Oskar Schlemmer den »körpermechanischen, den mathematischen Tanz«, der auf einer radikalen, konstruktivistischen Rückführung auf das Elementare des Bewegungsapparates, seiner Befreiung von »allem elektrisierenden Beiwerk aller Stile und Zeiten«

60 Vgl. z. B. die kontroversen Besprechungen in der Wiener Zeitung (O. Stoessl) vom 20. 12. 1924, S. 8 bzw. in der Neuen Freien Presse (E. Kläger), 21. 12. 1924, S. 14–15. 61 Gertrud Bodenwieser : Tanz auf der Sprechbühne. MdA, H.3–4/1926, S. 148. 62 B. Bal‚zs: Tanzdichtung. In: Ebd., S. 109–112, bes. 110f. Zur unterschiedlichen Sicht auf den Tanz bei Bal‚zs und Hofmannsthal vgl. Gustav Frank: Von den ›stummen Künsten‹ (Hofmannsthal) zum ›sichtbaren Menschen‹ (Bal‚zs): eine Triangulation des ›Neuen Tanzes‹ durch Literatur und Film. In: Ars Semiotica 27 (2004) S. 65–76, bes. S. 72f.

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analog zu Adolf Loos’ Formel vom ›Ornament als Verbrechen‹ beruht.63 Wie das auf der Bühne zu realisieren sei, beschreibt Schlemmer im mittlerweile ›klassisch‹ gewordenen »Triadischen Ballett«, das bereits 1912 konzipiert, aber erst 1922 uraufgeführt werden konnte und die erwähnten konstruktivistischen Aspekte wie folgt umsetzt: ›Triadisch‹ (von Trias) genannt wegen der Dreizahl der Tänzer und dem dreiteiligen symphonisch-architektonischen Aufbau des Ganzen: ein heiter-burlesker Teil auf Zitronengelb, ein seriös-getragener auf Rosa und ein abstrakt-phantastischer auf Schwarz. Dreizahl auch darin: 12 Tänze und 18 Kostüme. Schließlich auch Einheit von Tanz, Kostüm und Musik. Das Besondere des Balletts ist das farbig-formale raumplastische Kostüm, der mit elementar-mathematischen Formgebilden umkleidete menschliche Körper und dessen entsprechende Bewegung im Raum.64

In Wien bzw. Österreich kam diese konstruktivistische Vision zwar nicht zur Aufführung, aber über die prominente Plattform der MdA immerhin in eine breitere Öffentlichkeit und erhöhte Wahrnehmungsebene. Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht irrelevant, darauf hinzuweisen, dass Schlemmer diese Ballettform nicht nur für das Tanz- bzw. Marionettentheater im engeren Sinn, sondern auch für das Revuetheater als möglichen Ansatz im Blick hatte. Dass die Revue hier miterwähnt wird, mag überraschen, wird ihr doch weniger ein experimenteller als vielmehr ein eklektischer, auf Effekt und Warenästhetik ausgerichteter Unterhaltungscharakter zugeschrieben. Was durchaus gängige Praxis war, schien von der Form her gesehen freilich radikaler und durch manche Aufführungen auch als Kunstform attraktiv bzw. reflexionswürdig zu sein. H. H. Stuckenschmidt hat gerade mit Bezugnahme auf die Chocolate Kiddies (1925 in Berlin wie Wien zu sehen) oder die Revue NÀgre mit ihrer herausragenden Protagonistin Josephine Baker ein Lob der Revue angestimmt, in dem das spezielle Verhältnis von Form und Formlosigkeit sowie der Anspruch variabel, d. h. in gewisser Weise konstruktivistisch zu sein – »elastisch und in allen Teilen auseinandernehmbar« – als Potential zwischen Problembühne, Variet¦ und Ballett angesprochen wird. Ein Potential, das zwar primär dem »Bedürfnis nach Zerstreuen entgegenkommen« will, dabei zugleich aber auch in ihrer Sinnlosigkeit als Sinnangebot dem ›synthetischen Heute‹ korrelieren würde.65 Dem Umfeld der Neuen Musik und der Universal-Edition ist schließlich noch ein bemerkenswerter Versuch zuzurechnen, Tanz und Musik in ein besonderes Verhältnis zueinander zu rücken: Erwin Schulhoffs 1923 komponiertes Ballettmysterium Ogelata (op.37) nach einem altmexikanischen Stoff, der das Primitivismus-Interesse der Avantgarde aufgreift und – folgt man einer Be63 O. Schlemmer: Tänzerische Mathematik. In: Ebd. S. 123–125, bes. S. 124. 64 Ebd. S. 125. 65 H.H. Stuckenschmidt: Lob der Revue; ebd. S. 153–155, bes. S. 155.

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sprechung aus dem Berliner Börsenkurier – diesen in eine hochrhythmische Tanzmusik bringt, bei der »dem Tanz die dominierende Stellung zugewiesen«.66 Eine Wiener oder Prager Aufführung ist zwar nicht nachweisbar, doch diese Anzeige kann, im Verein mit Schlemmers Zeichnungen zum Triadischen Ballett, als Indiz für eine breitere Interessenslage und Diskussionsbereitschaft in der Zeitschrift und ihrem Umfeld gewertet werden. Eine im Hinblick auf den etablierten Musikbetrieb nicht minder herausfordernde Offenheit legte die Redaktion auch mit dem Schwerpunktheft Musik und Maschine an den Tag, wobei der richtungsanzeigende Terminus jener der ›mechanischen Musik‹ ist. Dabei geht es nicht so sehr um den bloßen Einsatz neuer mechanischer Instrumente, der bereits in mehreren Heften des 1925er Jahrgangs von Pult und Taktstock diskutiert worden ist, sondern, wie H.H. Stuckenschmidt und Ernst Toch klarstellen, um »die ersten Werke für mechanische Instrumente« bzw. um Musik, die »überhaupt nicht von Menschen ausgeführt werden könne, sondern nur von mechanischen Instrumenten«.67 Die durch Einzeichnungen auf Walzen und Platten konstruierten Tonstücke würden ein »Bild vollkommenster geometrischer Exaktheit« ergeben, die …durch menschliches Spiel niemals erreicht werden kann; die vollkommene Versachlichung, die vollkommene Entpersönlichung des Spieles. Nichts unterläuft, was nicht durch Tonhöhe, Metrum, Rhythmus, Tempo, Dynamik in den Noten fixiert ist.68

Toch weiß um den Preis solcher mechanischer Musik: die Verdrängung von Spontaneität und Subjektivität, weshalb sie nicht auf jede Musik anwendbar wäre, was auch der Budapester Musikkritiker und Schönberg-Schüler Alexander Jemnitz in seinen Glossen anmerkt.69 Was dagegen für sie spreche, sei der Umstand, dass sie »[…] ganz einfach einen neuen oder wenig bebauten Bezirk der musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten [erschließt]«70. An Tochs Plädoyer 66 Der Hinweis findet sich in der unpaginierten Beilage des MdA-Heftes 3–4/1926 unter den Werbeanzeigen der Universal-Edition, ebenso der undatierte Auszug aus der Besprechung, die sich auf die Aufführung in Dessau im November 1925 bezog. 67 Vgl. H.H. Stuckenschmidt: Die Mechanisierung der Musik. In: Pult und Taktstock, H.1/1925, S. 1–8, gefolgt von mehreren Rundfragebeiträgen in H.2/3/1925, darunter auch einem von E. Krenek. Ferner H.H. Stuckenschmidt: Mechanisierung. In: MdA, H. 8–9/1926, S. 345–346, hier S. 346 bzw. E. Toch: Musik für mechanische Instrumente. Ebd. S. 346–349, hier S. 346. Ernst Toch (1887–1964) legte am Kammermusikfest Donaueschingen (1926) zusammen mit Paul Hindemith und Gerhard Münch erste Kompositionen für das Welte-Mignon Reproduktionsklavier vor. 68 Ebd. S. 348. 69 Alexander Jemnitz: Antiphonie (Glossen). In: Ebd. S. 350–353, hier S. 352: »Musikinstrumente sollen gar nicht Präzisionsmaschinen sein…« bzw.: »Gerade das Unvollkommene ist zugleich auch das Menschlichere und berührt uns unmittelbarer als alle fabrikmäßig garantierte, nervenfreie Überzuverlässigkeit…Unbeherrschter Vollkommenheit gegenüber gebührt jedenfalls der Vorzug.« 70 Ebd. S. 349.

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für mechanische Musik schloss sich eine Kontra- und Pro betitelte Abwägung an, in der Hans Heinsheimer mit skeptischer Distanz Position bezog sowie ein Beitrag des aus Lemberg gebürtigen Komponisten und Wegbereiters der elektronischen Musik im späteren US-Exil Max Brand. Während Heinsheimer seine Skepsis unter dem Eindruck der Donaueschinger Aufführungen formuliert, die gleichsam Vorurteile »sentimentale[r] Reaktionäre« bestätigt hätten, wonach eine ›Entseelung‹ der Reproduktion das Ergebnis gewesen wäre – »Die Apparate waren ungeschickt, farblos, hart, verschwommen in den Konturen, roh im Klang« – und noch fehlende technische Perfektion beklagte, um sich nicht grundsätzlich gegen diese Perspektive zu stellen – »das mechanische Instrument der Zukunft wird […] Komponisten inspirieren«71– argumentierte Brand für eine radikale Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch, Maschine und Musik: Es müsste gelingen, einen abstrakten musikalischen Vorgang von der jeweils untergeschobenen Deutung ins menschliche Gefühlsmäßige zu befreien und ihn lediglich in die kongruente Bewegung sowie Formung, entsprechend seinem Aufbau, bühnenmäßig umzusetzen und aufzulösen.72

Brands Vorstellungen von einer Autonomisierung nicht nur der musikalischen Formen sondern auch einer technischen Automatisierung des Bühnenraumes insgesamt – »Die ›bewegte Bühne‹ […] die jedem Geschehen durch konstante maschinelle Bewegung restlos folgt« und zwar »durch Materialbewegung, Licht und Film« – lief auf eine weitgehende Befreiung »von allein menschlicher Handlung« hinaus, wobei das »Material zum wichtigen, Handlung bestimmenden Faktor wird«.73 Ein Ansatz, dessen erste Konturen Brand in Schönbergs Glückliche Hand zu erkennen meint, und der zweifellos zu den avanciertesten seiner Zeit gezählt werden kann. Er berührt sich mit dem von Moholy-Nagy in seinem Manifest Musico-Mechanico, Mechanico Optico, das in diesem Heft unmittelbar auf Brand folgt. Wie Brand, vielleicht nur um eine Spur pointierter, manifestantistischer, redet Moholy-Nagy einer Emanzipation der Kunst von der Herrschaft des »persönlichen Ausdrucks«, vom ›Natürlichen‹ zugunsten exakter Notation und Weiterentwicklung der Versuche mit Verstärkerröhren unter Einbeziehung der bruitistischen Experimente, »neue Instrumente mit neuer Tonbildung zu konstruieren«, das Wort.74 Widmet sich die Mehrzahl der Beiträge auch eher technischen Herausforderungen und Neuerungen wie z. B. neben dem Sprechfilm dem Radio und 71 72 73 74

Ebd. S. 354 und S. 355. M. Brand: »Mechanische« Musik und das Problem der Oper. Ebd. S. 356–359, hier S. 357. Ebd. S. 358. L. Moholy–Nagy : Musico-Mechanico, Mechanico-Optico. Geradlinigkeit des Geistes – Umwege der Technik. Ebd. S. 363–367, hier S. 363f. und S. 365.

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insbesondere dem Grammophon, verschiedenen chronometrischen Apparaturen (Sphärophon, Musikchronometer, Notenmaschine), die tendenziell die Reproduktionsebene und weniger jene der Komposition betrifft, was u. a. zu eher verhaltenen Reaktionen unter Komponisten und Musikkritikern wie Schönberg oder Wilhelm Heinitz geführt hat, so deutet doch die Intensität der Auseinandersetzung darauf, dass ›Mechanisierung‹ als ein auf produktive Potentiale hin auszulotendes Phänomen der Zeit erkannt worden ist.

5. Für die Bestimmung der Musikmoderne und ihrer Berührungen mit der zeitgenössischen Avantgarde war neben der Wiener und Prager Schule der Neuen Musik, neben den Debatten in der Sowjetunion und den bereits vorgestellten Themen auch die zeitgenössische französische Musik eine wichtige Referenzinstanz. Der Anbruch widmete ihr im April/Mai 1930 ein eigenes Heft, vergleichsweise spät, wenn man das Italien-Heft aus dem Jahr 1925 heranzieht und die internationale Bedeutung einzelner französischer Komponisten in Rechnung stellt75. Die Beiträger und in Einzelporträts Vorgestellten ergeben freilich ein repräsentatives Bild der wechselseitigen Einschätzung. Ernst Krenek eröffnet dieses Spektrum mit dem vielleicht repräsentativsten, vom Werk her jedenfalls vielgestaltigsten Komponisten der sogenannten »Group de Six«, mit Darius Milhaud76. In einem seiner Reisefeuilletons verwandten Stil entwirft Krenek dabei ein Gesamtbild, das sich aus landschaftlichen Komponenten, d. h. der Verankerung Milhauds im Provenzalischen, ebenso zusammensetzt wie aus technischen Aspekten. Milhaud wird dabei eine Zeitlosigkeit attestiert, die seine historisch-mythischen Stoffe und Bearbeitungen, z. B. Malheurs d’Orph¦e, nicht minder kennzeichne wie jene, die gegenwärtigere Themen behandelten, in denen Krenek vor allem eine moderne Volksliedhaftigkeit, getragen von einer spezifischen maritimen »Schwermut und melancholischen Wildheit«, heraushört, etwa aus Le pauvre matelot (1926), ohne anzumerken, dass Jean Cocteau dazu das Libretto verfasst hat77. Des Weiteren fehlen in dieser, das Landschaftliche betonenden Skizze Milhauds Begegnungen mit der südamerikanischen, 75 Zuvor hat nur Hans H. Stuckenschmidt 1925 einen ersten orientierenden Überblick mit Fokus auf die neue französische Musik (Satie, Milhaud, Jean Wi¦ner u. a.) geboten: Notizen zur jüngsten französischen Musik. In: MdA, H. 10/1925, S. 538–543. 76 Zur Geschichte und Bedeutung dieser Gruppe vgl. Robert Shapiro: Les Six: The French Composers and their Mentors Jean Cocteau and Erik Satie. London: P. Owen Publ. 2011 sowie die kompakte Darstellung unter : http://www.scena.org/lsm/sm6-1/coq-en.html (Zugriff vom 26. 2. 2015). 77 Ernst Krenek: Darius Milhaud. In: Anbruch, H. 4–5/1930, S. 135–140, hier S. 138.

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speziell brasilianischen (Musik)Welt sowie mit Harlem und dem Jazz. Daher wundert es nicht, dass in Kreneks Darstellung die ob ihrer Jazz- und FolkloreElemente ungewöhnliche Ballettkomposition La Cr¦ation du Monde (1923) keine Erwähnung findet. Hinsichtlich der technischen Seite streicht Krenek neben einer spezifischen Ostinato-Technik die »tonal kadenzierende Periodik der Überlieferung und eine Art von Heterophonie, die zur Polytonalität neigt«, also eine zwar moderne, die tonale Grundschrift jedoch nicht verlassende Signatur, heraus78. Milhaud selbst tritt im selben Heft als Verfasser einer kompakten Werkbiographie zum bereits 1925 früh verstorbenen Erik Satie in Erscheinung. Er konzentriert sich dabei einerseits auf dessen Klavierkompositionen, die er in Reaktion auf Claude Debussy, seinen Ausgangspunkt, als »genau konstruierte Musik« definiert, andererseits auf seine Ballettkompositionen. Allerdings geht er auf die wegweisende wie von Skandalen begleitete Aufführung der Parade (1916/ 17) nicht ein79. Diese Parade ist bekanntlich nach einem Akt von Cocteau für Sergej Djaghilew und seine Ballets Russes komponiert, bühnenbildlich von Pablo Picasso mit kubistischen Figuren und Geräuschapparaten ausgestattet und choreographisch von L¦onid Massine betreut worden. In der Musik-Ballettgeschichte gilt sie mit gutem Grund als eine der ersten multimedialen und avantgardistischen Kompositionen, die in einem traditionellen Bühnenraum realisiert wurde.80 Der Musikkritiker Henri PruniÀres, Begründer der Revue Musicale (1920–1940), präsentiert wiederum Arthur Honegger, dessen als »mouvement symphonique« gekennzeichnete Pacific 231 (1923) zu den avancierteren und international breit rezipierten Kompositionen zu rechnen ist. Honegger wird als der französische Atonale par excellence vorgestellt, der gelegentlich »sich bitonalem Spiel« hingebe, um sich dabei einen maximalen Freiraum zu bewahren. Dies sei in den vorangegangen Oratorien König David oder Antigone an »Klangfresken« erkennbar, während mit Pacific 231 die Maschine die Kontur der Musik grundlegend verändert habe: »Mit ihren Rhythmen und Geräuschen lebt die Maschine, die Lokomotive gewissermaßen in der Musik und ihre Leistung läßt sich sehr wohl poetisch werten.«81 78 Ebd. S. 138f. 79 Darius Milhaud: Werdegang von Erik Satie. In: Ebd. S. 144–145, hier S. 144. 80 Vgl. Grete Wehmeyer : Erik Satie. Reinbek: Rowohlt 1998. Ferner dazu Susan Calkins: Modernism in Music and Erik Satie’s Parade. In: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music, 1/2010, S. 3–19. Die Zusammenarbeit mit Picasso, nach dessen Entwürfen Satie auch das Ballett Mercure (1924) komponierte, wird durch einen Erinnerungsbeitrag Picassos unter dem Titel Zwei meiner Mitarbeiter unterstrichen; in: Anbruch 4–5/ 1930, S. 146–147. 81 Henri PruniÀres: Arthur Honegger. Ebd. S. 155–157, hier S. 156.

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Trotz des enormen Echos scheint PruniÀres die Rugby-Komposition »bedeutender zu sein« und Antigone jenes Werk, das »ein Datum der Operngeschichte« ausmache.82 Während in München 1927 die deutsche Erstaufführung erfolgen konnte, blieb dies Honegger in Österreich versagt. Aus den Beilagen zum Heft geht bloß hervor, dass neben einer breiten Präsenz von Milhaud- und einer diskreten von Satie-Kompositionen die Universal-Edition bis 1930 nur eine Partitur Honeggers verlegt hat: das Ballett Skating Ring (1922). Unter den weiteren Beiträgen zur französischen Moderne verdient zumindest noch Adornos Ravel-Porträt Erwähnung. Er versucht ihn vor allem im Vergleich zu Debussy zu verorten sowie unter musiksoziologischer und weniger unter formal-kompositorischen Perspektiven: »Seine Musik ist die einer großbürgerlich-aristokratischen Oberschicht, die sich selber hell wurde […] die die Möglichkeit der Katastrophe einrechnet und doch bleiben muß, was sie ist…«83 So steht mehr die »Krise des Impressionismus« zur Diskussion, auf die Ravel mit Spiel und Melancholie in der »Maske der Kindlichkeit« reagiert hätte, als die – von Adorno ihm abgesprochene – Entwicklung aus dem Impressionismus heraus, wie sie im Orchesterstück Bolero (1928) mit ihrer Spannung aus archaischer, variationsloser Wiederholung und abrupten, der Ballettidee mitverpflichteten Tonartenwechsel zumindest angelegt erscheint, das Adorno freilich keiner Erwähnung wert befindet.

6. Im Kontext der internationalen Avantgarde-Diskussion der 1920er Jahre mit ihren politisch z. T. prononcierten Manifesten, in denen einerseits die als Avantgarde affin geltende proletarische Kultur als bereits vereinnahmte bürgerliche Praxis zugunsten geistig-universaler Gesamtkunstwerkkonzeptionen verworfen wurde84, andererseits, so Branko Ve Poljanski, die Kunst ein »Attentat auf alle patentierten Formen der Musik, der Skulptur, der Malerei usw.« im Zeichen des Paradoxen zu unternehmen habe85, sowie im Kontext der internationalen Musikavantgarden, so sich diese als solche verstanden, hatten die Musikblätter des Anbruch eine nicht einfach zu bestimmende Position: eine, die dem Selbstverständnis der radikal ›manifestantistisch‹ orientierten Protago82 Ebd. S. 157. 83 Theodor Wiesengrund-Adorno: Ravel. Ebd. S. 151–153, hier S. 151. 84 Vgl. das von Th¦o van Doesburg, Kurt Schwitters, Hans Arp, Tristan Tzara 1923 verfasste Manifest Proletkult. In: Wolfgang Asholt, Walter Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938). Stuttgart-Weimar : Metzler 1995/2005, S. 298–299, hier S. 299. 85 Manifest, zit. Ebd. S. 265.

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nisten gemäß im Grunde keine eigenständige Position vertrat. Trotzdem darf sie als eine Plattform gelten, die wesentliche Anliegen der Avantgarde im Bereich der Musik, d. h. der Atonalität sowie zeitgenössischer Geräusch-Intonationen (im Sinn von Honegger oder Asaf ’vev) und der mit ihnen verknüpften KunstPraxen aufgriff, zur Diskussion stellte und in gewisser Weise auch breiterer Rezeption zuführte. In der Art und Weise, wie das erfolgte, nämlich darauf bedacht, stets eine Ausgewogenheit bzw. eine nicht hierarchische Koexistenz von verschiedenen modernen Entwicklungen und mehr oder weniger radikalen Konzepten im Auge zu behalten, liegt die Stärke wie die Schwäche dieser Zeitschrift. Eine klare Positionierung zu avantgardistischen Vorstellungen, die sowohl in formaler Hinsicht, als auch, im Bereich der Musik eher selten, gesellschaftlich auf Momente des Bruchs bzw. einer kunst-politischen RePositionierung abzielten, blieb allerdings aus, ja musste aufgrund der Heterogenität ihres Spektrums an Autoren und Perspektiven ausbleiben. Dass hierbei die sowjetische Proletkult-Bewegung aufgrund ihres Boykotts durch die zeitgenössische russische Kritik, die in der Sowjetunion selbst im kulturpolitischen Leben sehr wohl bis etwa 1930 exponierte Positionen besetzte, keine Rezeption erfuhr, und somit keine Diskussion auszulösen imstande war, kann der Zeitschrift weniger angelastet werden, als der Umstand, in die kulturpolitischen Debatten rund um die Neue Musik und ihren schwierigen Stand im Wiener Konzertbetrieb nicht deutlicher eingegriffen oder eine musikästhetische Begleitung der Arbeitersymphoniekonzerte nicht gesucht zu haben. Der expressionistische Entstehungskontext – der, so das Vorwort zum Jahrgang 1929 – »heute […] wenig angesehen« sei, aber schon von Schönbergs Mitarbeit am Blauen Reiter her ein Naheverhältnis zu einer über den Expressionismus hinaus reichenden Moderne/Avantgarde-Idee in den Raum stellte, begleitete die Zeitschrift durch die Zwanziger Jahre. Er drückte ihr den Stempel einer gleichzeitigen Traditionsnähe und Innovationsoffenheit auf mit einer ab etwa 1924 immerhin klar erkennbaren Präferenz für Neue Musik, womit ein Bekenntnis zu einer forcierten Moderne, nicht aber unbedingt eines zur Avantgarde verknüpft war. Dass diese Ambivalenz offenbar ein Kennzeichen nicht nur der Wiener, sondern auch der internationalen Musikmoderne/Musikavantgarde war, darauf deuten manche Entwicklungen und Tendenzen sowohl innerhalb der sowjetrussischen Debatten als auch innerhalb der französischen Group de Six, insbesondere aber die Wahrnehmung dieser Debatten durch die Zeitschrift selbst. Umgekehrt sticht die vergleichsweise prominente Position ins Auge, die der Wiener Anbruch für Repräsentanten der Avantgarde wie z. B. Asaf ’ev innehatte, wiewohl auch hier eine offenbar (kultur- und musikpolitisch) gefilterte Strategie zur Anwendung kam: während seine, Asaf ’vevs Beiträge in Leningrad wesentlich kultur- und musikpolitischer sowie programmatischer ausfielen, präsen-

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tierten sie sich eher abwägend deskriptiv für den deutschsprachigen Raum. Ähnliches gilt für Milhaud, der sowohl im Jazz-Heft als auch in jenem zur französischen Moderne die Aspekte des Bruches zur Tradition wie die Anstrengungen, hierbei eine Achse zu sozialen, habituellen und technischen Veränderungen in der Gesellschaft zu legen, ohne dringliche Notwendigkeit heruntergespielt und die avantgardistische Orientierung jener Gruppe (um Satie und Honegger) somit wesentlich re-dimensioniert erscheinen lässt. Aber auch innerhalb der Wiener Neu- bzw. Atonalen waren musikalische Innovation und forcierte Moderne nicht immer primärer Ausweis für ein über das Materiell-Technische hinausgehende Verständnis von Fortschritt und damit implizit auch von Avantgarde, die als Begriff selbst ohnehin nie verwendet wird, wie das Beispiel von Ernst Krenek rund um seinen programmatischen Essay Fortschritt und Reaktion im Juniheft 1930 des Anbruch belegt. Auch seine Polemik mit Bertolt Brecht und die Versuche Adornos, sein, d. h. Kreneks Gewicht in der Redaktion sowie im Verlag zu redimensionieren, ohne zugleich eine überzeugende und nachhaltige Alternative zu Kreneks ›Radikalismus der Mitte‹ vorlegen zu können, spricht Bände86. Inwieweit die als avantgardistisch fassbare Kompositionstechnik Schönbergs ebenfalls Elemente der Tradition aufzugreifen bereit, diese aber nicht einem Gestus des Kompromisses zu opfern bereit war, zeigt seine von großen Erwartungen wie herben Enttäuschungen begleitete Zeitoper Von heute auf Morgen, die 1930 an der Frankfurter Oper ihre Uraufführung erlebte und von Adorno im Anbruch als außergewöhnliche Komposition gefeiert wurde. Indem sie »durch den Reichtum einer kompositorischen Phantasie, die alle Mittel gleichermaßen durchdringt und auf dem fortgeschrittensten Niveau ihrer geschichtlichen Bewegung handhabt« Transparenz im Musikalischen wie in dessen Relation zum Texte erzeuge, die wiederum eine Klangschärfe »wie aus Metallfäden gewoben« generiere und noch »niemals vernommen worden« sei, gelinge ihr eine Synthese aus Zwölftontechnik und »harmonisch-polyphoner Struktur«. Diese rechne »endgültig mit dem fließenden, funktionellen Wagner-Klang« ab und etabliere damit eine neue Moderne.87 Schönberg selbst dagegen stellte in einem Brief noch vor der Uraufführung eher die thematische und weniger die musikalische Ebene heraus, die in manchen Zügen der bekannten literarischen Fin de SiÀcle-Momente über die Problematik der Zeitlichkeit, des Verhältnisses von Wahrheit und Lüge verwandt erscheint:

86 Anbruch, H.6/1930, S. 196–200. Vgl. dazu auch Rebecca Unterberger : Zwischen den Kriegen, zwischen den Künsten. Ernst Krenek – »Beruf: Komponist und Schriftsteller«. Diss.phil. Klagenfurt 2014, bes. Kap. IV, S. 293ff. und S. 307–313 sowie ihren Beitrag in diesem Band. 87 Th. W. Adorno: Arnold Schönberg: Von heute auf Morgen. In: Anbruch, H. 2/1930, S. 72–74.

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»Der Ton des Ganzen soll eigentlich immer recht leicht sein. Aber man wird es fühlen dürfen, oder ahnen sollen, dass hinter der Einfachheit dieser Vorgänge sich einiges versteckt: daß an der Hand alltäglicher Figuren und Vorgänge gezeigt werden will, wie über diese einfache Ehegeschichte hinaus, das bloß Moderne, das Modische nur ›von heute auf morgen‹ lebt, von einer unsicheren Hand in einen gefräßigen Mund, in der Ehe, wie nicht minder in der Kunst, in der Politik und in den Anschauungen vom Leben.« (Arnold Schönberg an Wilhelm Steinberg, 4. Oktober 1929)88

Ein abschließendes Beispiel, das deutlich macht, wie unterschiedlich der Musikkritiker seinen bewunderten Komponisten und der Komponist die Anliegen seiner Komposition einschätzt bzw. verortet, – vielleicht ein Sinnbild für die interpretative Herausforderung und Gratwanderung, im Rückblick die enorme, geradezu unüberblickbare Vielfalt an Moderne-Konzeptionen in der Musikdiskussion schlüssig in den Blick nehmen zu können.

88 Zit. nach: http://www.schoenberg.at/index.php/de/joomla-license-sp-1943310035/rvon-heu te-auf-morgenl-op-32-1928-1929 (Zugriff vom 6. 4. 2015).

III.

Walter Fähnders

Zwischen Vagabondage und Avantgarde: Hugo Sonnenschein, Emil Szittya und andere

1.

Avantgarde und Vagabondage

Im Zürcher Cabaret Voltaire, der Keimzelle der europäischen Dada-Bewegung, trug im Frühjahr 1916 Richard Huelsenbeck eine Erklärung vor, die er mit den Worten begann: »Edle und respektierte Bürger Zürichs, Studenten, Handwerker, Arbeiter, Vagabunden, Ziellose aller Länder, vereinigt euch.«1 Dies ist erkennbar eine Parodie auf traditionelle Begrüßungsrituale bei öffentlichen Veranstaltungen, eine provokante obendrein, weil das gutbürgerliche Publikum mit den Außenseitern und Deklassierten verbal in einen Topf geworfen und zudem mit einer äußerst populären Parole der revolutionären Arbeiterbewegung begrüßt wird. Dass hierbei ausdrücklich auch die »Vagabunden« angesprochen wurden, ist als metaphorischer Verweis auf die Außenseiter-Rhetorik der Avantgarde zu lesen, die beispielweise im Expressionismus zu einer ausgesprochenen Forcierung diesbezüglicher Motive und Thematiken von Deklassierung, Lumpenproletariat u. ä. führte. Sie spielte bereits in der deutschen Boheme-Debatte vor dem Ersten Weltkrieg eine zentrale Rolle, so, wenn der Anarchist, Bohemien und zeitweilige Vagabund Erich Mühsam ausgerechnet »Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler« als Wegweiser »einer neuen Kultur« ansah.2 Zu erinnern wäre auch an Gottfried Benns Diktum: »Der größte Teil der Kunst des vergangenen Halbjahrtausends ist Steigerungskunst von Psychopathen, Alkoholikern,

1 Richard Huelsenbeck: Erklärung. In: Wolfgang Asholt, Walter Fähnders (Hgg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938). Stuttgart, Weimar : Metzler 1995, S. 117. 2 Erich Mühsam: Búheme. In: Die Fackel 8, Nr. 202/1906, S. 4–10, hier S. 10; vgl. dazu Walter Fähnders: Anarchismus und Boheme. In: Rainer Barbey, Heribert Tommek (Hgg.): Literatur und Anarchie. Das Streben nach Herrschaftsfreiheit in der europäischen Literatur vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Heidelberg: Synchron 2012, S. 13–30.

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Walter Fähnders

Abnormen, Vagabunden, Armenhäuslern, Neurotikern, Degenerierten, Henkelohren, Hustern.«3 Berührungen und Affinitäten zwischen Vagabondage und Avantgarde bewegen sich also in einer komplizierten Gemengelage – Vagabunden begegnen als virtuelle Adressaten und Produzenten von Kultur, und dies auch im avantgardistischen Kontext. Prämisse der folgenden Überlegungen nun ist die Beobachtung, dass es in der Vagabondage selbst Ansätze gibt, die Figur des Vagabunden zu einer politisch-sozialen Führerfigur, zu einer Art Avantgardefigur zu erheben – Stichwort: Vagabondage als Avantgarde. Von hier aus stellt sich die Frage, wie diese vagabundische Avantgarde sich zur historischen politischen Avantgarde, also zum Führungsanspruch der kommunistischen Avantgardepartei verhält. Schließlich ist nach dem Bezug der vagabundischen zur ästhetischen Avantgarde zu fragen.

2.

Zur Vagabondage

Der Komplex Vagabondage ist eine Konstruktion, die allererst der historischempirischen Konkretion bedarf. Ich beziehe mich im Folgenden auf solche Texte aus der Vagabondage, deren Autoren nachweislich an der Vagabondage teilhatten und diese ausdrücklich zu ihrem Thema gemacht haben. Das muß nicht zwangsläufig heißen, dass derartige Texte auch auf der Landstraße entstanden sind oder ihre Autoren das Leben lang on the road gewesen wären. Voraussetzung ist aber der erkennbare Widerschein, den die Vagabondage in diese Literatur geworfen hat. Die vorgelegten Dokumente4 beziehen sich auf die Vagabundenliteratur insbesondere der Zwanziger und Dreißiger Jahre, als eine organisierte Vagabundenbewegung in Deutschland und darüber hinaus für erhebliche Innovationsschübe in Sachen Vagabondage und Vagabundenliteratur und -kunst sorgte. 3 Gottfried Benn: Lebensweg eines Intellektualisten (1934); zit. nach Friederike Reents (Hg.): Gottfried Benns Modernität. Göttingen: Wallstein 2007, S. 21. 4 Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf die Quellensammlung: Walter Fähnders, Henning Zimpel (Hgg.): Die Epoche der Vagabunden. Texte und Bilder 1900–1945. Essen: Klartext 2009 sowie auf folgende eigene Arbeiten: Walter Fähnders: Die Epoche der Vagabunden. Einleitung. In: ebd., S. 9–23; Walter Fähnders: Zwischen Exklusion und Inklusion. Literarische Vagabundenfiguren. In: Johanna Rolshoven, Maria Maierhofer (Hgg.): Das Figurativ der Vagabondage. Kulturanalysen mobiler Lebensweisen. Bielefeld: transcript 2012, S. 163–184; Walter Fähnders: Vagabondage und Vagabundenliteratur. In: Walter Fähnders (Hg.): Nomadische Existenzen. Vagabondage und Boheme in Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts. Essen: Klartext, 2007, S. 33–54; Walter Fähnders: Projekt Vagabondage. Die Vagabunden, die Vagabundenliteratur und die Moderne. In: Simon Huber, Behrang Samsami , Ines Schubert, Walter Delabar(Hgg.): Das riskante Projekt. Die Moderne und ihre Bewältigung 1890–1940. Bielefeld: Aisthesis 2010, S. 87–116.

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Beleg dafür ist das spektakuläre Vagabunden-Treffen Pfingsten 1929 in Stuttgart, das bis nach Österreich ausstrahlte.5 So sollte ein Folge-Kongress 1930 in Wien stattfinden, der dann aber abgesagt wurde.6 Nach bisher nicht näher zu überprüfenden Informationen hat sich unter der Ägide von Hugo Sonnenschein (Pseudonym: Sonka), von dem noch zu handeln sein wird, im Sommer 1930 in Wien ein »Offener Weltbund der Brüder« konstituiert und sich seither »so sehr ausgebreitet, daß sich ihm Brüder aus 22 Ländern aller Weltteile zugehörig fühlen und daß heute schon eine geschlossene brüderliche Kette von Vagabundenhänden um die Erde reicht.« Deshalb habe man beschlossen, für Pfingsten 1933 zu einer nächsten »Großen Tagung« in Kalkutta zusammenzutreten. Als Kontakt wurde eine Wiener Adresse des VIII. Bezirks, die Daungasse, angegeben.7 Programmatisch wird ausgeführt: Der Sinn des Brüderbundes ist, jedem Vagabunden seine Heimat in dem Bewußtsein seiner Zugehörigkeit zu der großen, im »Offenen Weltbund der Brüder« zusammengefaßten Gemeinschaft zu schaffen. Die große Tagung spricht sich gegen jede öffentliche Schaustellung der Armut der Brüder aus, besonders gegen »Vagabundentreffen«, die letzten Endes nur für die Sensationslüsternheit da sind, und verurteilt die Kommerzialisierung der Vagabundenidee durch Film- und Unternehmungen ähnlicher Art. Wenn aber die Not der Zeit die Vagabunden an irgendeinem Platz der Erde zu einer Kampfdemonstration – allein oder an der Seite einer andern Kämpfergemeinschaft – herausfordert, wird der Offene Weltbund notwendigerweise zur Stelle sein.8

Apropos Wien und Österreich – die im Folgenden näher berücksichtigten Autoren wie Emil Szittya, Hugo Sonnenschein, Jakob Haringer und Rudolf Geist haben alle unterschiedlich enge, aber durchweg markante und signifikante Berührungen zu Österreich, was sowohl für ihre Biographie als auch für die jeweilige Werk- und Rezeptionsgeschichte gilt.9 Die damit zusammenhängende 5 Vgl. die Dokumente in: Fähnders, Zimpel (Hgg.): Die Epoche der Vagabunden (wie Anm. 4), passim. 6 Vgl. [Anonym]: Vagabundentreffen Pfingsten 1930 in Wien. In: Der Kunde 3, Nr. 5/6/1929, S. 96; [Anonym]: Debatte über das nächstjährige Vagabundentreffen in Wien. In: Der Kunde 3, Nr. 7/8/1929, S. 123. 7 So der Bericht in der »Prager Presse« vom 31. 12. 1931: Sonka [d.i. Hugo Sonnenschein]: Ein »Weltbund der Vagabunden«. Tagung in Paris. In: Fähnders, Zimpel (Hgg.): Die Epoche der Vagabunden (wie Anm. 4), S. 239–240, hier S. 239. 8 Ebd.; der Hinweis auf Kommerzialisierung und das Filmunternehmen bezieht sich auf den unter Mitwirkung von Gregor Gog und anderen Vagabundenkünstlern gedrehten Film »Vagabund« (Regie: Fritz Weiss, produziert von der Arbeitsgemeinschaft Junger Film, Wien, 1930); vgl. http://www.filmportal.de/film/der-vagabund_23b1661698ce4989a4a418135e28fe 04 (30. 10. 2014). 9 Vgl. hierzu den Abschnitt »Vagabund« bei Daniela Strigl: ›Fremdheiten‹. Österreichische Lyrik der Zwischenkriegszeit: Jakob Haringer, Theodor Kramer, Wilhelm Szabo, Guido Zernatto. In: Primus-Heinz Kucher (Hg.): Literatur und Kultur im Österreich der Zwanziger

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Basisfrage, welche Autorinnen und Autoren dem österreichischen Kanon zuzurechnen sind, stellt sich bei Autoren der Vagabondage also verschärft. In diesem Zusammenhang scheint Musils Warnung vor der »Überschätzung der Frage, wo man sich befindet« aus dem allersten Kapitel des Mann ohne Eigenschaften gerade angesichts einer ausgesprochenen Bewegungs-Figur wie der des Vagabunden besonders plausibel. Aber Wien bzw. Österreich spielt als Sujet sowie als Lebens- und als Diskurs-Ort vagabundischer Existenzen durchaus eine Rolle. Das schließt nicht aus, dass in ganz besonderem Maße für die Vagabundenliteratur gilt, was Ottmar Ette als »Literaturen ohne festen Wohnsitz« bezeichnet hat, die eine regelrechte »Deterritorialisierung der Heimat«10 und »Heimatlosigkeit« als »Referenzpunkt des Lebens, des Lesens wie des Schreibens« anpeilen.11 Dieser verortet sich programmatisch jenseits von Grenzen und festen Territorien – »Wer in den Winden seine Heimat hat, / Weiß nur: der Weg vor ihm ist weit«, heißt es in einem beliebig herausgegriffenen Gedicht aus der Vagabunden-Zeitschrift Der Kunde.12 Aber ›Vagabondage‹ ist bei aller Metaphorisierung durch die Betroffenen selbst immer auch historisch-empirisch zu fassen.

3.

Vagabondage als Avantgarde

In der Vagabondage gibt es, wie angedeutet, Bestrebungen, die Figur des Vagabunden zu einer Art Avantgardefigur zu erheben. Diese Selbstermächtigung gründet in einer Selbstdefinition der Vagabondage als bewusste soziale Exklusion – als dezidierte Verweigerung einer Integration in die Gesellschaft. Die quasi freiwillig angenommene Exklusion als eine Art Selbst-Exklusion erscheint dabei als dezidierte Kampfansage gegen jedwede Versuche einer gesellschaftlichen Re-Inklusion, wie es sich in der vagabundischen Parole vom »Lebenslänglichen Generalstreik!«13 (Gregor Gog) ausdrückt. Und gerade aufgrund dieser ›exklusiven‹ Außenseiterrolle wird die eigene Führungs- und Avantgarderolle postuliert. Sie ist Teil jener Allmachtsphantasien, wie sie in einem frühen Gedicht von Hugo Sonnenschein in einer schier endlosen Reihung ausgesprochen wird:

10 11 12 13

Jahre. Vorschläge zu einem transdisziplinären Epochenprofil. Bielefeld: Aisthesis 2007, S. 179–193, hier S. 181–185. Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kadmos, 2005, S. 51. Ebd., S. 35. In: Der Kunde 2, Nr. 1/1928/29, S. 1. Gregor Gog: Was will die Bruderschaft der Vagabunden? In: Fähnders, Zimpel (Hgg.): Die Epoche der Vagabunden (wie Anm. 4), S. 220.

Zwischen Vagabondage und Avantgarde

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Mir gehört: der Himmel, mein sind die Paläste; was die kleine Erde trägt und in sich birgt – ist mein. Und das All ist mein. selbst der Gott, der dieses All durchwebt, ist mein Besitz. Was ich seh, nein, was ich denken kann – ist mein. War einer reicher schon als ich? Nein! Denn wenn er ward – dann ist er mein.14

Erich Mühsams Postulat von den Landstreichern, die zusammen mit anderen deklassierten Träger einer neuen Kultur seien, wurde bereits zitiert. Rund drei Jahrzehnte später greift Hugo Sonnenschein, geboren 1889 in Gaya bei Brünn, der 1912 bis 1914 durch Europa vagabundierte und seit 1929 Geschäftsführer des Schutzverbands deutscher Schriftsteller in Österreich war, in seinem nachgelassenen Anti-Roman Terrhan oder Der Traum von meiner Erde diesen Gedanken in wörtlicher Anspielung wieder auf, mit einer Ausweitung von Kultur auf Gesellschaft, und belegt die Dauerhaftigkeit dieser Position: »Vagabunden und Huren, das ist die BohÀme, die einer neuen Gesellschaft die Wege weist.«15 1919 spricht er in einem Gedicht in der Metaphorik des Paradoxons bzw. des Oxymorons von den »Ohnmachtmächtigen der Erde: / Vagabunden, Huren«.16 Dass eine neue Kultur und eine neue Gesellschaft von den Vagabunden ausgehe, ist Überzeugung vieler vagabundischer Theoretiker. So erklärt Rudolf Geist, Jahrgang 1900, bis Mitte der Zwanziger Jahre und wieder ab 1933 in Wien, dazwischen überwiegend in Berlin lebend und seit 1922 als freier Schriftsteller tätig, auf dem Stuttgarter Vagabundentreffen von 1929 in seiner Rede über Der Kunde als revolutionärer Agitator : »Der Vagabundismus ist […] eine Kommunion. Wir sind ihre Vorhut«17. Hugo Sonnenschein notiert: »Der Vagabund will nichts anderes sein als Partisan der Freiheit«18 und: »Immer Avantgarden und Vortrupps, eventuell Hilfstruppen der Revolution […]. Nicht Kleinbürger, sondern Revolutionäre.«19 An anderer Stelle sehen sich die Vagabunden aus14 Hugo Sonnenschein: Mir gehört. In: Fähnders, Zimpel (Hgg.): Die Epoche der Vagabunden (wie Anm. 4), S. 162. 15 Fähnders, Zimpel (Hgg.): In: Die Epoche der Vagabunden (wie Anm. 4), S. 185. 16 Hugo Sonnenschein: Die Legende vom weltverkommenen Sonka. In: Der Neue Daimon 2/ 1919, S. 161–182, hier S. 163 (Buchausgabe: Leipzig: E.P. Tal 1920). 17 Rudolf Geist: Der Kunde als revolutionärer Agitator. In: Fähnders, Zimpel (Hgg.): Die Epoche der Vagabunden (wie Anm. 4), S. 230–238, hier S. 233. 18 Sonka [d.i. Hugo Sonnenschein]: Ein »Weltbund der Vagabunden«. (wie Anm. 7), S. 239. 19 Sonka [d.i. Hugo Sonnenschein]: Terrhan oder Der Traum von meiner Erde. In: Fähnders, Zimpel (Hgg.): Die Epoche der Vagabunden (wie Anm. 4), S. 185–188, hier S. 185.

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drücklich als »Pioniere«20. »Wir sind Gott näher als die Anderen«, schreibt Jakob Haringer in einem Brief an Gregor Gog.21 Somit stilisiert in einem Akt der Selbstermächtigung der Vagabund sich zum Avantgardisten, zum Vertreter einer Vorhut, eines Vortrupps zur Veränderung der Welt. Auch die im erwähnten Generalstreik-Postulat sich artikulierende gesellschaftliche Selbst-Exklusion, also die Verweigerung einer Rückkehr in die Gesellschaft, impliziert eine Art Avantgarde-Rolle der Vagabondage. Seine Exklusion führt den Vagabunden ins Exklusive, er steht »außerhalb und überhalb der Gesellschaft«,22 so Gregor Gog 1929. Rudolf Geist schreibt: »Gerade der Vagabundismus ist es, der konsequent das totale Ergebnis der Seßhaftigkeit beurteilen kann.«23 Hier wird also der vagabundische Ort des Außerhalb zum methodisch ausgewiesenen erkenntniskritischen Instrumentarium, das beansprucht, das Innerhalb der Gesellschaft zu erkennen. Bei Emil Szittya lässt sich die Rolle des »Außerhalb« genauer studieren – in jener Figur des »Herrn Außerhalb«, als der er sich allegorisch des Öfteren selbst bezeichnet.24 Hugo Sonnenschein ruft in einem Gedicht die Allegorie des Geusen (also eigentlich Bettlers) auf, des »Geuse Einsam«25, beruft sich also auf einen Kampfbegriffs des niederländischen Aufstandes gegen die spanische Besatzung aus dem 16. Jahrhundert. Auch andere allegorische Selbstbezeichnungen in der Vagabundenliteratur und besonders auch der Vagabundenkunst markieren dieses »Projekt Vagabondage«.26. So werden häufig gerade biblische Erlöserfiguren, die nun als Figuren der Exklusion aufgefasst werden, identifikatorisch ausgestellt: Moses (bei Haringer) und immer wieder Jesus von Nazareth, über den Hugo Sonnenschein dichtet: Der Narr von Nazareth: Ein Vagabund mit langen Haaren, mit schwarzen Haaren wirr und wild, großen Augen, sonnenklaren.27

20 Ebd., S. 188. 21 Zitiert nach Friedemann Spicker : Deutsche Wanderer-, Vagabunden- und Vagantenlyrik in den Jahren 1910–1933. Wege zum Heil – Straßen der Flucht. Berlin: de Gruyter 1976, S. 164. 22 Gog: Was will die Bruderschaft der Vagabunden? (wie Anm. 13), S. 217. 23 Geist: Der Kunde als revolutionärer Agitator (wie Anm. 17), S. 232. 24 Vgl. dazu meine diesbezüglichen Ausführungen im »Nachwort« zu Emil Szittya: Herr Außerhalb illustriert die Welt. Mit Erstdrucken aus dem Nachlass. Hg. Walter Fähnders. Berlin: BasisDruck 2014, S. 249–272, besonders S. 267–269. 25 »– Ich, Geuse Einsam, ich allein am Weg, / der Trotter Ungefähr zur Einheit«; so in Hugo Sonnenschein: Dithyramb der Distanzen. In: Fähnders/Zimpel (Hg.): Die Epoche der Vagabunden, (wie Anm.4), S. 193. 26 Fähnders: Projekt Vagabondage (wie Anm. 4) 27 Hugo Sonnenschein: Jesus. In: Hugo Sonnenschein: War ein Anarchist. Auswahl aus sieben Büchern. Berlin: Ernst Rowohlt 1921, S. 6.

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Dass dazu dann auch Judas und Kain gehören und nicht zuletzt Ahasver, der ewige Jude, verweist wiederum nicht allein auf weitere religiöse Konnotationen, sondern auch auf das Protestpotential, das mit diesen Negativ-Figuren aufgerufen wird. Entscheidend dabei ist ihre exponierte Außenseiterrolle. Diese Belegreihe verweist auf ein vagabundisches Selbstbewusstsein, das in der Exklusion und gerade auf Grund eben dieser Exklusion eine Führungsrolle beansprucht – also das, was ich als vagabundische Avantgarde bezeichnen möchte. Es ist ein Avantgarde-Bewusstsein, das sich zum politischen Ziel setzt, so Gregor Gog, »die kapitalistische, ›christliche‹, kerkerbauende Gesellschaft ins Wackeln, ins Wanken, zu Fall zu bringen!«28 Das geschieht zunächst in einem Akt der Selbstermächtigung und bleibt oft genug ästhetische Projektion. Diese reicht bis in die Erfolgsliteratur der Zwanziger Jahre, bei der eine vulgarisierte, gänzlich entschärfte und verharmloste Vagabundenfigur Konjunktur hat, so bei Hermann Hesse oder bei Waldemar Bonsels. Bei diesem findet sich in dem immer wieder aufgelegten Roman Menschenwege. Aus den Notizen eines Vagabunden der unter den Zeitgenossen heftig diskutierte Kernsatz aus: »Die Besten unserer Zeit sind Vagabunden.«29

4.

Vagabundische Avantgarde und politische Avantgarde

Inwieweit sich von hier aus Kontakte oder auch Affinitäten zur politischen Avantgarde ergeben, bliebe zu prüfen. Dass die Vagabundenbewegung bzw. einzelne ihrer Vertreter Kontakte eher zum Anarcho-Syndikalismus pflegten (wie Mühsam oder Gog) als zu den dezidiert als Avantgarde sich selbst definierenden Kommunisten bolschewistischer Prägung, ist bekannt. Andererseits war es ein Exponent der Vagabondage wie Hugo Sonnenschein, der – im Ersten Weltkrieg Kriegsteilnehmer und Kriegsverweigerer, Rotgardist in der Wiener Revolution von 1918 – im Jahre 1921 Mitbegründer der tschechischen KP war, aus der er 1927 als Trotzkist ausgeschlossen wurde. Seither engagierte er sich gegen den Stalinismus. 1934 wurde er aus Österreich ausgewiesen, 1940 von den Nazis verhaftet, 1943 nach Auschwitz deportiert, wo er 1945 befreit wurde. Er

28 Gog: Was will die Bruderschaft der Vagbunden? (wie Anm.13), S. 220. 29 Waldemar Bonsels: Menschenwege. Aus den Notizen eines Vagabunden. Frankfurt am Main: Rütten & Loening 1917, S. 165; vgl. Walter Fähnders: »Der Vagabund ist gar kein Vagabund«. Waldemar Bonsels und die Vagabundenliteratur. In: Sven Hanuschek (Hg.): Waldemar Bonsels. Karrierestrategien eines Erfolgsschriftstellers. Wiesbaden: Harrassowitz 2012, S. 105–123.

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wurde 1947 in der Tschechoslowakei wegen vermeintlicher Kollaboration verurteilt und starb 1953 im Zuchthaus M†rov an einem Herzinfarkt.30 Der sich als »Sonka« stilisierende Autor erlangte seit seiner lyrischen Sammlung Die Legende vom weltverkommenen Sonka von 1920 Aufmerksamkeit in der literarischen Öffentlichkeit. 1921 erschien bei Rowohlt die Auswahlausgabe War ein Anarchist, 1930 bei Zsolnay die Gedichtsammlung Der Bruder Sonka und die allgemeine Sache oder : Das Wort gegen die Ordnung. Zu dieser Zeit galt der Autor für die Wiener Literaturkritik als »österreichischer Lyriker«.31 Eine Eigenvorlesung bei Radio Wien 1930 wurde unter dem Titel Ein Narr und Niemand: Sonka angekündigt, wobei es hieß: »Das Schicksal hat ihm keine Heimat gegeben […]. Er ist einer, der nie besitzt, nie zufrieden ist – Revolutionär von innen heraus. Er kann nicht anders – stecke ihn, wohin du willst, er wird der Revolutionär sein.«32 Sein politisches Engagement während der Zwanziger Jahre mag ihn zu einem Gedicht wie Weltmeeting im Lenz motiviert haben, das am 7. April 1929 in der Wiener Arbeiter-Zeitung erschienen ist.33 Es ist ein Rollengedicht: »Marx, der große Führer, spricht«. Er redet ausdrücklich »alle« jene an, die »aus der Arbeit kommen« und die er als »Baumeister der Erde« und als »Werkmeister der Zukunft« sieht, um Deklassierte geht es also nicht: Ich sprech’ mit euch, Genossen, Kameraden, ihr Baumeister der Erde, ihr Werkmeister der Zukunft, mit euch, mit jedem und mit allen, wie ich vor zweimal tausend Jahren mit Fischern und mit Hirten sprach vom Oelgebirge uns’rer Heimat: in dem Bewußtsein eurer Bettlerstärke versöhnet euch einander, vereinigt euch zum Werke!

Die »Genossen« und »Kameraden«, nun vereinigt zur »Klasse«, werden zum Schluss des Gedichtes zur Einigkeit aufgerufen – Jetzt höre, ich beschwöre dich, o, Klasse: In dem Bewußtsein deiner Menschheitssendung bereite dich zum Sprung, erheb’ dich zur Vollendung! 30 Zur Biographie von Hugo Sonnenschein vgl. Jürgen Serke: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene Landschaft.. Wien, Hamburg: Zsolnay 1987, S. 345–375. 31 Ernst Lothar: Ein österreichischer Lyriker. Sonka: »Der Bruder Sonka und die allgemeine Sache.« Paul-Zsolnay-Verlag. In: Neue Freie Presse v. 26. 10. 1930, S. 29. 32 Faksimile dieser Ankündigung aus »Radio-Wien« in: Primus-Heinz Kucher, Rebecca Unterberger (Hgg.): »Akustisches Drama«. Radioästhetik, Kultur und Radiopolitik in Österreich 1924–1934. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 232. 33 Hugo Sonnenschein: Weltmeeting im Lenz. In: Arbeiter-Zeitung (Wien) v. H. 96/1929, S. 17, dort auch die weiteren Zitate. – Meinen herzlichen Dank an Rebecca Unterberger und Primus-Heinz Kucher für ihre Hinweise auf diese und andere Quellen!

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Diese klassisch-sozialistische Position des »Proletarier aller Länder vereinigt euch« wird demonstrativ umgeschrieben. Bereits in Sonnenscheins Titelgedicht zur Wiener Zeitschrift Sowjet hieß es ein Jahrzehnt zuvor: »Proletarier aller Länder versöhnet euch!« und: »Seid Menschen und versöhnet euch«34. In Weltmeeting im Lenz wird nun die Figur des Karl Marx mit einer weiteren Identität ausgestattet; er sagt von sich selbst, er habe bereits »vor zweimal tausend Jahren / mit Fischern und mit Hirten […] vom Oelgebirge uns’rer Heimat« aus seine Botschaft verkündet. Dieser Umformatierung der Figur des Karl Marx korrespondiert dann mit der Anrufung der »Seher, Dichter, Sprecher, Führer da in dieser Stunde« – keine Revision der Marx-Referenz und Marx-Reverenz, wohl aber eine assoziative Transformation hin zu anderen Figuren mit avantgardistischem Potenzial. Der ausdrückliche Bezug auf das »Klassenheer« hielt Hugo Sonnenschein nicht davon ab, sich 1931 für den eingangs bereits erwähnten »Offenen Weltbund der Brüder« zu engagieren, für den er Silvester 1931 in einem Manifest in der Prager Presse warb. Es sein ein Bund, heißt es, der niemandem und nichts als der Idee der Freiheit dienen will, der Freiheit, der der Vagabund in seinem selbstgewählten Schicksal individuell von allen Menschen am nächsten ist. Jedem einzelnen Bruder steht es frei, welcher Organisation immer anzugehören, insofern sie zum Kampf gegen Reaktion und Bedrückung des Menschen durch den Menschen führt. Aber es wäre widersinnig, das ganze Kollektiv des Weltbundes der Disziplin einer Partei zu unterstellen: der Vagabundwill nichts anderes sein als Partisan der Freiheit.35

Partisan der Freiheit – deutlicher ließe sich der avantgardistische Anspruch der Vagabondage kaum fassen, der aufrechterhalten wird, trotz – ja, aber auch: wegen – exponiertester Aktivitäten in der parteikommunistischen Avantgarde. Hugo Sonnenschein ist in jeder Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung unter den Vagabunden, ihren Politikern und ihren Dichtern. Sein Jonglieren zwischen der Avantgarde des Kommunismus und derjenigen der Vagabondage ließe sich allenfalls noch vergleichen mit dem Vagabundenkönig Gregor Gog, dem unermüdlichen Organisator der Weimarer Vagabundenbewegung und Verfechter des lebenslänglichen Generalstreiks.36 Er war es, der 1930 von einer längeren Moskaureise als überzeugter Kommunist zurückkehrte und nun versuchte, die Vagabundenbewegung auf die KPD hin zu orientieren (also einmal eine andere ideologische Entscheidung als die von Andr¦ Gide, der als überzeugter AntiKommunist aus Moskau zurückkehrte). Dies hieß, die vagabundische Avant34 Hugo Sonnenschein: 21. Juli 1919. In: Sowjet. Kommunistische Monatsschrift Nr 2/1919, S. [1]. 35 Sonka [d.i. Hugo Sonnenschein]: Ein »Weltbund der Vagabunden« (wie Anm. 7), S. 239. 36 Vgl. die Dokumentation von Klaus Trappmann (Hg.): Landstraße, Kunden, Vagabunden. Gregor Gogs Liga der Heimatlosen. Berlin: Gerhardt 1980.

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garde zugunsten der politischen, der kommunistischen, aufzugeben. Mit eher geringem Erfolg übrigens, bevor dann 1933 in Deutschland die Vagabundenbewegung liquidiert wurde..

5.

Vagabundische Avantgarde und ästhetische Avantgarde

Es bleibt zu diskutieren, wie sich die als Avantgarde setzende Vagabondage zur zeitgenössischen ästhetischen Avantgarde verhält. Dies wäre nun zunächst eine Frage, die von der ästhetischen Produktion ausgeht und nach deren avantgardistischer Ausrichtung fragt, also ganz unabhängig von der vagabundischen Provenienz dieser Autoren ist. Zur Erinnerung: Der bei einigen vagabundischen Autoren aufgezeigte Avantgardeanspruch resultierte aus eben diesem genuin vagabundischen Selbstverständnis – und nicht aus ästhetischen Prämissen wie beim Aufbruch der künstlerischen Avantgarde im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich hierbei also um zwei zunächst getrennte Diskursfelder. Im Folgenden ist nach möglichen Nahtstellen oder Berührungen zwischen dieser Art der vagabundischen Avantgarde und der Bewegung der ästhetischen Avantgarde mit ihren Ismen zu fragen. Beider Bezug lässt sich am Beispiel von Emil Szittya verdeutlichen, dessen Leben und Werk gleichermaßen an Vagabondage und Avantgarde teilhat. Der 1886 in Budapest geborenen Szittya (eigentlich Adolf Schenk) vagabundierte vor dem Ersten Weltkrieg durch halb Europa und kannte sich in der internationalen Vagabondage und ihren Stützpunkten aus wie kein anderer. Des Längeren hielt er sich in Paris auf, wo er, als Autodidakt an der Kunst interessiert, Kontakte auch zur dortigen Vorkriegs-Avantgarde knüpfte, so zu Blaise Cendrars, mit dem er 1912 die Zeitschrift Les hommes nouveaux herausgab. Auch zur sozialrevolutionären Bewegung, vor allem zum internationalen Anarchismus, unterhielt Szittya vielfältige Beziehungen. In seinem Kuriositäten-Kabinett, den autobiographischen Aufzeichnungen mit dem bezeichnenden Untertitel Begegnungen mit seltsamen Begebenheiten, Landstreichern, Verbrechern, Artisten, religiös Wahnsinnigen, sexuellen Merkwürdigkeiten, Sozialdemokraten, Syndikalisten, Kommunisten, Anarchisten, Politikern und Künstlern von 1923 hat er darüber erstmals Rechenschaft abgelegt. Seine frühe Prosa, so die Textbände Die Haschischfilms des Zöllners Henri Rousseau Und Tatjana Joukoff mischt die Karten (Ein Roman gegen die Psicho-Analise) von 1916 und die zweite bedeutende Sammlung Ein Spaziergang mit manchmal Unnützigem von 1920 zeichnen sich durch experimentelles und avantgardistisches Schreiben aus, wie Szittya denn überhaupt in den Zehner und frühen Zwanziger Jahren in Paris, Zürich, Wien und Berlin im avantgardistischen Umfeld publizierte. 1915 gab er in Zürich zusammen mit Hugo Kersten die kurzlebige Avantgarde-Zeitschrift Der

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Mistral heraus. 1919 hielt er sich vorübergehend in Wien auf, er siedelte anschließend nach Berlin über, seit 1928 lebte er, nun sesshaft geworden, dauerhaft in Paris, wo er 1964 starb. Unter dem Aspekt der ästhetischen Avantgarde und speziell der Avantgarde in Wien ist für das Jahr 1919 auf eine Zeitschrift hinzuweisen, an der Szittya maßgeblich beteiligt war – beteiligt als Avantgardist und nicht als Vagabund oder vagabundischer Propagandist. Es geht um zwei Folgen der Horizont-Hefte, deren erste drei Nummern in Budapest erschienen waren, zwei weitere folgten in Berlin. Heft 4 edierte Emil Szittya in Wien zusammen mit Hans Richter (Berlin) und dem Wiener Karl Lohs.37 Für Heft 5 zeichneten neben Emil Szittya als Herausgeber : Paul Baudisch, Robert Bogyansky und Leopold Reissinger.38 Diese Horizont-Gruppe veranstaltete in Wien zwischen Januar und August 1919 drei Kunstabende, auf denen einmal Szittya selbst auftrat und »über Symbolismus und Expressionismus und aus eigenen Büchern« las, zudem gab es eine Veranstaltung mit einem Auftritt von Reissinger sowie einen Rezitationsabend des Schauspielers Bruno Hübner, der u. a. Texte der aktuellen Avantgarde – Emmy Hennings, Hugo Kersten, Georg Kulka, Szittya – vortrug.39 Dass diese Gruppe bzw. ihr Organ ein markantes Stück Avantgarde in Wien repräsentiert,40 mag auch Szittyas Eröffnungstext des 5. Heftes, Mein Erlaß an die kunstpolitischen Bewegungen, belegen.41 Seiner Form nach bewegt sich dieser Text ganz im Feld avantgardistischen Manifestierens – als Erlaß, also eine Herrschafts-Deklaration, klinkt er sich erkennbar in den derzeitigen Manifest37 Karl Lohs war (lt. Wikipedia) auch Mitarbeiter an der von Benno Karpeles herausgegeben Zeitschrift Der Friede. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur (Wien, 1918–1920). 38 Über Reißinger bemerkt Szittya: »Gleich neben Altenberg müssen wir einen gänzlich unbekannten Dichter, Leopold Reißinger, erwähnen. Er war einer der merkwürdigsten Typen, die Wien neben Altenberg hervorgebracht hat. Es war ein Mensch, der die BohÀmienromantik konsequent aufrecht erhielt. Es gibt kein Caf¦ in Wien, wo er nicht Schulden hatte. Es gibt in Wien keinen Menschen, der mit Kunst etwas zu tun hat (mit Ausnahme eines kleinen buckeligen Krausanbeters Leopold Liegler) den er noch nicht angepumpt hätte. Er hatte sich zur Aufgabe gestellt, Hans Sachs Konkurrenz zu machen und hat ungefähr vierzig Dramen, dreitausend Gedichte und achthundert Novellen geschrieben. Unter seinen Werken findet sich auch manches Gute, aber er hat noch nie eine Zeile veröffentlicht.« (Emil Szittya: Das Kuriositäten-Kabinett Konstanz: See-Verlag, 1923, S. 287–288). – Von Reißinger liegt mir als »unverkäufliches Manuskript« ein interessantes Theaterstück vor, das pseudonym erschienen ist: Karl Ander [d.i. Leopold Reißinger]: Justizirrtum. (Die Tragödie eines unschuldig Verurteilten). Ein Schauspiel in vier Akten. Wien: Volkskunst Verlags.-Gesellschaft, 1928 [hektographiert]. 39 Faksimile in: Emil Szittya: Herr Außerhalb illustriert die Welt (wie Anm. 24), S. 254. 40 Vgl. Armin A. Wallas: Vom Mistral zu Horizont. Emil Szittya und Dada. In: Günther Dankl, Raoul Schrott (Hgg.): DADAutriche 1907–1970. Innsbruck: Haymon 1993, S. 21–32. 41 Emil Szittya: Mein Erlaß an die kunstpolitischen Bewegungen. In: Horizont-Hefte 5/1919, S. 1–3.

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antismus der ästhetischen Avantgarde ein. Ausgehend von der Proklamation des Futurismus durch Filippo Tommaso Marinetti im Gründungsmanifest von 1909 avancierte ja eben das Manifest umgehend zur Topgattung der Avantgarde. Das Manifest stammt ursprünglich aus dem politischen Bereich und bedeutet die Erklärung eines Herrschers, etwa eine Kriegserklärung, und seine Usurpation durch die Avantgarde markiert deren quasi herrschaftlichen Anspruch auf Änderung der Welt.42 Bereits im Mistral hatte Szittya 1915 davon gesprochen, »vielleicht einmal […] eine Enzyklika an meine Freunde erlassen« zu wollen.43 Wie wichtig für Szittya diese Titelgebung war, macht deren spätere, signifikante Titeländerung deutlich. In seinem Nachlass findet sich ein Handexemplar des betreffenden Horizont-Heftes mit handschriftlichen Umarbeitungskorrekturen des Autors gerade in diesem Text. Nun ersetzt Szittya die Überschrift durch »Die Reinigungsarbeit«44, der Überschrift des ersten Abschnittes des Textes, hat den Erlaß also zurückgenommen – aus welchem Grund auch immer ; denkbar wäre ein anarchistischer Impuls des Antiautoritären, der mit der Haltung eines Erlasses kollidiert. Jedenfalls zeigt noch die Distanzierung vom Erlaß dessen avantgardistische Relevanz. Im angedeuteten Herrschaftsgestus der Avantgarde zielt Szittyas Erlaß in neun Merksätzen auf eben diese »Reinigungsarbeit«45, in der er die Kunst »von der kleinbürgerlich-optischen Kunstpose« befreien will und sich dabei scharf gegen jede »Kunstschule« wendet, auch gegen die »revolutionärste Kunstschule«, die expressionistische eingeschlossen. Es ist von der »traurigen Einsamkeit des Künstlers«46 die Rede, bevor im letzten Postulat, überschrieben mit »Die Kunsttat«, eine etwas diffuses Plädoyer für eine kompromisslos individualistische Kunst formuliert wird: IX. (Die Kunsttat) Psychologische Zergliederungen sind nicht mehr nötig. Nicht auf kritische Spitzfindigkeiten kommt es an. Nötig ist: Eine wirkliche Entlarvung! Künstler! Gebt einmal Bewußtseinsdokumente über Euch! Es war genug von dem Gleichheitssumpf! Kunst muß aufhören, eine verschleierte Gottheit zu sein. Rücksichtslosigkeit!, aber auch gegen sich selbst.

42 Zum avantgardistischen Manifestantismus vgl. Asholt, Fähnders (Hgg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (wie Anm. 1); Wolfgang Asholt, Walter Fähnders (Hgg.): »Die ganze Welt ist eine Manifestation«. Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997; Benedikt Hjartarson: Visionen des Neuen. Eine diskurshistorische Analyse des frühen avantgardistischen Manifests. Heidelberg: Winter, 2013. 43 Emil Szittya: Ueber jene, die sich vielleicht hinüberretten. In: Der Mistral 1/1/1915, S. 2. 44 Im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Bibliothek, Signatur : X (Horizont-Flugschriften). 45 Szittya: Mein Erlaß an die kunstpolitischen Bewegungen (wie Anm. 41), S. 1. 46 Ebd.

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Nicht von Zeitereignissen gelähmt sein! Nicht das Wirren treibender Kräfte sein. Es war viel zu viel von der kleinbürgerlich-optischen Kunstpose! Bewegungsfähige hatten zu lange Ethosruhepunkte, aus dem Zagen die Gegebenheit verschwenden ließ. Man muß sich aufraffen zur Selbsteinheit und jede Persönlichkeitsphilosophie wird sich in Einheitsbewußtsein erformen.47

Dieses Plädoyer für eine wie auch immer genauer zu explizierende »Selbsteinheit« zielt wohl auf eine neue Identität des Künstlers, die zur »Kunsttat« führen soll – so heißt es weiter : »Aktivität beginnt, an nichts vorüberzugehen.«48 Damit wäre insofern ein weiterer Hinweis auf avantgardistisches Potenzial in diesem Erlaß gegeben, als in der Avantgarde und gerade im avantgardistischen Manifestantismus die Subjektkonstitution und Konstruktion einer in der Moderne bedrohten oder zerbrochen scheinenden Ich–Identität zentral ist.49 Der performative Ansatz dieses Postulates tut in dieser Hinsicht ein Übriges. Bleibt für unseren Zusammenhang festzuhalten: Szittyas Überlegungen zur Kunst wie die beiden Wiener Horizont-Hefte insgesamt markieren einen Beitrag zur Wiener Avantgarde im Jahre 1919, verlassen aber den Untersuchungsgegenstand der Vagabondage. Denn diese scheint hier ebenso wenig auf wie in Szittyas experimentellen Prosatexten – ganz anders als wie gezeigt bei Hugo Sonnenschein, der Vagabundisches in seiner Lyrik zum Thema macht. Allerdings wird man Sonnenscheins oder auch Haringers Lyrik, die z. T. dem Spätexpressionismus verpflichtet ist, nicht unbedingt zum harten Kern der ästhetischen Avantgarde rechnen, welchen Avantgarde-Begriff man auch immer zugrunde legt.50 Andere Vagabunden übrigens, gerade auch die namenlos gebliebenen, haben durchaus konventionell und alles andere als avantgardistisch geschrieben, soweit sie sich denn überhaupt literarisch betätigt haben.51 Um bei Emil Szittya zu bleiben: Seine ausgedehnte Vagabondage findet als Sujet oder Motiv in seiner experimentellen Prosa keinen Widerhall, auch nicht, wie gezeigt, im avantgardistisch imprägnierten Erlaß. Wohl aber hat Szittya später seine Vagabunden-Erfahrungen in der Form autobiographischen Be47 Ebd., S. 2–3; Hervorhebung im Original (dort im Fettdruck). 48 Ebd., S. 3. 49 Vgl. Walter Fähnders: Subjektkonstitution und avantgardistischer Manifestantismus. In: Simona Bartoli Kucher, Dorothea Böhme, Tatiana Floreancig (Hgg.): Das Subjekt in Literatur und Kunst: Festschrift für Peter V. Zima. Tübingen: Francke 2011, S. 237–252. 50 Zur Diskussion des Avantgarde-Begriffs vgl. resümierend Hubert van den Berg, Walter Fähnders: Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert. In: Hubert van den Berg, Walter Fähnders (Hgg.): Metzler Lexikon Avantgarde. Stuttgart, Weimar : Metzler 2009, S. 1–19. 51 Vgl. die einschlägigen Texte in Fähnders, Zimpel (Hgg.): Die Epoche der Vagabunden (wie Anm. 4); die österreichische Vagabundenliteratur bzw. Publikationen von und über Vagabunden in Österreich und hier insbesondere in der österreichischen Presse ist bedauerlicherweise bisher noch nicht erschlossen. Ein Zufallsfund: Bruno Holfeld: Die Landstraße. In: Arbeiter-Zeitung H. 96 v. 7.4.192; abrufbar unter : http://anno.onb.ac.at/cgi-content/ anno?aid=aze& datum=19290407& seite=17& zoom=33.

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richtens präsentiert – mit eher traditionellen Darbietungsformen wie in seinem bereits erwähnten Kuriositäten-Kabinett von 1923 und noch in seinem umfangreichen, unveröffentlichten Lebensrückblick aus den späten Vierziger Jahren, Ich bitte um ein Eintrittsbillet oder Haben Sie schon einmal Hunger gehabt.52 So hat Szittya zwar Teil an der ästhetischen Avantgarde, als Ex-Vagabund verlässt er aber deren Feld zugunsten einer ganz anderen Diskursebene, dem autobiographischen Bericht. Ganz anders operiert in dieser Hinsicht Lajos Kass‚k, Szittyas zeitweiliger Vagabunden-Begleiter aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Weg nach Paris, später Begründer und Leitfigur der ungarischen Avantgarde, so des Aktivismus und Konstruktivismus, der auch in der Wiener und europäischen Avantgarde eine bekanntermaßen ganz exponierte Rolle spielte.53 Über seine Vagabondage und dabei auch über seine Beziehung zu Szittya hat Kass‚k während der Zwanziger Jahre in seiner Autobiographie Rechenschaft abgelegt, er wählt für die ästhetische Repräsentation der Vagabondage also wie Szittya den autobiographischen Bericht.54 Das ausgeprägt vagabundische Selbstbewusstsein, das sich im wiederholten Hinweis auf die Plan- und Ziellosigkeit des Landstraßendaseins äußert, wird in der Autobiographie damit erklärt, »daß wir vom Leben etwas anderes erwarteten als viehische Arbeit, daß wir eine besondere Berufung in uns verspürten.«55 Dementsprechend heißt es: »Die Landstraße hatte mich umgeformt«, es »hatte sich mein Blick entwickelt, hatten sich meine Gedanken und Gefühle geklärt«.56 Dabei wird die Lebensphase der Vagabondage, während der Kass‚k bereits erste Texte verfasste, als eine zwar prägende Etappe gesehen, aber eine ohne Dauerperspektive. Sie bleibt aber in seinem avantgardistischen Werk auf charakteristische Weise präsent, dies also anders als bei Szittya: Kass‚k greift die Vagabondage auch in seinen avantgardistischen, nicht allein seinen autobiographischen Arbeiten auf. Am markantesten erscheint dies in dem umfangreichen Poem Das Pferd stirbt und die Vögel sterben aus, das 1922 in der im Wiener Exil erschienenen ungarischen Avantgardezeitschrift 2 x 2 und 1923 in deutscher Übertragung in Herwarth Waldens Sturm-Verlag herauskam. Das Pferd stirbt und die Vögel

52 Das erste Kapitel ist publiziert in: Fähnders, Zimpel (Hgg.): Die Epoche der Vagabunden (wie Anm. 4), S. 255–269. 53 Vgl. das Lemma »Ungarn« in: van den Berg, Fähnders (Hgg.): Metzler Lexikon Avantgarde (wie Anm. 50), S. 343–348. 54 Lajos Kass‚k: Als Vagabund unterwegs. Erinnerungen. Berlin: Volk und Welt 1979; im Folgenden beziehe ich mich auf Fähnders: Projekt Vagabondage (wie Anm. 4), besonders S. 96–97; vgl. ausführlich zu Kass‚ks Poem auch Zolt‚n P¦ter : Lajos Kass‚k, Wien und der Konstruktivismus 1920–1926. Frankfurt am Main: P. Lang 2010, besonders S. 223–253. 55 Kass‚k: Als Vagabund unterwegs (wie Anm. 54), S. 30. 56 Ebd., S. 31 und S. 162.

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sterben aus gilt als wichtiges Beispiel für Kass‚ks futuristisch-dadaistische Experimentierkunst um 1920. Es heißt darin: was ist denn schon zivilisation * der mensch beschmiert sich mit irgendeinem lack und vor läusen beginnts ihn zu grausen * was ist denn familiäre verbundenheit * der mensch verlängert seine nabelschnur mit einem seidenband * was ist denn religion * der mensch fängt an sich zu fürchten damit er sich nicht zu fürchten braucht * wir haben uns die landstraßen an die fußsohlen genagelt und durchs all zog die sonne mit uns auf goldenen meilenstiefeln.57

Damit ist die vagabundische Exklusion benannt, gegen Zivilisation, Familie und Religion gerichtet. Die soziale Bindekraft dieser Instanzen wird aufgehoben zugunsten einer vagabundischen Deterritorialisierung, deren Bewegungsmetaphorik mit märchenhafter Topik – Siebenmeilenstiefel – ausgestattet ist: »und wir gingen und gingen * 13 engel zogen uns voran * gleichfalls zu fuß * und sangen uns von unserer jugend * längst schon waren wir typische landstreicher mit gut erzogenen flöhen unter den achseln«58. Es werden zwar topographische und andere Informationen mitgeteilt, die sich auch anhand der Biographie Kass‚ks verifizieren ließen, aber entscheidend bleibt eine vagabundische Verfügungsgewalt über den Raum, die avantgardistischen Allmachtsphantasien entspricht bzw. diesen entspringt: »alle hatten wir die augen offen und hinter den mauern sahen wir wie die welt ihren umhang wendet * budapest – paris – berlin – kamtschatka – st. petersburg.«59 Dass der Avantgardist Kass‚k in seinem Poem die Vagabondage zum Thema macht und sie auch avantgardistisch präsentiert, mündet in die Selbstidentifikation am Textende: »ich bin LAJOS KASSÝK«.60 Die Vermittlung von Vagabondage und ästhetischer Avantgarde vollzieht sich in der Konstruktion des neuen Menschen, in der Gewinnung eines neuen, sozusagen avantgardistischen Ich.

57 Zitiert nach der Neuübersetzung von Robert Stauffer in Lajos Kass‚k: Das Pferd stirbt und die Vögel sterben aus. Hg. Max Blaeulich. Klagenfurt, Salzburg: Wieser 1989, S. 6–7 (die weniger texttreue Erstübersetzung ins Deutsche findet sich in: Lajos Kass‚k: MA-Buch. Berlin: Der Sturm 1923, S. 43–62). 58 Kass‚k: Das Pferd stirbt (wie Anm. 57), S. 7. 59 Ebd., S. 9; im Original sind die Ortsnamen gesperrt. 60 Ebd., S. 18, Versalien im Original.

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6.

Walter Fähnders

»Wir haben uns ohne Thesen, Dekrete, fast stumm, verständigt«

Tendenzen in der Vagabondage, sich als Avantgarde zu setzen, in welchem Bezug sie zur ästhetischen und zur politischen Avantgarde dieser Zeit auch immer stehen mögen, verweisen auf Schreibansätze, die, gerade in der Lyrik, zu IchEntwürfen, Entgrenzungen, Transgressionen führen. Ihre Selbstermächtigungsphantasien und -proklamationen lassen sich als Versuch lesen, ein intaktes autonomes Ich zu retten oder zu postulieren. Dazu sei aus zwei Gedichten zitiert, in denen Vagabundisches in diesem Sinne zur Sprache kommt. Zunächst aus einem Gedicht von Theodor Kramer mit dem programmatischen Titel Vagabund, das am 15. 6. 1927 in Wiener Allgemeine Zeitung erschienen ist: Wir sind ein alt Geschlecht, verbellt von Hunden, verlogen, diebisch, zuchtlos, hungertoll. Und stammt doch manches Lied von Vagabunden, der Gnade hell und dunkler Erden voll.61

Fast titelgleich das zweite Gedicht, Vagabunden, aus Hugo Sonnenscheins 1937 in Prag erschienener Sammlung Der Bruder wandert nach Kalkutta. Es nimmt auf das eingangs zitierte Vorhaben eines vagabundischen Welttreffens Bezug und wurde unter dem Titel Offener Weltbund der Brüder auch als Flugblatt verbreitet: Offener Weltbund der Brüder Da hob ich 1930 in Wien, im Sommer, hob jählings Voll Freude die Hand auf der Straße Hob beide Arme dem Schicksal entgegen. Dem weiten Himmel, der Welt, den Brüdern entgegen, Willens, mein Dasein der Not zu ergeben. Hoben als Antwort acht Menschen die Hände, Bereit, sie ganz der Armut zu schenken; Auf allen Straßen der Erde erhoben tausend Brüder Die weißen, gelben und schwarzen Hände Gelöst und offen den unsern entgegen: Es kam die Liebe selten spontaner in die Erscheinung Aus ihrer Idee, den Menschen die Freiheit wiederzufinden. Und niemals führte ein Manifest zu einer echtern Gemeinschaft: Wir haben uns ohne Thesen, Dekrete, fast stumm, verständigt Von Wien nach Paris, von London, Berlin bis Moskau und Stambul, 61 Theodor Kramer : Vagabund. In: Fähnders, Zimpel (Hgg.): Die Epoche der Vagabunden (wie Anm. 4), S. 37.

Zwischen Vagabondage und Avantgarde

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Von Kalkutta nach Kapstadt und San Franzisko. An hundert Orten halten die Brüder, Unhörbar still und nicht zu erspähn, die lichtleichten Fäden Des kommenden Reiches unendlicher Armut: Der offene Weltbund der Brüder entsteht. Wir spinnen den Mythos der neuen Epoche. Neun sind auf dem Weg zur großen Beratung der lebendigen Bahn Nach den Toren einer uralten indischen Stadt, Und einer der Wandrer ist Sonka, der treue Verkünder.62

62 Hugo Sonnenschein: Vagabunden. In: Fähnders, Zimpel (Hgg.): Die Epoche der Vagabunden (wie Anm. 4), S. 44; hier zitiert nach dem geringfügig modifizierten Text im Faksimile des Flugblatts in: Himmel und Hölle zwischen 1918 und 1989. Die verbrannten Dichter. Sammlung Jürgen Serke. [Ausstellungskatalog]. Berlin: Damm und Lindlar 2008, S. 328.

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Emanzipation der ›Neuen Tochter‹ in Mela Hartwigs Das Verbrechen (1927)

Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende. Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem einzelnen unmöglich geblieben wäre. […] Nun setzten sie im Akte des Verzehrens die Identifizierung mit ihm [dem Vater] durch, eigneten sich ein jeder ein Stück seiner Stärke an.1

Sigmund Freud identifiziert in seiner Schrift Totem und Tabu (1912/13) den Vatermord als Gründungsakt für die eigene Identität der Söhne. »Der Vatermord [steht] zudem für eine kritische Position gegenüber Autoritäten«2, ein Motiv, dass »ein der Avantgarde hochwillkommenes Protestpotential [innehat], das im Kampf um die Besetzung des literarischen Feldes und bei der antibürgerlich intendierten Rebellion der expressionistischen Jungen (sprich: der Söhne) eine markante Rolle spielt.«3 In der Literatur wird der altbewährte Vater-SohnKonflikt in der Schnittmenge der gesellschaftskritischen Potentiale verortet und bildet seinen aggressiven Höhepunkt »im Vatermordmotiv, das zu einem der spektakulärsten expressionistischen Motive […] avancierte«4. Beispiele hierfür sind Walter Hasenclevers Drama Der Sohn aus dem Jahr 1914 sowie Arnolt Bronnens Vatermord von 1920. Doch obgleich zum »Kampf gegen die Väter«5 aufgerufen wird, sterben diese 1 Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker (1912–1913). = Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hg. von Anna Freud u. a. Frankfurt/M.: Fischer 1954; hier zit nach Ders.: Das Unbehagen in der Kultur und andere Schriften. Frankfurt a. M.: Lizenzausgabe für Zweitausendeins 2010. S. 770. 2 Walter Fähnders: Vatermord. Über Texte von Walter Hasenclever, Franz Werfel, Friedrich Wolf, Arnolt Bronnen und Mela Hartwig. In: Werner Felber, Albrecht Götz von Olenhusen, Gottfried Maria Heuer, Bernd Nitzschke (Hgg.): Psychoanalyse & Expressionismus. 7. Internationaler Otto Gross Kongress. Dresden, 3. bis 5. Oktober 2008. Marburg an der Lahn: Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMit) 2010. S. 413. 3 Ebd. Anm. 2. 4 Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890–1933. Stuttgart, Weimar : Metzler 1998. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage 2010. S. 128. 5 Walter Hasenclever: Der Sohn. Ein Drama in fünf Akten. Stuttgart: Reclam 1994. S. 75, 86.

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nicht durch die Hand des Sohnes.6 Bei Hasenclever zieht ›der Sohn‹ zwar einen Revolver; bevor er den Vater erschießen kann, trifft diesen jedoch der Schlag.7 Bei Werfel hetzt der Sohn den nackten Vater um einen Billardtisch, tötet ihn aber schlussendlich nicht. Walter Fähnders resümiert, dass »die patriarchalischen Geschlechterverhältnisse letzten Endes unangetastet«8 bleiben. Bemerkenswerterweise bringt Agnes, die Protagonistin aus Mela Hartwigs Novelle Das Verbrechen (1927)9, in einer Zeit, die traditionell als »›die Zeit zwischen den Frauenbewegungen‹«10 definiert wurde, das »expressionistische[n] Aufbegehren[s] gegen die Väterwelt«11 bis zum vollendeten Vatermord. Sie entspringt dabei nicht der Folge von Söhnen, die am Vatermord scheitern und sich dem »Trend zur Vaterrettung« unterwerfen, nach welchem der Junge den Konflikt um die Kastrationsangst löst, indem er sich mit dem »Gesetz des Vaters«, also dem Inzestverbot, identifiziert. Er positioniert sich damit auf der Seite der Macht, die die Kastration zufügen kann und nicht mehr erleiden muss. Für den Jungen bzw. den Sohn bekommt »[d]ie Rettung des Vaters«12 also »den Stellenwert einer Überlebensstrategie«13. Agnes entstammt dagegen einer Reihe sich emanzipierender Töchter, die den ödipalen Vater-Tochter-Konflikt und das später in der Psychoanalyse manifestierte Frauenbild aufzubrechen und abzulegen versuchen. Prominente Beispiele aus der Literaturgeschichte sind Lessings Emilia Galotti (1772) und Schnitzlers Fräulein Else (1924), die als Töchter der jeweiligen Epochen eines gemeinsam haben: sie tragen innere sowie äußere Konflikte mit ihren Vätern aus und zeigen Symptome, aus denen später im Zuge der Psychoanalyse oder sogar schon in der jeweiligen Zeit die Diagnose Hysterie gestellt wird. Die Hysterie-Affinität der Frau, die als »schier unerschöpfliche Quelle künstlerischer Kreativität«14 fungiert, steht jedoch nicht nur in einer großen 6 Vgl. Walter Hasenclever: Der Sohn. Vgl. Franz Werfel: Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig. Eine Novelle. München: K. Wolff 1920. 7 Vgl. Walter Hasenclever : Der Sohn. S. 108f. 8 Walter Fähnders: Vatermord. S. 428. 9 Mela Hartwig: Das Verbrechen. In: Ekstasen. Novellen. Wien: Paul Zsolnay 1928. Die Zitate entstammen, soweit nicht anders angegeben, folgender Ausgabe: Mela Hartwig: Das Verbrechen. Novellen und Erzählungen. Graz, Wien: Literaturverlag Droschl 2004, welche im Folgenden mit der Sigle »DV« abgekürzt wird. 10 Vgl. FranÅoise Th¦baud,: Einleitung. In: Georges Duby/ Michelle Perrot (Hgg.): Geschichte der Frauen. Bd. 5, 20. Jahrhundert hrsg. v. FranÅoise Th¦baud. Frankfurt a. M. (u. a.): Fischer Taschenbuch Verlag 1997. S. 17: »der Zeitraum von 1920 bis 1960, lange als ›die Zeit zwischen den Frauenbewegungen‹ begriffen, wird heute völlig neu erschlossen […].« Ebd. 11 Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890–1933. S. 129. 12 Christa Rohde-Dachser: Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Berlin (u. a.): Springer, 1991. S. 134f. 13 Ebd. Anm. 12. 14 Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit: Exemplarische Untersuchungen zu kul-

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literarischen Tradition, auch in der Medizin wurde ihr künstlerisches Potential genutzt: Der französische Neurologe Jean-Martin Charcot begann im Rahmen seiner Hysterie-Forschung in den 1880ern damit, Hysterie-ähnliche Lähmungen mittels Hypnose künstlich hervorzurufen15 und brachte so auch das Vokabular der sich in der Revolte befindlichen Tochter auf die Bühne. In der SalpÞtriÀre16, einer psychiatrischen Anstalt in Paris, wurde eigens ein Amphitheater gebaut, in dem Patientinnen und ihre hysterischen Symptome zur Schau gestellt17 und mittels Hypnose, Magneten, Elektroschocks und speziellen Instrumenten inszeniert wurden. Dabei überließen diese Frauen nicht nur ihre Körper dem Arzt und Hypnotiseur, der die Symptome in seinen leÅons du mardi wieder und wieder reproduzieren konnte, es wurden auch verbale Äußerungen und Fotografien dieser Frauen veröffentlicht18. Charcot vertrat zeitlebens die Auffassung, unerfülltes sexuelles Begehren sei eine der Hauptursachen der Hysterie. Der Lebensgeschichte der Patientinnen wurde bei diesen Spektakeln kaum Bedeutung beigemessen. So wurden 1992 Transkriptionen entdeckt, die »äußerst genaue und oft schreckliche Anspielungen auf frühere Traumen«19 der Patientinnen enthielten, aber weder diagnostisch noch therapeutisch verwertet worden

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turgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. (Erste Auflage 1979). S. 11. Günter Gödde: Freuds Entdeckung des »dynamischen« Unbewussten im Kontext seiner Hysterieforschung. In: Christina von Braun, Dorothea Dornhof und Eva Johach (Hgg.): Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften. Studien zum Verhältnis von Wissen und Geschlecht. Bielefeld: Transcript 2009. S. 48. Von Charcot selbst wurde die SalpÞtriÀre als »Museum der lebenden Pathologie« bezeichnet. Vgl. Elisabeth Bronfen: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne. Aus dem Englischen von Nikolaus G. Schneider. Berlin: Verlag Volk und Welt 1998. S. 259. Charcot erschuf mittels der Fotografie wortwörtlich ein »Bild der Hysterie«: »Dieser ganze Teil des Anfalls ist […] wunderschön, und jede einzelne Phase würde verdienen, durch Verfahren der Instantphotographie festgehalten zu werden.« Jean-Martin Charcot zitiert nach: Marianne Schuller : Hysterie als Artefaktum. Zum literarischen und visuellen Archiv der Hysterie um 1900. In: Marianne Schuller : Im Unterschied. Lesen/Korrespondieren/ Adressieren. Frankfurt a. M.: Verlag Neue Kritik 1990. S. 81. Georges Didi-Huberman hat sich ausführlich mit Jean-Martin Charcots Nouvelle Iconographie de la SalpÞtriÀre (1888) auseinandergesetzt und die SalpÞtriÀre als historischen Schauplatz »für die unsaubere Verflechtung wechselseitigen Einverständnisses, wechselseitiger Täuschung und wechselseitigen Begehrens seitens des Arztes oder Analytikers, seiner Patienten und seitens der Künstler, die diesen Austausch in ihren Werken darstellen«, erfasst. Vgl. Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Silvia Henke, Martin Stingelin und Hubert Thüring. München: Wilhelm Fink Verlag 1997. Das Zitat stammt aus: Elisabeth Bronfen: Das verknotete Subjekt. S. 259. Daphne de Marneffe: Looking and listening: the construction of clinical knowledge in Charcot and Freud. In: Signs 17 (1992), S. 71, zitiert nach: Günter Gödde: Freuds Entdeckung des »dynamischen« Unbewussten im Kontext seiner Hysterieforschung. S. 49.

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waren. Es zeigt sich hier deutlich, dass das Imaginieren von Weiblichkeit nicht nur auf die Literatur beschränkt blieb. Die Patientin fungiert hier als Figurine und kann so die Thesen des Arztes in der Inszenierung belegen. Der Emanzipationsversuch, den die Frauen in der hysterischen Veranstaltung verkörpern, wird mit dem Lindern der Symptome (z. B. durch eine talking cure) unmöglich gemacht. Die Konsequenz für die Neue Tochter ist demnach die Beseitigung der regulierenden Instanz, des Marionetten-Spielers auf dem ›Bühnenbild des Patriarchats‹20 – der Mord am VaterPsychoanalytiker-Arzt-Konglomerat! Mela Hartwig stellt sich bei diesem Versuch »auf den Boden der Freudschen Lehren – und dennoch gegen die damalige Psychiatrie und Psychoanalyse […] [und] gegen die patriarchalischen Strukturen des Wilhelminismus«21. Dabei betreibt sie in avantgardistischer Manier die ›Kunstzerstörung‹, indem sie die Künstlichkeit und Kunstprodukte der Charcots und Freuds dekonstruiert, den Hysterie-Diskurs und die Freudsche Psychoanalyse »mit dem Skalpell ihrer Schreibfeder […] [seziert]«22. Die Hysterie ist bei Hartwig die »wahnwitzige Sprache«23 der sich emanzipierenden Tochter. Sigrid Weigel sieht in der Figuration der Hysterikerin, »die gegen die männliche Ordnung anrennt […] mit ihrem Körper den Widerspruch zum Sprechen [bringt]«24, »das rebellische Moment der Hysterie ins […]

20 In der männlichen Inszenierung sind für die Frauen Rollen bereitgestellt, die sie übernehmen müssen. Die Frauen selbst können keine eigenen Rollen in das Stück integrieren. Sollten sie diese Situation nicht akzeptieren, müssen sie das Stück umschreiben oder von der Bühne abtreten. Die Bühnenbildmetapher greift natürlich für das Bühnenstück Emilia Galotti besonders gut, ist aber an dieser Stelle noch außerliterarisch zu betrachten. Gerda Lerner hat diese Metapher zur Charakterisierung des Patriarchats herangezogen. Vgl. Gerda Lerner : Frauen und Geschichte. Bd. 1: Die Entstehung des Patriarchats. Aus dem Engl. v. Walmot Möller-Falkenberg. Frankfurt a. M., New York: Campus-Verlag 1991. Vgl. auch: Christa Rohde-Dachser : Expedition in den dunklen Kontinent. S. 83f. 21 Eigentlich auf Otto Gross gemünztes Zitat der Herausgeber aus dem Vorwort zu: Werner Felber, Albrecht Götz von Olenhusen, Gottfried Maria Heuer, Bernd Nitzschke (Hgg.): Psychoanalyse & Expressionismus. 7. Internationaler Otto Gross Kongress. Dresden, 3. bis 5. Oktober 2008. Marburg an der Lahn: Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMit) 2010. S. 7. 22 Dorothea Dornhof: Orte des Wissens im Verborgenen. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2005. S. 171. Zitiert nach: Julia Maier-Lehner : Mela Hartwigs Novellenwerk. Wien, Univ., Dipl.-Schr., 2009. S. 90. 23 Walter Benjamin: Metaphysik und Jugend. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. II.1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977. S. 95. 24 Sigrid Weigel: Der schielende Blick. Thesen zur Geschichte weiblicher Schreibpraxis. In: Inge Stephan und Sigrid Weigel: Die verborgene Frau: Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Mit Beiträgen von Inge Stephan und Sigrid Weigel. 3. Auflage. Berlin/ Hamburg: Argument-Verlag 1988. (Argument Sonderband 96). S. 106.

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Blickfeld gerückt«25. Da die Hysterikerin unter Einsatz ihres Körpers agiert, kann sie diesen jedoch auch verspielen. Sie richtet sich damit also nicht nur gegen gesellschaftliche Konventionen und Zwänge, sondern auch gegen sich selbst. In der 1924 erschienenen Monolognovelle Fräulein Else zeigt sich der weibliche Körper als Kapital des Vaters. Bei der Ausgestaltung seiner Protagonistin berücksichtigt Schnitzler das Bild von der Hysterikerin als »verhinderte Prostituierte«26. Lessings Emilia Galotti (1772) ist das Beispiel für die Tochter innerhalb der bürgerlichen Familie. Die Vater-Tochter-Beziehung wird äußerst emotionalisiert und gleichzeitig ambivalent dargestellt. So ist Emilia einerseits das Kapital ihres Vaters, ihre Unschuld eine Ware, die der Händler vor einer Wertminderung, der Verführung, schützen will. So tötet er seine Tochter, bevor sie ihre Tugend, also quasi ihren Wert, verliert. Andererseits stehen nicht nur der Kapitalverlust und die Vermeidung einer Schande im Raum, sondern auch der drohende Kontrollverlust über den Körper der Tochter. An der Figur der Emilia lässt sich zeigen, dass der »meist verschleierte[n] sexuelle[n] Anspruch des Vaters auf die Tochter«27 ebenso neurosenfördernd wirkt, wie ein offensichtlicher Missbrauch durch den Prinzen. Scheinbar emanzipiert sich Emilia von den Lösungsentwürfen der männlichen Figuren, indem sie im letzten Moment das Spiel an sich reißt und zur Tugendheldin wird. Wäre die Emilia des fünften Aktes tatsächlich ein Exempel freier Selbstbestimmung, so könnte man sie als ›Neue Tochter‹ bezeichnen. Emilias Entschlossenheit ist meines Erachtens jedoch weit davon entfernt. Vielmehr versucht sie, unter allen Umständen eine erneute Trennung vom Vater zu verhindern. Da sie somit aus Angst28 handelt, ist eine Unabhängigkeit ausgeschlossen. 25 Ebd. Anm. 24. 26 Vgl. Renate Schlesier: Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud. Zum Problem von Entmythologisierung und Remythologisierung in der psychoanalytischen Theorie. Frankfurt am Main: Hain, 1990. (Früher u. d. T.: Renate Schlesier : Konstruktionen der Weiblichkeit bei Sigmund Freud.) S. 49. Auch Agnes hat scheinbar keine Hemmungen, sich einem Fremden hinzugeben. So würde sie das Haus ihres Vaters »durch das Fenster auf einer Leiter, die mir irgendein Vorübergehender hält, gegen das Versprechen, daß ich ihm zu willen sein werde« verlassen. DV, S. 28. Viel deutlicher wird hier meiner Meinung nach jedoch die Verzweiflung, mit der ein Ausweg aus der Vater-Tochter-Beziehung gesucht wird und in der auch die drastischsten Mittel in Erwägung gezogen werden. 27 Martha Karsberg Wallach: Emilia und ihre Schwestern: Das seltsame Verschwinden der Mutter und die geopferte Tochter. In: Helga Kraft und Elke Liebs (Hgg.): Mütter – Töchter – Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Literatur. Teil 2: Mit dem Blick des Mannes. Die Polarisierung der Frau im 18. Und 19. Jahrhundert. Stuttgart (u. a.): Metzler 1993. S. 57. 28 Odoardo droht seiner Tochter, sie in den Händen des Prinzen zurückzulassen. Dadurch provoziert er Emilias kindliche Trotz- und Verzweiflungsreaktion, welche eine Autonomie jedoch nur vortäuscht (vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Stuttgart: Reclam 2006, V, 7; S. 84).

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Die Opferung ihres Körpers wird von Emilia demonstrativ männlich konnotiert, sodass dem schwachen Vater eine narzisstische Identifikation ermöglicht wird. Emilia kann auf diese Weise ihre eigenen infantil-inzestuösen Wünsche dem Vater gegenüber artikulieren. Die gemeinsam mit dem Vater inszenierte Opferhandlung ist für Emilia also das Mittel, die eigene Mitschuld an Appianis Tod zu büßen und vor dem Vater die »Maske einer männlich kodierten Erwachsenenrolle«29 anzunehmen, womit eine Emanzipation in Form der mündigen ›Neuen Tochter‹ unwiederbringlich scheitert. Außerdem lässt sich anführen, dass Emilia den Dolch »als Fetisch des vollen Mannseins«30 vom Vater zwar kurzzeitig erhält, dieser dann aber ihrer Verführung erliegt und sie mit dem Dolch schlussendlich tötet. Dies unterscheidet sie von der Neuen Tochter Agnes, die den von ihrem Vater erhaltenen Phallus31 (Revolver) nicht wieder zurückgibt. Emilia lässt sich jedoch in den Stand der kindlichen Unschuld zurücksetzten, die erst in der Hysterie die Kontrolle über ihre Sexualität erlangt. Annehmen kann sie diese Entwicklung nicht, ohne ihre Unschuld zu verlieren und somit endet Emilias Identifikationsprozess damit, dass sie das väterliche Tochterbild verinnerlicht. Es lässt sich feststellen, dass die Töchter, sobald sie selbst agieren, sich wehren und aus dem Handel ausbrechen wollen, sterben. Ein weiteres Beispiel aus dieser Reihe ist Arthur Schnitzlers Fräulein Else (1924), deren Körper zur Aufrechterhaltung des bürgerlichen Scheins missbraucht werden soll. Um dem geliebten Vater aus den Schulden zu helfen, ihm das Gefängnis und der Familie den sozialen Abstieg zu ersparen, soll sich die 19-jährige Protagonistin prostituieren und dem finanziell potenten Lebemann Dorsday ihren Körper zur Verfügung stellen. Elses Versuch, diese Strukturen in einer Inszenierung aufzuzeigen, wird als hysterischer Anfall abgeschmettert und auch sie muss, wie ihre Vorgängerinnen, sterben. Ich möchte mich nun weitergehend mit der Frage einer möglichen Emanzipation Elses auseinandersetzten: Diese zeigt, wie Emilia, in ihrem finalen Anfall die Strukturen, die ihren Körper zur Ware machen, deutlich auf und das Schlusstableau ähnelt dem in Emilia Galotti. Doch obwohl sich die Konflikte der beiden Protagonistinnen ähneln, indem beide Mädchen ihre Weiblichkeit dem Vater überlassen, geht Else einen Schritt weiter : 29 Vgl. Brigitte Prutti: Bild und Körper. Weibliche Präsenz und Geschlechterbeziehungen in Lessings Dramen: Emilia Galotti und Minna Von Barnhelm. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996. (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft; 175). S. 113f. 30 Vgl. Ebd. Anm. 29. S. 115. 31 Rohde-Dachser beschreibt eindrucksvoll, wie der ›Phallus‹ für den Mann zum Siegel der Unsterblichkeit wird, der »[d]as Grauen vor dem Gorgonenhaupt«, einer Metapher für die auf die Frau projizierte Todesangst, lindert. Chista Rohde-Dachser : Expedition in den dunklen Kontinent. S. 139.

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Elses Handlung schliesst vielmehr die sonst übliche, in der Literatur so häufig anzutreffende Variante des sich Verkaufens aus. Sie ist sich bewusst, dass sie mit ihrer Entblössung die Entblössung des Vaters verhindern soll; die Defensive schlägt um in Aggression. Aggression: das ist der erste Schritt zu einer Emanzipation.32

Einen Weiblichkeitsentwurf, der dem Freudschen entgegensteht, findet Else jedoch nicht. Schnitzler wiederholt auf diese Weise literarisch dessen »Denunziation der weiblichen Identität«33. Die Emanzipation zur Neuen Tochter setzt, wie bereits dargelegt, die Absage an die töchterliche Existenz voraus. Durch die Tötung ihres Vaters hat Agnes diese Absage nicht nur symbolisch, sondern auch mit dem »undenkbarste[n] aller töchterlichen Verbrechen«34 ausgeführt. Agnes bleibt, im Gegensatz zu Emilia und Else, »zuversichtlich, beinahe jubelnd«35 zurück. Obwohl ihr »nur mehr die Wahl zwischen Irrenhaus und Gefängnis«36 bleibt, hat sie die Mechanismen, die sie zum Objekt machen, nicht nur in einer finalen Inszenierung (vgl. Emilia und Else) aufgezeigt, sondern sich gleichsam in einem Akt der Befreiung aus der Fremdbestimmtheit gelöst. Der Mord an ihrem realen Vater ist dabei gleichzeitig als Aufbegehren gegen das Patriarchat zu verstehen. Agnes entwickelt die Basis eines feministischen Bewusstseins, welchem nach Gerda Lerner zunächst einige Einsichten vorausgehen. So müssten die Frauen zunächst erkennen, dass sie einer untergeordneten Gruppe angehören, die unter Missständen leidet. Es folgt die Erkenntnis, dass ihr untergeordneter Status gesellschaftlich produziert ist37 und, wie ich ergänzen möchte, im Patriarchat aufrechterhalten wird. Auch Jessica Benjamin hat in ihrer Analyse des institutionalisierten Ödipus gezeigt, dass für Frauen eine ihre Weiblichkeit integrierende Ichwerdung unmöglich ist, solange der Vater das ›kulturelle Sinnbild für Subjektivität‹ verkörpert38. 32 Wendelin Schmidt-Dengler : Inflation der Werte und Gefühle. Zu Arthur Schnitzlers Fräulein Else. In: Guiseppe Farese (Hg.): Akten des Internationalen Symposiums »Arthur Schnitzler und seine Zeit«. Bern (u. a.): Lang 1985. (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. 13.). S. 177f. 33 Marianne Knoben-Wauben: Ambivalente Konstruktionen der Weiblichkeit: Das Bild der Frau aus der Sicht des Wissenschaftlers Sigmund Freud und des Dichters Arthur Schnitzler. In: Guillaume van Gemert und Hans Ester (Hgg.): Grenzgänge. Literatur und Kultur im Kontext. Festschrift für Hans Pörnbacher. Amsterdam: Rodopi, 1990. S. 293. 34 Christa Rohde-Dachser : Expedition in den dunklen Kontinent. S. IX. 35 DV, S. 61. 36 DV, S. 60. 37 Vgl. Gerda Lerner : Frauen und Geschichte. Bd. 2: Die Entstehung des feministischen Bewußtseins. Vom Mittelalter bis zur ersten Frauenbewegung. Aus dem Engl. v. Walmot MöllerFalkenberg. Frankfurt a. M., New York: Campus-Verlag 1993. 38 Vgl. Jessica Benjamin: Die Fesseln der Liebe: Psychoanalyse und das Problem der Macht. Ins Deutsche übertragen von Nils Thomas Lindquist und Diana Müller. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993. S. 78f. und 121.

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Der Gebrauch des Begriffsinstrumentariums der Psychoanalyse lässt Hartwig eine Sprache finden, die innerhalb ihrer Novelle die Psychoanalyse als männliches Machtinstrument entlarvt: Die als therapieförderliche Maßnahme getarnte schrittweise Zerstörung der eigenen Tochter durch ein Konglomerat aus Vater, Arzt und Psychoanalytiker ist deshalb nicht nur als Rahmenhandlung zu bewerten, um Ödipus-Konflikt, Inzest-Tabu, Triebtheorie und Hysterie-Konzeption unterzubringen, sondern beinhaltet gleichzeitig Hartwigs Hauptanklagepunkt gegenüber der Freudschen Psychoanalyse. In der Literaturgeschichte wird der Beginn einer feministisch geprägten österreichischen Literatur gemeinhin in den späten 1960ern angesetzt, wobei die Vorstellung suggeriert wird, dass diese Autorinnen »traditionslos«39 die Phalanx einer Emanzipationsbewegung darstellten. Mela Hartwig hat, lange vor der theoretischen Ausformulierung einer feministischen Kritik der Psychoanalyse, Freuds theoretische Konzeption von Weiblichkeit auf literarischem Terrain dekonstruiert40. Obgleich das Vokabular der Freudschen Psychoanalyse als Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Auseinandersetzung mit den genannten Themen anzunehmen ist41, werden die revolutionären Theorien Freuds nicht einfach in ihre Texte eingearbeitet, sondern kritisch distanziert hinterfragt. Das »Nullpunkt-Bewußtsein«42 mit dem Frauen in den 1970ern schrieben, besonders in Bezug auf die Vater-Tochter-Problematik und die Emanzipation der Tochter, kann nur mit einer Ignoranz innerhalb der Literaturwissenschaft und einer erfolgreichen ›Verdrängung‹ im Zuge des Nationalsozialismus erklärt werden. (Die genannten Themenbereiche haben ihre Entwicklung bereits zwischen 1880 und 1930 erfahren). Mela Hartwigs Schreibstil, der innerhalb der Novellensammlung Ekstasen, aber auch in ihrem Roman Das Weib ist ein Nichts, als expressionistisch klassifiziert wird, ist Ende der 1920er nicht mehr modern. Trotz der Hinwendung zur Neuen Sachlichkeit in Bezug auf Themen43, Aktualitäts-Anspruch44 und Be39 Vgl. Brigitte Spreitzer: TEXTUREN. Die österreichische Moderne der Frauen. Wien: Passagen Verlag 1999. (Studien zur Moderne 8). S. 287. 40 Ebd. Anm. 39. S. 45. 41 Vgl. Brigitte Spreitzer : TEXTUREN. S. 197. 42 Vgl. ebd. Anm. 41. S. 43. »Durch die ideologische Repression des Nationalsozialismus ist es nicht nur gelungen, neue Publikationen zu verhindern, sondern es wurde sogar das Wissen um die Existenz früheren Schrifttums vernichtet. Dies hat dazu geführt, daß sich die Frauenbewegung der sechziger Jahre und die zu ungefähr derselben Zeit entstehende neue engagierte Frauenliteratur als totalen Neuanfang sahen, daß sie beim Punkt Null angefangen […]«. Sigrid Schmid und Hanna Schnedl: Die Tradition des Totschweigens. In: Sigrid Schmid und Hanna Schnedl (Hgg.): Totgeschwiegen. Texte zur Situation der Frau von 1880 bis in die Zwischenkriegszeit. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1982, S. 19. 43 Die der neusachlichen Bewegung verpflichteten Autorinnen thematisierten ›Weiblichkeit‹

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nutzung des Montage-Prinzips in Hartwigs Werken vor 1930, ist die expressionistische, durch brutale und ausdrucksstarke Darstellung der jeweiligen Konfliktsituation charakterisierte Schreibweise bewusst beibehalten worden.45 Petra Maria Wende vermutet, dass sie mit ihrem expressiven Ausdruck versuchte, »die Fülle der Bilder und Theorien über die Frau und die Weiblichkeit zu versprachlichen«46. Besonders Autorinnen, die um 1930 veröffentlichten, urteilten vermehrt kritisch über die »männlich dominierte« Sachlichkeit47, insofern ist die angeblich fehlende Modernität in Hartwigs Texten gleichzeitig revolutionär. Das Mädchen starrt ihn entsetzt an: »Bestätigt? Was hat meine Verzweiflung bestätigt? Ich bin müde, ich bin müde, ich kann nicht mehr denken. Ich möchte sterben, ich kann nicht leben so. Du mystifizierst mich. Wie kann man darüber lachen?« »Ich habe deine Hysterie unterschätzt«, fährt ihr Vater fort. »Wenn ich voraussehen hätte können, dass eine geringfügige Äußerung imstande ist, dein Gleichgewicht zu erschüttern, so hätte ich sie vielleicht für mich behalten. Vielleicht. Ich hätte mich zumindest der Mühe unterzogen und mich der geläufigsten psychoanalytischen Schleichwege bedient und dich die Wahrheit, wie jeden anderen Patienten eines Nervenarztes, dosiert verschlucken lassen. Du legst dieser Angelegenheit das Werturteil deiner Abwehr zugrunde, reklamierst ein gangbares physiologisches Phänomen als Einzelschicksal. Ich spreche jetzt als Arzt, als Psychiater, wenn du willst. Für mich bedeutet diese Tatsache lediglich eine Theorie, für die du ein außerordentlich sensibles Beweisobjekt darstellst. Ich bin aufrichtiger als du, aus Notwendigkeit, wenn du willst, weil ich mir als Arzt keine psychische Verlogenheit durchgehen lassen darf, wenn ich

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und die Stellung der Frau in der Gesellschaft auf eine bis dahin nicht gekannte Weise, indem sie keine geschlossenen Entwürfe weiblicher Existenz darstellten, sondern Widersprüche zuließen. (Vgl. Ursula Töller : »ETWAS SELTENES ÜBERHAUPT ». Über das Verhältnis zwischen Schriftstellerinnen und literarischen Stilen. In: Ariadne. Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung. Heft 31. Kassel: 1997. S. 21). In Hinblick auf die Thematik des Frauenbildes der Neuen Sachlichkeit könnten meiner Meinung nach Vergleiche mit Marieluise Fleißer oder Irmgard Keun vielversprechend sein. Vgl. bspw.: Regina Milde: Die literarische Reflexion der Veränderungen der Frauenrolle in der Frauenliteratur der 20er Jahre, dargestellt an Vicki Baums »stud. Chem. Helene Willfüer« und Irmgard Keuns »Gilgi – eine von uns«. Hamburg, Univ., Mag.-Schr., 1990. Und Elke Brüns: Eine Frau zwischen Napoleons. Marieluise Fleißer (1901–1974). In: Ariadne. Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung. Heft 31. Kassel: 1997. S. 26–31. So werden u. a. die Abtreibungsdebatte, die Euthanasieproblematik, von der Gesellschaft vorgegebene Schönheitsideale und der Psychoanalyse-Diskurs verarbeitet. Meines Erachtens können die Novellen der Ekstasen durchaus als Montage gelesen werden, sodass Die Hexe nicht wegen Mangel an aktuellen Bezügen ausgenommen werden muss. Vgl. insbesondere den folgenden Ausschnitt aus Das Verbrechen: Mela Hartwig: Das Verbrechen. In: Ekstasen. Novellen. Wien 1928. S. 14–16. DV, S. 22f. Petra Maria Wende: Eine vergessene Grenzgängerin zwischen den Künsten. Mela Hartwig 1893 Wien – 1967 London. In: Ariadne. Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung. Heft 31. Kassel: 1997. S. 35. Vgl. Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890–1933. S. 240.

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meine Patienten, die von meinem seelischen Gleichgewicht abhängig sind, nicht schädigen will. Ich bin aufrichtiger als du, sage ich, und gestehe es mir und dir ohne konventionelle Scham zu, dass ich jederzeit bereit wäre, dein Liebhaber zu sein, wenn ich nicht gerade unglückseligerweise dein Vater wäre. Aber ich bin mir bewusst, dass damit ein Verzicht geschieht, der nur in seiner Bewusstheit vereinzelt, an sich aber etwas sehr Alltägliches ist. Ich will sogar noch weiter gehen: Es macht mir Vergnügen, diesen Konflikt Aug in Aug mit dir auszutragen.« »Vater«, unterbrach ihn das Mädchen, »Vater, hör auf. Es ist abscheulich. Es ist, als ob du mich schlügst.« »Das würde dir unter Umständen sogar Vergnügen bereiten«, fuhr der Arzt unbeirrt fort. »Auch dieser Vergleich dient unbewusst als Zugeständnis. Das Symbol des Geschlagenwerdens, das du zur Charakterisierung der Gefühle heranziehst, die dieses Gespräch in dir aufwühlen, ist zweideutig. Du verwendest die dir geläufigere Erinnerung des Unlustgefühls zur Deckung für das triebhafte Lustgefühl, das diese Vorstellung dir gewährleistet.« Agnes starrte ihn fassungslos an: »Ich werde wahnsinnig, ich werde wahnsinnig. Ich liege auf dem Seziertisch. Du schneidest mir die Bauchdecke auf und wühlst mit blutigen Händen in meinen Gedärmen, du schneidest mir das Herz aus der Brust, stopfst es mir in den Mund wie einen Knebel, damit ich nicht schreien kann, denn ich lebe ja noch, und ich würge an meinem eigenen Herzen, bis ich daran ersticke. Du kratzt mir das Gehirn aus dem Schädel wie eine Frühgeburt und füllst den Hohlraum mit deinem Samen an. Du…« Ihre Worte erstickten in einem kreischenden, keuchenden Weinen, das ihren Körper krampfartig zusammenkrümmte und ihren Mund wie zu einem Grinsen verzog. Der Arzt legte die Hand auf ihre Stirn, bis die Zuckungen unter dem Gebot seines Willens nachließen, dann sagte er mit einer Stimme, die noch um eine Schattierung sachlicher schien: »Du hast eine zügellose Phantasie […]«48.

Agnes lebt, nachdem ihre Mutter bei ihrer Geburt starb, mit ihrem Vater zusammen. Dieser ist Psychoanalytiker und sich »der schicksalhaften Bedeutung der ersten Lebensjahre für das ganze Leben«49 bewusst, so dass er sich entschließt, Agnes »die Mutter so sehr [zu] ersetzen, daß [sie] diesen Verlust nie fühlen sollte[st]«50. Er beschreibt sich selbst als »zärtliche[n] Vater«51, der Agnes »mit Liebkosungen überhäuft[e]«52, sie »verwöhnt«53 und »verzärtelt«54 hat. Agnes selbst beschreibt die »Erinnerungen an alle Zärtlichkeiten, die sie ihm erwiesen, die sie von ihm erfahren hatte«55 als »unrein«56 und sie empfindet »Ekel«57, seitdem sie weiß, dass ihr Vater »ein gefährliches Spiel«58 mit ihr spielt. 48 49 50 51 52 53 54 55

DV, S. 22f. DV, S. 26. DV, S. 26. DV, S. 26. DV, S. 26. DV, S. 26. DV, S. 26. DV, S. 25.

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Was Egon Zuba als »Spiel«59 verharmlost, ist das Ausleben seiner sadistischen Züge an der eigenen Tochter, die er als seine »schwierigste Patientin«60 bezeichnet. In der Vater-Tochter-Beziehung sind die Ambivalenz von Liebe und Hass, Inzestprobleme und der Ödipus-Konflikt Aspekte, die der Vater als therapiebedürftig herausstellt. Durch seine manipulativen Analysen und weiteren »psychoanalytischen Schleichwege[n]«61 drängt der Vater die Tochter in hysterische Muster. Aus dem daraus entstehenden extremen Abhängigkeitsverhalten von Agnes wird ein Begehren, welches der Psychoanalytiker durch zunehmende Zurückweisungen, Demütigungen und Misshandlungen steigert. So agiert der Vater wie Charcot, wenn er droht: » Ich kann dich mit einer Zärtlichkeit auslöschen, daß nichts von dir übrigbleibt als zuckendes Fleisch, ohne Willen, ohne Gedanken, triefend vor Unterwerfung«62. Seine Tochter kann sich diesem Übergewicht an Macht zunächst nicht widersetzen. Agnes wird es unmöglich gemacht, der Diagnose des Vaters nicht zuzustimmen, konstatiere doch das »Nein«, das man vom Patienten hört, nachdem man seiner bewußten Wahrnehmung zuerst den verdrängten Gedanken vorgelegt hat, [..] bloß die Verdrängung und deren Entschiedenheit […]. Wenn man dieses Nein nicht als den Ausdruck eines unparteiischen Urteils, dessen der Kranke ja nicht fähig ist, auffaßt, sondern darüber hinweggeht und die Arbeit fortsetzt, so stellen sich bald die ersten Beweise ein, daß Nein in solchem Falle das gewünschte Ja bedeutet.63

Da sich in der Novelle Vater und Psychoanalytiker vereinigen, kann Hartwig die »Verdoppelung des Mißbrauchs abhängiger Töchter«64 in Szene setzen, in welchem sowohl der paternale als auch der psychoanalytische Diskurs Äußerungsformen eines Machttyps darstellen. Hartwig gibt Agnes die Möglichkeit, diesen »gesellschaftlich sanktionierten und in komplizierte Theorien verpackten Betrug«65 zu durchschauen, sie beginnt medizinisch-psychopathologische Broschüren und Bücher über »andere[r] Länder, Zeiten, Sitten und Gebräuche«66 56 57 58 59 60 61 62 63

DV, S. 25. DV, S. 25. DV, S. 25. DV, S. 25. DV, S. 25. DV, S. 22. DV, S. 59. Sigmund Freud: Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905 [1901]). Aus: Sigmund Freud. Studienausgabe. Hysterie und Angst. Bd. VI. Frankfurt a. M.: Fischer 2000. S. 132. 64 Brigitte Spreitzer : TEXTUREN. S. 186. 65 Alice Miller : Die Töchter schweigen nicht mehr (1982). In: Marielouise Janssen-Jurreit (Hg.): Frauen und Sexualmoral. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1986. (Die Frau in der Gesellschaft). S. 397. 66 DV, S. 38.

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zu lesen und begibt sich mit ihrem Vater in einen intellektuellen Kampf. Dieser lässt keine Möglichkeit aus, seine Macht über Agnes auszuschöpfen und seine Potenz67 zu demonstrieren. Er ahmt die Therapieansätze der Psychoanalyse nach, nutzt Handauflegen68, Krankenpflege69 und Kinderwunsch70 und nimmt sich die Freudschen Fallgeschichten zum Vorbild, in denen die Patientinnen kaum selbst zu Wort kommen71. Zweifelt Agnes an ihrer Hysterie und will flüchten, wendet er psychische, später auch körperliche, Gewalt an und erzwingt sich so ihre Abhängigkeit. Der Vatermord, der für Freud den katastrophalen Ausgangspunkt von Kultur darstellt72, ist die Konsequenz aus den ›Therapieansätzen‹ des Vaters, in dem die »Selbstbehauptung des Einen in der Zerstörung des Anderen begründet«73 ist. Auch hier tritt also wieder das Bild des für den Mann gefährlichen Weiblichen in Erscheinung, welches mit Hilfe der psychoanalytischen Behandlungsmethoden unter Kontrolle zu bringen ist.74 Agnes Vater stellt fest: »Es ist in meiner Theorie nicht vorgesehen, ob das Objekt der seelischen Erkrankung auch der Arzt sein kann, der sie heilt«75. Der ›Trend zur Vaterrettung‹ wird also nicht nur vom kleinen Jungen verfolgt, auch der Analytiker kann auf diese Weise seine Macht über die Patientin stärken. Die Aufrichtigkeit des Analytikers ist dabei rollengebunden, welche Rolle der Analytiker ›spielt‹, kann er, im Gegensatz zu seiner Patientin, selbst entscheiden. Dass Theorie und Praxis nicht immer deckungsgleich sind, zeigt Agnes Vater bei seinem Versuch, die ›Sterilität‹ der Behandlung seiner Tochter zu demonstrieren: 67 In der wohl eindrucksvollsten Textstelle metaphrasiert Agnes die Machtdemonstrationen ihres Vaters wie folgt: »Ich werde wahnsinnig. Ich liege auf dem Seziertisch. Du schneidest mir die Bauchdecke auf und wühlst mit blutigen Händen in meinen Gedärmen, du schneidest mir das Herz aus der Brust, stopfst es mir in den Mund wie einen Knebel, damit ich nicht schreien kann […]. Du kratzt mir das Gehirn aus dem Schädel wie eine Frühgeburt und füllst den Hohlraum mit deinem Samen an.« DV, S. 23. 68 »Der Arzt legte die Hand auf ihre Stirn, bis die Zuckungen unter dem Gebot seines Willens nachließen« DV, S. 23. In den Anfängen der Psychoanalyse war die Hypnose eine gängige Methode, um in das Unbewusste der Patientinnen vorzudringen. 69 DV, S. 42. Auch bei Anna O. wurde die Krankenpflege ihres Vaters zu einem traumatischen Ereignis. Vgl. Josef Breuer und Sigmund Freud: Studien über Hysterie. Einleitung von Stavros Mentzos. 6. unveränderte Auflage. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2007. S. 49. 70 Agnes entwickelt einen starken Kinderwunsch, den ihr der Vater am Ende erfüllen will. Freud hat festgestellt, dass in der Übertragungs-Situation oft der Therapeut als potentieller Vater von den Patientinnen erwählt wird. 71 »Agnes wollte reden, aber er ließ sie nicht zu Worte kommen.« DV, S. 23. 72 Vgl. Sigmund Freud: Totem und Tabu. S. 768ff. 73 Brigitte Spreitzer : TEXTUREN. S. 189. 74 Vgl. Christa Rohde-Dachser : Expedition in den dunklen Kontinent. S. 162f. 75 DV, S. 25.

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Ich spreche jetzt als Arzt, als Psychiater, wenn du willst. Für mich bedeutet diese Tatsache lediglich eine Theorie, für die du ein außerordentlich sensibles Beweisobjekt darstellst. Ich bin aufrichtiger als du, aus Notwendigkeit, wenn du willst, weil ich mir als Arzt keine psychische Verlogenheit durchgehen lassen darf, wenn ich meine Patienten, die von meinem seelischen Gleichgewicht abhängig sind, nicht schädigen will.76

Die Lust und das »Vergnügen«77, die er bei der Therapie seiner Tochter empfindet, lohnen aus Sicht des Vaters nicht für eine kritische Selbstanalyse.

Schlussbetrachtung Lessings Emilia hat den dramatischen Aspekt des Ungleichgewichts innerhalb der Geschlechterspannung des Patriarchats zwar ›abgebildet‹, sich dem Gebot einer töchterlichen Existenz jedoch unterworfen. Schnitzlers Else provoziert in ihrer Hysterie die Auseinandersetzung mit den »realen Widerstände[n], die einem gelingenden Geschlechterverhältnis entgegenwirken«78. Diese werden jedoch pathologisiert, so dass »die im Patriarchat verankerten Denkverbote, die bestimmte Wünsche und Lebensentwürfe am Eintreten ins Bewusstsein hindern sollen«79, aufrechterhalten werden. Die von Schnitzler dargestellte Gesellschaftsform erfährt zwar eine kritische Analyse, deren »Fundament [aus] unbewussten Phantasien«80 wird jedoch rekonstruiert. Hartwigs Agnes kann dieses Fundament erschüttern. Obgleich die zeitgenössische Rezeption das Potential der Novelle als »die letzten Heimsuchungen abwegiger Menschen«81 einordnet, kann ihr Gehalt an »schonungsloser Wahrheit«82 als Beginn eines Dekonstruktionsprozesses gelesen werden. Die Emanzipation der ›Neuen Tochter‹ gelingt der Protagonistin in einem schmerzhaften Ablösungsprozess. Dessen Ergebnis erscheint zwar nicht befriedigend, ist jedoch nicht mehr als Produkt der Selbstaufopferung zu sehen, sondern zeigt den Beginn der Subjektwerdung. Gleichsam wie die Lösung des Sphinxrätsels im Ödipus-Mythos83 als aufkläre76 77 78 79 80

DV, S. 22. DV, S. 23. Vgl. Renate Schlesier : Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud. S. 13. Christa Rohde-Dachser : Expedition in den dunklen Kontinent. S. 39. Ebd. Anm. 78. S. 41. Das Unbewusste ist kulturabhängig und tritt mit dieser in eine zirkuläre Relation, in der sich auch das Verhältnis der Geschlechter unter dem Einfluss unbewusster Phantasien formt und gleichzeitig auf diese einwirkt. Im Patriarchat wird dabei das zentrale Projektionsfeld des männlichen Unbewussten erhalten. Vgl. Christa Rohde-Dachser : Expedition in den dunklen Kontinent. S. 42f. 81 Aus einer Werbeanzeige des Zolnay-Verlages. Erschienen in: Die literarische Welt, 4 Jg. 1928, H. 9, S. 5. 82 Ebd. Anm. 80. 83 Die feministische Psychoanalysekritik sieht im Ödipus-Mythos einen männlichen Mythos,

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rische Tat gefeiert wird, schafft Agnes die Absage an die töchterliche Existenz und zieht die Konsequenz aus den latenten Verboten, Grenzziehungen und Verwerfungen innerhalb des Diskurses der Psychoanalyse, mit denen sich Michel Foucault in seiner Abhandlung über Die Ordnung des Diskurses84 rund vierzig Jahre später beschäftigt hat. Die Dekonstruktion der psychoanalytischen Theoreme kann als ›aggressiver Akt‹ bewertet werden, und wird von Christa Rohde-Dachser als »Vatermord«85 bezeichnet. Bemerkenswert an Mela Hartwigs »Angriff auf den Vater«86 ist die Tatsache, dass dieser von der Tochter vorgenommen wird, also das im Grunde »undenkbarste« aller töchterlichen Verbrechen (!) darstellt. Hartwig lässt ihre Protagonistin Agnes zur Neuen Tochter werden, die »Das Verbrechen« begeht und sich dabei in einer Reihe von literarischen Töchtern exemplarisch emanzipiert.

»in dem der Mann (in der Gestalt von Ödipus oder Freud) als Verkörperung des Logos seiner Antithese (der Natur, dem Unbewussten, dem Weiblichen) gegenübertritt, und zwar ohne diese Gegensetzung selbst in Frage zu stellen«. Christa Rohde-Dachser : Expedition in den dunklen Kontinent. S. 278. Margarete Mitscherlich hat erkannt, dass Ödipus mit der Antwort »der Mensch« oder auch »Ich« auf die Frage der Sphinx (»Was geht am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen?«), das (weiblich-matriarchale) Ungeheuer vernichtet, welches als »Sie«, die Sphinx, nirgends als in dieses Menschsein einbezogen erscheint. Vgl. Margarete Mitscherlich: Über die Mühsal der Emanzipation. Frankfurt a. M.: Fischer 1990. 84 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am CollÀge de France, 2. Dezember 1970. München: Hanser 1974. In der psychoanalytischen Situation sollten diese Fragen ihre Thematisierung in der (Übertragungs-)Beziehung zum Analytiker erfahren, was jedoch voraussetzt, dass der Analytiker das eigene Eingebundensein in die Geschlechterkonstruktionen des Patriarchats erkannt und in ihrer Bedeutung für ihr eigenes Mann- bzw. Frausein reflektiert hat, die phallozentrischen Positionen des psychoanalytischen Diskurses eingeschlossen. Rohde-Dachser vermutet, »dass es in der psychoanalytischen Weiterbildung ein heimliches Curriculum gibt, das eine solche Reflexion nicht nur nicht anregt, sondern eher unterbindet«. Christa Rohde-Dachser : Expedition in den dunklen Kontinent. S. 280. 85 Christa Rohde-Dachser : Expedition in den dunklen Kontinent. S. IX. 86 Ebd. Anm. 84.

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Vom Soteriologischen Mysterienspiel zum Konversationsstück über die Revolution

Zur Entwicklung von Ernst Fischers Dramatik in der Ersten Republik Einige Monate nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde der gerade 15-jährige Ernst Fischer wegen einer Reihe von pornographischen Gedichten, die er inspiriert von seiner Entdeckung Nietzsches geschrieben hatte, von der Schule relegiert. Zwei Jahre lang genoss Fischer die unverhoffte Freiheit und las wahllos klassische und moderne, historische und philosophische Literatur. Damit einher ging eine ebenso wahllose Produktion: »Ich schrieb Gedichte, Novellen, Theaterstücke, nachempfundener, ins Dilettantische verzerrter Shakespeare, Grabbe, Hebbel, E.T.A. Hoffmann, Ibsen, Strindberg, Hauptmann, B¦ranger, Heine, Dehmel.«1 Aus dieser Phase erinnert sich Fischer nur noch an ein Theaterstück mit dem Titel Der Geisterkönig, in dem der kleine Angestellte eines Millionärs der verwandelte König eines Geisterreiches ist und einmal im Jahr für zwölf Stunden seine Macht zurückerhält. Er nutzt sie dazu, die Tochter des Millionärs zu verführen und wird dafür am nächsten Tag per Fußtritt hinaus geschmissen. Auch von Fischers dramatischen Versuchen der unmittelbaren Nachkriegszeit liegen keine Textzeugnisse vor. Wohl aus dem Winter 1918/19 dürfte sein Theaterstück Das weiße Spiel stammen, in dem der Zusammenbruch des GrandHotels Zur bürgerlichen Gesellschaft, in dem der liebe Gott der Portier ist, im Mittelpunkt steht. Gott lässt durch zuchtlose, anarchische und absurde Spiele die Bewohner des Hotels, seine Mauern und Säulen in ein infernalisches Gelächter ausbrechen, das zum Einsturz der bürgerlichen Gesellschaft führt. Thematisch wird in der Inhaltsangabe diejenige Haltung erkennbar, die Fischer selbst mit dem treffenden Ausdruck »apokalyptische Boheme« (EuR 102) gekennzeichnet hat. Der heuchlerischen agonalen Gegenwart stellte er »das Paradies der Anar-

1 Ernst Fischer : Erinnerungen und Reflexionen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1969, S. 56. Im Folgenden im Fließtext zitiert unter Angabe der Sigle EuR und Seitenzahl.

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chie, des Eros und der Brüderlichkeit« (EuR 9) gegenüber, ohne dafür einen gesellschaftlichen Ort angeben zu können. Die nach Kriegsende 1918 neu entstandene Republik Deutschösterreich galt als nicht lebensfähig, sie erschien der jungen Generation als geschminkte Leiche der Monarchie, als eine marode Fassade, hinter der Verwesung schillerte. Die aus der Vorkriegszeit übernommenen Normen und Werte waren in den Schützengräben praktisch und von den intellektuellen Entdeckungen Freuds und Nietzsches theoretisch ad absurdum geführt worden. Fischer reagierte auf diese Stimmungslage mit einer Mischung aus Aggressivität und Verweigerung, Verzweiflung und Provokation. Im Winter 1919/20 unternahm er gemeinsam mit seinem Freund Friedrich Strindberg, einem Sohn des Dramatikers Frank Wedekind, den Versuch, das provinzielle Kulturleben von Graz durch einen kalkulierten Skandal zu erschüttern. Sie konzipierten ein Theaterstück mit dem Titel Der Skandal und lancierten das Gerücht, dass sein Personal aus prominenten Personen der Grazer Gesellschaft bestehen sollte. Da das Stück im Rittersaal des Landhauses aufgeführt werden sollte, begann sich die Obrigkeit für den Text zu interessieren. Auf Grund der kursierenden Gerüchte legte der zuständige Polizeirat dem jungen Autorenduo nahe, Szenen mit einer mangelhaft bekleideten jungen Dame wegen Verstoßes gegen das sittliche Empfinden und solche mit einem katholischen Priester, der eine Ehe schließt, wegen Verhöhnung der Religion zu streichen. Fischer berichtet über den Fortgang: Wir verfertigten also ein provisorisches Manuskript, nahmen Rücksicht auf […] den Polizeirat, aber auch diese für die reifere Jugend fabrizierte Fassung stimmte den durchaus nicht bösartigen Beamten bedenklich. ›Was soll das heißen?‹ fragte er. ›Die Ehe ist eine Dienstbotenfrage.‹ Das sei doch ein einwandfreier Satz und müsse jedem Kommerzialrat einleuchten, erwiderten wir, er aber witterte hinter jedem Wort einen verborgenen, unzüchtigen oder subversiven Sinn, und warnte uns, eine ganze Stadt zu provozieren. Wir dankten ihm für den wohlwollenden Rat, und gingen stracks daran, den provisorischen in einen endgültigen Text umzuarbeiten. (EuR 105)

An die Stelle des heiratswütigen Priesters trat beispielsweise ein Standesbeamter, der tonlose Mundbewegungen machte und am Ende seiner stummen Rede sagte: »›Ich bin bei der Grazer Zensur gewesen.‹«2 Die Konflikte mit der Grazer Bürokratie hatten soviel Aufmerksamkeit erregt, dass die ersten drei Veranstaltungen bereits vorab ausverkauft waren. Die Autoren gerieten unter Produktionsdruck. Noch am Vormittag des für die Uraufführung bestimmten Tags war die Um- und Ausarbeitung des Stücks nicht abgeschlossen, aber – so fährt Ernst Fischer fort – »wenn wir nicht fertig werden, was tut’s, das Publikum wird sowieso rechtzeitig mitspielen, uns den Skandal ins Haus liefern, und 2 Walter Fischer : Kurze Geschichten aus einem langen Leben. Mit einem Nachwort von Leopold Spira. Mannheim: persona 1986, S. 23.

Vom Soteriologischen Mysterienspiel zum Konversationsstück

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schlimmstenfalls wird improvisiert. Es kam nicht dazu; denn eine Stunde vor Beginn der Aufführung besetzte Polizei das Landhaus, das Gerücht um das Stück hatte solche Dimensionen angenommen, daß dem Skandal vorzubeugen die Obrigkeit sich für verpflichtet hielt, und sowohl wir Autoren und Schauspieler wie das Publikum auf einen Wall von Uniformen und Säbeln stießen.« (EuR 105) Die Aufführung war wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung im letzten Moment verboten worden. Der früheste erhaltene Dramentext des jungen Ernst Fischer ist das im Februar 1923 vollendete Theaterstück Das Schwert des Attila, das die Gattungsbezeichnung Ein Spiel trägt. Der Leiter der sozialdemokratischen Kunststelle in Wien David Josef Bach und der Schriftsteller Stefan Zweig verschafften Fischer die Möglichkeit, sein Drama am Wiener Burgtheater, der damals wie heute renommiertesten Bühne Österreichs, zu inszenieren. Die Uraufführung fand am 30. September 1924 statt. Da von dem Text nur ein maschinenschriftliches Exemplar in der Bibliothek des Burgtheaters existiert, möchte ich die Handlung des Stücks hier kurz wiedergeben. In einem Vorspiel gelangt der Hunnenfürst Attila in den Besitz des Schwertes von Odin, dem Germanengott. Als er das riesige Schwert als erster aus der Scheide zieht, leuchtet die Klinge rot auf, und auch am Himmel erscheint ein rot leuchtendes Schwert. Stimmen prophezeien Attila die Einnahme von Rom. Doch Attila, der sich die Geißel Gottes nennt, will keinen Gottesdienst leisten und rammt das Schwert in den Boden. Er befiehlt, es zu bewachen, bricht zu einem Raubzug ins Unbekannte auf und kehrt nicht mehr wieder. Die beiden folgenden Hauptteile spielen tausend Jahre später. Das rosenumblühte Schwert ist zu einem »Kreuz ohne Heiland«, die Wachmannschaft zu einer ritterlichen Hofhaltung geworden. In ihr empfindet sich der Waisenknabe Lux als Fremdkörper. Im Streit um die Gunst des Ritterfräuleins Maria reißt Lux das Schwert aus der Erde und zieht in die Welt. Er wird Hauptmann einer Räuberbande, und unter der Devise »Krieg den Krämern! Krieg den Bürgern! Krieg den Pfaffen! Krieg den Rittern! Krieg – Allen!«3 fällt Lux mit seinem Gefolge in die nächste Stadt ein und mäht alle nieder. Selbst ein Priester, der ihm das Kruzifix entgegenstreckt, wird von Lux in der Kirche erschlagen. Als ihm sein Schwert schließlich die Kaiserwürde, aber immer noch keine Liebe erstritten hat, kehrt er zu dem Ritterschloss zurück und versenkt das Schwert wieder in der Erde. Maria ist aber von seinen Taten entsetzt, weist ihn ab. Lux taucht nun unter dem Namen Lucas als Gehilfe eines Waffenschmieds unter und arbeitet an einem riesigen Schwert, das die Heimat und alles Gute schützen soll. Er ritzt den Namen von Gertrud, der Tochter seines Meisters hinein, die er heiraten will. Doch in der Kirche holt ihn seine Erinnerung ein, er bekennt sich 3 Ernst Fischer : Das Schwert des Attila. Ein Spiel. 1923. Bibliothek des Burgtheaters, Sigle 243.609-D, S. 13.

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zu seiner wahren Identität. Lux geht zum Ritterschloss zurück, das jetzt ein Kloster ist. Als Lux die Lieder der versammelten Kreuzritter hört, reißt er das Schwert wieder aus dem Boden und will es dem Heerzug ins Heilige Land vorantragen. Schon die Wiedergabe des Inhalts macht deutlich, dass es ein ziemlich wüstes und missratenes Stück ist. Wenn Fischer gesteht, dass ihm bei den Proben klargeworden sei, dass »ein allegorisches Spiel solcher Art mit unserem Zeitalter nichts gemein hatte« (EuR 121), so trifft diese Selbstkritik nicht den Kern. Nicht zu Unrecht bemerkt der Bildungssekretär der Grazer Arbeiterkammer Hans Hellmer zu Beginn seiner Besprechung von Fischers Drama im Arbeiterwillen, dass es ein Kennzeichen des Dichterischen sei, eine eigenständige poetische Welt zu entwerfen, und lobt Das Schwert des Attila, weil es »eine solche zweite Wirklichkeit über den realen Dingen«4 errichte. Das Stück scheitert nicht am fehlenden Zeitbezug, sondern an seinen ästhetischen Schwächen. Schon Hellmer sprach »von mangelnder Reife und unzulänglicher künstlerischer Gestaltung«, die er besonders im unklaren Gang der Gedanken und der gewaltsamen Unterwerfung des Geschehens unter das Symbol des Kreuzes erblickt. Man wird sagen müssen, dass das Stück die von Fischer selbst bereits angesprochene unvollkommene Verarbeitung seiner Lektüre dokumentiert. Deutlich treten die Anklänge an Wagners Ring des Nibelungen in dem Mythos vom unbesiegbaren Schwert, das nur eine Erlösergestalt zu führen vermag, oder auch in der an den ersten Akt des Siegfried gemahnenden Szene in der Schmiede zutage, die zudem in ihrem biederen Zunftbürgermilieu an die Meistersinger denken lässt. Der Auszug des tumben Toren Lux erinnert unübersehbar an Parzival und die Episode als Räuberhauptmann an Schillers Karl Moor. Hinzu kommen noch Anspielungen auf die Luzifer-Gestalt und auf Zarathustra. Diese literarischen Versatzstücke werden aber nicht in eine kohärente Handlung oder in eigene Charaktere integriert, sondern vermitteln eher, wie Otto Koenig in der ArbeiterZeitung schrieb, den Eindruck »einer genialischen Verworrenheit.«5 Diese Verworrenheit erklärt auch, dass das Schlussbild Fischers tragende Idee, aus dem Schwert als einem Werkzeug zerstörender Gewalt ein Symbol für die Eroberung einer lichtvollen Zukunft zu machen, eher unterläuft. Fischer versucht in seinem Stück, literarisch und religiös überlieferte Erlösungskonzepte verschiedenster Provenienz zu einem soteriologischen Gesamtpaket zu synthetisieren, was aber eher synthetisch und diffus ausfällt. Die sakrale und allegorische Einkleidung von Fischers antibürgerlicher Revolte erlaubte es jedenfalls auch der konservativen Reichspost, ihn als dichterische Entdeckung zu feiern. 4 Hans Hellmer : Das Schwert des Attila. In: Arbeiterwille, 3. 10. 1924, S. 7; einsehbar unter : http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=awi& datum=19241003& seite=7& zoom=33. 5 Otto Koenig: Das Schwert des Attila. In: Arbeiter-Zeitung, 2. 10. 1924.

Vom Soteriologischen Mysterienspiel zum Konversationsstück

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Schärfer als die zeitgenössischen Rezensionen wird man die Sprache des Dramas beurteilen müssen. Sie ist weitgehend klischeehaft und epigonal. Der inflationäre Gebrauch von Ausrufezeichen, die forcierte Dynamisierung durch die Auslassung des bestimmten Artikels und vieler Personalpronomina sind stilistische Kennzeichen expressionistischer Literatur, die hier eine merkwürdige Verbindung mit neoromantischer Diktion und Elementen des Mysterienspiels eingehen.6 Das Ergebnis ist ein ästhetisch unbekömmliches Amalgam.

Mysterienspiel und Sprechchor Die Kontamination verschiedener literarisch tradierter Erlösungsdiskurse entspringt einem zwar antibürgerlichen und diffus anarchischen Befreiungsimpuls, ist aber noch nicht mit einer konkreten gesellschaftlichen Entwicklung verknüpft. Was für Fischer definitiv feststand, war nur der notwendige Massencharakter der gesellschaftlichen Umwälzung. Im weiteren Verlauf seiner ästhetischen Reflexionen rückte das Drama zunehmend in den Mittelpunkt, da es schon durch die Art seiner theatralischen Realisierung für den künstlerischen Umgang mit dem Problem der Masse prädestiniert war. In dem Feuilleton Eine proletarische Wanderbühne von 1923 taucht der Gedanke auf, dass aus der Arbeiterbewegung neue Mysterienspiele hervorgehen werden, die ihr kollektives Schicksal legendarisch nach dem Modell der christlichen Passion oder des Prometheus-Mythos gestalten werden. Die Hinwendung des Proletariats zu primitiven Kulturformen erscheint Fischer historisch schlüssig, »weil dies dem Wesen einer jungen, beginnenden Klasse entspricht, weil Primitivität ihm innere Notwendigkeit ist.« Fischer schließt seinen Artikel mit dem Ausblick: »Auch die Arbeiterbewegung wird einst ihre Mysterienspiele haben, und schon sind überall Ansätze dieser neuen Mythologie zu fühlen.«7 Im März 1925 findet am Grazer Schauspiel die Aufführung von Brechts Trommeln in der Nacht statt. Eine Woche zuvor setzt sich Fischer im Arbeiterwille mit dem Stück auseinander und nimmt hier noch eine Differenzierung zwischen dem Selbstgefühl des Publikums als Masse und dem Bühnengeschehen vor, wenn er schreibt: »diese Stimme des totgeglaubten Soldaten war unser aller Stimme, die wir aus der zerborstenen Front plötzlich unter die Menschen traten. […] Revolution – das ist für die Masse die große, befreiende, erlösende Antwort,

6 Zu Ernst Fischers Verhältnis zum Expressionismus vgl.: Jürgen Egyptien: Ernst Fischers theoretische und literarische Stellung zum Expressionismus in Österreich. In: Literatur in der Moderne. Jahrbuch der Walter-Hasenclever-Gesellschaft 6 (2008/09), S. 213–231. 7 E. F.: Eine proletarische Wanderbühne. In: Arbeiterwille, 13. 5. 1923. Einsehbar unter : http:// anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=awi& datum=19230513& seite=5& zoom=33.

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Jürgen Egyptien

aber die Frage des Dichters wühlt das Schicksal des einzelnen auf.«8 In einem Artikel eine Woche nach der ersten Aufführung meint Fischer, Brechts Drama sei zwar ein revolutionäres, aber kein Revolutionsstück.9 Legt man diese Unterscheidung zugrunde, so verfällt auch Trommeln in der Nacht dem Verdikt, das Fischer ein gutes halbes Jahr später in seinem Aufsatz Sprechchor und Drama ausgesprochen hat: Das Drama der Zeit, die Großstadt, die Arbeiterbewegung, die Revolution, mußten stets in die Formelemente des bürgerlich-individualistischen Dramas übertragen werden, damit man es überhaupt darstellen konnte – und an diesem inneren Widerspruch kranken alle revolutionären Bühnendichtungen unserer Tage.10

In diesem programmatischen Text, der die Uraufführung seines eigenen Bühnenstücks Der ewige Rebell theoretisch flankieren sollte, wird der Sprechchor als adäquate proletarische Kunstform begriffen. Fischer sieht im Sprechchor die ästhetische Überwindung jener Entfremdung zwischen Bühne und Publikum, zwischen Kunst und Leben, die er eingangs seines Aufsatzes als Krise des europäischen Schauspiels diagnostiziert. Sein Sprechchorwerk Der ewige Rebell, das den bezeichnenden Untertitel Ein proletarisches Passionsspiel trägt, wurde anlässlich der Republikfeier am 12. November 1925 im Grazer Opernhaus aufgeführt. Der Text ist nur unvollständig überliefert.11 Die erhaltenen Szenen mit den Titeln Verkündigung und Golgatha machen deutlich, dass sich das Drama an der Lebensgeschichte Christi orientiert. Der Knabe, dessen Geburt der Mutter von einem Engel verkündet wird, ist seinen eigenen Worten nach die Allegorie von »Jugend, Leben, Freiheit, Revolution!« Er ringt mit einem ›Dämon‹, der von der unheiligen Dreieinigkeit aus Kirche, Kapital und Staatsmacht unterstützt wird. Er wird vor ein Peloton gestellt und erschossen, vergibt seinen Mördern mit den Worten des Gekreuzigten. Die Golgatha-Szene setzt sich mit einer flammenden Klagerede der Mutter fort und geht in die Auferstehung des Knaben über, der mit leuchtenden Wunden seine ewige Wiederkehr verkündet und zur Befreiung aufruft. In der emphatischen Besprechung der Aufführung wird Fischers Passionsspiel als das 8 E. F.: >Trommeln in der NachtArbeiterbühne< am 22. März. In: Arbeiterwille, 15. 3. 1925. Einsehbar unter : http://anno.onb.ac.at/cgi-content/ anno?aid=awi& datum=19250315& seite=3& zoom=33. 9 E. F.: >Trommeln in der Nacht