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German Pages 288 [292] Year 2012
mimesis Romanische Literaturen der Welt Band 51 herausgegeben von Ottmar Ette
Albrecht Buschmann
Max Aub und die spanische Literatur zwischen Avantgarde und Exil
De Gruyter
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von ProSpanien und der Kurt-Ringger-Stiftung.
ISBN 978-3-11-025276-7 e-ISBN 978-3-11-025283-5 ISSN 0178-7489
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung
Jedes Buch hat seine Geschichte, in der Anreger, Unterstützer und kritische Begleiter eine unverzichtbare Rolle spielen. Am Anfang stand Eugen Helmlés Einladung, mit ihm Jusep Torres Campalans ins Deutsche zu übertragen. Dass darauf das Angebot folgte, zusammen mit Stefanie Gerhold das Magische Labyrinth zu übersetzen, zählt zu den seltenen Glückserfahrungen eines Philologen: Die Möglichkeit, sich einen großen Autor zu erschließen, indem man für ihn eine Stimme sucht. Dass dabei keine stilistische Nuance unbedacht blieb, ist den Nachfragen von Mercedes Figueras und Wolfgang Hörner zu verdanken. Was Bürgerkrieg als Paradigma unserer Zeit bedeutet, konnte dank der Zusammenarbeit mit Prof. Anja Bandau und Prof. Isabella von Treskow in einer Potsdamer Arbeitsgruppe zum Thema «Gewalt in sozialer Nähe» theoretisch erhellt werden. Prof. Wolfgang Asholt drängte darauf, die heute relevanten Fragen der Avantgarde-Forschung zu bedenken, und Prof. José Manuel López de Abiada öffnete den Blick für die andere Avantgarde eines José Díaz Fernández. Dr. Pablo Hernández Hernández half mir mit grundlegenden kunsttheoretischen Hinweisen, Luis Llorens Marzo und Dr. Xelo Candel Vila hielten mich in Kontakt zur Valencianischen Aub-Forschung. Besonderer Dank gilt den Teilnehmern des Potsdamer romanistischen Kolloquiums, die die Entstehung des Manuskripts mehrfach kritisch diskutierten; stellvertretend genannt seien Tobias Kraft, Dr. Alejandra Ortiz Wallner, Dr. Gesine Müller und Dr. Markus Messling. Bei der Redaktion gab Prof. Martin von Koppenfels befreiende Anregungen, bei der Reduktion Dr. Michael Kumpfmüller. Für die Hilfe bei der Literaturrecherche wie bei der Erstellung der Druckvorlage danke ich Bastian Hoffmann und Sarah Borde, und für die Ko-Finanzierung des Drucks der Kurt-Ringger-Stiftung und ProSpanien. Den entscheidenden Anstoß, überhaupt ein Buch über Max Aub zu wagen, verdanke ich Prof. Ottmar Ette, der das Projekt über alle konditionellen Tiefen und institutionellen Hürden hinweg mit unerschütterlichem Optimismus begleitete. Kraft und Zeit dazu fand ich nur, weil Stefanie immer daran glaubte und weil Emil und Franz im rechten Augenblick Entspannung verschafften.
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Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
I.
Max Aub im Kontext seiner literarischen Anfänge . . . . . . . . . 1 Annäherung: zum Anliegen dieser Studie 1
Max Aub… . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Eine biographische Annäherung aus transkultureller Perspektive: von Paris nach Valencia, von Spanien über Frankreich und Nordafrika nach Mexiko
Max Aub und die spanische Literatur… . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Das literarische Spanien der zwanziger und dreißiger Jahre 9 – Die Lyrik: Poemas cotidianos 10 – Die Prosa: Geografía, Prehistoria, 1928, El cojo 12 – Das Theater: Una botella 15
Max Aub und die spanische Literatur zwischen Avantgarde… . . . . . . . . . . . . 18 Der Begriff der Avantgarde 19 – Die Avantgarden in Spanien 20 – Der Blick zurück auf die «deshumanización del arte»: Discurso de la novela española contemporánea 23 – Der Weg von der vanguardia zur avanzada 32
Max Aub und die spanische Literatur zwischen Avantgarde und Exil . . . . . . 34 Der Begriff des Exils 34 – Ausschluss und transkulturelle Identitätsbildung 35
II.
Avantgarde der Biographie – (Auto-) Biographie der Avantgarden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Biographien als Thema der Avantgarden 37
Jusep Torres Campalans und die Frage nach dem Original . . . . . . . . . . . . . . 41 Zur Theorie der Fälschung 42 – Die sieben Teile von Jusep Torres Campalans 44 – Campalans diktional 51 – Fehler, Widersprüche, Einschränkungen 53 – Der Campalans-Komplex 56 – Durch die Fälschung zur (hypothetischen) Rettung des Schöpfer-Subjekts 60
Vida y obra de Luis Álvarez Petreña oder: wer ist der Autor? . . . . . . . . . . . . . 66 Die drei Teile des work in progress 66 –Petreña oder der Weg von José Ortega y Gasset … 72 – … zu José Díaz Fernández 74 – Die Frage nach dem Autor 77 – Der nowhere man oder das Verschwinden des Autors 82
VII
Max Aubs Apokryphe und die (Auto-) Biographie der spanischen Avantgarden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Die spanischen Avantgarden und die Rückkehr des biographischen Schreibens 86 – Avantgarde der Biographie, (Auto-) Biographie der Avantgarden 88 – Aubs Apokryphe: Für eine transareale Perspektive und gegen den Vatermord 89
III. Gegenästhetik des Bürgerkriegs: das Laberinto mágico . . . . 93 Den Ausgang finden… 93
Eingänge ins Labyrinth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Das Korpus des Laberinto mágico: Chronologie der Genese 95 – Die Chronologie der erzählten Geschichte 98
El Laberinto mágico als Chronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Die erzählte Geschichte 102 – Das zweifache Ende 110 – Vom historischen zum metahistoriographischen Roman 114 – Makrostruktur des Zyklus 117 – Die Sprache(n) 123
Die Frage nach dem Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Mythogenese von innen: Don Leandro und der Stier von Tartessos 130 – Der Mythos vom Labyrinth: Odysseus und Vicente Dalmases 133
Die Ästhetik der Aufzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Zwischen Totalität und Fragment 136 – Antike Heerschau und das GegenGedächtnis der 300 Frisöre 138
Bürgerkrieg und Verrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Gewalt und soziale Nähe 142 – Söhne gegen Väter 143 – Freunde gegen Freunde 146
IV. Textspiel, Spieltext und das Schreiben vom Verschwinden . . 151 Juego de cartas, der unbekannte Text 151
Die möglichen Lesarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Textlogik und Bildlogik 155 – Dopplung und Multiplikation 157 – Mögliche Identitäten: Viele Blicke ergeben kein Bild 160 – Haptische und visualisierte Sinnproduktion 163
Die wahrscheinlichen Lesarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Vorläufer und Zeitgenossen: Surrealisten, OuLiPo, Borges und Cortázar 165 – Marc Saportas Composition Nr. 1 170
VIII
Das abwesende Zentrum: Juego de cartas und die flüchtige Identität des Exilanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Tod und Ausschluss, Regelhaftigkeit und Zufall 171 – Listen des Todes: Paremiología particular, Epitafios, Crímenes ejemplares, De suicidios 174 – Theorie des Spiels und Spiel des Lebens 178 – Exil als «Evidenzerfahrung» 180 – Dynamisierung statt Archivierung 181
V.
Ausgeschlossen Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Texte des Ausschlusses 183
Räume und Geschichte(n) des Exils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Die Geschichte des Exils, chronologisch 184 – Die Zeitschriften des Exils: Sala de Espera, El Correo de Euclides und Los Sesenta 188 – Zeit-Schriften, Zeit-Räume 192
Von den Kulturen zur Transkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Die Wahl der Kulturen… 194 – …und der Sprache 198
Eingeschlossen Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Flucht und Lager, Ausschluss und Einschluss 204 – Das Lager als Paradigma der Moderne: Giorgio Agamben 206 – Schreiben über das Lager: ein Überblick 207 – Der Ausschluss auf offener Bühne: De algún tiempo a esta parte (1939/1949) 209 – Der Kontext: das Teatro mayor 210 – Spielen über das Lager: eine Premiere 215 – Über Schwellen: Manuscrito cuervo. Historia de Jacobo 215 – Über Grenzen: der Blick des Raben auf den Menschen im Lager 218 – Das Scheitern des Raben, der Erfolg der Erzählung 223 – Schreiben über das Lager, aus dem Lager, nach dem Lager 225
Aubs Anagnorisis: die Rückkehr 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Rückkehr und Imagination der Rückkehr 226 – Tránsito und Las vueltas: Einakter zwischen innen und außen 228 – Der Tunnel als Fluchtpunkt des Exils: Die Erzählung El remate 232 – La gallina ciega und die Reise von 1969 235 – Die Reise als Gedächtnisreise: die Anagnorisis 236 – Bewegungen des Erkennens 241
VI. Max Aub heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Der Blick zurück nach vorn 245 – Den Ausschluss denken 246 – Die Prüfung der Avantgarden 248 – Die Rezeption und «il peso di vivere» 253 – Max Aub – ein spanischer Autor? 256
VII. Bibliographie & Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Werke von Max Aub 259 – Weitere Literatur 260 – Abkürzungen 273 – Register 275
IX
I.
Max Aub im Kontext seiner literarischen Anfänge
Annäherung: zum Anliegen dieser Studie Max Aub und die spanische Literatur zwischen Avantgarde und Exil ist die erste deutschsprachige Studie zum Gesamtwerk Max Aubs. Doch selbst in Spanien, Frankreich, Mexiko und den USA, wo vor allem seit den neunziger Jahren über Aub geforscht wird, haben bislang nur wenige Autoren das Werk dieses so produktiven Schriftstellers in seiner Gesamtheit untersucht. Das erklärt sich zum einen aus der Rezeptionsgeschichte seiner Bücher, die vor allem im mexikanischen Exil erschienen, lange bevor das Ende der Diktatur Francisco Francos in Spanien den Weg zur unzensierten Veröffentlichung der Autoren des republikanischen Exils frei machte. Hinzu kam, dass die formale Heterogenität sowie die Komplexität der meisten seiner Bücher deren Aufnahme beim breiten Publikum erschwert, deren akademische Rezeption anfangs gebremst und deren Kanonisierung ab den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht erleichtert hat. Zum anderen ist da die schiere Menge seiner teilweise sehr umfangreichen Romane (ein gutes Dutzend), seiner Theaterstücke (über 50), seiner Erzählungen (über 60), seiner Essays und Literaturgeschichten, Gedichte und Tagebücher, Reiseberichte und Drehbücher, die in der Summe für den Einzelnen nur schwer zu überblicken sind. Dennoch ist es nicht vermessen den Versuch zu unternehmen, das Werk Max Aubs in einer repräsentativen Auswahl als signifikante Antwort auf eine der zentralen Fragen zur spanischen Literatur des 20. Jahrhunderts zu lesen. Welche Entwicklung durchliefen die in Spanien so außergewöhnlich produktiven Avantgarden der zwanziger und dreißiger Jahre im vier Jahrzehnte dauernden Exil, und welchen Weg fanden sie zurück nach Spanien? Eine Antwort lässt sich am Beispiel der Texte Max Aubs finden, denn dessen Lebensdauer, Lebensweg und literarisches Curriculum machen ihn in diesem Zusammenhang zum geeigneten Gewährsmann: Er lebte von 1903 bis 1972, musste Spanien nach dem Bürgerkrieg verlassen und fortan im Exil leben (1939–1972), und sein Schreiben blieb – in ganz unterschiedlichen Ausprägungen und Weiterentwicklungen – von den Maximen der Avantgarden bestimmt, in deren Kontext er in den zwanziger Jahren zu schreiben begonnen hatte, damals mit dem Anspruch, ein «Revolutionär des Theaters» zu werden. Doch noch etwas kommt hinzu: Diesen Weg ins Exil ging er nicht nur in typischer Weise wie Tausende andere, vielmehr hat er ihn als Wahlspanier und mehrfach Vertriebener – geboren in Frankreich mit deutschem Familienhintergrund, mit elf Jahren nach Spanien übersiedelt, im Alter von 36 Jahren erneut in die Flucht getrieben – weitaus aufmerksamer als die meisten seiner spanischsprachigen Zeitgenossen reflektiert. Insofern verbinden sich in seinem Schreiben dreierlei Perspektiven, die des Zeitzeugen, die des (lite1
rarischen) Beobachters der Zeitläufte, und die des Beobachters der Beobachtung, insofern er seine selbst gewählte Rolle als spanischer Schriftsteller und als Teil des republikanischen Exils kontinuierlich hinterfragt. Eine Analyse der spanischen Literatur der Avantgarden und des Exils am Beispiel des Werkes von Max Aub kann darüber hinaus zweierlei leisten: einerseits die nach wie vor in vielen Studien und Literaturgeschichten geläufige Trennung in «literatura del interior» und «literatura del exilio» in Frage stellen, andererseits die Vorstellung von der klaren Unterscheidbarkeit zwischen avantgardistischem Schreiben (bis in die dreißiger Jahre) und engagiertem Schreiben (nach dem Bürgerkrieg und über den Bürgerkrieg) revidieren. Wie wir sehen werden, ist es spätestens für die Literatur ab den fünfziger Jahren nicht mehr sinnvoll, die literarische Entwicklung in einem starren und binären Modell (innen vs. außen) zu denken, weil die transarealen Vernetzungen der Autoren in und zwischen Europa, Nordamerika und Lateinamerika viel zu wichtig wurden.1 Ebenso gilt es, die Sichtweise einer Literaturkritik zu korrigieren, die sich, vor allem in Spanien selbst, seit den späten sechziger Jahren und erneut in den Achtzigern thematisch auf die Stoffe Bürgerkrieg und Exil fokussierte, wohingegen die ästhetischen Fragen etwa zum Nachwirken und Weiterleben der avantgardistischen Praxis wenig Beachtung fanden; die Autoren des republikanischen Exils wurden gewissermaßen festgelegt auf die moralische Rolle des guten Gewissens der Nation, wozu ein tieferes Verständnis ihrer genuin künstlerischen Entwicklung weniger wichtig war. Möglich wird eine umfassende Werkuntersuchung zu Max Aub, weil die internationale Forschung über sein Werk seit den neunziger Jahren einen großen Aufschwung genommen und vor allem seine zentralen Romane und Theaterstücke inzwischen in Einzelanalysen bearbeitet hat. Die Erträge der akademischen Veranstaltungen anlässlich seines 100. Todestages im Jahr 2003 haben diesen Fundus an philologischen Grundlagen noch erweitert, ebenso wie die seit 2001 erscheinende kritische Werkausgabe, von der bisher zwölf Bände vorliegen. Gleiches lässt sich für die Forschung zum republikanischen Exil sagen, die im gleichen Zeitraum umfassende Synthesen vorlegte und zunehmend an die inter-
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Zum Begriff der «Transarealen Studien» vgl. den gleichnamigen Abschnitt in Ottmar Ettes ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz (2005a: 23–26), wo es heißt: «Wollte man – gewiss stark konturierend – eine transareale Literaturwissenschaft im Verbund verschiedenster Disziplinen der TransArea Studies von traditionellen komparatistischen Ansätzen unterscheiden, so ließe sich sagen, daß die letztgenannten die Politiken, Gesellschaften, Ökonomien oder symbolischen Produktionen verschiedener Länder statisch miteinander vergleichen und gleichsam gegeneinander halten, während eine transregionale Wissenschaft mehr auf die Bewegung, den Austausch und die transformatorischen Prozesse hin ausgerichtet ist. Transarealen Studien geht es weniger um Räume als um Wege, weniger um Grenzen als um Grenzverschiebungen, weniger um Territorien als um Relationen und Kommunikationen. Denn unser Jetztzeitalter ist ein Netzzeitalter. Es verlangt nach mobilen und relationalen, nach transdisziplinären und transarealen Wissenschaftskonzepten und einer bewegungsorientierten Begrifflichkeit.» (Ette 2005a: 26)
nationale Exilforschung mit ihren Denkansätzen jenseits ideologischer Dichotomien Anschluss findet. Die Avantgardeforschung schließlich, zuletzt angetrieben durch die Frage nach dem Verhältnis von Avantgarde und Moderne auf der einen, Avantgarde und Postmoderne auf der anderen Seite, bietet methodisch wie historisch-philologisch umfassend abgesicherte Grundlagen.2 In diesen theoretischen Zusammenhängen und auf deutlich verbesserter philologischer Grundlage ist es nunmehr möglich, mit dieser Studie einen anderen Blick auf Max Aubs Werk zu werfen und zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Warum heißt dieses Buch Max Aub und die spanische Literatur zwischen Avantgarde und Exil? Zunächst einmal deshalb, weil der ästhetische Schlüsselbegriff Avantgarde und die literatursoziologische Zuschreibung Exil Ausgangsund Zielpunkt eines literarischen Werkes bezeichnen, die exemplarisch für jene um die Jahrhundertwende geborene Generation spanischer Künstler sind. Der
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Vgl. Asholt/Fähnders (2000b). Der Forschungsstand zur Exilforschung und zur Theorie der Avantgarde wird, wie auch die zu den historischen (spanischen) Avantgarden, an der entsprechenden Stelle dieser Einleitung sowie vor allem in den Kapiteln selbst aufgearbeitet. Wie weiter unten noch erläutert, wird der Begriff «Avantgarde» im Singular verwendet, wenn die allgemeine Theorie oder, wie im Titel dieser Studie, in erster Linie die Zeit der historischen Avantgarden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gemeint ist; der Plural soll die vielfältigen Ausprägungen der (spanischen) Avantgarden benennen. Die eingangs angesprochenen Monographien zum Gesamtwerk von Max Aub stammen von spanischen Hispanisten, namentlich von dem Ende 2008 verstorbenen Doyen der Aub-Forschung Ignacio Soldevila Durante (1999), der sich bereits seit den fünfziger Jahren, seit seiner Madrider tesis de licenciatura (1954) über Aubs frühes Theater, mit dessen Werk beschäftigte; daneben ist nur noch Rafael Prats Rivelles Studie (1978) zu nennen. Zahlreicher sind die Monographien zu übergreifenden Einzelfragen oder zu Werkgruppen. Zur Prosa allgemein schrieben Ignacio Soldevila Durante (1973), Francisco A. Longoria (1977), über die Kurzprosa María Paz Sanz Álvarez (2004), zum Künstlerroman Jusep Torres Campalans Dolores Fernández Martínez (1993), zu den Künstlerromanen Miguel Corella Lacasa (2003), zum Thema Spanien in Aubs Romanen Raymond López Corro (1971). Zum Theater veröffentlichten José Monleón (1971), Lois A. Kemp (1971), Ángel Borrás (1975), Pilar Moraleda García (1989). Zur Lyrik haben bisher nur Juan María Calles (2003b) und Xelo Candel Vila (2008) Monographien verfasst. Seit mit Beginn der neunziger Jahre in der Autonomen Region Valencia unter Beteiligung der Universität und der Gemeinde Segorbe mit dem Aufbau der Max-Aub-Stiftung (vgl. www.maxaub.org) begonnen wurde, konnten auf Basis des umfangreichen Nachlasses des Autors regelmäßig Einzelstudien vorgelegt werden, die zum Teil als Grundlage für die Kommentierung der von der Biblioteca Valenciana edierten kritischen Werkausgabe dienen (vgl. Bellveser 2011). Beiträge der deutschsprachigen Hispanistik zur Aub-Forschung beginnen, nach den Vorarbeiten in den Artikeln von Siebenmann (1961, 1972), erst wieder mit den Aufsätzen von Rodiek (1996, 2008) und Eberenz (1998), die beide über den Künstlerroman Jusep Torres Campalans arbeiteten. Einen ersten Werküberblick bot Figueras (1999), bevor dann im Zug der deutschsprachigen Ausgabe des Magischen Labyrinths (1999– 2003) zahlreiche Veröffentlichungen deutschsprachiger Kollegen, in Deutschland wie in Spanien, folgten. Zu Rezeption und Wirkung von Aubs Werk vgl. das Schlusskapitel [ĺ Kap. VI].
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Dichter Federico García Lorca, der Maler Salvador Dalí, der Filmpionier Luis Buñuel, der Nobelpreisträger Vicente Aleixandre (um nur die vier bekanntesten zu nennen) und eben Max Aub – sie alle debütierten in den zwanziger Jahren in einer Zeit fieberhafter Diskussion um Ziele, Möglichkeiten und Grenzen der Avantgarde, in einer Phase größter Kreativität der spanischen Künste. Zurecht wurde diese Zeit, in Anspielung auf das «goldene Zeitalter» des Barock, von JoséCarlos Mainer «edad de plata», silbernes Zeitalter, genannt. Begleitet wurde die von den Avantgarden beschleunigte Runderneuerung der spanischen Künste jener Zeit – von einer «geistigen Wiedergeburt» spricht Gustav Siebenmann (1985: 41) – durch die politische Entwicklung der dreißiger Jahre: 1931 Ausrufung der Zweiten Republik, 1934 Scheitern der liberalen Reformpolitik der Regierungen des «bienio de reformas», Annulierung der Reformen durch die konservative Regierung unter Gil Robles, militärische Niederschlagung der Revolution in Asturien, Wahlsieg der Volksfront und Staatskrise 1936; schließlich der Putsch der Militärs, der zum Bürgerkrieg führte (1936–1939). Während anderswo in Europa autoritäre Regimes an Bedeutung gewannen, ging Spanien zu Beginn der dreißiger Jahre den umgekehrten Weg der Demokratisierung von Staat und Gesellschaft. Vor allem in den Städten wurde die Republik begeistert begrüßt, ihr Kosename in allegorischen Darstellungen als junge Frau lautete bezeichnenderweise «la niña bonita», «das süße Mädchen». Kaum ein Künstler verteidigte die 1931 untergegangene monarchische Ordnung, viele sympathisierten offen mit der Republik und ihren kulturellen Reformprojekten, und keiner blieb unbeteiligt von der allmählichen Zuspitzung der politischen Ereignisse. Nach dem Bürgerkrieg kam 1939 für die meisten Autoren – wenn sie nicht auf der Flucht gestorben waren wie Antonio Machado, ermordet wie Federico García Lorca oder inhaftiert wie Miguel Hernández – das Exil. Zwar kennt die spanische Kultur eine unerfreulich lange Tradition von Exilierungen, die bis ins 15. Jahrhundert zurückgeht, als mit dem Ende der Reconquista ethnische, religiöse und kulturelle Alteritätskonstruktionen den kastilisch-aragonesischen Führungsanspruch auf der iberischen Halbinsel entscheidend legitimierten. Die nachfolgende Ausweisung der muslimischen und jüdischen Bevölkerung, die Marginalisierung all derer, die keinen Nachweis altchristlichen Bluts erbringen konnten, schließlich die Vertreibung der liberal-demokratischen Kräfte im 19. Jahrhundert lassen José Luis Abellán von einer «tradición inquisitorial» (Abellán 2001: 110) sprechen, die Mitte des 20. Jahrhunderts einen vorläufigen Höhepunkt gefunden habe. Doch das republikanische Exil von 1939 war sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht ein besonderer Fall: Unter der großen Zahl an Flüchtlingen befand sich ein Großteil der städtischen Bildungseliten, unter ihnen viele Künstler. Doch auch diejenigen Autoren, die nicht das Land verließen wie Dámaso Alonso oder der spätere Nobelpreisträger Vicente Aleixandre, oder die bald zurückkehrten wie José Ortega y Gasset, schrieben und publizierten unter dem Druck diskursiver Ausschlussmechanismen. Der Bürgerkrieg als Trauma und die auf ihn folgende Unterdrückung jeglicher freiheitlicher Kultur innerhalb Spaniens lässt folglich kein Werk unbeeinflusst, egal, ob es nun innerhalb 4
der Landesgrenzen entsteht oder in Frankreich, Puerto Rico, Argentinien oder Mexiko (um nur die wichtigsten Aufnahmeländer zu nennen). Max Aub schreibt im Vorwort zu seinem Teatro de circunstancias: «Si existe algún escritor español en cuya obra no haya repercutido la Guerra abominable que nos haya sido impuesta, o no es escritor o no es español.» (Aub 2002c: 227) Anders gesagt: Ohne den spanischen Bürgerkrieg sähe die Entwicklung der spanischen Literatur nach den Avantgarden der zwanziger Jahre vollkommen anders aus, womit dieses historische Ereignis, chronologisch zwischen Avantgarde und Exil gelegen, im zeitlichen Bogen, den der Titel dieser Arbeit spannt, immer mitgedacht ist. Wenn die Prämisse stimmt, dass für die spanische Literatur des vergangenen Jahrhunderts die ästhetische Erfahrung der Avantgarden der zwanziger Jahre prägend ist und dass die existenzielle Erfahrung von Bürgerkrieg und Exil als dominierender außerliterarischer Faktor für die weiteren Auseinandersetzungen mit den Prämissen der Avantgarde gesehen werden muss, dann ist das Werk Max Aubs in besonderer Weise geeignet, diese Entwicklung exemplarisch zu untersuchen. Allerdings nicht, weil sein Werk prototypisch wäre – wie wir sehen werden, ist es das nur in Teilen –, sondern weil sich in ihm ein besonders hoher Bewusstheits- und Reflexionsgrad für die in diesem Zusammenhang zu behandelnden Fragen zeigt. Dies hat ganz wesentlich mit den Kulturen Max Aubs zu tun, mit seiner Mehrsprachigkeit (neben dem Spanischen waren seine Muttersprachen Französisch und Deutsch) und mit seinen Erfahrungen aus erster Hand in der Pariser und Berliner Kunst-, Theater- und Literaturszene der zwanziger Jahre. Gerade diese transkulturelle Prägung führt dazu, dass sein Werk immer auch zwischen den gängigen (nationalen) Kategorien kultureller Identitätszuschreibung operiert. Im Kontext der vornehmlich iberisch fokussierten Identitätssuche des republikanischen Exils, die häufig auf traditionelle (pan-) hispanische Muster rekurriert (vgl. Rehrmann 1996), fällt er damit aus dem Rahmen. Auch deshalb heißt dieses Buch Max Aub und die spanische Literatur zwischen Avantgarde und Exil. Der Titel dieser Studie kann also in dreierlei Weise gelesen werden: Erstens als Markierung eines chronologischen Bogens von den historischen Avantgarden bis zur letzten Phase des republikanischen Exils, vom ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre. Nicht explizit genannt, aber immer zwischen den beiden Phasen mitgedacht: der spanische Bürgerkrieg. Zweitens als Kartierung eines transarealen Raums, der Europa und Amerika miteinander verschränkt und die beiden Hemisphären nicht in bipolare Beziehung zueinander setzt (Europa = Heimat, Amerika = Exil) oder ihren Räumen eine chronologische Ordnung zuweist (zuerst die europäische Avantgarde, dann das amerikanische Exil). Vielmehr wird Europa, um nur zwei Beispiele vorauszuschicken, einerseits als Raum vielfältiger Ausschlüsse erkennbar werden, andererseits als Wirkungsfeld lateinamerikanischer Ismen. Wie wir sehen werden, wurden jene fragmentierten Identitätskonzepte und die dynamisierten Schreibweisen der Postmoderne, die gern als charakteristisch für die Zeit um die Jahrtausendwende angenommen werden, in Max Aubs Werken schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Teilen gedacht und umgesetzt. Drittens wird das Wörtchen «zwischen» immer wieder als einzig 5
mögliche Verknüpfung auftauchen, um die Spezifik Max Aubs und seines Werks in den diversen intellektuellen, ästhetischen und ideologischen Zusammenhängen zu benennen. Als in Bewegung versetztes und sich selbst beobachtendes Erkenntnissubjekt konkretisiert er in seinem Werk ein «Erlebenswissen» (Ette 2004: 20), das quer liegt zu den gängigen nationalen oder arealen Kartierungen. In diesem Sinne schreibt Max Aub «ZwischenWelten», wie Ottmar Ette sie als Signatur des «Jetztzeitalters» beschrieben hat (Ette 2005a: 26). Die Produktivität der spanischen Avantgarden, die ideologischen und ästhetischen Facetten des literarischen Exils, die transkulturelle Prägung Max Aubs – betrachten wir etwas genauer die Eckpunkte der folgenden Studie.
Max Aub… Das Werk des spanisch-mexikanischen Schriftstellers Max Aub ist äußerst umfangreich, umfasst alle literarischen Genres und wird in der seit 2001 edierten Werkausgabe elf Bände mit jeweils 600 bis 800 Seiten Umfang füllen. Bereits seit den neunziger Jahren sind auch seine Tagebücher, ein Teil seiner Artikel sowie literaturgeschichtliche Studien, Aufsätze und Vorträge in kommentierten Einzelausgaben erschienen. Entstanden ist dieses Werk zwischen 1923 und 1972. Anfang der zwanziger Jahre schreibt Aub sein erstes Theaterstück Crimen, und in der Madrider Zeitschrift España erscheinen die Gedichte Momentos; in seinem Todesjahr 1972 befand er sich mitten in der Redaktion einer Roman-Biographie über Luis Buñuel, seinem Freund seit den zwanziger Jahren und Weggefährte im mexikanischen Exil. Um Max Aubs Werk und dessen Entstehungsbedingungen zwischen mehreren Ländern, Sprachen und Kontinenten verstehen zu können, muss man jedoch noch einen Schritt weiter zurückgehen und einen Blick auf seine französisch-deutsche Herkunft werfen. Max Aub Mohrenwitz, so sein vollständiger Name, wird am 2. Juni 1903 in Paris geboren, als Sohn des deutschen Kaufmanns Friedrich Aub und der Französin Susanne Mohrenwitz.3 Auch die Mutter hat deutsche Vorfahren in Sach-
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Die erste Darstellung von Max Aubs Lebensweg findet sich bei Prats Rivelles (1978), die derzeit umfassendste in Max Aub en el laberinto del siglo XX (Calles 2003a: 28–158), einem Katalog zur Hundertjahrfeier, in dem auch noch weitere Artikel über seine Zeit im Konzentrationslager, zu seinen Europareisen oder seinem Verhältnis zur jüdischen Kultur zu finden sind. Die familiären Hintergründe von Aubs jüdischen Vorfahren in Franken erläutert Iredi (2003), die französischen Kulturkontakte Rodríguez Richart (1996), die mexikanischen Hernández (2003). Eine knappe Gesamtdarstellung in deutscher Sprache findet sich bei Figueras (1999a) und Buschmann (2003b, 2004a). Die Selbstzeugnisse Max Aubs, auf denen alle biographischen Annäherungen fußen, listet Manuel García (2002: 175–178) auf; eine aufeinander abgestimmte Gesamtdarstellung der Vita geben Malgat (2003a, 2003b, 2003c und zusammenfassend 2007), Aznar Soler (2003b, 2003c), Rodríguez (2003b). – Eine befriedigende Biographie, die Aubs verschlungenem Lebensweg zwischen zwei Kontinenten und (mindestens) drei Nationen gerecht würde, fehlt bis heute. Der biographische Roman Max Aub. Novela von Javier Quiñones (Barcelona 2007) überspielt die Lücken – etwa über die politischen
sen, beide Eltern stammen aus jüdischen Familien, doch Max und seine jüngere Schwester Magda werden nicht religiös erzogen. Der Vater ist ein gut situierter Geschäftsmann, der Junge wird zweisprachig erzogen, den großbürgerlichen Ansprüchen entsprechend mit einem deutschen und einem französischen Kindermädchen. Im Sommer 1912 besucht die Familie die deutschen Verwandten in Berlin, München und Nürnberg. Aubs Schule ist das prestigeträchtige Pariser Collège Rollin, und später erinnert er sich, unter Aufsicht der Mutter mit Texten von Victor Hugo lesen gelernt zu haben – eine behütete Vorkriegskindheit im heilen Teil Europas. Mit der französischen Mobilmachung gegen das Deutsche Kaiserreich im August 1914 werden die Aubs zu unerwünschten Ausländern, die Familie flieht nach Spanien und verliert ihr Vermögen. Mit elf Jahren macht Max Aub zum ersten Mal die Erfahrung, aus allen sozialen und kulturellen Zusammenhängen herausgerissen und zu einem Neuanfang gezwungen zu werden. Valencia wird zu seiner Wahlheimat und Spanisch zu seiner Sprache, denn, wie er später immer wieder betont, man stamme von dorther, wo man sein Abitur macht: «Y no se es de donde se nace [… sino] de donde se estudia el bachillerato; por eso soy valenciano.» (Aub 1969: 214) Nach dem Schulabschluss 1920 weiß Aub, der nach eigener Aussage bereits 1915 sein erstes Gedicht auf Spanisch geschrieben hat, dass er Schriftsteller werden will, nur studieren möchte er nicht. Stattdessen ergreift er den Beruf des Vaters, der Handelsvertreter für Modeschmuck und Weißwaren ist, und bereist fortan die spanische Provinz. Einerseits gewinnt er damit früh die finanzielle Unabhängigkeit, ökonomisch auf eigenen Beinen stehend seinen künstlerischen Weg zu verfolgen, andererseits verstellt er sich so den Zugang zu literarischen Netzwerken, wie sie an den Universitäten, etwa zwischen dem jungen Luis Cernuda und seinem Mentor Pedro Salinas, und vor allem in der Madrider Residencia de Estudiantes geknüpft werden. Seine Schule sind Zeitschriften wie España oder Nouvelle Revue Française, die er abonniert hat, sowie der Besuch von Tertulias, jenen spezifisch spanischen künstlerisch-politischen Gesprächsrunden in Cafés, die er möglichst oft bei seinen Geschäftsreisen aufsucht. In Valencia gehören er und seine Schulfreunde José Gaos und José Medina Echevarría zum Kern eines Künstlerzirkels, aus dem später namhafte Autoren, Kritiker, Philosophen oder Maler wie Juan Chabás, Juan Gil-Alabert, Genaro Lahuerta oder Cecilio Plá bekannt werden. Die zufällige Begegnung mit dem französischen Schriftsteller Jules Romains bei einer seiner Geschäftsreisen bringt ihm ein Empfehlungsschreiben für den seinerzeit einflussreichen Kritiker Enrique Diez-Canedo ein, dessen Bekanntschaft Aub 1923 macht. Ihm verdankt er die Einführung in das
Aktivitäten in Südfrankreich Anfang der vierziger Jahre oder Stationen und Begegnungen der Deutschlandreisen in den sechziger Jahren – anstatt sie recherchierend zu schließen. Weitere biographische Informationen finden sich, so weit zum Verständnis des Werks nötig, in den einzelnen Kapiteln, insbesondere in dem über das Schreiben im Exil [ĺ Kap. V].
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literarische Leben Madrids, namentlich in die Tertulia im Café Regina, wo er unter anderem Dámaso Alonso, Álvarez del Vayo und Manuel Azaña kennenlernt. Heirat 1926, Eintritt in die Sozialistische Arbeiterpartei 1929, dann 1931 die Ausrufung der Spanischen Republik: Max Aub ist noch keine 30 Jahre alt, da eröffnet sich ihm eine neue Welt. Plötzlich sitzen seine Freunde und Förderer in den Ministerien der jungen Republik, für die Kultur und Volksbildung oberste Priorität besitzen. Für sein Werk beginnt damit eine zweite Phase, auf die avantgardistischen Anfänge folgt eine Zeit der Politisierung und ästhetischen Neuorientierung [ĺ Kap. II]. In den folgenden Jahren – und verstärkt nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs 1936 – stellt er seine eigene schriftstellerische Arbeit zurück und sich selbst in den Dienst der Republik: Er ist Autor eines Memorandums zur Neuordnung der staatlichen Theater, Direktor der Theatergruppe El Búho, Co-Organisator des Internationalen Kongresses Antifaschistischer Schriftsteller in Valencia, Kulturattaché in Paris und zusammen mit Antonio Machado Leiter des Nationalen Theaterrats. Bei diesen Aktivitäten kommt Aub in engen Kontakt zu all jenen Intellektuellen, die sich in diesen Jahren für die Republik und gegen Franco engagieren. So etwa zu Pablo Picasso, den er beauftragt, für den spanischen Pavillon der Pariser Weltausstellung ein Bild zu malen – Guernica. Daneben zu Gustav Regler, Ernest Hemingway, Ilja Ehrenburg und vielen anderen Schriftstellern, vor allem aber zu André Malraux. Mit ihm verfilmt Aub 1938 dessen Bürgerkriegsroman L’Espoir (unter dem Titel Sierra de Teruel). Der beinahe gleichaltrige Freund wird zu einer der Schlüsselfiguren für sein weiteres Schaffen, denn dem Regisseur André Malraux verdankt Aub die Einführung in die Welt des Films, die ihm im mexikanischen Exil ein wichtiges berufliches Standbein als Dozent und Drehbuchmitarbeiter verschaffen wird. Vor allem aber werden seine Theaterkonzeption sowie die Dialog- und Montagetechnik seiner Romane von dieser praktischen Erfahrung mit dem jungen Medium Film geprägt. Und in seiner Eigenschaft als französischer Kulturminister ist es in den fünfziger Jahren ebenfalls Malraux, der Aub die zuvor verbotene Einreise nach Frankreich ermöglicht (vgl. Malgat 2010: 37–40). Doch noch ist Aub in Europa, wo 1939 der Bürgerkrieg mit dem Sieg Francos und der Flucht Hunderttausender Republikaner über die Grenze nach Frankreich endet; es ist die zweite Vertreibung in seinem Leben. Zurück bleiben seine umfangreiche Bibliothek, Gemälde befreundeter Künstler sowie zahlreiche Manuskripte. Immerhin kommt er nach Frankreich, das Land seiner Muttersprache, das Land seiner Kindheit und eines von ihm verehrten freiheitlichen Geistes. Es ist der Moment, in dem er mit einer anderen Wahl der Sprache seines Schreibens den bald folgenden Weg in Lagerhaft, Deportation und Exil hätte vermeiden können. Fünfzehn Jahre später, in einem Tagebucheintrag vom 27.9.1955, erinnert er sich an diese Möglichkeit, die er de facto nie ernsthaft in Erwägung gezogen habe: Me molesta cuando […] JGD asegura que soy francés por haber nacido en París. Pero, tratando de poner papeles en limpio, me doy cuenta de que, efectivamente, si hubiese hecho valer ese hecho no hubiera estado tanto tiempo de campo en campo. Aunque me hubiese acudido a las mientes –que ni eso sucedió–, no lo habría hecho. Hubiese sido
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una traición ante mi mismo. ¡Cómo me hubiera despreciado aunque nadie lo hubiese criticado! (¡Cuántos habría, hubiera o hubiese!) (Diarios 267)
1940 wird Aub als ausländischer «Kommunist» denunziert (was er nie war), und es beginnt eine über zweijährige Odyssee durch französische Konzentrationslager und Gefängnisse. Die «Akte Aub» bleibt bei den französischen Einreisebehörden bis 1958 unverändert, was mehrmals dazu führt, dass seine Visaanträge abgelehnt werden. Diese Verweigerung seiner Rechte als Citoyen in seinem Geburtsland Frankreich kann man – nach der Vertreibung aus Frankreich 1914 und der aus Spanien 1939 – durchaus als eine dritte Vertreibung betrachten. 1941 wird Aub, ungeachtet der Intervention namhafter Freunde wie André Gide und Louis Aragon sowie der mexikanischen Botschaft nach Algerien deportiert, wo er in dem Arbeitslager Djelfa an der Saharabahn arbeiten soll. Von dort gelingt ihm die Flucht und über Casablanca die Ausreise nach Mexiko. Im Oktober 1942 schließlich landet Max Aub in Veracruz: Vor ihm liegt der dritte Neuanfang seines Lebens in einer neuen Kultur, diesmal auf einem neuen Kontinent. Die folgenden zehn Jahre sind die literarisch produktivsten in Aubs Leben, in ihnen entstehen die ersten drei Bände des Laberinto mágico [ĺ Kap. III], die Theaterstücke des Teatro mayor [ĺ Kap. V] sowie zahlreiche Einakter, Erzählungen, daneben all die Drehbücher, Artikel, Auftragswerke, mit denen er sich seinen Lebensunterhalt verdient. Seine Produktivität war sprichwörtlich: Kollegen unkten, sie bekämen jeden Morgen die Tageszeitung und ein neues Buch von Aub, und man machte sich einen Spaß daraus, seinen Namen wie «Masaú» auszusprechen, eine onomatopoetische Verballhornung, die so viel bedeutet wie «immer mehr». Spätestens mit dem Beginn des mexikanischen Exils endet die zweite Phase in Max Aubs Leben und Werk, weshalb für den weiteren Lebensweg auf das Kapitel über Max Aubs Schreiben im Exil verwiesen sei [ĺ Kap. V].
Max Aub und die spanische Literatur… Das literarische Spanien der zwanziger und dreißiger Jahre Schon die Skizze zu Max Aubs Lebensweg und den Entstehungsbedingungen seines Werkes zeigt, dass sein Schreiben nicht wie selbstverständlich und exklusiv als Teil der spanischen Nationalliteratur betrachtet werden kann, und wie zu zeigen sein wird, geht es auch nie ganz in ihr auf. Vielmehr erfolgte die Wahl der Sprache seines literarischen Ausdrucks ebenso bewusst und auf Grundlage einer realen Alternative (Französisch) wie die Selbsteinschreibung in eine klar umrissene liberale spanische Tradition; schon deshalb ist es nicht verwunderlich, dass er von den akademischen und intellektuellen Repräsentanten der traditionsbildenden Institutionen erst lange nach seinem Tod kanonisiert wurde. Dies gilt es zu bedenken, wenn im Folgenden seine Rolle in der spanischen Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre im Hinblick auf die nachfolgende Analyse seines Frühwerks skizziert wird. Auf die zum Verständnis seines Schreibens so wichti9
gen französischen, deutschen und mexikanischen Bezüge wird komplementär in den nachfolgenden Kapiteln eingegangen. In Spanien sind die Jahre der literarischen Anfänge Max Aubs politisch geprägt von der Militärdiktatur Miguel Primo de Riveras (1923–1929), die dem Land nach der äußerst konfliktreichen und gewaltsamen Phase während der durch den Ersten Weltkrieg beförderten Wirtschaftskrise kurzfristig eine gewisse Stabilität gibt. Es ist eine fiebrige und politisierte Zeit höchster kultureller Aufmerksamkeit; im ganzen Land entstehen, unbehelligt von der ansonsten strengen Pressezensur, Literaturzeitschriften (auch Aub war an einer beteiligt), in denen neue Wege für die spanische Geisteswelt gesucht werden, oszillierend zwischen der Wiederbelebung hispanischer Hochkultur, der Aufwertung regionaler Einflüsse und dem Aufbruch im Zuge sich überbietender Avantgarden. Es sind die Jahre, in denen Rafael Alberti und Federico García Lorca für Lyrik und Theater, Salvador Dalí und Luis Buñuel für Malerei und Kino neue Wege weisen. Eine der renommiertesten Zeitschriften, die die Rezeption der außerspanischen Strömungen ermöglicht und befördert, ist die von José Ortega y Gasset gegründete Revista de Occidente (1923–1936), in der auch Aub 1927 eine Erzählung veröffentlicht. In diesen Jahren schreibt er vor allem Theaterstücke, zumeist Einakter, daneben Lyrik und Erzählungen, die er in bibliophilen Ausgaben veröffentlicht, bei denen ihm Ausstattung und moderne typographische Gestaltung ebenso wichtig sind wie der Text: Wort und (typo-) graphisches Zeichen sind bei Max Aub schon früh gleichberechtigte Elemente der Kommunikation (vgl. Andújar García 2010), eine Grundüberzeugung, die bei der Verschränkung von Text und Ikonotext in seinem Künstlerroman Jusep Torres Campalans (1958) [ĺ Kap. II] ebenso bedeutsam wird wie bei seinem neo-avantgardistischen Juego de Cartas (1964) [ĺ Kap. IV]. Die Lyrik: Poemas cotidianos Trotz seiner Vorliebe für das Theater und seinem späteren Erfolg als Romancier – Max Aubs erste Veröffentlichungen sind Gedichte. Im März 1923 druckt die von Manuel Azaña, dem späteren Staatspräsidenten der Zweiten Republik geleitete Zeitschrift España (3, 1923) erstmals einen Text von ihm, Gedichte des Abschnitts Momentos aus seinem ersten Buch, dem Gedichtband Los poemas cotidianos (Barcelona 1925). Die Texte stammen aus den Jahren 1921/1922, sind also im Alter von 19 Jahren entstanden. Eine Auswahl war bereits in einer Lesung im Ateneo von Madrid im Januar 1923 der Öffentlichkeit präsentiert worden. Das Buch, deutlich in symbolistischer Tradition stehend (vgl. LópezCasanova 2001: 14ff.), bezieht sich in Form eines Widmungsgedichts explizit auf den französischen Dichter Francis Jammes (1868–1938) und dessen Band De l’Angelus de l’aube à l’Angelus du soir (1898) und zeichnet in 35 Gedichten assoziative Alltagsbeobachtung, sortiert nach Tageszeiten («Las mañanas», «La noche»), nach. In ähnlicher Tradition stehend schrieb beispielsweise Dámaso Alonso seine Poemas puros, poemillas de la ciudad (1921), wobei diese lyrische Richtung eine Nebenlinie der spanischen Dichtung jener Zeit darstellt («una ra10
ma […] que había mostrado un desarollo menor, de segundo orden en nuestra histórica lírica», López-Casanova 2001: 14). Die Mehrzahl der Gedichte ist in freiem Rhythmus verfasst, dessen Ausdrucksmöglichkeiten in großer Bandbreite vorgeführt werden; das Eröffnungsgedicht Mañana hingegen, ein Liebesgedicht, in dem die Wahrnehmung des Morgens durch die Figur der Geliebten (das Buch ist Aubs künftiger Frau gewidmet) in der offenen Balkontür überhöht wird, ist ein klassisch komponiertes Sonett. Zwar sind die Gedichte des 19jährigen Aub als Erstlingswerke erkennbar – in seinem Vorwort von 1925 sprach Aubs Mentor Enrique Díez-Canedo von «versos inseguros» (in: Aub 2001a: 53), Soldevila vermerkt die «debilidad rítmica y musical de estos versos sinceros» (1999: 69) –, so zeigen sich in ihnen doch Signaturen der Epoche. Zum einen der Versuch, einen klaren, einfachen, «reinen» lyrischen Ausdruck zu erreichen, also eine für die lyrischen Avantgarden typische Ablehnung rhetorischen Ballasts, und zum anderen eine thematische Ausrichtung am Subjektiven, Intimen, Privaten. Dass damit das Politische, das Öffentliche dezidiert ausgeschlossen bleibt aus der Kunst, scheint dem Autor allerdings selbst nicht recht geheuer zu sein, wenn in dem an Francis Jammes gerichteten Gedicht Intermedio das Ich Unbehagen angesichts der Ignoranz gegenüber den Mitmenschen («sin preocuparnos para nada») empfindet und es sein Gegenüber fragt, ob man daran nicht etwas ändern müsse («¿no nos valdría más hablar/hacer política?»), bevor es seine Sehnsucht nach einer Verbindung zwischen beiden Sphären formuliert: «Quisiera yo unir los dos idales/y siento lo imposible de estos esponsales;/o vivir para ellos o vivir para mí,/fuego en el hogar, la intemperie allí.» (Aub 2001a: 72, 74) Aubs erste Buchveröffentlichung sind Los poemas cotidianos, aber als Dichter hat er sich nie gesehen, vor allem weil ihm, wie er immer wieder betonte, die dazu nötige Musikalität fehle. Im Vorwort zur dem Gedichtband Antología traducida (1963) erinnert er sich an eine Begegnung mit seinem Onkel Ludwig Aub in einem Münchner Biergarten 1924. Schon der habe ihm damals auf den Kopf zugesagt: «No tienes el menor sentido de la música», weshalb ihm das für Lyrik unabdingbare Gespür für Rhythmus fehle (Aub 2001a: 167). Dennoch lässt er von dem Genre Zeit seines Lebens nicht ab. 1971 veröffentlicht er kurz vor seinem Tod den Band Subversiones, 1982 erscheint posthum das apokryphe lyrische Tagebuch Imposible Sinaí. 1933 kommt in Valencia sein zweiter Gedichtband A heraus, wie schon die Poemas cotidianos in kleiner Auflage und aufwändig typographisch gestaltet. Zuvor hatte er in der von Gerardo Diego edierten Zeitschrift Carmen 1928 das Jorge Guillén gewidmete Gedicht Luna (Peaje a J.G.) veröffentlicht, 1932 in Luys Santamarías Azor eine lyrische «Homenaje a Matisse».4 Wenn man die
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Die Aufhebung der Grenzen zwischen den Künsten, in diesem Fall zwischen bildender Kunst und Literatur, war eine der Forderungen der Avantgarde (mit der sie wiederum an die Romantik anknüpfte, so die zentrale These in Octavio Paz’ Los hijos del limo. Del romanticismo a la vanguardia (1974: 92ff.). Aubs Gedicht über den Maler (Matisse), der in dem Roman Jusep Torres Campalans eine wichtige Rolle spielen wird
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poésie en prose des Buches Yo vivo (entstanden 1934–1936, erschienen 1953) nicht der Lyrik zurechnet und einige Propaganda-Gedichte aus der Zeit des Bürgerkriegs nur der Vollständigkeit halber erwähnt, sind damit alle vor dem Exil entstandenen Gedichte genannt. Das nächste wird erst wieder das lyrische Tagebuch aus dem nordafrikanischen Arbeitslager Djelfa Diario de Djelfa (1944) [ĺ Kap. V] sein. Mit diesem schmalen lyrischen Werk – zwei Büchlein in kleiner Auflage sowie einige wenige Gedichte in Zeitschriften – konnte Max Aub nicht ausreichend am Erfolg jenes Genres partizipieren, das in der hispanischen Kultur einen besonderen Stellenwert bei der Etablierung im literarischen Feld besitzt und gerade seinerzeit, mit der Inthronisierung der generación del 27, die literarische Bühne dominierte. Außerhalb seines literarischen Freundeskreises wurden seine Gedichte nicht rezipiert, nicht besprochen und nicht in Anthologien als traditionsbildend in den Kanon eingespeist. Genau diese Rolle des nicht wahrgenommenen Dichters in einem literarischen Kontext florierender poetischer Erneuerung reflektierte Aub in dem Roman Luis Álvarez Petreña (erstmals 1932–1934 erschienen in der Zeitschrift Azor), einem Briefroman über einen jungen Schriftsteller, der, gescheitert in der Liebe und erfolglos als Dichter, Selbstmord begeht. Dieses Buch kann, wie ich im zweiten Kapitel dieser Studie zeigen möchte, auch als eine frühe kritische Bewertung der Möglichkeiten und Grenzen avantgardistischer Ästhetik in Spanien gelesen werden.5 Die Prosa: Geografía, Prehistoria, 1928, El cojo Umfangreicher als das lyrische Werk ist das in Prosa, das aus fünf zum Teil längeren Erzählungen besteht, dem bereits erwähnten Briefroman Luis Álvarez Petreña, den Aub in den sechziger Jahren mit zwei Fortsetzungen weiterführen wird [ĺ Kap. II] und dem unvollendeten Roman Yo vivo, der 1934 bis 1936 entsteht, aber erst 1953 veröffentlicht wird. Nach dem Prosaerstling Caja, erschienen
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[ĺ Kap. II], reflektiert insofern eine seinerzeit gängige Verknüpfung, wenn man an die dichtenden Künstler Rafael Alberti oder Luis Buñuel denkt. Wie selbstverständlich die ästhetische Nähe von Autoren war, die in den dreißiger Jahren politisch grundlegend andere Wege gingen – Republikaner die einen, Falangisten die anderen –, hat Mechthild Albert (1996) gezeigt. An dieser Stelle ist sie im Kleinen zu erkennen: Diego wie Santamaría, den Aub in Campo cerrado als lyrischen Faschisten porträtiert [ĺ Kap. III] und den er bei seiner Spanienreise 1969 wiedertrifft, wie man in La gallina ciega (1971) nachlesen kann [ĺ Kap. V], waren bald darauf glühende Unterstützer der Falange. Max Aubs Werke werden, so weit als möglich, nach der kritischen Gesamtausgabe Obras completas (2001ff.), herausgegeben von Joan Oleza, zitiert; häufig verwendete Texte erscheinen unter den Abkürzungen gemäß dem Abkürzungsverzeichnis im Anhang. – Zur spanischen Kultur und Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre vgl. López de Abiada (1995), Pérez Firmat (1993), Ródenas de Moya (1998). – Über Max Aubs Lyrik haben vor allem López Casanova (1996, 2001), Carreño (1996), Calles (2003b), und Candel Vila (1996, 2003a, 2008) gearbeitet.
1926 in der ganz der Avantgarde verschriebenen Zeitschrift Alfar,6 konnte Aub die Erzählung Geografía im Jahr darauf auszugsweise in der von José Ortega y Gasset geleiteten Revista de Occidente platzieren; das Buch folgte 1929. Beide Erzählungen greifen auf eine mythische Thematik zurück: im Fall von Geografía auf den Mythos von Phädra und Hippolitus, der aber transformiert wird (bei Aub verführt Hippolitus seine Stiefmutter), der nicht tragisch, sondern ironischhumoristisch erzählt wird, dessen Figuren keine psychologische Kohärenz zeigen, dessen Narration ohne Plot auskommt und dominiert wird von Sprachspiel, gewagter Metaphorik und metaliterarischen Anspielungen. Ein Text im Einklang mit der von José Ortega y Gasset beschriebenen «literatura deshumanizada», dessen besonderer Reiz in einem Humor liegt, der aus dem distanzierten Umgang des Nicht-Muttersprachlers Aub mit dem Sprachmaterial erwächst («provocado por su acercamiento al idioma a partir de su anterior poliglotismo»), wie Ignacio Soldevila hervorhebt (1999: 100). Prehistoria, 1928 kam 1928 in der Zeitschrift Murta heraus, die umfangreichere Fábula verde 1932 als kunstvoll illustriertes Buch mit Graphiken der Maler Genaro Lahuerta und Pedro Sánchez.7 Diese phantastische Erzählung von den Träumen des Mädchens Margarita Claudia, das bei der Ansicht von Fleisch ohnmächtig wird und in phantasievollen Metaphern von Obst und Gemüse träumt, spielt in Montcornet, dem Ort im Département Oise, wo die Aubs bis 1914 die Sommerfrische verbrachten. Mehr als in Geografía, wo die Histoire kaum zu rekonstruieren und die auftretenden Figuren (der reisende Kapitän, sein Sohn, seine zweite Frau) kaum mehr als Schemen waren, sind in Fábula verde eine Handlung und rational aufeinander zu beziehende Ebenen erkennbar. Denn im Kern geht es Margarita nicht ums Essen, sondern um die Sexualität, vor deren Fleischlichkeit sie zurückschreckt. Auch in dieser Erzählung ist Aubs Mehrsprachigkeit insofern unmittelbar präsent, wenn etwa der Erzähler in einer Fußnote über den Doppelsinn von französisch «col» und «chou» [Kohl] schreibt, der, wäre er für jeden Leser nachvollziehbar, ihm das Schreiben leichter machen würde (vgl. Aub 2006a: 79). Die Sensitivität, die in Fábula verde spürbar ist, bestimmt auch den 1934 bis 1936 verfassten Kurzroman Yo vivo, der in der streng subjektiven Perspektive der
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Aub schrieb Beiträge für und veröffentlichte eigene Texte in einer Vielzahl von avantgardistisch ausgerichteten Zeitschriften, neben Alfar (La Coruña) und Azor (Barcelona), Carmen (Santander), Isla (Sevilla), Verso y Prosa (Murcia); in Madrid waren es Diablo Mundo, La Gaceta Literaria, Nueva España und die Revista de Occidente, über deren Bedeutung weiter unten noch zu reden sein wird; in Valencia: Murta, Nueva Cultura und Taula de Lletres Valencianes (vgl. Aznar Soler 2003a: 311f.). Es waren Skizzen von Früchten dieser beiden Maler, die die Ausgabe schmückten, sowie auf jeder Seite eine Reproduktion aus den botanischen Miniaturen des Valencianischen Naturkundlers Antonio José de Cavanilles (1745–1804). Dieser Ikonotext war keineswegs allein illustrierend eingesetzt, sondern bedeutete vor allem eine Replik auf die Ablehnung einer Veröffentlichung des Textes in der angesehenen Reihe Nova Novorum durch Fernando Vela, der ihn als «demasiado vegetal» abgefertigt hatte (vgl. Soldevila 1999a: 98).
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Fokusfigur Enrique einen Tag am Strand nachzeichnet, sein Licht, seine Gerüche, seine taktilen Wahrnehmung, vom Morgengrauen bis zum Abend. Dieser zugleich vitalistische Text, der sich ganz auf die Intensität mediterraner Sinnlichkeit verlässt (und insofern dem zeitgleich entstandenen Cántico seines Freundes Jorge Guillén eng verwandt ist, vgl. Moraleda 1995: 28), lag dem Autor sehr am Herzen. Sein «gran libro» hätte Yo vivo werden können, wie er in einem Brief an Ignacio Soldevila erwähnte (Soldevila 1999a: 102). In der Nachbemerkung zu dem erst nach dem Bürgerkrieg unverändert veröffentlichten Text schreibt Aub: «Lo miro con cariño porque es el libro que pudo ser y no es. El mundo me ha preñado de otra cosa. Tal vez es lástima, tal vez no. Y me lo dedico a mí mismo, in memoriam.» (Aub 2006a: 119) Mit dieser nachträglichen Veröffentlichung in Mexiko wird Yo vivo zu einem der Brückentexte, die eine direkte Verbindung herstellen zwischen den avantgardistischen Anfängen und dem Schreiben im Exil. Zwar beerdigt Aub in seiner Nachbemerkung explizit den Avantgardisten der Vorkriegsjahre («Me lo dedico a mí mismo, in memoriam»), doch weder modifiziert er den Textkorpus, noch distanziert er sich von ihm. Später nimmt er Yo vivo sogar in die Auswahlbände Mis páginas mejores (1966) und Novelas escogidas (1970) auf. Die Rückbesinnung auf seine literarischen Anfänge und insbesondere auf einen so lebensbejahenden Text wie Yo vivo zu Beginn der fünfziger Jahre hat einerseits mit der lebensweltlichen Tatsache zu tun, dass es ihm und seiner Familie nach den Entbehrungen der ersten Jahre in Mexiko materiell inzwischen besser ging. Diese Haltung lässt sich gut im Tagebuch erkennen, wo er am 23.1.1953 schreibt: Olvidar. Gritar alto que la vida, lo único que traemos, es prodigiosa. […] Nos hemos olvidado de la vida por tenerla tan a mano […]. Sacar de cada cosa algo bueno. Asombrarse. Hallar en todo razón de vida y darle gracias al cielo que es la tierra. Olvidar. (Diarios 223)
Andererseits klingt hier eine Sehnsucht nach neuen literarischen Ausdrucksmöglichkeiten an. Aub, der sein Schreiben nach 1939 zunächst exklusiv dem Thema der Erinnerung an Bürgerkrieg und Holocaust gewidmet hatte, will nun auch einmal «vergessen» und das Leben als Leben genießen (vgl. Moraleda 1995: 29). Yo vivo ist der Text, der ihn an eine existenziell lebensbejahende Grundhaltung früherer Jahre erinnert und ihm vor Augen führt, dass er wieder so schreiben könnte; vor allem seine apokryphen Biographien werden von dieser Reorientierung geprägt sein [ĺ Kap. II]. Mit der Bürgerkriegserzählung El cojo, geschrieben während der Dreharbeiten zu Sierra de Teruel, der Verfilmung von André Malraux’ Roman L’Espoir, veröffentlicht noch während des Kriegs in Hora de España (1938), beginnt bereits das Laberinto mágico, sein mehrbändiger Werkzyklus über den spanischen Bürgerkrieg, seine Ursachen und Folgen, der Gegenstand des Kapitels III Gegenästhetik des Bürgerkriegs sein wird.8
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Die Erzählung El cojo gilt als eine der wichtigsten über den spanischen Bürgerkrieg und ist dank der häufigen Aufnahme in Anthologien einer der kanonisierten Texte Aubs;
Das Theater: Una botella Mehr als alle anderen Genres bestimmt das Theater, bestimmt die Suche nach der Erneuerung des Theaters die Anfänge von Max Aubs Schreiben. Immer wieder betont er, dass der Dialog von Beginn an seine bevorzugte Ausdrucksform gewesen sei: Yo no comencé escribiendo versos sino escribiendo teatro. No sé por qué, pero siempre tuve mayor facilidad para decir lo que tengo que decir a través de varias personas que no por mi boca. (Aub 1972: 37)
Noch kurz vor seinem Tod, im Rückblick auf eine Karriere, in der sein Theater wenig gespielt wurde und er sich vor allem als Prosaautor einen Namen gemacht hat, unterstreicht er die Bedeutung des Theaters für sein Selbstbild als Schriftsteller: «En realidad, soy hombre de teatro y no novelista.» (Interview mit Kemp 1977: 16) Sein erstes Bühnenwerk Crimen entstand 1923, die erste Veröffentlichung war das Stück El desconfiado prodigioso (1926, Uraufführung 1929). An seinem letzten Stück Retrato de un general, visto de medio cuerpo y vuelto hacia la izquierda arbeitete er 1969, und noch 1971 besorgte er die spanische Ausgabe einer Auswahl seiner Stücke, die sein Erstling El desconfiado prodigioso eröffnete. Aubs dramatisches Werk schlägt also tatsächlich den Bogen von den Anfängen im Kontext der historischen Avantgarden bis zum Ende seiner schriftstellerischen Laufbahn im Exil, insofern ist es hier von besonderem Interesse. Auch deshalb, weil es eine erstaunliche formale Homogenität aufweist. Auf diese Tatsache weist bereits Ignacio Soldevila hin: «En el teatro de Max Aub se manifiesta una homogeneidad de composición que contrasta con […] su obra narrativa.» (Soldevila 1999a: 149) Von dem über 50 Stücke umfassenden dramatischen Werk ist etwa ein knappes Drittel, üblicherweise als Primer teatro bezeichnet, vor dem Exil entstanden. Es lässt sich in zwei Werkgruppen betrachten, deren ästhetische Entwicklung mit dem politischen Umfeld der zwanziger und dreißiger Jahre in engem Zusammenhang steht. Während der Spätphase der Monarchie entsteht der wesentliche Teil seines experimentellen Theaters (1923–1931), aus dem Aub fünf Stücke unter dem Titel Teatro incompleto (1931) in einem Sammelband veröffentlicht. Die zweite Werkgruppe steht in Verbindung mit den Bestrebungen der Segunda República zur Erneuerung der spanischen Bühnen sowie mit dem politischen Theater der Zeit des Bürgerkriegs. Aub bezeichnet die zehn Stücke aus dieser Zeit als «teatro de circunstancias»; unter diesem Titel sollten sie 1938 erscheinen, was wegen der Kriegswirren aber nicht mehr möglich war. Ab 1931 ist Aub in vielfältiger Weise an der Schaffung neuer Theaterstrukturen beteiligt: Ähnlich wie Federico García Lorca, der die berühmte Theatergruppe La Barraca leitet, organisiert Aub in Valencia ein Studententheater (El Búho, 1934–1936), das im
zur ästhetischen Analyse der Erzählung vgl. Buschmann (2005a). – Zur frühen Prosa Max Aubs vgl. Moraleda (1995), Martínez Latre (1996), Sanz Álvarez (2003b, 2004), Benítez Burraco (2004) und García Sánchez (2006).
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Rahmen der republikanischen Misiones Pedagógicas den Auftrag hatte, als Wanderbühne spanische Klassiker auf öffentlichen Plätzen dem Volk nahezubringen. Im Auftrag von Staatspräsident Manuel Azaña verfasste er die Denkschrift Proyecto de estructura para un teatro nacional y escuela de baile zum Aufbau einer staatlichen Bühnenorganisation (1936) und leitete ab 1937 mit Antonio Machado den Consejo Central de Teatro. Mit dem Exil ab 1939 beginnt eine neue Phase, in der Aub nach einer Zeit der Sammlung und Konzeption (1939–1942) in schneller Folge sechs große historische Dramen über Vertreibung, Flucht und Holocaust (das sogenannte Teatro mayor, 1942–1952) sowie zahlreiche politische Einakter (Teatro breve) verfasst, die im Kapitel V Ausgeschlossen Schreiben behandelt werden. Betrachten wir zunächst das «teatro incompleto», das Aub so nennt, weil es als szenische Erneuerung der spanischen Bühnenpraxis konzipiert war, aber nicht gespielt wurde und deshalb unvollständig («incompleto») sei. Im Vorwort zur Druckausgabe des Stückes Narciso (1928) erläutert er: Ni pensada ni escrita esta obra para ser leída, hecha para la escena, viene a ahogarse en el libro. Teatro incompleto se podría llamar. Las circunstancias del teatro en España, quiero suponer que sólo actuales, no permiten lograr su representación. Supla la visión del lector lo que actores y directores debieron darle: acento y vida. (Aub 2002c: 16, 54)
Eine Erklärung für den Misserfolg, seine Stücke nicht gespielt zu sehen, sieht Aub zunächst bei sich selbst: «Desde el principio quise escribir y dirigir teatro, o sea, hacer teatro de verdad. Quería ser un revolucionario del teatro, hacer lo que hacían en poesía mis compañeros de generación. Pero fracasé.» (Aub in Kemp 1977: 18) Doch ist es nicht Aub allein, der bei diesem Versuch scheitert. Anders als den Lyrikern gelingt es den Dramatikern seiner Generation nicht, ihr Genre zu «revolutionieren» oder nachhaltig zu reformieren. Aub sagt: «Las circunstancias del teatro en España […] no permiten lograr su representación.» (Aub in Kemp 1977: 18) In der Tat war es so, dass Theaterautoren größte Schwierigkeiten hatten, innovative Ansätze zu realisieren, weil das Theater als Institution spezifische Beharrungskräfte entfaltete, wie es sie für Lyrik und Prosa nicht gab. Wegen des «conservadurismo estético e ideológico dominante en el teatro comercial español – tanto por parte de las compañías como por parte del público espectador –» (Aznar Soler 2003a: 193) hatten Theaterautoren, die weder bürgerliches Unterhaltungstheater in der Tradition von Carlos Arniches oder der Brüder Álvarez Quintero inszenieren noch Stücke schreiben wollten im Stil der «alta comedia» des noch immer einflussreichen Nobelpreisträgers Jacinto Benavente, keinen Zugang zu den Bühnen. Ungespielt oder auf kleine Bühnen beschränkt blieben folglich nicht nur Max Aub, sondern auch José Bergamín, Rafael Dieste oder Miguel Mihura mit seinen Tres sombreros de copa (entstanden 1932, uraufgeführt 1952). Selbst ein Ramón del Valle-Inclán veröffentlichte sein heute kanonisiertes Stück Luces de Bohemia 1921 vorab in der Zeitschrift España und musste bis 1924 auf die Uraufführung warten, die dann auch noch alles andere als ein Erfolg war. Als Ausnahmen zu nennen wären die Dramen Federico García Lorcas (der allerdings von seinem Ruhm als erfolgreichster Ly16
riker seiner Generation profitierte) oder Alejandro Casonas, dessen poetisches Stück Nuestra Natacha 1936 beim Publikum erfolgreich war (aber umgekehrt von der progressiven Kritik als zu unpolitisch geschmäht wurde, vgl. Rodríguez Richart 2003, Vilches de Frutos 2004). Allenfalls Aufführungen in dezidiert avantgardistisch ausgerichteten Studententheatern waren leichter zu realisieren: Im Fall Aubs wurde eine katalanische Übersetzung seines zweiten Stücks El desconfiado prodigioso 1930 in diesem marginalisierten Kunstraum in Vilafranca del Penedés uraufgeführt. José Monleón begreift diesen Ausschluss des innovativen Theaters von den Bühnen als ein erstes Exil, die physische Vertreibung der mit der Republik sympathisierenden Dramatiker bezeichnet er folglich als deren «segundo exilio» (Monleón 1984b: 65). Eines der typischen frühen Theaterstücke Max Aubs ist der Einakter Una botella (1924). Das minimalistische Bühnenbild zeigt, in der Mitte der Szene stehend, eine große Flasche mit rotem Etikett vor einem schwarz-weiß karierten Hintergrund. Das erste Wort hat der «Autor», der unsicher zum Publikum spricht, während die Lichtregie auf der im Halbdunkel liegenden Bühne «todos los juegos de luz» flackern lässt: Man habe eine Farce angekündigt, erklärt der «Autor», dabei sei das folgende Stück eine Tragödie, und alles, was der Zuschauer zu sehen bekomme, sei Teil von ihm selbst: «¡Esto que aquí os doy, soy yo!» (Aub 2002c: 96). Nachdem der «Autor» von einem «Espectador», den die Bühnenarbeiter nicht zurückhalten können, als «farsante» beschimpft und von der Bühne vertrieben ist, ergreift die Flasche das Wort, zählt auf, wie man sie wahrnehmen kann (groß und klein, schmal oder bauchig etc.), worüber aber das Entscheidende vergessen werde: «Soy una botella, nada más; eso es: una botella.» (96) Um sie sitzen zwei Betrunkene und geraten in Streit, wie diese große Flasche mit ihrem roten Etikett denn nun ausssehe; ob sie groß oder klein, dunkel oder hell, mit oder ohne Etikett vor ihnen stehe. Der Clown, der Zuschauer und der Dichter kommen hinzu, der Streit eskaliert bis zu Handgreiflichkeiten, und schließlich ruft man den «Autor» herbei, der die Unklarheit in der Sache auf die Inszenierung schiebt («La culpa es del impresario,» 107). Daraufhin wird er vor allem vom «Espectador» wüst beschimpft; der «Autor» lässt ihn von Bühnenarbeitern wegschaffen. Eine Lösung bietet der «Harlequin», der sagt, die Flasche existiere gar nicht: «Nada existe en verdad. […] Nada es verdadero, real realidad.» (108) Das lassen nun auch die Betrunkenen gelten («[…] en este mundo todo es ilusión y nada realidad») und finden, egal wie die Flasche aussehe, am besten trinke man sie aus. Alle trinken, taumeln, tanzen, worauf der «Autor», mit «mascarilla trágica» und unterstützt vom Souffleur, wieder die Bühne betritt, um ihnen klarzumachen, dass sie sich irren. Darauf fallen die Tanzenden «en ridículas posturas de muñecos desarticulados» neben der Flasche in sich zusammen. Das Schlusswort des Einakters hat die Flasche selbst, die den Konflikt relativiert: Sie sei nichts weiter als eine Flasche, aber wenn jeder sie anders wahrnehme «creedlo a todos porque si así lo dicen, es que así me ven. Y todos tenemos razón.» (109) Die Elemente des Stückes, mit denen es an das avantgardistische Theater seiner Zeit anschließt, sind gut zu erkennen: Die Aufhebung der Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum, wie Pirandellos Sei personaggi in cerca d’autore 17
(1921) sie vorgeführt hatte, in der Figur des «Espectador»; die Illusionsbrechung durch die Lichtregie oder die metatextuelle Rede des «Autors» (der auch noch mit der Maske des Tragöden auftritt); der Verzicht auf psychologischen Realismus, vielmehr ein Einsatz der Figuren in der Linie des Puppen- oder Maskentheaters von Edward Gordon Craig; die, anders als im bürgerlichen Ausstattungstheater, dezidiert minimalistische Bühnendekoration gemäß den Vorstellungen von der «nackten Bühne» bei Jacques Copeau und Adolphe Appia9; die Infragestellung des Subjekts, sowohl explizit (wenn Autor und Flasche ihr Ich-Sein betonen, das aber nicht intersubjektiv erkannt wird) wie implizit (indem dem Autor-Subjekt ein gleichberechtigtes Subjekt einer Flasche gegenübergestellt wird). Darüber hinaus wird in Una botella ein Thema verhandelt, das in Aubs weiterem Schaffen immer wieder auftauchen und vor allem die Dialogstruktur prägen wird, nämlich die Problematik, wenn nicht Unmöglichkeit menschlicher Kommunikation (vgl. Monti 1992).10 In Una botella reden alle am Dialog Beteiligten (einschließlich «Autor» und «Espectador») wortreich aneinander vorbei, was nochmals betont wird im Schlusswort der Flasche, wonach jede Sichtweise für sich betrachtet korrekt, aber nicht intersubjektiv vermittelbar sei. Politisch pointiert findet sich das Motiv noch über 40 Jahre später in dem Stück in El cerco (1968), das den Tod Che Guevaras im Dschungel von Bolivien zum Gegenstand hat und das Scheitern des Revolutionärs u.a. damit erklärt, dass er mit den Indigenas nicht in deren Sprache habe kommunizieren können.11
Max Aub und die spanische Literatur zwischen Avantgarde… Welche Rolle spielt Max Aubs Werk im Kontext der historischen spanischen Avantgarden? Welche Stellung nimmt sein Werk im Kontext ihrer weiteren Entwicklung und Rezeption ein? Diese Fragen sind nicht eindeutig zu beantworten, da der Bezugsrahmen dieses Vergleichs, die spanischen Avantgarden, als Einheit nicht existiert und zu keinem Zeitpunkt sinnvoll definitorisch festzustellen ist. Vielmehr sind die spanischen Avantgarden von einer Vielzahl sich dynamisch überlagernder Bewegungen gekennzeichnet, die (anders als in Frankreich oder Deutschland) nur selten den ostentativen und radikalen Bruch mit der künstlerischen Tradition suchen, sondern oft in Teilen bewahrend die Künste erneuern wollen. Luis Buñuel
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Allgemein zur Theateravantgarde und den Konzepten von Gordon Craig, Copeau und Appia vgl. Brauneck (1986); zu Max Aubs Orientierung an deren Theatermodellen vgl. Figueras (2003a) und Aznar Soler (1993). Die Titelfigur seines Stückes Narciso (1927), «il tentativo più apertamente impegnato nell’ambito del teatro sperimentale del giovane Aub» (Monti 1992: 41), der nur zum Dialog mit sich selbst fähige Narziss, sei als ein zweites Beispiel aus dem Frühwerk genannt, wo das Motiv besonders sinnfällig im Mittelpunkt steht. Max Aubs dramatisches Werk ist bereits Anfang der siebziger Jahre als Ganzes untersucht worden (vgl. Kemp 1971, Monleón 1971), seitdem sind zahlreiche weitere Studien erschienen: Monleón (1984a, 1984b), Monti (1992, 1998, 2002), Moraleda (1989), Sirera (2002), Figueras (2003a), Lluch Prats (2004).
und Salvador Dalí, die lautstark die Ideen des Surrealismus vertreten, die in ihrem Film Un chien andalou (1929) in emblematischer Weise die Ästhetik des radikalen Bruchs inszenieren und Mitglieder im Kreis um André Breton sind, gelten ebenso als vanguardistas wie der von ihnen als «verrotteter Dichter» geschmähte Federico García Lorca, weil er es in seinem Primer romancero gitano (1928) doch tatsächlich gewagt hatte, sich mit der Romanze die traditionelle metrische Form der spanischen Dichtung schlechthin anzuverwandeln.12 Diese iberische Spezifik sich überlagernder Innovations- und Repositionierungsbewegungen kann erst besser erfasst werden, seit in der Forschung nicht mehr in erster Linie die französische Entwicklung als Eichmaß gilt und als gleichsam natürlicher Gradmesser für die avantgardistische Produktivität andernorts dient, sondern beispielsweise die transkulturellen Bezüge zwischen den iberischen und lateinamerikanischen Avantgarden, etwa bei der Entstehung und Nachwirkung des Modernismo. Es ist das Verdienst von Harald Wentzlaff-Eggebert, seit den achtziger Jahren den Blick auf die Besonderheiten der hispanoamerikanischen Avantgarden gelenkt zu haben (vgl. Wentzlaff-Eggebert 1991), deren Entwicklung nicht nur für die spanische Literatur relevant war, sondern auch auf andere europäische Literaturen ausstrahlte. Aus den hier skizzierten Zusammenhängen ergibt sich die im Folgenden verwendete terminologische Unterscheidung in Avantgarde und Avantgarden: Mit dem Begriff im Plural sind die konkreten Strömungen, Bewegungen und Gruppen gemeint, die sich in künstlerischer Praxis realisieren, mit dem im Singular die Theorie- und Begriffsbildung. Der Begriff der Avantgarde Vor der Entfaltung der Besonderheiten der spanischen Avantgarden gilt es zunächst, den Avantgardebegriff selbst zu klären, der seit Peter Bürgers Theorie der Avantgarde (1974) und der nachfolgenden Diskussion über seine Thesen zur «Institution Kunst» und zur Autonomieästhetik (vgl. Lüdke 1976) systematisch aufgeschlüsselt wurde, so etwa in Jean Weisgerbers Standardwerk Les avantgardes littéraires au XXe siècle (1984). Mitte der siebziger Jahre war die Situation noch die, dass der Gegenstandsbereich «Avantgarde» selbst epistemologisch gesichert werden musste. Manfred Hardt schrieb seinerzeit, man stehe vor einer Forschungssituation, die durch das Fehlen gesicherter Begriffe, geeigneter Methoden zur Erforschung der hier anstehenden verwickelten künstlerischen und gesellschaftlichen Probleme sowie durch das Fehlen von zuverlässigen Detailuntersuchungen in vielen Bereichen gekennzeichnet ist. (Hardt 1989: 150f.)
Heute hingegen liegt der Fokus der Forschung auf der (Geschichte der) Avantgardetheorie und ihrer Bewertung im Kontext der Postmoderne, wie bereits der Titel von Wolfgang Asholts und Walter Fähnders Sammelband Der Blick vom
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Zu den Angriffen von Buñuel und Dalí gegen García Lorca anlässlich der Veröffentlichung des Primer romancero gitano vgl. Martin von Koppenfels (2002).
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Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung (2000a) andeutet. In ihrer Einleitung optieren die beiden Herausgeber für einen Avantgarde-Begriff, der Avantgarde bewusst nicht mit Moderne gleichsetzt, um sie vielmehr (unter Verweis auf die Arbeiten von Peter Bürger, Antoine Compagnon oder Paul de Man) als gesonderte Entwicklung in den Künsten zu Beginn des 20. Jahrhunderts begreifen zu können. Ihre Definition lautet: Ausgehend von Bürger kann ein praktikabler, «enger» Avantgardebegriff zugrundegelegt werden, der sich von der umfassenden Kategorie der Moderne als Makroepoche deutlich abgrenzen läßt, ohne das Verhältnis von Avantgarde und Postmoderne zu präjudizieren. Unter «Avantgarde» wären also all jene künstlerischen Strömungen des 20. Jahrhunderts zu subsumieren, die als «Vorhut» in allen Gattungen und diese tendenziell überwindend einen unwiderruflichen Bruch mit der überkommenen Kunst proklamieren und eine radikal neue Kunst zu schaffen suchen, teilweise auch, um damit eine neue Kunst-Leben-Relation mit Auswirkungen für den Alltag zu stiften. (Asholt/ Fähnders 2000b: 14f.)
Als «konstituierende Elemente» der Avantgarde benennen sie den «Gruppenund Bewegungscharakter, die Aufhebung der künstlerischen Autonomie, die Überführung von Kunst in Leben einschließlich beider Politisierung» sowie «die tendenzielle Auflösung des Werkbegriffs» (Asholt/Fähnders 2000b: 15). Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle «die radikal neue Kunst-Leben-Relation […, die] zumindest die ‹erste› Avantgarde grundsätzlich von der literarischkünstlerischen Moderne» unterscheidet (Asholt/Fähnders 2000b: 14). Denn wie wir sehen werden, ist die Veränderung der «Kunst-Leben-Relation» eine der Maximen der Avantgarde, die für Max Aubs Weiterentwicklung der Avantgarden zentral sein wird. Bereits an dieser Stelle, noch im Zusammenhang mit der allgemeinen Avantgardetheorie, gilt es zwei Besonderheiten der spanischen Avantgarden hervorzuheben: Erstens ist Spanien das Land, in dem in der Zeit der Avantgarden zugleich auch deren literaturgeschichtliche und theoretische Einordnung veröffentlicht wird. Gemeint ist Guillermo de Torres Literaturas europeas de vanguardia von 1925, «ein Ausnahme-Monument» (Asholt/Fähnders 2000b: 12) allein schon wegen seiner zeitlichen Nähe, aber vor allem wegen seines Untersuchungshorizonts. Denn Guillermo de Torres Studie zeichnet sich dadurch aus, dass sie, und das ist die bereits erwähnte zweite Besonderheit der spanischen Avantgarden, die europäischen Ursprünge ebenso berücksichtigt wie die außereuropäischen Voraussetzungen und Weiterentwicklungen. Auch dies ein Aspekt, der bei der Beurteilung von Max Aubs mexikanischem Blick zurück auf die europäischen Avantgarden zu beachten sein wird. Die Avantgarden in Spanien Auch wenn bereits ab 1908 in Manifesten und Programmschriften in radikaler Weise eine neue Kunst gefordert wird – Filippo Tommaso Marinettis Fondazione e Manifesto del Futurismo vom Februar 1909 erscheint bereits wenige Monate später in der von Ramón Gómez de la Serna herausgegebenen Zeitschrift Pro20
meteo (2, 6, 65–73) –, taucht der Begriff «vanguardia» in Spanien erst 1919 in ästhetisch-theoretischem Kontext auf, und zwar zunächst pejorativ gebraucht von den Gegnern der Ultraisten (vgl. Siebenmann 1984). Ab 1920 wird «vanguardia», in der Folge eines von Guillermo de Torre in Grecia veröffentlichten Manifestes, als Oberbezeichnung für die verschiedenen Ismen der folgenden Jahre gebraucht, insbesondere für den Ultraismus und den Kreationismus. So weit zur Historie des Begriffs in der Zeit der Avantgarden. Heute hingegen wird er in den spanischen und vor allem lateinamerikanischen Literaturgeschichten in erster Linie als Epochenbegriff verwendet, in Abgrenzung von anderen, im Einzelnen benannten Strömungen (Modernismo, Postmodernismo etc.); wegen des hohen Prestiges, das gerade der Modernismo genießt, ist «vanguardia» mithin auch als Sammelbegriff für Autoren und Gruppen gebräuchlich, denen nur nachgeordnete Bedeutung zugeschrieben wird. Die Autoren selbst, die in Spanien zur Zeit der Avantgarden schrieben, vermieden den Begriff, wohl wegen seiner mangelnden Spezifik. Sie bevorzugten die präzise Benennung der Einzelströmung oder Oberbegriffe wie «literaturas experimentales», «los nuevos» oder «arte joven» (vgl. Siebenmann 1984: 63). An dieser Stelle soll nun nicht die schnelle Abfolge von Ismen und ihren Manifesten, die Verbindungen zwischen Gruppen und Strömungen, das Netz von Zeitschriften und Tertulias nacherzählt werden, die in der neueren Sekundärliteratur leicht nachzulesen ist.13 Im Hinblick auf die Analysen des zweiten Kapitels soll aber schon hier hervorgehoben werden, dass 1925 – das Jahr von Max Aubs Debüt – ein Schlüsseljahr für die nach einer Erneuerung des literarischen Ausdrucks strebenden Autoren ist: Louis Aragon hält in der Madrider Residencia de Estudiantes einen Vortrag über den Surrealismus, Rafael Alberti und Gerardo Diego werden mit dem Premio Nacional de Literatura geehrt, und es erscheinen zwei theoretische Schlüsseltexte für die Neubestimmung der Künste in Spanien: José Ortega y Gassets La deshumanización del arte und, wie bereits erwähnt, Guillermo de Torres Literaturas europeas de vanguardia, die zusammen mit El nuevo romanticismo von José Díaz Fernández (1930) zum Verständnis der Literatur und der literaturtheoretischen Reflexion jener Zeit zentral sind. Ortega y Gasset und sein Essay, dessen Positionen Aubs literarische Anfänge und seinen Zugang zum literarischen Feld unmittelbar berührten, werden daher im unmittelbaren Anschluss in diesem Unterkapitel behandelt; das fünf Jahre später entstandene Buch von Díaz Fernández ist Thema des folgenden Kapitels, da es in engem ästhetischen Zusammenhang mit der ersten Ausgabe von Aubs Roman Luis Álvarez Petreña steht [ĺ Kap. II].
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Zur Geschichte der spanischen Avantgarden vgl. die Einführungen von Siebenmann (1982, 1984: 60–66), Weisgerber (1984: 73–91), Ilie in Weisgerber (1984: 427–436). Zur Rolle der Zeitschriften und der Diskussion um Ortegas Essay vgl. Soria Olmedo (1988), Calles (2003b: 91ff.). Zum avantgardistischen Roman vgl. Pérez Firmat (1993), del Pino (1995). Zum Theater der spanischen Avantgarden vgl. Muñoz-Alonso López (2003).
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Die Wirkung, die jene Vorträge und Aufsätze hatten, die Ortega y Gasset unter dem Titel La deshumanización del arte Mitte der zwanziger Jahre zusammenfasste und veröffentlichte, lässt sich nur verstehen, wenn man die machtvolle Stellung des Autors im literarischen Feld berücksichtigt. Die von ihm gegründete Revista de Occidente (1923–1936) nahm unter den zahlreichen Literatur- und Kulturzeitschriften eine herausgehobene Stellung ein, weil sie das Programm der spanischen Öffnung hin zur aktuellen europäischen Diskussion besonders erfolgreich umsetzte. Nur ein Drittel der Beiträger der dreizehn Erscheinungsjahre der ersten Serie waren Spanier, und unter den Ausländern finden sich so wichtige Autoren wie Bertrand Russel, Jean Cocteau, James Joyce sowie besonders viele deutschsprachige Autoren (Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Ernst Kretschmer, C. G. Jung, Georg Simmel) – Ortega hatte 1905 bis 1907 in Marburg, Berlin und Leipzig studiert. Die Revista de Occidente war nicht seine einzige Zeitschriftenoder Zeitungsgründung, als Sohn eines erfolgreichen Verlegers verfügte Ortega über die nötigen Kontakte, um weitere Projekte zu begründen oder zu initiieren (etwa die Zeitschrift España oder die Tageszeitung El Sol), Buchreihen zu gründen (Biblioteca de Ideas del Siglo XX, Nova Novorum) und viele seiner Schüler in Schlüsselpositionen bei Verlagen und Redaktionen zu platzieren. Diese herausgehobene Position Ortegas – der außerdem noch in Madrid eine Professur für Metaphysik innehatte – ist aber nur eine Erklärung für seine enorme Wirkung, hinzu kommt die deutlich am journalistischen Ausdruck sowie an der mündlichen Rede geschulte Rhetorik seiner Texte, die mit plastischen Bildern und pointiert formulierten Thesen den Leser bannen. Die meisten seiner Bücher gingen aus Vortragsreihen und Artikelserien hervor, waren also auf ihre kommunikative Wirkung beim außerakademischen Publikum getestet, bevor sie in Buchform erschienen. So auch die Essay-Sammlung La deshumanización del arte, in der Ortega y Gasset seinen Lesern die neue (abstrakte, abstrahierende) Kunst des 20. Jahrhunderts erklärt und die These vertritt, dass die Kunst des 19. Jahrhunderts unrein gewesen sei, insofern sie weniger von der Form als von der «ficción de realidades humanas» bestimmt gewesen sei; letztlich habe das 19. Jahrhundert gar keine Kunst hervorgebracht: Se comprende, pues, que el arte del siglo XIX haya sido tan popular: está hecho para la masa indiferenciada en la proporción en que no es arte, sino extracto de vida. (Ortega 2005: 55)
Der populären (i. S. v. realistisch orientierten) Kunst für die Masse stellt er die neue Kunst für die Elite gegenüber. Dieser «arte nuevo» verlange den kunstsinnigen Rezipienten, sei letztlich nur für Künstler zu verstehen und habe sich befreit von der im 19. Jahrhundert vorherrschenden Tendenz, den Menschen und das Menschliche («lo humano») darstellen zu müssen – in diesem Sinne sei Gegenwartskunst «deshumanizado». Der Begriff meint also die Loslösung der Kunst vom Gegenständlichen, die Verfremdung des Menschen in der künstlerischen Darstellung, etwa durch die Betonung der eigenen Form des Werks, durch Ironisierung sowie andere autoreflexive oder autoreferenzielle Techniken. 22
Ortegas prägnantes und viel zitiertes Bild hierfür ist die Vorstellung von einem Garten, den man durch eine Scheibe beobachtet: Der Autor des 19. Jahrhunderts hätte diese Szenerie so beschrieben, dass von der Existenz der Fensterscheibe fast nichts zu merken sei, der heutige Künstler hingegen lege es darauf an, gerade die Brechung des Bildes vom Garten im Glas hervorzuheben (Ortega 2005: 53f.). Doch genau diese «Vertreibung des Menschlichen aus der Kunst» (so der Titel der deutschen Übersetzung von Ortegas Schrift), die er als Signatur des «arte nuevo» hervorhebt, wurde nur von wenigen Künstlern tatsächlich realisiert. Das Abrücken von der Subjekt-Perspektive, verstanden als «die Auflösung der figuralen und semantischen Gestalten, wie sie etwa Surrealisten und Kubisten vorgaben» (Gumbrecht 1990: 842), blieb in den spanischen Avantgarden die Ausnahme. Der Blick zurück auf die «deshumanización del arte»: Discurso de la novela española contemporánea «Me eduqué literariamente en el ambiente, digamos, de la Revista de Occidente» (Aub 1967b: 12), schrieb Max Aub rückblickend. Wie wir bei der Darstellung seiner ersten Schritte in Theater, Lyrik und Prosa gesehen haben, entstehen seine ersten Texte deutlich unter dem Einfluss der spanischen wie der europäischen Avantgarden, ohne jedoch einer konkreten Autorengruppe anzugehören oder, und sei es nur zeitweise, in einer Strömung aufzugehen. Er frequentierte mehrere Tertulias in Valencia, Barcelona und Madrid, schrieb für mehrere Zeitschriften mit unterschiedlicher Ausrichtung. Über sich und seine Freunde Juan Chabas und José María Quiroga Plá schreibt er 1955: Ni fuimos del grupo de la Revista de Occidente […] ni del de Juan Ramón, ni del de Alberti, ni de la Residencia […]. Estábamos un poco aparte, sin la personalidad necesaria para ser cabeza de grupo. (Diarios 263)
Auch wenn Aub nicht Teil einer Gruppe war und in gewisser Distanz zu den Netzwerken der Wortführer seiner Anfangsjahre arbeitete, so sah er sich doch als Teil einer übergeordneten Idee. Vor allem als Theaterautor suchte er den Bruch mit der Tradition, ohne aber so weit zu gehen, etwa den Werkbegriff selbst in Frage zu stellen oder die Bühne als Institution. Um die Positionierung seines Werkes im Kontext der historischen Avantgarden besser verstehen zu können, soll nun in einem zweiten Schritt seine eigene Auseinandersetzung mit seinem Frühwerk, seinen Ansprüchen und seinem letztendlichen Scheitern betrachtet werden. Dies soll an Hand seiner diktionalen Texte geschehen, vor allem Essays und Literaturgeschichten, sowie über Interviews, in denen er sich im Nachhinein über diese Phase seines Werkes und über seine Weggenossen äußert. Die Analyse der fiktionalen Texte, die sich der Entstehung, der Wirkung und dem Nachleben der Avantgarden widmen, erfolgt im Hauptteil dieser Studie [ĺ Kap. II]. Auffällig ist, dass Aub vergleichsweise früh den von Ortega vertretenen Elitismus und politischen Absentismus der «neuen Kunst» verabschiedet. Das geschieht einmal ganz praktisch dadurch, dass er 1929 in die Sozialistische Ar23
beiterpartei PSOE eintritt,14 «el único partido hoy y en España que ofrece la posibilidad de un mundo mejor», wie er 1930 bei einem Vortrag in der Madrider Casa del Pueblo über die Ursachen des Ersten Weltkriegs (Los orígenes de la guerra del 14) erklärte.15 Das deutet sich zweitens bereits in seinem Stück Espejo de avaricia an (1925 als Einakter, 1935 als Dreiakter), das in einer Weise spöttisch mit dem Motiv des Geizes umgeht, «que quizá revele las primeras lecturas (o reflexiones) marxistas del joven Aub» (Sireira 2002: 28). Schließlich wird die kritische Distanzierung von der Autonomieästhetik im ersten Teil des Romans Luis Álvarez Petreña manifest, den Aub zwischen Oktober 1932 und Februar 1934 in der Zeitschrift Azor in Fortsetzungen veröffentlichte und im gleichen Jahr 1934 auch als Buch. Hauptfigur ist ein literarisch erfolgloser und lebenspraktisch gescheiterter avantgardistischer Dichter, der sich mit einem Selbstmord aus der Welt verabschiedet, um wenigstens so für einen kurzen Augenblick die Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen zu erlangen. In der Art und Weise, wie dem Leser das Werk des (erfolglosen) Avantgardedichters Petreña vorgestellt wird, steckt eine deutliche Kritik an Ortega y Gassets ästhetischen Vorgaben an die jungen Autoren, weshalb das Buch im folgenden Kapitel Avantgarde der Biographie – (Auto-) Biographie der Avantgarden eingehend analysiert wird. Da Aub die Figur Petreñas zudem in den sechziger Jahren in zwei Fortsetzungen des Buches wieder auftauchen lässt – er belebt ihn als alternden Exilanten in Mexiko (der Selbstmord 1931 war offenbar nur vorgetäuscht), später in England lebend, mit dem er über ihrer beider avantgardistischen Anfänge streitet –, ist das Buch einer der zentralen Brückentexte zum Verständnis der spanischen Literatur zwischen Avantgarde und Exil [ĺ Kap. II]. Im Nachhinein hat sich Max Aub in vielfältiger Weise zu seinen literarischen Anfängen erklärt, nicht nur in Interviews, sondern auch in mehreren Büchern zur spanischen Literaturgeschichte sowie in Essays, in denen er seine ästhetische Position bestimmt.16 So verfügen wir über genügend Material, um mit Hilfe dieser diktionalen Texte seine Positionierung im Kontext der spanischen Avantgarden präzise zu rekonstruieren. Besonders aufschlussreich ist der 1945 in Mexiko erschienene Discurso de la novela española contemporánea (abgekürzt: Discurso), eine Vorarbeit zu der kommentierten Anthologie La prosa española del siglo XIX (1952), die mit kleinen Varianten nochmals als Teil seines Manual de historia de la literatura española (1966, 2007c) erschien.
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Aub selbst gibt an, 1928 eingetreten zu sein (vgl. Aub 2001d: 277), die Biographen finden nur Hinweise auf einen Eintritt ein Jahr später (vgl. zu den unterschiedlichen Daten Rodríguez 2003a: 60). Veröffentlicht wurde der Vortrag unter dem Titel La gran guerra y el socialismo in drei Folgen in der Parteizeitung El Socialista (5.–7.2.1930). Aub erinnert sich, dass er sich in seinem Vortrag im Wesentlichen auf ein in Spanien nicht übersetztes Buch von Ernst Ludwig gestützt habe (vgl. Rodríguez 2003b: 60). So etwa die Bücher La prosa española del siglo XIX (1952) und Manual de Historia de la literatura española (1966, 2007c), oder die Essays El turbión metafíscio und Carta a Roy Temple House in dem Band Hablo como hombre (1967).
Betrachten wir dieses Buch genauer: Entsprechend den literarhistorischen Gepflogenheiten der Zeit gliedert Aub seine Einführung in die spanische (Erzähl-) Literatur seit dem 19. Jahrhundert nach Generationen und nach Namen (der wichtigsten Autoren), beginnend mit der «Generación del 68» (die realistischen Erzähler der zweiten Jahrhunderthälfte Pérez Galdós, Clarín, Pardo Bazán etc.) und endend mit einem Kapitel über die Erzähler nach dem Bürgerkrieg (Hacia un nuevo realismo: Cela, Laforet, Sender, Masip), in dem er sein Konzept eines «realismo trascendente» (Aub 2004: 179) skizziert, das zum Verständnis des Laberinto mágico [ĺ Kap. III] und des Teatro mayor der vierziger Jahre [ĺ Kap. V] sehr hilfreich ist. Eine in spanischen Büchern dieser Art häufig zu findende Kategorisierung lässt sich in der beinahe stereotypen Präsentation der Autoren als Produkt ihrer Region oder Stadt erkennen, von Azorín als Alicantiner, Ayala als Asturier, und bei Miguel de Unamuno wird betont, dass er, obwohl Baske aus Santander, ganz Spanien, wenn nicht Iberien verkörpere: «Es el único, con Galdós, en quien Cataluña, Portugal, Salamanca o Soria dan su nota natural, idéntica y distinta de la de su Bilbao natal. Tanto puede el genio.» (Discurso 102) Diese Betonung des regionalen Umfelds für die intellektuelle Prägung mag auch erklären, warum es für Aub so wichtig war, sich ein Selbstbild als valencianischer Schriftsteller zu konstruieren: In die spanische intellektuelle und künstlerische Tradition kann sich nur einschreiben, so seine Analyse, wer über eine präzise regionalkulturelle Anbindung verfügt. Um dort seinen Platz zu behaupten, erklärt er sich und sein Werk mehrfach über die Wir-Form in zum Teil unserer spanischen Literatur: «Nuestros místicos tenían bien puestos los pies en tierra» (Discurso 126), schreibt er etwa über den tief verwurzelten Realismus selbst der spanischen Mystik. Geistesgeschichtliche Strömungen und deren allmähliche Veränderung bilden für Aub einen wichtigen Hintergrund für die literarische Entwicklung, wobei er politische Ereignisse und deren Rezeption (der Verlust der Kolonien 1898, die Umbrüche während des Ersten Weltkriegs) ebenfalls berücksichtigt. Besonders intensiv werden Benito Pérez Galdós und seine Zyklen historischer Romane analysiert (die für das Laberinto mágico einen wichtigen Bezugspunkt bilden und dem er seinen Roman Las buenas intenciones widmete, ĺ Kap. III), Vicente Blasco Ibañez (aus Verneigung vor dem wichtigsten Erzähler Valencias), Miguel de Unamuno (als Reverenz an dessen Dekonstruktion des Subjekts in Niebla), Federico García Lorca (als derjenige, der wie kein zweiter «lo popular» als Teil der literarischen Hochkultur etabliert habe). Aber auch zu Autoren, mit denen ihn keine ästhetischen Vorlieben verbinden und denen er nicht zu Dank verpflichtet ist, schreibt er sehr persönliche, einfühlsame Seiten, etwa zu Azorín, dessen spezifische «Zärtlichkeit» er betont (116). Zwei Autoren hingegen werden deutlich negativ beschrieben: Ramón Gómez de la Serna (1891–1963), der dezidierteste avantgardistische Praktiker sich beschleunigender Ismen, und José Ortega y Gasset. Gómez de la Serna war mit dem Erscheinen seiner noch im Kontext des Modernismo entstandenen Madrider Glossen (El Rastro, 1915) zu einer lokalen Berühmtheit geworden, schrieb fortan kaum glaubliche Mengen an Rezensionen, Essays, Romanen, Gedichten (insgesamt über 100 Buchtitel), 25
leitete in den zwanziger Jahren eine berühmte Tertulia im Madrider Café Pombo, profilierte sich als avantgardistischer Theoretiker (gesammelt in Ismos, 1943) wie Sprach-Erotiker (Senos, 1917) und war vor allem anderen ein Meister der (medialen) Selbstinszenierung. Allein schon deshalb musste er dem eher zurückhaltenden Aub mindestens suspekt sein; entsprechend bild- und wortreich präsentiert er ihn als hochtourig leerlaufenden Allesverwerter. Der Beginn des Abschnitts über Ramón sei, trotz seiner Redundanzen, ohne Auslassungen zitiert, um die Verve spürbar werden zu lassen, mit der Aub sich dieser Figur nähert: He aquí el monstruo de nuestros tiempos, – gordo y lunático, con patillas y pipas. Que escribe desde la cuna, desordenado y vorazmente, amontonando libros, secretando prólogos y epílogos, hablando de lo que no sabe; lo cual no le importa porque todo es bueno para ir encadenando frases, colgándolas de los balcones de Madrid como si fuesen serpentinas y farolillos venecianos. Frase, y punto y aparte, y a otro borbollón y a otro. Escribe a borbotones; mana por mil ojos. Se da. No tiene tiempo de escoger, ni pulir, ni pensar. Allá va, bomba. Como si tuviera estilográficas en la punta de cada dedo y ninguna se enterara de lo que escribe su vecina. Una cierta fuerza de la naturaleza. No es poeta, aunque expeliendo imágenes. Ser extraño nacido en el Rastro, del Rastro, para el Rastro. En el Rastro de nuestra edad. (Discurso 144)17
An Gómez de la Sernas überragender Bedeutung und Wirkung hat Aub keinen Zweifel («La influencia de Ramón es enorme», 150), aber er wirft ihm vor, erstens das Neue um seiner selbst willen vergöttert zu haben («Nace el mito de ‹Lo Nuevo› […] ‹No debe dejarse nada en lo que es›, escribe como un niño con zapatos nuevos», 150), und zweitens in übertriebener Weise die Form der Literatur über ihren Gegenstand, über die Realität gestellt zu haben: Con él [Ramón] llegamos al nudo del drama vivo de la novela española contemporánea. Veremos enseguida cómo, para Ortega y Gasset, lo primordial vendrá a ser no el paisaje visto a través de una ventana, sino el propio cristal, es decir […] que lo que cuenta en el que cuenta es la manera, la forma y no el cuerpo. (Discurso 147)
Hier ist es wieder, Ortega y Gassets Bild vom Glas, das wichtiger sein muss als die Szene, die man durch es hindurch beobachtet: Da Gómez de la Serna das umsetzt, was man als Ortegas Forderung an den «arte nuevo» abgeleitet hatte, wird er von Aub kritisiert. Dass Ramón in der Tat viel von dem verkörpert und realisiert, was Ortega sich wünscht, ist schon daran abzulesen, dass er in La deshumanización del arte in einem Atemzug mit Proust und Joyce als Überwinder des Realismus genannt ist (vgl. Ortega 2005: 76).
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Mit dem insistierenden Verweis auf den Madrider Flohmarkt El Rastro versucht Aub einen Seitenhieb gegen das Buch gleichen Namens, mit dem Gómez de la Serna der Durchbruch beim Publikum gelungen war. Zugleich richtet sich Aubs Kritik an dieser Stelle implizit gegen ein Element avantgardistischer Kunst, das (montierende, verfremdende, kombinierende) Arbeiten mit dem (Rest-) Material, das die bürgerliche Gesellschaft zurücklässt.
Doch wie ist die Aubsche Tirade gegen Ramón aus heutiger Sicht einzuordnen? Stellen wir seiner bezeichnenden Ablehnung einen Blick auf andere Bewertungen dieses vermeintlichen «monstruo de nuestros tiempos» gegenüber. Von der enormen Menge der Werke Ramóns sind heute vor allem seine Greguerías von Bedeutung, die von ihm erfundene Art des auf metaphorischer Zuspitzung fußenden Aphorismus. Betont und positiv hervorgehoben wird in der Regel seine Rolle als kompromissloser Vorreiter. Gerade seine Radikalität, mit der er die Literatur von der Referenz zum Gegenständlichen befreien wollte, gerade sein Streben nach «destrucción sistemática de todo lo que la tradición y las convenciones literarias ofrecían a comienzos del siglo XX» (Dennis 2005: 543) habe ihn zum wichtigsten Wegbereiter und Vorreiter der Avantgarden in Spanien gemacht. Julio Cortázar schwärmt, dass sein Werk «una lección inigualada de libertad e imaginación» beinhalte. Gómez de la Serna sei «un demoledor Hércules de las letras» (zit. nach Dennis 2005: 543) gewesen, schreibt Ramóns Zeitgenosse Pedro Salinas, ein Lyriker, für den der Respekt vor literarischen Traditionsbeständen nicht per se verdammenswürdig war. In Salinas’ durchaus ambivalent zu lesenden Bewertung klingt das an, was Max Aub nicht akzeptieren mochte: Destruktivität um der Destruktion willen. Mehr noch als an Ramón Gómez de la Serna reibt sich Max Aub an José Ortega y Gasset. Bereits an früheren Stellen im Discurso nahm er Autoren wie Ramón Pérez de Ayala oder Gabriel Miró explizit gegen die Kritik Ortegas in Schutz, und schon die Überschrift zu dem Abschnitt über den wahrscheinlich wirkmächtigsten spanischen Intellektuellen der zwanziger und dreißiger Jahre – La culpa de Ortega (Discurso 151) – spricht für sich selbst. Man muss Max Aubs Discurso als eine Abrechnung mit Ortega und dessen Wirkung auf seine Generation verstehen. Worin besteht nun die «Schuld» Ortega y Gassets? Dreierlei wirft Aub ihm vor: Erstens habe er, seinen persönlichen Elitismus verallgemeinernd, ein falsches Bild vom Verhältnis zwischen populärer Kunst und elitärer Kunst in Spanien verbreitet und durchgesetzt. Heftig widerspricht Aub Ortegas These, wonach in Spanien die Intellektuellen (die Eliten) vom Volk (von der Masse) verachtet würden: «En España es tradicional, inveterado, multisecular el odio al ejercicio intelectual», zitiert er aus Ortegas Meditaciones sobre la literatura y el arte. Demgegenüber macht Aub, der wie Ortega auf Bildungserfahrungen jenseits der spanischen Grenzen zurückgreifen kann, den Vergleich mit Frankreich und Deutschland auf und stellt mit Beispielen aus eigenem Erleben die Gegenthese auf, dass nirgendwo sonst die Intellektuellen so viel Einfluss auf das öffentliche Leben hätten wie in Spanien. Gerade weil Ortega selbst seine Wirkung auf Spanien nicht erkannt habe, habe er sich schuldig gemacht. In seiner elitären Verachtung für den normalen Menschen («hombre medio [… que ] tiene el alma hueca y su única actividad es el hueco», so Ortega) könne er gar nicht erkennen, was die besondere Kraft der spanischen Kunst ausmache, nämlich ihren engen Bezug zum populären, zum kritischen Realismus, den Aub etwa im Lazarillo de Tormes erkennt. Wieviel Herzblut Aubs in der Abrechnung mit Ortega steckt, erkennt man an der szenischen Dynamik, die seine Literaturgeschichte auf die27
sen Seiten gewinnt. Mal spricht er Ortega direkt an (152f.), mal folgen Zitat und Gegenrede, als befände er sich mit ihm in einem Dialog. Heißt es bei Ortega, der «arte nuevo» sei ein «nuevo clasicismo», hält Aub ihm entgegen, dass «en España, el arte nunca ha sido clásico […] sino popular»: «Ni Velázquez, ni Goya, ni Cervantes, ni Lope, ni Arcipreste, ni Santa Teresa, ni Galdós lo fueron sino artistas populares y realistas que llevaron a cabo su obra para un público más amplio que […] en el resto de Europa.» (156) Wenn Ortega also den «arte nuevo» als Kunst für Künstler versteht, nicht verständlich für «hombres en general», wie er in La deshumanización del arte schreibt (Ortega 2005: 52), entspreche das nicht den Lehren aus der spanischen (Kunst-) Geschichte und führe zu einem Kunstverständnis, das zwangsläufig «cada vez más artístico, es decir más hermético, más solitario» (158) werde.18 Zweiter Vorwurf: Indem Ortega das Ende des Romans verkündet habe – «Creo que el género novela […] se halla […] en su último período», zitiert Aub (164) – und diesen Lehrsatz unter den ihn verehrenden jungen Autoren durchsetzte, habe er eine ganze Generation talentierter Erzähler kastriert: «Jarnés, Salinas, Espina, Valentín Andrés Álvarez, y tantos más hubiesen llegado, quizá, a ser novelistas importantes si la ortopedia orteguiana no les hubiese recortado y talado.» (168) Wer aber wie Ortega über Balzac urteile, «que, salvo uno o dos de sus libros, el gran Balzac nos parece hoy irresistible» (165), könne keine glaubwürdige Autorität sein.19 Gleichwohl habe sich Ortega mit seinem formalistischen Literaturverständnis («lo importante no es lo que se ve, sino cómo. Es decir retórica, la forma», 169) bei den Jungen durchgesetzt, mit dem Ergebnis, dass letztlich sterile narrative Kleinformen gepflegt worden seien. Das Resultat sei eine Literatur gewesen, die Aub als «cagarrita literaria» abqualifiziert:
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Aubs Kritik an Ortegas Wirken und Wirkung wird im Kern von anderen Autoren geteilt. Einige der von Ortega gerne kräftig formulierten Thesen «se sont révélées fausses», und seine beschreibend intendierte Kategorie der «deshumanización» «fut comprise de façon négative, surtout en Espagne» (Siebenmann 1984: 64). Der Begriff «deshumanización» konnotiere bereits eine «Verweigerung» dessen, was er beschreibt, nämlich «Abschied von Gestalt und Subjektivität» (Gumbrecht 1990: 842), eine Distanznahme, die bezeichnend sei für die Mehrzahl der spanischen Intellektuellen. – José Manuel López de Abiada hingegen betont in seiner Ortega-Lektüre (aus der Perspektive von José Díaz Fernández), dass «esa influencia proviene en primer lugar de una mala interpretación del ensayo orteguiano» (1985: 16). Aub wäre nach dieser Lesart zu denjenigen zu zählen, die Ortegas Essay fälschlich als Programmschrift lesen (anstatt als Bestandsaufnahme) und nachfolgend seine direkte Wirkung überschätzt hätten. Das Zitat ist vergleichsweise dezent gewählt, wenn man den ganzen Abschnitt in dem Aufsatz Ideas sobre la novela (1925) betrachtet, wo Ortega Balzacs Werk als konventionell, falsch und schlicht inakzeptabel bezeichnet: «La verdad es que, salvo uno o dos de sus libros, el gran Balzac nos parece hoy irresistible. Nuestro aparato ocular, hecho a espectáculos más exactos y auténticos, descubre al punto el carácter convencional, falso, de à peu près, que domina el mundo de La Comedia Humana. Si se me pregunta por qué la obra de Balzac me parece inaceptable (Balzac mismo, como individuo, es un ejemplar magnífico de humanidad), responderé: Porque el cuadro que me ofrece es sólo un chafarrinón.» (In: Obras completas, Madrid, 1947, vol. 3, S. 390)
Nació lo que en alguna tertulia madrileña se dio en llamar: «cagarrita» literaria. Entendíase por ello una obra cortísima parida con dificultad, exquisita en el coger de sus adornos, difícil de comprender a primera vista, disfraz de ideas ingeniosas y sin trascendencia y considerada como meta última de los esfuerzos de su jóven autor. (Discurso 171)
In Max Aubs Augen ging José Ortega y Gasset von einem falschen Bild der spanischen Kultur aus, verschrieb sich wie Ramón zu einseitig dem Neuen und behinderte durch seine Urteile, die dank seines Status im literarischen Feld die Wirkmacht unumstößlicher Wahrheiten erlangten (vgl. Discurso 164), die produktive Weiterentwicklung der spanischen Erzählliteratur. So weit die ästhetische Abgrenzung. Zudem gibt es aber noch einen menschlichen und einen politischen Aspekt, der die Vehemenz dieser ästhetischen Zurückweisung erklären kann. Zunächst zur menschlichen Seite: Max Aub hatte zwar 1927 Auszüge seiner Erzählung Geografía in der Revista de Occidente veröffentlichen können, doch seine Erzählung Fábula verde wurde des Erscheinens in der Buchreihe Nova Novorum, die der Zeitschrift angeschlossen war, nicht für würdig befunden. Noch wichtiger dürfte die politische Distanz zwischen den beiden gewesen sein: Während Aub sich als PSOE-Mitglied ganz der demokratischen Sache und der Zweiten Republik verschrieb, hielt Ortega bald kritischen Abstand zur neuen Regierung. Während für Aub eine Rückkehr ins franquistische Spanien bis in die siebziger Jahre undenkbar war und in den vierziger Jahren erst Recht völlig ausgeschlossen, kehrte Ortega 1945 zurück und verschaffte dem Regime so einen Prestige-Erfolg, konnte es doch die Rückkehr des berühmten Philosophen als Bestätigung seiner gern behaupteten kulturellen Strahlkraft darstellen. Zwischen Madrid und Lissabon pendelnd, versuchte Ortega dabei zu sein in Francisco Francos «neuem Staat» und zugleich Distanz zu wahren. In einer beinahe verzweifelten, wahrscheinlich kurz vor der Veröffentlichung von Discurso angefügten Fußnote verweist Aub auf eine Vortragsreihe, die Ortega in diesem Jahr (1945) in Lissabon «bajo la presidencia del agregado cultural adjunto de la embajada franquista» an der dortigen Universität gehalten habe: «Tema: el de siempre: Posición del intelectual frente al mundo moderno. Es decir: sus reconcomios.» Eine Zusammenfassung des Textes sei nicht nötig, der einzig neue Aspekt sei, «que en el primer cuarto de siglo los intelectuales tuvieron gran influencia, que hoy se les escapa […] Y volvemos a la incomprensión del mundo, la bancarrota de la razón, y de la fe.» (Discurso 161) Für den liberalen Sozialisten Aub ist es nicht nur politisch unverständlich, wie der Konservative Ortega den Ausgleich mit dem menschenverachtenden FrancoSystem suchen kann (und das zu einer Zeit, als es weltweit isoliert ist), er kann auch nicht verstehen, wie man aus eigenen Fehleinschätzungen über historische Entwicklungen so wenig zu lernen vermag. Im Abschnitt über Ortegas geistesgeschichtliche Prägungen knüpft Aub eine Verbindung zwischen Ästhetik und Politik, die auf den ersten Blick mindestens gewagt erscheint: Beim Blick auf das surrealistische Manifest von 1924 kann er nicht anders als einen Bezug zwischen dem anti-rationalen Denken der Surrealisten und den Gedankengängen Adolf Hitlers in Mein Kampf erkennen. Er zitiert aus dem Manifest, das unter anderem die «écriture automatique» un29
ter Ausschluss der Ratio propagiert: «‹Dictado del pensar con ausencia de todo control ejercido por la razón y al margen de toda preocupación estética o moral.› Es curioso hacer resaltar que coincide, en el tiempo, con la germinación de Mein Kampf.» (Discurso 162) Dieses Ausschalten der rationalen Kontrolle, die Ablehnung der Ratio als produktiver Kraft ist es, die Aub als Grundprinzip nicht akzeptieren kann, nicht in der Kunst und schon gar nicht in der politischen Praxis – dazu später mehr. An dieser Stelle ist es vor allem aufschlussreich zu sehen, wie er nun Ortega wieder ins Spiel bringt. Aub betont zwar, dass es keine genuine Affinität zwischen Surrealismus und Faschismus gebe und Ortega sicher kein Vorkämpfer des Surrealismus gewesen sei; aber seine theoretischen Gedanken seien «empujados por los idénticos motores» wie die der Surrealisten. Aub, der sich als Humanist und die Ratio als Kern des Menschseins versteht, erklärt Ortega, den Theoretiker der «deshumanización del arte», zum Zersetzer des Glaubens an die Ratio. In einem Atemzug ist Ortega damit ästhetisch und politisch angegriffen. Fantasmas de la novela y hoyanca de la generación del 31 lautete die Überschrift zu diesem Abschnitt im Discurso (151), womit die ästhetische mit der politischen Isotopieebene bereits verschränkt ist: In ein «Massengrab» («hoyanca») habe Ortega die spanischen Erzähler geführt, was vordergründig die verhinderte Entfaltung vieler junger Autoren als Erzähler durch Ortegas Verdikte über den Roman meint, aber auch die physische Marginalisierung einer ganzen Generation von Schriftstellern, deren Mehrzahl ins Exil gehen musste und, anders als Ortega, in Franco-Spanien durch die Zensur totgeschwiegen wurde. Die Rede vom «Totschweigen» ist an dieser Stelle keine erstarrte Metapher, da es in den vierziger Jahren erklärtes Ziel der franquistischen Kulturpolitik war, die Existenz eines intellektuellen Exils zu leugnen (vgl. Abellán 2001) und auf diesem Weg der physischen Eliminierung eine aus der Kulturgeschichte folgen zu lassen. Die Zuspitzung in dem Wort «hoyanca» ist mehr als ein rhetorischer Effekt, weil sie nicht nur auf den Zusammenhang zwischen physischer und intellektueller Vertreibung oder Vernichtung hinweist, sondern auch besser verständlich macht, warum Max Aub – vertrieben aus Spanien, zwei Jahre inhaftiert in Konzentrationslagern, als Jude bedroht von der Deportation nach Deutschland – sich an dem in seinen Augen wirklichkeitsfremden Denken Ortegas und an der frivol den Wert demokratischer Freiheiten verachtenden Geschwätzigkeit Ramóns abarbeiten muss. Nicht umsonst lautet das von Ramón del Valle-Inclán entlehnte Motto seines Discurso «El furor ético es la característica de España» (51). Es sei ein unhintergehbarer Drang zum Ethischen, der der spanischen Kultur noch in ihren größten Krisen eine Erdung gegeben habe: «[…] siempre nos sostuvo cierto furor ético incompatible con el desentenderse del mundo: Nuestros místicos tenían bien puestos los pies en tierra.» (Discurso 126) Wer diese ethische Erdung der spanischen Kultur übergeht wie Ortega oder sie verspottet wie Ramón, den muss Aub attackieren. In der Verve seines Essays wird in zweierlei Hinsicht deutlich, wie sinnvoll es ist, «Literatur in ihren unterschiedlichsten Schreibformen als ein sich wandelndes und interaktives Medium von Lebenswissen» (Ette 2004: 13) zu betrachten. Einerseits erkennt Aub in Ortegas Lektüre der spani30
schen Literatur deren spezifisches Lebenswissen nicht wieder: Weil das Konzept der «deshumanización» im Kern die Austreibung des Lebenswissens aus den Künsten verfolge, sei es nicht zur Beschreibung der spanischen Literatur mit ihrer kritisch-realistischen Tradition geeignet. Anderseits verdichtet sich in der Vehemenz der Rede von der «hoyanca» sein «ÜberLebenswissen», weil Aub als Ausgeschlossener, als Inhaftierter, als Verfolgter, als zeitweise von der physischen Auslöschung Bedrohter nicht bereit ist, die Exklusionsrhetorik in Ortegas kunstästhetischem Essay getrennt von seinem «Erlebenswissen» zu betrachten. An dieser Stelle des Discurso fließen literarhistorisches Wissen und überlebenspraktisches Wissen zusammen – und stellen sich gegen Ortega y Gassets «desentenderse del mundo». Es geht hier nicht darum, die Urteile Aubs im Hinblick auf ihre faktische Richtigkeit zu diskutieren; da in ihnen ästhetische, politische und ethische Argumente zusammenfließen, wäre ein Fazit in den Kategorien von «wahr vs. falsch» der Dimension des diskursiven Kontextes nicht angemessen. Vielmehr sollen sie als signifikante Stellungnahmen zu den die spanischen Avantgarden prägenden Positionen gelesen werden und in einem zweiten Schritt als Hinweis auf ein in inkorporiertem Wissen gründenden Denken, das als die besondere Signatur von Aubs Schreibweise gelten kann. Wenn er über Literatur schreibt wie im Discurso, wird daraus «leibhaftige Literaturwissenschaft» (Ette 2004: 123). Die Erfahrung des faschistischen Totalitarismus am eigenen Körper ist für ihn nicht zu trennen von der rückblickenden Beurteilung der ästhetischen Diskussionen der zwanziger Jahre. Und es fällt auf, gerade in der Auseinandersetzung mit dem «Europäer Ortega», wie Aub seine theoretisch wie lebenspraktisch inkorporierte Kenntnis der französischen und deutschen Kultur stark macht. Wenn Ortega sich beklagt, die Intellektuellen würden nicht genug geschätzt, hält Aub ihm spöttisch entgegen, er vermisse doch nur «que ni le hicieran tiernas caravanas académicas a lo francés, o porque faltara cierta rigidez profesional germánica en las reuniones» (Discurso 153). An anderer Stelle, wenn Ortega die Unfruchtbarkeit der spanischen Erzählliteratur beklagt, die sich von «la sangre misma del lenguaje artístico» (157) entfernt habe, stellt Aub dieser Sichtweise die schon seinerzeit so produktiven lateinamerikanischen Autoren entgegen: «No se dan, durante este período, en España novelistas de la fuerza y de la importancia de Rómulo Gallegos, Eustaquio Rivera, Mariano Azuela und Martín Luis Guzmán.» (Discurso 157). Aub hält der iberischen Literatur, speziell ihrem Präzeptor Ortega, den Spiegel der lateinamerikanischen vor und stellt, sich abgrenzend von dem bei den Schriftstellern und Philosophen seiner Generation weit verbreiteten Panhispanismus (vgl. Rehrmann 1996), die lateinamerikanischen Autoren als den spanischen grundsätzlich ebenbürtig dar. Doch bleibt es nicht bei diesem bipolaren Bild, dem man vorwerfen könnte, dass es im Dienst rhetorischer Pointierung steht. Am Ende seiner Ausführungen in Discurso, im Abschnitt über die neuen Erzähler nach dem Bürgerkrieg, erkennt Aub bei den wenigen nennenswerten spanischen Autoren (unter anderem Camilo José Cela) eine neue Spielart des Realismus «que un crítico mexicano adjetivó trascendente, a mi juicio con acierto». Bezeichnend ist die Liste der Werke, die 31
Aub mit dieser Strömung in Verbindung setzt: «La vorágine [Horacio Quiroga], Las uvas del rencor [John Steinbeck], Los de abajo [Mariano Azuela], Les voyageurs de l’impériale [Louis Aragon], L’Espoir [André Malraux] tienen algo de vivido, de periodístico, de humano, de personal, de cotidiano; y nadie las podría confundir con las realizaciones del realismo del siglo XIX.» (Discurso 179) Aubs Argumentation und Aufzählung bleibt also nicht bei einer gewissermaßen interkulturellen Gegenüberstellung stehen, sie nimmt nicht einfach eine neue, transatlantische Position ein und blickt, nunmehr auf mexikanische Texte rekurrierend, auf Spanien zurück. Stattdessen setzt er den Begriff «realismo trascendente» des mexikanischen Kritikers in Bezug zur spanischen Literatur, zur französischen, kolumbianischen, guatemaltekischen und US-amerikanischen, womit er Vektoren einer neuen literarischen Kartierung markiert, die sich nicht an den hergebrachten Grenzen von Nationalliteraturen oder hemisphärischen Konstruktionen orientiert. Diese Art der Vernetzung von Wissensbeständen, Ausdruck von Aubs transkultureller Arbeits- und Denkweise, wird im Abschnitt über sein Schreiben im Exil ausführlicher behandelt [ĺ Kap. V]. Der Weg von der vanguardia zur avanzada Fassen wir das bisher Gesagte zusammen: Max Aubs Anfänge in den zwanziger Jahren sind nicht zu trennen von der theoretischen Diskussion und der diskursiven Praxis der avantgardistischen Strömungen jener Zeit – selbst wenn er sich, wie die Analyse seines Discurso de la novela española contemporánea gezeigt hat, später sehr kritisch über Theoriebildung und literarische Praxis der spanischen Avantgarden äußerte, auch wenn er, wie wir im kommenden Kapitel sehen werden, bereits in seiner Prosa der dreißiger Jahre die avantgardistischen Schreibweisen kritisierte und modifizierte. Sein bevorzugtes Arbeitsfeld als Erneuerer war das Theater, wo er jedoch in Ermangelung namhafter Bühnen, die sich der dramatischen Avantgarde geöffnet hätten, nicht reüssierte. So bleibt der Analyse der Stücke allein die von Aub als «unvollständig» apostrophierte Rezeption als Lesedramen, bei denen die Tendenz auffällt, verschiedene Genres zu hybridisieren (etwa Farce und Melodram), die Möglichkeit intersubjektiver Kommunikation in Frage zu stellen, sowie durch fiktionsironische Verfahren (Lichtregie, Aufhebung der Grenze zwischen Bühnen- und Zuschauerraum) das Theater zum Publikum hin zu öffnen. In der Prosa kann man eine äquivalente Vorgehensweise erkennen, nämlich durch die Kombination mit graphischen Elementen die Gestaltungs- und Wirkmöglichkeiten des Textes zu erweitern. Zum Text tritt mit dem Ikonotext ein weiterer semantischer Code. Was Max Aub von vielen Avantgarden der zwanziger Jahre trennt ist sein affirmatives Verhältnis zur spanischen Tradition und sein Festhalten an der Überzeugung, dass die Kunst an die Ratio rückgebunden bleiben muss. Damit grenzt er sich vor allem vom Surrealismus ab. Die Tradition der spanischen Literatur begreift er als eine genuin realistische, die vom Lazarillo de Tormes und den Mystikern über Francisco Goya bis zu Ramón del Valle-Incláns Esperpentos reicht. Diese Traditionslinie, vor allem die Bandbreite an möglichen Realismen, den sie 32
bezeichnet, ist ihm ein höherer Wert als der demonstrative Traditionsbruch. Bezüglich seiner rationalistischen Maximen schrieb Aub 1972 rückblickend: «[…] mis piezas se le pueden parecer surrealistas por fuera, pero yo era demasiado racionalista, demasiado español20 para que esta anarquía irracional fuese mía.» (Aub 1972: 38) Erinnern wir uns an seine frühe Lyrik: In seinen Poemas cotidianos verbinden sich neopopuläre Ansätze mit Verfahren der Modernisten, aber sie verschreiben sich nicht dem Surrealismus. Aus Sicht der (surrealistischen) Avantgardisten Luis Buñuel und Salvador Dalí wären sie ebenso als «podrido» zu schmähen wie García Lorcas Primer romancero gitano. Letztlich steht Aub in einer Zwischenposition, er will ein Revolutionär des Theaters sein, seine literarische Praxis aber entwickelt sich evolutionär – verglichen mit Ramón wirkt er beinahe wie ein Traditionalist. Mit dieser Zwischenposition ist Aubs Haltung aber keineswegs untypisch für die spanischen Verhältnisse, wie man aus der Beurteilung Hans Ulrich Gumbrechts ableiten kann: […] la demanda de una ruptura radical con los principios tradicionales de la representación nunca fue una cuestión tan crucial para los poetas y artistas españoles de aquella época como lo fue para los distintos movimientos surrealistas en Europa […]. (Gumbrecht 2005: 21)
Es seien nur wenige gewesen, die zeitweise den von Ortega propagierten Weg der «deshumanización» eingeschlagen hätten, da dieser ein Verlassen der SubjektPerspektive bedeutet habe, mithin «die Auflösung der figuralen und semantischen Gestalten, wie sie etwa Surrealisten und Kubisten vorgaben» (Gumbrecht 1990: 842).21 Von dieser Warte aus betrachtet scheint Aub, mit seiner zwischen Sehnsucht nach Revolution und Bewahrung der Tradition oszillierenden Praxis, sich in einem Zwischenraum zu bewegen, der für die spanischen Avantgarden durchaus charakteristisch ist. Umgekehrt müsste man Ramón Gómez de la Serna aufgrund seiner Radikalität als untypisch für die spanischen Avantgarden bezeichnen – gerade weil er ein prototypischer Avantgardist im Sinne Ortegas ist. Die intellektuelle Vermessung von Räumen, die zwischen den Extremen liegen, lässt sich bei Aub auch in den dreißiger Jahren beobachten. Nun stand die Alternative zwischen arte puro und engagierter Literatur auf der Tagesordnung,
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Es ist bezeichnend, dass Aub hier mit einer spezifisch spanischen Rationalität argumentiert, wo es doch in der von französischen Ismen geprägten Kulturgeschichte jener Zeit üblich ist, Spanien mit dem Irrationalen zu verbinden. Wieder wird erkennbar, wie er «lo español» als positiven Wert anführt, in diesem Fall als Antidot gegen die «irrationale Anarchie» des Surrealismus, wobei aber das, was er als spanisch definiert (der Rationalismus), nicht mit den gängigen Fremd- oder Selbstzuschreibungen korrespondiert. Zu ähnlichen Schlüssen bezüglich der Wirkmacht der Kontinuität kommt Gustav Siebenmann in seiner Darstellung der Lyrik der spanischen Avantgarden (vgl. Siebenmann 1982, 1985). Ein Grund hierfür dürfte – neben den seit dem Goldenen Zeitalter prägenden barocken Stilformeln – auch in der bereits seit dem 18. Jahrhundert vorherrschenden Verknüpfung von Fragen des literarischen Ausdrucks mit denen der nationalen Identität liegen (vgl. von Tschilschke 2009: 65–99).
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und vergleichbar dem von José Díaz Fernández propagierten Konzept der literatura de avanzada sucht er einen Mittelweg zwischen den sich gesellschaftlich isolierenden Avantgarden und einer hinter die formalen Innovationen der Avantgarden zurückfallenden novela social [ĺ Kap. II].
Max Aub und die spanische Literatur zwischen Avantgarde und Exil Der Begriff des Exils Vertreibung und Exil sind Phänomene, die das 20. Jahrhundert massiv und weltweit geprägt haben. Politische Grenzziehungen produzierten neue nationale Identitäten (in jüngster Zeit auf dem Balkan, zu Beginn des Jahrhunderts im Nahen Osten), sogenannte ethnische Säuberungen exekutierten die jeweilige Idee vom homogenen Staatsvolk, während zahlreiche Bürgerkriege unter anderem als Rebellion gegen solcherart willkürliche Identitätssetzungen zu verstehen sind. Nicht mehr Nationenkriege, sondern kleine Kriege, so bezeichnete neue Kriege, asymmetrische Kriege oder Söldnerkriege drücken unserer Zeit ihren Stempel auf, gewaltsame Konflikte an der Schnittstelle zwischen sozialer Ungleichheit und massenhafter Migration, postkolonialer Emanzipation und ökonomischen Interessen in globalisierten Wirtschaftsräumen, Konflikte zwischen Ethnien, Ideologien und Religionen. (Bandau/ Buschmann/v. Treskow 2008b: 7)
Die so in Gang gesetzte massive Mobilität von Subjekten und Kulturen ist in den Kulturwissenschaften inzwischen zum Leitthema geworden, angeregt auch durch die cultural studies in der angelsächsischen Forschung, wo das Nachdenken über und in den Kategorien von «DissemiNation» (Homi Bhabha) sich schon in den neunziger Jahren durchgesetzt hat. In diesen Forschungszusammenhängen gilt der statische Begriff der Nation, der mit seinen starren Konnotationen (Nationalvolk, nationale Werte, Raum der Nation etc.) in Krisensituationen Exile gleichsam automatisch generiert, als überholt. Dennoch wird in dieser Arbeit mit dem Terminus «Exil» operiert und nicht mit neueren Oberbegriffen wie «Migration» oder «cultural mobility»: Weil die politischen Implikationen, die der ältere Begriff neben anderem auch vermittelt, dem Ausschluss adäquat ist, den die Anhänger der spanischen Republikaner ab den dreißiger Jahren erfuhren. Insofern respektiert die Kategorisierung der hier gewählten Analysesprache die Kategorien der historischen Gegenstandsebene. 22
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Zum Zusammenhang zwischen nation-building und Bürgerkrieg sowie zur Problematik des Forschungsgegenstands Bürgerkrieg und der Frage, inwiefern es sinnvoll ist, trotz aller methodischen Vorbehalte an hergebrachten Benennungen festzuhalten («Bürgerkrieg» statt «kleine Kriege» oder «neue Kriege») vgl. das programmatische Vorwort von Bandau/Buschmann/v. Treskow (2008b: 7–18).
Ausschluss und transkulturelle Identitätsbildung Das heißt jedoch nicht, dass die Erkenntnisse und Differenzierungen der neueren Forschung unberücksichtigt blieben. Vielmehr wird die Analyse von Max Aubs Reflexion über Ausschluss, Verfolgung und Vertreibung zeigen, dass die in seinen Essays und in seinen fiktionalen Werken zu findenden Konzepte so innovativ waren, dass sie in Teilen als Vorüberlegungen oder Exemplifizierungen heutiger Ansätze gelesen werden können. In oft konfliktiver Selbstpositionierung gegenüber der im republikanischen Exil intensiven Diskussion über den Status des Exilanten entwickelte er Bilder und Vorstellungen, die, wie zu sehen sein wird, über seine Zeit und seinen historischen Kontext hinausweisen. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Texte liegt in der Tatsache, dass in seinem Fall das Exil als Republikaner, die Verfolgung als (vermeintlicher) Kommunist, die Bedrohung seiner physischen Existenz aufgrund seiner jüdischen Vorfahren und seine Vertreibung aus Europa nicht die erste Erfahrung von Differenz und Ausschluss waren, die er in seinem Leben machte. Wie in der einleitenden biographischen Skizze erwähnt, wurde Max Aub bereits als Kind dazu gezwungen, seine bis dahin als selbstverständlich empfundene Kultur zu verlassen. Seine Einschreibung in die spanische Kultur erfolgte als bewusste «prise de position» (Pierre Bourdieu), die er nach 1939 immer wieder erneuerte und differenzierte [ĺ Kap. V], obwohl er an deren Folgen bis zum Ende seines Lebens litt. Denn häufig machte er im Exil die Erfahrung, dass er nicht auf ähnlich selbstverständliche Weise als Spanier wahrgenommen wurde wie die anderen republikanischen Schriftsteller und Intellektuellen in seiner Umgebung, und auch die Rezeption seines Werkes blieb von dieser Distanz nicht unberührt. Als Randständiger unter Ausgeschlossenen, als Verfechter des Mittelwegs in ästhetisch wie ideologisch polarisiertem Umfeld war er zu Lebzeiten häufig kein Autor für das breite Publikum [ĺ Kap. VI]. Wie sonst hätte ein Francisco Umbral, immerhin 2001 ausgezeichnet mit dem renommiertesten spanischen Literaturpreis Premio Cervantes, Anfang der neunziger Jahre darauf kommen können, Aub in einem essayistischen Überblick über die spanische Literatur fälschlich als «viajante de comercio suizo» einzuführen, nur um als finales ästhetisches Urteil hinzuzufügen, er habe so geschrieben, wie man es von einem Schweizer Handelsvertreter erwartet. Schlecht natürlich, denn, so insinuiert Umbral, wie soll ein Nicht-Muttersprachler gute spanische Literatur zustandebringen? 23 Die existenziellen Alteritätserfahrungen, die Aub von Kindheit an machte, sorgten dafür, dass er nach 1939 wenig anfangen konnte mit Diskussionen über die Frage, ob die Republikaner im Exil sich als «exiliados», «expatriados», «refugiados», «desterrados» oder gar «desarraigados» bezeichnen sollten (vgl. Aznar Soler 2003a). Ein kultureller Nationalismus, der «patria» generisch mit «tierra» verknüpft, der mit der statischen Metapher der «Wurzel» operiert, war ihm
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Franciso Umbral: Las palabras de la tribu (De Rubén Darío a Cela). Barcelona 1994: 322, zit. nach Aznar (1995: 55f.).
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fremd, weil der kulturelle Essentialismus, der hinter diesen Begriffen steht, nicht seiner Lebenserfahrung entsprach. Für ihn war die Teilhabe an Kulturen nur im Plural zu denken, weil die spanische nur eine seiner Kulturen war. Daher seine Aufmerksamkeit für die transkulturelle Dynamik zwischen mehreren Kulturen, für wechselseitige Befruchtungen, für (sprachliche wie kulturelle) Übersetzungsbewegungen. Ausdruck dieses Denkens in beweglichen und wechselseitig operierenden Figuren ist der von seinem Freund José Gaos eingeführte Begriff des «transterrado», den Aub für seine Situation bevorzugte und der auf den gleichen Theoremen fußt wie das Konzept des «transnationalism» der postmodernen cultural studies: Reflexion von Identität jenseits nationalstaatlicher Grenzziehungen, Betonung von Dynamik statt Statik, von transkultureller statt bipolarer Perspektive (vgl. Jameson 1993).24 Solche theoretischen und methodengeschichtlichen Fragen werden vor allem in dem Kapitel V Ausgeschlossen Schreiben behandelt. Im Fokus der Analyse steht dort, neben Aubs Zeitschriftenprojekten, La gallina ciega, das literarische Tagebuch von Aubs erster Reise zurück nach Spanien, die er Ende der sechziger Jahre unternahm. Die Rückkehr bzw. die Unmöglichkeit der Rückkehr als das eigentliche Problem des Exils, dieser Problematik hatte er sich zuvor in Erzählungen wie El remate und in einer Serie von Theaterstücken mit dem bezeichnenden Titel Las vueltas gestellt. Weitere Schwerpunkte dieses Kapitels sind die Verarbeitung der Inhaftierung in südfranzösischen Konzentrationslagern in den Stücken des Teatro mayor sowie in der Erzählung Manuscrito cuervo. Historia de Jacobo, die das «univers concentrationnaire» im Sinne Giorgio Agambens (2002) als Instrument zur Reduktion der menschlichen Existenz auf das «nackte Leben» darstellt. Dort findet sich auch die Fortsetzung der biographischen Skizze ab den vierziger Jahren, mit der diese Einleitung begann. Inwieweit die Erfahrung des Exils und die Auseinandersetzung mit der Avantgarde im Werk Max Aubs miteinander verknüpft sind und inwieweit diese Verbindung Rückschlüsse erlaubt für das Verständnis der spanischen Literatur seiner Zeit, wird jedoch in jedem Kapitel wieder neu zu stellen und anhand der Analyse ausgewählter Texte zu beantworten sein.
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Zur Theorie des Exils vgl. Kaminsky (1999), McClennen (2004); zum spanischen Exil vgl. Abellán (2001), Ugarte (1985b), Faber (2002a), Aznar Soler (2006).
II.
Avantgarde der Biographie – (Auto-) Biographie der Avantgarden
[‹Aub›]: – No escribo memorias. [Petreña]: – Inventas las mías. (Petreña 203)
Biographien als Thema der Avantgarden Biographische Texte bilden einen roten Faden durch das Werk Max Aubs, beginnend mit seinem ersten Roman Luis Álvarez Petreña, endend mit dem letzten literarischen Projekt Luis Buñuel. Novela. Vor allem aber sind beide Bücher Biographien von Vertretern der historischen Avantgarden. Als solche bieten der Romanerstling vom Anfang der dreißiger Jahre und sein letztes, unvollendet gebliebenes Buch einen guten Einblick in Aubs Selbst-Verständnis als Teil dieser Strömung, in deren Umfeld er seine ersten Texte veröffentlicht hatte [ĸ Kap. I]. Bezeichnenderweise arbeitete Aub an dem Buch über seinen Freund Buñuel unter dem Arbeitstitel Luis Buñuel. Novela:1 Die Identität zwischen der Figur ‹Buñuel› und dem Regisseur von Las Hurdes, Los Olvidados oder Tristana, so der Hinweis dieses Paratextes, sollte offenbar nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden können. Parallel zu den Recherchen an dem Buñuel-Buch beendete Aub die dritte und endgültige Fassung von Vida y obra de Luis Álvarez Petreña (1971), der Biographie eines beinahe gleichaltrigen Schriftstellers, ergänzt um autobiographische Schriften und einige literarische Zeugnisse des Autors. Luis Álvarez Petreña war ungeplant zu einem Langzeitprojekt geworden, denn bereits 1934 und 1965 hatte Aub Bücher gleichen Titels veröffentlicht, die den jeweiligen Stand seiner Recherchen zu diesem am Leben und der Literatur leidenden Autor der Avantgarden aufarbeiteten. Die genannten Biographien von Avantgardisten sind bei Weitem nicht seine einzigen Texte, die das Nach-Leben der Avantgarden umkreisen. Außerdem zu nennen wären die zahlreichen Porträts oder Nachrufe, die Aub in großer Zahl über Freunde und Kollegen in Zeitschriften veröffentlichte und von denen einige zuletzt unter der spanischen Genrebezeichnung «semblanzas»2 in einer kommentierten Edition zusammengestellt wurden. Aub schrieb sie für Zeitun-
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Vgl. Álvarez in Buñuel (9) sowie Sánchez Vidal (1996b: 755): Die Idee zu dem Buch über Luis Buñuel stammte von Antonio Ruano, dem Leiter des Madrider Verlages Aguilar. Der Verlagsvertrag wurde am 22.10.1968 geschlossen und sah neben einem Vorschuss monatliche Zahlungen für ein gutes Jahr vor. Die Definition des DRAE lautet: «bosquejo biográfico». Zur mittelalterlichen Tradition dieser Subgattung vgl. die Einführung von José-Carlos Mainer in der posthumen Edition der Aubschen «Lebensbilder» unter dem Titel Cuerpos presentes (Segorbe 2001).
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gen und Zeitschriften. Es sind diktionale Texte mit der eindeutigen Pragmatik, Leben und Werk befreundeter oder aus der Distanz respektierter Künstler zu würdigen. Apokryphe Biographien hingegen präsentiert der Gedichtband Antología traducida (1965), ein von Aub edierter und übersetzter Überblick über die wichtigsten Dichter der Welt, die er in einer Auswahl von Gedichten und mit kurzen biographischen Einführungen vorstellt. Die meisten von ihnen sind aber erfunden, ebenso wie der katalanische Maler Jusep Torres Campalans, dem Aub in dem gleichnamigen Buch von 1958 als Miterfinder des Kubismus ein intermedial flirrendes Denkmal setzte. Alle diese Texte sind nicht nur als (fiktionale) Biographien, sondern auch als autobiographische Befragungen zu lesen. Weniger fragend als fordernd und anklagend ist der letzte hier zu nennende Text, Max Aubs Antrittsrede zum Eintritt in die (nun nicht mehr «königliche») Academia Española mit dem Titel El teatro español sacado a luz de las tinieblas de nuestro tiempo por Max Aub, veröffentlicht 1971, angeblich gehalten 1956. Kurz vor seinem Tod imaginiert sich der Autor ein Spanien, in dem die Republikaner den Bürgerkrieg gewonnen haben, wo die Dichter seiner Jugend als würdig gealterte Größen in der Akademie den Ton angeben und ihn als Dramatiker in ihren Kreis gewählt haben. Eine Autofiktion im Sinne Gérard Genettes, die im Modus der Uchronie die Frage stellt, in welcher Weise die Avantgarden gealtert sind.3 Alle diese Bücher, die an der Schnittstelle zwischen Fiktion und Diktion, Kunst und Leben, Wahrheit und Fälschung balancieren, beinhalten dreierlei: Erstens explizit biographische Texte über Dritte (außer Discurso Academia) und zweitens implizit autobiographische Spiegelungen des Autors, seines Werks und insofern metaliterarische Selbstbefragung. In der Summe erwächst aus diesen Büchern schließlich (drittens) eine (Auto-) Biographie der spanischen Avantgarden aus der Perspektive des mexikanischen Exils.4 Zur Vorgehensweise: Dieses Kapitel widmet sich eingehend zwei der sieben (Auto-) Biographien der Avantgarde. Am Anfang steht der Künstlerroman Jusep Torres Campalans, der literarisch komplexeste unter den hier zur Debatte stehenden Texten, der zudem in ganz eigener Weise eine Möglichkeit vorstellt,
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Die autobiographischen Schriften Max Aubs wie seine Tagebücher (Diarios, 1998 und Nuevos Diarios, 2003b) oder das Tagebuch seiner Spanienreise La gallina ciega (1971) werden im Kapitel V im Zusammenhang mit seiner Reflexion des Exils untersucht. Die beiden Spezifizierungen des Raums, der des spanischen Objekts und der des mexikanischen Beobachters, sind an dieser Stelle als pars pro toto zu verstehen: Gerade im Fall von Jusep Torres Campalans werden wir sehen, dass der katalanische Maler seinen Weg als französischer Kubist nur unter dem Einfluss seiner deutschen Künstlerfreundin gehen konnte, dass er zum spanischen Avantgardisten nur werden konnte in einem spezifisch europäischen Umfeld, in dem auch lateinamerikanische Elemente explizit mitgedacht werden. Auf der anderen Seite schreibt Aub zwar in Mexiko, aber in engem Kontakt mit Freunden aus der Pariser Kunstszene, und die Veröffentlichung der französischen Übersetzung unterstützt er nach Kräften während eines längeren Aufenthalts in der französischen Hauptstadt. Seine mexikanische Exil-Perspektive ist in diesem Sinne eine trans-atlantische, die Wissensbestände beider Hemisphären miteinander verknüpft und in Beziehung setzt [ĺ Kap. V].
wie Kunst tatsächlich ins Leben wirkt und vielleicht deshalb als der bekannteste Roman Aubs gilt. Demgegenüber ist Vida y obra de Luis Álvarez Petreña «el más decididamente radical» (Oleza Simó 1994: 1), insbesondere im Hinblick auf die Infragestellung des Autors selbst sowie der literarischen Autorschaft überhaupt. Mit der Betrachtung der Genres Biographie und Autobiographie stehen zwei für Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts zentrale Fragen im Raum: die nach dem Status des Subjekts und die nach dem Verhältnis zwischen Leben und Literatur. Wenn es stimmt, dass das «Subjekt» spätestens mit der Wende zum 20. Jahrhundert als problematisch erkannt ist,5 kann davon auch die symbolische Inszenierung des Subjekts in den Künsten nicht unberührt bleiben. Verändert sich der Status des Subjekts in den Künsten, verändert sich seine Beziehung zum Referenten, zur Welt außerhalb der Kunst. Joan Oleza Simó, Herausgeber der kritischen Werkausgabe Aubs, hat als einer der ersten die Aubschen Apokryphen in den Kontext der literarischen Weiterentwicklung der Subjektdebatte gestellt sowie deren besondere Bedeutung als frühe Auseinandersetzung mit Grundfragen der Postmoderne hervorgehoben.6 Das mit der Romantik dezentrierte Künstlersubjekt habe Ende des 19. Jahrhunderts jene Suchbewegung verstärkt, sich in der Konstruktion des Anderen bzw. von möglichen anderen Ichs neu zu erfinden. Paul Valérys Monsieur Teste wäre hier zu nennen, James Joyces Dedalus, Rainer Maria Rilkes Malte Laurids Brigge oder Oscar Wildes Dorian Gray (vgl. Oleza Simó 2003b: 302f.). Besonders im Künstlerroman des beginnenden 20. Jahrhunderts zeige sich, wie dieses Andere, gestaltet als (Künstler-) Double, ambivalent
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Vgl. den Eintrag «Subjekt» im Historischen Wörterbuch der Philosopie, der allein schon terminologisch die zunehmende Brüchigkeit des Begriffs seit Immanuel Kant, der noch von der «Einheit des Subjekts» ausging, deutlich macht. Karl Marx spricht in seiner Kritik der idealistischen Philosophie bereits von «eingebildeten Subjekten», Friedrich Nietzsche sieht in ihm «eine Fiktion der europäischen Geistesgeschichte» (vgl. Ritter/Gründer 1998: 373–400). Bedenkt man zudem Sigmund Freuds Aufspaltung in Ich, Über-Ich und vor allem das Unbewusste, kann der Glaube in die Einheit des erkennbaren und sich selbst erkennenden Subjekts als fraglich angenommen werden. Gerade das Freudsche Konzept des Unbewussten übte auf die avantgardistische Theoriebildung, inbesondere auf die der Surrealisten, einen großen Einfluss aus (vgl. Weisgerber 1984: 73ff.). Vgl. Oleza Simó (1994, 1996a, 2003a, 2003b). Seine Analysen der Apokryphen gehen weit über die Lektüre etwa als Künstlerromane hinaus (wie sie sich in Corella Lacasa 2003 findet) und weisen schlüssig nach, dass eine Zweiteilung des Aubschen Werks in die engagierten, zeitgeschichtlich fundierten Romane auf der einen Seite und die verspielten Apokryphen auf der anderen nicht haltbar ist. Zweiter Exponent dieser Neuorientierung der Aub-Forschung ist José Antonio Pérez Bowie (1995, 1996, 1999a, 1999b). Mit der «Subjektdebatte» (seit) der Jahrhundertwende sind die Nachwirkungen der Schriften Sigmund Freuds und Friedrich Nietzsches gemeint, die keinen Zweifel daran ließen, dass die Autonomie des modernen Subjekts eine Fiktion ist, dass in ihm und hinter ihm Kräfte wirken (das Unbewusste, der Wille zur Macht), die es nicht kontrollieren kann, dass hinter der wahrnehmbaren (sozialen) Wirklichkeit folglich eine weitere Ebene fragmentarischer, widersprüchlicher, irrationaler Wirklichkeiten stehen muss (vgl. Ritter/Gründer 1998: 373–400).
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wird, sobald «la máscara representa a la vez al personaje y al actor, al doble y al otro, al idéntico y al contrario, actúa como mediador entre una identidad en peligro y la ansiedad suicida de disolverse en un ser ajeno» (Oleza Simó 2003b: 304). Für die iberischen Literaturen gibt Oleza eine ausführliche Analyse der Apokryphen bei Fernando Pessoa (Alvaro Caeiro, Alvaro de Campos, Ricado Reis) und Antonio Machado (Abel Martín, Juan de Mairena, Pedro de Zúñiga), bevor er Luis Álvarez Petreña und Jusep Torres Campalans als radikalisierende Weiterführungen präsentiert. Die Frage nach dem Subjekt bzw. nach der Krise des Subjekts bestimme letztlich Aubs ganzes Werk, wie Antonio Pérez Bowie zusammenfasst. Aubs Thema sei […] el testimonio implícito pero permanente de la radical fragmentación del hombre contemporáneo […]. Desde los primeros tanteos al arrimo de la estética de las vanguardias hasta el inconcluso proyecto de llevar a cabo una construcción ficcional sobre la biografía de Luis Buñuel, la totalidad de la obra de Aub es un testimonio fidedigno de la compleja problemática del hombre del siglo XX: la crisis de la identidad que desemboca en la fragmentación del sujeto, la inaprehensibilidad del mundo real que se resiste a ser comprendido como un todo unitario y sólo resulta abordable como suma heterogénea de perspectivas subjetivas, la falacia del lenguaje, que de herramienta de conocimiento deviene en vehículo de confusión y engaño, son temas que se reiteran una y otra vez en sus páginas. (Pérez Bowie 1995: 82)
Untrennbar mit dieser Subjektproblematik verbunden ist die zweite der zuvor genannten Schlüsselfragen nach dem Verhältnis zwischen Leben und Literatur, die zugleich eines der zentralen Anliegen in der Theorie der Avantgarde war und über die Aub bis zu seinem Tod immer wieder reflektierte. Gerade in seinem sechsten Lebensjahrzehnt erscheinen fünf der sieben in diesem Kapitel zur Diskussion stehenden Texte.7 Doch nicht um Selbstzeugnisse, mit denen der Autor sein Leben im Schreiben aufgehen lässt (etwa Tagebücher oder Korrespondenzen), soll es in diesem Kapitel gehen, auch nicht um die Recherche nach referenzialisierbaren Realtitätspartikeln, mit denen die Viten der Figuren seiner fiktionalen Welt auf seinen Lebensweg projiziert werden können (und vicecersa). Vielmehr geht es darum zu zeigen, mit welchen literarischen Verfahren Max Aub das Verhältnis von Leben und Literatur gestaltet hat. Auf dieser Grundlage kön-
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Gemeint sind Antología traducida (1965), die beiden späteren Ausgaben von Petreña (1965, 1971) Luis Buñuel. Novela (vorbereitet ab 1967, erschienen 1985) sowie Academia Española, die fiktive Rede vor der Akademie (1971). Noch nicht in der Zählung berücksichtigt sind zwei weitere in den sechziger Jahren entstandene Apokryphe, die in diesem Kapitel aber nicht eingehender bearbeitet werden: Zum einen Imposible Sinaí (posthum 1982), in dem der Herausgeber Aub den Sechstagekrieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten aus den Briefen gefallener Soldaten beider Seiten rekonstruiert, die eigenhändig bei den Toten gefunden zu haben er vorgibt; zum anderen die Erzählung Homenaje a Lázaro Valdés (Aub 1994: 439–448), erstmals in Buchform erschienen in dem Band La verdadera historia de la muerte de Francisco Franco (Mexiko 1960), die ähnlich wie Campalans über eine Verdoppelung der Erzählinstanz in einen internen Erzähler und einen externen Herausgeber operiert.
nen anschließend Thesen formuliert werden, welche Positionen Aub gegenüber den Avantgarden über die Jahrzehnte hinweg vertrat.
Jusep Torres Campalans und die Frage nach dem Original Im Hintergrund von Max Aubs erfolgreichstem Werk, der Künstlerbiographie Jusep Torres Campalans, steht die Frage nach Original und Fälschung. Auf den ersten Blick erscheint das Buch als die formal konventionelle Biographie eines Malers der historischen Avantgarden: Beschrieben und dokumentiert werden Leben und Werk von Jusep Torres Campalans, geboren 1886 in der katalanischen Kleinstadt Mollerusa, gestorben 1956 in der mexikanischen Provinz Chiapas, wobei die Jahre vor dem ersten Weltkrieg, als er im Kreis von Pablo Picasso, Juan Gris und George Braque entscheidenden Anteil an der Entwicklung des Kubismus gehabt haben soll, in den Mittelpunkt der Diegese gerückt sind. Das Buch erschien 1958 in Mexiko-Stadt und wurde in den Galerías Excelsior der Öffentlichkeit vorgestellt; bei der Vernissage in dieser renommierten Kunstgalerie waren die seinerzeit noch auffindbaren Bilder des Künstlers zu sehen, und in ähnlicher Weise wurde bei der Präsentation der englischen Übersetzung (Doubledey 1962) in der New Yorker Bodley Gallery verfahren. Reproduktionen dieser Gemälde sind, zum Teil farbig, in Jusep Torres Campalans eingefügt, dessen Argumentation vordergründig darauf abzielt, die bisher unerkannte Bedeutung dieses Malers für die Kunstgeschichte nachzuweisen. Hierzu werden namhafte Zeitzeugen (Pablo Picasso, Daniel-Henry Kahnweiler, Alfonso Reyes) ebenso zitiert wie kunsthistorische Sekundärliteratur; eine minutiösere Datierung und Katalogisierung seiner Werke untermauert seine Vorreiterrolle bei der Entwicklung der kubistischen Malerei. Der Maler selbst, das betonen seine im Buch wiedergegebenen Selbstzeugnisse, war ein radikaler Verfechter des Originalitätsgedankens in der Kunst. Dieser Campalans ist sowohl Teil der Kunstgeschichte – zahlreiche nordamerikanische Bibliothekskataloge, darunter Harvard, Berkeley und Cornell ordnen das Buch als Kunstmonographie unter dem Namen «Campalans» ein (vgl. Leal-Santiago 2001/2002: 288) – wie auch Teil der Literaturgeschichte geworden, wo ihn Juan Luis Alborg (1962: 127f.) als historische Figur analysierte.8 Nach dem Erscheinen von Jusep Torres Campalans glaubten Teile der Kunstwelt für einige Zeit tatsächlich, eine verschollene Schlüsselfigur des künstlerischen Aufbruchs zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckt zu haben. Dennoch muss im Sinne der philologischen Redlichkeit spätestens an dieser Stelle noch einmal festgehalten werden: Als Figur der Zeitgeschichte hat dieser Mensch nie existiert, er ist eine fiktionale Figur. Max Aub hat ihn erfunden, seine Bilder gemalt und Freunde aus der Kunstszene animiert, an seiner lebensweltli-
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Erstmals über diese Karteikarte der Yale University informieren Durán/Safir (1975), ebenso über all die anderen Rezensenten, Kunst- und Literaturkritiker, die an die tatsächliche Existenz Campalans geglaubt haben. Einführend zu Campalans vgl. Buschmann (2009d).
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chen Beglaubigung mitzuwirken. Octavio Paz, Carlos Fuentes, Jean Cassou und viele andere namhafte Schriftsteller, Maler und Kunsthistoriker äußerten sich zur Person, zum Werk und zur Wirkung von Campalans, weshalb Max Aub, für die spanische Ausgabe von 1970 vom Verlag Lumen zu einer Klarstellung über die Existenz des Malers gedrängt, ausweichend antworten und auf diese namhaften Gewährsmänner verweisen konnte.9 Zur Theorie der Fälschung Wir haben es also mit einem Fall von faktischer Kunstfälschung zu tun. Es ist wichtig, diese Faktizität zu betonen, also die Tatsache, dass die Zeichnungen, Vignetten und Gemälde des fiktiven Malers Jusep Torres Campalans tatsächlich existieren10 und nicht nur als Reproduktionen in den diversen Ausgaben des Buchs. In der kulturgeschichtlichen Theorie der Fälschung wird besonders die menschliche Fähigkeit hervorgehoben, sich nicht nur verstellen zu können (Mimikry), «sondern auch Gegenstände herstellen zu können, die etwas anderes sind, als sie zu sein vorgeben» (Corino 1988: 8). Ihr zufolge ist es ein Bestandteil der menschlichen Kultur, «die techné (das technische Vermögen) grundsätzlich mit dem pseudein (dem Belügen, Täuschen)» verbinden zu können (Reulecke 2006b: 9). So geschieht es im Fall von Jusep Torres Campalans. Nehmen wir aus den Dutzenden ihm zugeschriebenen Gemälden als Beispiel die Tramas aus den Jahren 1913/1914, mit denen er sich, so die Fiktion, als einer der ersten der abstrakten Malerei zugewandt habe. Tatsächlich sind die Tramas eine freie Variation des als Maler dilettierenden Max Aub über Bilder von Theo van Doesburg und Hans Arp aus dem Jahr 1916 sowie von Georges Vantongerloo aus dem Jahr 1917. «A todos ellos Max Aub los conoce sobradamente porque puede consultarlos en su biblioteca», und zwar aus dem Band L’art abstrait: Ses origines, ses premiers maîtres von Michel Seuphor (Paris 1950, vgl. Fernández Martínez 1999: 139). Die Tramas stammen nicht von 1913, sondern aus den fünfziger Jahren, der vermeintliche Vorläufer der abstrakten Malerei Campalans ist ein
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Die Zeugnisse derer, die sich nach dem Erscheinen des Buches an der Beglaubigung der Existenz Campalans’ beteiligt haben, finden sich kritisch aufgearbeitet in Fernández Martínez (1993: 327ff.). Im Rahmen der Feierlichkeiten zu Max Aubs 100. Geburtstag fand vom 13.6.–23.8.2003 in Madrids wichtigstem Museum für moderne Kunst Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofi a die Ausstellung Jusep Torres Campalans. Ingenio de la vanguardia statt, die eine Vielzahl der Bilder von Aub/Campalans zusammen mit einer Auswahl kubistischer Originale von Delaunay, Picasso u.a. zeigte. Da im Reina Sofi a Pablo Picassos Guernica Teil der Dauerausstellung ist, konnte das Publikum in diesen Wochen den Weg von der Entstehung des berühmten Anti-Kriegs-Bildes im Frühjahr 1937, an der auch Max Aub seinen Anteil hatte [ĺ Kap. III], bis zu seiner rückblickenden Diskussion aus der Perspektive der fünfziger Jahre verfolgen: Man denke an den vorletzten Teil von Campalans, an das Kapitel Conversación en San Cristóbal, wo ‹Aub› und Campalans miteinander diskutieren und letzterer mit dem politischen Gehalt von Guernica nichts anzufangen weiß (vgl. Campalans 277).
Epigone. Nach ästhetischen Kategorien sind die Bilder Kopien und keine Originalschöpfungen, im urheberrechtlichen Sinne jedoch sind sie Originale – aber eben nicht von Campalans, wie die Signatur «JTC» vorgibt, sondern von Aub.11 Sie sind Fälschungen, noch dazu technisch schlechte Fälschungen, weil sie nur auf Papier oder Karton, nie auf Leinwand und in Öl ausgeführt sind, wie es der im Buch abgedruckte Catálogo für viele der zwischen dem Text reproduzierten Bilder behauptet. Jusep Torres Campalans ist demnach keine Biographie einer Fälschung, sondern selbst integraler Bestandteil einer Fälschung, insofern der Text in legitimierender Funktion zu den in der historischen Wirklichkeit präsentierten Bildern steht. Anne-Kathrin Reulecke hat in dem von ihr edierten Band Fälschungen – Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten (Frankfurt a. M. 2006) die wichtigsten Aspekte des Phänomens «Fälschung» zusammengetragen, historisch verknüpft und eindrücklich gezeigt, wie seit der Verbreitung der angeblich originalgälischen Gesänge des Ossian Ende des 18. Jahrhunderts durch James Macpherson Dutzende mehr oder weniger spektakulärer Fälschungen in Kunst, Literatur und Wissenschaft unser Bild der Welt wirkmächtig verändern – allein schon deshalb, weil die imaginative Wirkung einer Fälschung in den Künsten nicht unbedingt nachlässt, sobald sie einmal decouvriert ist. So war im Fall der gefälschten Ossian-Übersetzung schon bald bekannt, dass sie nicht authentisch war, dennoch wurde sie gerade in Deutschland zum Modell für eine dem Wahrhaftigen und Ungekünstelten verpflichteten antiklassizistischen Literatur. «Damit aber beförderte ausgerechnet eine Fälschung jene Poetologie, die entschieden auf das ‹Originelle› und ‹Originale› setzte.» (Reulecke 2006b: 24) Wir sehen: Gerade eine Fälschung – besser: eine Fälschung plus ihr als solcher erkennbarer oder erkannter Wirkungszusammenhang – kann offenbar die Wahrnehmung für das Original und die Problematik von Originalität schärfen. Auf diese Weise öffnet der decouvrierbare, besser noch der decouvrierte Fälscher dem Schöpfer-Subjekt in der Kunst noch einmal eine Hintertür: weil die Fälschung und ihr Rezeptionskontext die Aufmerksamkeit des Publikums genau auf die Frage lenken, ob oder inwieweit es noch den ‹Schöpfer› und das ‹Original› gibt, das ‹Wahre› und das ‹Authentische›. Nun ist es prinzipiell unmöglich, dem Phänomen Fälschung mit einer in sich abgeschlossenen Theorie beizukommen, da ja nur die von den Fälschern selbst aufgedeckten oder wegen ihrer technischen Mängel entdeckten Fälschungen deduktiv analysiert werden können. Das Korpus (‹alle gefälschten Rembrandts›, ‹eine signifikante Auswahl aus allen literarischen Plagiaten›) ist schlicht nicht zu benennen. Schließlich zeichnen sich perfekte Fälschungen gerade dadurch aus, dass sie als solche nicht erkennbar sind, weshalb «möglicherweise im Nachtschatten unseres Wissens eine regelrechte Enzyklopädie der ‹gelungenen› Fäl-
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In dieser falschen Zuschreibung der künstlerischen Genese liegt nach Umberto Eco der Kern der Fälschung: «Eine Fälschung ist etwas nicht wegen seiner inneren Beschaffenheit, sondern kraft einer Identitätsbehauptung.» (Eco 1992: 227)
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schungen verborgen ist» (Reulecke 2006b: 21). Die Summe der in dem Band von Reulecke aufgearbeiteten Fälschungen und Plagiate liefert aber genügend Indizien für die entscheidende Feststellung, dass Fälschungen höchst signifikant sind für das Verständnis der Kulturen, in denen sie stattfinden. Nicht der unter Umständen kriminalistisch zu rekonstruierende Einzelfall ist primär von Interesse, sondern seine Zeichenhaftigkeit für die inneren Regeln des jeweiligen Feldes. Denn jede Fälschung verweist – unter umgekehrten Vorzeichen – auf Paradigmen, Konsense, Rituale, Verabredungen, Erwartungshaltungen, kurz: auf ungeschriebene und geschriebene Gesetze von Diskursen und Disziplinen; zeigt sie doch ex negativo, welche Begriffe von Originalität, Echtheit, Autorschaft, Authentizität und Wahrheit in den wissenschaftlichen und künstlerischen Systemen wirksam und konstitutiv sind. (Reulecke 2006b: 22)
Mag die Fälschung auch die Ausnahme eines Systems bedeuten, als Sonderfall beleuchtet sie schlaglichtartig den Regelfall und kann «als Symptom des häufig verborgenen wissenschaftlichen und künstlerischen Begehrens gelesen werden» (Reulecke 2006b: 25). Diese systemische Produktivität der Analyse eines Fälschungszusammenhangs rührt auch daher, dass Fälschungen mehr als andere künstlerische Artefakte die Rezeptionserwartungen ihres Publikums beachten, weil sie im Prozess ihrer Herstellung bewusst antizipiert werden. Gleiches gilt bei der nachfolgenden Einspeisung des Artefakts in die Bild-, Text- oder Wissenszirkulation seiner Zeit, die nur dann erfolgreich sein kann, wenn das Werk optimal mit den Zirkulationsregeln des jeweiligen Systems korrespondiert. Die sieben Teile von Jusep Torres Campalans Bevor wir uns der Analyse des wissenschaftlichen und künstlerischen Kontextes der Veröffentlichung von Jusep Torres Campalans widmen, betrachten wir zunächst Schritt für Schritt das aus einer Vielzahl von Textsorten und Fragmenten zusammengesetzte Buch. Gewidmet ist Campalans André Malraux, seinerzeit Kulturminister in der zweiten Amtszeit Charles de Gaulles; Aub kannte Malraux seit dessen Engagement für die spanische Republik im Bürgerkrieg. Doch nicht wegen der lebenslangen Freundschaft12 der beiden ist diese Widmung bemerkenswert, sondern wegen der zehn Jahre zuvor von Malraux begonnenen Synthese seiner kunsttheoretischen Überlegungen in Le musée imaginaire (Genf 1947), dem ersten Band der Trilogie La psycholgie de l’art. Malraux verfolgt in dem Buch unter anderem den Gedanken, inwiefern sich die Wahrnehmung von Werken der bildenden Kunst durch deren Musealisierung und ihre massenhafte Reproduktion in Form von Drucken verändert. Bereits der Widmung ist folglich
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Zu Details der persönlichen Freundschaft und des künstlerischen Austauschs zwischen Max Aub und André Malraux, vor allem in ihrer Korrespondenz, vgl. Malgat (2005, 2010).
die Frage nach der Wertigkeit der Kategorien von Original und Kopie eingeschrieben.13 Auf die Widmung an den Kunsttheoretiker André Malraux folgen drei Motti. Das erste ist ein längerer Auszug aus der Zueignung zum dritten Teil von Baltasar Graciáns El criticón, in dem für ein gelungenes Porträt die simultane Darstellung der Person aus vier Perspektiven empfohlen wird – womit dieser historische Autor des Siglo de Oro gewissermaßen als Vordenker des Kubismus in Stellung gebracht ist. Das zweite Motto lautet «¿Cómo puede haber verdad sin mentira?» und soll von einem Autor des späten 18. Jahrhunderts namens Santiago de Alvarado stammen;14 die hier angesprochene Bedingtheit der Wahrheit durch die Existenz der Lüge wird in den Selbstzeugnissen Campalans’ ein zentraler Gedanke sein. Im dritten Motto schließlich («Hay que considerar cada obra de arte como un pedazo de vida de un hombre.»)15 erklärt José Ortega y Gasset jedes Kunstwerk zum Teil des Lebens seines Schöpfers, womit einer der Kerngedanken der avantgardistischen Selbstpositionierung genannt ist, die Frage des Verhältnisses zwischen Kunst und Leben [ĸ Kap. I]. Wie man sieht, stehen alle drei Motti in engem Zusammenhang mit Leitgedanken der historischen Avantgarden: Die Multiperspektivik erlaubt Simultaneität und damit eine Dynamisierung der Darstellung der Wirklichkeit; die Vorstellung von einer Wahrheit wird abgelöst von einer Infragestellung des Wahrheitsbegriffs; die Autonomisierung der «Institution Kunst» (Peter Bürger) von der bürgerlichen Lebenspraxis soll ersetzt werden durch eine Verzahnung von Leben und Kunst, idealerweise durch eine Veränderung des Lebens mittels der
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Mehr noch, die Frage nach der Originalität ist bereits fokussiert auf den Aspekt der technischen Reproduktion im Mehrfarbdruck, den Campalans selbst in seinem Künstlertagebuch Cuaderno verde noch voller revolutionärer Hoffnung erwähnt: «El arte puede llegar al pueblo por las reproducciones» (Campalans 233); später jedoch, im Gespräch mit ‹Aub›, urteilt er spöttisch über vierfarbige Reproduktionen in Zeitschriften: «Un cuadro de Miró ‹sale› mucho mejor reproducido en las revistas que un Vermeer.» (284) – Dass André Malraux bei seinen Überlegungen zum Musée imaginaire auf Walter Benjamins 1936 auf Französisch erschienenen Aufsatz «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» (Benjamin 2007) zurückgreifen konnte, der ihm bekannt war, weist Schöttker (2007: 157f.) nach. Anders als Gracián und Ortega ist Alvarado keine historische Figur (vgl. Klengel 2005: 82). In leicht abgewandelter Form wiederholt der fiktive Herausgeber von Campalans das Zitat in seinem Prólogo indispensable, wobei Max Aub, wie Corella Lacasa (2003: 133f.) zeigt, auf die 1956 erschienene Studie Ortega y las artes visuales von Enrique Lafuente Ferrari zurückgreift; in einem der erfundenen Texte der Sekundärliteratur, die in Campalans enthalten ist, wird auf genau diese Studie auch verwiesen, allerdings mit falsch datierter bibliographischer Angabe (vgl. Corella Lacasa 2003: 134). – Bereits an dieser Stelle, an der jene den Avantgarden so wichtige Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben angeschnitten wird, hätte Aub sich gleichermaßen auf seinen Freund Malraux stützen können. In einem Interview hatte dieser im Jahr 1952 gesagt: «Dès que la question ‹Qu’est-ce que l’art?› devient sérieuse, la question ‹Qu’est-ce que l’homme?› n’est pas loin.» (Zit. nach Walter Langlois: «Préface», in: La Revue des Lettres Modernes. André Malraux 4. André Malraux et l’art (1978), S. 5)
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Kunst. Doch nicht nur an die Diskussionen der historischen Avantgarden schließen die Motti an, sie etablieren zudem eine historische Linie vom 17. Jahrhundert bis in die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als deren Fortführung in den späten fünfziger Jahren man das Projekt Jusep Torres Campalans verstehen kann. Zum zeitlichen Bogen, den die Motti schlagen, kommt außerdem ein geographischer Raum, den sie eröffnen: es schreiben der Spanier Gracián, der Lateinamerikaner16 Alvarado und der sich vorzugsweise als Europäer profilierende Spanier Ortega y Gasset. Womit in groben Zügen die Lebensräume des Malers Torres Campalans, zunächst Gerona und Barcelona, später Paris, schließlich Mexiko, beschrieben sind, ebenso wie eine kulturelle Dynamik, die sich weder auf einen nationalen Kulturraum begrenzen lässt,17 noch auf ein unreflektiert als Zentrum verstandenes Europa. Vielmehr bezieht Campalans von der paratextuellen Rahmung an selbstverständlich die außereuropäische Perspektive mit ein und konstruiert innerhalb Europas (Spanien und Frankreich, Barcelona und Paris) wie in der Verbindung von Europa und Amerika spezifisch transregionale Zusammenhänge. Wenn der gealterte, aus Europa nach Mexiko ausgewanderte Campalans sein Gegenüber ‹Max Aub› in der mexikanischen Provinz Chiapas fragen wird «Paris… Existiert das noch?», findet die im Motto angerissene Infragestellung von Europa als Zentrum der Kunst zuletzt auch explizit ihren Weg in die erzählte Handlung.18 Auf die Motti folgt der erste der sieben römisch nummerierten Teile des Buchs, der als Peritext des Herausgebers ‹Max Aub› lesbare Prólogo indispensable (Campalans 13–24). Er schildert dessen erste Begegnung mit dem Maler im Jahr 1955. Nach einem Vortrag in der mexikanischen Provinzstadt Tuxtla Gutiérrez sei er mit ihm ins Gespräch gekommen, dortige Freunde hätten ihm erklärt, dass es sich um einen seit Jahrzehnten bei den Indios lebenden Maler aus dem Paris vor dem Ersten Weltkrieg handele. Seine Gespräche mit Campalans möchte ‹Aub› ausführlich aber erst am Ende des Buches wiedergeben.
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Das zumindest deutet der Titel seines Buches an, dem das Motto entnommen sein soll: Nuevo mundo caduco y alegrías de la mocedad en los años 1781 hasta 1792. Was im Kontext der «Übernationalität» der Avantgarden in der Tat unmöglich ist, wie zuletzt Hubert van Berg (2000) gezeigt hat. Die Dynamik des transnationalen Kulturraums, den inbesondere das Kapitel Anales eröffnet (s. unten), untersuchen Ette (2001: 363ff.) und Klengel (2005). Dieser erweiterte räumliche Horizont wird im Buch in vielerlei Variationen angesprochen, beispielsweise durch die Einblendung weiterer außereuropäischer Kunsträume sowie ihres Verhältnisses zu Europa: Dies geschieht etwa in den Diskussionen der Pariser Maler über afrikanische oder asiatische Kunst (vgl. Campalans 211ff.), in Form von Campalans’ Erinnerung an seine frühere Begeisterung für Gauguin und seine Malerei in der Südsee, oder in der kurzen Skizze des Lebenswegs einer Nebenfigur wie der des US-amerikanischen Malers John P. Murray, zeitweise ein enger Freund Campalans’, der «se fue al Congo y desapareció en la selva» (Campalans 148); Murray geht also den entgegengesetzten Weg wie Campalans, aus der amerikanischen Provinz über Paris nach Afrika, wo er ebenso (für die Kunstwelt) verschwindet wie später der Katalane im mexikanischen Chiapas.
Erste Recherchen hätten ihm bestätigt, dass es sich bei Campalans um einen Weggefährten Picassos aus den ersten Jahren des Kubismus handeln müsse, von dem ein Engländer namens Henry Richard Town bereits in den dreißiger Jahren einen Werkkatalog erstellt habe. Bei einer Parisreise 1956 habe ‹Aub› bei Jean Cassou und anderen Kunsthistorikern weitere Informationen sammeln können, die die Grundlage des Buches bildeten. Neben dieser autobiographischen Annäherung an seinen kunsthistorischen Untersuchungsgegenstand beschreibt der Autor-Herausgeber ‹Aub› seine Vorgehensweise. Sie bestehe darin, nicht einen homogenen Text zu verfassen, sondern die diversen Teile der Studie, also die eigenen Schriften Campalans, die Studien über ihn, die Schilderung der Gespräche etc., getrennt voneinander zu präsentieren. Er bezeichnete das Verfahren als «descomposición, apariencia del biografiado desde distintos puntos de vista; tal vez, sin buscarlo, a la manera de un cuadro cubista» (Campalans 16). Von verschiedenen Standpunkten aus möchte er schreiben, so wie man ein kubistisches Gemälde malen würde, womit der Gedanke aus dem Motto des Barockautors Baltasar Gracián mit der Moderne des Kubismus kurzgeschlossen und die in Campalans zu erzählende ästhetische Neuerung auf ihre Darstellung selbst übertragen ist.19 Der Autor-Herausgeber erfüllt damit eine der ästhetischen Maximen von Campalans, der in seinen Schriften forderte, nicht mehr nur «desde un solo punto de vista» zu malen, sondern «simultáneamente desde varios ángulos […]. O desde adentro» (204).20 Mit dem Verweis auf die fremden Quellen («escribí mi relación, valiéndome de otros», Campalans 16) beginnt die für das Gelingen von Campalans zentrale Operation, nämlich die Vermittlung der Fiktion im Modus der Diktion, die wesentlich darauf aufbaut, dass ‹Max Aub› als Herausgeber und Kompilator auftritt und nicht als Romancier. Ziel ist es zu verschleiern, dass Max Aub die meisten Texte selbst geschrieben hat (vgl. Londero 1996: 15). Auf der gleichen Operation basieren andere Aubsche Apokryphe wie Antología traducida, Imposible Sinaí und Luis Álvarez Petreña. Es folgen als zweiter und dritter Teil die Agradecimientos (25/26), wo zahlreichen (historischen) Künstlern, Kunsthistorikern und -händlern für ihre Hilfe
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Ob man im Fall von Campalans von einem kubistischen Roman im Sinne eines «cuadro cubista» sprechen kann, darüber besteht kein Einvernehmen in der Forschung, in der erstmals Ignacio Soldevila (1973: 149) den Roman als kubistischen Text beschrieb. Klengel (2005: 93) verneint diese Zuschreibung und erkennt nur ein «Cuadro del cubismo», Eberenz (1998: 74) sieht eine Übertragung des Gegenstandes auf die «forma del libro», Valcárcel (1996b: 1514) übernimmt die Denomination des Textes und spricht von «descomposición cubista», während González Sánchis (1995) in einer euphorisiert pan-kubistischen Lektüre des Buches noch in der (schlicht analeptischen) Zeitstruktur den Einfluss des Kubismus dingfest macht. Wie Ottmar Ette (2000: 680) in seiner Analyse der intermedialen Transposition avantgardistischer Paradigmen der Malerei in den Text Campalans aufzeigt, ist diese Stelle als Schlüssel für die Übertragung eines bildkompositorischen Verfahrens (Simultaneität) in ein literarisches (Sichtweise von innen) zu verstehen, wie sie in dem mittig, als fünftes Kapitel platzierten künstlerischen Tagebuch Cuaderno verde zum Ausdruck kommt.
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bei den Recherchen gedankt wird, sowie die Anales (29–68), die historische Daten zu Kunst, Literatur, Technik und Zeitgeschichte aus den Jahren 1886 bis 1914 auflisten, vom Geburtsjahr des Malers bis zu seiner Abreise von Paris nach Mexiko. In einer kurzen Vorbemerkung erläutert ‹Aub›, warum er in diesem Kapitel mehr als nur die Lebensdaten Campalans’ aufnimmt: Allein durch die umfassende Kontextualisierung könne die Person erfasst werden. Analog zu dem in den Motti aufgespannten Kulturraum beziehen auch die Anales auffällig viele außereuropäische Künstler mit ein (z.B. die Geburtsdaten der chilenischen Dichter Gabriela Mistral und Vicente Huidobro, die der mexikanischen Maler Diego Rivera und David Álfaro Siqueiros u.v.a.m.). Noch zu diesen Annalen zählen die Notas (70–87), historisch erläuternde Fußnoten sowie mehrere kunsthistorische Aufsätze über das Werk Campalans’. Im Zentrum des Buches steht die Biografía (91–153), in der das Leben des Malers bis ins Jahr 1914 im Stil einer mimetischen biographischen Erzählung präsentiert wird.21 Er stammt aus einfachen Verhältnissen in der katalanischen Provinz, lernt bei einer Reise nach Barcelona den jungen Picasso kennen, in dessen Freundeskreis er die Welt der Künstler entdeckt. Zeit seines Lebens bleibt er geprägt von der Verbundenheit zu seiner katalanischen Heimat (vor allem zu ihrem Essen), bleibt auch katholisch, ohne darin einen Widerspruch zu seiner Mitgliedschaft in diversen anarchistischen Zirkeln zu sehen. Vor seinem Gestellungsbefehl flieht er nach Paris. Dort beginnt er ernsthaft zu malen, trifft seinen Freund Picasso wieder, und gemeinsam mit Braque, Ernst und anderen entwickeln sie die Formensprache der kubistischen Malerei. Campalans ist einer der Stichwortgeber der Gruppe, stellt jedoch seine eigenen Bilder nicht aus und lebt von dem, was seine aus Deutschland gebürtige Freundin Ana María Merkel im Louvre mit dem Kopieren alter Meister verdient. Seine höchste Maxime als Künstler ist das Streben nach Originalität, während Kopieren absolutes Tabu ist; mit dem Widerspruch, dass er sein täglich’ Brot dem Verkauf der Kopien seiner Freundin verdankt, arrangiert er sich zähneknirschend. Die perfekte Verkörperung eines solchen Künstlertums, das ohne direkten Traditionsbezug quasi aus dem Nichts schöpft, «de dentro afuera», sei sein Freund Picasso: «Picasso no es hijo de nadie» (135), hält Campalans dem deutschen Kunsthistoriker Fuchs entgegen, der ihm gegenüber die Tradition und die Wirkmacht des Vater-SohnVerhältnisses für jeden ästhetischen Fortschritt verteidigt. Den Gegenpol zu Picasso bildet für Campalans ein weiterer Spanier, Juan Gris, den er, der Bauer und Katalane, nicht nur als Sohn aus gutem Hause und Madrilenen attackiert, sondern vor allem wegen seines auf Sicherheit bedachten Hinterhermalens. Juan Gris’ Malerei tue nichts anderes als «‹fabricar› originales», während Picasso
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Von den sieben Teilen ist die Biografía der mittlere und insofern zentral. Doch schon bei der Zählung der Seiten fällt auf, dass «la biografía propiamente dicha ocupa un número de páginas significadamente reducido» (Londero 1996: 14), nämlich nur 60 von gut 300. Wegen seiner Statik, seiner holzschnittartigen Erwartbarkeit bezeichnet Klengel ihn als «leeres» Zentrum (2005: 96).
tatsächlich «erfinde»: «Inventa. Inventa para que copies» (153), so Campalans’ Vorwurf an Gris. Immer wieder betont wird Campalans’ politische Aufmerksamkeit (etwa im Gegensatz zu Gris’ Absentismus, vgl. Campalans 150), seine Einbindung in anarchistische Zirkel, sein Pazifismus. Er glaubt an die Weltrevolution und die internationale Solidarität der Arbeiter, folglich bricht mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs für ihn eine Welt zusammen. Das Scheitern seiner politischen Überzeugungen verunsichert ihn so sehr, dass er auch seinen künstlerischen Maximen nicht mehr traut: «He vivido engañado» (168), analysiert er seine eigene Blindheit. Wie seine Freundin muss er, will er nicht seine Festnahme riskieren, Frankreich verlassen. Mit Unterstützung des mexikanischen Botschaftssekretärs Alfonso Reyes besorgt er sich die nötigen Papiere und wandert aus nach Mexiko. Auf dessen Frage, was er dort zu tun gedenke, antwortet er mehrmals gleichlautend: «Hacer nada.» (168, 173) Wie zuvor die Anales wird auch dieser biographische Teil abgesichert durch Fußnoten (178–184) des Herausgebers ‹Aub› sowie ergänzende Materialien: Zitate von Campalans, entnommen der Umfrage einer Kunstzeitschrift, sowie einem Interview mit ihm. Dort findet sich erneut, nun direkt aus seinem Mund, sein künstlerisches Credo: «Lo que se hace en serie deja de ser arte. […] Si en una obra no hay nada nuevo, no es obra de arte. […] El arte es original […] o no es.» (183) Nur aus Selbstzeugnissen besteht der fünfte Teil, das ästhetische Tagebuch des Malers aus den Jahren 1906 bis 1914 mit dem Titel Cuaderno verde (186–255), ursprünglich verfasst auf Katalanisch, offensichtlich übersetzt vom Herausgeber: «El texto, en catalán, tiene, desde 1908, párrafos en francés; luego en español y hasta palabras alemanas» (155), erklärt ‹Aub› in seiner philologischen Vorbemerkung.22 An dieser Stelle erkennt man erneut, wie das Buch, diesmal genuin sprachlich, eine transnationale kulturelle Dynamik konstruiert, von der (damaligen) Regionalsprache Katalanisch über die europäischen Sprachen Deutsch und Französisch (als solche benutzt sie zumindest Campalans) bis zur Weltsprache Spanisch, die ihm den Weg nach Übersee erleichtern wird. Im Grünen Heft formuliert Campalans seine künstlerischen Maximen, beschreibt seine Freundschaft zu Picasso, die Diskussionen mit Braque, de Vlaminck, Mondrian, Van Dongen, seine Streitigkeiten mit Juan Gris; am Rande finden sich auch Notizen zur Politik, zu Kulinaria und zu seiner Beziehung mit Ana María. Programmatisch lautet die erste Maxime auf der ersten Seite: «No copiar» (155), ein Gedanke, der sich durch das ganze Heft zieht. 1907 schreibt er: «El que imita, se limita» (197); 1908: «Me basta sorprender» (206); 1909: «Primero hay que hacer tabula rasa. Destruir, hacer polvo» (214); und 1912: Kunst sei Lüge im Sinne
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Eine Übersetzung muss auch der Catálogo sein, der von dem in England schreibenden Iren Henry Richard Town stammt, also mindestens aus dem Englischen, wenn nicht gar doppelt übersetzt worden sein muss: zuerst aus dem Gälischen, dann aus dem Englischen. Womit wir in der Ursprungssprache jener bereits erläuterten und so produktiven Fälschung, dem gälischen Idiom Ossians angelangt wären.
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von Erfindung, von Schöpfung aus dem Nichts («Forjar de la nada», 228). Ähnlich rekurrent ist seine rückhaltlose Bewunderung für das Ausnahmegenie Pablo Picasso (vgl. 202, 213, 231), seine Intention, mit der Malerei Ruhm zu erlangen (vgl. 190, 222, 238), sowie eine tiefe Abscheu vor dem Kunstmarkt, der das Kunstwerk nur als Ware sehe und damit den Künstler selbst korrumpiere: «Vender es venderse.» (216) Campalans strebt nach einer absoluten Malerei, die ihren Gegenstand simultan aus mehreren Perspektiven zeigen soll, nach einer «pintura global» (204), einer «pintura total» (226). Da ihm diese nicht gelingt, zerstört er Ende 1907 alle seine bis dahin gemalten Bilder (vgl. 200). Aber auch der zweite Anlauf genügt nicht seinen eigenen Ansprüchen. 1913 erkennt er erneut, dass er zwar kein schlechter, sondern, schlimmer noch, ein «pintor mediocre» (238) sei. Weniger eindeutig, wenn nicht widersprüchlich, sind seine Aussagen zum Verhältnis von Kunst und Lebenswirklichkeit: Mal stellt Campalans die Kunst über alles («el arte por el arte», 214), mal heißt es «Lo que importa es la vida» (226). Mal denkt er beides zusammen und imaginiert die Verschmelzung von Leben und Kunst: «Confundirse con la obra. Ser su propria obra.» (234) Einmal stellt er sich den kreativen Prozess als Verinnerlichung vor («Pintar para adentro», 194), ein andermal als Entäußerung des Gegenstandes («[…] que se viera […] desde adentro», 204). In einem Estética überschriebenen Einschub aus dem Jahr 1912 versucht er, sich ganz grundsätzlich über sein Menschsein klar zu werden, um daran anknüpfend die Stellung der Kunst für sich zu klären. Zwei Dinge machen für ihn den Menschen aus: das Wissen um den eigenen Tod und die Fähigkeit zur Lüge, wobei sein Verständnis von Lüge einen kreativen Akt beinhaltet: «[…] mentir, no engañar; fingir, no falsificar; disfrazar […], no falsificar; inventar, no plagiar; aparentar […] no estafar […] burlarnos, a lo sumo, de nosotros mismos.» (230) Eine Kunst, die diese Lehre befolge, müsste ihre eigene Wahrheit hervorbringen: «El arte, ¿verdad o mentira? ¿Importa? No. Si es arte, es verdad.» (231) Kunst bestehe darin, Wahrheit in Lüge zu verwandeln «para que no deje de ser verdad» (238). «Mentira» hat für Campalans also gerade nichts mit Fälschung (in der oben nach mit Reulecke definierten Bedeutung) zu tun, mit dem Verdecken einer (falschen) Identität, sondern mit dem Sichtbarmachen einer Differenz. Nur die Transparenz und Sichtbarkeit des Brüchigen können nach diesem Credo Campalans’ Grundlage von so etwas wie Wahrheit sein. Das sechste Kapitel Conversaciones en San Cristóbal (257–297) schließlich rekonstruiert die beiden in der Vorbemerkung annoncierten Gespräche in der Hauptstadt der Provinz Chiapas, die ‹Aub› (als solcher wird er nun von dem gealterten Maler angesprochen) bei seiner ersten und einzigen Begegnung mit Campalans geführt haben will. In ihnen blickt der inzwischen siebzigjährige Maler auf seine Pariser Jahre zurück und nennt als Grund für seinen Rückzug zu den Indígenas sein Versagen als Künstler: «Como pintor fue un fracaso.» (271) Seit 1914 habe er nicht mehr gemalt und, wie er mehrfach betont, nichts gemacht, «nada, absolutamente nada» (262, 289). Andererseits, so deutet er an, könnte nicht gerade im Nicht-Malen, also im Schauen die wahre Kunst liegen? So sagt er etwa: «Fíjese: he vivido aquí, de verdad, como un pintor: sin más cosa que hacer sino mirar.» (286) Von der Malerei der Moderne (seiner Moderne) 50
hat er eine geringe Meinung, sie sei vor allem leicht zu kopieren (vgl. 282) und ideal geeignet für die marktgerechte Reproduktion in Zeitschriften, wie man sie nebenbei beim Frisör durchblättere (vgl. 284, 288). Statt der Kunst habe er sich der Fortpflanzung gewidmet und eine unüberschaubar große Zahl Kinder gezeugt (vgl. 264). Auch das verschafft ihm keine innere Ruhe, denn nach wie vor ist er der Auffassung, dass allein die Kunst überdauert («Lo único que queda del hombre es el arte», 244). Weil er seine mittelmäßigen Bilder, so weit er ihrer habhaft werden konnte, aber alle zerstört habe, empfindet er am Ende seines Lebens vor allem Angst («miedo insuperable», 289). Allein sein Glaube an Gott und das Jüngste Gericht gäben ihm Halt (vgl. 285). Den Abschluss des Buches bildet der Catálogo (299–312), in dem der Herausgeber ‹Aub› zunächst erläutert, welche Quellen ihm nicht zur Verfügung standen, welche Dokumente im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen sind, bevor anschließend die noch erhaltenen Bilder Campalans’ aufgelistet, kunsthistorisch beschrieben und kurz ikonographisch kommentiert werden. Entsprechend den transarealen Kulturräumen, den die Annalen zu Beginn eröffnet hatten, zeigen nun die im Katalog aufgeführten Angaben zu den derzeitigen Besitzern der Bilder deren Verbreitung von Deutschland und Großbritannien über Spanien und Frankreich bis nach Lateinamerika und in die USA. Wo die Annalen retrospektiv transatlantische Verbindungen, mithin eine Tradition der Avantgarden andeuteten, formulieren die Daten aus dem Katalog die Einspeisung dieser Tradition in die nach-avantgardistischen Kultur- und Wissensbestände einer globalisierten Kultur. Campalans diktional Nicht nur in und mit den Annalen und dem Katalog bedient sich der Text einer Fülle von Verfahren, um seinen dokumentarischen Charakter zu unterstreichen. Innerhalb der Diegese legt der Herausgeber detailliert dar, wie er zu seiner Figur, den Bildern, den Unterlagen gekommen ist. Campalans’ privater und künstlerischer Lebensweg ist eingebettet in eine dichte Beschreibung (kunst-) historisch referenzialisierbarer Fakten: politische Skandale wie die Hinrichtung des Pädagogen Francisco Ferrer 1909, kriminelle faits divers wie die Aktivitäten der Bonnot-Bande, die mit klingenden Namen umstellte künstlerische Entwicklung, die Campalans im engen Kontakt mit Van Dongen, de Vlaminck, Picasso, Gris, Braque, Mondrian etc. zeigt. Wie wir heute wissen, schöpfte Aub für die Dokumentation aus einer Vielzahl von Bildbänden und Fotografien, etwa wenn er Campalans’ Atelier mit Blick auf eine Fotografie des Ateliers von Juan Gris beschreibt und dafür auf Daniel-Henry Kahnweilers Monographie Juan Gris, sa vie, ses œuvres, ses écrits (Paris 1946) zurückgreift (vgl. Klengel 2005: 86). Neben dem Text ist es vor allem der Ikonotext, der die tatsächliche Existenz der Figur untermauern soll: Eine Fotomontage zeigt Campalans neben Picasso in einem Café, Dutzende Gemälde, Skizzen und Vignetten des Malers sind in den Text eingebettet, in dem wiederum die Entstehung einiger der Bilder narrativ dargestellt wird, bevor sie im Catálogo nochmals im museal klingenden Diskurs der wissenschaftlichen 51
Kunstkritik erfasst und damit in den akademischen Kanon eingeschrieben werden. Zusätzlich untermauern Fußnoten, lange Zitate aus kunsthistorischer Sekundärliteratur, Interviews sowie bibliographische Angaben den wissenschaftlichen Anspruch des Buches. Einband und typographische Gestaltung der Erstausgabe lehnen sich an die für Kunstmonographien geläufigen editorischen Paratexte an, hinzu kommt der betont sachliche und neutrale sprachliche Duktus des Herausgebers, wodurch, in Verbindung mit der polyphonen Makrokonstruktion, die Erzählerstimme verwandelt wird in einen «transmisor objetivo y despersonalizado de los datos» (Pérez Bowie 1995: 87). In der Summe all dieser Verfahren wird die Existenz der Figur und ihres Werkes so glaubwürdig, dass seinerzeit viele Zeitgenossen tatsächlich an eine kunsthistorische Entdeckung glaubten. So etwa Max Aubs Freund Xavier de Salas, der, wie man der unveröffentlichten Korrespondenz entnehmen kann, erstens vorgewarnt war, dass er selbst als Figur in Aubs nächstem Roman auftauchen würde, und der zweitens als Kunsthistoriker hätte Verdacht schöpfen können. Aub freute sich diebisch, dass sein Freund ihm dennoch auf den Leim ging: «[...] me has proporcionado mi mayor éxito de novelista», schreibt Aub ihm zurück, um dann sicherheitshalber klarzustellen: […] todas las revistas citadas son inventadas, como muchos de los libros a que hago referencia […] todos los cuadros los hice yo, que nunca en mi puñetera vida había tomado un pincel. […] Cuando salió el libro, hice una exposición de los cuadros: cayeron los más ilustres de tus colegas. También los tuve que avisar, a última hora. (Zit. nach González Sanchis 1995: 73)
Solche expliziten Richtigstellungen äußerte Max Aub nur im privaten Rahmen. Öffentlich ließ er, als der Legende von Jusep Torres Campalans einmal Leben eingehaucht war, den Dingen ihren Lauf, wenn er nicht sogar die private Korrespondenz noch dazu nutzte, den Campalans-Komplex zu stützen, wie etwa in seinem Briefwechsel mit dem späteren Nobelpreisträger Vicente Aleixandre.23 In einem Brief vom 8.4.1957 an Aleixandre bemerkt Aub über seinen demnächst erscheinenden Roman Campalans: […] he inventado un pintor, compañero de Picasso, la he escrito como una de esas monografías de Skira – hice todos los dibujos. Los pintores van pegar un respingo. Se lo merecen: hablo de los que imitan, de los que se copian uno a otros. Cada día odio más lo falso. (Aub 1992a: 48)
Selbst in dieser privaten Richtigstellung baut er eines seiner liebsten Mytheme ein, dass nämlich das Buch den Kunstbänden des Schweizer Skira-Verlages nach-
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Zwischen 1958 und 1970 tauschten Aub und Aleixandre 64 Briefe aus, die im Archiv der Max Aub-Stiftung einzusehen sind und von Xelo Candel Vila kommentiert wurden (vgl. Candel Vila 2007). Aubs intensive Korrespondenz mit anderen Vertretern der Generation von 1927, mit Jorge Guillén, Dámaso Alonso, Rafael Alberti u.a., findet sich aufgearbeitet in Candel Vila (2008: 217–253).
empfunden sei. In der Tat erschien Campalans in einer für Aubs Verhältnisse aufwändigen Ausstattung und mit zahlreichen Vierfarbdrucken, doch der mögliche typographische Bezug zu den Büchern des Schweizer Verlages wurde schon in einem Excelsior-Artikel vom 28.7.1958 widerlegt (vgl. Fernández Martínez 1993: 346). Dennoch taucht der Hinweis auf die Skira-Bücher als Vorbild seitdem immer wieder in der Sekundärliteratur auf (vgl. zuletzt Bagué Quílez 2003). Fehler, Widersprüche, Einschränkungen Im Nachhinein ist es einfach, sich über die Leichtgläubigkeit der ersten Leser zu erheben, wo doch so viele Signale im Text darauf hinweisen, dass es sich bei Campalans weniger um die Geschichte eines Malers der historischen Avantgarde als um eine metahistoriographische Dekonstruktion der Schreibbarkeit von Geschichte handelt. Denn mit der gleichen Konsequenz, mit der der Text sich als wahrheitsgetreue Dokumentation spreizt, demontiert er seine Glaubwürdigkeit durch faktische Fehler, logische Brüche und literarische Brechungen. Am häufigsten hat die Sekundärliteratur seit Irigarry (1979: 97ff.) auf die zahlreichen Widersprüche in den Annalen hingewiesen, in denen etwa der Dichter Nicolás Guillén zweimal geboren wird (1902 und 1904) oder Roy Campbells Geburtsjahr falsch ist; andere Persönlichkeiten sterben zweimal, der bekannte spanische Autor Francisco Ayala wird um vier Jahre verjüngt etc.24 Bei der im Buch zitierten Sekundärliteratur hätte auffallen können, dass einige der ausführlich zitierten Autoren inexistent sind (Gasch García, Derteil), aber es hätte jedem aufmerksamen Leser auffallen müssen, dass selbst Aufsätze, die wie der von Gasch oder Román im Titel vorgeben, von Campalans und seinem Werk zu handeln, abbrechen, sobald die Rede auf Campalans und sein Werk kommt (vgl. 85ff., 78ff.). Überhaupt fällt auf, dass die Fußnoten und Erläuterungen, die als metatextuelle Einschübe die Wissenschaftlichkeit des Diskurses annoncieren (vgl. Genette 1987: 293ff.) und an der jeweiligen Stelle sachlich fundiert den Haupttext ergänzen sollten, an Eigenleben gewinnen. Das gilt zum einen quantitativ, wenn beispielsweise lange Erläuterungen zu nebensächlichen Gegenständen gegeben werden, zum anderen qualitativ, wenn Gegenstand oder Position der Fußnote der des Haupttextes gegenläufig ist. So geschieht es etwa in den Anmerkungen zu den Conversaciones…, die seitenlang über die Sozialgeschichte Chiapas’ informieren (292ff.), während ‹Aub› im Haupttext gerade versucht, seinem Gespräch
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Vor dem Lektorat der deutschen Übersetzung von Jusep Torres Campalans (Gatza bei Eichborn 1997, dt. von E. Helmlé und A. Buschmann) war vergessen worden, die Korrekturleserin über dieses Verfahren der bewussten Unterwanderung der Faktizität der Textsorte Annalen einzuweihen, weshalb sie Hunderte von Geburts-, Sterbe- und Erscheinungsdaten historischer Figuren und Werke überprüfte und in der Folge eine nunmehr unkorrekt verifizierte Fassung erstellte – die nachfolgend wieder korrekt verfälscht werden musste.
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mit Campalans eine andere Richtung zu geben, weg von der Zeit in Mexiko und hin zu den Pariser Jahren.25 Auch das zweite genuin diktionale Textsegment, der Katalog, erweist sich bei näherer Betrachtung als von faktischen Fehlern durchsetzt. Dort beschriebene Bilder wie Dibujo (308) oder Paisaje gris (310) tauchen in keiner der Buchausgaben je auf, während andere als verschwunden («desaparecidas») deklariert, aber dennoch im Buch abgebildet sind (vgl. Fernández Martínez 1999: 113ff.). Zudem ist der Ikonotext variabel, ohne dass der Text darauf reagieren würde. Wie Fernández Martínez (1999: 117) in einem Vergleich der verschiedenen Ausgaben des Romans seit 1958 gezeigt hat, variiert die Zahl der Abbildungen («el número de dibujos sin catalogar aumenta desproporcionadamente»), vermutlich weil Bilder, die Max Aub bei der Vernissage zur Präsentation der US-amerikanischen Ausgabe ausstellte, in die spanische Ausgabe von 1970 übernommen wurden. Zwar stammt der fehlerhafte Katalog von dem fiktiven Campalans-Forscher Henry Richard Town, der in ‹Aubs› biographischem Abriss auch deutlich als Amateur, als «aficionado» gekennzeichnet ist (301), dennoch liegt die Verantwortung für seinen sachlichen Gehalt beim Herausgeber ‹Aub›, der ihn in Campalans erstmals veröffentlicht. In Anbetracht dieser massiven Inkongruenzen fällt es kaum noch ins Gewicht, dass auch in der Biographie, wo der Herausgeber ‹Aub› selbst als Autor agiert, gravierende Widersprüche auftauchen, etwa wenn er aus dem Cuaderno verde zitiert (117), diese Textstelle aber im Tagebuch des Malers gar nicht zu finden ist. Oder wenn er Campalans als friedfertigen und aller Prasserei abgeneigten Mann charakterisiert, wir im Grünen Heft aber Campalans’ «Lob der Trunkenheit» (194f.) lesen und sehen, wie er Juan Gris mit dem Messer attackiert. Diese und andere Widersprüche zeigen (intradiegetisch) einen Herausgeber, der offenbar die Texte, die er ediert, nicht gründlich gelesen hat und auch nicht in der Lage ist, ein von den vorliegenden Dokumenten gestütztes Bild seiner Figur zu vermitteln. Alles zusammen ergibt einen Text, der in der Summe seiner Verfahren ganz offensichtlich darauf abzielt, dass seine Widersprüchlichkeit als solche sichtbar wird. Doch nicht nur an dieser Stelle untergräbt der Herausgeber ‹Aub›, seine Autorität als verlässlicher Biograph. In seinen metahistoriographischen Exkursen im Rahmen der Vorbemerkung und der Danksagungen legt er sein Vorgehen
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Das Unterlaufen der Kategorien von Zentrum und Peripherie, wie wir es für die kulturellen Räume etwa in den Annalen festgehalten haben und wie es überhaupt für das Verhältnis von Text (die Biographie) und rahmendem Paratext festzustellen ist (vgl. Klengel 2005), ist also auch für das Verhältnis von Haupttext und Fußnote zu beobachten. So gesehen wäre die Art der Verwendung der Fußnoten nicht als versteckter Hinweis auf eine Fälschung oder auf die Simulation von Wissenschaftlichkeit zu verstehen, auch nicht satirisch, ironisch oder parodistisch (so etwa die Lesart in Londero 1996: 21f.), sondern als gezielte Infragestellung von textuellen Hierarchisierungen: Im Haupttext will ‹Aub› Campalans weglocken von Chiapas und über Paris sprechen, die Fußnoten aber halten gegen und verschaffen der Perspektive der Indios, ihrer Geographie und ihrer Lebensweise eine Bühne. Auf keinen Fall sind sie jedoch als allein spielerisches Element zu betrachten, wie Valcárcel (1996b: 1516) schreibt.
in einer Weise dar, die das Projekt einer Biographie als so gut wie unmöglich erscheinen lassen. Beim Verfassen einer Biographie müsse er als Romancier sich aller persönlichen Deutungen enthalten, sich auf das rational Erfassbare konzentrieren, kurzum «Geschichte schreiben» («Historiar», 15). Doch angesichts dieser Selbstbeschränkung auf den vernunftzentrierten Diskurs der Wissenschaft kommen ihm Zweifel, und er stellt sich die Frage: Pero, ¿se puede medir un semejante con la sola razón? ¿Qué sabemos con precisión de otro, a menos de convertirle en personaje propio? […]¿Cuándo es lo justo?, ¿ayer o ahora?, ¿quién puede dar entera noticia de algo, sí humano? (Campalans 15)
Trotz all dieser Einschränkungen – ohne Rückgriff auf die Intuition wird das Vorhaben schwierig werden, die Identifikation mit der Figur liegt gefährlich nah, und kann man das Menschliche überhaupt erfassen? – skizziert er in knappen Worten seinen Plan, durch viele Blicke auf die Figur deren Wahrheit näher zu kommen: «Escribí mi relación, valiéndome de otros, dejándome aparte, procurando, en la medida de lo posible, ceñir la verdad […].» Doch gleich im Nachsatz schränkt er diese Maxime wieder ein. Die beiden folgenden Worte vor dem Ende des Satzes haben wohl die meisten Leser seinerzeit überlesen: Dieses Vorhaben, sich selbst zurückzunehmen, anderen das Wort zu überlassen und so gut als möglich die Wahrheit zu umreißen, sei eine «gran ilusión» (Campalans 15). Als Poetik des Herausgebers ‹Aub› ist dieser Zusatz Teil einer defensiven Diskursstrategie, eine captatio benevolentiae, mit der der als Romancier bekannte Sprecher um Verständnis wirbt für die Beschränkungen seiner neuen Rolle. Als Poetik des Autors Max Aub gelesen erwächst aus diesem Satz eine andere Schlussfolgerung, insofern dieser historische Autor Aub genau das Gegenteil von dem unternimmt, was der implizite Autor ‹Aub› hier ankündigt: Er hält sich eben nicht wortgetreu an seine Gewährsmänner, sondern er legt ihnen seine oder Aussagen von Dritten in den Mund, wenn er sie sich nicht gleich ganz erfindet; er hält sich selbst nicht außen vor, sondern präsentiert sich vielfältig gebrochen in der Figur Campalans. Eine Szene am Ende der Conversaciones de San Cristóbal, in der ‹Aub› beim Blick in einen Spiegel die Gestalt Campalans’ zu erkennen glaubt, legt sogar eine Identifikation zwischen Autor, Erzähler und Protagonisten nahe. Nur den Begriff der «Wahrheit» am Ende dieses Satzes («[…] ceñir la verdad; gran ilusión»), den es, wie es im Buch in vielen Variationen heißt, ohne den der «Lüge» nicht geben kann, den führt Campalans in der Tat als Schimäre vor, flüchtig und nicht greifbar. Denn jeder Interpret, der eine Lesart dieser Figur oder dieses Buches präsentiert, eine Aussage des Protagonisten ohne deren mögliche Brechung durch die anderen Textteile interpretiert, läuft leicht Gefahr, dass seine «Wahrheit» schnell als «Lüge» widerlegt wird. Insofern ist Campalans ein Buch, das auch den professionellen Leser Demut lehrt. Wie kann es sonst passieren, dass die meisten Interpreten26 den ersten Satz der Biografía unkommentiert lassen, der so harmlos klingt und in dem doch die Behauptung und die Widerlegung
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Eine Ausnahme bildet Londero (1996: 23f.).
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der Möglichkeit eines faktisch fundierten biographischen Erzählens so nahe beieinander liegen? Er lautet: Jusep Torres Campalans nació el 2 de septiembre en Mollerusa, tal como ahí constaba en los registros de la parroquia de San Esteban, que fueron quemados en 1936. (Campalans 91)
Es dürfte schwierig sein, sich in den fünfziger Jahren bei der Feststellung eines Geburtsdatums auf ein Kirchenregister zu stützen, das zu Beginn des Bürgerkriegs verbrannt ist. Der Campalans-Komplex Die Analyse von Jusep Torres Campalans darf sich aber nicht auf Text und Ikonotext, auf Beglaubigungsstrategien und deren Unterminierung zwischen zwei Buchdeckeln beschränken, vielmehr gilt es, den in der Forschung bereits beschriebenen Weg aus dem Buch heraus weiter zu verfolgen. Susanne Klengel hat deutlich gemacht, dass nicht das «eigentümlich leere und statische» Zentrum des Buches (die Biographie und das Grüne Heft), sondern vielmehr die Paratexte, die Rahmungen und die Ränder «der eigentlich signifikante Ort des Textes» sind (Klengel 2005: 96). In diesen Paratext möchte ich die Orchestrierung der Erstveröffentlichung des Buches mit einbeziehen, insbesondere das textuelle Netzwerk von Gewährsmännern, deren Zitate die Präsentation des Buches rahmten. Weil der «Verstehensprozess» in der Lektüre von Campalans nicht mehr «linear im Buch von vorne nach hinten fortschreitet, sondern relational, im regelmäßigsten Falle netzwerkartig» (Ette 2001: 364), liegt es nahe, diese netzwerkartige Struktur in Verbindung mit dem sozialen Netzwerk zu betrachten, das Aub um die Präsentation des Buches knüpfte und als Teil der paratextuellen Rahmung inszenierte.27 Dieses Zusammenspiel zwischen Buch und präzise inszenierter Buchpräsentation nenne ich den Campalans-Komplex. Dass Campalans vom Augenblick des Erscheinens an als Teil einer Performance intendiert war, hat Dolores Fernández Martínez (1993, 1996) eindringlich gezeigt. Integraler Bestandteil der Veröffentlichung des Buches war die faktische Präsentation der Bilder in einer öffentlichen Ausstellung in Mexiko-Stadt. Damit waren die Figur Jusep Torres Campalans und ihre Werke, deren Existenz innerhalb des Fiktionszusammenhangs des Buches nur textuell und ikonotextuell behauptet wurden, von Beginn an und in besonderer Weise Teil der historischen Wirklichkeit. Hinzu kam, dass nicht nur die im Buch zitierten Gewährsmänner
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Dass Campalans nicht mehr in einer linearen Lektüre decodiert werden kann, darauf haben bereits Irizarry (1979: 97) und Ugarte (1985b: 140) hingewiesen; für sie ist die Struktur allerdings chaotisch bzw. labyrinthisch (i.S.v. rational nicht zu durchschauen), was m. E. nicht der Fall ist. Für Eberenz (1998: 76) ist Campalans ein Buch, das bevorzugt durchgeblättert wird und von dem man nur einzelne Sequenzen liest, weshalb er es gar als eine «especie de hipertexto» bezeichnet. Zur Frage der Hypertextualität im Werk Aubs vgl. Kapitel IV.
Campalans’ Werk beglaubigten, sondern auch eine Vielzahl von mexikanischen Künstlern, Journalisten und Intellektuellen, alle dem lesenden Publikum als mit symbolischem Kapital versehene Autoritäten bekannt. Wie diese Beglaubigung vonstatten ging, dafür benutzt Dolores Fernández Martínez, die minutiös den Kon- und Kotext der Veröffentlichung aufarbeitet, das Wort «Legende».28 Die von Aub gesteuerte Legendenbildung beginnt bereits über einen Monat vor der Eröffnung der Ausstellung und der Buchpräsentation mit der Vorberichterstattung in der Zeitung Excelsior, für die er selbst als freier Journalist tätig war. Am Tag vor der als Ereignis angekündigten Vernissage erscheint ebendort ein «Informe Especial», andere Zeitungen drucken Auszüge und Vorbesprechungen. Am Tag der Buch- und Bildpräsentation wird in der Zeitung ganz im Sinne Aubs auf «el hallazgo más sorprendente de la historia de las artes plásticas en el siglo veinte» hingewiesen (Excelsior 2.7.1958, zit. nach Fernández Martínez 1993: 328). Der zwei Tage später erscheinende Bericht listet über mehrere Zeilen auf, welche Intellektuellen, Kritiker und Maler (u.a. Tomás Segovia, Manuel Andújar, Carlos Fuentes, Paul Westheim) bei dem gesellschaftlichen Ereignis zugegen waren. Eine Woche später wird gemeldet, dass das Buch, «un éxito de librería sin precedentes», bereits vergriffen sei und als «el tema central de todas las conversaciones intelectuales» das künstlerische Leben von Mexiko-Stadt bestimme (Excelsior 11.7.1958, zit. nach Fernández Martínez 1993: 328f.). Im gleichen Artikel wird aber nicht verschwiegen, dass einige Kenner (einschränkend als «sogenannte» Kenner apostrophiert) Zweifel an der Existenz des Künstlers anmelden («…a quien ciertos supuestos ‹conocedores› restan vigencia creadora no obstante que sus obras están expuestas»). Gleichzeitig werden aus dem Umfeld Aubs Stimmen laut, die Verwirrung stiften: Am 12.7. wird in Excelsior einer der Galeristen mit der Aussage zitiert, Malraux habe die Bilder gemalt, während er an seinem Musée imaginaire gearbeitet habe. Einen Tag später erscheint in der Kulturbeilage der Zeitung ein ganzseitiger Artikel, der an Klarheit eigentlich nichts zu wünschen übrig lässt und festhält, dass der Maler eine Erfindung von Aub sei, ebenso wie die im Buch zitierten Kritiker, und dass Aub selbst die Bilder gemalt habe. In diesem als Klarstellung intendierten Artikel finden sich jedoch zahlreiche erfundene Beglaubigungen der Existenz des Malers, die auch als solche benannt werden («[…] contestan la ingeniosa farsa, inventando notas críticas al estilo de bien prestigiados autores», zit. nach Fernández Martínez 1993: 330). Auf dieser Zeitungsseite findet also in nuce noch einmal das Bauprinzip von Campalans Anwendung, der Behauptung eines Sachverhalts sogleich dessen Widerlegung hinzuzufügen. Mit der Folge, dass trotz des Hinweises, es handele sich um erfundene «notas críticas», diese «notas» anschließend in anderen Medien (in Rezensionen ebenso wie auf dem Umschlag der spanischen Ausgabe des Buches von 1970) wie faktisch echte Belege zitiert werden. Aus der Dokumentation der Fälschung in der mexikanischen Zeitung wird kraft der Dy-
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So etwa im Titel des Kapitels «Leyenda de Jusep Torres» in Fernández Martínez (1993: 327ff., ebenso 1996).
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namik des Campalans-Komplexes im Verlauf der weiteren Rezeptionsgeschichte eine verfälschende Dokumentation. Gerechterweise muss hinzugefügt werden, dass die in dem Excelsior-Artikel zitierten Autoren, Kritiker und Maler eine große Kreativität beim Erfinden doppelbödiger Beglaubigungen an den Tag legten: Elena Poniatowska vergleicht die Bilder Campalans mit «mazapancitos de Toledo», Álfaro Siqueiros sieht in Campalans «trayectoria pre-semi-no-objetivista» einen relevanten Beitrag zum revolutionären Prozess in der engagierten Kunst, Carlos Fuentes erfindet einen Roman, in dem Campalans ja bereits als historische Figur aufgetreten sei, Emmanuel Carballo präsentiert Campalans als «Libro de la semana» und betont, das alle Details, die Aub beschreibt, «pudieron haber sucedido, si no ocurrieron es una lástima: son demasiados hermosos». Aber auch diese Beglaubigungstexte selbst waren zum Teil Fälschungen, wie sich fünfzehn Jahre später herausstellte. Carlos Fuentes und Jaime García Terres hatten beschlossen, diese Pastiches zu schreiben, als sie bei der Vernissage Zeugen wurden, wie gutgläubig das (Fach-) Publikum auf die Bilder reagierte. 1973, nach Max Aubs Tod, erinnert sich García Terres: La gente compraba los cuadros. Fuentes y yo sorprendimos a uno de los teóricos de mayor fama local en el momento en que analizaba influencias […]. Al punto decidimos falsificar una serie de textos alusivos al pintor imaginario, atribuyéndolos a firmas genuinas en boga. Un suplemento literario acogió sin dificultad nuestros engendros en la primera plana. Y se armó la de Dios es Cristo. Max reunió las parodias y las editó en un folleto de lujo, titulado: Galeras. 29
Diese Sammlung der «Parodien» über Campalans namens Galeras, die García Terres erwähnt, ist bibliographisch allerdings nicht nachzuweisen, und man darf zweifeln, ob sie je existiert hat. Am Beispiel von Fuentes und García Terres kann man sehr gut erkennen, welche dynamisierende Kraft der Campalans-Komplex, einmal als solcher erkannt, freisetzt: Das Erkennen der Fälschung und vor allem der (spielerischen) Verfahren ihrer Produktion weckt die Lust am Mitspielen und Weiterspinnen der Semiose. Unberührt davon bleiben zunächst einmal die substanziellen Fragen, im Kontext von Subjektdiskussion und Originalitätsproblematik, die im Buch aufgefächert werden. Ähnlich wie im Fall der Ossian-Fälschung ist das entscheidende eben nicht die Entdeckung, dass eine Fälschung vorliegt, sondern das, was danach geschieht und welche Dynamik von der Fälschung freigesetzt wird. So wie im Fall der beiden Mexikaner Fuentes und García Terres: Sobald sie erkannten, wie perfekt Aub seine Erfindung vor allem durch Pastiches und falsche, aber glaubwürdige Identitätszuschreibungen zwischen Sekundärtexten und ihren vermeintlichen Autoren in den Diskurs der Kunstgeschichte eingeschleust hatte, machten sie analog weiter, indem sie ihren namhaften Kollegen und Freunden ebensolche Äußerungen zu Campalans in den Mund legten; wie
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Jaime García Terres (1973): «La Historia», in: Cuadernos Americanos 1, 68–70, zit. nach Fernández Martínez (1993: 339).
wir gesehen haben, einschließlich jener kleinen Signale (Hyperbolik, absurde Logik, betont ironische Sprecherhaltung etc.), die das Spiel als solches kenntlich machen. Auch für die Beglaubigungen aus dem Umfeld Aubs heraus gilt also, dass es sich um Fälschungen handelt, die gerade nicht auf Perfektion zielen, sondern vielmehr darauf, als Fälschungen erkannt zu werden. Wie die Fälschungen in Campalans sollten auch die Beglaubigungstexte von Fuentes und García Terres nicht unerkannt als Originale (als diktionale Texte) durchgehen, dennoch wurden sie nachfolgend oft als solche präsentiert und weiter rezipiert. Woran Aub seinen Anteil hatte, wenn er beispielsweise auf dem Umschlag der spanischen Ausgabe von 1970 als Antwort auf die Frage nach der Existenz Campalans’ auf den Band Galeras verweist: auf ein inexistentes Buch mit tatsächlich existierenden, seinerzeit in Excelsior erschienenen Aussagen historischer Personen, die aber von Dritten erfunden sind. Bleiben wir noch einen Augenblick im Jahr 1958. In der Presse schlug die Präsentation von Campalans weiter Wellen, es meldeten sich Käufer von Bildern, die erläuterten, warum sie sich nicht betrogen fühlten (vgl. Fernández Martínez 1993: 341f.), Margarita Nelken beklagte im Excelsior vom 20.7. voller Ernst, dass durch diesen billigen Scherz die Aura der Kunst in den Schmutz gezogen werde, und Alfaro Siqueiros und andere Maler der Escuela Mexicana setzten sich in der Folge ernsthaft mit der durch Campalans zum Tagesgespräch gewordenen École de Paris auseinander. Diese Texte wurden, ungeachtet aller para- oder metatextuellen Warnungen, für spätere Editionen zu glaubwürdigen Referenzen, wie Fernández Martínez im Resümee zur Analyse der Präsentation der US-amerikanischen, der französischen und der ersten spanischen Ausgaben feststellt: «En general los errores abundan en casi todas las reseñas.» (Fernández Martínez 1993: 368)30 All diejenigen, die im Juli 1958 in Mexiko-Stadt mit ihren Artikeln, Interviews und Kommentaren dazu beitrugen, einen vermeintlichen Campalans-Skandal ins Werk zu setzen, sind seitdem Teil des spezifischen Werkzusammenhangs, eben jenes Campalans-Komplexes. Diese Benennung rechtfertigt sich dadurch, dass es sich eben nicht nur um eine gelungene Buchpräsentation handelte, die als Teil der Rezeptionsgeschichte zu untersuchen wäre, sondern um eine intermediale Inszenierung, eine «experiencia teatral» (Irizarry 1979: 126), die Teile der Diegese in die historische Wirklichkeit transponierte und dort mit erheblichem diskursiven Aufwand implantierte. Im Vorwort zu Campalans hatte ‹Aub› sich als «novelista doblado de dramaturgo» (Campalans 15) bezeichnet, was man zunächst als Referenz auf das Werk des historischen Romanciers und Theaterautors Max Aub lesen kann. Damit ist aber auch die Doppelrolle des Autors beschrieben, der als «novelista» den Roman Campalans schreibt und als Bühnenautor und
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Was gerade in Spanien mit mangelnder Kommunikation und nachfolgender Unkenntnis der Kultur des Exils zu tun haben dürfte, wie Fernández Martínez (1993: 368) andeutet.
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Dramaturg (so die beiden Bedeutungen des spanischen Begriffs «dramaturgo») den Campalans-Komplex auf die Bühne von Mexiko-Stadt bringt.31 Dieser Campalans-Komplex ist gekennzeichnet durch ein dichtes Netzwerk an teils behaupteten, teils tatsächlichen, teils tatsächlichen und nachfolgend uminterpretierten Aussagen namhafter Zeitgenossen. Mit dieser textuell und durch die real existierenden Personen auch sozial beglaubigten Absicherung seiner Fälschung, also ihrer Legitimation mehr durch den Rückgriff mehr auf Namen denn auf Dokumente, Urkunden oder Stempel,32 bediente Max Aub gewissermaßen ein anthropologisches Grundbedürfnis. Die besondere Wirksamkeit sozialer Komponenten bei der Einspeisung einer Fälschung in die Wirklichkeit beschreibt Umberto Eco in Die Grenzen der Interpretation. Wie er zeigt, wird im Kontext der Fälschung eine anthropologische Notwendigkeit wirksam, sich im Prozess der Kognition auf «Kriterien der Interpretationsökonomie» zu verlassen, d.h. auf überzeugende und wahrscheinliche Argumente für «Echtheitsbeurteilungen». Welche dieser Argumente wir für wahrscheinlich und überzeugend halten, entscheiden wir, so Eco, oft instinktiv und vor allem «auf Basis sozialer Übereinkunft» (Eco 1992: 253f.). Da es sich bei den von Aub zum Sprechen gebrachten Personen um Autoritäten wie Octavio Paz oder Carlos Fuentes handelt, legt die «soziale Übereinkunft» nahe, Jusep Torres Campalans für existent und die Bilder für echt zu halten. Gerade der Sekundärliteratur, die dieses Netzwerk von Beglaubigern abbilden muss, gerinnt dessen Beschreibung leicht zu Listen großer Namen, zu einem name-dropping, das ungewollt den für Campalans so wichtigen Gedanken bestätigt, dass es der Name ist, die Signatur auf der Leinwand, die die Materie erst zu einem Kunstwerk macht: «Lo primero que hay que hacer con un cuadro es firmarlo.» (Campalans 187) Durch die Fälschung zur (hypothetischen) Rettung des Schöpfer-Subjekts Am Ende seines Lebens antwortet Jusep Torres Campalans auf die Frage ‹Max Aubs›, womit er sich denn über die Jahre beschäftigt habe: «Al mestizaje.» (Campalans 264) Aus dem Maler ist ein vielfacher Vater geworden, der die genaue Zahl seiner Kinder nicht angeben kann und die seiner Enkel auf über dreißig schätzt (vgl. 269). Mit dieser in den Gesprächen in San Cristóbal zweimal the-
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Diese doppelte Anspielung auf das Theater im Vorwort korrespondiert mit dem, was Campalans in den Conversaciones … über das Theater äußert. Zunächst bleibt er bei seinem Credo, dass es im 20. Jahrhundert keine wirklichen Schöpfer mehr gebe, nur noch Nachahmer («Han venido a ser exclusivamente intérpretes de una obra, que, a veces, no entienden. Faltan autores», 273). Anschließend betont er aber am Beispiel des Theaters die besondere Bedeutung des Publikums in der Kunst («Sin público no hay arte que valga.»), was sich vordergründig als Anspielung auf Max Aubs Situation als exilierter Theaterautor ohne Publikum lesen lässt, vor allem aber auf die bewusst kalkulierte Einbeziehung des Publikums in den Campalans-Komplex vorausweist. Dieses Verfahren der Echtheitsbeglaubigung durch (gefälschte) offizielle oder offizöse Dokumente wäre eigentlich das für eine Fälschungsgeschichte erwartbare Verfahren (vgl. Reulecke 2006b).
matisierten Vaterschaft ist in biologischer Metaphorik erneut die Frage nach Urheberschaft (und Fälschung) thematisiert; wir erinnern uns an Campalans’ Plädoyer, dass Picasso deshalb als Originalkünstler betrachtet werden müsse, weil er, kunsthistorisch gesprochen, keines Vaters Sohn sei (vgl. 135). Aber nicht nur in der Biologie und der Kunstgeschichte lebt diese Vater-Metapher, sie findet sich bereits in der Sprache des Urheberrechts, wo der «Vater» nicht nur autonomes Rechtssubjekt ist, sondern auch eine «Persönlichkeit» hat, die in seinem jeweiligen Werk zum Ausdruck kommt. Dies kann man in den juristischen Kommentaren zur jüngsten Urheberrechtsnovelle nachlesen, wo von einem «geistigen Band» ausgegangen wird, das «den Urheber mit seiner Schöpfung als geronnenen Teil seiner Persönlichkeit verbindet», und dank dieses Bandes hat der Künstler einen Anspruch darauf, «als Vater seines geistigen Kindes anerkannt zu werden».33 Anders als in der ästhetischen Theorie, wo das Subjekt fragil, seine autonome Verantwortlichkeit problematisch und seine Persönlichkeit kaum greifbar ist, sind in der juristischen Auseinandersetzung um (künstlerische) Urheberschaft, um Fälschungen oder Plagiate die Werke unveräußerlicher Teil eben dieser Persönlichkeit des Schöpfers. Ein Gedanke, der zurückgeht auf Immanuel Kants Schrift Von der Unrechtmäßigkeit des Bücherdrucks (1785, vgl. Reulecke 2006c: 272) und sich wiederfindet in dem bereits kurz angesprochenen Motto zu Campalans von José Ortega y Gasset («Hay que considerar cada obra de arte como un pedazo de vida de un hombre»).34 Wie wir sehen, gibt es paradoxerweise gerade im Kontext der Fälschung, der fingierten auctoritas, einen Co-Diskurs, in dem ein emphatisch affirmativer Begriff von Vaterschaft, Autorschaft und Original gebräuchlich ist. Verfolgen wir weiter dieses Zusammenspiel, diese eigenartige Dynamik zwischen Fälschung und Original. Anne-Kathrin Reulecke hat für das Plagiat nachgewiesen, dass der Vorwurf, plagiiert zu haben, einmal in Umlauf gebracht, nur noch schwer zu widerlegen ist, weil jede gut abgesicherte Legende eine diskursive Dynamik entfaltet, gegen die eine Gegenposition nur sehr schwer zu behaupten ist. Ihr überzeugendes Beispiel ist die Goll-Affäre der fünfziger Jahre, mit der die Witwe des französischen Dichter Yvan Goll dessen Übersetzer Paul Celan durch bald nachgewiesene Umdatierungen zum Epigonen ihres Mannes stigmatisierte. Ein Vorwurf, dessen Nachwirkungen noch lange das Bild von Paul Celans Werk in der Forschung verzerrte und für dessen umfassende Widerlegung es am Ende einer 900-seitigen Studie bedurfte. Ähnliches lässt sich für eine umfassend angelegte Fälschung wie den Campalans-Komplex festhalten, dessen intermediale
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Heimo Schlack (2001): Urheber- und Vertragsrecht. Tübingen, S. 20, zit. nach Reulecke (2006c: 273). Verweise auf Ortega bilden sogar einen intertextuellen Rahmen von Campalans, insofern eines der im Catálogo kommentierten Bilder mit dem Titel El rábano por las hojas einen expliziten Verweis auf Ortegas La deshumanización del arte ist, wo es heißt: «Tomar el arte por el lado de sus efectos sociales se parece mucho a tomar el rábano por las hojas o estudiar el hombre por su sombra.» (Ortega 2005: 50; vgl. Fernández Martínez 1999: 118)
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Inszenierung der Fälschung eine Dynamik aufweist, die bei jeder Übersetzung des Buchs wieder neue Blüten treibt35 und nur durch eine so aufwändige Untersuchung wie die von Fernández Martínez philologisch nachzuvollziehen ist. Diese Dynamik, verstanden als sich wechselseitig intensivierende Kommunikation zwischen (gefälschtem, plagiiertem) Kunstwerk, professionellen Vermittlern (Kritik, akademischer Diskurs etc.) und Publikum, ist im Kontext von Plagiats- und Fälschungsvorwürfen vermutlich deshalb so mitreißend und kreativ anregend, weil hier die wissenschaftsgeschichtlich eigentlich schon verabschiedete, weil als überholt geltende Frage nach dem Original-Schöpfer gestellt werden darf: Diese Wirksamkeit [des Plagiats- oder Fälschungsvorwurfs] aber liegt quer zu poetologischen Verlautbarungen zum «Tod des Autors». Anders gesagt: Auch wenn in poetologisch-internen oder theoretischen Reflexionen der Autor und der Original-Skribent verabschiedet worden sind, setzen sich seine Reichweite und Wirksamkeit offenbar ungebrochen – in einer Latenz – im Plagiat fort. (Reulecke 2006c: 289)
Wenn nun wie für das Plagiat auch für die Fälschung zutrifft, «daß ihr immer ein Konstrukt der autonomen Autorschaft zugrundeliegt, selbst dann, wenn mit dem [Fälschungs-] Nachweis gerade gezeigt werden soll, daß eine solche Autorschaft nicht vorliegt» (Reulecke 2006c: 289), erkennen wir besser die innere Logik eines Buches wie Jusep Torres Campalans. Der Maler Campalans strebt nach Originalität, kommt ihr aber nicht so nah, dass sein Werk seinen eigenen Ansprüchen genügen würde; paradoxerweise muss er seinen Lebensunterhalt gleichzeitig mit dem Geld bestreiten, dass seine Freundin als Kopistin im Louvre verdient. In seiner Weltsicht stehen sich Picasso (der Schöpfer) und Gris (der Kopierer) gegenüber, wobei gerade im Vergleich zum Nachahmer der besondere Wert des Schöpfers deutlich wird. Eine Interdependenz, die bereits in der rhetorischen Frage des Mottos «¿Cómo puede haber verdad sin mentira?» angesprochen ist. Seine Lösung für das Dilemma, seine Kunst nicht ins Leben, seine Art (kreativ) zu lügen nicht in Wahrheit überführen zu können, ist eine private: Er wird vielfacher Vater, Schöpfer von «mestizos», also europäischamerikanischen Originalen. Keine Kunst, nur Leben, kein Oszillieren zwischen Wahrheit und Lüge, sondern biologische Evidenz. Aub, der historische Autor, gibt sich mit dieser Lösung für sein Werk (den Roman Jusep Torres Campalans) nicht zufrieden. Zunächst geht er einen seiner Figur vergleichbaren Weg: Er kopiert (kunsthistorische Texte), er variiert nach Vorbildern (er schreibt leicht
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Bei der englischen Übersetzung stieg beispielsweise der Economist auf das Verwirrspiel Aubs ein und erfand weitere biographische Details (vgl. Fernández Martínez 1997: 6), und im Zusammenhang mit der Vorstellung der deutschen Ausgabe war geplant, dass Studenten der Münchner Kunstakademie einige der Bilder Campalans’ noch einmal kopieren sollten, um sie wie seinerzeit Aub bei der Präsentation verwenden zu können; aus finanziellen Gründen kam diese Reproduktion nicht zustande. Das ZDF-Kulturmagazin Aspekte (24.10.1997) ging in seinem Beitrag über den Roman den preiswerteren Weg und montierte Fotos der Gemälde in die MAZ einer anderen Kunstausstellung, so dass für den Fernsehzuschauer der Eindruck entstand, den Bericht über eine faktische Ausstellung der Bilder jenes vergessenen Freundes von Pablo Picasso zu sehen.
veränderte kunsthistorische Diskurse, er malt Gemälde im Stil der historischen Avantgarde), er komponiert in kubistischer Manier (die Zusammenschau fragmentierter Blicke auf die Figur) und er stellt sein Vorgehen in Frage (etwa in den metabiographischen Einschüben zu Beginn). Aber indem er noch einen Schritt weiter geht und den Campalans-Komplex ins Leben ruft, indem er Text, Bild und Inszenierung kombiniert, gelingt es ihm tatsächlich, mit der Kunst ins Leben hineinzuwirken: Schließlich verändert der Campalans-Komplex selbst für diejenigen Rezipienten die Wahrnehmung der Wirklichkeit (und sei es nur kurzfristig), die das Buch nicht gelesen haben, und erst recht für all diejenigen, die sich am Weiterspinnen der «Campalans-Legende» beteiligen. Dass er dies von Mexiko-Stadt aus tut, in einem Blick zurück nach vorn, der sich auf Paris und die europäischen Avantgarden der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg richtet, um daran anknüpfend die Kunst der Gegenwart auf ihre Zukunftsfähigkeit zu befragen, ergibt am Ende in ähnlicher Weise ein «europäisch-amerikanisches Original» wie es die von Campalans gezeugten Mestizen sind. In der Summe verbinden sich Text, Bild und Campalans-Komplex zu einem transkulturellen und intermedialen Kunstwerk, dem man seine Originalität kaum absprechen kann. Denn, so meine These, es war Max Aub gar nicht so wichtig, «il falso più falso» zu schaffen, wie Puccini (1995: 155) schreibt, sondern im Gegenteil ausreichend viele Hinweise darauf zu geben, dass es sich bei dem Maler um eine Erfindung, bei den Bildern um Fälschungen, bei der Präsentation um eine irreführende Inszenierung handelt. Dies legt bereits eine mise en abyme im Cuaderno verde nahe: Mentir, pero no ser mentiroso. No engañar a nadie. Ofrecer, para quien bien lo quiera; encubrir la intención, no esconderla; no creer jamás que los demas son bobos, al contrario: decir para iguales. Si se junta lo supuesto verdadero con lo falso, dar pistas, dejar señales para que todos hallen el camino del alma. (Campalans 230)
Im letzten Satz steht nicht nur explizit, wie Campalans zwischen Wahrheit und Lüge malen möchte, sondern implizit auch, wie der Leser mit all den Hinweisen auf die Fälschung umgehen möge: Er soll sich auf seinen «camino del alma» begeben. Nur wenn der Leser sich auf die Spur der Fälschung begibt, wenn der Philologe dazu verführt wird, sich mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln daran zu machen, zwischen echten und falschen Zitaten, fiktiven und historischen Gewährsmännern zu unterscheiden, nur dann funktioniert die Rettung des Subjekts durch die Hintertür des Fälschers. Die meisten Bücher über Fälscher und Fälschungsskandale sind für den empirischen Leser ja vor allem deshalb so attraktiv, weil das Happy End auf das Enthüllen der Fälschung, auf das zuvor spannungsfördernd verzögerte Erkennen ihrer Komponenten hin konstruiert ist. Solche Bücher verführen mit dem «tröstlichen Versprechen an den Leser, daß es eine gesicherte Grenze zwischen Original und Fälschung gibt» (Reulecke 2006b: 12). Anders im Fall von Campalans, wo gerade nach einer ersten Lektüre leicht übersehen wird, dass es sich bei dem Maler um eine fiktive Figur und bei seinen Bildern um Fälschungen handelt. Aber selbst nach eingehender detektivischphilologischer Ermittlung bleibt die Grenze zwischen Original und Fälschung 63
auf allen Ebenen verwischt36 – allein schon dadurch, dass künstlerischer und wissenschaftlicher Diskurs mit ihren divergierenden Konzepten von Wahrheit und Autorschaft so eng miteinander verschränkt sind. Die Verknüpfung von wissenschaftlichem und künstlerischem Diskurs: Eine der Schwierigkeiten bei der Analyse der Frage nach Original und Fälschung, Autorschaft und Plagiat etc. in Campalans, die bei der Lektüre vieler Beiträge der Sekundärliteratur offenbar wird,37 liegt ja gerade darin begründet, dass das Buch in seiner «mestizaje» aus wissenschaftlichem Diskurs (der Text der Künstlermonographie, also vor allem die Peritexte, die Annalen und der Katalog) und künstlerischem Diskurs (der durch die Bilder generierte Ikonotext sowie das Cuaderno verde) mit zwei unterschiedlichen Begriffen von Wahrheit operiert: Während in der Wissenschaft, die verifiziert und falsifiziert, «wahr» in Opposition zu «falsch» steht, widmet die Kunst seit der Moderne dieses Binom um zu einem Gegensatz zwischen «original, neu» und «gefälscht, kopiert». Norbert Bolz: Man könnte geradezu sagen, daß [die moderne Kunst] mit der Rejektion der Unterscheidung wahr/falsch erst modern wird. Kunst soll nun nicht mehr wahr, naturgetreu oder verosimilis sein, sondern original und neu. (Bolz 2006: 410)
Eine homologe Opposition lässt sich für das Verständnis von Autorschaft in den genannten Bereichen festhalten. Der Wissenschaftler schreibt dann systemisch korrekt, wenn er sich in transparenter und wiederholbarer Weise auf bisheriges Wissen bezieht, während der Künstler idealerweise etwas so noch nie Gesagtes, Gesehenes oder Gehörtes so erschafft, dass es Einmaligkeit beanspruchen darf. Übertragen auf Campalans hieße das: Für das Selbstverständnis des Herausgebers ‹Aub› ist eine Vorstellung von wissenschaftlicher Autorschaft bestimmend, die «auf Größen wie Objektivität, Faktizität, Universalismus und Reproduzierbarkeit» beruht (Reulecke 2006b: 28) – zumindest gibt er das als seine Intention vor. Demgegenüber propagiert Jusep Torres Campalans ein Konzept künstlerischer Autorschaft, die sich als autonome Selbstschöpfung versteht, neu, originell und idealerweise ex nihilo. Nun werden aber auf der Ebene des wissenschaftlichen Beglaubigungsdiskurses historische Akteure mit falschen Statements zitiert, ebenso fiktive Figuren mit Paraphrasen tatsächlich existierender Studien. Im künstlerischen Ikonotext haben wir es meist mit epigonalen, rückdatierten Variationen von Bildern der kubistischen Klassiker zu tun, aber von der zur Ikone geronnenen Signatur Cam-
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Die Grenzen werden «sacht unterspült», wie Ette (2000: 676) formuliert, um zu betonen, dass eben kein radikaler Bruch im Sinne der historischen Avantgarden vorgeführt wird. Eberenz (1998: 72) listet all die diffusen Denominationen auf, mit denen der Roman schon bedacht wurde («travesura, broma, farsa literaria, falsificación literaria o juego literario»). – Der Frage nach der Fälschung und der Konstruktion von wahr vs. falsch im Werk Max Aubs wurde bereits eine ganze Tagung gewidmet (vgl. Grillo 1995).
palans’38 bis zu seinen späteren Werken wie dem Juego de cartas [ĺ Kap. IV] hat der fiktive Campalans im künstlerischen Sinne Originale hinterlassen. Wie wir sehen, ist der Wahrheitsbegriff des wissenschaftlichen Diskurses vom Originalitätsbegriff des künstlerischen Diskurses in Bewegung versetzt und viceversa: Der ‹wissenschaftliche› Diskurs über Campalans erweist sich als faktisch falsch, aber neuartig, originell, innovativ, erst recht, wenn man den Campalans-Komplex mit berücksichtigt; der ‹künstlerische› Diskurs von Jusep Torres Campalans seinerseits ist, anders als behauptet, nicht originell, sondern kopiert, aber dennoch im wissenschaftlichen Sinne ‹wahr› und ‹echt›, und im juristischen Sinne muss er als ein Original betrachtet werden. Indem Aub nun seinen Text mit ausreichend vielen Markierungen als deduzierbare Fälschung ausstattet (wir erinnern uns an all die Widersprüche im Text bzw. zwischen Text und Ikonotext), lockt er den Leser und den Philologen mit dem «Versprechen, die Grenze zwischen Eigenem und Fremdem eben doch ganz exakt lokalisieren zu können» (Reulecke 2006c: 290). Wenn es nur gelingen könnte, so die gezielt geschürte Hoffnung des Rezipienten, die Fälschung(en) im künstlerischen Diskurs und das Falsche im wissenschaftlichen Diskurs präzise zu identifizieren, hätte er implizit auch die Nicht-Fälschung und das Wahre, also das Original und sein Schöpfer-Subjekt dingfest und erkennbar gemacht. Da ihm aber der Campalans-Komplex genau dies so gut wie unmöglich macht, stößt der Autor und Dramaturg Aub sein Publikum genau darauf: dass das Original und mit ihm sein Schöpfer zwar möglich und ersehnt, aber kaum präzise zu bestimmen sind. Er schärft unsere Aufmerksamkeit dafür, «wie unsicher unsere Identitätskriterien sind und wie sehr Begriffe wie Wahrheit und Falschheit, echt und gefälscht, Gleichheit und Verschiedenheit zirkulär und in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander definiert werden» (Eco 1992: 255).39 Dass Jusep Torres Campalans dem «tröstlichen Versprechen», es könnte das Original und den aus dem Nichts heraus schaffenden Künstler tatsächlich geben, außerhalb des Buches Leben eingehaucht hat, macht die besondere Qualität dieses Werkes aus. Früher als die Neoavantgarde der sechziger Jahre zeigt Max Aub damit eindringlich, wie einzelne Parameter der historischen Avantgarden
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«JTC», die drei Buchstaben, die das Kürzel seines Namens bilden, werden in der Signatur, die sich auf Campalans Werken findet, zu graphisch miteinander verschmolzenen Linien umgeformt: Die Signatur des vom Schriftsteller erschaffenen Künstlers als Überblendung von Text-Zeichen und Bild-Zeichen. In seiner semiotischen Typologie von Fälschungen im Kontext seiner Ausführungen zu den Grenzen der Interpretation kommt Umberto Eco zu einem Schluss, der der hier vorgeschlagenen Lektüre von Campalans sehr ähnlich ist, dass nämlich gerade Fälschungen ex nihilo (so seine Terminologie für einen Fall wie Campalans) den Blick auf die allgemeine Frage nach dem Begriff des Originalen lenken. Er schreibt: «Bei einer unreflektierten Betrachtungsweise des Problems der Fälschungen hat es den Anschein, als gehe es darum, den Sachverhalt, daß etwas dasselbe wie ein angeblich echter Gegenstand sei, entweder zu bejahen oder zu bezweifeln. Sieht man aber besser hin, so scheint das wirkliche Problem darin zu bestehen, was man unter ‹echtem Gegenstand› verstehen soll.» (Eco 1992: 241)
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– in diesem Fall die Veränderung der Wirklichkeit durch die Kunst sowie der Anspruch, den Künstler aus seiner Isolation zu befreien, in die ihn die Autonomisierung der «Institution Kunst» getrieben hatte – nach der Zeit der historischen Avantgarden kreativ weiterverfolgt werden können. Wobei Aubs neue Avantgarde überhaupt erst im Blick zurück auf die Avantgarden funktioniert, im Blick zurück auf den kubistischen Maler und nach vorn auf seine europäischamerikanischen Vaterschaften. So wird das Buch zu einer (exemplarischen) Geschichte der Avantgarden und zu einem Beispiel für avantgardistisches Schreiben nach der Avantgarde. «Cada día odio más lo falso», hatte Aub an Aleixandre geschrieben (Aub 1992a: 48). Campalans war seine ebenso doppelbödige wie doppelsinnige Reaktion darauf: Die Inszenierung der Fälschung als Original, die Rettung des Schöpfers durch den Kopierer.
Vida y obra de Luis Álvarez Petreña oder: wer ist der Autor? Auch Luis Álvarez Petreña stellt die Frage nach Grenzen und Möglichkeiten fiktionaler Literatur im 20. Jahrhundert, allerdings ohne jene intermediale Doppelung, die die Inszenierung des Campalans-Komplexes erst möglich machte. Direkter noch als das Buch über den nach Chiapas geflohenen Maler zielt dieses Langzeitprojekt – über vier Jahrzehnte hinweg stellte sich Max Aub der Herausforderung seiner Figur Álvarez Petreña – über einen an der Kunst wie am Leben leidenden Schriftsteller der Zeit der Avantgarde auf die Frage, wie nach dem Ende der historischen Avantgarden und eingedenk der Erfahrung von Weltkrieg, Holocaust und Exil überhaupt Literatur geschrieben werden kann. Die drei Teile des work in progress Dabei hatte Max Aub einen bescheideneren Anspruch, als er zwischen Oktober 1932 und Februar 1934 in der Zeitschrift Azor den Kurzroman Luis Álvarez Petreña in Fortsetzungen veröffentlichte. Im gleichen Jahr 1934 erschien der Text, der in den beiden späteren Ausgaben als primera parte apostrophiert ist, als Buch. Dieser Teil war ursprünglich als Einzelveröffentlichung geplant, erst im Nachhinein, nach Bürgerkrieg, Exilierung und der ästhetischen Neuorientierung ab den dreißiger Jahren, entwickelte er sich zum work in progress mit spezifisch intratextueller Dynamik. Anfang der dreißiger Jahre hingegen war Luis Álvarez Petreña nach Geografía, Prehistoria, 1928 und Fábula verde erst Aubs vierte Prosaveröffentlichung. Doch macht sich der Text bereits das gleiche Verfahren zunutze, das bereits im Abschnitt über Campalans analysiert wurde: Eine Figur namens ‹Max Aub› spricht im Vorwort als Herausgeber der Schriften jenes Luis Álvarez Petreña, dessen Lebensdaten er knapp referiert. Geboren 1897, vermutlich Tod durch Ertrinken 1931. Nach dem Studium erste Veröffentlichungen 1918 und 1925, aber ohne nennenswertes Echo. Ein Abschiedsbrief Petreñas an ‹Aub› autorisiert den Adressaten, seine Schriften zu edieren (Petreña 27–32). Diese Tagebuchaufzeichnungen Petreñas vom 29. November bis 66
Mitte Dezember 1930 sowie ein Notizbuch, in dem auch Briefe seiner Frau Julia enthalten sind, bilden den größten Teil des ersten Buchs (Seite 33–102 in unserer Ausgabe); es folgen zwei Briefe von Laura, der vergeblich umworbenen Liebe des Autors, die dem Herausgeber ‹Aub›, wie er schreibt, von einem Freund zugespielt worden seien (103–108). Im Anhang (Apéndice, 109–111) sind schließlich drei Gedichte Petreñas abgedruckt. Trotz der paratextuellen Brechungen und der noch aufzuzeigenden inneren Widersprüche in der Gestaltung der Figur Petreñas kann man für diese erste Lieferung des Buches die Stoßrichtung noch relativ klar benennen: Max Aub imaginiert eine literarische Figur, die ein wenig älter ist als er (sechs Jahre) und die wie er im Kontext der Avantgarden der «edad de plata» erste literarische Gehversuche unternimmt. Aber anders als Aub, der verheiratete Familienvater, Geschäftsmann, PSOE-Mitglied seit 1929, findet seine Figur keinen Ort im praktischen Leben, weder politisch noch als Bürger, und vor allem findet sie keine Anerkennung im literarischen Feld. Petreñas Gedichtbände sind nicht rezipiert worden, und das mit gutem Grund, da er, wie der Herausgeber ‹Aub› bissig urteilt, nicht zum Dichter geboren sei. Petreñas Bücher, so das Urteil, «no revelan tampoco que L.A.P. hubiese nacido para poeta de mayor importancia» (Petreña 27). Nur weil der Freund mit seinem narzisstischen, letztlich romantischen Literaturverständnis typisch sei für die heutige Zeit, kommt ‹Aub› dessen letztem Wunsch nach und veröffentlicht die Schriften, die ihm zugänglich sind: «El problema personal de L.A.P. es vulgar; […] pero el tipo que representa para mí es mucho más curioso.» (31) Nicht der einzelne Künstler interessiert ihn, sondern der für seine Generation typische Fall, und insofern steht die Kunstfigur Petreña für ein bestimmtes Konzept von Leben und Literatur. Wie wir sehen werden, ist es ein Konzept, das dem von José Ortega y Gasset in La deshumanización del arte [ĸ Kap. I] beschriebenen recht genau entspricht. Dreißig Jahre später erscheint Luis Álvarez Petreña zum zweiten Mal, nunmehr ergänzt um eine segunda parte. Erneut wendet sich zunächst ein Herausgeber an den Leser, diesmal zeichnet er mit dem Kürzel «M.M.» und referiert gewissermaßen, was bisher geschah: Von einem anderen spanischen Exilanten, einem aus Zaragoza gebürtigen Ingenieur namens Mendizábal, habe er nach dessen Tod Manuskripte erhalten, darunter zwei Texte von Petreña, eine Erzählung (Leonor, 118–166) und einen Monolog (Tibio, 170–173), dazu ein Widmungsgedicht an Petreña von einem gewissen «L. de G.» (116f.). Da auch sein Freund Alfonso Reyes «para quien los libros no tienen secreto» (116) ihm die Autorschaft Petreñas und dessen Lebensdaten bestätigt, lege er («M.M.») sie nun vor. Als Beleg für die Existenz Petreñas habe Reyes auf dessen beide Gedichtbände aus den zwanziger Jahren und eine «especie de autobiografía» verwiesen, posthum erschienen in Valencia, mithin auf den ersten Teil von Petreña. Das wird nicht der letzte intratextuelle Verweis sein, mit dem das biographisch-editorische Projekt mal sich selbst zu stützen vorgibt, mal sich selbst in Frage stellt. Letzteres geschieht beispielsweise im Peritext vor dem zweiten (vermeintlichen) Text Petreñas, Tibio, eine kursivierte Einführung eines Herausgebers, der nun mit «M.A.» zeichnet (167–169). «M.A.» referiert darin seine Begegnung mit dem nordame67
rikanischen Doktoranden Charles F. Burton,40 der eine Studie über Luis Álvarez Petreña schreiben möchte; Burton ist überzeugt, dass die Erzählung Tibio, wie La equivocación erstmals erschienen in Max Aubs Zeitschrift Sala de Espera, von Petreña stamme. «M.A.» folgt ihm in dieser philologischen Zuschreibung und übernimmt folglich Tibio, dieses «autoretrato, verosimilmente travestí» (168) in diesen zweiten Teil von Petreña, jedoch nicht ohne seine negative Einschätzung der literarischen Qualitäten Petreñas aus dem Vorwort von 1934 zu wiederholen: «Por esos textos tampoco alcanzará la gloria con la que soñó.» (169) Beeindruckt zeigt sich «M.A.» von der gründlichen Bibliographie, die Burton zu Petreñas Werk zusammengetragen habe, genannt werden an dieser Stelle u.a. Rezensionen, die zu Max Aubs Petreña von 1934 tatsächlich erschienen waren und in denen «el crítico ponía en duda la existencia de L.A.P» (167). Wie in Campalans, so werden also auch in Petreña tatsächlich publizierte diktionale Texte zum Bestandteil eines fingierten wissenschaftlichen (diesmal philologischen) Absicherungsdiskurses herangezogen. «M.A.» und Burton sind sich einig, dass Petreña wohl doch nicht Selbstmord verübt habe, sondern dass er jener Mendizábal sein dürfte, von dem «M.M.» in der ersten Einleitung spricht. Wenn dem so sei, gesteht «M.A.» ein, «me engañó del todo en todo», folglich müsse er sich fragen, ob nicht das Verschwinden jenes Mendizábals nur eine weitere Finte sei: «¿…andará por el mundo riéndose de mí?» (168) Nicht zum letzten Mal muss der Herausgeber seine eigenen (philologischen) Fähigkeiten in Zweifel ziehen. Die Petreña-Ausgabe von 1965 endet mit einer Nota final (174f.), dem Schreiben eines Mitarbeiters von Camilo José Cela, «[que] conoció las dudas acerca de la paternidad de estos textos» (174), in dem der Tod Petreñas durch Ertrinken im Sommer 1931 vor Mallorca bestätigt wird.41 Ein weiterer Brief, verfasst von dem Dichter Rafael Méndez Bolio, der vorgibt, den Ingenieur Miguel Mendizábal gekannt zu haben, vertritt die Auffassung, dass Leonor und Tibio kaum von Mendizábal stammen könnten, da dieser «nunca me pareció aficionado a las letras» (175). Womit der zuvor von «M.A.» und Burton formulierten Hypothese widersprochen wird, Petreña könnte unter dem Namen Mendizábal im Exil gelebt und diese späten Texte verfasst haben. Auf den letzten Seiten wird also die
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Wie wenig «M.A.» von akademischen Literaturkritikern à la Burton hält, unterstreicht die Anmerkung, dass der US-Amerikaner, falls er nicht genug Material für seine Arbeit über Petreña finde, bereits eine zweite Idee für seine Doktorarbeit habe: «Traía la idea […] de hacerla [tésis] acerca de la influencia de Klopstock, Winckelmann, Kleist, Arnold y Gottsched en Ionesco y Beckett. Le animé a ello, como es natural.» (168f.) – Die geduldige Nachsicht Max Aubs gegenüber US-amerikanischen Doktoranden beschreibt Gustav Siebenmann (2007). Der spätere Nobelpreisträger Camilo José Cela lebte seinerzeit auf Mallorca, von wo aus er mit eigenen Mitteln die wichtige Literaturzeitschrift Papeles de son Armadans herausgab, in der Aub wie auch andere Autoren des republikanischen Exils regelmäßig veröffentlichten und so zumindest den Zugang zu einer begrenzten literarischen Öffentlichkeit im franquistischen Spanien finden konnten. – Tod durch Ertrinken, das könnte ebenso ein Verweis auf Ángel Ganivet sein, den Vorläufer der 98er-Generation, der ebenfalls Selbstmord verübt hatte.
Eingangsthese, wonach Petreña unter dem Namen Mendizábal weitergelebt und weiter geschrieben habe, wieder mit einem Fragezeichen versehen. Offen bleiben die Fragen, wer der Autor der wiedergegebenen Texte sein mag, und was für eine Art Herausgeber «M.A.» ist, wenn er nicht einmal diese Frage beantworten kann. Wie doppelbödig die zweite Ausgabe von Petreña die Frage der Autorschaft (der Feststellbarkeit von Autorschaft) verhandelt, macht die Tatsache deutlich, dass Leonor wie Tibio bereits zuvor in der von Max Aub edierten und exklusiv mit eigenen Texten beschickten Zeitschrift Sala de Espera erschienen waren (Ausgaben 2, 50 von 1950 sowie 1, 3 von 1949). Leonor war zudem Bestandteil von Aubs Erzählungsband La verdadera historia de la muerte de Francisco Franco (Mexiko 1960); diese Veröffentlichung im Sammelband war am Ende noch ergänzt um eine Advertencia final, in der es hieß: Al manuscrito iba prendida con un clip la siguiente carta, anónima sólo para nosotros. La falta de firma seguramente no fue obstáculo para el señor Álvarez Petreña: «Infelíz, leí tu relato. ¡Qué absurdo! ¿Así crees que soy?»42
Die Figur Petreña wendet sich an den Autor, wenn auch ohne seinen Namen, seine «firma», preiszugeben. Offenbar sieht er sich in der Erzählung behandelt, allerdings in einer Weise, mit der er sich nicht identifizieren kann, daher der Vorwurf: «¡Que absurdo! ¿Así crees que soy?» Die Figur sieht ihr Sein anders als der Autor, eine Diskussion, die seit Miguel de Unamunos Niebla (1914) zum metaliterarischen Repertoire der spanischen Moderne gehört.43 Wirklich «absurd» aber wird dieses Billet Petreñas, wenn man die Erzählung betrachtet, in der zwar um die titelgebende Leonor und ihren schriftstellernden Vater Don Raúl einige junge Männer auftreten, die ebenfalls literarische Vorlieben haben, aber keiner, dessen Curriculum auch nur im Entferntesten Ähnlichkeit mit dem Petreñas aufweisen würde. Die dritte und letzte Ausgabe von Petreña erscheint 1970 in Mexiko (als Teil des Auswahlbandes Novelas escogidas) sowie 1971 in Barcelona, diesmal unter dem erweiterten und nunmehr endgültigen Titel Vida y obra de Luis Álvarez Petreña. Das Buch enthält die beiden bis hierher beschriebenen ersten Teile sowie einen dritten, der wiederum mit einer Nota beginnt, unterschrieben von «M.A.», sowie einem Prólogo ohne Signatur, der aber von Petreña zu sein scheint, da er die primera parte des Buchs als «mi biografía» bezeichnet und er sich mit diesem Prólogo an «mi amigo Max Aub» (181) wendet. Seite an Seite stehen, mit dieser gedoppelten Vorbemerkung, der Herausgeber und der von ihm edierte Autor, Subjekt und Objekt der Biographie, wobei der Leser schon an dieser Stelle die Rollenzuschreibungen nur schwer auseinanderhalten kann. «M.A.» bezeichnet
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Zitiert nach Pérez Bowie (1996: 374, Fußnote 13). In der hier benutzten neuesten Ausgabe der Erzählung (1999) fehlt diese Advertencia fi nal, die in der Alianza-Ausgabe (Madrid 1972) enthalten war. Miguel de Unamuno war für Aub einer der besonders geschätzten Autoren (vgl. Pérez Bowie 2003b), ihm widmete er 1964 auch die zweite Nummer der Zeitschrift Los Sesenta.
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Petreña noch als seinen Schatten («me ha seguido su sombra, si no lo era ya en sí», 180), Petreña jedoch dreht den Spieß um, wenn er die Abschrift seiner Manuskripte durch Aub als das Beste bezeichnet, was jener an Prosa geschrieben habe («alcanza tal vez lo mejor de su prosa», 181).44 Mit dieser Aussage stellt die literarische Figur nun ihr eigenes künstlerisches Werk an den Ursprung der Arbeit ihres Schöpfers, und die Rollen zwischen beiden haben sich verkehrt. Auch wenn Petreña sich darüber wundert, zu was für einer seltsamen Figur er geworden sei («Curioso personaje éste que me tocó ser a lo largo de mi vida», 181), so betont er doch den wahrhaftigen, dokumentarischen Charakter des Buches, in dem keinerlei Fiktionalisierung der Wirklichkeit erfolgt sei. «Este libro es cualquier cosa menos literatura» (181f.), und zwar weil «en él ni se engaña, ni se miente ni se falsea ni se falsifica ni se finge […]».45 Auf diese Beteuerung der Glaubwürdigkeit des Herausgebers folgt das Diario inglés de Max Aub (27 de abril – 4 de mayo de 1969). In dieser Zeit befand sich der Autor tatsächlich in London wegen Herzproblemen in Behandlung (vgl. Aznar Soler 2003b: 155). Auf diesen Seiten nun gibt der Tagebuchautor ‹Max Aub› vor, Luis Álvarez Petreña seinerzeit in einem Londoner Krankenhaus begegnet zu sein. Während eines Besuches bei Tochter und Enkel habe er sich einweisen lassen müssen, zu Bettruhe verdammt habe er die politischen Nachrichten verfolgt (die Abdankung de Gaulles, die Reaktionen darauf). Als es ihm schließlich besser geht, ändert sich das Wetter, Nebel zieht auf, und im direkten Anschluss an eine Reflexion darüber, wie der Nebel46 die Wahrnehmung der Wirklichkeit verändert, kommt es auf der Station zur Begegnung mit Petreña, den er zunächst überhaupt nicht erkennt. Petreña wird zunächst von ‹Aub› wie vom Klinikpersonal nur als «el otro español» bezeichnet, eine Denomination, die sich einmal verstehen lässt als «der andere Spanier» (auf der Station gibt es nur zwei spanischsprachige Patienten), und als «das spanische Andere»: Damit ist Petreña auch in der Denomination zum «spanischen Anderen» des inzwischen zum Mexikaner gewordenen ‹Max Aub› umgeschrieben. Dieser «andere Spanier», so erfahren wir nachfolgend, hat im letzten Jahrzehnt ebenfalls seine nationale Identität gewechselt, hat die britische Staatsangehörigkeit angenommen und nennt sich seitdem Tomás Covarrubias,47 ist pensionierter Drucker und beteuert, nie in Mexiko gewesen zu sein (womit er nicht jener Mendizábal des zweiten Teils von
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Dass das wörtliche Abschreiben eines bestehenden Textes bereits eine ästhetisch innovative Leistung darstellen kann, führt Jorge Luis Borges’ Erzählung Pierre Menard, autor del Quijote vor, die Aub Mitte der sechziger Jahre bekannt gewesen sein dürfte. Zum Vergleich der Aubschen Apokryphe und der imaginären Biographien Borges’ vgl. Durán/Safir (1975). «Betrügen», «Lügen», «Fälschen» und «Fingieren» sind die Stichworte, mit denen Petreña die Eckpunkte (fiktionaler) Literatur umreißt, Konzepte, die im Mittelpunkt der Analyse der Ästhetik Jusep Torres Campalans’ zu Beginn dieses Kapitels standen. Womit erneut ein Verweis auf Miguel de Unamunos Roman Niebla und die dort vorgeführte Umkehrung der Hierachie zwischen Autor und Figur untergebracht ist. Ein Nachname mit semantischem Potenzial, spielt er doch auf Sebastián de Covarrubias (1539–1613) an, einen der berühmtesten Lexikographen spanischer Sprache (Tesoro de
Petreña sein könnte). Weiterhin versichert dieser Petreña/Covarrubias, keine der Erzählungen der segunda parte verfasst zu haben, allerdings habe er im hohen Alter, animiert von einer neuen Liebe, noch einmal etwas geschrieben. Das Ergebnis dieser späten Rückkehr Petreñas zur Literatur ist der nun folgende längere tagebuchartige Text (Último cuaderno de Luis Álvarez Petreña, 219–266), auf den ein weiterer Einschub des Herausgebers «M.A.» folgt, zwar ohne Signatur, aufgrund von Namensnennungen (die Tochter Mimín, die Ehefrau «P.») aber eindeutig ihm zuzuordnen. Auf diesen Seiten schildert ‹Aub› euphorisiert seine Entlassung aus dem Londoner Krankenhaus, den anschließenden Besuch eines belebten Marktes sowie des Grabes von Petreña, der in der Zwischenzeit verstorben ist. Weitere Kurztexte folgen: zunächst ein Schulaufsatz (Trabajo en clase de B.G.R., acerca de este libro, 269–273), in dem ein junger Leser in der Jetzt-Zeit über Petreñas Werk urteilt, dass es nicht viel tauge: «[…] no puede contarse, ni mucho menos, como de los que hacen época» (272). An diesen Einschub schließen sich zwei kurze literarische Texte an, eine Erzählung mit dem bezeichnenden Titel La equivocación und der Theaterdialog María, deren Autorschaft nicht benannt wird.48 Zwei weitere Metatexte beschließen den dritten Teil und die Edition letzter Hand des Buches. Es handelt sich um ein Verlagsgutachten über Luis Álvarez Petreña («Informe estrictamente confidencial de un académico español acerca de este libro, hecho por encargo de una editorial española», 290– 294), das von einer Veröffentlichung dieses kruden Konglomerats rundweg abrät: «Resumen del informe y opinión para su posible publicación: TOTALMENTE NEGATIVO», gezeichnet «L. D.-P. Madrid, 1970» (294). Letztes Textfragment ist eine Schlussbemerkung (A toro pasado, 295f.), die zwar nicht namentlich gezeichnet ist, deren Inhalt – eine autodiegetische Erzählerfigur blickt zurück auf ihre fast vier Jahrzehnte währende Beziehung zu Petreña49 – aber deutlich macht, dass hier wiederum ‹Max Aub› spricht. Explizit mit «M.A. 1970» ist denn auch jene Vorbemerkung unterschrieben, die seit der Ausgabe letzter Hand dem Buch vorangestellt ist, und in der ‹Max Aub› sein Lebensalter bei der Veröffentlichung der drei Lieferungen (28 bei der ersten, 50 bei der zweiten, 66 bei der dritten) zu dem Petreñas in Beziehung setzt: «No diré […] que el escribir una novela alrededor de un protagonista debe de hacerse a la edad del mismo. Pero lo he
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la lengua castellana, 1611). ‹Aub› hingegen macht, als er den neuen Namen hört, erst einmal einen zotigen Witz: «Tomás Cuevas Rubias.» (Petreña 206) Den Text María hatte «M.A.» schon in seiner Vorbemerkung zu Tibio seinem Freund Petreña zugeschrieben (vgl. 168), während in einer Fußnote (274) zu La equivocación lediglich festgestellt wird, dass der Herausgeber nicht mit Sicherheit sagen könne, ob Petreña der Autor sei oder nicht. Zwar weise der Text Ähnlichkeiten mit seinen früheren auf, so oder so sei er aber nur Ausdruck einer flüchtigen Begegnung («Si lo es […] no es más que la trasposición de un encuentro voladero», 274) – womit der Herausgeber die Literatur Petreñas zum banalen Reflex auf reale menschliche Begegnungen reduziert. Aub betont die charakterliche Kontinuität Petreñas: «En cuanto a calidad humana» (295) sei der Petreña der dreißiger Jahre nicht anders als der der sechziger.
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hecho.» (23)50 Nach- und Vorbemerkung von «M.A.», die den Rahmen bilden für die endgültige Edition, betonen also besonders die chronologisch gewachsene Beziehung zwischen dem Editor/Autor und der Autor-Figur. Petreña oder der Weg von José Ortega y Gasset … Luis Álvarez Petreña ist in mehrfacher Hinsicht «un libro-límite» (Nora 1973: 264) unter Aubs Apokryphen: Weil der Autor, wie wir gesehen haben, als Schöpfer grundsätzlich und auf mehreren Ebenen in Frage gestellt wird. Die Autonomie, die die Figur Petreña gegenüber dem Erzähler und Herausgeber ‹Aub› erlangt, gipfelt in expliziter Kritik an seinen Texten. Im dritten Teil schließlich kann bald nicht mehr klar geschieden werden, welche der beiden Autor-Figuren ihr Gegenüber schärfer kritisiert. Wenn die beiden kranken Männer sich beispielsweise im Krankenhaus wechselseitig ihren literarischen Misserfolg vorhalten – «A ti no te leíamos más que tus cuatro amigos. A mí, seis» (Petreña 211) –, ist an dieser Stelle nicht zu erkennen, wer von beiden spricht. Der Dialog wird dergestalt ohne erzählerische Vermittlung wiedergegeben, dass die Identität der Sprechersubjekte vom Leser selbst zugewiesen werden muss. Möglich ist diese Ambivalenz, weil Max Aub in den zwanziger und dreißiger Jahren so gut wie kein Publikum hatte und folglich diese Aussage über die fehlende literarische Wirkung auf beide zutreffen kann. 51 Die fehlende Rückbindung an das Publikum – selbst in diesem so sensiblen Punkt lässt sich ‹Aub› von seiner Figur vorführen. Und besonders heikel wird das Thema, wenn man es nicht nur chronologisch betrachtet (im Rückblick auf die Vorkriegszeit), sondern auch räumlich, schließlich befinden sich beide im Exil, außerhalb ihres Sprachraums und zudem im Krankenhaus – also in mehrfacher Hinsicht ausgeschlossen und getrennt vom Publikum. Mehrfach wird betont, dass sie die einzigen Spanisch Sprechenden auf der Station sind, Kontakte nach außen sind nicht Teil der Diegese, und ihre literarische Diskussion erfolgt ohne Berücksichtigung der Frage, wer ihre späteren Texte tatsächlich gelesen haben könnte. So gesehen verweist die Problematik,
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Die Frage der Generationenzugehörigkeit war für Max Aub im Exil eine sehr wichtige. Vgl. sein Projekt einer Zeitschrift, in der nur Autoren über 60 schreiben (Los Sesenta) oder seine Vorstellung vom Exil als raum-zeitlicher Einheit, wie es in La gallina ciega mehrfach zum Ausdruck kommt [ĺ Kap. V]. Kaum zu zählen sind die Passagen im dritten Teil, in denen die Überblendung der Figuren in gleicher Weise erfolgt. Etwa wenn Petreña, in dem fiktiven Tagebuch ‹Aubs›, zu diesem sagt: «–Toda la vida me busqué en los demás, jamás di conmigo. ¿Y tú? Le miré. Me miró. No supe si mentía o no. – Tampoco – le contesté sin saber, a mi vez, si decía la verdad.» (Petreña 213) Man vergleiche hierzu die zahlreichen Selbstzeugnisse Max Aubs, in denen er seine Vorliebe für den (literarischen) Dialog erläutert [ĺ Kap. V]. Zugleich birgt dieser Dialog auch eine mise en abyme von Petreña, denn Max Aub versuchte ja in der Tat, in der Figur Petreñas einen Teil seiner schriftstellerischen Laufbahn zu porträtieren und zu analysieren. Da aber zweimal betont wird, dass der Wahrheitsgehalt beider Aussagen unsicher ist, wird die Relativität jeder der möglichen Lesarten unterstrichen.
kein Publikum gehabt zu haben, auf ein anderes Leitthema dieser Studie, die Frage nach dem «ausgeschlossenen Schreiben» [ĺ Kap. V]. Vor allem aber ist die Figur Petreñas als Verkörperung der Schnittmenge recht präzise referenzialisierbarer Konzepte von Kunst und Literatur konstruiert, die in dem Maß desavouiert werden, wie Petreña künstlerisch unproduktiv bleibt. Vor allem die erste Lieferung des Buchs ist zum einen eine Abrechnung mit den Konzepten der «literatura deshumanizada», wie José Ortega y Gasset sie analysiert hatte [ĸ Kap. I], und zum anderen eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des «nuevo romanticismo» und der «literatura de avanzada», die José Díaz Fernández Anfang der dreißiger Jahre in die Diskussion um die Weiterentwicklung der Avantgarden eingebracht hatte. In mehrfacher Hinsicht wird die Figur Petreñas in den Konzepten von Ortega y Gassets «arte deshumanizado» gefangen dargestellt. Diese kritische Haltung gegenüber Ortega wiederum kennen wir bereits aus Aubs Literaturgeschichte Discurso de la novela española contemporánea. So beklagen Petreña wie Ortega die (vermeintliche) Missachtung und Einflusslosigkeit des Schriftstellers in Spanien: «[…] la indiferencia es absoluta. […] Este aislamiento que el hacer literatura causa en nuestro país refuerza el sentimiento de soledad y aislamiento en que el intelectual vive.» (Petreña 41f.) Petreña verficht ein Konzept der reinen Kunst, eines «arte para artistas» (Ortega 2005: 52ff.) und äußert sich explizit gegen eine Politisierung derselben: «¿Qué hago yo en esta vida por cuyos intereses no me intereso? ¿Qué me importa a mí el marxismo por el cual andan mis amigos revueltos?» (Petreña 57), ein Elitismus und Absentismus, den ihm ‹Aub› in seinem Vorwort zum Vorwurf macht: «El hombre de hoy no puede librarse de los problemas que plantea urgentemente el siglo.» (Petreña 30) Wie Ortega in seinem Bild vom Glas und dem Garten fordert (vgl. Ortega 2005: 53f., vgl. Kap. I), wird in seinen literarischen Schriften weder er selbst noch der von ihm beschriebene Garten erkennbar, sondern vor allem das Glas – das Wie der Literatur. Es fehle schlicht der Bezug zwischen Mensch und Werk, wie der Herausgeber ‹Aub› festhält: «[…] estos poemas […] no aportan, para el conocimiento de su autor, ningún dato de importancia.» (Petreña 27) Petreña und seine Generation seien «envenenada[s] por unas artes que nada le debían a lo natural y partidarias a cierta complicación, no por el gusto de sus resultados sino por la complicación misma» (Petreña 31) – was Aub in seinem Discurso (191) knapp als «cagarrita literaria» bezeichnet hatte. Aber Petreña hält auch gegenüber Ortega und seinen Schülern Distanz. So meidet er etwa ihre Tertulias, mokiert sich über die Suche eines «dramaturgo de vanguardia» nach einer «vida integral» (Petreña 69) und gewinnt in dieser Abgrenzung Züge eines «escritor decadente y tardo-romántico» (Corella Lacasa 2003: 76). Besonders betont wird beispielsweise sein Narzissmus, wenn er über sich selbst in seinen Briefen schreibt, «mi generación ha siempre escrito de sí misma» (Petreña 86) und betont, dass er nicht durch die Kunst Revolution machen wolle, sondern dass vielmehr eine Revolution ihn retten solle: «Creo que mi salvación estaría en una revolución social […]. Nada menos que una subversión total del mundo pido para posibilitar mi salvación.» (Petreña 90f.) Dieser Art überspannter «romanticismo» mache seine «memorias» typisch für 73
die Zeit, urteilt der Herausgeber ‹Aub›: «[Es] sintomática de un estado de espíritu más común de lo que pudiésemos suponer.» (Petreña 30) Bis hierhin kann man also festhalten: Luis Álvarez Petreña ist als ein Künstler beschrieben, der Paradigmen der Ortegaschen Kunstauffassung mit einer romantischen vermengt, was eigentlich ein Widerspruch ist, wenn man Ortega y Gassets Ablehnung gegenüber der Romantik und dem mit ihr verbundenen Bild eines «arte popular» bedenkt. Implizit verbirgt sich hier eine erneute Kritik an Ortega, nämlich die These, dass sein Purismus und Elitismus möglicherweise gewissen romantischen Grundgedanken so fern nicht stehen. Wichtiger als dieser Nebengedanke ist an dieser Stelle jedoch der Bogen, den der Text mit seiner Kritik an Dekadenz und Romantik zum Konzept des «nuevo romanticismo» schlägt, auf das ‹Aub› in seinem Vorwort indirekt anspielt, wenn er davon spricht, dass sich heute, Anfang der dreißiger Jahre, der literarische Kontext geändert habe, hin zu einem «restablecimiento que hoy parece columbrarse en las maneras del vivir y de las artes» (Petreña 31). … zu José Díaz Fernández Kommen wir zu José Díaz Fernández. Nicht mehr nur symptomatisch, sondern auch taxonomisch wichtig für das Verständnis der Evolution der spanischen Avantgarden (wenn diese biologische Metapher keinen inneren Widerspruch bedeutet) ist sein Buch aus dem Jahr 1930, das für Aub so anregend gewesen sein dürfte wie Ortegas fünf Jahre zuvor erschienene La deshumanización del arte ihm eine Herausforderung gewesen war. Gemeint ist El nuevo romanticismo. Polémica de arte, política y literatura (Díaz Fernández 1985). Ähnlich wie Ortegas Schrift als Sammlung von meist vorab erschienenen Essays publiziert, ist das Buch zugleich Kritik und Weiterentwicklung der «deshumanización del arte» und seiner «pulidos jardines metafóricos», wogegen Díaz Fernández sein Ziel setzt, sich dem Menschen zuzuwenden, dem «intricado bosque humano, donde acechan las más dramáticas peripecias» (Díaz Fernández 1985: 38). Er vertritt eine Konzeption von Literatur, die zwar zum Menschlichen zurückkehrt («una vuelta a lo humano», 56), ohne deshalb jedoch hinter die formalen Möglichkeiten der vergangenen Jahre zurückzufallen. Seine Schlüsselbegriffe in diesem Zusammenhang sind «síntesis, dinamismo, renovación metafórica, agresión a las formas académicas» (56). Statt eines l’art pour l’art fordert er «un arte para la vida, no una vida para el arte», mithin eine Kunst, die er als «literatura de avanzada» oder «nuevo romanticismo» bezeichnet (58). Anders als Ortegas Text ist der von Díaz Fernández jedoch weitaus weniger bekannt (vgl. López de Abiada 1982: 56, 1989: 20), was mit seiner marginalen Stellung im literarischen Feld zusammenhängt: Geboren 1898, Journalist ab 1920, verkehrte er bald in der Madrider Tertulia von Ortega y Gasset. 1925 wird Díaz Fernández Literaturredakteur bei El Sol und reüssiert 1928 mit dem Roman El blocao, in dem er seine Erfahrung als Soldat im Kolonialkrieg in Marokko verarbeitet. Ein zweiter Roman über einen jungen Intellektuellen im Madrid der Avantgarden La venus mecánica (1929) bleibt völlig unbeachtet. Er gründet zwei 74
Zeitschriften, wird Abgeordneter des Partido radical-socialista in den Cortes und während des Kriegs u.a. Mitarbeiter im Erziehungsministerium. Im Februar 1939 flieht er nach Frankreich, wird sofort interniert und stirbt, auf die Möglichkeit zur Ausreise hoffend, 1941 in Toulouse – kein Curriculum, aus dem eine Ortega nur annähernd vergleichbare Macht im literarischen Feld erwachsen würde. Dennoch zeugen die Artikel in seinen Zeitschriften Post-Guerra (1927–1928) und Nueva España (1930–1931) wie deren Zusammenstellung in dem Band El nuevo romanticismo von einer seismographischen Sensibilität für die Neuorientierung der spanischen Literatur am Ende der zwanziger Jahre, wie José Manuel López de Abiada (1989) detailliert belegen kann. Was Aub und Díaz Fernández verbindet und zugleich ihre seinerzeit nur marginale Wirkung erklären kann, ist ihr Versuch, eine Position zwischen den Extremen einzunehmen, und bezeichnenderweise versuchen sie das beide im Ästhetischen wie im Politischen. Díaz Fernández kam aus dem unmittelbaren Umfeld Ortegas und ging in seinen späteren Schriften auch nie auf Konfrontationskurs zu ihm. Im Gegenteil, er würdigt Ortegas Essay als wichtigen Schritt bei der Durchsetzung des «arte nuevo» in Spanien. Aber er wendet sich in den dreißiger Jahren nicht rückhaltlos den Vorstellungen eines realistischen Romans mit primär sozialer Funktion zu. Die Konsequenz aus dieser Zwischenposition ist die Ausgrenzung von Seiten derer, die die politische, die politisierte Literatur einfordern: «[…] se ve como marginado por los escritores de la novela revolucionaria.» (López de Abiada 1982: 64) Politisch geht er den Weg bis zum (im weitesten Sinne) links-bürgerlichen Partido social-radicalista und zur aktiven politischen Arbeit als Abgeordneter und Ministerialbeamter – aber eben nicht bis in eine der großen Arbeiterparteien. Ähnlich dazwischen steht Aub, der zwar 1929 in die Sozialistische Arbeiterpartei eintritt, aber immer auch liberale Bürger- und Freiheitsrechte verteidigt. Und beide verfechten eine Neuorientierung der Literatur, die sich den politischen Herausforderungen der Zeit stellt (dies in Abgrenzung zu Ortega), ohne aber auf die ästhetischen Errungenschaften der Avantgarden zu verzichten (das als Abgrenzung zur «novela revolucionaria»). Was in Petreña fiktional angedeutet wird, findet sich bei Díaz Fernández diktional ausformuliert. Zunächst ‹Aub› über Petreña: […] ese reducir a su pasión los hechos del mundo contemporáneo, recuerdan muchos escritos secundarios de principios del siglo pasado. El mismo tono burgués de su estilo es una prueba más de este romanticismo, ya que el romanticismo fue, precisamente en sus medios, un movimiento burgués y nacionalista. […] Pertenecía a una generación truncada por la guerra [de Marruecos], envenenada por unas artes que nada le debían a lo natural y partidarias de cierta complicación, no por el gusto de sus resultados sino por la complicación misma. Quizá hubiese llegado demasiado tarde al restablecimiento que hoy parece columbrarse en las maneras del vivir y de las artes. (Petreña 30f.)
Und nun bei Díaz Fernández: Esta vuelta a lo humano es la distinción fundamental de la literatura de avanzada, que agrega a su pensamiento y a su estilo las cualidades específicas del tiempo presente. Aquellos valores aportados por el futurismo de Maiakowski, no han sido desdeñados
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por los nuevos escritores: síntesis, dinamismo, renovación metafórica, agresión a las formas académicas. […] Para eso se necesita, sencillamente, un nuevo romanticismo. […] Lo que se llamó vanguardia literaria en los últimos años, no era sino una postrera etapa de una sensibilidad en liquidación. Los literatos neoclasicistas se han quedado en literatos a secas. La verdadera vanguardia será aquella que ajuste sus formas nuevas de expresión a las nuevas inquietudes del pensamiento. Saludemos al nuevo romanticismo del hombre y la máquina que harán un arte para la vida, no una vida para el arte. (Díaz Fernández 1985: 56ff.)
Eine doppelte Aufmerksamkeit fordert Díaz Fernández vom Künstler, eine für die veränderten Vorstellungen von der Gesellschaft («nuevas inquietudes del pensamiento») und eine für deren ästhetische Übersetzung («sus formas nuevas de expresión»). Nur beides zusammen könne die neue «literatura de avanzada» hervorbringen, verstanden als «confluencia ideal entre arte libre y compromiso consciente» (López de Abiada 1982: 64). Es ist diese Re-Politisierung der zuvor meist absentistisch auftretenden Avantgarden, die Max Aubs Schreiben ab den dreißiger Jahren kennzeichnet. Dabei besteht die Besonderheit seines Falles darin, dass er diesen Weg zurück, d.h. zurück zu den Ursprüngen der politisch revolutionären ersten Avantgarden, nur so weit geht, wie er die individuelle Freiheit des künstlerischen und politischen Subjekts gewahrt sieht. Das verbindet Aub mit Díaz Fernández, das unterscheidet ihn etwa von Rafael Alberti oder Miguel Hernández, die sich weitaus stärker in den Dienst der Arbeiterparteien stellen und an deren ästhetischen Maximen orientieren. In den frühen dreißiger Jahren stellt Aub sich hingegen die Frage, wie Erzählen über die Avantgarde mit Mitteln der Avantgarden möglich sein könnte, und seine Suche nach solch einer neuen Form des Erzählens beginnt mit der ersten Lieferung von Petreña. Das lässt sich an den meta- und peritextuellen Kommentaren zu Petreñas Praxis als Autor ablesen, aber auch an der Form, in der sich diese unvollendete Biographie des Avantgardisten präsentiert: Die Montage der Textfragmente und die innere Widersprüchlichkeit zwischen ihnen zeigen bereits 1934, dass Aub keineswegs zurück will zum realistischen Erzählen eines Pérez Galdós oder Blasco Ibañez. In den beiden folgenden Lieferungen radikalisiert sich die Darstellung, insofern die Referenzialisierbarkeit der Erzählinstanzen ebenso aufgelöst wird wie die der Textfragmente, weshalb Petreña auch als «pura textualidad, escritura en despliegue» (Oleza Simó 1994: 1) interpretiert wird. Darüber darf aber nicht übersehen werden, dass der Text die lebensweltliche Anschlussfähigkeit nie aufgibt, wie etwa jene Szene gegen Ende exemplarisch zeigt, als ‹Aub› das Krankenhaus verlässt: Gleich sein erster Weg führt ihn ins brodelnde Leben eines Wochenmarkts und unmittelbar anschließend auf den Friedhof zu dem nunmehr endgültig toten Petreña. Ein symbolisch aufgeladener Weg: vom Ort der ästhetischen Diskussion und der Vergangenheit, vom Ausschluss in der Klinik zurück ins Leben und in die Gegenwart, aber nicht ohne den Gedanken an den Tod und die Reverenz am Grab. Auch deshalb ist Petreña für Joan Oleza Simó ein Schlüsselroman zum Verständnis des Übergangs von der «literatura de vanguardia» zu einer «literatura de 76
avanzada»: «[Petreña es] la novela española que captó con mayor profundidad la encrucijada estética de finales de los años 20 y principios de los 30, con su lucha por la hegemonía literaria de tres poéticas, las del modernismo-novecentismo, la de la vanguardia surrealista y la del nuevo romanticismo-realismo.» (Oleza Simó 1996a: 101) Die Frage nach dem Autor Fassen wir zusammen: Petreña führt die Autonomisierung der literarischen Figur von ihrem Autor vor und verbindet eine konkrete Kritik an den Leitgedanken der Avantgarde mit einem möglichen Modell für ein avantgardistisches Schreiben nach den Avantgarden. Und noch etwas Drittes kommt hinzu. Petreña unternimmt eine systematische Unterminierung52 der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, die darauf abzielt, die Trennlinie zwischen Autor und Text, zwischen Erzähler und Figur, zwischen erzähltem Leben und gelebtem Leben nachhaltig zu verwischen. Insbesondere diese Dynamisierung von Unterscheidungen und Grenzziehungen, die den Text auf mehreren Ebenen kennzeichnet, soll im Folgenden exemplarisch für die in diesem Kapitel besonders relevante Frage nach der Inszenierung von Autorschaft analysiert werden. Zwei Zugänge bieten sich an, wenn man die verschlungenen Wege der Modellierung künstlerischer Urheberschaft in Petreña verfolgen will: der chronologische, der zwischen den drei aufeinander folgenden Lieferungen des Textes unterscheidet, oder der retrospektive, der Vida y obra de Luis Álvarez Petreña als Ganzes in den Blick nimmt. In der bisherigen Textbeschreibung wurde der erste Weg, Fragment für Fragment gegangen, nun soll Petreña als textuelles Ganzes betrachtet werden. Von dieser Warte aus gilt es festzuhalten: Zwar schaffte es «Luis Álvarez Petreña (1897–1969)»,53 kraft seiner heteroreferenziellen Glaubwürdigkeit zeitweise als Autor im Katalog der Library of Congress in Washington geführt zu werden – der historische Autor aller drei Lieferungen des Textes aber ist Max Aub (1903–1972). Sein Name auf dem Umschlag benennt paratextuell die Differenz zwischen dem Autor und der Figur, um deren «vida y obra» es geht. Petreña ist keine Autobiographie, wie sie Philippe Lejeune definiert, keine autodiegetische Erzählung des Lebens, verantwortet von einem Subjekt, das mit dem identisch wäre, das peritextuell und intradiegetisch «Ich» sagt (vgl. Tortosa 1993: 401). Doch in den rahmenden Peritexten von «M.A.» wird durchaus betont, dass die Figur Petreña in anderer Hinsicht durchaus autobiographisch gelesen werden kann: Als Geschichte der Generation des historischen Autors Max Aub, zu der er sich aber in kritische Distanz setzt. Im allgemeinen Wortverständnis
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Es ist wichtig zu beachten, dass es um eine «relativización de los límites entre ficción y realidad» geht (Pérez Bowie 1995: 87), nicht um eine «anulación» (Leal-Santiago 2001/2002: 285). Diesen Eintrag verbürgt Fuentes (2005: 230). Heute [2011] hingegen erscheint das Buch im dortigen Katalog unter Max Aub, ein Autor namens Álvarez Petreña ist nicht nachweisbar.
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gehören er und Petreña zu einer Generation, wenn auch nicht in dem Sinne, dass sie einer literarischen Generation im Sinne des generacionismo zuzurechnen wären. Dieser Petreña ist für Aub kein Spiegel, in dem er sich (identifikatorisch) doppelt, sondern ein Zerrspiegel, dank dessen er sich (distinktiv) von seinen eigenen Anfängen im weiteren Umkreis der Revista de Occidente und der Schüler von José Ortega y Gasset lossagt.54 Diese Art Avantgardeexistenz wird, wie bereits gezeigt, in mehrfacher Hinsicht desavouiert, etwa wenn der fiktive Herausgeber «M.A.» im Peritext den geringen künstlerischen Wert von Petreñas Werk unterstreicht, oder durch die Tatsache, dass von diesem literarischen Werk nichts geblieben ist – der Autor selbst hat es vernichtet. Der Leser hat allerdings nicht die Möglichkeit, die Qualitäten von Petreñas Dichtung selbst zu überprüfen, schließlich findet sich kein eindeutig von ihm verfasster fiktionaler Primärtext in diesem Buch oder anderswo. Da schon die erste Lieferung von 1934 von einem abwesenden, einem unbekannten Kunstwerk handelt, ist es nicht verwunderlich, wenn die in den folgenden beiden Lieferungen präsentierten Primärtexte nicht definitiv ihm zugeschrieben werden können; die diesbezüglichen Unstimmigkeiten zwischen ‹Aub›, Burton und Méndez Bolio in der Segunda parte wurden bereits erwähnt. Zu der Tatsache, dass dieser avantgardistische Text nicht existiert, passt dann auch, dass der avantgardistische Autor selbst verschwindet: Im ersten Teil durch Selbstmord bzw., wie sich später herausstellt, durch Flucht; im zweiten ist er abwesend, und im dritten verschwindet er wiederum durch seinen Tod. Von seinem Werk, dass unbestimmbar zwischen dekadent-narzisstischem l’art pour l’art und elitistischem Dünkel aus dem Umkreis Ortegas schwankte, bleibt ironischerweise nur ein reichlich wirres autobiographisches Fragment. Petreñas Leben, als Künstler wie als Mann, ist flüchtig und bleibt unfruchtbar. Wenn seine Aussage stimmt, dass die in der zweiten Auflage veröffentlichten Erzählungen von Aub stammen (und die Veröffentlichungsgeschichte der beiden Texte in Max Aubs Zeitschrift Sala de Espera sprechen dafür), bleiben von seinen fiktionalen Texten, außer dem zweiten autobiographischen Fragment des dritten Teils, nur La equivocación und María. Der als generationentypisch apostrophierte Autor hinterlässt als einzige Veröffentlichungen zwei Büchlein aus den zwanziger Jahren, die unsichtbar bleiben (seinerzeit ebenso wie heute für den Leser von Max Aubs Buch über sein «Leben und Werk»), daneben zwei selbstverliebte Tagebücher gescheiterter Liebesbeziehungen sowie eine Erzählung und einen Dialog. Wenig Text für vier Jahrzehnte als Schriftsteller, und ebenso unfruchtbar wie seine Kunst sind seine Lebens- bzw. Liebesbindungen: Mehrfach wird angedeutet, dass sich seine
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Wie Oleza Simó (2003b: 310ff.) in seinen Überlegungen zur «emancipación del apócrifo» zeigt, liegt gerade darin die Originalität Aubs: Seine Apokryphen bleiben, anders als die von Machado oder Pessoa, nicht als Spiegelungen den Interessen des Autors untergeordnet, sondern sie emanzipieren sich und gewinnen im Fall von Petreña beträchtlich an Autonomie.
Geliebte Laura wegen seiner Impotenz von ihm abgewendet haben dürfte.55 Im Gegensatz zu Jusep Torres Campalans, der nach 1914 in einer bewussten Entscheidung die Fortpflanzung an die Stelle der künstlerischen Produktivität setzt, wird Petreña in der Kunst als von Emotionen Getriebener und im Leben als kinderlos vorgestellt. Anders als von dem katalanischen Maler bleibt, in der Kunst wie im Leben, von jenem Luis Álvarez Petreña wenig bis gar nichts. Wie könnte auch etwas bleiben von jemandem, der als Person so wenig greifbar ist. Gerade sein autobiographisches literarisches Testament von 1931 strotzt nur so von logischen Widersprüchen, etwa wenn er im Tagebuch einer Nacht zunächst schreibt «que tengo ahora bien despejados mis ideas» (Petreña 47), während es wenig später heißt: «[…] tengo ahora las ideas aglomeradas, la cabeza revuelta» (49), weshalb Petreña selbst sich als «amasijo de contradicciones» (21) bezeichnet. Der Grund für die psychologisch inkohärente Selbst-Darstellung des Tagebuchschreibers dürfte auch darin liegen, dass Petreña, der in surrealistischer Manier gegen das Diktat der Rationalität und Intelligibilität schimpft (vgl. Oleza Simó 1994), danach strebt, durch eine Art «écriture automatique» eine höhere, vorrationale Wahrheit zu erfassen: «He escrito ese ‹horrenda› con toda buena fe, sin darme cuenta, es decir, diciéndo la verdad verdadera.» (67) Doch so wie «M.A.» sein Objekt Petreña letztlich nicht versteht, so scheitert auch Petreña selbst am Verstehen eines Anderen, wenn er immer wieder klagt, aus dem Verhalten seiner geliebten Laura nicht schlau zu werden: «¿Como eres tú de verdad?» (59), fragt er, obwohl er doch ahnt, dass «todo ser es incomprensible para los demás» (60). Darum stellt er auch den referenziellen Wert seines Tagebuchs in Frage, das er einschränkend als «una especie de autobiografía» (98) bezeichnet. Vielmehr glaubt er zu erkennen, dass ihm Literatur nicht beim Verstehen der Wirklichkeit hilft, im Gegenteil, sie behindere ihn. Als «podrido de literatura» (43) bezeichnet Petreña sich selbst, und an anderer Stelle schreibt er: «Todas mis deducciones se basan en postulados novelescos […] y mi imaginación se llena de trapos a todo viento, […] de horas en vela, de las novelas que he bebido como fuente misma de la vida.» (34) Mehr noch, er begreift, dass in seinem Lebensentwurf die Literatur an die Stelle des Lebens getreten ist: «[…] de las novelas que me han servido de matiz, de las que he ido sin darme cuenta procurando realizar en mi vida, de las que he realizado creando vida verdadera. Porque […] esta es la vida.» (34)56
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So bereits in der Einleitung des Herausgebers, wo ‹Aub› vom «problema sexual» Petreñas spricht (30). Auch der Dichter selbst deutet solche Nöte an, etwa wenn er Verständnis äußert für die sexuelle Zurückweisung durch seine Freundin und resigniert hinzufügt: «Perdóname, no sirvo para nada.» (62) Das Leben, das durch exzessive Lektüre aus der Bahn gerät: An dieser Stelle geht es Petreña wie Don Quijote, der im ersten Teil von Cervantes’ Roman durch die Lektüre der Ritterromane den Bezug zu den sozialen und kommunikativen Codes des Jahres 1605 verliert. Aubs Reflexionen über Cervantes Roman finden sich in dem Band De Max Aub a Cervantes (Aub 1999d).
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Luis Álvarez Petreña ist als in sich widersprüchliche Persönlichkeit gezeichnet, als Mensch, der sein Leben allein in schriftlicher Entäußerung realisiert, als Vertreter einer Avantgarde, die aus ihren Wortwelten nicht zurück ins Leben findet. Doch stellt sich die Frage, warum Aub es nicht bei dieser zeitgeschichtlich stimmigen und selbstkritischen Distanzierung von einem bestimmten Typus Schriftsteller und dem von ihm verkörperten Avantgarde-Konzept belassen hat, warum er der Figur zwischenzeitlich eine Wiederauferstehung zugestand und sich kurz vor seinem Tod der direkten Konfrontation mit ihr stellte? Betrachten wir dazu zunächst das Curriculum der Figur, die mehrfachen juristischen Identitäts- und Nationalitätswechsel des Autors Luis Álvarez Petreña. 1934 ist er Spanier aus Valencia, 1965 heißt er Mendizábal und ist Mexikaner, 1971 schließlich nennt er sich Covarrubias, ist Engländer und berichtet, dass er sich, als Hommage an den romantischen Dichter Bécquer, inzwischen als aus Sevilla gebürtig ausgibt (vgl. Petreña 213). Sein letzter Wille ist jedoch, dass er unter dem Namen «Luis Álvarez Petreña» beerdigt werde, wie ‹Aub› bei seinen Recherchen erfährt (vgl. Petreña 218). Haben wir oben gesehen, dass sich aus seinen eigenen Schriften kaum eine künstlerische Identität erkennen lässt, so gilt dies auch für die Dokumentation seiner staatsbürgerlichen Identität. Sein individuelles Identitätszeichen, sein Name, wechselt mehrfach, ebenso sein kollektives Identitätszeichen, die Nationalität.57 Luis Álvarez Petreñas Identität besteht offenbar darin, dass er sich Identitätszuschreibungen jedweder Art entzieht. Wie die anderen Apokryphe Max Aubs führt Petreña vor, dass Identitätszuschreibungen immer problematisch sind, synchron (wie wir in der Analyse der Petreñaschen Selbstsuche im ersten Teil gesehen haben) wie diachron. ‹Aub› erkennt ihn nämlich 1969 kaum wieder: «¿En qué se parece este hombre al que conocí? En nada. Es otro […]. No, no se parece en nada a él mismo.» (Petreña 207f.). Doch ebenso geht es ihm mit sich selbst, wie er in der Reflexion über diesen Zusammenhang von Zeit und Identität erkennt: «Además, ¿soy el que fui? Ni el que seré.» (Petreña 205) Indem der Figur Petreña zwei literarische Wiedergeburten ermöglicht werden, indem ihr gewissermaßen drei Leben zugestanden sind, unterstreicht Vida y obra de Luis Álvarez Petreña die Tatsache, dass sich der von ihm verkörperte Typus des Schriftstellers nicht einfach mit einem bestimmten Typus historischer Avantgarden überlebt hat. Das könnte man annehmen, wenn es nur die Ausgabe von 1934 gäbe. So aber schreibt das Buch eine zweifache Geschichte. Einerseits die einer (literarischen) Avantgarde, die sich produktiv weiterentwickelt – hierfür steht die Autor-Figur ‹Aub›, die sich zum Realismus hin geöffnet hat, zur politischen
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Der Dialog ‹Aubs› mit der Krankenhausverwaltung, in dem er nach dem Verbleib des «anderen Spaniers» forscht, gibt Max Aub Gelegenheit zu einer kurzen Burleske über Nationalitätsstereotypen und deren Inkompatibilität mit modernen Lebenswegen, wie sie sich in seinem Werk häufig findet [ĺ Kap. V]. ‹Aub› fragt nach dem Spanier Covarrubias, worauf man ihm antwortet, ob er vielleicht jenen Max Aub meine. Nein, außerdem sei er Mexikaner. Ob das nicht dasselbe sei, gibt die Angestellte zurück, u.s.f. (vgl. Petreña 218).
Anteilnahme, zur Vermittlung zwischen Leben und Kunst. Andererseits die einer Avantgarde, die ihre historische Bedingtheit weiterhin leugnet und in unfruchtbarer Weise von ihren ursprünglichen Paradigmen nicht ablassen kann. Denn es ist gerade die chronologische Bedingtheit der menschlichen Existenz, die Petreña nicht akzeptieren will,58 etwa wenn er im hohen Alter noch von einer Liebe träumt, die nicht dem Lauf der Zeit unterworfen sein soll (vgl. Petreña 214f.). Zudem fällt auf, dass die meisten seiner Texte tagebuchartige Verarbeitungen unmittelbarer Liebeserfahrungen sind – was der Herausgeber eingangs als typisch romantisch und als «reducir a su pasión los hechos del mundo contemporáneo» (Petreña 30) kritisiert hatte. Besonders deutlich wird sein Verharren in den protoromantischen Paradigmen spanischer Avantgarden im Motiv der Flucht, das Petreñas Leben dominiert: Pathetisch inszeniert er 1931 seinen Selbstmord als Flucht aus dem Leben und der Kunst, und ebenso abrupt flieht er wohl auch aus Mexiko. Mehrfach bricht er lebensweltliche wie nationale Zusammenhänge von heute auf morgen ab. Eine andere Art Flucht verbirgt sich hinter der Tatsache, dass er mehrfach seinen Namen wechselt, wo doch der Nachname üblicherweise Kristallisationspunkt des symbolischen Kapitals eines Künstlers ist. Offenbar wird in der mehrfachen Betonung seiner Vorliebe für die Flucht nach vorn jene Ästhetik des Bruchs und des Avant-garde-Seins (i.S.v. Vorhut sein) karrikiert und kritisiert. Da er, als Karikatur des ständig brechenden und vorpreschenden Künstlers, immer vorneweg ist, kann er nie bei sich sein. Die Geschichte der diversen Fluchtbewegungen des Autors Luis Álvarez Petreña kann folglich auch als Skizze über die Flüchtigkeit von Autorschaft gelesen werden, der jegliches Zentrum fehlt. Da aber das Buch, wie wir oben gesehen haben, eine doppelte Geschichte schreibt, wird hinter dieser Maske der literarischen Figur etwas von der persona Max Aub sichtbar: Der Mensch, der mehrfach unter existenzbedrohenden Umständen zur Flucht gezwungen war, der seinen Namen, selbst wenn er ihm als Schriftsteller und Staatsbürger Nachteile einbrachte, nicht wechselte, und der dem Wechsel zur mexikanischen Nationalität nur als ultima ratio zustimmte; der Autor, der sich schon in jungen Jahren der Ästhetik des Bruchs nicht verschreiben mochte und sie später als lebensfern kritisierte, etwa in der Figur des Luis Álvarez Petreña. Doch die intradiegetisch von ‹Aub› vertretene Position einer Leben und Literatur verbindenden Ästhetik wird nicht nur, wie soeben gezeigt, gespiegelt, sondern gewissermaßen in die Zange genommen: Von der einen Seite durch Petreñas Beispiel einer Existenz, die aus der Literatur nicht ins Leben findet, zum anderen durch diejenigen Figuren, die verschiedene Spielarten einer Haltung des Lebens gegenüber der Literatur verkörpern, die vor allem lebenspraktisch, funktional und pragmatisch sein will. Hierfür stehen der Doktorand Burton, der noch je-
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Genau diese Bedingtheit durch den Zeitpunkt der Geburt und die nachfolgende Einbindung in einen spezifischen Generationszusammenhang hat Max Aub in Luis Buñuel. Novela nachdrücklich herausgearbeitet (vgl. Sánchez Vidal 1996b: 767). Zum Zusammenhang von Zeit und Ort, Generationalität und Exil vgl. Kap. V.
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den Autor und Denker auf seinen Horizont zurechtstutzen würde, der «Schüler», der ohne viel differenzierendes Federlesen sein harsches Urteil fällt, oder der «académico», der in seinem Verlagsgutachten allein an den Buchmarkt denkt. ‹Aubs› Modell einer lebensweltlich zentrierten Relativierung des Literarischen mit dem Ziel, das Literarische gerade durch diese Rückbindung zu stärken, steht in der Mitte, zwischen den von Petreña auf der einen und von den Nebenfiguren auf der anderen Seite vertretenen Positionen. Wie fragil diese Position ist, zeigt sich darin, dass sie mehrfach gebrochen und durch die in sich widersprüchliche Argumentation des Herausgebers selbst in Frage gestellt wird,59 oder im Verzicht auf das nur angedeutete starke Schlussbild am Ende des Diario inglés: Beide Autoren wurden «enfermo del corazón» ins Krankenhaus eingeliefert, aber Petreña stirbt, während ‹Aub› überlebt und sofort nach der Entlassung aus dem Hospital mit seiner Tochter (also familiär eingebunden) über den belebten Markt von Hemel Hampstead schlendert (Petreña 268). Mit der Schilderung der Pracht und Üppigkeit dieses Marktes kontrastiert der anschließende Besuch auf dem einsamen Friedhof, an Petreñas Grab. Auch wenn ‹Aub› vielleicht noch im Ohr hat, dass Petreña beinahe gehässig behauptet hatte, ihn als seine literarische Gestalt letztlich zu überleben,60 ist nun er es, der Petreña überlebt und an das Grab des «spanischen Anderen» tritt. Er hat das letzte Wort, und mit der Figur verabschiedet er das, was sie verkörperte, die Möglichkeit eines anderen (literarischen) Lebens. – Aber mit diesem Bild des Überlebenden ‹Aub› endet das Buch eben nicht, vielmehr folgen noch all die Rahmungen, die erneut die Wertigkeit des Autors und seiner Texte in Frage stellen. Der nowhere man oder das Verschwinden des Autors Nicht nur textuell, auch intermedial werden die geläufigen Hierarchien im Verhältnis von Autor und Text, Künstler und Werk in Frage gestellt: Dies zeigt das (vermeintliche) Porträt Luis Álvarez Petreñas, das sich auf der dritten Seite des Buches findet und über das der Herausgeber «M.A.» im zweiten Teil mit dem Doktoranden Charles Burton diskutiert: Lo que más me sorprendió fue su seguridad referente a mis aseveraciones de que nunca había dibujado –se refería a ciertas declaraciones mías publicadas a raíz de la tra-
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Ähnlich wie in Jusep Torres Campalans (s.o.), wenn auch nicht so häufig, finden sich in Petreña offensichtliche logische Widersprüche in der Argumentation des Herausgebers ‹Aub›, dessen Autorität damit unterhöhlt wird. So referiert der ‹Aub› des dritten Teils in seinem Tagebuch, er habe in der früheren Ausgabe nachgesehen und dort bestätigt gefunden, dass er Petreña sympathisch gefunden habe: «Efectivamente: decía que era simpático.» (209) Doch im Vorwort zur ersten Ausgabe stand und steht der folgende Satz: «No era simpático, ni lo son sus páginas.» (29) Petreña sagt: «A la postre lo mejor que me pudiera suceder es que me crearas tú, que yo resultara un personaje vivido creado por tí. ¡Menuda venganza! Iba a sobrevivirte.» (Petreña 212) – Dass die Figur den Menschen überlebt, betont Max Aub auch in seinem Vorwort von Luis Buñuel. Novela (vgl. Buñuel 27).
ducción catalana de Jusep Torres Campalans– enseñándome triunfante mi apunto de L.A.P., frente de la primera edición. Ignoro si me creyó al asegurarle que fue hecho por casualidad, en la mesa de un café madrileño […] y que la semejanza era poca, más parecido el retrato a Vicente Llorens, sentado unas mesas más allá. Pero a L.A.P. le gustó y me lo devolvió con los originales que publiqué hace treinta años. (Petreña 169)
Intratextuell verwiesen wird in diesem Absatz auf eine im Buch enthaltene Zeichnung, unter der die handschriftlich unterschriebene Ergänzung zu lesen ist: «A Luis Álvarez Petreña, su amigo Max. 1929.» (Petreña 24) Diese Kombination aus Ikonotext und Paratext unterstreicht zunächst noch einmal die Hierarchie des Paratextes auf dem Buchumschlag: Aub ist der Autor (und Zeichner), Petreña ist sein Objekt (sein Modell). Doch diese eindeutigen Relationen geraten im Verlauf der Szene in Bewegung. Intertextuell wird in ihr auf Max Aubs Buch Jusep Torres Campalans angespielt,61 das, wie im ersten Teil dieses Kapitels gezeigt, von einer engen Beziehung zwischen Text und Ikonotext gekennzeichnet ist. Das Buch enthält Bilder und Zeichnungen, die mitnichten von Campalans stammen, sondern von Aub, was dieser aber öffentlich nie bestätigte. Eine katalanische Ausgabe dieses Buches, auf die Burton sich bezieht, hat es nie gegeben. Burtons Verweis auf eine Aussage von «M.A.», er könne nicht zeichnen, erfolgt also im Kontext einer philologisch nicht korrekten Aussage, ist aber referenziell unterfüttert und glaubwürdig, woraus er den «triumphierenden» Schluss zieht, «M.A.» sei auch nicht in der Lage, Petreña (graphisch) abzubilden. Die Antwort «M.A.s» verkompliziert die Verhältnisse zwischen Gegenstand, Werk und Künstler noch weiter. Er kontert, er habe doch gar nicht Petreña gezeichnet, vielmehr gebe die Skizze die Gesichtszüge des Schriftstellers Vicente Llorens wieder, der im Augenblick der Entstehung der Zeichnung in der Nähe gesessen habe. Das Porträt auf dem Vorsatzblatt, von dem jeder Leser, der das Buch aufschlägt, annehmen darf, dass es denjenigen zeigt, dem es durch den Bildtext gewidmet ist, zeigt demnach aufgrund einer visuellen Interferenz des Zeichnenden eine andere, zudem eine historische Person; was aber den dort porträtierten Petreña, wie ‹Aub› erläutert, nicht gestört habe («le gustó»). Das heißt aber nichts anderes, als dass das Objekt des Porträts seine Verfremdung gutheißt, dass es das Aufgehen seiner sichtbaren Züge in denen eines Anderen akzeptiert. Was implizit bedeutet, dass dem Objekt ein Urteil über seine Darstellung durch das (künstlerische) Subjekt zukommt. Und wie schon bei der Analyse der Passagen, in denen ‹Aub› und Petreña sich wechselseitig die Textgenese streitig machen, erkennen wir die Umkehrung der Hierarchien zwischen Porträtiertem und Porträtierendem, zwischen Figur und Autor. Vor allem aber zeigt diese textuelle und ikonotextuelle mise en abyme der Frage nach der Hierarchie von Autor und Figur, dass ein Objekt nicht für sich allein darstellbar, sondern von seinem Kontext beeinflusst ist. So wie sich die
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Die intertextuellen Bezüge sind wechselseitig: In den Annalen zu Beginn von Campalans wird unter den namhaften Geburten des Jahres 1897 neben William Faulkner und Louis Aragon auch «Luis Álvarez Petreña» genannt (vgl. Campalans 43).
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zu malenden Gesichtszüge von Llorens und Petreña überlagern, so sind auch die Texte von Petreña und von Aub immer weniger voneinander zu scheiden.62 Zwischen den Zeilen, zwischen den Strichen der Zeichnung verschwindet der Autor, den abzubilden doch beide Medien vorgeben. Petreña ist also in doppelter Hinsicht flüchtig: Nicht nur flieht er am Ende jeder Lieferung des Buches aus dem Text, auch aus der ihn abbildenden Zeichnung verflüchtigt er sich, noch dazu (angeblich) mit seinem Einverständnis. Letztlich ist er ein nowhere man, eine Gestalt ohne greifbaren Charakter, ohne bleibenden Eigennamen, ein Mensch ohne kritisches Verhältnis zur eigenen Zeitlichkeit und ohne Ort in der Welt (außer dem Grab), und zudem ein Autor ohne bleibendes Werk (allein dank ‹Aubs› Buch über ihn ist er Teil der Literaturgeschichte). Seine Figur entsteht aus und verflüchtigt sich zwischen einer Komposition aus Textfragmenten, die so brüchig ist (insofern immer wieder unklar bleibt, welchen Status einzelne Fragmente haben), semantisch so offen (jede Lieferung endet in einer Coda sich teilweise widersprechender Aussagen), dass auch der Herausgeber und mit ihm der Autor Max Aub in Frage gestellt sind, weil sie diese Text-Dynamik nicht mit eindeutigen Antworten stillstellen. Die Konsequenz aus dieser Infragestellung des Autors durch seine Figur ist, im Einklang mit der Theoriebildung der sechziger Jahre, die Aufwertung des Lesers. Schließlich entstehen Roland Barthes’ La mort de l’auteur (1968) und Michel Foucaults Qu’est-ce qu’un auteur? (1969) beinahe zeitgleich mit der dritten Lieferung von Petreña. Petreña schlägt also den Bogen von der Verabsolutierung des Autor-Subjekts, wie es Luis Álvarez Petreña in seinem Tagebuch aus den zwanziger Jahren vorführte, bis zur angedeuteten Verabschiedung des Autors Anfang der siebziger Jahre. Auch in dieser Hinsicht konstruiert das Buch ein Panorama möglicher Literaturen. Sein bevorzugtes Konstruktionsprinzip dabei ist die Inversion, sein bevorzugtes Motiv die Befragung (das Gespräch, das Interview, die Selbstbefragung im Tagebuch). Doch bei aller Infragestellung semantischer Hierarchien, eine Grenze bleibt unhintergehbar: Der Anspruch rationaler Nachvollziehbarkeit. Oder, um es mit den Worten ‹Aubs› beim Blick auf die Vielfalt des Londoner Wochenmarktes zu sagen: «Todo sin orden y ordenado.» (Petreña 268)
Max Aubs Apokryphe und die (Auto-) Biographie der spanischen Avantgarden Das Gesamtwerk Max Aubs präsentiert sich als ein regelrechter Katalog von Optionen, mit denen das Verhältnis von Geschichte und Roman, Historizität und Fiktion, Wahrheit und möglicher Wahrheit begriffen werden kann: Das
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Petreña selbst sieht sein eigenes dichterisches Werk in ähnlicher Weise in optischer Metaphorik als einen Reflex anderer Werke oder Zeitströmungen, wenn er im dritten Teil sagt: «Yo nunca fui escritor» (212), denn seine beiden Gedichtbände seien nicht von ihm, «no eran míos. Sencillos reflejos de ilusiones, como la mayoría de los libros que se imprimen» (212). Petreña unterscheidet zwischen «escritor» und «escribiente», und er sei nur letzteres gewesen.
work in progress, als der Luis Álvarez Petreña verstanden werden muss, bricht die Grenze zwischen fi ktionaler Welt und empirischer Wirklichkeit zunehmend auf, indem das literarische alter ego des Autors und seine Geschöpfe sich wechselseitig in Frage stellen. Eine ähnliche Konstruktion findet sich auf den letzten Seiten des Laberinto mágico in Campo de los almendros [ĺ Kap. III], zum einen auf den páginas azules, in denen der Erzähler namens ‹Aub› sich metafi ktional über den Sinn seines Tuns befragt, ebenso in der Schlussvolte des Romans und zugleich des Zyklus, in der eine der Figuren dem Autor und seiner Darstellung der Ereignisse der letzten Kriegstage in Valencia explizit widerspricht (vgl. Buschmann 2003c). Daneben eröffnet die Fiktion in Uchronien wie der Erzählung La verdadera historia de la muerte de Francisco Franco die Möglichkeit, sich im Stil einer alternate history eine andere Zukunft zu imaginieren, während andere Uchronien die zurückliegende Geschichte kreativ umdeuten: So die Rede Academia Española. Discurso de ingreso en la Academia de la Lengua, in der sich Max Aub die spanische Sprachakademie nach einem Sieg der Republik imaginiert, mit all denjenigen exilierten oder getöteten Größen der Literatur der Zwischenkriegszeit als Mitgliedern, die sich gemäß seiner Fiktion nunmehr in fortgeschrittenem Alter befinden. Jusep Torres Campalans präsentiert eine erfundene Figur in strikt dokumentarischem und diktional arrangiertem Umfeld, während Buñuel. Novela eine reale Figur in eine fiktionale umschreibt. Mit dem Campalans-Muster operieren seine anderen Apokryphen Antología traducida oder Imposible Sinaí, wohingegen Manuscrito cuervo. Historia de Jacobo oder die Erzählung Enero sin nombre komplexe historische Ereignisse (wie den Holocaust) überhaupt erst dadurch erzählbar machen, dass sie über das Muster der Fabel bzw. der phantastischen Erzählung fiktionalisiert werden [ĺ Kap. V]. Wie José Antonio Pérez Bowie feststellt, ist der Effekt dieses breiten Spektrums an Fiktionalisierungsstrategien immer der, dass die dargestellte Wirklichkeit verfremdet erscheint und dass in der Folge automatisierte Rezeptionsmuster variiert, zeitweise außer Kraft gesetzt oder gar explizit demontiert werden. Doch das Ziel dieser fi ktionsironischen Operationen bleibt immer die möglichst umfassende Darstellung der Wirklichkeit, das Spiel mit der Fiktion «resulta ser el mejor catalizador de la epifanía de lo real» (Mainer 1996: 81). Wenige Tage vor seinem Tod im Juli 1972 schrieb Max Aub in seinem Tagebuch über das Verhältnis von Autor und Figur, Realität und Fiktion, die folgenden Zeilen: ¡Eh, todos vosotros que contra mí os alzáis! (O: ¡Eh, todos ustedes que contra mí se alzan!): Porque invento dos personas que inventan mis personajes, ¿no queréis (quieren) recordar a Cervantes o Montalvo? ¿No se encontraron Las sergas de Esplandián en Constantinopla? ¿Quién, según don Miguel, escribió el Quijote? Y es bien curioso que ambas novelas representan […] el pro y el contra de las novelas de caballería; pero la técnica de los autores es la misma, natural, del novelista: hombre que, al inventar personas, se adarga en otros inventados para dar mayor realidad a sus imaginaciones, nacidas, naturalmente, del curso de la historia: fecundadas por el viento, según la mejor tradición. (Nuevos Diarios 538)
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Die sich gegen ihn erheben, sind seine ‹Geschöpfe› («invento») Jusep Torres Campalans und Luis Álvarez Petreña (vgl. Fuentes 2005: 229), die wiederum als ‹Schöpfer› («que inventan») die Figuren seiner Bücher erfunden hätten, ein bereits aus den Ritterromanen bekanntes Verfahren. Entscheidend aber sei, so der zweite Teil des Zitats, wie ein Romancier zu seinen Geschöpfen und Figuren komme. Sie seien Verlängerungen seiner selbst, um seine Vorstellungskraft Wirklichkeit werden zu lassen, ohne dass sie deshalb abgeschnitten seien vom «curso de la historia». Erneut fällt in diesem Zusammenhang der Aubsche Schlüsselbegriff der Fruchtbarkeit: «[…] fecundadas por el viento, según la mejor tradición.» Ein Nachsatz, der ambivalent ist, weil nicht eindeutig zu beziehen auf die «personas» oder auf die «imaginación». Klar ist jedoch, dass «historia» und «imaginación» in fruchtbare Verbindung zueinander gesetzt sind. Diese letztlich auf alle Aubschen Erzählwerke zu beziehenden Leitbegriffe gelten nun in besonderer Weise für seine in diesem Kapitel untersuchten apokryphen Biographien, weil in ihnen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Autor und Figur, Wirklichkeit und Fiktion selbst zum Gegenstand des Erzählens wird. Die spanischen Avantgarden und die Rückkehr des biographischen Schreibens Dass es gerade das traditionsreiche und mithin traditionelle Genre der Biographie ist, in dem die nach-avantgardistische Selbstbefragung des Autors in seinen Autor-Figuren erfolgt, muss keineswegs ein Widerspruch sein. Max Aubs Annäherung an das Genre Biographie mit der ersten Lieferung von Petreña fand in einem spezifischen literarischen Kontext statt, der bei den bisherigen Analysen in diesem Kapitel noch nicht berücksichtigt wurde, zum Verständnis der Genrewahl und der Genrevariation aber durchaus von Bedeutung ist. Gemeint ist die sehr bewusst vollzogene Hinwendung zahlreicher Autoren der Avantgarden zum biographischen Schreiben, die Ende der zwanziger Jahre kurioserweise von demselben Ortega y Gasset initiiert und befördert wurde, der wenige Jahre zuvor eine solche «humanización» des Schreibens verabschiedet hatte [ĸ Kap. I]. Wie dieses Genre der «biografía vanguardista» zwischen 1925 und 1936 theoretisch konzipiert, verlegerisch lanciert und auf dem Buchmarkt durchgesetzt wurde, hat Francisco Miguel Soguero García (2000) aufgearbeitet. Zunächst waren es Literaturkritiker wie Álvaro Alcalá Galiano, der bereits 1925 auf den Erfolg eines neuen Typus von Biographien auf dem englischen Buchmarkt hinwies. Ricardo Baeza schrieb zwei Jahre später in El Sol lobend über die neuen biographischen Reihen der französischen Verlage Plon und Nouvelle Revue Française und forderte die jungen spanischen Autoren explizit auf, diesem Beispiel zu folgen. Im gleichen Jahr 1927 reagierte Ortegas Revista de Occidente, in der Ángel Sánchez Rivero bündig feststellte, dass die «predilección por las biografías» zurückgekehrt sei: «Plutarco entra una vez más en el signo de la actualidad.»63 Gut ein Jahr später beschreibt Benjamín Jarnés, ein Freund Max Aubs, in derselben Revista de Occidente in
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Revista de Occidente XVIII (1927), S. 298, zit. nach Soguero García (2000: 203).
einer Rezension zu André Maurois’ Aspects de la biographie programmatisch die seinerzeit zu schreibenden Biographien: La biografía antigua es esclava del dato; la moderna es policía de un espíritu, de una personalidad. La diferencia entre los biógrafos es la diferencia que va del hombre que colecciona al hombre que vibra. Tal vez el biógrafo moderno sea peor historiador de una etapa, pero será mejor reconstructor de un individuo.64
Explizit waren damit die Abkehr vom Konzept der «novela deshumanizada» und die Rückkehr des Subjekts in den biographischen Roman benannt. Ziel sei nun das Wiederauflebenlassen von Persönlichkeiten und Individuen. Auch Aubs Mentor Enrique Díez-Canedo schrieb 1928 über den Erfolg der Biographien in Frankreich und den Überdruss an den Romanen neuen Stils («el cansancio producido por el género novelesco», zit. nach Soguero García 2000: 212). 1929 schließlich übernahm Ortega y Gasset selbst die ästhetische Wortführerschaft und machte Nägel mit Köpfen, indem er beim Verlag Calpe die Reihe Vidas españolas e hispanoamericanas del siglo XIX anregte und dem einflussreichen Kritiker Melchor Fernández Almagro deren Leitung übertrug. Doch war es er persönlich, der festlegte, welche Figuren der Geschichte von welchem Autor bearbeitet werden sollten, wie sich Rosa Chacel erinnert: Ideó [Ortega] la colección «Vidas extraordinarias del siglo XIX» que empezó a publicar la editorial Calpe, y nos asignó a unos cuantos de sus discípulos otros tantos personajes novelables […] Ortega señaló con el dedo y dijo: Éste, éste, éste, éste… Nosotros obedecimos; la responsabilidad de la elección era de Ortega y nos pusimos a estudiar los modelos dados.65
Der Erfolg dieser Hinwendung zur neuen Form, orchestriert von einer wohlwollenden Kritik in der Revista de Occidente, der Gaceta Literaria und anderen Leitmedien, war enorm. Soguero García (2000: 208) kann für den Zeitraum zwischen 1929 und 1936 141 Biographien spanischer Sprache sowie 176 Übersetzungen nachweisen. Zwar wurde nur ein kleiner Teil dieser Bücher von den Schülern Ortegas geschrieben, in unserem Kontext bemerkenswert ist aber allein schon die Tatsache, dass Autorinnen und Autoren wie Benjamín Jarnés, Antonio Espina, Francisco Ayala oder Juan Chabás (um nur die Weggefährten Max Aubs zu nennen), die kurz zuvor noch von der am traditionellen Publikumsgeschmack orientierten Kritik wegen ihrer dem Konzept der «deshumanización» folgenden Texte gescholten worden waren, nun mit ihren Biographien auch beim Publikum Erfolg hatten. Dabei waren die Bücher mitnichten hausbacken realistisch erzählt, wie Soguero García zeigt, vielmehr kann er an Textbeispielen nachweisen, wie gewagte Metaphern, metafiktionale Einschübe oder dem neuen Medium Film
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Revista de Occidente XXIII (1929), S. 122, zit. nach Soguero García (2000: 205). Rosa Chacel: «Como y porque de la novela», in: Obra Completa III (Artículos I), Valladolid 1993, S. 137–154, zit. nach Soguero García (2000: 199). An anderer Stelle vergleicht Chacel die Szene mit einer Schulstunde und Ortega mit dem Lehrer, der seinen Schülern die Hausaufgaben für den nächsten Tag diktiert (201).
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entlehnte Montagetechniken einen Stil generierten, der die Bezeichnung «biografía vanguardista» durchaus rechtfertigt. Offensichtlich florierte dieses seinerzeit schon als «hybrid» bezeichnete Subgenre, das den «retorno a la pura individualidad» (Soguero García 2000: 203) feierte und zugleich ästhetisch innovativ sein wollte. Avantgarde der Biographie, (Auto-) Biographie der Avantgarden Doch waren es nicht allein die auch in anderen europäischen Literaturen zu beobachtende Mode und die verlegerische Initiative Ortega y Gassets, die die Rehabilitierung des Genres Biographie und die mit ihr einhergehende Reformulierung bestimmter avantgardistischer Positionen beförderte. Vielmehr deutete sich Ende der zwanziger Jahre ein Paradigmenwechsel an, der einen ersten Rückblick auf die jüngste avantgardistische Vergangenheit nahelegte. Als weiteres Symptom sei nur jene im Sommer 1930 in La Gaceta Literaria erschienene, über mehrere Nummern gehende Umfrage über den Status der Avantgarden erwähnt, bei der sich einige ihrer namhaften Repräsentanten eindeutig äußerten: «Ha existido, ya no existe», schrieb Ernesto Giménez Caballero, und der Kritiker Ernesto Salazar y Chapelas urteilte: «La vanguardia existió, gozó y murió.» (zit. nach Soguero García 2000: 211) Die Zeitform des Indefinido, die beide Autoren benutzen, unterstreicht nachdrücklich, dass es sich ihrer Ansicht nach bei der Zeit der Avantgarde um ein abgeschlossenes Phänomen in der Vergangenheit handelt, ohne unmittelbare Wirkung für die Gegenwart. Wie wir in unseren Analysen gesehen haben, insbesondere bei der Gegenüberstellung von Petreña und dem Konzept der «literatura de avanzada», ist die bündige Verabschiedung der Avantgarden, wie sie in den pointierten Aussagen Salazar y Chapelas und Giménez Caballeros zum Ausdruck kommt, nur eine der Möglichkeiten, auf diesen Paradigmenwechsel zu reagieren. Der Luis Álvarez Petreña der ersten Lieferung geht den entgegengesetzten Weg: Anstatt die Avantgarde, so wie er sie verstand, zu verabschieden, verabschiedet er sich und fingiert seinen Selbstmord. Im weiteren Verlauf der Handlung wird erkennbar, dass er sich mit dem protoromantischen Kern seiner avantgardistischen Anfänge nie kritisch beschäftigt hat; der Text formuliert dies deutlich als das Kernproblem seines Lebens und Schreibens. Ein dritter Weg ist der, den Max Aub geht und den er in Büchern wie Campalans und Petreña besonders plastisch bzw. radikal vorführt. Er besteht darin, von den Avantgarden aus der distanzierenden Position des defensiven, sein Material nicht beherrschenden Herausgebers zu erzählen, was den Gegenstand beinahe automatisch ambivalent erscheinen lässt. Kommen dann noch die metafiktionalen Einschränkungen des Herausgebers hinzu sowie all die Verfahren, die die in den jeweiligen Textfragmenten aus den jeweiligen Perspektiven vermittelten Blicke auf die Avantgarden zusätzlich in ihrem Wahrheitsbezug relativieren und ihren Wirklichkeitsgehalt in Frage stellen, ist es durchaus berechtigt, die Aubschen Bücher mit Soguero García als «biografías vanguardistas» zu bezeichnen, und zwar im doppelten Sinne: Weil sie jeweils eine Biographie von Vertretern der Avantgarden schreiben, und weil sie das in ei88
ner innovativen, widerständigen und in dieser Hinsicht avantgardistischen Form tun. Letzteres gilt darüber hinaus für die performativen Qualitäten, die bei der Analyse des Campalans-Komplexes herausgestellt wurden. Enthalten in diesen beiden «biografías vanguardistas» ist schließlich auch je eine Auto-Biographie der Avantgarden, insofern Campalans wie Petreña, die unter anderem als verfremdete Doppelungen des Autors beschrieben wurden, zurückschauen auf ihren ästhetischen und politischen Werdegang. Für Max Aub, der es anders als viele Exilanten vehement ablehnte (vgl. Monti 2002: 8), seine Autobiographie zu schreiben, waren diese Doppelungen seine Antwort auf die im Exil besonders drängende Identitätsfrage.66 Denn wie im Abschnitt über die Rettung des Subjekts gezeigt wurde, darf man Figuren wie Campalans oder Petreña nicht einfach als alter ego sehen. Vielmehr stehen sie, das belegen die vielfältigen Ambivalenzen, die bei den Analysen zu Tage traten, sowohl für die Unmöglichkeit, ein Subjekt umfassend zu begreifen und zu beschreiben, als auch für die Beschwörung, dass ein ego überhaupt noch denkbar und beschreibbar ist. Die innovative Kraft, mit der die beiden hier exemplarisch vorgestellten Texte über die ästhetischen Kanones ihrer Entstehungszeit hinausgreifen und auf einige der Paradigmen postmodernen Schreibens verweisen, wird in der kritischen Literatur mehrfach betont. Joan Oleza: [Los] textos como Jusep Torres Campalans, la Antología traducida, algunos cuentos, parte de su miscelánea, o sus escritos sobre Buñuel, ponen en juego a la vez la crisis del Modernismo, las expectativas y desilusiones de la Vanguardia, las posibilidades y límites del realismo, y al hacerlo enuncian actitudes estéticas de posmodernidad. De todos estos textos tal vez sea Luis Álvarez Petreña […] el más decididamente radical. (Oleza Simó 1994: 1)
Wenn Texte aus den dreißiger bzw. fünfziger Jahren postmoderne Schreibverfahren antizipieren, dürfte es gerechtfertigt sein, sie als «Avantgarde der Biographie» zu bezeichnen. Aubs Apokryphe: Für eine transareale Perspektive und gegen den Vatermord Zwei weitere Besonderheiten, die in den Analysen nur kurz benannt wurden, gilt es noch weiter herauszuarbeiten. Zum einen die spezifisch transareale
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Denn nicht die Rückschau auf das eigene Leben, vielmehr die (Problematik der) Identitätssuche ist es, die ihn interessiert, anders als etwa Gómez de la Serna, der 1955 seine zweibändige Autobiographie Automoribundia, 1888–1948 vorlegte (Gómez de la Serna 1974), die sich vor allem als sammelnde Vorbereitung auf den Tod versteht: «Cada hecho vital es presentado como un acto henchido de muerte.» (Scarano 2009: 47) Diesen Blick vom Lebensende her thematisiert de la Serna ausdrücklich: «Haber llegado a la autobiografía no es nada bueno, porque supone que estamos de alguna manera al final, y ya hemos perdido la esperanza de ser otro […].» (Gómez de la Serna 1974: 11) Eben diese Möglichkeit aber bewahrt sich Aub mit den apokryphen Biographien, das Durchspielen und – denken anderer Viten der Avantgarde: «de ser otro».
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Perspektive,67 mit der Aub aus dem Exil heraus die weitere Entwicklung der europäischen Avantgarden am Beispiel Spaniens und Frankreichs in den Blick nimmt. Die Lektüre von Campalans hat ja gezeigt, wie wichtig die Öffnung des ästhetischen und geographischen Raums über die nationalen und kontinentalen Grenzen hinweg für das Verständnis des Buchs ist. Gleiches gilt für die nicht zufällig in London vorgeführte Begegnung der beiden im Ausland lebenden Spanier ‹Aub› und Petreña, die einander «el otro español» sind, «der andere Spanier» wie «das spanische Andere», und kontrastiv vorleben und vorführen, wie mit der Existenz in der Fremde umgegangen werden kann. ‹Aub› verkörpert gewissermaßen das transkulturelle Modell, wenn er sich dem Alltagsleben in London aktiv zuwendet, während Petreña für eine Spielart des «cultural nationalism» (vgl. McClennen 2004: 21f.) steht, insofern er auch nach Jahrzehnten in der Ferne seine ehemalige, statisch und hierarchisch begriffene Kultur über seine neue, dynamisierte kulturelle Erfahrung stellt. Symptomatisch hierfür ist sein rückwärts orientierter Namenswechsel im Exil, zu Ehren von Bécquer, Sevilla und der Sprachautorität Covarrubias, wohingegen sein mehrfacher Wechsel der Nationalität in dieser Perspektive als Kennzeichen für eine allein äußerliche Anpassung erscheint. Zum anderen fällt bei der Analyse des Wechselspiels von Fälschung und Original im Kontext der Subjekt-Diskussion in Campalans oder der Urheberschaftsdiskussion um einige der Erzählungen in Petreña ein weiterer Aspekt auf, bei dem sich aus der Theorie der Fälschung eine neue Sicht auf bestimmte Schlüsselfragen der Bewertung der Avantgarden ergeben. Noch einmal Anne-Kathrin Reulecke über das Plagiat in der Literatur: Beim Plagiat geht es um Nähe und Abgrenzung von Vorläufertexten, um den Einfluß, den bereits existierende Schriften auf einen Autor haben. Dieses Verhältnis wird in unserer Kultur metaphorisch als Vater-Sohn-Verhältnis gefaßt und ist verbunden mit einer unaufhebbaren Nachträglichkeit oder einem irreduziblen Hintertreffen – in jedem Fall mit einer Verfälschung, einem Derivat. Der Versuch, sich von den literarischen Vorgängern abzusetzen und etwas Neues, Eigenes zu schaffen, ist eingebunden in eine Entweder-Oder-Struktur, in der das Neue nur denkbar ist durch den imaginierten Tod des Alten. Daher geht es in der Imagination des literarischen Plagiats nicht bloß um Diebstahl, sondern […], wie schon Heine gezeigt hat, auch um das 6. Gebot: «Du sollst nicht töten.» (Reulecke 2006c: 290)
In den Duktus der Avantgarde-Theorie übersetzt müsste man formulieren, dass das mit der Ästhetik des Bruchs absolut gesetzte Gebot der Innovation in den Avantgarden einen Zwang zum Vatermord nach sich zieht. Im Fall von Luis Álvarez Petreña wird uns vorgeführt, wie der Künstler, der zu diesem gemäß der Avantgardetheorie produktiven Vatermord nicht fähig ist, sich in den Selbstmord flüchtet, der zwar fingiert, aber gleichwohl per se unproduktiv ist. Nachfolgend inszeniert er vielfältige lebensweltliche Brüche, womit er überspielt, dass er den
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Zur transkulturellen Perspektive in Campalans vgl. Ette (2000), insbesondere den Abschnitt Ein globales Gemälde (681–683).
einen ästhetisch produktiven Bruch nicht ins Werk zu setzen vermag. Und die ostentative Verweigerung eines Vater-Sohn-Verhältnisses, wie sie Jusep Torres Campalans ästhetisch bei Pablo Picasso bewundert, ist Ausdruck seines Strebens nach einer Kunst, die wirklich neu ist. «No copiar», lautete sein Motto. Kontrastiv dazu war die Figur seiner Freundin Ana María angelegt, die mit ihren Kopien alter Meister gerade daran mitarbeitete, die zur leeren Hülle abgesunkene Tradition immer wieder nachzubilden, als «Verfälschung» oder «Derivat». Da Campalans den kategorischen Imperativ des vatermordenden Traditionsbruchs nicht vollziehen kann, ändert er, in äußerst konsequenter Weise, sein Leben und verlegt sich nunmehr gänzlich auf die Herstellung von «Vater-Sohn-Verhältnissen», indem er eine große Zahl von Nachkommen zeugt. Was in den Gedanken von Reulecke deutlich wird, ist die existenzielle Dimension, die hinter dem vermeintlichen Spiel um Original und Fälschung, Schöpfung und Plagiat aufscheint. Dank ihrer Überlegungen lässt sich zeigen, dass Aubs Beschäftigung mit dem Thema Fälschung nicht nur der Rettung des Subjekts durch die Hintertür diente, sondern dass auch eine Verbindungslinie existiert, die in den Kapiteln IV und V aufgenommen werden wird, weil seine Bücher immer wieder das Motiv des Todes mit dem Thema Exil und dem Formenrepertoire der historischen Avantgarden kurzschließen. «Du sollst nicht töten», verstanden als «Du sollst nicht radikal avantgardistisch deine literarischen Vorläufer morden», das war für Aub eine ästhetische wie ethische Maxime. Damit erklären sich seine bereits in diesem Kapitel mehrfach analysierten Zwischenpositionen, die zwischen extremen Antworten einen dritten Weg suchen, so etwa zwischen Ortega und der «novela revolucionaria», oder zwischen Ramón Gómez de la Serna («Ich töte jeden Vorläufer.») und Luis Álvarez Petreña («Ich töte mich selbst.»). Dass an dieser Stelle unserer Untersuchung Tod und (Über-) Leben nicht mehr nur ästhetisch, sondern auch lebensweltlich aufeinander bezogen und beide Ebenen miteinander verschränkt werden, ist weitaus mehr als nur die Pointe der (Auto-) Biographien der Avantgarden. Denn wie wir im Kapitel IV Ausgeschlossen Schreiben sehen werden, thematisiert Max Aub den Zusammenhang zwischen (innovativer) neoavantgardistischer Ästhetik und der Frage des Überlebens im Exil sehr bewusst.
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III. Gegenästhetik des Bürgerkriegs: das Laberinto mágico
Den Ausgang finden… Bei einem Labyrinth ist in der Regel nicht der Eingang, sondern der Ausgang das Problem. Nur wer wie Theseus den Weg in die Freiheit findet, entgeht seinem tödlichen Schicksal. Im Fall von Max Aubs Magischem Labyrinth ist das nicht anders: Auf den letzten 150 Seiten des letzten der sechs Romane des Zyklus wird nachgezeichnet, welche der Figuren überlebt, welche gar einen Ausweg findet heraus aus dem «laberinto [que] es España» (Almendros 438). Auch für den Autor selbst war der Ausgang aus diesem Lebenswerk, das ihn seit 1938 beschäftigte, nur schwer zu erreichen. Mehrmals verschob er den Abschluss der anfangs auf drei, später auf sieben Romane geplanten und schließlich sechsbändigen Serie.1 In einem der zahlreichen metafiktionalen Einschübe in Campo de los almendros, dem letzten Band der Romanserie, stellt sich der Erzähler auf eine Stufe neben seine Figuren, die den Krieg endgültig verloren haben und nun in Gefangenschaft gehen werden. Er schreibt: […] la guerra, ya lo dijo Francisco Franco: «ha terminado». Los barcos no llegaron. Ahora, es otra cosa. Los vencidos ya no son enemigos sino prisioneros. También el autor se siente prisionero de sus historias, no sabe como salir del laberinto. (Almendros 460)
Selbst dreißig Jahre nach dem spanischen Bürgerkrieg ließ ihn das Thema noch nicht los, «la obra se ha impuesto finalmente al autor» (Nora 1973: 23), es wurde ihm zu einer Obsession: «[…] he himself feels like a prisoner of his stories and does not know how to escape from the labyrinth» (Faber 2002a: 224). Die lange Beschäftigung mit dem Stoff erklärt sich aber auch aus dessen Fülle, die beispielsweise den 1963 erschienenen vierten Band Campo del moro, der ursprünglich den Abschluss bilden sollte, so weit anwachsen ließ, dass erst Campo de los almendros fünf Jahre später die letzten Kriegstage in Alicante behandelt.
Eingänge ins Labyrinth Von der Chronologie der Veröffentlichung her betrachtet, beginnt der Zyklus mit der bereits 1938 in der Zeitschrift Hora de España erschienenen Erzählung El cojo. Aber nicht diese Geschichte eines Tagelöhners, der ein Stückchen Land gegen die heranrückende Übermacht faschistischer Truppen verteidigen will, wird zumeist als Eingang in das Magische Labyrinth betrachtet, sondern das
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Eine knappe Synthese der Planungsvarianten und Belege dazu aus den unveröffentlichten Notizbüchern bietet Lluch Prats (2010: 37–42).
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erste Kapitel Viver de las Aguas (Cerrado 85–92) des ersten Romans Campo cerrado. Es beschreibt eine traditionelle Feria im Hinterland von Valencia, bei der alljährlich im Herbst die Straßen des Dorfes Viver durch Barrikaden und Verschläge in ein auswegloses Labyrinth verwandelt werden, durch das in der Dunkelheit der Nacht ein Stier getrieben wird, an dessen Hörnern brennende Pechfackeln befestigt sind. Das ganze Dorf ist auf den Beinen, wenn das riesige Tier («el bestión», 86) durch die Straßen gehetzt wird, die es mit seinen Pechfackeln in gespenstisch anmutendes Licht taucht. Wenn seine Kräfte nachlassen, wagen sich die mutigsten Männer vor, um es noch einmal zu reizen. Noch jedes Jahr hat einer von ihnen diesen Wagemut mit dem Leben bezahlt. Am Ende des Spektakels bricht das Tier entkräftet zusammen, wird aber nicht getötet, sondern von seinem Besitzer zur nächsten Feria geführt. Erst wenn der Feuerstier alt und vom tropfenden Pech fast erblindet ist, findet er in einer letzten Corrida den Tod. Das mythische Potenzial des Protagonisten dieses ersten Kapitels wird explizit angesprochen, denn das Publikum fiebert dem «mito hecho carne y uña» (Cerrado 89) entgegen. Auf den ersten Seiten stehen sich Tier und Mensch gegenüber, die an den Mythos angelehnte Figur des Stiers, der einen Ausweg aus seinem Labyrinth sucht, und die in einem konkreten historischen Kontext lebenden Menschen, die dieses Labyrinth geschaffen haben.2 Unter den zumeist innerhalb der anonymen Menge auftretenden Figuren ist eine hervorgehoben, Rafael López Serrador, etwa acht Jahre alt, Sohn eines Bauern und Busfahrers, der in ärmlichen Verhältnissen aufwächst und für den der Beginn dieser Feria das älteste und einprägsamste Bild in seiner Erinnerung ist: En lo más remoto de su memoria Rafael López Serrador no halla un recuerdo más viejo; de su niñez es ésa la imagen más cana: el momento en el cual, por las fiestas de septiembre, van a soltar el toro de fuego; eso, y el ruido del agua viva por la tierra: fuentes, manantiales, acequias. (Cerrado 86)
Dieser Rafael ist nicht als Teil der begeisterten Menge dargestellt, vielmehr als sich distanzierender Beobachter, fasziniert von der gewaltigen Kraft des Tieres, abgestoßen von dem mäßigen Mut seiner Nachbarn, die sich als Herausforderer nur an den erschöpften Stier heranwagen. In einer kindlichen Gewaltphantasie sehnt er sich danach, dass der Stier die Nachbarn zermalmen möge: «Rafael Serrador odia a sus convecinos […] que se lanzan ahora a citar el espléndido animal: ‹¡Si los moliera!›» (Cerrado 90)
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Mehrere Informationen ermöglichen eine präzise historische Einordnung der Handlung. So wird erwähnt, dass sich die Tertulia des «Círculo Radical» gerade umbenannt hat in «Unión Patriótica» (Cerrado 90); diese Einheitspartei wurde vom Diktator Miguel Primo de Rivera 1924 gegründet. Am Ende des Kapitels wird von einem neuen Gouverneur gesprochen, der im Einklang mit den neuen Zeiten diese Art Feria-Spektakel verboten habe, womit auf das Ende der Dikatur (1931) angespielt ist. Anfang und Ende des Kapitels markieren also zwei Einschnitte in der Geschichte Spaniens: Anfang und Ende der Diktatur Primo de Riveras.
Ein erster Blick auf die ersten Seiten des Zyklus lässt bereits einige der Schlüsselthemen erkennen, die jede Analyse des Magischen Labyrinths zu berücksichtigen hat: das Verhältnis von Mythos und Geschichte, von mythischer und historischer Zeit, daneben die Allegorie des Labyrinths und die zentrale Bedeutung des Gedächtnisparadigmas. Bei der Analyse dieser Themen sollen ausgewählte Schlüsselstellen besonders herausgestellt werden, um nachfolgend die literarische Formung des historischen Stoffs zu untersuchen: der Anfang und das Ende des Zyklus, die Anfänge und die Schlüsse der einzelnen Romane, daneben der zentrale Monolog Don Leandros in Campo de sangre sowie die spezifische Ästhetik der Aufzählung, wie sie sich etwa in der Liste der 300 Frisöre in Campo abierto zeigt. Doch bevor diese Themen aufgefächert werden, gilt es zunächst das Korpus zu umreißen, aus dem sich das Magische Labyrinth zusammensetzt. Das Korpus des Laberinto mágico: Chronologie der Genese Zu dem Werkzyklus El Laberinto mágico gehören, neben den sechs sogenannten Campos-Romanen, zahlreiche Erzählungen, Theaterstücke und Gedichte. Betrachten wir das Korpus zunächst nach der Chronologie der Entstehung der einzelnen Texte sowie nach der des Erscheinens vom Ende der dreißiger bis Ende der sechziger Jahre. 1938 entstand und erschien in Barcelona die erwähnte Erzählung El cojo. Aub war dort mit den Dreharbeiten zu André Malraux’ Kinofilm Sierra de Teruel beschäftigt. Dieses Detail ist insofern wichtig, als sowohl die Arbeit am Filmset wie auch die Beschäftigung mit Malraux’ Bürgerkriegsroman L’Espoir die ästhetische Fundierung des Magischen Labyrinths entscheidend mitgeprägt haben (vgl. Llorens Marzo 2003a). So wurde in der Forschung immer wieder auf die filmische Kompositionstechnik in Aubs Prosa verwiesen (vgl. Soldevila 1999a: 137ff., Fritz 2005a: 372f.). Bereits diese Erzählung, die die Wandlung eines orientierungslosen Tagediebs zum glühenden Verteidiger seines ihm im Sommer 1936 zugewiesenen Landes schildert,3 entstand bereits im Wissen eines übergeordneten Projektes für einen Zyklus über den Krieg, wie Luis Llorens Marzo aus den in der Max-Aub-Stiftung erhaltenen Notizbüchern Aubs rekonstruieren konnte: So findet sich unmittelbar nach einem Entwurf für El cojo in Aubs Arbeitsbuch der Entwurf für die Szene, mit der der dritte Roman Campo de sangre beginnen wird.4 Doch nach El cojo schrieb Aub zunächst den ersten
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Vgl. Buschmann (2005a). Dieses Kapitel stützt sich auch auf Vorarbeiten des Verfassers, darunter zum einen seine Übersetzung des Zyklus (Eichborn 1999–2003, gemeinsam mit Stefanie Gerhold), zum anderen auf die Nachworte zu den sechs CamposRomanen (zusammen mit Mercedes Figueras), Analysen von Cerrado und Almendros (Buschmann 2010a, 2004c) und auf Einführungen in das Magische Labyrinth (Buschmann 2007, 2009a). Vgl. Llorens Marzo (2003b). Unter dem Text selbst steht zwar «México 1948–1950», aber in einem Brief an Ignacio Soldevila erläuterte Aub präzise die Genese des Manu-
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Roman Campo cerrado, und zwar unmittelbar im Anschluss an die Dreharbeiten zu Sierra de Teruel, als er im Februar 1939 mit dem Filmteam aus Katalonien fliehen musste und in Paris Unterschlupf fand. In einer Dachwohnung in der Rue Capitain Ferber konnte er erstmals seit Jahren ungestört schreiben, und er tat es in der Hoffnung, sich von dem Gewicht der Ereignisse befreien und die Zusammenhänge erzählend besser verstehen zu können. In sein Tagebuch notiert er: «La absurda guerra. […] Tengo que librarme, de una vez, de ese peso. Escribiendo, escribiendo […] para saber lo que no sé.» (Diarios 185) Von Beginn an ist das Schreiben über den Bürgerkrieg also auch ein existenzielles Projekt, ohne das ihm ein Weiterleben nicht möglich ist. Mit einem enormen Arbeitspensum, «diez cuartillas diarias, por la mañana a mano, por la tarde a máquina» (Diarios 186), stellt er das Manuskript zwischen Mai und August fertig und beginnt sofort mit der Vorbereitung des zweiten Bandes Campo abierto.5 Dieses zweite Manuskript bleibt unvollendet, als er 1940 denunziert und inhaftiert wird. Die zwei Manuskripte und weitere Materialien bleiben unentdeckt in seiner Wohnung zurück und gelangen später auf verschlungenen Wegen nach Mexiko.6 In den beiden folgenden Jahren, in denen Aub mit Unterbrechungen in südfranzösischen Konzentrationslagern oder in Gefängnishaft sitzt, schreibt er in Paris und Marseille Teile des dritten Bandes Campo de sangre nieder, daneben Skizzen und Porträts, die sich später in den Erzählungen des Magischen Labyrinths wiederfinden; daneben entstehen die Theaterstücke San Juan und Morir por cerrar los ojos, letzteres verfasst während der Überfahrt von Marokko nach Veracruz im Herbst 1942 und veröffentlicht 1944. In Mexiko bringt Aub zunächst den ersten Band Campo cerrado (1943) heraus und vollendet den in der Gefangenschaft begonnenen dritten Band Campo de sangre, der zwei Jahre später erscheint. Erst danach veröffentlicht er den durch die Verhaftung unvollendet gebliebenen zweiten Band Campo abierto von 1951, der in der Chronologie der historischen Ereignisse direkt an den ersten anschließt und im Sommer und Herbst 1936 spielt. Aus dieser eng verschränkten Veröffentlichungsgeschichte erklärt die Forschung die stilistischen Ähnlichkeiten zwischen Cerrado und Sangre (vgl. Soldevila 1999a: 108; Llorens Marzo 2005). Allen drei Bänden gemeinsam ist, dass sie in einer ersten, äußerst intensiven und zu den Kriegsereignissen zeitnahen Arbeitsphase entste-
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skripts und erklärte die begrenzte Relevanz des Datums, das unter dem veröffentlichten Text genannt ist (vgl. Soldevila 1973: 69). «Por primera vez en mi vida puedo sentarme a escribir pensando sólo en escribir. Solo, completamente solo, horas y horas.» (Diarios 188) Durch glücklichen Zufall hatte die Polizei sie bei der Durchsuchung seiner Wohnung nicht entdeckt, sein Freund José Ignacio Mantecón brachte sie nach Mexiko, wo Aub sie drei Jahre später zufällig unter einem Stapel Papiere in dessen Wohnung wiederfand. In dem unveröffentlichten Entwurf zu einem Vorwort für das Magische Labyrinth aus dem Jahr 1970 schreibt Aub: «Al llegar, en octubre 1942, [a México,] indagué por el {paradero del} original, nadie supo decirme nada. Lo encontré, {también} por [absol] casualidad, bajo una pila de papeles [sobre] dormidos sobre el mármol de una cómoda, en casa de José Ignacio Mantecón – que se había despedido de mí, en 1940, en el campo de Vernet […].» («Borrador de prólogo al Laberinto mágico», in: Aub 2002a: 71)
hen und innerhalb von sieben Jahren in enger zeitlicher Folge erscheinen. Parallel dazu veröffentlicht Aub in der von ihm gegründeten und exklusiv beschickten Zeitschrift Sala de Espera [ĺ Kap. V] Erzählungen aus dem thematischen Umfeld des Bürgerkriegs, die er in den Erzählungsbänden No son cuentos (1945), Algunas prosas (1954) und Cuentos ciertos (1955) zusammenfasst.7 Bis zum Erscheinen des vierten Bandes Campo del moro (1963) vergingen zwölf Jahre, in denen sich Aubs berufliche Grundlagen im mexikanischen Exil konsolidierten (er wurde Direktor der Film- und Fernsehabteilung der mexikanischen Nationaluniversität UNAM), in denen er andere literarische Projekte verfolgte – etwa den Künstlerroman Jusep Torres Campalans [ĸ Kap. II] – oder sich in den Romanen Las buenas intenciones (1954) und La calle de Valverde (1961) verstärkt der Vorgeschichte des Bürgerkriegs widmete; da Aub hierfür Figuren aus den Campos-Romanen reaktiviert, zählt Javier Lluch Prats (2010: 44) auch diese beiden Bücher zum Zyklus und arbeitet sie in seinen Personenkatalog ein. Den ursprünglich als vierten Band geplanten Roman Campo francés konnte Aub nicht fertigstellen (vgl. Soldevila 1999a: 113), unter gleichem Namen erschien aber 1965 ein Hybrid aus Filmdrehbuch und Roman, dessen Handlung sich eng an das Theaterstück Morir por cerrar los ojos anlehnt; in der spanischen Zählung ist Francés der sechste Band des Zyklus, in der deutschen Ausgabe der fünfte. Der letzte Band Campo de los almendros kam 1968 heraus – dreißig Jahre nach der ersten Erzählung El cojo und nach über einem Jahrzehnt Recherche für diese abschließende Summa des Zyklus. Aub verweist auf die ausführlichen Vorarbeiten: Podría darme el lujo de decir que hace quince o veinte años que la estoy escribiendo. ¡Es verdad! A medida que me encontraba con alguien, con alguna persona que había vivido en Alicante esos tres últimos días de la guerra, le preguntaba cuál había sido su experiencia. Si esto es escribir, pues entonces tardé quince años en escribirla. Pero no creo que esto se puede llamar escribir. En realidad, durante todo este tiempo, yo amontonaba materiales. (zit. nach Soldevila 1999a: 112)
Hier endet, abgesehen von posthum erschienenen Fragmenten aus dem Nachlass,8 die Veröffentlichungsgeschichte des Magischen Labyrinths. Bereits an ihr kann man die transkontinentale Genese des Zyklus ablesen: Das Projekt beginnt in Spanien, wird vorangetrieben in Frankreich, nicht aufgegeben im afrikanischen Lager, anschließend entsteht ein Teil bei der Überfahrt nach Amerika und der Rest im mexikanischen Exil.
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Anders als von Caudet (2000: 26) wird der Künstlerroman Jusep Torres Campalans hier nicht als Teil des Magischen Labyrinths verstanden. Zwar hat er ebenfalls eine historisch-dokumentarische Handlungsebene, die aber entwickelt sich vor allem in Frankreich und endet mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Es ist demnach gewagt zu sagen, der Roman behandele die «antecedentes históricos» des spanischen Bürgerkriegs. Vgl. das Fragment El que ganó Almería (Revista de Occidente 265/2003, S. 76–83) und die Einführung zu den «Relatos perdidos en el laberinto» von Sanz Álvarez (2003a, 2003b).
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Das Magische Labyrinth ist offensichtlich ein Werk, das nicht innerhalb der Grenzen einer nationalen Literaturgeschichtsschreibung betrachtet werden kann. Auch die in der Max-Aub-Forschung zu beobachtende Öffnung zum Kontext der Exilliteratur bleibt letztlich bipolaren Erklärungsmustern verhaftet, die zudem ideologisch höchst aufgeladen sind: Die ersten Kritiker der sechziger und siebziger Jahre widmeten sich dem Exil nach den Regeln eines spanischen literarischen Feldes, in dem allein der unkommentierte Gebrauch des Begriffs «literatura del exilio» schon eine politische prise de position darstellte. Die ideologische Überformung der Beschäftigung mit der «literatura del exilio» endete auch nicht mit dem Verschwinden der Franco-Diktatur, denn ab den späten siebziger Jahren galt es, die Exilliteratur in die nationalliterarische Tradition zu reintegrieren und sich mit den noch lebenden Exilautoren symbolisch zu versöhnen.9 Im Fall von Max Aub führte das bei der literarhistorischen Wiedergutmachung immer mitschwingende schlechte Gewissen der Interpreten dazu, dass komplementär zu der Marginalisierung der vierziger bis siebziger Jahre häufig moralisch argumentiert wurde. So versuchten zahlreiche Beiträge zu den großen, Max Aub gewidmeten internationalen Tagungen ihn vor allem als zu Unrecht marginalisierten Autor des republikanischen Exils zu rehabilitieren (vgl. Alonso 1996). Doch in diesem bipolaren Modell, das bis heute in den beiden aufeinander bezogenen Einheiten «España del interior» und «España del exterior» denkt, ist die Dynamik des transarealen Schreibens von Max Aub nicht zu erfassen, weil so seine Wechselbeziehungen zur französischen, deutschen, mexikanischen und nicht zuletzt auch zur jüdischen Kultur entweder übersehen oder nur nachgeordnet berücksichtigt werden. Doch gerade diese transkulturelle Dynamik seines Schreibens ist ein Distinktionsmerkmal, mit dem er sich zum einen von zahlreichen Autoren des republikanischen Exils unterscheidet – etwa von den panhispanischen Visionen eines Luis Cernuda (vgl. Buschmann 2008) –, und mit dem er zum anderen eine spezifische Anschlussfähigkeit an die Identitäts- und Migrationsdiskurse des 21. Jahrhunderts gewinnt [ĺ Kap. VI]. Die Chronologie der erzählten Geschichte Betrachtet man die Chronologie der erzählten Geschichte im Magischen Labyrinth, so fällt auf, dass sich Aub gerade in den fünfziger Jahren, als feststand, dass die Diktatur Francos Bestand haben und ihm eine Rückkehr nach Spanien auf unbestimmte Zeit unmöglich sein würde, mit der Vorgeschichte des Bürgerkriegs beschäftigte. Die zwanziger und frühen dreißiger Jahre stehen im Mittelpunkt der Romane Las buenas intenciones (1954), La calle de Valverde (1961)
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So im Fall des am 27.4.1977 zurückgekehrten und mit quasi-diplomatischen Ehren am Flughafen Barajas begrüßten Rafael Alberti, der dort einen seitdem viel zitierten Schlüsselsatz für die symbolische Rückführung der ehemaligen Republikaner äußerte: «Salí de España con el puño cerrado, pero ahora vuelvo con la mano abierta, en señal de paz y de reconciliación con todos los Españoles.» (ABC, 29.10.1999, S. 53)
und des ersten Bandes Campo cerrado (1943). Der Kriegsverlauf selbst hingegen bildet den Hintergrund der Handlung bei den noch in Europa geschriebenen bzw. konzipierten Bänden Campo abierto und Campo de sangre, bei Campo del moro sowie in den ersten beiden Teilen von Campo de los almendros, außerdem von neun längeren Erzählungen. Die Folgen des Kriegs, innerhalb wie außerhalb Spaniens, also die Erfahrungen von Lager und Exil, werden erzählt im dritten Teil von Campo de los almendros, in Campo francés, sowie in den Erzählungen und Fragmenten, die Javier Quiñones in seinem Band Enero sin nombre. Los relatos completos del «Laberinto mágico» unter den Rubriken «Los campos de concentración» und «El exilio» zusammengestellt hat (vgl. Quiñones 1994); einen allein dem Exil gewidmeten Roman hat Aub unter verschiedenen Projekttiteln geplant («Campo africano», «Historia de África», «Historia de México»), aber nie geschrieben (Lluch Prats 2010: 45–50). Ebenfalls zum Magischen Labyrinth gezählt werden der Gedichtband Diario de Djelfa (1944), entstanden im gleichnamigen algerischen Arbeitslager, sowie weitere Theaterstücke (De algun tiempo a esta parte, Cara y Cruz, Morir por cerrar los ojos, El rapto de Europa o Siempre se puede hacer algo). Letztlich lassen sich all diejenigen Werke Aubs, die sich der spanischen Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts widmen, dem Zyklus zuordnen, weshalb etwa Manuel Aznar Soler auch das politische Reisetagebuch La gallina ciega hinzuzählt und es als «campo oscuro» oder «campo de sombras» bezeichnet (Aznar 1995: 18). Aub selbst schwebte aber vor, nur Werke über den Bürgerkrieg und seine unmittelbaren Konsequenzen einzubeziehen. 1970 schrieb er: «De hecho podía poner […] casi toda mi obra al servicio de este Laberinto, sólo mágico para mí. Pero preferí agrupar lo más significativo de la guerra y sus inmediatas consequencias.» (Aub 2002a: 72) So weit der Bogen an Werken sich auch spannt, die dem Magischen Labyrinth zugeordnet werden können – eine vom Autor selbst verantwortete Werkausgabe, die diese Frage abschließend klären würde, gibt es nicht – so sicher ist, dass sechs Bücher dessen Kern bilden: die sechs Campos-Romane, so bezeichnet, weil sie alle das Wort «campo» im Titel führen, das «Feld», «Weide», «Land», «freier Platz» bedeuten kann, aber auch «Schlachtfeld» oder «Lager», «Gefangenenlager» wie im Titel von Campo de los almendros. Einen zweiten Kreis bilden die Erzählungen des Magischen Labyrinths, die sich teils stofflich mit den Campos-Romanen überschneiden, teils aus den Vorarbeiten zu Romanen ausgegliedert wurden; Aub selbst hat sie auch als Teile des Zyklus veröffentlicht.10 Einen dritten Kreis bilden Titel wie El rapto de Europa oder Las buenas intenciones, die dem Zyklus zwar zugeordnet werden können, die aber weder in ihrer Publikationsgeschichte als solche rezipiert noch in der Forschung als solche
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In einem Entwurf zum Magischen Labyrinth hatte Aub die Romane und Erzählungen chronologisch sortiert, allerdings mit philologischen Schnitzern – eine Erzählung wird unter zwei Titeln aufgeführt – und noch mit provisorischen Titeln für die späteren Bände (vgl. Sánz Álvarez 2003a: 68f.); eine weitere Liste, in der Aub um 1959 26 Romane und Erzählungen «bajo el título, dijimos definitivo, de Los Campos» eingruppiert, findet sich in Lluch Prats (2010: 45).
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untersucht wurden. Schon allein der Kern des Magischen Labyrinths, die sechs Campos-Romane, umfasst 2500 Druckseiten,11 die Texte des zweiten Kreises summieren sich noch einmal auf gut 2000 Druckseiten. Die folgende Analyse des Magischen Labyrinths wird sich daher in erster Linie auf die Campos-Romane beziehen sowie Bezüge zu weiteren Texten nach Bedarf einblenden. Um dem heutigen Leser den historischen Kontext zugänglich zu machen, wird der Zyklus zunächst in seiner Eigenschaft als Dokumentation des spanischen Bürgerkriegs vorgestellt, des grausamsten in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, der in einem Land mit 23 Millionen Einwohnern mindestens 350.000 Tote forderte und etwa die gleiche Zahl an Spaniern ins Exil trieb.
El Laberinto mágico als Chronik Für die Forschung sind die Romane und Erzählungen des Laberinto mágico zunächst einmal dokumentarisch fundierte Texte, sie werden bevorzugt apostrophiert als realistische oder historische Romane. Ignacio Soldevila spricht von einem «fiel testimonio» (Soldevila 2001: 29), Ramón Espejo-Saavedra (2002) untersucht die Romane im Kontext der innerspanischen realistischen Tradition in der Nachfolge von Benito Pérez Galdós. Wie er operiert Manuel Tuñon de Lara mit Lukács’schen Konzepten auf der Suche nach dem kollektiven Helden und stellt fest: «El Laberinto […] debe leerse enmarcado por la cronología del itinerario histórico real […] es historia reciente […] es novela histórica» (Tuñón de Lara 2001: 34, 38). Zur Unterfütterung dieser These findet sich am Ende einer der ersten Monographien über Aubs Erzählwerk ein dokumentierender Anhang, in dem die 300 historischen Figuren allein aus Kunst und Kultur aufgeführt sind, die seinen Zyklus bevölkern (vgl. Soldevila 1973). Dieser Tenor der Forschung kann nicht überraschen, da der Stoff ein historischer ist und im gleichen Atemzug eine signifikante Umorientierung innerhalb des Aubschen Werks auffällt, eine Reformulierung der bisherigen ästhetischen Maximen des Autors, die dieser in zahlreichen Selbstzeugnissen betonte. Schließlich war Max Aub bis zum Beginn der Arbeit am Magischen Labyrinth in erster Linie als Autor im Kontext der Avantgarde bekannt geworden [ĸ Kap. I und II]. Inmitten der intensiven Arbeitsphase der vierziger Jahre, in der nicht nur die erste Hälfte der Prosa des Magischen Labyrinths erscheint, sondern auch ein Großteil des (politischen) Teatro mayor [ĺ Kap. V], reflektiert er in seinem Tagebuch (Eintrag vom 22.1.1945) über die «kreative Potenz» der Literatur seiner Zeit. Sie sei gering, da selbst «Heterodoxe» wie Baroja, Gide, Huxley, Unamuno oder Montherlant letztlich immer nur sich selbst beschreiben würden. Angesichts des historischen Kontextes – wir befinden uns im sechsten Jahr des Zweiten Welt-
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Gezählt nach der deutschen Übersetzung (Eichborn Berlin 1999–2003), die in einheitlichem Satzspiegel und anders als die kritische spanische Ausgabe ohne erläuternde Fußnoten erschien, die den Seitenumfang beträchtlich erhöhen.
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kriegs –, den es zu gestalten gelte, zweifelt Aub am Sinn einer auf dem Erfinden gründenden Literatur, ja, er spricht sich sogar das Recht ab zu erfinden, so lange er nicht beschrieben habe, was er gesehen hat: Decimos: habiendo tanto que decir, que, por mucho que hagamos, siempre quedarán casos que poner en relieve, ¿para qué inventar? Creo que no tengo derecho a callar lo que vi para escribir lo que imagino. (Diarios 123)
Mit beinahe gleichlautenden Worten erklärt er auf dem Umschlag der Erstausgabe von El rapto de Europa (1946) seine Herangehensweise an dieses Stück (vgl. Diarios 123, Anmerkung 2). Am Ende von Discurso beschreibt er seine Intention in mittelalterlich klingender Diktion als «dar cuenta de los sucesos y recoger cantares de gesta» (Discurso 185), und in einer unveröffentlichten Werkskizze stellt er sich explizit als einen Chronisten dar und sein Projekt in eine Reihe mit mittelalterlicher Tafelmalerei: Vistas así […] estas narraciones, pueden dar una idea de lo que fue la lucha de lo mejor que tenía España en 1936. Por lo menos con esa intención de cronista los escribí. Si queda, además, mi nombre aparezca en una esquina baja como el retrato de pintor, en un retablo medieval, perdido entre tantas caras, ojalá vivas. (zit. nach Sanz Álvarez 2003a: 69)
Es liegt also nahe, das Magische Labyrinth zunächst als Chronik mit hohem dokumentarischen Wert zu betrachten. Doch ist es vorschnell, daraus den Schluss einer ästhetischen Kehrtwende zu ziehen, bei der der Avantgardist der Vorkriegszeit zugunsten des realistisch erzählenden Chronisten der Nachkriegszeit verabschiedet wird. Erstens zeichnet sich diese vermeintliche Wende bereits Anfang der dreißiger Jahre ab, als Aub sich in dem Kurzroman Luis Álvarez Petreña kritisch mit den Avantgarden der zwanziger Jahre auseinandersetzt und vor allem in seiner Art der vielstimmigen realistischen Darstellung dieses (scheiternden) Künstlers neue Wege der nach-avantgardistischen Prosa sucht. Die dezidierte Hinwendung zu einer politisch aufmerksamen Kunstpraxis bedeutet bei ihm also nicht die Verabschiedung seiner ästhetischen Maximen aus der Zeit der Avantgarden, wie im Vergleich mit José Díaz Fernández’ Konzept der «literatura de avanzada» gezeigt wurde [ĸ Kap. II]. Erinnert man sich zusätzlich noch der Theaterpraxis in den liberalen Phasen der Republik und zieht die Texte seines politischen Theaters der Bürgerkriegsjahre mit in Betracht, wird deutlich, wie er in den dreißiger Jahren immer wieder neue formale Möglichkeiten für eine politisch bewusste und formal nicht-konventionelle Kunst durchspielt. Es erweist sich also als wenig fruchtbar, die thematische Ausrichtung seines Werks in den Vordergrund zu rücken, dadurch klar voneinander abgegrenzte Werkperioden zu definieren und in der Folge die ästhetischen Kontinuitäten zu übersehen. Demgegenüber vertritt beispielsweise Silvia Monti (1992: 57–91, 2002) in ihrer Untersuchung zum politischen Teatro de circunstancias der dreißiger Jahre zurecht die These, dass es in seiner ästhetischen Brückenfunktion zwischen dem Primer teatro und dem Teatro mayor neu zu interpretieren sei. In diesem Sinne verfolgt auch diese Studie den Ansatz, die Kontinuität in den Suchbewegungen Aubs 101
nach ästhetischer Innovation herauszuarbeiten und nicht den inhaltlichen Kontrast zwischen dem Frühwerk und dem Magischen Labyrinth zu betonen. Aber kommen wir zurück zu unserer Ausgangsfrage und betrachten wir zum Einstieg die Serie zunächst als Chronik. Die erzählte Geschichte Der fulminante Einstieg in den ersten Band Campo cerrado, der Lauf des Feuerstiers, wurde bereits beschrieben. Cerrado verfolgt den Lebensweg Rafael López Serradors von der Mitte der zwanziger Jahre bis zum 18. Juli 1936, als die spanischen Militärs gegen die Republik putschen. Rafaels Weg führt aus dem Dorf Viver de las Aguas über die Provinzstadt Castellón in die Metropole Barcelona; aus einer nur vom Lauf der Jahreszeiten bestimmten Welt am Rande der Geschichte (vgl. Cerrado 91) mitten hinein in die Straßenkämpfe um die Ramblas, ins Zentrum der Großstadt. Rafael arbeitet in verschiedenen Handwerksbetrieben und findet über politische Tertulias zunächst Anschluss an sozialistische und anarchistische Kreise. Mehr als Beobachter denn als Teilnehmer wächst er hinein in den aufgeheizten politischen Alltag der zweiten spanischen Republik. Eine Prostituierte, die politische Freunde an die Geheimpolizei verraten haben soll, ermordet er im Affekt, die darauf folgende existenzielle Identitätskrise und Selbstbefragung führt zu keinem Ergebnis. Ein weiteres politisches Attentat, diesmal überlegt geplant, scheitert. Nun nähert er sich der neuen Gruppe der Falangisten unter dem jungen charismatischen Luis Salomar an.12 Am Morgen des Militäraufstands im Juli 1936 ist Rafael Teil der falangistischen Unterstützer des Militärs, dem ein wichtiger Botengang übertragen wird. Doch zwischen den Linien begegnet er seinen ehemaligen anarchistischen Genossen, er schwenkt um und nimmt an der erfolgreichen Erstürmung einer Kaserne teil. Im vorletzten Kapitel Noche ist sein Auge gleichsam das einer Kamera, die durch die nächtliche Stadt nach den Kämpfen fährt, die visuelle Eindrücke sammelt und Gesprächsfetzen registriert: brennende Kirchen, durch die Stadt irrlichternde Spinner, eine angesichts der Ereignisse absurde Diskussion zwischen einem Buchhändler und
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Auch damit sticht Aub aus dem ideologischen Panorama seiner Zeit heraus und ist exemplarisch für nachfolgende Autoren, die seit der Transición über den Bürgerkrieg schreiben. Die Figur des Luis Salomar ist angelehnt an einen Freund von Aub, den Dichter und Falangisten Luys Santa Marina, über den er in der Porträtsammlung Cuerpos presentes schreibt: «[…] escritor montanés, gran amigo mío (es el Salomar de Campo cerrado)…» (Aub 2001d: 278). Einer der diffenziertesten Charaktere seines Zyklus ist demnach ein durchaus nicht unsympathisch beschriebener Falangist. Diese Art der Vermenschlichung des politischen Gegners und Feindes im Bürgerkrieg ist äußerst ungewöhnlich, zumal in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Kriegsereignis selbst. Zur spezifischen Generationalität des Erinnerns vgl. Jürgen Reulecke (2005), zu den verfrühten Versöhnungsangeboten in Max Aubs Texten vgl. Buschmann (2005a). – Zum Verhältnis des Republikaners Aub zu seinem falangistischen Freund und Dichter Santa Marina vgl. Andrés Trapiello (2002: 383–389).
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einem atheistischen Bibelverkäufer. Zugleich fühlt sich Serrador endlich eins mit den Menschen und der Welt, die um ihn herum aus den Fugen zu gehen scheint: Rafael Serrador vaga por las calles tropezando con las gentes y sintiendo los lazos que le unen con los hombres, y como cogido en una red de la cual él fuese una de las mallas, una de las hebras de la noche. Por la Plaza del Pino pasea un hombre completamente desnudo, gritando: – ¡Viva el Sr. Kneip! ¡Viva el Sr. Kneip! Un mundo salido de sí, un mundo sin madre. Apoyado en un canalón, Rafael Serrador piensa en el agua, un agua bárbara, ímpetu bronco, raudo, tenaz, incontenible: como el de un toro de fuego, un arco iris de fuego, por encima de la ciudad vencedora. (Cerrado 271)
Mit diesem Rückbezug auf die früheste Kindheitserinnerung der Hauptfigur, auf den Feuerstier und das Wasser in der Natur, endet die Diegese. Noch knapper gehalten als Noche ist das letzte Kapitel Muerte, das aus einer dreiseitigen Liste besteht, in der ein heterodiegetischer Erzähler das Wort ergreift und das weitere Schicksal der handelnden Personen aufführt, entsprechend dem Stand seines Wissens vom 17. August 1939.13 In einer Reihe mit dem Tod oder Überleben der historischen Figuren (dem Anarchistenführer Juan García Oliver, dem aufständischen General Goded oder dem katalanischen Regierungschef Companys) wird an erster Stelle das Ende von Rafael López Serrador vermerkt, der gestorben sei, «a los ocho días del capítulo anterior, en el Hospital Clínico de Barcelona, del tifus» (Cerrado 272). Hatte der Leser gehofft, sich gemäß den Konventionen realistischen Erzählens darauf verlassen zu können, die im ersten Band ausführlich eingeführte Hauptfigur Rafael als Fokusfigur in späteren Bänden wiederfinden zu können – hier wird er rüde eines Besseren belehrt. Die fiktionsironisierende Wendung «a los ocho días del capítulo anterior» unterstreicht die Anti-Klimax dieses Romanschlusses. Wie in Campo cerrado, wo der Kampf um Barcelona im Juli 1936 den Fluchtpunkt der historischen Hintergrundhandlung bildet, dienen auch in den folgenden Bänden militärische Schlüsselereignisse als Bezugspunkte: In Campo abierto ist die Verteidigung Madrids im Herbst 1936, in Campo de sangre die Schlacht um Teruel Aufhänger der Handlung, in Campo del moro der Bruderkampf innerhalb des republikanischen Lagers (Madrid, Februar 1939).
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Zu diesem Zeitpunkt im Sommer 1939 hatte Aub in Paris die Redaktion des Manuskripts beendet. Im Vorwort zur mexikanischen Erstausgabe von 1943 (in: Aub 2001b: 81–82), das er in der zweiten Edition von 1968 in der Editorial Veracruzana nicht mehr übernahm, erklärt er, dass er die bezüglich einiger historischer Figuren veralteten Daten bewusst nicht habe aktualisieren wollen: «Sale esta novela, o mejor galería, tal y como nació en 1939. Me hubiese sido fácil ampliar algún dato del capítulo final, pero siendo esta como es, aunque sólo para mí, una segunda edición, va sin cambiar una coma.» (Aub 2001b: 83) Offensichtlich sollte der authentische, gleichsam dokumentarische Charakter des Textes («esta novela, o mejor galería») nicht verändert werden.
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Campo abierto spielt im Sommer 1936, beginnt in Valencia (Primera parte) und schildert in parallelen Handlungssträngen die chaotischen Wochen nach dem Aufstand, in denen sich die Gesellschaft nach dem Zusammenbruch jeglicher staatlicher Autorität neu zu formieren sucht. Standgerichte befinden über Denunzierungen, die Sympathisanten der Faschisten vor Erschießungskommandos bringen, oft aber auch nur unliebsame Nachbarn oder Nebenbuhler in Liebeshändeln. Der junge Milizionär Jorge Mustieles, gebannt von seiner Omnipotenz, die ihm die revolutionären Umstände verschaffen, muss als Mitglied eines Schnellgerichts über seinen eigenen Vater urteilen und widersetzt sich nicht dem Mehrheitsvotum, das die Todesstrafe fordert. Junge Leute besetzen ein Theater und gründen ihre eigene revolutionäre Theatergruppe El Retablo. Zwei von ihnen, Vicente Farnals und Asunción Meliá werden später in Madrid zu einem Liebespaar und tauchen auch in nachfolgenden Bänden wieder auf. Das wie der erste Band in medias res einsetzende erste Kapitel Gabriel Rojas führt eine Frau kurz vor der Entbindung vor, bei der aber der bestellte Arzt, wegen der vielen Verletzten in der Stadt, nicht auftaucht. Ihr Mann Gabriel Rojas wagt sich schließlich auf die Straße, um selbst nach ärztlicher Hilfe zu suchen, wird dort von einem Heckenschützen in den Kopf getroffen und ist sofort tot. Die Segunda parte blendet in die nationale Zone nach Burgos, wo der junge Jurastudent und Falangist Claudio Luna einen Angestellten seines Vaters, seines Zeichens ein angesehener Anwalt, exekutieren muss, obwohl er lieber nur Mitläufer wäre. Nach der Bluttat meldet er sich freiwillig an die Front, von wo aus er in die republikanische Zone nach Madrid überläuft, sich dort den Anarchisten anschließt, aber, nachdem er von untergetauchten Falangisten erkannt wird, doch wieder für die im Untergrund operierenden Franco-Anhänger arbeiten muss: Ein Verräter, der selbst nicht mehr weiß, auf welcher Seite er steht oder stehen will. Der dritte Teil des Romans schildert die ersten Novembertage in Madrid, als die franquistischen Truppen scheinbar unaufhaltsam auf die Hauptstadt vorrücken; die Regierung hat die Stadt aufgegeben und ist nach Valencia geflohen, die aussichtslos scheinende Verteidigung hat man dem unbekannten General Miaja überlassen, der sich im Wesentlichen auf die Einheiten stützen muss, die ihm die Gewerkschaftskommitees zur Verfügung stellen. Asunción und andere Mitglieder der Theatergruppe sind ebenfalls in der Stadt und beginnen mit den Proben zu Miguel de Cervantes’ Drama El cerco de Numancia, das den Durchhaltewillen der belagerten Stadt Numancia heroisiert. Vicente kehrt von der Südfront nach Madrid zurück und findet seine valencianischen Freunde wieder. Er und Asunción erklären sich ihre bislang unausgesprochene Liebe und werden ein Paar. Neben ihnen werden als weitere wiederkehrende Figuren der Richter José Rivadavia, der Arzt Julián Templado und der katholische Intellektuelle Paulino Cuartero eingeführt. Die (Streit-) Gespräche dieser Figuren verarbeiten die aktuellen Geschehnisse, häufig mit literarischen oder philosophischen Querverweisen und Exkursen. Ganz anders und volkstümlich der Ton in den Kapiteln, die die Mobilisierung der Bevölkerung zur Verteidigung der Stadt beschreiben, exemplarisch vorgeführt anhand der Bewaffnung der Gilde der Frisöre: Unter Leitung des Frisörmeisters Jacinto Bonifaz baut 104
deren Gewerkschaft das «batallón Fígaro» auf; seine Frau Romualda organisiert die Nachbarschaftshilfe bei den ersten Bombenangriffen auf die Innenstadt; beide sterben. Daneben treten zahlreiche historische Figuren auf, entweder unter ihren Klarnamen (die Generäle Miaja und Líster, die Politiker Prieto und Largo Caballero) oder leicht erkennbar unter fi ktiven Namen (Hope für Ernest Hemingway, Gorov für Ilja Ehrenburg). Als am Ende der Handlung Templado Madrid in Richtung Valencia verlässt, kommen ihm die von den Verteidigern lange ersehnten Einheiten der Internationalen Brigaden entgegen. Das Buch endet mit einem Standbild, das Vicente hinter einem Bahndamm in Deckung liegend zeigt, den feindlichen Angriff auf Madrid erwartend, und dies dank der nunmehr erfüllten Liebe zu Asunción voller Hoffnung auf ein neues Leben. Ein Schluss, der ähnlich wie das vorletzte Kapitel Noche in Cerrado den Akzent auf eine optimistische Perspektive für den weiteren Kriegsverlauf und seine gesellschaftliche Dynamik legt. Der dritte Band Campo de sangre spielt in den Wochen der Winterschlacht um Teruel 1937/1938, bei der es für kurze Zeit so aussieht, als könnte die Republik erstmals in diesem Krieg die militärische Initiative zurückgewinnen und eine Provinzhauptstadt erobern. Doch Ende Februar 1938 müssen die Republikaner die Stadt räumen, woraufhin im Frühjahr die Aragón-Front zusammenbricht und die republikanische Zone geteilt wird; damit ist der Krieg militärisch so gut wie verloren. Wieder gliedert Aub den Text in drei Teile, deren mittlerer in Teruel spielt, kurz den Häuserkampf bei eisigen Temperaturen beschreibt und in Rückblicken die grausamen Säuberungen der Faschisten einblendet, als diese 1936 die Stadt in ihre Gewalt gebracht hatten. Den größten Teil des Kapitels nimmt das langsame Sterben des alten Bibliothekars Don Leandro ein, der aus Teruel evakuiert wird und im Fieberwahn über den Ursprung der Gewalt in Spanien deliriert. Der liege darin begründet, dass das Land seit Urzeiten der Kultur des Stieres huldige; er stirbt schließlich, kurz bevor er das Hospital von Valencia erreicht, in Viver de las Aguas im Geburtshaus von Rafael Serrador. Die Handlung des ersten und dritten Teils spielt zumeist in Barcelona. Rivadavia, Cuartero und Templado bewegen sich inzwischen in einer vom Alltag des Kriegs gezeichneten Stadt: Knappheit von Nahrungsmitteln, Verdunkelung, ständige Fliegerangriffe, widersprüchliche politische und militärische Nachrichten; Spitzel und politische Kriegsgewinnler treiben undurchsichtige Geschäfte. Der Roman setzt ein mit einer Erschießungsszene in der Festung Montjuich, zu der Rivadavia und Templado im Morgengrauen des 31. Dezembers 1937 hinaufspazieren. Ihr Dialog auf dem Weg dorthin reflektiert die Hintergründe für die Verurteilung der drei Faschisten und stellt, ausgehend vom Abschiedsbrief eines der Delinquenten, die Frage nach dem Sinn solcher Maßnahmen. Vom Montjuich aus beobachten sie einen Luftangriff auf die Stadt. Auch am Beginn des dritten Romanteils steht eine Todesnachricht: Cuartero informiert Don Leandros Tochter Rosario über den Tod ihres Vaters und verliebt sich in sie. Der Spitzel López Mardones konstruiert beim Militärgeheimdienst SIM eine Intrige gegen Templado, der einer Freundin, der Schauspielerin Lola Cifuentes, über die Grenze nach Frankreich helfen möchte, ohne zu wissen, dass 105
sie in Kontakt zum falangistischen Untergrund steht. Die Warnung des Offiziers Fajardo schlägt er in den Wind, da er Freundschaft höher bewertet als politische Präferenzen. Halb aus heimlicher Liebe, halb aus Überzeugung begleitet er Lola zur Grenze, wohl wissend, dass er sich damit in Gefahr bringt. Rivadavia versucht Licht in die Intrige zu bringen, muss aber auch seinen Freund Templado als Verdächtigen verhören, der über diesen Vertrauensbruch zutiefst getroffen ist. Im letzten Kapitel scheint die Apokalypse über die Stadt hereinzubrechen. Von Franco als Vergeltung angekündigte Luftangriffe treiben die Menschen aus den Armenvierteln hinauf in die Oberstadt, andere verkriechen sich in den UBahnschächten. Die Frau des Spitzels Jiménez erkennt die Niedertracht ihres Mannes und erschlägt ihn. Cuartero findet neben einem Bombenkrater die zerfetzte Leiche seiner Geliebten Rosario. Das Schlussbild des Romans, parallel konstruiert zum Ende des vorletzten Kapitels Noche in Cerrado, zeigt Templado und Cuartero, die über das brennende Barcelona blicken: Recostado en la pared de una esquina, viendo el prodigioso espectáculo trágico, Templado dice a Cuartero señalando con la cabeza el cielo de donde baja la muerte: – La poesía. Un súbito silencio subraya la afirmación. Cuartero se estremece. (Sangre 419)
Waren es in Cerrado die Brände der Kirchen und die revolutionären Umtriebe, die den unbedarften Rafael Serrador ungläubig und letztlich nicht verstehend auf die Welt blicken lassen, sind es nun die von feindlichen Bomben in Brand gesetzten Stadtviertel, die die beiden (intellektuellen) Beobachter zum Erschauern bringen. Templados enigmatischer Kommentar («La poesía.») versucht, das grausame Bild des vom Widerschein der Brände leuchtenden Himmels mit einer ästhetisierenden Einordnung zu verarbeiten. Ein letztlich hilfloses Unterfangen, Ausdruck einer Verzweiflung, die nichts mehr zu tun hat mit dem optimistischen Schluss der ersten beiden Bände. Campo del moro, nach dem ursprünglichen Veröffentlichungsplan als letzter Band der Serie vorgesehen, schildert eine Woche Anfang März 1939 in Madrid, die für die Historiographie des spanischen Bürgerkriegs wenig relevant ist (weil sie am Ausgang des Kriegs wenige Wochen später nichts mehr änderte), wohl aber für Aubs immer wichtiger werdendes Leitmotiv des Verrats. Den Hintergrund der Handlung bildet der Putsch des Obersten Casado und des Sozialistenführers Julián Besteiro gegen die republikanische Regierung Negrín. Die Putschisten in Madrid wollen mit Franco einen würdigen Friedensschluss verhandeln, während die Regierung, auf den Ausbruch des Kriegs zwischen den europäischen Demokratien und den faschistischen Staaten hoffend und wohl wissend, dass Franco niemals in ernsthafte Friedensverhandlungen eintreten würde, so lange wie möglich Widerstand leisten will. Anarchisten und Teile der Sozialisten stützen diesen Putsch gegen die sozialistisch geführte, aber letztlich von den Kommunisten und der Unterstützung Moskaus abhängige Regierung. Nach blutigen Kämpfen bekommen die Putschisten die Hauptstadt in ihre Gewalt, dennoch scheitern sie, weil Franco ihre Emissäre zurückweist und die bedingungslose Kapitulation ver106
langt.14 Damit steht endgültig fest, dass für die Regierung nur noch die Modalitäten der Niederlage zu verhandeln sind und die Flucht der wichtigsten politischen und militärischen Repräsentanten der Republik organisiert werden muss.15 Im Rahmen dieser umfassend dokumentierten historischen Handlung irrt Vicente Dalmases durch das Chaos Madrids, wird gefangen genommen und entgeht der Erschießung nur dank der Intervention seiner Geliebten Lola; von seiner Frau Asunción ist er getrennt, seit diese Ende 1936 zur Arbeit für die Kommunistische Jugend nach Valencia beordert worden ist. In zunehmend knapperen Kapiteln spulen sich die parallelen Handlungen ab, zeigen auf der einen Seite die Aktionen der Putschisten um Casado und Besteiro, auf der andern die der Regierung, sowie in Dialogen, Briefen und Dokumenten das Agieren der verschiedenen politischen und militärischen Führer beider Seiten. Dazwischen geschnitten sind die Begegnungen bereits bekannter fiktiver Figuren (Templado sitzt mit Vicente in Gefangenschaft, Rivadavia kann ihn befreien) sowie zwei Liebesgeschichten (Lola und Vicente, Rosa María und Víctor Terrazas), die beide mit dem Tod der Frauen enden: Lola erhängt sich, nachdem Vicente Richtung Valencia aus der Stadt geflohen ist; María stirbt in der Schlussszene des Romans bei deren Beerdigung, getroffen durch eine Granate. Dieses Ende verweist auf eines der beiden Motti zurück, die dem Roman vorangestellt sind, eine Pressemeldung über eben diesen Angriff auf den Friedhof. Das zweite Motto ist ein Zitat aus einem der historischen Werke des costumbristischen Schriftstellers Ramón de Mesonero Romanos, das den Namen «Campo del Moro» für eine Feldflur am Rand Madrids mit Verweis auf die islamischen Heere erklärt, die 1109 die Stadt belagert hatten.16 In den beiden letzten Bänden Campo de los almendros und Campo francés ist der Krieg nur noch fernes Echo, allein schon deshalb, weil es – außer dem Kriegsende am 1. April 1939 – keine militärischen Schlüsselereignisse mehr gibt, auf die die Handlung zulaufen könnte. Dafür rückt die menschliche Tragödie noch deutlicher ins Zentrum. Campo de los almendros, für Ignacio Soldevila «la más impresionante de las novelas del ciclo» (Soldevila 1999a: 113), nimmt die
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Aub widmet also einen ganzen Band gewissermaßen einer Fußnote der Geschichte. Bekannte und wichtige Kriegsereignisse wie etwa der Kampf um den Alcázar von Toledo, der in André Malraux’ L’Espoir hochsymbolisch aufgeladen wird, tauchen bei ihm nur als Erwähnung auf. Da sich der Stoff von Moro als zu umfangreich erwies – Aub recherchierte aufwändig, um mehr als in den bisherigen Bänden historische Protagonisten glaubwürdig auftreten lassen zu können – wurde die Darstellung der geplanten Evakuierung über den Hafen Alicante aus diesem Band ausgeklammert und bildete nachfolgend den stofflichen Mittelpunkt für den letzten Band Almendros. Aub spielt damit ironisch auf die marokkanischen Eliteeinheiten in Francos Armee an, die an der Belagerung Madrids 1936–1939 beteiligt waren. Der Verweis auf diese nicht-christlichen Hilfstruppen – sogar Francos Leibstandarte setzte sich aus muslimischen Soldaten zusammen – war wichtiger Bestandteil der republikanischen Propaganda gegen die Vereinnahmung der Kreuzzugsidee durch Franco, der sich in einer Linie mit dem Heiligen Santiago als Retter Spaniens gegen die Anti-Christen stilisierte (vgl. Rodríguez Monegal 1967: 19).
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zentralen Themen und Motive der vorhergehenden Bücher noch einmal auf und führt sie, ebenso wie die noch lebenden Protagonisten der Serie, zusammen. In der spanischen Ausgabe ist er der fünfte Band, in der deutschen bildet er, angelehnt an die spanische Veröffentlichungsgeschichte, den abschließenden sechsten Band. Historischer Hintergrund sind die letzten Tage von Alicante, wohin Ende März 1939 Tausende Republikaner strömen, in der Hoffnung, dort von französischen und englischen Schiffen aufgenommen zu werden. Doch die Schiffe bleiben aus, stattdessen rücken italienische und später franquistische Truppen in die Stadt ein, nehmen die etwa 15–20.000 Republikaner gefangen und pferchen sie in Gefängnisse, Kinos, Schulen und improvisierte Lager, darunter eine Mandelplantage nördlich Alicantes, die dem Roman seinen Namen gibt. Almendros besteht aus drei etwa gleich langen Teilen sowie einem fünfseitigen Nachtrag (Addenda). Der dritte Teil beginnt mit Francos letztem Tagesbefehl, mit dem er am 1.4.1939 den Bürgerkrieg für beendet erklärte; in diesem letzten Teil gibt es sonst keine Datumsangaben mehr. Das streng chronologische Ordnungsprinzip, dazu die noch stärker als in vorhergehenden Bänden pointierte Fragmentierung der Handlung in Sequenzen sowie die Montage von Briefen, Tagebuchauszügen, Reden und offiziellen Schriftstücken vermitteln dem Leser den Eindruck, eine Dokumentation vor Augen zu haben. In schnellen Schnitten fokussiert der Text auf eine Vielzahl von Figuren, so dass der Leser zwischen dem inneren Monolog eines republikanischen Offiziers, der sich erschießen will, zum Dialog von Gewerkschaftern wechselt, die die Evakuierungslisten zusammenstellen, zur Beschreibung der Flucht versprengter Soldaten nach Alicante, zu Flüchtlingen auf der Suche nach Angehörigen oder in den inneren Monolog eines Vaters, der seinem Sohn die Tragweite der historischen Situation erklären möchte. Die ersten zweihundert Seiten fungieren als eine Art Bindeglied zu den vielen einzelnen Vorgeschichten der Tragödie von Alicante, das heißt intratextuell zu den vorausgehenden Romanen des Magischen Labyrinths. Aus Cerrado, Sangre und Moro tauchen Vicente und Asunción wieder auf, ebenso Cuartero und Templado. Anders als in früheren Bänden werden dem Leser aber die zum Verständnis der fiktiven Vita der Figuren nötigen Informationen nachgereicht, entweder in deren Erinnerungen oder in knappen Dialogen. Ähnlich wie in Moro bewegen sich diese fiktiven Figuren zwischen unzähligen historisch verbürgten Politikern, Gewerkschaftern und Generälen. So legt der sammelnde erste Teil das Fundament, auf dem Almendros als Summa des Magischen Labyrinths fußt. Die historische Lage, in die alle Protagonisten in den beiden ersten Teilen geworfen sind, ist beinahe ausweglos und verzweifelt: Nach drei Jahren Krieg ist für die Republikaner der Kampf gegen den Faschismus verloren, General Franco kann das Datum seines Triumphs, seines Einmarsches in Madrid, nach eigenem Gutdünken festlegen, und gebannt von Hitlers Drohgebärden in der Sudetenkrise kümmert sich kein europäischer Spitzendiplomat um das Schicksal der in Alicante eingeschlossenen Republikaner. Im zweiten Teil des Romans zieht sich diese Schlinge zu, die Flüchtlinge im Hafen fallen rachedurstigen Falangisten in die Hände, es häufen sich die Selbstmorde, und für die überlebenden Anhänger der Republik beginnt der Marsch in die Lager. 108
Der dritte Teil schließlich, der den Weg der Figuren in und durch die Lager schildert, den Weg in Tod oder Vergessen, greift über Max Aubs ursprünglichen Plan hinaus, die letzten Tage Alicantes vor dem 1. April, dem Tag des Kriegsendes, zum Thema des Romans zu machen. Der Erzähler erläutert in einem mit Páginas azules überschriebenen Einschub (der auch auf blauem Papier gedruckt sein sollte) den Grund: Por ello esta suma, la que empieza con Campo cerrado, debiera acabar con la salida de los prisioneros hacia el Campo de los almendros. No hallé razón ni tuve valor para hacerlo ni me parece justo; lo del valor es relativo porque, de hecho, ahí empieza la historia del exilio y ¿quién soy para disponer esta ruptura? Quédese para los calendarios y los historiadores, no para los novelistas […]. (Almendros 403)
Der Lauf der Geschichte habe nicht am 1. April 1939 geendet, sie gehe mit der Ermordung ihrer Protagonisten oder ihrer Auslöschung aus dem kollektiven Gedächtnis weiter, und ebenso wie die Geschichte des Bürgerkriegs sei die Geschichte der folgenden Jahre von den Siegern entstellt worden. Ließe er das Buch an dieser Stelle enden, hieße das, seine Figuren ein weiteres Mal zu Opfern zu machen. Da diese Erkenntnis diegetisch kaum kommunizierbar ist, muss sie in Form eines nicht nur metatextuellen, sondern auch metahistoriographischen Einschubs erfolgen. Damit markiert die Reflexion des Erzählers über die Kapitulation der Republik eine explizite Verabschiedung des historischen Romans in seiner traditionellen, illusionsstiftenden Form, und sie bedeutet im gleichen Atemzug eine Infragestellung des Erzählens selbst im pathetisch produktivsten Augenblick der Handlung: dem Ende des Bürgerkriegs. Gemäß der Selbstbeauftragung dieses Erzählereinschubs schildert Almendros nachfolgend den Weg in die franquistischen Lager, den Alltag in den Frauengefängnissen, die nicht endenden Erschießungen. Dieser dritte Teil des Romans entspringt gewissermaßen einem Paradox: Gerade weil die Geschichte (der Republik) hier endet, wird weitererzählt, wie sich die Spuren ihrer Protagonisten in der Folgezeit verlieren. Es ist eine Zeit ohne Geschichte, weshalb in diesem dritten Teil die zuvor ständig gemachten Datumsangaben fehlen. «[…] no hay diferencia entre marzo y abril», notiert der Erzähler hierzu in einem Einschub (459). Vicente verschwindet in Madrid, Asunción in Valencia, einige der rekurrenten Figuren kommen um, andere können fliehen, neue Namen tauchen auf und wieder ab, verlieren sich im Nichts wie die immergleichen Tage der Gefangenschaft. Tagaus tagein Hunger, Ruhr, Erschießungen. Die Zeit versickert, die Geschichte steht still für die gefangenen Republikaner, die ihre Vergangenheit, wenn sie überleben wollen, verleugnen müssen, und für deren bisherige Lebensentwürfe es keine Zukunft mehr gibt. Von nun an sind sie Ausgestoßene, aus dem Volkskörper Ausgeschiedene, und Aub nutzt mehrmals den Doppelsinn des spanischen Wortes «evacuación», das ebenso Evakuierung wie (körperliche) Ausscheidung bedeutet. Am deutlichsten zu erkennen in einer Szene, die von Häftlingen im Lager Albatera berichtet, die sich, um ihr Geschäft zu verrichten, möglichst weit von den Baracken entfernen und deshalb, weil sie sich der Grenze des Lagers zu sehr genähert haben, erschossen werden (vgl. Caudet 2000: 74). 109
Das zweifache Ende Das Ende von Almendros ist ein zweifaches. Zunächst schließt das Buch mit einem wörtlichen Zitat aus den ersten Seiten des ersten Bandes des Magischen Labyrinths: Primeros de septiembre y el aire frío bajando por el Ragudo; más arriba las estrellas del monte y, a ras de tierra, el ruido del agua viva: fuentes, manantiales, acequias. Hacia abajo, caídos hacia la mar, por Jérica y Segorbe, Algar, Estivella, Sagunto, El Puig; cuesta arriba, por Sarrión, el áspero, desnudo camino de Teruel. Hay quien dice que ha visto a Rafael López Serrador, guerrillero, por el monte … (Almendros 563, vgl. beinahe gleichlautend Cerrado 85)
Der Verweis auf Rafael Serrador, die Hauptfigur des ersten Bandes, die der Autor erst bei der letzten Fahnenkorrektur einfügte,17 ist eine Vision: Serrador, so steht es am Ende von Cerrado, ist 1936 gestorben. Es ist typisch für Max Aub, solch einen faktischen Widerspruch an einer Schlüsselstelle des Textes einzubauen.18 Die Frage, ob er aufzulösen ist, und wenn ja, mit welcher Erklärung, überlässt er dem Leser. Die Protagonisten des Bürgerkriegs, zumindest die der republikanischen Seite, so könnte eine Erklärung für diesen Schluss lauten, leben nur noch in der Imagination. Mit dem Ende der Geschichte der Republik wird der Milizionär Rafael zur mythischen Figur, insofern sie keine Antwort gibt, sondern eine letztlich unlösbare Frage hinterlässt – und gerade die unbegrenzte Bedeutsamkeit eignet nach Blumenberg (1971) dem Mythos. Für das literarische Projekt markiert das Zitat den Schlusspunkt, der auf den Anfang zurückverweist, auf die Eröffnungsszene mit dem Feuerstier, im Kontext der politisch-historischen Weltsicht des Autors steht es für eine immer wiederkehrende, zeitlos aktuelle Alternative. Zwei Wege standen und stehen Spanien offen: «bergauf Richtung Sarrión der nackte steinige Weg nach Teruel», womit der beschwerliche Weg der Republik Richtung Zentrum, Richtung Madrid, gemeint sein könnte, und der Weg hinunter in die Ebene, zum Meer, also auch nach Alicante, in die Niederlage der demokratischen Ideale. Die zweite Option thematisiert Aub mit der Metaphorik des Wassers, die das Magische Labyrinth von den ersten Seiten an durchzieht. Man denke an die von Rinnsalen, Sturzbächen, Bewässerungsgräben gespeiste Fruchtbarkeit der Huerta de Valencia im ersten Band, an das Gespräch, in dem Vicente Ziel und Zweck seines Kampfes formuliert: Si ganamos… ¡Qué no hemos de hacer de España! Una España libre y trabajadora, una España nueva, donde cada quien tenga lo que deba de tener. Una España donde los
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Vgl. die Fußnote 498 in der kritischen Ausgabe (Almendros 563). Widersprüche dieser Art, die sich innerhalb der Diegese nicht logisch auflösen lassen, bestimmten bereits die Infragestellung des wissenschaftlichen Diskurses in Jusep Torres Campalans, u.a. mit dem Ziel, die Gattungsregeln des Textes in Frage zu stellen und dem Leser die Frage zu überantworten, ob und wie man eine Vita überhaupt erzählen kann [ĸ Kap. II].
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campesinos sean los dueños de la tierrra que trabajen, una España donde todos sepan leer, una España con agua, haremos que España tenga agua. (Abierto 450)
In Almendros strömen nicht nur die Menschen zur Küste, sondern auch das Wasser bleibt nicht in Spanien und findet im Meer seinen letzten metaphorischen Ort: Es verliert sich in der offenen See, während es im Gefangenenlager in der Wüste von Albatera gänzlich fehlt. Auf den ersten Seiten von Campo cerrado waren die ersten Erinnerungen von Rafael Serrador an die Bäche und Bewässerungsgräben seiner Kindheit hervorgehoben worden; am Ende des Buches stand er neben einer Regenrinne. Als «moralischen Leitfaden» («guía moral») durch das Magische Labyrinth hat Max Aub in einem Interview die Linie des Wassers bezeichnet, als «línea vertical», komplementär zur horizontalen Ordnung des Labyrinths: «[…] siempre hay una línea de agua que sigue dentro de la guerra. Después, no. Se pierde, entra en el desierto, y ya no hay agua.»19 Das Wasser ist also nicht nur Symbol des Lebens und der Fruchtbarkeit, als das es vor allem auf den ersten und den letzten Seiten von Cerrado dem Feuer gegenübergestellt ist (als Symbol von Gewalt und Tod in Gestalt des Feuerstiers und der brennenden Stadt), es steht metonymisch für die republikanische Vision des modernisierbaren Spaniens. So lange der Krieg noch nicht verloren war, war es noch vorhanden, doch mit der Niederlage gegen Franco verliert es sich im Meer. «Luego se pierde… Como el Guadiana», sagt Aub in demselben Interview, und stellt selbst die Verbindung her zum republikanischen Exil («el océano y el éxodo»), das sich als Bewahrer dieser letztlich aufklärerischen Tradition nach Übersee gerettet hat. In Spanien selbst fehlt nunmehr das Wasser. Mehrmals wird betont, dass es im Konzentrationslager von Albatera, einem wüstenartigen Landstrich im Südosten Spaniens, an Wasser mangelt. Aber mit dem Rückverweis auf Rafael Serrador endet der Roman ja nicht. Welchen Effekt und welche Funktion hat jener Nachtrag, der eine Art Augenzeugenbericht der Ehefrau von Molina Conejero ist, dem (historischen) Gouverneur von Valencia in den letzten Kriegstagen? Die Frau ergreift direkt das Wort: «Perdone que venga a molestarle. Pero he leído su novela, o lo que sea, acerca de los últimos días de la guerra, en Valencia y en Alicante. Claro; yo no soy nadie para decirle si está bien o no. Yo no entiendo de eso, pero sí le quiero hacer notar algo que no es cierto. […]» (Almendros 565)
Auf den folgenden Seiten erzählt sie, wie sie die letzten Tage der Republik und die noch weitaus schlimmere Repression der ersten Nachkriegszeit erlebte, die Hinrichtung ihres Mannes, obwohl er Tausenden inhaftierter Franquisten das Leben gerettet hatte, und zuletzt die Erschießung ihrer 18jährigen Tochter, der allein das Tragen eines Blaumanns zum Verhängnis wurde. – Bedeutsam an dieser Addenda ist zunächst der Zoom in den historischen Kontext der Erzählzeit, den
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Unveröffentlichte Tonbandaufnahme eines Gesprächs mit Max Aub, geführt am 22./23.8.1968 in Mexiko-Stadt, Archiv der Max-Aub-Stiftung, Schuber 13/19; zit. nach Caudet (2002: 12).
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sie vollzieht. Der Nachtrag setzt eine tatsächliche persönliche Begegnung der in Spanien lebenden Witwe des ehemaligen Gouverneurs mit dem im Exil lebenden Schriftsteller in Szene, der bis dahin nie wieder spanischen Boden betreten hat. Wie in den Theaterstücken der Serie Las vueltas oder in der Erzählung El remate (s. unten) wird der literarische Text zum Versuchsraum einer Begegnung zwischen Repräsentanten voneinander abgegrenzter Räume [ĺ Kap. V]. Bezeichnend ist, dass es nicht zu einem Dialog zwischen den beiden Stimmen kommt, dass vielmehr unvermittelt die Frau das Wort ergreift und ihrem Gegenüber keine Möglichkeit für eine Antwort bleibt: eine Anordnung, die als deutlicher Kommentar zu verstehen ist, wie Max Aub die Möglichkeiten zum Dialog zwischen Exil und Innerspanien einschätzte. Dass die Witwe das letzte Wort behält mit ihrem Widerspruch, ist zudem ein Zeichen dafür, dass er sich der impliziten Begrenztheit seiner im Buch dargelegten Vision der spanischen Geschichte durch die Perspektive aus dem Exil bewusst war. Bereits 1966 war diese Addenda als Einzelerzählung unter dem Titel La Virgen de los desamparados in der Zeitschrift Cuadernos Americanos erschienen.20 Erst kurz vor Drucklegung des Romans fügte Aub diese zehn Manuskriptseiten dem ersten Schluss an,21 und die Wirkung dieses neuen Romanendes ist nachhaltig. Der erste Schluss, ein ruhiger Schluss, der gewissermaßen den historischen Stillstand des dritten Teils durchhält, legte den Akzent auf die innere Geschlossenheit des Zyklus. Er entspricht dem analytischen Blick des außenstehenden Erzählers auf seine Romanserie. Demgegenüber ist der zweite Schluss des parataktischen, atemlos erzählten Nachtrags, trotz der resignierten Feststellung, dass sich heute ja niemand mehr für solche Geschichten interessiere, wütend und empört. Er gibt den subjektiven Blick einer Figur auf den Erzähler wider, die Innensicht einer Frau, die das Franco-Regime und seine nach Vergessen gierende Gesellschaft noch immer täglich erlebt. Dieser Schluss bewegt den Leser noch ein letztes Mal. Insofern steht er für die bei allen Enttäuschungen bis zuletzt nicht aufgegebene Hoffnung des Autors, politisch bewegen (i.S.v. «movere») zu können. Doch auch in dem so verstandenen Ende der Geschichte versteckt sich ein Widerhaken, bedeuten doch die letzten Seiten einen expliziten Widerspruch zu all dem, was der Autor in seinem «Roman oder was das sein soll» («o lo que sea») geschrieben hat und in dem «etwas nicht stimmt» («algo que no es cierto»). Erneut erkennen wir das aus Campalans und Petreña bekannte Verfahren, den ‹Autor› durch seine Figur in Frage stellen zu lassen, und das bevorzugt am Ende des Textes. Anders als in den beiden im zweiten Kapitel analysierten Romanen ist es in Almendros aber die Figurenstimme, die das letzte Wort beansprucht,
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Vgl. Cuadernos Americanos, año XXV, 4 (1966), S. 241–245. Um diese zeitlich versetzte Vorveröffentlichung im Deutschen zu wiederholen, erschien die Die Heilige Jungfrau der Schutzlosen kurz vor dem Roman in der Zeitschrift tranvía (vgl. Buschmann 2003c). Vgl. die auf den Originalmanuskripten fußenden Erläuterungen in Almendros (565).
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und es bleibt dem Leser überlassen, daraus seine Schlüsse zu ziehen. Was diese Öffnung hin zum Leser betrifft, sind sich der erste und der zweite Schluss des Buches gleich. Auch in Campo francés geht es um die Zeit nach dem Bürgerkrieg, um den Weg in die Lager. Das Buch schildert, wie es Bürgerkriegsflüchtlingen, Spanienkämpfern sowie nach Paris geflohenen Antifaschisten und Intellektuellen (also sogenannten verdächtigen Ausländern) ab 1939 in Frankreichs Konzentrationslagern erging. Die Originalausgabe des Buches war reich illustriert mit Zeichnungen von Josep Bartolí sowie mit Zeitungsfotos politischer Akteure der grande histoire (Churchill, Hitler, Blum etc.), deren Agieren durch die rekurrente Einblendung von präzise datierten Wochenschauberichten oder Agenturmeldungen erfolgt. In mehrfacher Hinsicht sticht dieser Band aus dem Zyklus heraus: Formal, weil er als Hybrid zwischen Drehbuch und Roman verfasst ist, eine Entscheidung, die Aub in seinem Vorwort mit Verweis auf Benito Pérez Galdós legitimiert, der zu seiner Zeit Theater und Roman fruchtbar verknüpft habe. Geographisch, weil die Handlung in Frankreich spielt,22 und inhaltlich, weil es erstmals keine Figuren gibt, die erkennbar in anderen Bänden der Serie bereits aufgetreten wären. Aub schildert die Erfahrung der Konzentrationslager bezeichnenderweise nicht aus der militärischen Handlungsebene des Zyklus heraus, das heißt auf den Spuren der republikanischen Soldaten, die 1939 nach Frankreich flohen und zu Hunderttausenden interniert wurden, sondern aus der Perspektive des Zivilisten, der mit dem Bürgerkrieg bewusst nichts zu tun haben will: Hauptfigur ist der seit Jahrzehnten in Frankreich lebende und sich assimiliert fühlende Ungar Jules Hoffmann, der es schlicht versäumt hat, sich rechtzeitig einbürgern zu lassen. Nicht der militärische Weg ins (Kriegsgefangenen-) Lager steht in Francés im Mittelpunkt des Interesses, sondern der Prozess, mit dem sich eine Zivilgesellschaft schrittweise ihrer Zivilisiertheit entkleidet und in der Welt des Lagers ihren repressiven Kern offenbart. Campo francés schildert also nicht nur die Folgen eines Bürgerkriegs über sein offiziell erklärtes Ende hinaus, sondern auch das «univers concentrationnaire» als gesellschaftliches Paradigma westlicher Geschichte des 20. Jahrhunderts (vgl. Agamben 2002, sowie die Analysen in Kapitel V). Wegen seines deutsch klingenden Nachnamens «Hoffmann» und wegen einer Verwechslung in den Akten (sein politisch aktiver Bruder Jean kämpfte in den Internationalen Brigaden) gerät die Hauptfigur Jules ins Fadenkreuz der Polizei und wird, unter dem Beifall der gaffenden Nachbarn, als «Agent der fünften Kolonne» festgenommen. Der Besitzer eines kleinen Radiogeschäfts und seine Frau Marie stehen für ein (Klein-) Bürgertum, das sich für Politik nicht interes-
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Ausnahme ist die dramatische Eingangsszene, die unter der Kapitelüberschrift Katalonien, 30. Januar 1939 flüchtende Zivilisten auf der verstopften Landstraße Richtung Grenze zeigt, die in einen Tieffliegerangriff geraten. An diesen Flüchtlingstreck des Jahres 1939 fühlen sich später zwei Inhaftierte erinnert, die im Sommer 1940 nach Vernet getrieben werden: «Villanueva: ¿No te recuerda nada eso? […] Parece que estamos entre Gerona y Figueras.» (Aub 2007b: 221)
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siert und gerade deshalb zwischen deren Mühlen gerät. Zunächst inhaftiert man ihn im Stadion Roland Garros,23 später wird er in das südfranzösische Konzentrationslager Vernet d’Ariège deportiert. In den Diskussionen mit den anderen Gefangenen, deren Lebenswege oft noch absurder verliefen, deren Verhaftung oft mit noch zynischeren Argumenten erfolgte als in seinem Fall, gewinnt der apolitische Jules allmählich ein Bewusstsein für den politischen Kontext seines Schicksals. Als sich im Lager herumspricht, dass ein Teil der Häftlinge in ein Arbeitslager nach Afrika deportiert werden soll, unternimmt er einen Fluchtversuch und wird erschossen. So weit zum zeitlichen Rahmen und zum historischen Horizont der Romane. Auf der Ebene der erzählten Zeit bildet – wenn man, wie weiter oben erläutert, La gallina ciega nicht zum Zyklus zählt – die 1965 erschienene Erzählung El remate den Abschluss des Magischen Labyrinths. Sie schildert die Begegnung zweier spanischer Exilanten 1961 in Südfrankreich, wo der Erzähler, ein erfolgloser Schriftsteller, auch lebt. Remigio, ehemals Notar und nun Journalist und Autor, ist zum ersten Mal aus Mexiko zurück nach Europa gekommen, und in langen Gesprächen ziehen die beiden die Bilanz ihres Lebens, des Kampfes für die Republik und der Hoffnungen ihrer Jugend: In Spanien interessiere sich niemand für sie, das Exil habe letztlich alle Träume zerstört. An dem Tunnel in Cerbère, durch den Remigio 1939 geflohen war, verabschieden sie sich voneinander. Wie der Erzähler später erfährt, wird sein Freund in diesem Tunnel vom Zug erfasst und getötet, offensichtlich ein Selbstmord. Als Lebender hat er nicht nach Spanien zurückkehren wollen (das hätte bedeutet, das Regime anzuerkennen), nun liegt er in Port Bou beerdigt. Nur die Toten finden zurück zur spanischen Erde. – Wie schon das Ende von Almendros erzählt El remate von der Trennung zwischen Exil und Spanien, nicht von einer in irgendeiner Hinsicht befriedigenden Rückkehr oder einem funktionierenden Dialog. – Dieses für das Verständnis des Exils so wichtige Thema der unmöglichen Rückkehr, dessen Fiktionalisierung in Aubs Romanen und Theaterstücken sowie dessen theoretische Reflexion wird im fünften Kapitel Ausgeschlossen Schreiben eingehend behandelt. Vom historischen zum metahistoriographischen Roman Zu Beginn dieses Abschnitts wurde das Magische Labyrinth als «Dokumentation» bezeichnet, als «Chronik» und «historischer Roman», und es wurde bis hierher in diesem Sinne als heteroreferenzielle Fiktion beschrieben. Diese Denominationen, auch wenn sie sich durch Selbstzeugnisse des Autors stützen lassen («Mis Campos […] no son novelas, sino crónicas […]», Diarios 236), können jedoch die Gestalt des Korpus nicht in toto erfassen, weil das Laberinto mágico keine historische Narration traditionellen Zuschnitts ist. Die besondere Qualität
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Dort trifft er auf historisch verbürgte Inhaftierte aus dem Pariser Exilantenmilieu, etwa auf Lázló Radványi, den damaligen Ehemann Anna Seghers’, die Aub wiederum später in Mexiko kennenlernte (vgl. Buschmann 2002b).
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des Zyklus besteht gerade darin, dass er sowohl seine Funktion als Dokumentation der historischen Ereignisse erfüllt, als auch autoreferenziell die Bedingungen reflektiert, unter denen Literatur ihren Beitrag zum kollektiven Gedächtnis leistet. Auf der einen Seite legt er Zeugnis ab von historischen Zusammenhängen aus der Perspektive der Verlierer des Bürgerkriegs, er schreibt eine GegenGeschichte, die gerade während der Zensurbedingungen des Franco-Regimes in Vergessenheit zu geraten drohte, auf der anderen entwickelt er, wie nun gezeigt werden soll, mehr und mehr eine metahistorische Reflexionsebene. Implizit scheint die metahistorische Ebene bereits in den frühen Bänden des Zyklus auf, etwa in dem Erzählereinschub im letzten Kapitel Muerte von Campo cerrado. Die Bemerkung, dass es das weitere Schicksal der Figuren wiedergebe, «tal y como me los cuentan hoy, 17 de agosto 1939» (Cerrado 272), kann im intratextuellen Bezug zu den späteren Bänden eben nicht nur affirmativ, als Bekräftigung der folgenden Angaben, sondern auch relativierend verstanden werden, als Betonung der Tatsache, dass eine endgültige Aussage über den Lauf der Geschichte nicht getroffen werden kann. Daneben finden sich formale Merkmale wie sachliche Erläuterungen in Fußnoten (vgl. Sangre 190, Moro 520). Als weiteres implizites metahistorisches Element sind die zahlreichen Diskussionen der Protagonisten über die begrenzte Tauglichkeit von historischen Modellen zu nennen (im Dialog häufig zwischen Cuartero und Templado, im Monolog etwa durch Don Leandro in Sangre), oder der Schluss von Almendros, wo dem Erzähler eine Figur entgegentritt, die seiner Darstellung der historischen Ereignisse widerspricht und mit ihrer Gegendarstellung das letzte Wort behält. Noch wichtiger in diesem Zusammenhang sind explizite metahistorische und metahistoriographische Passagen, unter denen die bereits erwähnten Páginas azules in Almendros die ausführlichsten sind. In ihnen spricht der Erzähler – sich selbst nennt er «el autor» – den Leser direkt an und reflektiert über seinen Umgang mit den Figuren des Romans, den historischen und den erfundenen, und darüber, was deren weiteres (meist tödliches) Schicksal für ihn bedeute. Am liebsten hätte er, wie ein mittelalterlicher Sänger, ein Epos geschrieben (396) oder, wegen der Einheit von Zeit und Raum im Hafen von Alicante, ein Theaterstück (401). Er konstatiert sein formales Scheitern: «Quiso escribir una novela pura […] quiso reducir su crónica y que fuera una novela verdadera, pero no pudo» (Almendros 398), äußert aber zugleich die Hoffnung, dass seine Dokumentation der Ereignisse in Alicante in Zukunft vielleicht als Archiv des kollektiven Gedächtnisses fungieren könnte: «Ahora bien, lo que importa es que quede, aunque sea para uno solo en cada generación, lo que aconteció y lo sucedido en Alicante estos últimos días del mes de marzo 1939.» (400). Stoffliche wie formale Fragen der Darstellung und der Darstellbarkeit von Geschichte in fiktionaler Form bilden demnach den roten Faden der Blauen Seiten, deren graphische Hervorhebung ihren fiktionsbrechenden Charakter als metahistorigraphische Metalepse unterstreicht. Ansgar Nünnings Modell zur Analyse historischer Romane (Nünning 1995), das er zuletzt selbst weiterentwickelt und pointiert zusammengefasst hat (Nünning 2005), erlaubt es uns – anders als der in der Aub-Forschung vorherrschende 115
Bezug auf Lukács – insbesondere die postmodernen Variationen des historischen Erzählens in differenzierter Weise in die Analyse mit einzubeziehen. «Zur Überwindung der bislang in der Forschung vorherrschenden dichotomischen Gattungsklassifikation des historischen Romans» (Nünning 2005: 47) schlägt er eine «graduelle Skalierung» anhand eines umfangreichen Sets von Kategorien vor.24 Aus der Frage nach dem Verhältnis «zwischen der in einem Roman dargestellten Geschichte und dem Wissen der Historiographie» leitet er fünf Typen des historischen Romans ab und unterscheidet zwischen «dokumentarischen historischen Romanen, realistischen historischen Romanen, revisionistischen historischen Romanen, metahistorischen Romanen und metahistoriographischen Romanen» (Nünning 2005: 47). Dass das Magische Labyrinth an den beiden ersten Kategorien partizipiert, ist evident. Ebenso ist es ein «revisionistischer» Zyklus, insofern es sich funktionsgeschichtlich «mit vorherrschenden Formen historiographischer Sinnbildung» (53) auseinandersetzt: Denn implizit wie explizit sind lange Passagen, vor allem in Almendros, als Gegendiskurs zur franquistischen Geschichtsschreibung zu verstehen, die bis in die sechziger Jahre keinerlei Anstalten machte, auch der Perspektive der Verlierer des Bürgerkriegs gerecht zu werden. Wie wenig aussichtsreich dieses Unterfangen seinerzeit schien, macht die folgende Szene im Hafen von Alicante deutlich, in der ein republikanischer Soldat, in Friedenszeiten Lehrer, den verzweifelten Versuch unternimmt, seinem fünfjährigen Sohn die historische Tragweite dessen, was er gerade erlebt, verständlich zu machen. Das Fragment setzt wie viele andere in Almendros unvermittelt, mit der syntaktisch verknappten Angabe des Ortes, nach einer Leerzeile ein: En el puerto: «Estos que ves ahora deshechos, maltrechos, furiosos, aplanados, sin afeitar, sin lavar, cochinos, sucios, cansados, moriéndose, hechos un asco, destrozados, son, sin embargo, no lo olvides, hijo, no lo olvides nunca pase lo que pase, son lo mejor de España, los únicos que, de verdad, se han alzado, sin nada, con sus manos, contra el fascismo, contra los militares, contra los poderosos, por la sola justicia; cada uno a su modo, a su manera, como han podido, sin que les importara su comodidad, su familia, su dinero. […] No es hermoso. Pero es lo mejor del mundo. No lo olvides nunca, hijo, no lo olvides.» (Almendros 440)
Die Mutter des Jungen unterbricht die ebenso pathetische wie sinnlose Rede an das Kind, worauf der Vater selbst erkennt, dass er mit seiner mehr aufzählenden als argumentierenden Rede nicht das Gedächtnis der kommenden Generation erreichen kann. Sprach zuvor noch die Figur, ist es nun der Erzähler, der resümiert: Claudio Piqueras […] habla de verdad, quisiera que lo que le está diciendo a su hijo mayor se le quedara grabado indeleblemente en la memoria. Sabe que no es posible. Lo siente. (Almendros 440)
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Er nennt «die Selektionsstruktur, der dominante Zeitbezug, die Relationierung und Gestaltung der Ebenen und Formen der Geschichtsvermittlung sowie […] das jeweilige Verhältnis zum Wissen der Historiographie» (Nünning 2005: 47), die im weiteren Verlauf noch weiter ausdifferenziert und exemplifiziert werden.
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An anderer Stelle formulieren zwei Erzieherinnen die gleiche Erkenntnis, dass es nämlich die Kinder sein werden, die sich dem neuen System am schnellsten anpassen und folglich nicht Träger des historischen Gedächtnisses der republikanischen Verlierer sein können (vgl. Almendros 193f.). Wichtig aber ist festzuhalten, dass der Zyklus auch jenseits der «blauen Seiten» einen Metadiskurs etabliert. Zwar tritt die Darstellung der Geschichte nicht «zugunsten eines argumentativen Diskurses über die Bedingungen historischer Erkenntnis […] in den Hintergrund» (Nünning 2005: 48), insofern ist der Zyklus keineswegs durchgehend eine «metahistoriographische Fiktion». Wohl aber entsprechen Aubs Campos-Romane, insbesondere die späteren, den Merkmalen «des metahistorischen Romans» gemäß des Nünningschen Modells, jenen «selbstreflexiven Gattungsausprägungen, in denen Probleme der Historiographie durch literarische Techniken formal reflektiert werden» (48). Die Mehrzahl der textuellen Elemente, die für den metahistorischen Roman konstitutiv sind, scheinen sich im Magischen Labyrinth wiederzufinden, so etwa «[…] die Semantisierung von Räumen […], ein hohes Maß an Intertextualität […], die multiperspektivische Auffächerung des erzählten Geschehens […], ein hohes Maß an metafiktionalen und selbstreflexiven Elementen» (50). Bevor aber die Frage beantwortet werden kann, inwiefern die Campos-Romane metahistorische Romane sind, muss deren literarische Gestalt genauer betrachtet werden. Makrostruktur des Zyklus Einige der Strukturmerkmale der Campos-Romane sind in der Zusammenfassung der erzählten Geschichte bereits angeklungen. Schauen wir nun die zeitliche Gliederung genauer an. Ungeachtet der Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte der einzelnen Bände gibt es eine lockere Chronologie der historischen Ereignisse, an der entlang die Bände konstruiert sind. Das heißt jedoch nicht, dass die Serie streng chronologisch erzählt wäre, vielmehr gibt es einerseits zwischen den Bänden beträchtliche Lücken, andererseits innerhalb der Bände eine Vielzahl von Rückblenden. Und es ist auch nicht so, dass im Magischen Labyrinth alle historischen Wendepunkte und symbolischen Schlüsselmomente des Bürgerkriegs thematisiert wären, im Gegenteil: Der für die Historiographie der zweiten Republik so wichtige Bürgerkrieg im Bürgerkrieg, bei dem sich im Frühjahr 1937 in Barcelona anarchistische Milizen und die republikanische Berufsarmee bekämpften, werden ebensowenig beschrieben wie die Schlachten am Guadarrama (1937) und am Ebro (1939) oder die Zerstörung von Guernica. Ähnlich weitmaschig angelegt wie die zeitliche Abfolge ist die geographische Situierung der Handlung: Valencia, Barcelona, Madrid und Alicante sind die wichtigsten Schauplätze, an denen die meisten Szenen angesiedelt sind, daneben Teruel, Paris, die südfranzösischen Lager sowie einige Dörfer der Huerta von Valencia und der sierra madrileña. Diese raum-zeitliche Struktur übersetzt sich in eine Aufteilung der Handlung in Kapitel, die in der Mehrzahl der Bände entweder nur aus der Angabe des Datums (immer chronologisch) oder des Ortes 117
bestehen.25 Sehr unterschiedlich ist jedoch die weitere Unterteilung der Kapitel in durch Leerzeilen getrennte Erzählsegmente gestaltet. Mal fehlt eine solche Fragmentierung wie in der segunda parte von Campo de sangre, mal sind die Erzählsegmente nur einen Absatz lang, mal gehen sie über mehr als ein Dutzend Seiten; mal ändert sich die Erzählperspektive, mal nicht. Hinzu kommt, dass immer wieder von Segment zu Segment die Sprechweise und Textsorte wechselt (zwischen Dialog und Monolog, zwischen Brief und Tagebucheintrag, zwischen Vertrag und Protokoll, Gedicht und Theaterdialog etc.), und so gut wie immer ist dieser Textsortenwechsel nicht diegetisch eingebunden, d.h. nicht von einer der handelnden Figuren angekündigt.26 In der Summe ergibt sich der Befund, dass die Serie eine weit gefasste raum-zeitliche Rahmenkonstruktion mit einer sehr variantenreichen Erzählweise innerhalb der Kapitel kombiniert. Der Erzählrhythmus variiert je nach Länge der Erzählsegmente stark, ebenso die Frequenz im Wechsel der Erzählperspektiven, die mal über 70 Seiten auf eine Figur fokussiert bleibt wie in den vier Kapiteln über Don Leandro in Campo de sangre, oder aber auf zehn Seiten zwischen acht Figuren wechselt (Almendros, 437–447). In Verbindung mit den häufig zu Erzählungen in der Erzählung anwachsenden Analepsen ergibt sich trotz des klaren Rahmens ein chaotischer Lektüreeindruck, eine «sensación de estructura caótica» (Pérez Bowie 2001: 62).
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Cerrado ist gegliedert in drei Teile und ein letztes Kapitel Höhepunkt (Colmo); innerhalb der Kapitel sind die Abschnitte entweder nach den Orten der Handlung benannt (Barcelona, El Paralelo), oder im dritten Teil, der die letzten Stunden vor dem erwarteten Aufstand der Militärs und dessen Niederschlagung beschreibt, nach Tageszeiten (Vela y madrugada). Nur die beiden kurzen Abschitte des letzten Kapitels sind nicht nach Orten oder Zeiten benannt, sondern lakonisch mit Noche und Muerte betitelt. Abierto ist ebenfalls in drei partes gegliedert, die jeweils einen Ortszusatz tragen: Primera parte. Valencia, Segunda parte: Del otro lado, Tercera parte. Madrid; die einzelnen Kapitel der beiden ersten Teile sowie das erste des dritten Teils sind nach Figuren benannt, die des dritten Teils mit Datumsangaben (3. November bis 7. November). Sangre ist ebenfalls in drei partes gegliedert, fällt ansonsten aber aus dem klaren raumzeitlichen Gliederungsschema heraus, insofern Kapiteltitel mit relativen Zeitangaben (Las tres de la madrugada) neben absoluten stehen (19 de marzo 1938), solche mit Ortsangaben (Teruel. En la frontera) neben Personennamen sowie erstmalig beschreibenden Titeln (El bombardeo no admite mediocridad, Muerte de don Leandro). Moro ist in sieben, mit römischen Ziffern plus Datumsangaben vom 5 de marzo de 1939 bis zum 13 de marzo benannte Kapitel unterteilt. Almendros ist wiederum in drei partes gegliedert, der erste mit sieben, der zweite mit vier römisch nummerierten Unterkapiteln. Francés ist nicht in Teile oder Kapitel gegliedert, sondern entsprechend den Genrevorgaben in Sequenzen. Als eine der wenigen Ausnahmen von dieser harten Schnitttechnik wäre die Szene in Abierto zu nennen, in der Paulino Cuartero einen Geheimvertrag vorliest, in dem 1822, nach den napoleonischen Kriegen, die europäischen Großmächte ihre Interessen in Spanien verabredeten; das knapp dreiseitige Zitat des vollständigen Vertrages ist in die Szene eingebunden («Lo abrió en una página […] y leyó», Abierto 573), in der die Figuren darüber diskutieren, ob Frankreich in der Gegenwart wohl die Republik unterstützen wird oder nicht.
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Das hängt in erster Linie damit zusammen, dass die Serie auf eine Hauptfigur ebenso verzichtet wie auf einen explizit ordnenden oder gar allwissenden Erzähler. Vorherrschend ist die interne Fokalisierung, die sich streckenweise in inneren Monologen oder im stream of consciousness allein auf die Weltsicht eines Reflektors konzentriert.27 Zusätzlich wird die übergeordnete Erzählerstimme dadurch in den Hintergrund gerückt, dass immer wieder Figuren selbst über weite Strecken zu Erzählern ihres eigenen Lebens werden oder von der Vita anderer Personen berichten.28 Beim Wechsel zwischen den einzelnen Erzählsequenzen (manchmal auch beim Kapitelwechsel) kommt für den Leser erschwerend hinzu, dass häufig nicht explizit erwähnt wird, wer jetzt mit wem redet, wer gerade denkt, von wem dieser Brief oder jenes Dokument verfasst ist. So konstituiert sich die Handlung multiperspektivisch aus dem Blickwinkel einer Vielzahl von Haupt- und Nebendarstellern, von fiktiven Figuren (Vicente Dalmases, Asunción Melià, Paulino Cuartero, Julián Templado etc.) und fiktionalisierten historischen (Julián Besteiro, General Miaja etc.), aus deren Sicht und aus sich selbst heraus oder, was häufiger der Fall ist, in deren Dialogen. Zu der Multiperspektivik tritt der Eindruck ungeordneter Vielstimmigkeit, wenn beispielsweise im Verlauf der häufigen Diskussions-Szenen in Bars und Cafés Rede und Gegenrede nicht mehr eindeutig einzelnen Figuren zuzuordnen sind. Ein besonders pointiertes Beispiel für dieses Erzählverfahren findet sich im Kapitel 6 de noviembre, por la mañana in Campo abierto: Vicente kommt erschöpft von der Front zurück nach Madrid und schläft in dem Café La Granja del Henar ein. Über mehr als zehn Seiten hinweg überlagern sich nun die Stimmen der um ihn herum diskutierenden Caféhausgäste mit seinen eigenen Traumszenen (Abierto 504–521), die Satzfragmente und Wortfetzen sind in harten Schnitten nebeneinander gestellt. Das Magische Labyrinth ist demnach bei aller chronikalischen Grundstruktur auch ein polyphoner Zyklus, zum einen indem er die Wirklichkeit aus der Summe einer Vielzahl von Figurenstimmen konstruiert, zum anderen im Bachtinschen Sinne, insofern eine Vielzahl von Intertexten eingeblendet werden. Diese Intertexte rufen ein ganzes Set an Genres auf, die die Campos-Romane inkorporieren: das Filmdrehbuch (Francés), den fiktiven Brief, den dokumentarischen Brief,29 das Tagebuch,30 das Spitzelprotokoll, das Polizeiprotokoll, die politische Rede,31
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Etwa in dem Kapitel Nacimiento de una comedia, in dem Paulino Cuartero, von Schlaflosigkeit geplagt, ein neues Theaterstück konzipiert und imaginiert (Sangre 188ff.). Etwa in den Don Leandro-Kapiteln im zweiten Teil von Sangre, dem Jorge MustielesKapitel in Abierto, oder dem Schlusskapitel des Zyklus in Almendros, in dem die Witwe dem Erzähler entgegentritt und die Geschichte ihres Mannes und ihrer Tochter erzählt. In Abierto erinnert sich Vicente an Sätze eines Briefes von General Franco an Staatspräsident Casares Quiroga (Abierto 451). Etwa das Tagebuch (Cuaderno de Ferrís) des jugendlichen Dichters Paco Ferrís, das Templado nach dessen Ermordung auf dem Weg ins Gefangenenlager liest (Almendros 465ff.). In Moro (559ff.) findet sich die wörtliche Transkription der Rede, mit der Julián Besteiro den Aufstand in Madrid lostrat; das Original-Manuskript einer Abschrift dieser
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das Propagandaplakat,32 das Gedicht,33 die Tragödie,34 die Zarzuela,35 den politischen Vertrag,36 das politische Communiqué,37 die Agenturmeldung,38 den Heeresbericht.39 Diese Multiperspektivik, die Vielstimmigkeit und nicht zuletzt die Polyphonie sind dafür verantwortlich, dass sich der Zyklus ideologisch kaum vereinnahmen lässt. Weder privilegiert er eine kommunistische noch eine sozialistische Vision der Ereignisse, keine Stimme wird dominant, kein Diskurs überlagert durchgehend die anderen. Aus der Summe der Figurenstimmen und aus dem Dialog mit den eingeblendeten Intertexten lässt sich vor allem ablesen, dass keine der am Krieg beteiligten Fraktionen frei von Kritik bleibt,40 und auch auf der Figurenebene finden sich unter Anarchisten wie unter Falangisten positiv wie negativ konnotierte Reflektoren.41 Sicherlich sind die Hauptfiguren, allesamt
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Rede, die Aub zur Verfügung stand, findet sich im Max Aub Archiv (vgl. Fußnote 277 in Moro 559). Auf dem beschwerlichen Weg nach Alicante schläft Vicente in einer Volksküche ein, als er aufwacht, fällt sein Blick auf ein Plakat des Bildungsministeriums, dessen vollständig wiedergegebener Text für den Wert der Bildung für das Volk wirbt (Almendros 154). Eines der vielen Beispiele für die Einblendung von lyrischen Intertexten sind die Gedichtzeilen von Baudelaire (Les fleurs du mal) und Jorge Manrique (Coplas) in einer Diskussion zwischen Lledó und Salomar (Abierto 212f.). In Abierto (540ff.) werden mehrfach Dialoge aus Miguel de Cervantes’ El cerco de Numancia zitiert, das Vicentes und Asuncións Theatergruppe einstudiert. In Abierto (373f.) werden mehrfach Textzeilen aus der bekannten Zarzuela La verbena de la Paloma zitiert, deren Aufführung die Milizionäre mit Begeisterung besuchen. In Abierto (573f.) zitiert Cuartero den Text eines Geheimvertrags, mit dem die europäischen Mächte 1822 ihre Interessen hinsichtlich der künftigen Rolle Spaniens abgestimmt hatten. In Moro (645ff.) finden sich, einander gegenübergestellt, verschiedene Verlautbarungen der Parteien zu den Kämpfen in Madrid. Etwa jenes Motto in Moro, das eine Agenturmeldung wiedergibt, um den dokumentarischen Charakter jenes Artillerieangriffs auf den Friedhof zu belegen, mit dem der Roman endet. In Almendros (452) steht als Motto zur tercera parte der letzte Heeresbericht Francos vom 1.4.1939, mit dem er den Krieg für beendet erklärte. In Abierto (500) wird, mit minimalen Abweichungen, der Heeresbericht vom 6.11.1936 zitiert (vgl. González Pozuelo 1984). An anderer Stelle in diesem Kapitel wird auch die Darstellung der Arbeit des von Kommunisten kontrollierten Militärgeheimdienstes SIM in Moro Thema sein – die Aub erneut Gelegenheit gibt, seinen Reflektor Rivadavia gegen dessen menschenfeindliche Logik handeln zu lassen, indem er Freundschaft höher stellt als politische Loyalität. Da der Zyklus zumeist auf republikanischer Seite spielt und, gegen den einstimmigen Diskurs der franquistischen Geschichtsschreibung und den nicht weniger einstimmigen Rechtfertigungsdiskurs der parteinahen linken Publikationen im Exil eine vielstimmige Vision der Geschichte aus der Perspektive der Verlierer setzt, liegt es in der Natur der Sache, dass Falangisten nur selten oder am Rande auftauchen. Um so auffälliger ist der Befund, dass in Cerrado der führende Falangist Luis Salomar so differenziert und – vor allem über seine literarischen Vorlieben – positiv gezeichnet ist (über Luis Salomar vgl. Anm. 12).
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Intellektuelle aus der Mittelschicht (mit Ausnahme des Bauernjungen Rafael Serrador), den demokratischen Kräften zuzuordnen, die die Republik zu Unrecht von den Nationalen angegriffen sehen, doch jenseits dieses Minimalkonsenses lässt sich aus dem Magischen Labyrinth keine fest umrissene politische Position, keine Intention oder Botschaft ableiten. Dazu ist die Erzählweise zu offen, sind die Figuren in ihrem Handeln zu widersprüchlich. Gerade weil die diversen politischen Gruppen innerhalb des republikanischen Lagers so zu Wort kommen, dass auch Sozialisten oder Kommunisten als moralisch verwerflich oder politisch falsch handelnd wahrgenommen werden können, Aub wurde von den entsprechenden Exilantenkreisen heftig kritisiert. Im Tagebuch notiert er: Conversación con Reajano acerca de Campo abierto que ha leído […] hasta la mitad. Me reprocha haber descrito escenas que políticamente –según él– nos pueden perjudicar (Jorge Mustieles condenando a su padre, la ejecución del Uruguayo). Callo. ¿Para qué discutir? Sé lo que contestaría si le dijese que de su posición, políticamente tal vez justa, se deprende la mediocridad de la literatura soviética al impedir de las cosas no se juzguen más que desde un plano. (Diarios 203)
Beurteilungen «desde un plano», also der Verzicht auf Multiperspektivik und Relativierung der jeweiligen Einzelaussage durch Einbindung derselben in die Vielstimmigkeit des Erzählens – das erklärt Aubs Ansicht nach die «mediocridad» des sozialistischen Realismus. Die Art und Weise, in der bei ihm die stark zurückgenommene Erzählerstimme im Verbund mit den anderen genannten Konstruktionsmerkmalen funktioniert, muss als Ausdruck der Aubschen Überzeugung gelesen werden, dass erstens die Wirklichkeit nicht von einem privilegierten Standpunkt aus betrachtet, erfasst und bewertet werden kann. Diese Grundüberzeugung stand bereits im Mittelpunkt der ästhetischen Reflexion in Jusep Torres Campalans, erschienen 1958, also genau zwischen Campo abierto (1951) und Campo del moro (1963), wo der Herausgeber ‹Aub› sich ebenso wie der Maler gleichlautend dagegen verwehrten, die Wirklichkeit «desde un solo punto de vista» zu zeigen, sondern stattdessen «desde distintos puntos de vista», am besten «simultáneamente desde varios ángulos» (Campalans 16, 204). Und dass zweitens nicht die Darstellung der einen Wahrheit das Ziel von Literatur ist, sondern die des Zweifels. Im gleichen Tagebucheintrag vom 19.2.1952 reagiert Aub auf die Vorhaltungen, er habe in Campo abierto einige Figuren der republikanischen Seite zu negativ beschrieben, mit der Entgegnung, allein der Zweifel, nicht die Gewissheit stehe am Anfang aller Literatur: ¡Fuera todo claroscuro! ¡Todo a la mayor gloria de la victoria y que se chinche la literatura! Lo comprendo en ellos, comunistas, que están seguros de la victoria, del nacer de un hombre nuevo. Pero los que dudamos… Al fin y al cabo la literatura – por lo menos la novela – es hija de la duda. La fe da otros cantos. (Diarios 203)
Nicht nur metatextuell wie in diesem Tagebucheintrag, auch intradiegetisch werden solche Fragen der Möglichkeiten und Grenzen des Erzählens thematisiert. Etwa in fiktionsironischen Erzählerkommentaren (vgl. das letzte Kapitel von Cerrado), in jenen langen Einschüben, die auf den Páginas azules von Almendros den Erzählprozess selbst thematisieren, oder wenn die Figuren das Verhält121
nis zwischen dem Einzelnen und der Gruppe (also zwischen dem Teil und dem Ganzen, dem Fragment und dem Werk) diskutieren. Cuartero wirft Templado im zweiten Band vor, über den privaten Eigennutz das politische Ganze aus den Augen zu verlieren, und schimpft, sein Gegenüber sehe vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Templado antwortet: «Desde que hay aeroplanos esta imagen es falsa. Se ven árboles y bosque al mismo tiempo.» (Abierto 565) An dieser Stelle wird aus der konkreten (politischen) Diskussion auch eine allgemeine (poetologische), insofern sie vom Verhältnis zwischen Totalität und Fragment spricht. In diesem Bild ist die Erzählbewegung im Magischen Labyrinth benannt, die mal dem Baum (die einzelne Figur aus sich selbst), mal dem Wald (die Vielzahl der Stimmen) ihre Aufmerksamkeit schenkt. Wobei Templados Hinweis, mit der Erfindung des Flugzeugs habe sich die Sichtweise auf die Welt verändert, intratextuell auf eine der ästhetischen Prägungen Jusep Torres Campalans’ anspielt: Der Maler sei, wie es in einem der als Quelle zitierten fiktiven Artikel über sein Frühwerk heißt, vom «desarrollo de la aviación» sehr beeindruckt gewesen, weil sie eine «nueva perspectiva» und damit die Erfindung des Kubismus ermöglicht habe (Campalans 86f.). Auch diese Art des autoreflexiven Erzählens im Laberinto mágico führt zu dem ganz unmittelbaren Effekt, dass eine identifikatorische Lektüre des Textes erschwert ist. In die gleiche Richtung weist ein weiteres Spezifikum, nämlich die Durchbrechung der Lesererwartung durch das gewaltsame Kappen von Lebenslinien, wie wir es beispielsweise am Ende von Cerrado und zu Beginn von Abierto gesehen haben. Immer wieder werden Figuren eingeführt, denen der Text ausführlich durch viele biographische Verästelungen folgt, bis der Leser sich an sie gewöhnt, sich auf sie eingestellt hat und nunmehr gespannt ist, was in dem jeweiligen Buch weiter mit ihnen geschehen mag. Der Leser, dessen Erwartungshorizont durch dokumentarisch-realistisches historisches Erzählen geprägt ist, muss annehmen, dass mit wachsender Zahl der einer Figur geschenkten Buchseiten die Chance ihres Weiterlebens steigt. Genau an diesem Punkt, wenn die Erwartung auf das Weiter- und Überleben der Figur gefestigt ist, geschieht es im Laberinto mágico häufig, dass sie in einem knappen Satz dem Tod überantwortet wird. So im Fall von Rafael Serrador, der am Ende von Cerrado unvermittelt an Typhus stirbt, oder von Gabriel Rojas, den am Ende des ersten Kapitels von Abierto die Kugel eines Heckenschützen trifft. Man darf annehmen, dass sich in diesem rekurrenten Erzählverfahren ein «ÜberLebenswissen» (Ette 2004) konkretisiert, ein leitmotivisch verdichtetes Erfahrungswissen aus Kriegszeiten. Im Prozess der Lektüre wird der Leser durch diese Art des narrativen Hyperrealismus derselben Erfahrung ausgesetzt, die ein Zeitzeuge eines Bürgerkriegs ebenso gemacht haben dürfte: Bisher sicher geglaubte Bezugssysteme sind nicht mehr verlässlich, der Tod in der Etappe folgt ebenso wenig einer militärischen Logik wie die Narration der erwartbaren Erzählökonomie gehorcht. Das forcierte abrupt abbrechende Erzählen ist als Äquivalent zum unvorhersehbar eintretenden gewaltsamen Tod im Krieg konstruiert, dem Eindruck der erzählerischen Aletatorik entspricht die Empfindung lebensweltlicher Willkür. Der Krieg, der an dieser Stelle nicht zufällig wie ein 122
schicksalsmächtiger Gott zu personifizieren ist, nimmt dem Zeitzeugen wie dem Leser – so die Wahrnehmung beider – bevorzugt diejenigen, die einem am nächsten stehen. So ist der Krieg, scheinen diese unvermittelten Schicksalsschläge der histoire des Magischen Labyrinths sagen zu wollen, eben noch war dort dein bester Freund, deine Geliebte, dein Vater, nun sind sie tot.42 Dieses bis zuletzt für den Leser nicht auszurechnende und ihn immer wieder herausfordernde Erzählmuster vom Sterben im Bürgerkrieg macht das Magische Labyrinth zu einem «interaktiven Speicher von ÜberLebenswissen» (Ette 2004) und damit zu einem Zyklus, der über eine schlichte Chronik oder Dokumentation des spanischen Bürgerkriegs hinausgeht. Die Erzählweise des Magischen Labyrinths ist multiperspektivisch, polyphon, autoreflexiv und hyperrealistisch. Dementsprechend wurde der Stil des Zyklus mit den Begriffen wie «ambivalence» und «fragmentary» (Ugarte 1985a: 734) belegt, man hat ihn als «ein ziemlich unebenes Werk» von «radikaler Modernität» (Ingendaay 2003) beschrieben, als «chaotisch zerfasert» (Buschmann 2007) und als «derroche de riqueza creadora, un tanto dispersa» (Marra-López 1963: 192). Diese Elemente der Makrostruktur werden von der großen Mehrheit der Kritik positiv beurteilt, weil sie den Zyklus entsprechend den Wertmaßstäben der Nachmoderne zu einem offenen Kunstwerk machen, das «sich von den mühelos erzielbaren Oberflächeneffekten des Themas nicht verlocken läßt» (Ingendaay 2003: 24). Die Sprache(n) Mehrheitlich hebt die Kritik die sprachlichen Qualitäten der Bücher Max Aubs positiv hervor,43 doch finden sich auch negative Einordnungen. Gerade die abwertenden Anmerkungen in der Forschung heben auf Punkte ab, die nach unserem Verständnis seines Werkes als innovativ und produktiv gelten. Gemeint ist vor allem die grundsätzliche Infragestellung der sprachlichen Kompetenz des Autors, die damit beginnt, dass die besonders bildreiche Sprache von Campo cerrado, jene «creatividad marcadamente neo-conceptista», «esa tendencia vanguardista de renovarse o morir» (Soldevila 2001: 40, 45), als Beleg für die Belastung («el peso») des Autors herangezogen wird, vielleicht nicht über genug spanisches Vokabular zu verfügen. Gewissermaßen kompensatorisch habe dieses
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Paul Ingendaay hat dieses spezifisch Aubsche Kompositionsmerkmal als «Mischung aus Totalität und Unberechenbarkeit» bezeichnet: «Ich kenne kein anderes Werk dieser Dimension, das so viel fordert und so wenig zu beabsichtigen scheint; das den Leser auf vergleichbare Weise am Kragen packt und dann wieder orientierungslos stehenläßt; ihn an einer Stelle umwirbt, um ihm an anderer einen Klaps auf die Nase zu geben.» (Ingendaay 2003: 19) Exemplarisch: «Lo que distingue el ciclo de Max Aub [de otros libros sobre la guerra civil] […] es precisamente la calidad de su escritura.» (Rodríguez Monegal 1967: 20) Eine Analyse seiner Stilmittel am Beispiel von Sangre gibt Llorens Marzo (2002: 17– 21).
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Gefühl sprachlicher Minderkompetenz zu einem übertriebenen «despliegue de [sus] vastos conocimientos de la lengua literaria clásica y de su vocabulario» geführt (Soldevila 1999a: 143, 108). Diese Infragestellung des Autors als NichtMuttersprachler führt in letzter Konsequenz zu der Behauptung, er habe gar nicht richtig Spanisch gekonnt, wie der in Kapitel I zitierte Francisco Umbral formulierte (vgl. Aznar 1995: 55f.). In dieselbe Richtung zielt die Kritik von Santiago Fernández, der über Campo cerrado schreibt: El prinicpal defecto [del libro ...] es el rebuscado y abusivo uso que Max Aub hace de la lengua. No es que emplee vocablos en desuso, sino que utiliza vocablos que jamás se han usado. El lector precavido no deberá ceder la tentación de buscarlos en el diccionario [...]. (Santiago Fernández 2002: o.S.)
In der Tat finden sich gerade in den Landschaftsbeschreibungen der ersten drei Bände zahlreiche Vokabeln, die in keinem Standardlexikon verzeichnet sind.44 Die meisten Deiktika sind jedoch in regionalsprachlichen Nachschlagewerken zu finden. Abgesehen davon ist es bezeichnend und passt zu der von Umbral aufgemachten xenophoben Abqualifizierung, dass Neologismen, die für als Spanier wahrgenommene Klassiker wie Quevedo oder Góngora akzeptabel sind, einem offenbar nicht ganz so spanischen Spanier wie Aub nicht in gleicher Weise zugestanden werden. Bei José Marra-López überlappen sich die Kritik an der Konstruktion («Anhäufung von Abschweifungen und Figuren») und die am Stil («undurchdringlich und barock aus Mangel an Selbstkontrolle»). Das Laberinto mágico sei […] una atractiva película de época […] quizá excesiva ante el torrente de vidas dispares que Aub presenta, vuelto hacia el pasado en un derroche de riqueza creadora, un tanto dispersa por acumulación de peripecias y personajes. Una técnica […] que hay que seguir considerando en exceso frondosa y barroca, al faltar de contención. (MarraLópez 1963: 192)
Und Emir Rodríguez Monegal, der den Stil des Zyklus gerade unter Hinweis auf seine Reminiszenzen an die historischen Avantgarden hoch schätzt, moniert, dass die in den ersten Bänden häufig auftauchenden konzeptistischen Sprachspiele dem Gegenstand – Gewalt und Elend des Bürgerkriegs – nicht angemessen seien. Aubs Neigung «a jugar con las palabras, su amor del arabesco» gehe so weit, dass sein unwiderstehlicher Drang zum «jugeteo verbal» die «naturaleza trágica de un determinado episodio» zerstöre (Rodríguez Monegal 1967: 21). In dieser Sprachkritik überlagern sich mehrere Aspekte. Negativ vermerkt werden zum einen Stilbrüche zwischen geschriebenem und gesprochenem Spanisch, zwischen hohem und niedrigem Register, zum anderen die Dominanz von reihenden gegenüber hierarchisierenden Konstruktions- und Stilelementen (viele Nebenfiguren statt klare Hauptfigur, akkumulierende statt synthetisierende Be-
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Aus der großen lexikalischen Bandbreite der Sprache von Cerrado ergeben sich, mehr noch als bei den späteren Bänden, besondere Schwierigkeiten bei der adäquaten Übersetzung (vgl. Gerhold 2003, Hörner 2003).
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schreibungstechniken). Im Kern all der kritischen Anmerkungen steht der Vorwurf, das aptum zwischen res und verba nicht beachtet zu haben. Ungenannt bleibt, wie der Stil denn aussehen soll, der der Darstellung des Bürgerkriegs angemessen ist, welchen literarischen Median Aub verfehlt haben soll. Nun ist die Betrachtung der sprachlichen Feinstrukturen im Fall des Werkes von Max Aub eine besonders komplexe Angelegenheit, weil deren sprachliche Konkretisierung von Beginn an mit seinem transkulturellen Lebensweg zusammenhängt – was auch Ignacio Soldevila (2001: 44f.) herausstellt – und sich im weiteren Verlauf seines Lebens durch Exil und Trennung vom iberischen Sprach- und Kulturraum noch schwieriger gestaltete. Die in der Regel selbstverständlich angenommene Identität von Muttersprache und Idiom des literarischen Ausdrucks ist in seinem Fall nicht gegeben, da er in Paris mit Französisch und Deutsch als Muttersprache aufwuchs, mit elf Jahren erstmals spanischen Boden betrat und im Folgenden nie in einer anderen Sprache schrieb als der spanischen (vgl. Buschmann 2003b, 2003d). Von dieser bewusst erlernten Schriftsprache, vor allem aber von seiner dem beruflichen Alltag als Handelsvertreter abgehörten gesprochenen Sprache mit all ihren regionalen Nuancen, die ihm als Theaterautor so wichtig war, war er ab 1939 getrennt. Anders als die meisten Autoren des republikanischen Exils agierte Aub auch in deren Zirkeln als (sprachliche) Randfigur, da ihm bis ins hohe Alter sein französischer Zungenschlag anzuhören war (vgl. Siebenmann 2007). Allein damit lässt sich Soldevilas Argumentation, die lexikalischen «Exzesse» hingen mit einer anfangs starken, später nachlassenden Devianz von Aubs Spanisch zusammen, entkräften. Denn Audiodokumente aus den sechziger Jahren bestätigen die Selbsteinschätzung Aubs, bis ins hohe Alter durch seine «lengua» (seine Zunge, seine Sprache) körperlich stigmatisiert gewesen zu sein (vgl. Diarios 477).45 An dieser Stelle ist es wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass Aub die spanische Sprache nie als natürliche, als angeborene und selbstverständlich zur Verfügung stehende Sprache begriffen und benutzt hat, sondern eingedenk seines spezifisch transkulturellen Lebensweges immer als Material seines literarischen Ausdrucks. Max Aubs besondere Sensibilität für die Materialität46 der Sprache speist sich aus zwei Quellen: Einerseits rührt sie daher, dass er kein Muttersprachler war und das Spanische folglich für ihn in besonderer Weise ein zu formendes Objekt; andererseits ist da, wie im Kapitel II erläutert, sein von Theorie und Praxis der avantgardistischen Anfänge geprägtes Sprachbewusstsein. Im Magischen Labyrinth bestimmt folglich oft weniger das Signifié als das Signifiant den Fortgang des Textes, etwa wenn der Text sich den von Klangfiguren bestimmten Wortkaskaden überlässt. Bereits zitiert wurde der erste Absatz der ersten Seite
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Auf diese sprachliche Markierung, verstanden als ein Aspekt seines Ausschlusses, wird im fünften Kapitel Ausgeschlossen Schreiben zurückzukommen sein. José Antonio Pérez Bowie (2001: 71) spricht in Anlehnung an Stierle von der Sichtbarkeit der Sprache («visibilidad del lenguaje»), mit der sich der Zyklus von traditionell konstruierten historischen Romanen unterscheide, in denen die Unsichtbarkeit der Sprache das Ziel sei.
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von Campo cerrado mit seinen zahlreichen Alliterationen: «De pronto se apagan las luces: las diez, la luna luce su presencia en las paredes jaharradas: el jalbegue se parte, mitad blanco, mitad gris […]» (Cerrado 85) Mehr noch als bei Landschaftsbeschreibungen macht sich dieses Stilmerkmal bei der Einführung neuer Figuren bemerkbar, die bevorzugt in langen Aufzählungen ohne Verb präsentiert und mit einer Vielzahl von rhythmisierend gesetzten qualifizierenden Adjektiven belegt werden, was solche Abschnitte wie Prosagedichte wirken lässt: Sancho es hombre rehecho, recoquín y aragonés. La cara redonda, de buen color, las cejas abundantes, los ojos pequeños, la nariz pequeña, la boca pequeña, todo metido en media pulgada a la redonda, enrodado de grasa: mofletes y triple papada. La barbilla redonda y partida. El genio corto, la educación mala; siempre serio, por nada se sulfura y sale disparado. Quisquilloso, pero todo lo vence, con cierto desparpajo, su hombría de bien. […] (Sangre 128)
Personenbeschreibungen dieser Art, die sich wegen der schieren Menge an Figuren – Javier Lluch Prats (2010: 126–414) listet in seiner Galería de personajes de El Laberinto mágico knapp 1500 auf – zu Dutzenden finden, sind erst in zweiter Linie realistisch-referenziell. Vielmehr lenken sie durch ihre semantische Überdeterminiertheit die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Sprache selbst. Mit direktem intertextuellen Bezug zu dem von Aub hoch geschätzten Barockdichter Quevedo47 steigert sich dieses Beschreibungsprinzip bei der Einführung von López Mardones, der Figur des prototypischen Verräters: Picaño, pequeño, cacoquimio. Fofo, astuto, bocón. Malsín, patrañero, soplón, fanfarrón, entrometido, espía. Siempre al apaño y amigo del dolo. Traslúcido, con el pelo brillante de mil brillantinas y la cara de polvos y masajes, amo de los limpiabotas. […] (Sangre 122)
Auch wenn man nicht so weit gehen muss wie Michael Ugarte, der aus dieser Beschreibung den Schluss zieht, dass die Sprache die Figur verfremde («The language […] renders him unfamiliar», Ugarte 1985a: 737), so ist ihm doch zuzustimmen, wenn er Aubs «language of excess» als Ausdruck einer spielerischen Qualität sieht, mit der die Dokumentationsfunktion des Zyklus aufgebrochen und der Glaube an eine eindimensional wahrnehmbare Wirklichkeit lachend unterlaufen wird: «The verbal excess of Aub’s writing leads to a ludic quality wich uncovers a tension between Aub, the popular realist […] and Aub, the debunker […].» (Ugarte 1985a: 737)
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In der Zeit seiner Inhaftierung hatte Aub außer einem Wörterbuch nur eine QuevedoAusgabe als Lektüre zur Verfügung (vgl. Soldevila 2001: 45). Das schlägt sich etwa in der Sprache von Sangre nieder, was man an den Anmerkungen in der kritischen Ausgabe erkennen kann (vgl. Llorens Marzo 2002: 19, 2003b). Wie deutlich die hier zitierte Passage aus dem alltäglichen Sprachgebrauch heraussticht, lässt sich bereits daran ablesen, dass in der kritischen Ausgabe zahlreiche Begriffe mit lexikalischen Anmerkungen für heutige Leser versehen werden mussten.
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Ebenfalls einer humoristischen Pragmatik folgen die von Teilen der Kritik monierten Elemente des konzeptistischen, des beziehungsreich zugespitzten Stils in barocker Tradition.48 Vor allem die Dialoge sind der Ort, an der barock inspirierter Sprachwitz sich immer wieder Bahn bricht. Einige Beispiele: In Moro steht der Spiritist Manuel Beltrán vor einem republikanischen Gericht, ihm droht die Hinrichtung. Einer der Beisitzer hält ihn, der ständig von «Seele» und «Gott» schwadroniert, absurderweise allein schon deshalb für verdächtig, weil er eine Glatze hat. Die Beratung der Richtenden über die Frage, ob eine Glatze ein Verdachtsmoment sein kann oder nicht, wird mit folgendem Hinweis beendet: «Lo que yo creo es que este tío nos está tomando el pelo que no tiene.» (Moro 445) 49 An anderer Stelle steht derselbe Don Manuel in einer Schlange, an der rationierte Kohle ausgegeben werden soll. Mit einem Mann, nicht zufällig als Schriftsetzer apostrophiert, beginnt er folgenden Dialog: – Cree que darán algo hoy? – Leche. El Espiritista, que no alcanza los valores reales del idioma, asegura: – Esta es la cola del carbón. – Y están mal ordenadas las letras y sobra el singular – contesta el formador. (Moro 626)
Miteinander verschränkt sind an dieser Stelle die Doppelbedeutung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache («leche» bedeutet «Milch», wird aber auch als Interjektion im Sinne von «das glaubst du doch selbst nicht» benutzt) und das Spiel mit dem Anagramm «carbón/cabrón» (Kohle/Idiot), auf das der Setzer mit seiner zweiten Replik explizit hinweist.50 «Están mal ordenadas las letras y sobra el singular», resümiert und kommentiert der Setzer, der von Berufs wegen mit der Beweglichkeit der Lettern arbeitet, den sprachspielenden Dialog im obigen Zitat. Doch nicht nur im Kontext von Dialogen finden sich explizite Hinweise auf die Materialität der Sprache, immer wieder reflektieren die Figuren selbst über Sprache,51 über die in Spanien für
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Javier Quiñones (2003) analysiert Aub eingehend als «escritor conceptista» und ergänzt seinen Essay um 120 Seiten mit Beispielen konzeptistischen Schreibens aus dem Gesamtwerk. Die Wendung «tomar el pelo» bedeutet wörtlich «das Haar wegnehmen», meint aber auch «veräppeln, für dumm verkaufen». Diese Art konzeptistischen Sprachgebrauchs findet sich gehäuft in den ersten drei Bänden, weniger in den späteren. In der unveröffentlichten Korrespondenz findet sich ein Brief, in dem Aub diesen Stilwandel kommentiert: «En cuanto al estilo, evidentemente hay una influencia de los conceptistas (Quevedo y Gracián en primer término) pero esa influencia se va diluyendo poco a poco para ir en busca de una mayor claridad […].» (zit. nach Caudet 2000: 15) In Abierto fällt Jorge Mustieles auf, dass ein aus Barcelona angereister Revolutionär bevorzugt unbestimmte Pronomen und Abstrakta benutzt, eine sprachliche Marotte, die der
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die Regionalidentität so wichtigen Dialekte (die heute zum Teil den Status von Amtssprachen erlangt haben) ebenso wie über die physische Kennzeichnung des Individuums durch die Sprache: In Sangre sinniert Templado über die lexikalischen Spezifika des Kastilischen (Sangre 147) und diskutiert mit Cuartero und Sancho während ihres Silvesteressens darüber, inwieweit die Sprache – konkret geht es um Exklamationen und Schimpfwörter – tatsächlich zum Ausdruck von Gefühlen funktioniert (vgl. Ugarte 1985a: 736). In Moro wird Lolas Vater, der wirre Spiritist Manuel Beltrán, wegen seines «pronunciado acento francés» (Moro 445) verdächtigt, ein Feind der Republik zu sein und entgeht nur knapp dem Erschießungskommando. In Francés schließlich traut sich Jules kaum noch in der Öffentlichkeit zu reden, aus Scham und aus Angst, als Ausländer erkannt zu werden: «Cada día hablo menos. Por el acento. Me avergüenzo…» (Francés 46) Die Frage, inwieweit Oralität in einem geschriebenen Text, in einem verschriftlichten Dialog wiedergegeben werden kann, hatte Aub in seinem Vorwort zum ersten Band der Serie behandelt.52 Vor dem Hintergrund der Stilkonventionen der spanischen Literaturgeschichte, die unter anderem geprägt seien durch den Einfluss der Kirche und das seit dem 18. Jahrhundert aus Frankreich stammende Königshaus, stellt er sich dem «kleinen Problem» («problemilla»), ob er für seine Campos-Romane die im alltäglichen Gespräch so wichtigen «palabrotas, ajos, tacos, groserías, juramentos o interjecciones soeces» (Aub 2001b: 81) gebrauchen dürfe oder nicht. Weil ihm die so zu vermittelnde «autenticidad» wichtig sei, optiert er dafür, diese Worte auszuschreiben, anstatt sie etwa durch Auslassungspunkte zu ersetzen. Bezeichnenderweise ist schon dieses Vorwort autoreflexiv gebrochen. Aubs erster Argumentationsfaden endet mit drei Punkten, und er fährt fort: «¿Ven Udes. cómo no puede ser? Las frases se quedan cojas, pendientes de hilos de alambre rotos por un bombardeo, descarrilladas, muertas sin aire.» (82) Die Sprache wird anthropomorphisiert («die Sätze hinken»), in einem zweiten Schritt werden Sätze mit baumelnden Kabeln verglichen, wie sie nach einem Bombenangriff in den halb eingestürzten Häusern zu sehen sind.53 So wird der Peritext «Vorwort» metatextuell gebrochen und überlagert sich mit der Gegenstandsebene des Textes selbst.54 *
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unbestimmten Lage auf der Straße aber eigentümlich angemessen sei (vgl. Abierto 356). Er schrieb dieses Vorwort, in dem noch von vier geplanten Romanen die Rede ist, im Jahr 1939, übernahm es unverändert in die Erstausgabe von Cerrado (1943) und eliminierte es aus allen späteren Ausgaben (vgl. Ugarte 1985a: 736). Gerade dieses Bild taucht im Magischen Labyrinth mehrfach auf, und zwar immer in Verbindung mit der Picassoschen Glühbirne, die emblematisch in der Szenerie eines ausgebombten Hauses baumelt. Diese Art der Überblendung von Diegese und sprachlicher Materialität findet sich auch in den ersten Zeilen von Italo Calvinos Se una notte un viaggiatore (Turin 1979): «Il romanzo comincia in una stazione ferroviaria, sbuffa una locomotiva, uno sfiatare di stantufo copre l’apertura del primo capoverso. […] Sono le pagine del libro a essere appannate come i vetri d’un vecchio treno, è sulle frasi que si posa la nuvola di fumo.» (11)
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Zusammenfassend kann man für die sprachliche Mikrostruktur festhalten, dass das auf den ersten Blick ungeordnet wirkende Nebeneinander von sprachlichen Registern und Stilebenen, von mündlicher und schriftlicher Sprache eine analoge Wirkung zeigt wie die «Unebenheit» der Konstruktion. Immer wieder wird der Leser auf sich selbst zurückgeworfen, wird ihm eine identfikatorische Lektüre erschwert, wird er auf die sprachliche Verfasstheit des Textes selbst gestoßen. Daneben haben die Kraftausdrücke, Schimpfworte, anzüglichen Wortspiele, von Aub als «indispensables para la expresión de nuestro tiempo» (Aub 2001b: 82) bezeichnet, eine doppelte referenzielle Funktion. Einerseits geben sie dem Text eine glaubwürdige zeitliche Färbung, andererseits korrelieren diese sprachlichen Merkmale in ihrer Disparität – mal Quevedo emulierend, mal vulgär Alltagssprache wiedergebend – mit der aus den Fugen geratenen Welt des Bürgerkriegs. Auf diese Weise wird die «Differenz zwischen faktischem Geschehen und erzählter Geschichte, den res gestae und der historia rerum gestarum» hervorgehoben (Nünning 2005: 45), nach Nünning ein typisches Merkmal für historiographische Metafiktion, und gerade in dieser Differenz sowie in der Diskontinuität der verwendeten sprachlichen Mittel dürfte das aptum für einen Zyklus über den Bürgerkrieg liegen. Aber Wortwitz, Sprachspiel und Konzeptismen haben noch eine weitere Funktion. Sie bilden ein Gegengewicht zum oftmals brutalen Geschehen und machen die Gespräche der Figuren über diese Themen für sie selbst wie für die Leser erträglicher. Nie blüht der Witz wie im Krieg, es scheint geradezu eine anthropologische Konstante zu sein, dass der Mensch die Gefahr für das eigene Leben, die im Krieg täglich präsent ist und nicht verdrängt werden kann, mit einer humoristischen Haltung besser erträgt. Kurz vor dem drohenden Einmarsch Francos diskutieren Cuartero und Riquelme über die Rolle des Zufalls für ihr weiteres Schicksal, der eine spricht von «líneas generales», worauf der andere ihm ins Wort fällt, «no te fíes ni de las líneas, ni de los generales» (Abierto 606). Dieses Stilelement dürfte also zum einen mimetisch begründet sein, zum anderen macht es dem Leser die Erzählung von Lebenserfahrungen, die, heute mehr noch als zur Zeit der Entstehung des Zyklus, jenseits seines Horizonts liegen, überhaupt erst erträglich.55
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Dies gilt in besonderem Maße für Texte wie Manuscrito cuervo, in dem die Welt der Konzentrationslager beschrieben und belacht wird. Dieser Text zählt ebenfalls zum Zyklus, wird aber im Zusammenhang mit Max Aubs Lager- und Exilliteratur behandelt [ĺ Kap. V].
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Die Frage nach dem Mythos Mythogenese von innen: Don Leandro und der Stier von Tartessos Für die spanische Geschichte und das spanische kollektive Gedächtnis ist es weniger der Zweite Weltkrieg, der den großen Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts bedeutet, sondern der Bürgerkrieg mit seinen von Spaniern an Spaniern verübten Grausamkeiten. Dies muss man sich, aus deutscher Perspektive schreibend, immer wieder bewusst halten. Um das in seiner Weise unglaubliche Phänomen spanischer Bürgerkrieg in einen weiteren kulturgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen und so besser verstehen zu können, wird auch im Zyklus selbst eine historisch weiter zurückgehende Annäherung an die Problematik «innergesellschaftlicher Gewaltkonflikte»56 versucht. Dies geschieht ziemlich genau in der Mitte der gut 2000 Seiten des Romanzyklus, und die Rückschau erfolgt im Modus des Deliriums. In Campo de sangre tritt ein alter Archivar namens Leandro auf, der schwer verletzt über Spaniens Geschichte nachdenkt und nach siebzig Seiten Agonie stirbt. Siebzig Seiten für das Sterben eines einzigen alten Mannes in einem Romanzyklus über einen Bürgerkrieg, der über 350.000 Tote hinterließ – das ist ebenso auffällig wie aufschlussreich. Don Leandro, der Archivar, ist schon von Berufs wegen damit beschäftigt, historische Quellen zu sichern, sie seinen Zeitgenossen zur Verfügung zu stellen und aufzuschlüsseln. Dokumente sind sein alleiniger Lebensinhalt, darum sucht er, als von Dezember 1937 bis Ende Februar 1938 die Stadt Teruel zum Schlachtfeld wird, in den als sicher geltenden Katakomben des Rathauses Schutz, ganz nah bei seinen Papieren. Die Kämpfe werden nicht beschrieben, sie kommen im Roman allein in den Gesprächen der Figuren über sie vor sowie vermittelt über Don Leandros Bericht. Inmitten der grande histoire des Kriegs stürzt seine kleine Welt, sein Bibliothekskeller unter dem Dauerbeschuss der Franquisten ein, der für sicher gehaltene Raum der archivarischen Quellen erweist sich als Falle. Don Leandro selbst wird verschüttet, gerettet, bekommt ein Bein amputiert und wird in einem Sanitätskonvoi abtransportiert. Weil er sich an die geschriebenen Quellen klammerte, wird er tödlich verletzt, denn die Fahrt Richtung Küste überlebt er nicht. Im Fieberwahn seines Todeskampfes wendet sich der Archivar nun von der chronologischen Logik seiner Quellen ab und der zeitlosen Ordnung des Mythos zu. Aus dem Historiker wird ein Mythomane, der über nichts anderes redet als über Spanien und den Stier. Don Leandro ist eine der vielen Figuren des Magischen Labyrinths, die über den Bürgerkrieg und seine Ursprünge nachdenken. Aber keiner geht so weit zurück wie er, der am Höhepunkt des äußeren Geschehens – wir befinden uns inmitten der kriegsentscheidenden Schlacht und im Mittelpunkt des gesamten Magischen Labyrinths – in einem langen Ritardando die Wurzeln des iberischen Wesens
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Zum Begriff des «innergesellschaftlichen Gewaltkonflikts» sowie zur Auffächerung dieses Forschungsfelds der Literatur- und Kulturwissenschaft vgl. den programmatischen Aufsatz von Bandau/Buschmann/v. Treskow (2008b).
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ausbreitet: Da der Spanier der Kultur von Tartessos entstamme, einer Kultur des Stieres, und enge Blutsbande mit seinen islamischen Eroberern eingegangen sei, müsse ihm Europas Zivilisation auf immer fremd bleiben. Daher sein zutiefst anarchischer Geist, sein selbstverständliches Verhältnis zum allgegenwärtigen Tod, der ihm, anders als den Nordeuropäern, den Krieg zur natürlichen Lebensform werden lasse. Don Leandro amalgamiert die Stiermythen verschiedener früherer Kulturen zu einem zeitlosen iberischen Handlungsmuster, das sich unschwer auf die konkrete politische Situation Spaniens im Bürgerkrieg übersetzen lässt. Der Bruderkrieg, so Don Leandros These, ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel in der spanischen Geschichte, ist ein zeitloses Phänomen mit mythischen Wurzeln. Er zitiert mehrfach aus einer lokalen Gründungslegende von Teruel, in der vom gewaltsam vergossenen Blut in den Kämpfen zwischen Christen und Mauren die Rede ist,57 und folgert daraus: «Cemento y cimientos de sangre. Y así desde siempre: Teruel, frontera de sangres.» (Sangre 264) Besonders empört ihn, dass keiner der heutigen Generäle diese überzeitliche Erkenntnis von ihm hören wolle, dabei wolle er nur weiteres Blutvergießen unter Spaniern verhindern. So aber sei viel zu wenig bekannt, dass die Spanier Konflikte untereinander bis zur letzten gewaltsamen Konsequenz durchfechten müssten; das sei nicht erst seit den Militärputschs des 19. Jahrhunderts der Fall: La guerra civil levanta, hace crecer el ánimo, destruye la Civilización, […] fomenta la sangre para el mañana, no deja a nadie en paz. La Reconquista fue una guerra civil. Los que no saben hablan de esto de ahora como de una reproducción de los pronunciamientos del XIX. ¡Infelices! Desde que España es España, los españoles son guerrilleros. (Sangre 271)
Natürlich muss bedacht werden, dass der Archivar im Fieberwahn redet, zwar streckenweise präzise zitierend und argumentierend, dann aber wieder wirr und in sich widersprüchlich. Der Text drängt seinem Leser diese mythenschwere Interpretation des spanischen Bürgerkriegs als Episode eines jahrhundertealten Dauerkonfliktes nicht auf, doch stellt er sie nachdrücklich zur Diskussion. Vielleicht wusste Aub selbst nicht recht, was von Don Leandros Thesen zu halten sei, denn am 19.1.1945, kurz vor der Fertigstellung des Romanmanuskripts, schrieb er in sein Tagebuch: «Lucho hasta más no poder por salir de mí mismo. A veces no puedo; otras sí. Y entonces acierto. (Campo de sangre es un buen ejemplo, entremezclando capítulos de ambas maneras.)» (Diarios 122) Don Leandro stirbt in Viver de las Aguas, in dem Haus, in dem Rafael Serrador, der Protagonist des ersten Bandes des Magischen Labyrinths, geboren wor-
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Der Kampf zwischen Christen und Mauren ist in seinen Augen ein Bruderkrieg gewesen, denn «todos hemos sido, por lo menos, mozárabes» (Sangre 267), und die am spanischsten empfindenden Spanier seien die urspanischen Könige von Granada gewesen, die Habsburger hingegen «extranjeros» (266). – Die umfänglichen Recherchen Aubs sind in seinen Notizbüchern erkennbar (vgl. Llorens Marzo 2002: 14): So nutzte er die gleiche Chronik, aus der Don Leandro zitiert (vgl. Sangre 264, Fußnote 205).
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den war und dort der Ankunft des Feuerstiers entgegengefiebert hatte, bis er sich schließlich in dem nächtlichen Spektakel zeigte: ¡Ya viene! ¡Ya llega! ¡Ya está ahí! Pasa la bestia velocísima, huyendo de sí misma, viril maldición ardiente, mito hecho carne y uña, con olor de cuerno quemado. (Cerrado 89)
Mit dieser Evokation des explizit so benannten mythischen Stiers beginnt der Romanzyklus mit einem Feuerstier, der nun durch die zu einem ausweglosen Labyrinth zurechtgezimmerten Gassen des Dorfes Viver getrieben wird. Ein Stier, der wie im Mythos vom Stier des Minos in seinem (Kretischen) Labyrinth gefangen ist und unweigerlich sein Blutopfer verlangt. Noch jeden Herbst hat er seine Opfer gefunden, «el toro de fuego siempre ha matado a cinco o seis hombres: un animal bárbaro y terrible» (Cerrado 86). ‹Am Anfang war der Stier›, könnte man sagen, und das in doppelter Hinsicht: in Don Leandros mythischem Spanienbild und auf der ersten Seite von Aubs Romanzyklus. Was nicht überrascht, denn die entsprechenden Skizzen und Vorarbeiten stehen in den Notizbüchern Aubs beinahe nebeneinander, weshalb sie zeitgleich entstanden sein müssen (vgl. Llorens Marzo 2003c). Indem der Archivar dort stirbt, wo Rafael Serrador geboren wurde, kehrt seine mythische Erzählung an den Ort des Anfangs der historischen Erzählung zurück. Wieder ein Kreis, der sich schließt im Magischen Labyrinth.58 Die Verbindung zwischen den beiden zeitlichen Ebenen, zwischen der überzeitlichen Ebene des Stier-Mythos und der historisch-dokumentarischen Ebene der seinerzeit aktuellen spanischen Politik, gelingt Max Aub besonders sinnfällig, wenn er seine Figuren in politischen Diskussionen das im Spanischen besonders reiche Stierkampfvokabular benutzen lässt. Hierbei handelt es sich um eine hoch spezialisierte Fachsprache, in der sich eingeweihte Stierkampf-Begeisterte über jedes noch so komplexe Detail ihres Sports mit einem Wort verständigen können. Ein Teil dieses Vokabulars wird aber auch in der Alltagssprache benutzt (ähnlich wie im Deutschen das Fußballvokabular), und diese Polysemie jener idiomatischen Wendungen macht sich der Text zu Nutze. Wenn in einer Szene Anarchisten und Sozialisten, Kommunisten und Liberale politisch streiten, greifen sie auf Wendungen aus der Stierkampfsprache zurück, beispielsweise wenn in einer hitzigen Diskussion «picar a un patrono» gefordert wird, also einen Fabrikbesitzer «wie einen Stier abzustechen» (Aub 1999a: 82, Cerrado 138). Oder wenn eine Figur unentschlossen in die ersten Kämpfe des Bürgerkriegs aufbricht und mit dem im Deutschen inexistenten terminus technicus «media en la agujas» apostrophiert wird, was wörtlich bedeutet, dass dem Stier die Klinge bei dem eigentlich tödlichen finalen Degenstoß nur zur Hälfte in den Nacken eingedrungen ist (Aub 1999a: 197, Cerrado 226). Die Rede über die gegenwärtige Gewalt des Klassenkampfs wird also geführt in den Worten des althergebrachten Stierkampfs. Mit diesem sprachlichen Kunstgriff gelingt Aub die Überblendung der
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Zu den zyklischen Erzählstrukturen im Magischen Labyrinth vgl. Llorens Marzo (2003a) und Buschmann (2004c, 2007).
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aktuellen politischen und der überzeitlich-mythischen Ebene seines Zyklus. Zwei sich ausschließende Erklärungsmuster für den Bürgerkrieg sind damit sprachlich zusammengezogen: Das historische Erklärungsmuster, das in einer Vielzahl von Stimmen alle möglichen ideologischen Begründungen des Kriegs durchgespielt wird, ohne zu einem letzten Urteil zu kommen, und das mythische Erklärungsmuster Don Leandros, wonach es den Spaniern schon immer vorbestimmt war (und sein wird), dieses blutige Schicksal des Bruderkriegs zu erleiden. Doch das Magische Labyrinth nutzt nicht nur den Rückgriff auf den StierMythos, um die auf der Handlungsebene vorherrschende politische Perspektive auf den Konflikt aufzurauen. Es legt auch selbst den Grundstein für einen neuen Mythos, nämlich für die Genese einer Figur, die nicht den Gesetzen des Chronos und der Geschichte unterworfen ist: Die Narration begann mit Rafael Serrador, dem jungen Protagonisten von Cerrado, der durch die frühen dreißiger Jahre und durch die Kämpfe um Barcelona taumelt, mit denen der Bürgerkrieg im Juli 1936 beginnt. Wenig später, so informierte der Erzähler am Ende von Band eins, starb er an Typhus. Kurz vor Schluss des letzten Bandes Almendros haben wir gelesen, dass manche glauben, jener Rafael Serrador lebe weiter in der Sierra: «Hay quien dice que ha visto a Rafael López Serrador, guerrillero, por el monte…» (Almendros 563) Aus dem Rafael Serrador des ersten Bandes, aus der Figur der Geschichte, ist im sechsten Band eine mythische Figur geworden, die, wie wir in der Analyse dieser Schlusssequenz gezeigt haben, über ihren physischen Tod hinaus im Gedächtnis der Überlebenden weiterexistiert. Der Mythos vom Labyrinth: Odysseus und Vicente Dalmases So selbstverständlich der Rückbezug des Titels des Laberinto mágico auf die griechische Mythologie ist, eine eingehende Betrachtung der Bezüge der Aubschen Serie zum Mythos des Labyrinths von Minos fehlt bisher. Das erstaunt umso mehr, als solche Rückgriffe bei der Titelgebung auch anderswo auftauchen und dort ebenfalls nicht ohne Bedeutung für die Interpretation sind. So spielt das Theaterstück El rapto de Europa o Siempre se puede hacer algo (1946) auf den Mythos der vom Stier geraubten Europa an. Das Stück, das 1942 in Marseille spielt und von der Arbeit des Emergency Rescue Committee handelt, das in Lebensgefahr schwebenden Verfolgten des Nazismus die Ausreise aus Europa zu ermöglichen versucht, deutet bereits in seinem Titel die Verknüpfung des Themas «Holocaust» mit den bereits im europäischen Gründungsmythos vom «Raub der Europa» angelegten Motiven Gewalt und Vertreibung an (vgl. Ette 2003a). Gibt es ähnliche Verbindungslinien im Laberinto mágico? Vergegenwärtigen wir uns den klassischen Mythos vom Labyrinth des Minos. In der von Robert von Ranke-Graves bevorzugten Lesart der griechischen Quellen reist Theseus nach Kreta, in Begleitung oder unter dem Schutz von Aphrodite. Zum dritten Mal sollen dort sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen dem Minos, einem Ungeheuer mit Stierkopf, zum Opfer gebracht werden. Dessen Halbschwester Ariadne verliebt sich in Theseus. Weil sie ihm das zuletzt lebensrettende Wollknäuel und weitere wichtige Verhaltensmaßregeln mitgibt, 133
kann Theseus das Ungeheuer töten und aus dem Labyrinth herausfinden. Noch befleckt vom Blut «umarmt ihn Ariadne voller Leidenschaft» (Ranke-Graves 1960: 308). Nach einem Seegefecht mit den Kretern gelingt den Griechen die Flucht. Doch Theseus lässt anders als erwartet die schlafende Ariadne auf Naxos zurück, die darauf den Verrat beklagt: Immerhin habe sie ihm geholfen, ihren Halbbruder zu töten, und «aus Liebe zu ihm ihre Eltern und ihr Vaterland» verlassen (309). Theseus’ Strafe für diesen Verrat folgt auf dem Fuß und besteht im Tod seines Vaters Aigeos, der sich von den Klippen stürzt, als er die Schiffe mit schwarzen Segeln nach Athen zurückkommen sieht. Bei glücklichem Gelingen, so hatte Theseus versprochen, wollte er weiße Segel hissen, was er aber über die Aussetzung Ariadnes vergessen hatte. Explizit Bezug genommen wird in den Campos-Romanen auf das antike Labyrinth in dem Sinne, dass Spanien als das Labyrinth benannt wird, aus dem die Figuren keinen Ausweg finden. Cuartero sieht alle Spanier in einem «laberinto mágico» gefangen, «limitados por nuestros sentidos» (Abierto 607), und auf den Páginas azules spricht ‹Aub› vom «laberinto del puerto de Alicante» (Almendros 398), in dem er sich (als Erzähler) gefangen fühlt wie in Spanien: «España es otra cosa. Estoy dentro, adentro, siento sus flancos. No puedo salir.» (Almendros 402) Auch ist der Stier als Verkörperung schierer Gewalttätigkeit bereits in der Eingangsszene zu Campo cerrado eingeführt. Wenn Spanien das Labyrinth ist, muss man den Stier als die dort schwelende, drohende und im Bürgerkrieg zum Ausbruch kommende Gewalt betrachten. Zwar wird die Gewalt, daran lässt die dokumentarisch-realistische Ebene des Zyklus keinen Zweifel, im Bürgerkrieg von Menschen verübt, doch legt die mythische Ebene nahe, dass deren Ursprünge nicht allein in der historischen Dimension des Menschlichen zu finden sein werden. Das deutet nicht nur die Symbolik des Titels an, sondern auch, wie oben beschrieben, der Monolog von Don Leandro. Weitere Anknüpfungspunkte bieten sich bei den Leitmotiven, die im Mythos wie in der Serie im Vordergrund stehen. So liefert in beiden Texten die Liebe den Schlüssel zum Weg durch das Labyrinth und die Voraussetzung zum Überleben. Wie Theseus durch Ariadne seinen Weg vorgezeichnet bekommt, wird ab dem zweiten Band Vicente durch die Liebe von Asunción gelenkt. In beiden Erzählungen ist dieser Weg aber kein exklusiver Weg zum Überleben und kein für alle Liebenden glücklich endender: Wie Theseus mit Periboia und Phereboa das Lager teilt (Ranke-Graves 1960: 307) und am Ende Ariadne aus unklaren Gründen verlässt, so hat Vicente seine Affären mit Lola in Madrid (vgl. Moro) und mit Monse in Valencia (vgl. Almendros), bevor er Asunción im Hafen von Alicante wiederfindet – und wo er zuletzt wieder von ihr getrennt wird.59
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Ebenso im Mythos thematisiert ist das in der Bürgerkriegsliteratur zentrale Motiv des Brudermords (vgl. Milkovitch-Rioux 2008). Im Mythos hilft Ariadne Theseus, ihren Halbbruder Minotaurus zu töten, in Cerrado finden sich, wie weiter unten gezeigt wird, ebenfalls zwei Variationen des Brudermords. Tödlich unterbrochene familiäre Bindun-
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Auf struktureller Ebene findet sich noch ein letzter Bezug zwischen beiden Texten, eine Analogie, die weniger noch als die zuvor genannten Punkte als direkter Bezug missverstanden werden darf. Gemeint ist die gewissermaßen offene Darstellung der griechischen Mythen durch Robert von Ranke-Graves, der eine Vielzahl von Quellen berücksichtigt und auch sich widersprechende Darstellungen anführt. In dieser Offenheit glaubt man beinahe den Urmeter für Max Aubs offene Schlussvolten herauszuhören, vor allem im Fall von Campo de los almendros. Weil dort wie im Mythos der Erzähler der Fülle des widersprüchlichen Materials nur noch beiordnend, nicht mehr hierarchisierend Herr wird und Gegendarstellungen hingenommen werden müssen. Im Mythos heißt es nämlich am Ende: Die Kreter wollen jedoch nicht zugeben, daß der Minotaurus je gelebt hätte oder daß Theseus Ariadne mit Hilfe verbotener Mittel gewonnen hätte. Sie nennen das Labyrinth nur ein gut bewachtes Gefängnis, in dem die athenischen Jünglinge und Jungfrauen für die Begräbnisspiele des Androgeus in Bereitschaft gehalten wurden. (Ranke-Graves 1960: 309)
Wie in Almendros wird hier mit einer im Vergleich zum vorangegangenen discours eher knappen Formulierung alles bisher Gesagte in Frage gestellt. In beinahe chiastischer Verschränkung leugnet auf der einen Seite diese Erzählung des Mythos, dass Minotaurus überhaupt gelebt hätte, während auf der anderen im Roman der tote Rafael plötzlich von den Stimmen der Bergbewohner zum Leben erweckt wird. Doch steht diese interpretierende Verknüpfung unter dem Vorbehalt, dass nichts darüber bekannt ist, in welcher Fassung Max Aub die Geschichte des Minotaurus-Mythos gelesen hat.
Die Ästhetik der Aufzählung Listen und Aufzählungen sind eines der bestimmenden formalen Elemente des Magischen Labyrinths. Damit sind nicht diejenigen reihenden Passagen gemeint, die auf der Ebene der erzählten Ereignisse referenziell verankert sind und der Evokation (historischer) Wahrscheinlichkeit dienen. Signifikant sind also für die folgende Analyse nicht jene Listen, die das Evakuierungskommittee in Campo de los almendros immer wieder neu anlegt, um unter den circa 20.000 Flüchtlingen diejenigen zu erfassen, die mit höchster Priorität die Schiffe besteigen und als erste ausreisen sollen. Auch nicht die Listen der Gefangenen in den spanischen Konzentrationslagern, die im dritten Teil von Almendros zu studieren sind und mit denen die Häftlinge entsprechend der Logik des «univers concentrationnaire» summarisch erfasst und erst als Bürger, dann als Lebewesen ausgelöscht werden. Vielmehr soll im Folgenden der auffällige Rekurs auf die Liste als for-
gen dienen, motivisch verdichtet und symbolisch aufgeladen, häufig der Darstellung von Gewalt in sozialer Nähe (vgl. v. Treskow/Buschmann/Bandau 2005), sie sind folglich nicht unmittelbar als Bezug auf den antiken Mythos zu erklären.
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males Element an den Stellen betrachtet werden, an denen die dargestellte Wirklichkeit sie nicht naheliegenderweise aufruft. Zwei Aufzählungen werden hierzu exemplarisch dargestellt, die des letzen Kapitels von Campo cerrado und die der Frisöre in Campo abierto. Zwischen Totalität und Fragment Bereits betrachtet wurde die Liste der Figuren am Ende von Cerrado, jenes dreiseitige Kapitel Muerte, in dem der Erzähler «eine Auflistung ihrer weiteren Schicksale» gibt, «entsprechend den Berichten, die mir am heutigen 17. August 1939 vorliegen» (Aub 1999a: 260). Mit diesem dokumentierenden Duktus hebt eine Liste an, in der 43 Figuren namentlich benannt sind. Es finden sich historische Figuren wie der in Madrid gefallene Anarchistenführer Bonaventura Durruti («muerto en el frente de Madrid el 19 de noviembre de 1936», Cerrado 272) oder der letzte Präsident der katalanischen Generalitat Lluis Companys («en Francia […] exiliado[…]»); daneben fiktive Figuren, die eng an real existierende angelehnt sind, wie die des Lyrikers und Falange-Führers Luis Salomar, der nach dem Vorbild von Aubs Freund Luys Santa Marina gezeichnet ist, sowie rein fiktive wie Rafael Serrador, Manolo oder El Chofer. Auch wenn die Kapitelüberschrift Tod etwas anderes andeutet, von den 43 in der Liste Genannten sind 25 noch am Leben, viele von ihnen inhaftiert in Spanien oder in französischen Lagern. Man muss sie als in Lebensgefahr Schwebende betrachten, von denen der Autor zum Zeitpunkt der Beendigung des Manuskripts nicht wusste, dass sie bereits tot waren, wie etwa der geflohene katalanische Präsident Lluis Companys, der an Franco ausgeliefert und noch 1940 hingerichtet worden war. Die Gleichförmigkeit der Aufzählung entsteht u.a. dadurch, dass die Angaben zu den Personen meist schematisch erfolgen, nach dem Muster «Name» plus «gefallen an der Front X am Tag Y», oder «standrechtlich erschossen bei Francos Einmarsch in X». Einige Figuren werden summarisch einer zu Beginn eines Eintrags genannten Kategorie zugeordnet: «En los campos de St. Cyprien y Argelés encuéntranse …», worauf sechs Namen folgen. Gebrochen wird diese lockere Regelhaftigkeit im Generierungsmuster der Liste durch Benennungen wie die folgende: «Severiano está bueno, en Zaragoza.» (Cerrado 272) Oder durch humoristische Effekte, die sich aus der Reihe selbst generieren: «El Anacoreta fue fusilado, por equivocación» (Cerrado 273), heißt es in einer Durchbrechung desjenigen Aufzählungsmusters, mit dem die Opfer von Erschießungen sonst genannt werden. Der Widerspruch zwischen der banalen Begründung, warum El Anacoreta auf die Erschießungsliste kam («por equivocación») und der fatalen Auswirkung dieser Banalität (der Tod eines Unschuldigen, ein selbst nach der politischen Logik der Sieger sinnloser Tod) unterstreicht die Absurdität dieser Nachkriegswirklichkeit. Mit einem ähnlichen Verfahren, der minimalen Variation eines einfachen Musters für eine Aufzählung, pointiert die Liste den Tod eines weiteren Unschuldigen: In direkter Folge wird der Tod dreier republikanischer Generäle vermerkt («El General Aranguren, fusilado por Franco a su entrada en Barcelona, El coronel Escobar, fusilado por Franco a su entrada en Madrid» 136
u.s.f.), worauf als vierter Eintrag dieser Reihe folgt: «El maestro, parecido a don Quijote, fusilado por Franco a su entrada en Barcelona.» Eine paradigmatische Reihe, die die körperliche Ähnlichkeit mit Don Quijote zu einem ebenso relevanten Hinrichtungsgrund macht wie ein hoher militärischer Dienstgrad. Die durch die Logik der Liste als neutral semantisierten Erklärungen für eine Hinrichtung stehen im Widerspruch zu deren Pragmatik, schließlich wirken der Zufall (bei El Anacoreta) oder die Physiognomie einer Romanfigur (im Fall des Lehrers) als Gründe für eine Hinrichtung in grotesker Weise unangemessen. Die Art und Weise, wie die sprachliche Mikrostruktur die Wahrnehmung einer Textsequenz als Auflistung hervorbringt, hat aber nicht nur Auswirkungen auf die Rezeption der dargestellten Wirklichkeit als widersinnig, absurd oder unbegreiflich. Zugleich scheint der Gedanke auf, dass eine nicht durch solche Dissonanzen gebrochene Liste, also die dem Generierungsprinzip zugrunde liegende ungebrochene Liste, auch nicht die historische Wirklichkeit abbilden würde. Im Gegenteil, gerade der durch absurden Witz pointierte Bruch wirkt eher adäquat. Wie im Zusammenhang mit dem konzeptistischen Sprachwitz erläutert, untergräbt die humoristische Brechung eines Paradigmas auf der syntagmatischen Ebene gerade nicht die Tragik der dargestellten Ereignisse, sondern konturiert sie umso deutlicher.60 Betrachten wir nun das Ende der Liste am Schluss von Cerrado. Der letzte Eintrag ist Rafael Serradors erstem Dienstherrn gewidmet, bei dem er in Castellón als Laufbursche gearbeitet und in jenen Jahren das Dienstmädchen Marieta angehimmelt hatte; mit ihr hatte Rafael seine ersten sexuellen Erfahrungen gemacht. In diesem letzten Segment der Aufzählung wird die bisherige grammatikalische Logik der Reihung (elliptische Syntax, keine entfaltete Handlung) aufgegeben. Jener Kunstschmied aus Castellón habe nach dem Tod seiner Frau (gestorben «de un cancer en la matriz», Cerrado 273) die Hausangestellte Marieta geheiratet. Darauf folgen die letzten Sätze des Romans: Esta [Marieta] es la única que algunos sábados por la noche, cuando llega la brisa del mar, se acuerda de Rafael López Serrador: – ¿Qué se le habrá hecho? A lo lejos ladra un perro. (Cerrado 273)
Diese Szene mehrfach emphatisierter Erinnerung – Marieta ist die einzige, die erinnert, sie tut es samstags bei Nacht, sie tut es unter dem Eindruck der nächt-
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Mit den gleichen Stilmitteln, nur in anderer Dosierung, erreicht der Text am Ende des Kapitels Jorge Mustieles in Abierto einen pathetisierenden Effekt: Im letzten Absatz – die Hauptfigur des Kapitels ist bereits hingerichtet – trägt der Erzähler nach, was mit den anderen fünf Häftlingen passiert ist, die mit ihm in der Todeszelle saßen. Vier wurden erschossen, der fünfte habe sich selbst getötet, indem er sich einen Löffelstiel in den Hals rammte. Inhaftiert sei er nur gewesen, weil ihn sein Schwager nicht riechen konnte, ansonsten habe er nie etwas mit Politik zu tun gehabt («[…] nunca se había metido en nada», Abierto 398).
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lichen Brise vom Meer – ist intratextuell mehrfach eingebunden: Sie beendet die Liste mit einem Rückverweis auf Rafael, dessen Tod zu Beginn der Liste vermeldet worden war. Als Thematisierung des Gedächtnisparadigmas weist sie Parallelen auf zum bereits analysierten ersten Schluss von Campo de los almendros, in dem ebenfalls an herausgehobener Stelle – am Ende des Zyklus – betont wird, dass sich einige an Rafael erinnern. Und sie rekurriert auf das für den Zyklus so wichtige Leitmotiv des Wassers, in diesem Fall des Meeres, das Fluchtweg ist und Metapher des Lebens. Zielten die 42 vorangegangenen Einträge der Liste darauf ab, die Grausamkeit des Bürgerkriegs im Wechselspiel von Regelmäßigkeit und (absurdem) Zufall in möglichst knapper Form zum Ausdruck zu bringen, fällt der 43. und letzte Eintrag aus dieser konstruktiven Logik heraus. Formal, weil anders als zuvor wieder erzählt wird, und inhaltlich, weil wieder ein wenig Hoffnung möglich zu sein scheint. Dies ergibt sich zum einen durch die Verwendung der Wassermetaphorik (das Wasser als Metapher des möglichen Lebens), zum anderen durch die Tatsache, dass sich überhaupt jemand erinnert. Und so lange sich jemand der Figur erinnert, ist sie nicht gänzlich gestorben, lebt sie zumindest in der Erinnerung weiter, ist sie noch Teil des «kommunikativen Gedächtnisses» (Jan Assmann). Vor allem aber endet die Liste nicht mit der Erwähnung eines Toten, sondern mit der Beschreibung von Lebenden, von Überlebenden, die nach der kollektiven und der privaten Erfahrung des Todes61 einen symbolischen Neuanfang gewagt haben, in diesem Fall die neuerliche Ehe. Die Liste des Todes am Ende von Cerrado ist ja auch keine Totenliste – Muerte heißt das Kapitel, nicht «Muertos» –, vielmehr benennt sie zahlreiche Überlebende und verzichtet nicht auf humoristische Effekte. Auf den ersten Blick wirkt sie statisch, wie ein Inventar, eine abschließende Bestandsaufnahme, doch diese ordnende Funktion suggeriert sie nur durch die Form. Schließlich erfasst sie bei weitem nicht alle auftretenden Figuren, nicht einmal alle wichtigen Figuren: Formal verweist sie auf das jeder Aufzählung innewohnende Potenzial der Totalität, und doch ist sie nur ein Fragment. Antike Heerschau und das Gegen-Gedächtnis der 300 Frisöre Die zweifellos beeindruckendste und formal auffälligste Liste in den CamposRomanen ist die der dreihundert Frisöre in Campo abierto. Die Handlung spielt im November 1936, Francos Truppen stehen kurz vor Madrid, der Fall der Hauptstadt scheint unabwendbar. Auf der Suche nach Asunción und seiner valencianischen Theatergruppe betritt Vicente das Teatro de la Zarzuela, in dessen
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Als kollektive Erfahrung des Todes kann man den Krieg verstehen, dessen (tödliche) Folgen in der vorangegangenen Liste verdichtet sind; die private Erfahrung meint den Krebstod der kinderlosen Frau, die bezeichnenderweise am Ende des Bruderkriegs an einem Gebärmutterkrebs stirbt: An einer Krankheit, die ganz konkret auf ihre biologische Reproduktionsfunktion fokussiert und ihre Unfruchtbarkeit in Erinnerung ruft. Mit der jungen Frau Marieta hingegen ist nun, nach dem Krieg, die Fortpflanzung und damit ein Weiterbestehen der Familie immerhin möglich.
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großem Saal aber nicht die Proben seiner Truppe zu Miguel de Cervantes’ Widerstandsdrama El cerco de Numancia stattfinden, sondern eine Versammlung der gewerkschaftlich organisierten Frisöre von Madrid, die ab dem kommenden Morgen den ihnen zugewiesenen Frontabschnitt gegen den Angriff der Aufständischen zu verteidigen haben. Einer der Anwesenden weist ihm den Weg zur Probebühne, doch während Vicente abgeht, schwenkt die Erzählung zu der (explizit so benannten) «Probe» auf der Bühne der historischen Ereignisse: Dort wird gerade der erste Frisör im Umgang mit einem Karabiner unterwiesen. Das erzählerisch mehrfach verzögerte Wiedersehen von Vicente und Asunción, bei dem sie endlich zu einem Paar werden sollen, wird durch die daran anschließende Aufzählung erneut verschoben.62 Nach einigen quantifizierenden und kategorisierenden Vorbemerkungen des Erzählers («son cerca de trescientos de su oficio, entre dueños, oficiales y aprendices. […] De todas las edades: de los quince a los sesenta y ocho […]», Abierto 532) sehen wir den Versammlungsleiter Jacinto Bonifaz sich erheben und die Liste durchgehen («pasa lista»), Salon für Salon: De una peluquería de la Puerta del Sol contestan: Juan Pajares, de Argamasilla, venticuatro años, soltero y de buen ver, moreno, con barros; Juan Miguel González, de Madrid, treinta y seis años, casado, con tres hijos, tiene acedias y las aguanta, enemigo personal que es del bicarbonato; Adrián Costa, de Calaceite, cincuenta años redondos y mal aprovechados, viudo dos veces, con dos hijos, uno de ellos está ahí: Miguel, oficial en una barbería en la calle de la Montera. Hacía tres años que no se hablan, por lo de la Manuela, pero ahora pudo más el momento. De la peluquería de Peligros: Santiago Pérez, de Guadalajara, tan chulo como siempre […]. (Abierto 532f.)
Es folgen elf Seiten mit knapp 300 Namen plus mal längeren, mal kürzeren Epitheta zu den Figuren. Oft wird das Alter der Person genannt, fast immer der Ort oder die Region der Herkunft, wichtige Identitätsmarker im ländlich geprägten Spanien; 63 hinzu können charakterisierende Adjektive kommen («chulo como siempre») oder schlaglichtartige Ergänzungen zum Leben der Figur («inquieto por la suerte de un tío suyo, cura, que tiene recogido en su casa»), die sich bis zu einer sechszeiligen Mikroerzählung ausweiten können, so im Fall von Gregorio España, der während der Versammlung an nichts anderes denken kann als an die Frage, ob er zu Hause auch das Gas abgedreht hat (Abierto 533f.). Nach fünf Seiten zieht das Tempo an, streckenweise fehlen von hier an erläuternde Anmerkungen, und es werden nur noch summarisch Namen und Salons genannt (537). Im Dienst der Variatio werden nun Name und Herkunft bisweilen in eigenen Mikrolisten aufgeführt: «Los demás, Arturo Burgos, Epifanio Ordoñez, Blas
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Das Lektorat der deutschen Erstausgabe von 1961 wertete die Liste offenbar als untergeordnetes Element der Spannungssteigerung (wenn nicht als störenden, weil nicht in erster Linie erzählenden Einschub). Die Liste wurde gestrichen und durch eine kurze Paraphrase ersetzt. …was in einer der Epitheta wiederum ironisiert wird, wenn es heißt: «[…] los tres oriundos de Egea de los Caballeros, del que no se acuerdan, pero que tienen muy a pecho.» (Abierto 537)
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Méndez, Rafael García, Defín Torregrosa y Gustavo Gómez son de Minglanilla, Toledo, Almodóvar del Campo, de Madrid los últimos.» (538) In diesem Beispiel ist es die Inversion, die in schon bekannter Weise auf die sprachliche Verfasstheit rückverweist, häufiger findet sich der Verweis auf die Haartracht des jeweiligen Frisörs («albino y nada satisfecho de serlo», «con su pelo blanco», «con pelo crespísimo», «el pelo tinto», «calvo»). Ähnlich wirken Wortspiele («viejo verde y el pelo tinto») und die teilweise scharfe Kontrastierung von äußerst banalen mit erschütternden Anmerkungen. Wird bei einem Frisör der Schicksalsschlag notiert, dass er gerade seine ganze Familie verloren habe («A Nicasio le fusiliaron a toda la familia», 534), heißt es unmittelbar danach beim nächsten lakonisch, er sei ein guter Kartenspieler. * Die Aufzählung ist ein Sonderfall des Erzählens. Hoch geschätzt in antiker und mittelalterlicher Tradition, hat sie sich in der neuzeitlichen Erzählkunst zu einer ambivalenten Sonderform der Narration entwickelt, die Textfragmente de- oder rekontextualisiert, die raffende oder dehnende Funktion haben kann, vergegenwärtigende oder entrückende, wie Sabine Mainberger in ihrer Studie zur Kunst des Aufzählens (2003) gezeigt hat. Eine der Funktionen des Aufzählens ist die beschreibende, mit der besonderen Konnotation, dass eine Aufzählung suggeriert «nur zu beschreiben», also mit einer intensivierten Unmittelbarkeit «ohne alle Modifikation oder Intervention» abzubilden (Mainberger 2003: 103). Aber auch für die Aufzählung gilt, dass sie selektiv und perspektivisch ist, und erst in der Auswahl und Kennzeichnung der Elemente der Aufzählung konstituiert sie ihren Gegenstand. «Beschreiben heißt in diesem komplexen Sinne immer wieder neu die Welt konstituieren, gestalten, sich über sie verständigen, und im Zuge dessen verständigen wir uns auch über uns selbst.» (Mainberger 2003: 104) Dieser konstruktivistische Gedanke gelte insbesondere für die Geschichtsschreibung, in deren weiterem Kontext wir uns bei der Lektüre des Magischen Labyrinths ja bewegen. Für die beiden hier exemplarisch vorgestellten Aufzählungen in Campo abierto und Campo cerrado gilt gleichermaßen, dass sie auf dokumentarischer Ebene ein Archiv der kollektiven Erinnerung darstellen. Hier sind die Namen von Opfern des Kriegs erfasst, die zur Entstehungszeit des Zyklus in der veröffentlichten Sphäre Spaniens nicht erinnert werden durften, und schon gar nicht in der offiziellen Sphäre: Für das Franco-Regime waren allein die Opfer des nationalen Lagers des Gedenkens würdig, ihnen zu Ehren wurden an den Kirchen des Landes Erinnerungstafeln angebracht, während nach dem Verständnis Francos die Anhänger der Republik das Anti-Spanien verkörperten und folglich keinerlei Anspruch auf Erinnerung hatten. Daher konnte an sie in verschriftlichter Form nur eingeschränkt und unter den Bedingungen der Zensur erinnert werden (vgl. Neuschäfer 1991) – oder eben in der Exilliteratur. Auf elementare Weise erfüllt das Magische Labyrinth mit den beiden hier exemplarisch analysierten Aufzählungen, im Kapitel Muerte und mit der Liste der Frisöre, die Funktion eines 140
Gegengedächtnisses, eines «sozialen Gedächtnisses» als Gegengewicht zur «sozialen Amnesie» (Burke 1991: 299ff.). Die Liste der Überlebenden und der Toten ist insofern Voraussetzung für deren Weiterleben im kollektiven Gedächtnis; 64 auch darum stehen die humoristischen Effekte, die Aub in diese Listen einbaut, nicht im Widerspruch zum tragischen Charakter des Textes (wie Marra-López 1963 noch moniert hatte), sondern im Gegenteil, sie unterstreichen gerade die Hoffnung auf ein ‹Dennoch›. Sabine Mainberger spricht in diesem memorialistischen Zusammenhang von der «Aufzählung als monumentale Form», insofern sie «ein Wissen festhält, in dem die soziale Gruppe ihre Vergangenheit entziffern und sich ihrer Identität versichern kann und es tradiert» (Mainberger 2003: 274). Sie denkt dabei etwa an den homerischen Schiffskatalog oder die Heerschau Hesiods, auf die sich Aubs Listen intertextuell beziehen. Deren monumentale Geste wird im Magischen Labyrinth in einem Atemzug ironisiert (explizit wird das Amüsement darüber benannt, dass sich die militärisch organisierten Frisöre «batallón Fígaro» nennen) und zugleich aufgenommen. Allein schon der Umfang von gut zehn Seiten, über den die Liste sich erstreckt, ist selbst im Rahmen der erzählerischen Ökonomie des umfangreichen Zyklus ein gleichsam raumgreifendes Monument, das mit seinen lebensweltlich angebundenen Kürzestbeschreibungen der Figuren den antiken Heldengesang an die Bedingungen eines modernen Massenkriegs anpasst. Ein Held, das macht die Aufzählung der Frisöre unmissverständlich klar, muss kein Grieche von edler Herkunft sein, heute kann auch ein Madrider Vorstadtfrisör vorbildhaft handeln und sterben.65 Dies illustriert eine Szene, die kurz nach der Liste der Frisöre auf die Kämpfe am Stadtrand von Madrid blendet und zeigt, wie Jacinto Bonifaz tatsächlich einen der Feinde erschießt, bevor ihn selbst eine Kugel trifft. Der Dialog seiner beiden Mitstreiter, die sein Gewehr übernehmen und nun darauf warten, dass das Schauspiel weitergeht («[…] tarda en volver a empezar la función», 605), verweist mit der Isotopie des Theaters zurück auf die Vorbemerkungen zur Liste der Frisöre, in denen von den «Proben» für den nahenden (historischen) Augenblick gesprochen wurde. Die Liste der Frisöre hat demnach etwas Pathetisches, aber sie ironisiert dieses Pathos auch. Wie die Liste der Toten und Überlebenden am Ende von Cerrado wirkt sie formal sachlich, setzt aber auch witzige Pointen, und beide präsentieren Menschen im ganz eigentlichen Sinne, indem sie deren Präsenz in Form des bloßen Aufzählens herstellen. Die Listen vergegenwärtigen diese Menschen – und sie entrücken sie in die Sphäre des Besonderen, eine für die Aufzählung typische Kippfigur, wie Sabine Mainberger schreibt:
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Zum Gedächtnisparadigma in der (modernen) spanischen Literatur vgl. Winter (2006) und Luengo (2004). Zum modernen Heldenbegriff, seiner Funktion im Kontext der Gedächtnisdiskussion und seiner literarischen Konkretisierung im Laberinto mágico vgl. Buschmann (2005a). – Wichtig für die hier vorgeschlagene Interpretation ist der Hinweis, dass das «batallón Fígaro» historisch, die Namen und die Namensliste aber fiktiv sind (vgl. Pérez Bowie 2001: 46).
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Die Diskontinuität der Liste hat ein Pendant in der sich von der alltäglichen, gebundenen Sprache entfernenden rituellen Sprache; beide sind parataktisch und stark formalisiert, beide isolieren mit der Aufzählung und lassen das Gesagte gleichsam selbst sprechen. Die strukturelle Ähnlichkeit macht es – unter den entsprechenden Voraussetzungen – möglich, den einen Modus in den anderen zu überführen. Aufreihung gehört zu den rhetorischen Verfahren der Sachlichkeit ebenso wie zu denen des Pathos und des Erhabenen. (Mainberger 2003: 280; vgl. auch 115)
In den Aufzählungen des Magischen Labyrinths steckt demnach nicht nur ein wichtiger Teil des Gegengedächtnisses der zweiten spanischen Republik, den der Zyklus mit der Auflistung ihrer Opfer konstruiert, sondern auch eine ganz spezifische, auf die «Kunst des Aufzählens» rekurrierende Gegenästhetik des Bürgerkriegs. Die Listen nennen nicht nur Tote und Überlebende und stellen sie in einen über sie selbst hinausweisenden, durch die Liste selbst konstitutierten Sinnzusammenhang, sie sind in ihrer die Diegese stillstellenden Verzögerung wie in ihrer potenziellen Unabgeschlossenheit auch eine besondere Form des Schreibens gegen den Tod.
Bürgerkrieg und Verrat Gewalt und soziale Nähe Nachbarschaft ist eine «Gewaltressource erster Ordnung». Mit diesen Worten bringt Jan Philipp Reemtsma (2004) die Tatsache auf den Punkt, dass Bürgerkriege sich vor allem dadurch von Staatenkriegen unterscheiden, dass es bei ihnen um Gewalt in sozialer Nähe geht (vgl. v. Treskow 2005a). Hier kommt es innerhalb einer Sozialgemeinschaft zur gewalttätigen Auseinandersetzung, was Auswirkungen hat sowohl auf den Verlauf des Kriegs als auch auf die spätere Verarbeitung desselben. Zu Beginn und während eines Bürgerkriegs unternehmen die Konfliktparteien alles in ihrer Macht stehende, um den zuvor noch zu derselben Sozialgemeinschaft zählenden Gegner als different zu markieren. Im Grunde muss das Eigene zum Anderen umgedeutet, muss der Angehörige desselben Staates, derselben Herkunft, im Extremfall derselben Familie zum Feind erklärt werden. Es gilt, die natürliche Tötungshemmung zu überwinden, da der zu Tötende kein Fremder ist. Dazu muss er erst gemacht werden. Dies zu leisten ist Aufgabe der Propaganda, also potenziell auch der Künste und der Literatur. Ziel eines solchen Exklusionsdiskurses ist es, innerhalb einer Gesellschaft eine «Artentrennung» zu erreichen, mit der das Gegenüber zum «Artfremden» erklärt und nachfolgend getötet werden kann (vgl. Sietencron 1995: 20f. und 49). Ohne solche Exklusion(en) ist ein Bürgerkrieg nicht möglich. Daraus ergibt sich, dass eine Gesellschaft nach einem Bürgerkrieg besonders tief gespalten ist, was sich wiederum auf die diskursive Formung des Erinnerns an das gewaltsame Ereignis auswirkt. Während die Sieger ihre Sichtweise in der offiziellen Historiographie, in der veröffentlichten Meinung sowie in öffentlichen Institutionen (Schule, höhere Bildung) und an symbolischen Orten (Denkmäler, Gedenktafeln) präsentieren (vgl. Burke 1991), bleibt den Verlierern zunächst nur die orale Vermittlung 142
ihrer Erinnerung. Je nach Strenge der Zensur kann es Jahrzehnte dauern, bis der Sicht der Sieger die der Verlierer in gedruckter Form entgegengestellt werden kann, zumal sich auch innerhalb der Lager divergierende Erinnerungsgemeinschaften herausbilden, die oft über Generationen hinweg aus demselben kriegerischen Ereignis ganz unterschiedliche identitäre Zuschreibungen ableiten. Für die spanische Literatur sind diese Rezeptionsphasen inzwischen gut erforscht (vgl. allgemein Bannasch/Holm 2005, zu Aub vgl. Buschmann 2005a), doch wird der Beitrag der Exilliteratur in diesem Zusammenhang selten systematisch berücksichtigt (vgl. Buschmann 2004c). Eines der produktiven Motive für die literarische Modellierung solcher Szenarien innergesellschaftlicher Gewalt ist, oft mit intertextuellem Bezug auf den Brudermord von Kain an Abel (vgl. Milkovitch-Rioux 2008), die Darstellung der Bürgerkriegsgewalt innerhalb der Familie. Verwandtschaftliche Beziehungen stehen hier stellvertretend für die sozialen Bindungen innerhalb der Gesellschaft. Da deren (gewaltsames) Aufbrechen aber spezifische Tabus berührt, emphatisiert die familiäre Erzählfolie die Narration vom Bürgerkrieg. Die existentielle Verletzung und fundamentale Empörung entsteht dabei aus dem Nebeneinander «von kultureller Gemeinsamkeit, […] extremer Gewalt […] und unterlassener Hilfe, die als Verrat empfunden wird» (v. Treskow 2005b: 31). Auf dieses Motivgefüge greift Max Aub zurück, wobei er den Akzent auf die Konfrontation von Sohn und Vater sowie auf den Verrat unter Freunden legt. Söhne gegen Väter In zwei hervorgehobenen Episoden der Campos-Romane – die Namen ihrer Protagonisten sind zugleich die Kapitelüberschriften – stellen sich Söhne gegen Väter und ihre neu gewonnenen ideologischen Überzeugungen über die familiäre Bindung. In Campo abierto beweist Jorge Mustieles, ein junger Radikalsozialist, bei einem Schnellgerichtsverfahren in Valencia in den ersten Wochen nach Kriegsausbruch seine Linientreue, indem er seinen eigenen Vater zum Tode verurteilt. Er hatte das Gefühl, seine Genossen erwarteten von ihm solche revolutionäre Härte (vgl. Abierto 362). Der Vater Don Pedro ist zwar als Erzreaktionär beschrieben, dennoch martern den Sohn in den Stunden nach dem Urteil Gewissensbisse. Die Pistole an seinem Gürtel, die er zu Beginn des Kapitels liebevoll tätschelte, um sich zu vergewissern, dass «la revolución era un hecho» (Abierto 344), will er nach dem Urteilsspruch nicht mehr anfassen: «Sintió el peso de la pistola. Le molestaba.» (363) Halbherzig unternimmt er Rettungsversuche, spricht bei höheren Chargen vor, spürt aber schmerzlich, dass er sich nicht genug für seinen Vater einsetzt. Als er sich schließlich nach Hause wagt, erwartet ihn dort Don Pedro, der von anderen Genossen freigelassen worden ist, mit einer Schimpftirade auf die Milizionäre und die moralische Verkommenheit der Linken, der der Sohn nichts entgegensetzt. Der Vater organisiert nun die Flucht der Familie via Frankreich nach Santander, obwohl Jorge lieber in Valencia bleiben möchte. Erneut fehlt ihm der Mut zum selbstbestimmten Handeln. In Santander wird er von der franquistischen Polizei festgenommen, die sehr gut über seine 143
politischen Aktivitäten in Valencia Bescheid weiß. Fast ist er erleichtert, dass er für seine Schuld büßen kann («Se sentía más tranquilo. Pagaba.» 395),66 gleichzeitig fürchtet er aber nicht ernstlich um sein Leben – schließlich hat sein Vater noch immer jedes Problem aus der Welt schaffen können («fiaba en su padre», 395). Entsprechend entgeistert findet er sich in der Todeszelle wieder und wird dann auch zügig hingerichtet. Nicht zwischen Geschwistern, also Vertretern einer Generation wie im Fall von Kain und Abel, sondern zwischen den Generationen wird im Fall von Jorge Mustieles der innerfamiliäre Konflikt ausgefochten; statt der Konfrontation auf einer Ebene eine über mehrere Grenzen hinweg: Explizit werden die Oppositionen zwischen der alten und der neuen Welt benannt, für den Vater und Sohn jeweils stehen, zwischen Stadt und Land (der Vater ist mächtiger Dorf-Kazike außerhalb Valencias), zwischen ideologischer Unterordnung (die Revolution) und familiärer Bindungen: «La revolución. Ya no hay familia que valga», denkt Jorge. Damit behält er recht, allerdings in anderer Weise als in diesem Augenblick in Valencia, als er sich seine Gewissensbisse ausreden will. Denn am Ende kann ihm auch sein Vater nicht aus der Todeszelle helfen, und es ist die Revolution der jungen und kompromisslosen Falange, die die Rettung durch seinen Vater verhindert.67 Jorge wollte an die Stelle der familiären Abhängigkeit die revolutionäre Freiheit stellen, aber zur Freiheit und zum autonomen Handeln fehlten ihm der Mut und die Kraft. Dass umgekehrt sein Vater ihn nicht retten kann, pointiert auf familiärer Ebene die von mehreren Figuren explizit formulierte politische Argumentation des Zyklus, wonach es letztlich der Putsch der Rechten selbst gewesen sei, der die gesellschaftliche Ordnung zerstörte, zu deren Rettung er angeblich geplant war. Die zweite Episode eines Sohnes, der sich gegen seinen Vater stellt, spielt «auf der anderen Seite»: Del otro lado lautet die Kapitelüberschrift (Abierto 413), was einerseits auf den Ort der Handlung anspielt, das von den Aufständischen zur Hauptstadt der nationalen Zone erhobene Burgos, andererseits auf die andere ideologische Vorherrschaft auf jener Seite. Claudio Luna ist die Hauptfigur dieser teilweise spiegelbildlich zu der von Jorge Mustieles konstruierten Geschichte eines jungen Falangisten, der das Todesurteil über einen unbedarften und unschuldigen Gehilfen in der Anwaltskanzlei seines Vaters namens Maño spricht,
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Die Schuldfrage treibt den Katholiken Jorge beständig um. Im Café hört er von anderen Milizionären eine Vater-Sohn-Geschichte, die ihm zu Denken gibt: Die Mitglieder eines Exekutionskommandos erzählen von einem faschistischen Oberst, den sie zusammen mit seinem Sohn exekutiert hätten. Der Vater habe sich würdig seinem Schicksal gestellt, der Sohn hingegen in peinlicher Weise um sein Leben gebettelt und sich, in der Hoffnung auf Gnade, von seinem Vater losgesagt. Worauf der Vater seinem Sohn vergeben habe («Hijo mío […] te perdono», 354). Eine Haltung, die selbst den Milizionären Respekt abnötigte, wie Jorge mit Erstaunen registriert. Unter den Häftlingen wird ein weiterer Zelleninsasse als Opfer von innerfamiliärer Auseinandersetzung beschrieben. Es handelt sich um einen jungen Mann, völlig unschuldig, politisch nie aktiv, der von seinem erzkatholischen Schwager nur denunziert worden sei, weil dem sein Gesicht nicht gepasst habe (vgl. Abierto 398).
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der seinerseits den Ruf hat, ein Liberaler oder Linker zu sein. Wie der Radikalsozialist Jorge ist der Falangist Claudio ein schwacher Charakter. Falangist ist er weniger aus Überzeugung denn aus Zufall. Seine Freunde sind Falangisten, also macht auch er mit (vgl. Abierto 413f.). Mit ihren Pistolen fühlen sich die jungen Männer, die nach vorbereiteten Listen die Etappe von Linken säubern, sehr wichtig und verdienen sich die Anerkennung ihrer konservativen Väter: «Sus padres les miraban con respeto.» (414) Nicht so im Fall von Claudio, der den Zorn seiner Eltern fürchtet, als er erfährt, dass er Maño, den er seit frühster Kindheit kennt und der beinahe zur Familie gehört, erschießen soll. Dennoch widersetzt er sich dem Auftrag nicht. Bei der Fahrt zum Ort der Hinrichtung trägt Maño Claudio auf, seine Schwester in Madrid von seinem Tod zu unterrichten, und auch seine Eltern möge er grüßen. Für Claudio wird die Exekution damit doppelt schwer: Nicht nur wird er daran erinnert, wie nah er dem Opfer persönlich steht, erstmals erfährt er, dass Maño eine eigene Familie hat, die er nun zerstören wird: «[…] ahora resultaba que estaba atado a la vida por varios cordones umbilicales, que no estaba solo. Las relaciones de amistad o de política no contaban mucho para el joven burgalés, pero los familiares sí. Que ese era su mundo.» (419) Auffälligerweise wird in der einzeiligen Notiz zur vollzogenen Exekution vermerkt, dass Maños Körper in Form eines Kreuzes auf der Erde liegt («tirado en cruz», 419): peinigendes Zeichen für den katholischen Bürgerssohn, der nicht nur gegen die christlichen Wertvorstellungen seines Vaters handelt, sondern auch eine Art Brudermord vollzieht, war doch Maño ein Protegée und Schützling seines Vaters. In der Folge wird Claudio (wie schon Jorge) von Gewissensbissen geplagt, sein Leben ist ihm nichts mehr wert, weshalb er an der Front, wohin er sich freiwillig meldet, mit mutig wirkenden Aktionen glänzt. Doch führt ihn seine Flucht aus Burgos noch weiter fort, geographisch bis Madrid, moralisch möglichst weit weg aus der Verantwortung für sein politisches und privates Handeln. Wenig später nämlich läuft er über auf die republikanische Seite, sagt sich von seiner Familie los (die ihn für tot halten muss), ebenso von seiner politischen Vergangenheit, und schlüpft als Jurist in der republikanischen Verwaltung unter. Er will vergessen, «desligarse de todo» (424) und «esconderse a sus propios ojos» (426). Bis ein Bekannter von der Falange ihn erkennt und ihn dazu erpresst, für seine alten Freunde zu spionieren. Wieder muss er (ideologisch) «auf die andere Seite» wechseln. Weder die Flucht aus Burgos und dem nationalen Lager noch die innere Lossagung von Familie und Sozialgemeinschaft haben es ihm ermöglicht, seine Tat zu verdrängen und ihren Folgen zu entkommen. Am Ende wird er von der republikanischen Polizei als Spion enttarnt und zum Tode verurteilt. Auch im Fall von Claudio Luna ist die Konfrontation zwischen Vater und Sohn als ein Aufbegehren des Sohnes gegen die herrschende Ordnung dargestellt: In der vaterlosen Gesellschaft der belagerten Hauptstadt Madrid kann Claudio ohne Schwierigkeiten untertauchen, sich neu erfinden und eine Stelle im Ministerium des Staates antreten, gegen den er zuvor noch mit der Waffe in der Hand gekämpft hat. Auch eine Wohnung zu finden ist kein Problem, da viele von älteren Bürgern verlassen wurden – nur so bekommt der junge Mann überhaupt den Freiraum für seinen Identitätswechsel (vgl. 426f.). Der (Bruder-) 145
Mord an Maño setzt eine Dynamik in Gang, die ihm zunächst Freiheit verheißt, aber letztlich nicht lebbar ist, weil sie sich auf Kosten jeglicher sozialer Verantwortung realisiert. Als Claudio diese Verantwortung für seinen mehrfachen Verrat (am ‹Bruder›, am Vater, an den politischen Freunden) einholt und er zum Tode verurteilt wird, wundert er sich: «[…] dicen así es la vida, cuando se trata de la muerte.» (431) Er hingegen hatte geglaubt, die tödlichen Konsequenzen seines Handelns durch einen Verrat aus seinem Leben abkoppeln zu können. Jorge wie Claudio sind als labile, letztlich unreife Charaktere beschrieben, die nicht in der Lage sind, gegen Widerstände den Weg zur Selbstbestimmung zu gehen. Nur die durch den Putsch der Franquisten verursachte Schwächung der gesellschaftlichen Ordnung und die nachfolgende soziale Dynamik macht sie zu (schwachen) Rebellen. Folgerichtig führt ihr Weg nicht zum Erfolg, sondern in den Tod. Vater- und Brudermord stehen zeichenhaft für eine Gesellschaft, in der gerade die Mitläufer zu Mördern werden und an dieser Schuld zugrunde gehen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich die Figuren auf der Seite der Aufständischen oder der Republik bewegen, sie werden gleichermaßen in eine Situation geführt, in der sie die ihnen am nächsten stehenden Personen verraten: die Familie, die Freunde, die Parteifreunde und am Ende sich selbst. Freunde gegen Freunde Anders liegt der Akzent bei den Konflikten in sozialer Nähe, die nicht als innerfamiliäre, sondern als Konfrontation zwischen Freunden gestaltet sind: Hier konkurriert meist ideologische Prinzipientreue mit dem häufig absolut gesetzten Wert der Freundschaft. So wird Vicente Farnals in Abierto (336ff.) von Gaspar Requena, einem befreundeten Gewerkschafter, angegangen, weil er einem gemeinsamen Freund, der zur Falange gehören soll, zur Flucht verholfen und so dessen Leben gerettet hat. Das einzige Argument, das Farnals – noch immer Sozialist – zur Erklärung vorbringt, heißt Freundschaft: «Es amigo mío.» (Abierto 338) Den Vorhaltungen und Drohungen des Parteisoldaten Requena – inzwischen Kommunist – hält er sein Credo für die individuell geknüpfte Verbindung entgegen: «La amistad es otra cosa. Un ligazón más vital. […] necesito amigos para sentirme vivo.» (Abierto 341) Man kann diese Position, wie sie Farnals vertritt, durchaus vergleichen mit dem immer an das Subjekt und seine individuelle Freiheit rückgebundenen Sozialismus des Autors (vgl. Aubs Essays in Hablo como hombre) – umso bemerkenswerter ist es, wie abgewogen und letztlich wohlwollend die Position seines kommunistischen Gegenübers dargestellt ist. Als Farnals seinen persönlichen Standpunkt im Verlauf der Diskussion um die Frage, was wichtiger ist, die Partei oder das Individuum, die höhere Idee oder das Leben des Einzelnen, der abstrakte Wert oder die persönliche Verpflichtung, kaum noch verteidigen kann – immerhin muss er zugeben, dass Krieg herrscht und dass er einem potenziellen Feind geholfen hat –, wird eingeräumt, dass Requena die im Augenblick stärkeren Argumente auf seiner Seite hat: «Vicente sentía que Gaspar tenía razón.» (340) Requena räumt seine persönliche Schwäche ein («soy un hombre blando», 341) und gesteht seine Bewunderung für die Kommunisten: 146
«Os admiro, pero no puedo compartir vuestros trabajos.» (342) Doch die Anerkennung für die Effektivität der kommunistischen Partei führt trotzdem nicht zur Aufgabe seines persönlichen Standpunkts. Vor die Wahl gestellt, sich für die in seinen Augen kalte Logik der Vernunft entscheiden zu müssen oder für das Leben und den Menschen, kann er nur für letztere optieren: «Despertaros […] sin clases, pero sin razón de vivir. Porque el día en que se implantara así un socialismo aséptico, científico, como decís enjugandoos la boca, perfecto si quieres […] ¿qué quedaría del hombre?» (340) Am Ende des Gesprächs muss Farnals befürchten, von seinem (ehemaligen) Freund Requena angezeigt und festgenommen zu werden, wegen seiner «bürgerlichen» Überzeugungen und seinem «Verrat am spanischen Volk» (337), wie die Propaganda es nennt. Damit ist schon im zweiten Band der Serie das Motiv des Verrats, das im ersten Band Campo cerrado noch eine untergeordnete Rolle spielte, wesentlich wichtiger geworden, und seine Bedeutung steigert sich noch weiter. In Campo de sangre taucht es bereits im vorangestellten Motto aus dem Matthäus-Evangelium auf: «Deswegen soll dieser Acker Blutacker heißen bis auf den heutigen Tag» (Matthäus 27, 8), heißt es dort. Der Titel des Buches kann auch mit «Blutacker» übersetzt werden und benennt folglich explizit das Stück Land, das mit den dreißig Dinar des Judas gekauft wurde, mit dem Lohn für seinen Verrat. Das Motiv der Hintanstellung persönlicher Bindungen wie Freundschaft oder Liebe unter administrative Pragmatik oder politische Zwänge der Gegenwart, das als Verrat gestaltet und verurteilt wird,68 zeigt sich in Sangre etwa in Templados Entsetzen, wenn sein Freund Rivadavia seines Amtes als Untersuchungsrichter waltet und ihn insinuierend zum Verschwinden der Schauspielerin Lola Cifuentes befragt. Templado hatte der Frau, von deren Kontakten zum falangistischen Untergrund er durchaus Bescheid wusste, zur Flucht verholfen, aus dem einfachen Grund, weil er sie als Mensch schätzte. Wegen eines Freundschaftsdienstes von einem Freund verhört zu werden, empfindet er als doppelten Verrat: «Templado se quedó parado. Como si se sostuviera en el aire, abierto un escotillón bajo sus pies. […] ‹¿Tu también, bruto?› pensó.» (Sangre 380) Steht zwischen diesen beiden Freunden der Verrat als Infragestellung einer tiefen persönlichen Bindung, so wird die Figur des Geheimdienstspitzels López Mardones mit reichlich rhetorischem Aufwand geradezu als Personifizierung des Verrats eingeführt (vgl. Sangre 122).69 In seinem Fall wohnt dem Konflikt um Loyalität und Verrat jedoch keinerlei Ambivalenz inne, er agiert einzig zu seinem persönlichen Vorteil und spinnt beispielsweise die politische Intrige gegen Templado, mit dem ihn keine persönliche Beziehung verbindet, nur aus gekränktem
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Man denke an Requena in Abierto, oder an die Dialoge über den Verrat zwischen Jacinto Bonifaz und Pirandello in Moro (325ff.). Im Unterkapitel über Die Sprache(n) und die Kritik an Max Aubs überbordernder Formulierungslust wurde die Einführung der Figur López Mardones’ bereits sprachlich analysiert.
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männlichem Stolz, denn dessen Freundschaft zu der attraktiven Schauspielerin Lola Cifuentes mag er ihm nicht gönnen. In Campo del moro wird der Verrat schließlich zum alles beherrschenden Motiv, weshalb der Band bis kurz vor der Drucklegung Los traidores heißen sollte. Mit Rücksicht auf die Kohärenz zwischen den Einzeltiteln fiel erst im letzten Augenblick die Wahl auf Campo del moro.70 So erstaunt es nicht, dass nun auch metatextuell über den Verrat reflektiert wird. Jacinto Bonifaz fasst eine solche Diskussion bündig zusammen: No hay libro, ni ensayo de la traición. […] Acerca de los traidores, sí; infinitos y cantidad de leyes. Hasta sería capaz de decirle que la literatura está basada en historias de traiciones y traidores. Pero sobre la traición en sí, nada. (Moro 630)
Vor dem Hintergrund der Auflösung der inneren Ordnung der Republik, die Campo del moro darstellt – der Putsch von Besteiro und Casado spaltet die Parteien und Gewerkschaften, die die Republik tragen –, wird der politische Verrat omnipräsent und so gut wie gar nicht mehr durch übergeordnete Bindungen (Liebe, Freundschaft, Familie o.Ä.) relativiert oder gebremst. Die wenige Tage zuvor noch gemeinsam kämpfenden Truppen bekämpfen sich jetzt gegenseitig, aber im Krankenhaus liegen die Kämpfer der Linken dann wieder nebeneinander, «anarquistas heridos por comunistas, comunistas heridos por republicanos» (Moro 580). Beinahe jede Figur, die noch aktiv handelt, wird zum Verräter, und meist ist der Verrat ein doppelter: Politisch verrät Besteiro seine sozialistischen Genossen und seinen Mitstreiter Casado, den er bald nach dem Putsch im Stich läßt. Die Anarchisten verraten Negrín und ihre besten Freunde, denn in der Nacht vor dem Putsch lügen sich sogar alte Kampfgefährten gegenseitig an. Militärisch verrät Casado seine vorgesetzten Generäle und seine mit dem Putsch übernommene Pflicht zur Verteidigung der Hauptstadt, wenn er Vicentes Einheit im Pardo angreifen läßt, während diese gegen Francos Truppen kämpft. Und Vicente Dalmases verrät sowohl die Liebe Lolas, deren Aufopferung im Dienste seiner Befreiung er mit keiner Silbe anerkennt, als auch Asunción, die er entgegen seinem Versprechen allein in Valencia sitzen läßt. (Buschmann/Figueras 2001: 366f.)
Die Steigerung des Bürgerkriegs zu einem Bürgerkrieg im Bürgerkrieg führt zur Auflösung jeder sozialen Bindung, so dass dem Einzelnen, wie Sabine Fritz hervorhebt, «eine klare Verortung der eigenen Identität […] nicht mehr möglich ist» (Fritz 2005: 370). Weshalb zwei orientierungslose Gewerkschafter sich eingestehen, nicht mehr zu wissen, wer sie überhaupt sind und wofür sie stehen («–Ya nadie sabe quien es. –Ni lo que fuimos», Moro 600), und Vicente Dalmases gegen Ende des Buches in einer langen Tirade über den Verrat alle Akteure sowie deren Motive noch einmal aufzählt:
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Javier Lluch Prats analysiert die unveröffentlichten Arbeitshefte Aubs aus dem Jahr 1959 und weist nach, wie die beiden möglichen Titel «combatían, barajándose» (Lluch Prats 2002b: 40).
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Traidores todos: los republicanos, los anarquistas, los socialistas; ni qué decir tiene: los fascistas, los conservadores, los liberales; traidores todos, traidor, el mundo. […] Traidores por desesperanza, indiferencia, saciedad, conveniencia; por vileza, humildad […] Por envidia, por celos, por aborrecimiento, por pequeños, por cursis … (Moro 663)
Weitere acht Zeilen füllt Vicente mit Gründen für Verrat und endet mit der Hoffnung, dass Asunción (die er zuvor mit zwei anderen Frauen betrogen hat) ihn nicht verraten haben und ihre Liebe ihm neuen Halt geben möge. Die Dominanz des Motivs des Verrats in Moro rechtfertigt das Fazit von Sabine Fritz, dass dessen umfassende Darstellung als «kollektives menschliches Phänomen» das Laberinto mágico wohl tatsächlich zu der «Abhandlung über den Verrat» macht, von der zuvor im Zitat die Rede war (vgl. Fritz 2005: 371). Denn das Leitmotiv Verrat wird in einer Allgemeingültigkeit verhandelt, die den Zyklus jenseits seines konkreten spanischen historischen Kontextes anschlussfähig macht. * Ein russisches Sprichwort sagt: «Er lügt wie ein Augenzeuge.» Max Aub war sich, als er seinen Zyklus verfasste, der Tatsache bewusst, dass seine Position als kritischer Beobachter gerade dadurch gefährdet war, dass ihm als Zeitzeuge auch ein sehr unmittelbarer Zugang zu den Ereignissen offenstand: Lo que pasa es que en El Laberinto mágico no hay nada autobiográfico; por eso he podido escoger lo que me pareció más significativo. Yo estaba en Madrid el 18 de julio y describí el 18 de julio en Barcelona. No se puede uno fiar de uno mismo. Es mejor hablar con todo el mundo para apegarse a la historia, porque sé que si cuento las cosas que he vivido en un momento dado, no reflejo la realidad. (Fundación Caja 13–19, zit. nach Aznar Soler 2003a: 201)
Wie wir in den fünf Abschnitten dieses Kapitels gesehen haben, ist das Magische Labyrinth in der Tat das Resultat einer Auswahl («he podido escoger») und Ausdruck eines kritischen Misstrauens gegenüber sich selbst («No se puede uno fiar de uno mismo.»), und nur dank dieser selektiven und selbstkritischen Herangehensweise kann es als Ganzes ein so beeindruckendes Bedeutungsspektrum entfalten: Es erzählt konkret eine Reihe von Schlüsselmomenten der spanischen Geschichte, stellt zugleich metahistoriographisch die Schreibbarkeit von Geschichte in Frage und offeriert originelle formale Lösungen für das Dennoch-Schreiben. Unter Rückbezug auf antike Mythen stiftet der Zyklus selbst einen modernen Mythos. Mit dieser mythischen Ebene sowie mit den «Listen des Todes und des Überlebens» in ihrer ganz eigenen «Ästhetik der Aufzählung» schreibt er diejenigen, die den Bürgerkrieg verloren haben, in das kollektive Gedächtnis ein. In diesem konkreten wie im übertragenen Sinne ist das Magische Labyrinth ein Schreiben gegen den Tod – gegen den Tod und das Vergessen der Verstorbenen wie gegen den Tod des Autors –, dessen hier dargelegte formale Spezifi ka die Benennung als «Gegenästhetik des Bürgerkriegs» rechtfertigen.
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IV. Textspiel, Spieltext und das Schreiben vom Verschwinden
In dem an ungewöhnlichen Texten nicht armen Werk von Max Aub ist Juego de cartas, erschienen 1964, sicherlich der ungewöhnlichste, «quizás su relato más radicalmente libre» (Rodríguez 2006: 311). Er setzt sich zusammen aus 108 Spielkarten, die auf der einen Seite Kartensymbole zeigen (Pik, Ass, König, Dame usw.), die angeblich von Jusep Torres Campalans gemalt sind, auf der anderen kurze Briefe zwischen mehreren Dutzend Personen, in der Mehrzahl Frauen. All diese Kurztexte kreisen letztlich um ein Thema, die Frage nämlich, was für ein Mensch ein Verstorbener namens Máximo Ballesteros gewesen sei («¿Quién fue Máximo Ballesteros?»), was die Hintergründe seines Todes waren, welche Geheimnisse er womöglich mit ins Grab nahm. Eine Spielanleitung auf der Schachtel fordert dazu auf, zunächst die Karten reihum unter den Mitspielern zu verteilen und sie anschließend vorzulesen. Weiter heißt es, man könne das Kartenspiel unter vier Spielern spielen oder auch alleine, vor allem zum Vergnügen und nicht unbedingt um einen Spieleinsatz: «Es juego de entretenimiento; las apuestas no son de rigor», heißt es mehrdeutig in der Spielanleitung, die Regeln vorschlägt, aber nicht verbindlich vorgibt. Juego de cartas ist mindestens zweierlei: ein Spiel und ein Text, je nach dem, welche Seite der 108 Spielkarten man bevorzugt betrachtet und benutzt. Doch ist es noch etwas Drittes, ein Textspiel oder Spieltext, und zwar ab dem Augenblick, ab dem man die Grenze zwischen Vorder- und Rückseite der Spielkarten ausblendet zugunsten einer integrierenden Wahrnehmung von Text und Bild, zugunsten eines möglichen dritten Weges spielerischer Lektüren. Und im Mittelpunkt dieses Textspiels steht die Frage nach der Identität eines Abwesenden, eines Toten. Juego de cartas, der unbekannte Text Bevor Juego de cartas analysiert werden kann, ist die präzise Darstellung der Textgestalt besonders wichtig, zum einen wegen der besonderen Form, zum anderen wegen der geringen Verfügbarkeit des Textes: Immerhin verzichtet Juego de cartas auf die Buchbindung und präsentiert gleichberechtigt nebeneinander 108 Textfragmente neben 108 Bildsymbolen, und dieser Roman in Fragmenten erschien 1964 in einer kleinen Auflage, von der heute nur noch wenige Exemplare existieren.1 Aub hatte seit 1962 die Idee für das Textkartenspiel im Kopf, wie
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In Deutschland besitzt die Universitätsbibliothek Potsdam ein Exemplar der Erstausgabe von Juego de cartas, das mit anderen Rara Max Aubs aus der Bibliothek des ersten deutschsprachigen Aub-Forschers Gustav Siebenmann erworben werden konnte. Siebenmann übersetzte in den sechziger Jahren erste Erzählungen von Aub, schrieb über
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der Blick in sein Tagebuch vom 9.5.1962 zeigt: «[…] escribir Juego de cartas, cinquenta y dos cartas impresas en naipes. Se barajan, se reparten, se leen, cada vez otra historia, según el azar.» (Nuevos Diarios 242) Doch erst zwei Jahre später fand er in Alejandro Finisterre einen Verleger für seine Spielkarten. Die Vertragsbedingungen außerhalb der Buchdistribution beraubten Aub allerdings der Nutzungsrechte an seinem Text, was bis 2010 eine Neuauflage in Form eines Kartenspiels verhinderte. Der Vertrag mit Finisterre sah vor, dass Aub von je 100 gedruckten Exemplaren 10 Belege erhalten sollte. Üblicherweise verschickte Aub an Freunde großzügig Exemplare seiner neu erschienenen Bücher, wie sich in der im Max Aub-Archiv in Segorbe einsehbaren und teilweise veröffentlichten Korrespondenz nachvollziehen lässt. Nicht so im Fall von Juego de cartas, das in keinem Brief Erwähnung findet. Ursprünglich sollte das Textspiel ähnlich seiner Hauszeitschrift Correo de Euclides zu Neujahr an Freunde und Bekannte verschickt werden, doch dieser Plan erwies sich allein schon wegen der Kosten als nicht realisierbar; die Auflage soll bei 300 Exemplaren gelegen haben, Aub hätte also nur 30 Exemplare zu seiner Verfügung gehabt (vgl. Rodríguez 2006: 321). Nach dem Erscheinen der Karten äußerte Aub sich abwertend: «Juego de cartas no tiene ningún interés, como no sea el tipográfico.» (Nuevos Diarios 243) Dennoch wollte er den Text ein zweites Mal veröffentlichen. Weil dies wegen der für ihn ungünstigen Rechtelage gegenüber dem Verleger Finisterre in Form eines Kartenspiels nicht möglich war, fasste er eine Zweitveröffentlichung in gebundener Form ins Auge, als Teil einer Werkauswahl Anfang der siebziger Jahre, die aber wegen seines Todes nicht mehr zustande kam.2 Gerade hinsichtlich der Urheberrechte bewahrheitete sich in der Veröffentlichungsgeschichte von Juego de cartas jene anti-merkantilistische Maxime, die Aub sechs Jahre zuvor Jusep Torres Campalans in seinem Cuaderno verde in den Mund gelegt hatte: «Vender es venderse.» (Campalans 216) Hinzu kommt eine weitere Schwierigkeit bei der Analyse dieses bis 2010 so raren Textes: In der spärlichen Sekundärliteratur zu Juego variieren die Angaben über die Zahl der Spielkarten: Soldevila (1973: 157) arbeitet mit 108 Karten, nennt aber in der Bibliographie des gleichen Buches (Soldevila 1973: 456) sowie in einer neueren Werkbibliographie (Soldevila 2002a: 87) die Zahl von 104 Karten. Santiañez-Tió (1998: 188) untersucht 106 Karten, ebenso Valcárcel (1996a: 271), die gleiche Zahl enthält auch das Exemplar im Archiv der Max Aub-Stiftung. Der Potsdamer Kartensatz wiederum kommt auf 108, ebenso der von Nava-
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ihn in der Neuen Zürcher Zeitung (Siebenmann 1961) und empfahl ihn mit Gutachten an Verlage. Ihm ist die frühe deutschsprachige Rezeption zu verdanken (vgl. Figueras 2003b und 2005, Buschmann 2003b). Seine Freundschaft mit Max Aub beschreibt er eindringlich in Siebenmann (2007). – Juego liegt in der spanischen Werkausgabe bisher nicht vor, eine deutsche Übersetzung einiger Briefe findet sich in Buschmann (2003a: 45–48); ein Nachdruck erschien erstmals 2010 (Aub 2010). Die Veröffentlichungsgeschichte auf Grundlage der unveröffentlichten Korrespondenz Max Aubs mit Alejandro Finisterre sowie dessen Vorwort zur nicht realisierten Neuauflage in Buchform präsentiert Rodríguez (2003a: 27f.).
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les (1985: 166) und der der Neuauflage (2010). Auch Aub selbst spricht in einem unveröffentlichten Vorwort zu einer geplanten zweiten Auflage von 108 Karten (vgl. Rodríguez 2003a: 27). Erklären kann man diese Abweichungen mit Verlusten oder Falschzählungen, doch ist die Hypothese nicht auszuschließen, dass Max Aub, «muy aficionado a bromas y mistificaciones» (Santiañez-Tió 1998: 188), absichtlich Sätze mit zwei, andere mit vier Jokern in Umlauf gebracht haben könnte. Wie wir sehen werden, ändert die absolute Zahl an Spiel- und Textkarten (104 oder 108?) nichts an den Schlüssen unserer Untersuchung, die auf der vollständigen Originalausgabe und einem Abgleich mit den Reprint von 2010 basiert. Betrachten wir nun den (Ikono-) Text. Juego de cartas ist einerseits schlicht eine Schachtel mit 108 überdimensionierten Spielkarten im Format 17 x 11 cm, die zwei vollständige Kartensätze à 52 Karten plus je zwei Joker enthält, der eine Kartensatz in roter, der andere in blauer Farbe abgesetzt. Auf jeder Karte sind die spanischen wie die französischen Spielkartenwerte symbolisiert, allein die Joker, die der spanische Kartensatz nicht kennt, tragen nur französische Symbolwerte. Die Graphik der Kartensymbole stammt de facto von Max Aub selbst, auch wenn auf der Schachtel Jusep Torres Campalans für die «dibujos» verantwortlich zeichnet, jener fiktive Maler aus Aubs gleichnamigem Roman [ĸ Kap. II]. Trennt man die blauen und roten Kartensätze voneinander, kann man mit ihnen nach Belieben Poker, Bridge, Canasta etc. spielen. Auf der Rückseite der Spielkarten befinden sich, von blauer oder roter Bordüre gerahmt, kurze Briefe (manche bestehen nur aus einem Satz), die der Frage nach der Identität und dem Tod Máximo Ballesteros nachgehen. Die «Reglas del juego», wie mit den Karten zu verfahren sei, finden sich auf der Kartenschachtel: Reglas del juego Se baraja, corta, reparte una carta a cada persona que toma parte en el juego. La primera, a la derecha del que dio, lee su texto, luego, el siguiente, hasta el último. Después, el primero saca una carta del monte formado por las que quedaron, la lee, y así los demás sucesivamente, hasta acabar con los naipes. Puede variarse el juego dando, desde el principio, dos o tres cartas, a gusto de los jugadores, con la seguridad de que el resultado será siempre diferente. Es juego de entretenimiento; las apuestas no son de rigor. Permite, además, toda clase de solitarios. Gana el que adivine quién fue Máximo Ballesteros.
Inhaltlich und stilistisch ist die Variationsbreite der Textfragmente sehr groß, was intradiegetisch dadurch zu erklären ist, dass wir es mit 104 verschiedenen Absendern zu tun haben. Mal bestehen die Texte aus einem kurzen Satz, mal aus zwei Absätzen mit bis zu 700 Zeichen; alle Fragmente zusammen ergeben nicht mehr als 30 Seiten Buchtext. Die Sprache ist mal formal (wenn die Witwe von Máximo Ballesteros an den Chef des Verstorbenen schreibt), mal orthographisch fehlerhaft (wenn die alte Hausangestellte kondoliert), mal vulgär (wenn sich von Máximo gehörnte Ehemänner gegenseitig beschimpfen), mal voller Mexikanismen, mal schulspanisch korrekt, so dass in der Summe eine große «variedad social, espacial e incluso sexual» (Valcárcel 1996a: 276f.) erfasst ist. Der 153
stilistischen Variabilität entspricht die inhaltliche Multiperspektivik. Máximos Zahnarzt Rosendo schreibt an Próspero: «Era cobarde. Te lo puedo asegurar porque, como sabes, fui su dentista. Tenía pánico del dolor físico. […] Parece mentira en hombre tan entero.» Zahlreiche Frauen erinnern sich an die amourösen Beziehungen zu ihm, wobei die einen ihn über den grünen Klee loben («Era buenísimo», Amada an Dominga), andere ihn verabscheuen («Era un perfecto sinvergüenza», Luisa an Rosario). Häufig betonen die Absender, nichts Genaues über ihn sagen zu können: «Máximo no era hombre fácil de descifrar», Luis an Enrique; «Hablando tanto era un ser secreto. ¿Quién supo como fue?», Miguel an Hugo; «¿Cómo era él? ¿Quién lo sabe? ¿Tu? Pues atente a ello, cada quien con su verdad», Ruth an Alexandra. Für die Gründe seines Todes werden im Wesentlichen zwei Hypothesen verfochten, nämlich Selbstmord oder Mord, von den Absendern jeweils triftig begründet.3 Offensichtlich ist Juego de cartas ein in radikalisierter Form offener Text im Sinne Umberto Ecos (vgl. Eco 1977). Indem er auf die tradierte Form der Buchbindung verzichtet, verabschiedet er das Prinzip der Linearität und legt die Autorität über die jeweilige Abfolge der Sequenzen in die Hand des Rezipienten; Eberenz (1998: 76) und Rodríguez (2003a: 28f.) sehen in ihm wegen der Wahlmöglichkeiten des Lesers sogar einen prä-elektronischen Hypertext. Um diese Fragen nach der Offenheit und der möglichen Hypertextualität sowie die etwaigen Bezüge zu Grundgedanken der Avantgarden genauer betrachten zu können, möchte ich Juego de cartas in zwei getrennten Operationen analysieren, die ich die möglichen Lesarten und die wahrscheinlichen Lesarten nenne. Es liegt auf der Hand, dass das theoretisch vorhandene Potenzial, auf der physischen Textoberfläche4 verschiedene Abfolgen der Sequenzen zu generieren, enorm groß ist, so groß, dass es mathematisch kaum noch darstellbar ist. Die Frage, die sich an die Betrachtung der sich daraus ergebenden (mathematisch) möglichen discours anschließt, zielt darauf ab, ob dieser Menge eine ähnlich große an histoires entspricht. Ebenso klar ist aber auch, dass der empirische Leser niemals alle möglichen Lesarten wird nachvollziehen können. Schon Raymond Queneau rechnete im Vorwort seiner Cent mille milliards de poèmes (Paris 1961) vor, dass bei seinen 10 hoch 14, also einhunderttausend Milliarden möglichen Sonetten, ein Menschenleben nicht ausreicht, um alle möglichen Kombinationen zu lesen und das Potenzial seines Buches nur annähernd auszuschöpfen. Bei knapp gerechneten 45 Sekunden pro möglichem Gedicht bräuchte man, selbst wenn man rund um die Uhr läse, nämlich 190 Millionen 258.751 Jahre, um alle möglichen Kombinationen zu rezipieren. Ähnlich liegt der Fall bei Juego de cartas. Wegen der evidenten Unmöglichkeit, die möglichen Lektüreangebote faktisch auszuschöpfen, werde ich in einem zweiten Untersuchungsschritt auch die beiden
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Die Belege für die eine wie die andere Lesart, die zu den beiden sich gegenseitig ausschließenden Hypothesen über Máximos Ableben führen, listet Valcárcel (1996a: 271f.) auf. Zum Begriff der «technischen Textoberfläche» vgl. Hinz (2006: 123ff.).
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wahrscheinlichen Lesarten betrachten, zum einen den Fall, bei dem sich der Leser allein (ohne Spielpartner) alle Spielkarten vornimmt und versucht, sie in eine für ihn logische Reihenfolge zu bringen, sie also wie eine Art Puzzle anordnet, zum andern den, in dem er nach der Lektüre der «Reglas del juego» die Karten nicht unbedingt vollständig liest. Gewährsmann für diese zweite wahrscheinliche Lesart ist Umberto Eco, der sich im Zusammenhang mit einem ähnlichen Text aus den sechziger Jahren, Marc Saportas Composition Nr. 1, mit der Frage wahrscheinlicher Lesarten beschäftig hat.
Die möglichen Lesarten Textlogik und Bildlogik Nach den im Paratext formulierten Spielregeln bzw. Lektüreanweisungen ist Juego de cartas darauf angelegt, sich als Textoberfläche nach aleatorischen Prinzipien zu generieren. Betrachten wir die verschiedenen Spielvarianten zunächst mathematisch: Bei vier Spielern ergeben sich, wenn immer alle Karten verteilt werden, Kartenstapel à 27 Karten, wobei 27 Fakultät verschiedene Kombinationen und Anordnungen der Stapel möglich sind; in Worten sind das 10 hoch 28 Varianten, über eine Million Trilliarden, und eine Trilliarde ist eine Eins mit 21 Nullen. Bei drei Spielern und immer komplett verteiltem Kartensatz ergeben sich 36 Fakultät verschiedene Kartenstapel, also drei mal zehn hoch einundvierzig oder eine Trilliarde Trilliarden Variationen. Die Möglichkeit, zwischen drei oder vier Spielern nicht die maximal mögliche Zahl von Karten, sondern nur einige auszuteilen (die Aub ja auch vorschlägt), ist in dieser Rechnung noch nicht berücksichtigt. Die ebenfalls explizit vorgeschlagene Variante, dass ein Spieler mit allen 108 Karten spielt, ergibt 108 Fakultät verschiedene Anordnungen der Textfragmente. Diese schier unvorstellbare Zahl unterschiedlicher linearer Textoberflächen ergibt aber keineswegs ebenso viele histoires. Der Einfachheit halber soll dies anhand von vier kurzen Briefen auf der Rückseite der Joker erläutert werden. Der Text auf der ersten Joker-Karte lautet: «Clo: Valía por todos. Rita.» Karte 2: «Justinita: No había nadie. Catalina.» Karte 3: «Querida Marcela: Fue por casualidad. Jacinta.» Karte 4: «Cuca: No teníamos otra cosa que hacer. Beatriz.» Mathematisch ergeben sich 4 Fakultät = 24 Kombinationsmöglichkeiten, die 24 discours bilden, aber mitnichten 24 histoires generieren. Denn die Reihenfolge der Sequenzen ist für den Fortgang oder die Lösung der ersten Leitfrage des Textes (wer ist Máximo Ballesteros?) nicht von Bedeutung. Die für die weitere Analyse essenzielle Feststellung, dass die Reihenfolge der Textfragmente für die Semiose wenig relevant ist, gilt nicht nur im Fall dieser vier Joker-Briefe, sondern auch für viele andere. Das hängt damit zusammen, dass die Sequenzen als in sich semantisch geschlossene Textblöcke konzipiert sind, deren Ränder formal zu möglichst vielen anderen Briefen anschlussfähig sein sollen. Deshalb sind die Kurztexte vor allem am Anfang und am Ende homolog konstruiert: Alle beginnen und enden gleichermaßen mit Eigennamen, mit der Anrede an den 155
Adressaten und der Unterschrift des Absenders. Weil nun die Sequenzen formal auf Gleichwertigkeit für die jeweilige Gesamtnarration angelegt und nicht hierarchisiert sind, ist ihre Reihenfolge für die jeweilige histoire von nachgeordneter Bedeutung. Nicht nur physisch auf der Ebene der Textoberfläche hebt Juego das Prinzip der Linearität auf, auch semantisch wird es ausgehebelt. Denn egal bei welcher der vielen Milliarden Kombinationen, die der Text annehmen kann – keine favorisiert eine bestimmte Lösung der Spielfrage, wer denn jener Máximo gewesen sei. Folgt man dem in den «Reglas del juego» festgehaltenen Programm, gibt es keine übergeordnete semantische Hierarchie der Textabfolge und der sich aus ihnen ergebenden Lesarten, sondern nur die der zufälligen Kartenmischung. Es gibt auch keine Spielstrategie, die einen Spieler gegenüber einem anderen dem Ziel der logisch schlüssigen Vollendung der Semiose näher brächte. Die Logik des Zufalls verhindert die pragmatische Anwendung rationaler Logik, d.h. einer argumentativ gestützten Semiose, weshalb der Leser allein auf seine Ahnung und aufs Raten zurückverwiesen wird: «Gana el que adivine quién fue Máximo Ballesteros,» heißt es dazu in den Spielregeln. Der Sieger soll auf Grundlage der Lektüre der Kurztexte offenbar nicht argumentieren, sondern raten («adivinar»). Grundsätzlich bestehen zwei Möglichkeiten, mit den Spielkarten umzugehen: einmal entsprechend der Textlogik und ihren explizit formulierten Spielregeln, die damit den Status eines textgenerierenden Programmtextes5 bekommen, oder entsprechend der Bildlogik der Spielkarten, entsprechend jenem Hinweis in den «Reglas del juego», wo es heißt: «[...] es juego de entretenimiento.» Im ersten Fall regelt allein das Mischen und Verteilen die Anordnung der Karten, während der Ikonotext ausgeblendet bleibt und der Spieler/Leser anschließend für seine zufallsgenerierte Lektüre ‹die Karten in der Hand› hat. Im zweiten Fall ist es möglich, sich von Aubs Text-Logik zu lösen und Poker, Mau-Mau, Canasta oder ein beliebiges anderes Kartenspiel zu beginnen, wobei sich entsprechend den Regeln des jeweiligen Kartenspiels und des Symbolwerts der Spielkarten hierarchisierte Kombinationen ergeben. Am Ende des Kartenspiels entsprechend der Textlogik ergab sich eine Abfolge der Karten, die «independientemente de la lógica racional» (Santiañez-Tió 1998: 191) zu einer unüberschaubar großen Zahl von Textoberflächen führte. Nach der Logik des Ikonotextes (nach den Regeln eines beliebigen Kartenspiels) hingegen gewinnt, wer die je nach Spielregel höchsten Kartenwerte akkumuliert. Die so kombinierten Karten sind folglich das Resultat einer pikturalen Logik und nicht allein des Zufalls. In diesem Fall
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Die paratextuelle Anweisung, wie mit den Spielkarten zu verfahren ist, kann analog zu den HTML- oder Java-Programmierungen für Hypertexte verstanden werden, die den Zugang zur Textoberfläche technisch vorstrukturieren. Sie sind es, die den vermeintlich allein durch die «user function» bedingten Zugang zum Text steuern; vgl. die Erläuterungen zum Begriff «Access» in Aarseth (1997). – Hinz (2006: 121) bezeichnet die Leseanleitung für Marc Saportas Composition Nr. 1 ebenfalls als «Programm» (s. unten).
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steuert der Ikonotext den Text,6 die Kartenwerte die jeweils mögliche Semiose des Spielers. Doch die Hoffnung, nun dem Spiel Max Aubs mit seinem Leser auf die Spur gekommen zu sein und eine versteckte zweite Logik entdeckt zu haben, wird im gleichen Atemzug befriedigt und enttäuscht. Das ergibt sich aus dem Blick auf die vier Joker, die nach pikturaler Logik an der Spitze in der Hierarchie der Kartenwerte stehen: Clo: Valía por todos. Rita. Justinita: No había nadie. Catalina. Querida Marcela: Fue por casualidad. Jacinta. Cuca: No teníamos otra cosa que hacer. Beatriz.
Diese Texte auf der Rückseite der Joker sind in der Tat besonders, insofern sie formal die mit Abstand kürzesten in Juego sind. Semantisch aber tragen sie in ihrer betont enigmatischen Verknappung besonders wenig zur Auflösung des Rätsels bei. Im Gegenteil, sie unterstreichen das Rätselhafte der Suche nach Máximos Identität. Die Joker mit ihren vier knappen, alles oder nichts sagenden Sätzen sind nur insofern eine Lösung, als sie in kürzester Form das formulieren und betonen, was sich als Resultat der hypothetischen Lektüre der anderen 104 Karten ergeben hatte: dass es keine explizite Antwort auf die Ausgangsfrage nach Máximos Identität gibt. Juego de cartas ermöglicht also zwei literarische Spiele in einem: eines nach dem Zufallsprinzip, je nach dem, in welcher Reihenfolge die Karten zum (Vor-) Lesen ausgegeben werden, ein anderes nach der Bildlogik eines frei wählbaren Kartenspiels. Beide Varianten führen jedoch zum gleichen Ergebnis, nämlich dass wir nicht verstehen, wer Máximo Ballesteros war. Eine rational begründbare Antwort auf die Leitfrage ergibt sich aus den Spielanordnungen nicht. Die Form des Textes, egal wie man sie handhabt, unterstreicht immer wieder die Erkenntnis, zu der auch Gerarda in ihrem Brief an Lea gekommen war: «Los hombres son un puzzle. Un juego difícil de componer – y más de recomponer – porque siempre nos los entregan hechos polvo.» Dopplung und Multiplikation Das bis hierher beschriebene Textbild wäre nichts weiter als ein literarisches Kuriosum, wenn diese Form nicht Ausdruck signifikanter Elemente der Erzählung wäre. Im Fall von Juego sind dies die (antonymische) Doppelung sowie die Multiplikation, die auf der Ebene der Textgenerierung ebenso festzustellen sind wie auf der histoire-Ebene. Zunächst zur Textgestalt: Schon Ignacio Soldevila hat darauf hingewiesen, dass Juego de cartas ein doppeltes Kartenspiel ist, einfach
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Der Genauigkeit halber muss man einräumen, dass der Ikonotext der Kartensymbole verknüpft ist mit einem außerliterarisch festgelegten Programm, nämlich den als Text formulierten Spielregeln des jeweiligen Kartenspiels.
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weil es sich aus zwei kompletten Kartensätzen zusammensetzt (vgl. Soldevila 1973: 158). Zudem sind beide Begriffe des Titels doppeldeutig: «Juego» meint sowohl «Spiel» als auch «Kombination von zueinander passenden Elementen»; «carta» bedeutet sowohl «Spielkarte» als auch «Brief, Schreiben, Dokument»; um beide Bedeutungsebenen abzubilden, bietet sich für Juego de cartas die Übersetzung «PostKartenspiel» an (vgl. Buschmann 2003a: 45). Doch nicht nur der Kartensatz ist doppelt, auch in sich hat jede Bildseite einer Spielkarte ein doppeltes Gesicht, weil auf jeder die Symbolik der französischen und der spanischen Spielkartentradition nebeneinander abgebildet ist (vgl. Santiañez-Tió 1998: 189). Doch damit nicht genug. Auf dem Titelblatt des Textes (wenn wir die Vorderseite der Kartenschachtel als solches sehen wollen) sind zwei Namen zu lesen, «Max Aub» vor dem Titel Juego de cartas, sowie hinter dem Wort «Dibujo»: «Jusep Torres Campalans». Da wir aber wissen, dass Jusep Torres Campalans eine der «Masken des Autors» (Xelo Candel Vila 2003) ist, sehen wir ihn hier als gedoppelten Urheber in zweifacher Funktion als Maler und als Schreibenden. Zudem finden wir den empirischen Autor Aub zumindest in halbierter Form auch noch auf der Figurenebene gedoppelt, insofern der Vorname «MAXimo» der Figur des verstorbenen Herrn Ballesteros seinen Vornamen «Max» enthält. Diesen Doppelungen entsprechen auf der histoire-Ebene all jene «cartas», die, ohne explizit aufeinander bezogen zu sein, den Leser durch ihre Aussagen über Máximo Ballesteros zu ‹entweder/oder›-Schlüssen zwingen. Wenn beispielsweise ein Briefautor Máximos Homosexualität als selbstverständlich gegeben erwähnt, andere ihn als «mujeriego» loben (oder tadeln), wenn einer ihn als Inbild des tüchtigen Geschäftsmanns preist, ein anderer ihn als geborenen Staatsbeamten darstellt, oder wenn jemand ihn als typischen Waisen beschreibt, während in einem anderen Fragment «su madre» sich über ihren Sohn äußert. Diese antonymische Erzählung von Máximo Ballesteros kulminiert in folgendem Brief, der die landläufige Vorstellung von einem integralen, kohärenten und folglich verstehbaren Charakter in einem Atemzug stilistisch suggeriert und semantisch verneint: Manuela, encanto: Máximo fue inteligente y tonto, sensible e insensible, agradable y desagradable, silencioso y parlanchín, dulce y agrio, tibio y duro, tranquilo y desasosegado, apacible, alegre y de mala luna, divertido y fastidioso, confiado y desconfiado, ardiente e indiferente, humilde y orgulloso, compasivo y cruel, respetuoso y despreciativo, elegante y ridículo según las horas, los minutos o los segundos y el humor con que se soporta a los demás. Servida por tu segura servidora Felisa
Das Prinzip der antonymischen Beschreibung Máximo Ballesteros kommt in dieser Aufzählung sich ausschließender Eigenschaften besonders gut zum Ausdruck. Zugleich fällt hier die Subjektivität der Briefautoren besonders ins Auge. Wären Felisa und die anderen Zeitgenossen der Verstorbenen objektiv (könnten sie objektiv sein), müsste sich ja im Verlauf der Lektüre eine halbwegs kohärente 158
Schnittmenge von Charaktereigenschaften der Figur Máximos herauskristallisieren. Doch so wenig Máximo als charakterlich eindeutig definierbares Individuum existiert, so wenig scheint in seinem Umfeld Konsens darüber zu bestehen, was das überhaupt ist, ein charakterlich definierbares Individuum? Stattdessen fächert sich rein additiv das Panorama von gut 100 Stellungnahmen auf, und so vielfältig die Herangehensweise derer ist, die über ihn sprechen, so vielfältig sind die Bilder Máximos. In gleicher Weise, in der die initiale Generierung der Textoberfläche von der mechanischen Abfolge individueller Aktionen der Spieler/ Leser abhängt (dem längeren oder kürzeren Mischen und Aufdecken der Karten, der Entscheidung zwischen Text- oder Bildlogik, dem hermeneutischen Umgang mit den Textfragmenten etc.), mithin von einer Serie individueller Entscheidungen, betont die zitierte Textstelle (wie zahlreiche andere) die Abhängigkeit des Bildes von Máximo Ballesteros von der Wahrnehmung der jeweiligen Subjekte.7 Es stimmt also nicht ganz, wenn Gerarda in einem der Briefe schreibt «[que] los hombres son un puzzle. Un juego difícil de componer». Wenn die Menschen ein schwierig zusammenzusetzendes Puzzle wären, könnte man ja, wenn auch nur mit viel Geduld und nach langer Suche, die zueinander passenden Teile zu einem fertigen Puzzlebild zusammensetzen. Juego zeigt aber gerade, dass dieses Bild vom Puzzle8 als kohärente Komposition zunächst disparat wirkender Teile, die schließlich in einem Sinnzusammenhang aufgehen, nicht möglich ist, und zwar gerade weil so viele Mitmenschen an dem Bild der Figur mitmalen. Einer der Briefe hebt genau auf diese semantische Offenheit ab, zu der es aufgrund der Multiplikation der Fremdbilder kommt: ¿Porqué te empeñas en saber cómo son –o eran– los demás? ¿Qué te importa? Sin contar lo imposible. Puedes figurártelo, pero siempre entrará la apreciación tanto de ti como de los otros. En estos menesteres uno se equivoca constantemente. Por eso gustan las novelas: nos dan héroes de papel, hechos de una vez, en los que se toma parte de verdad. Igual sucede en el teatro: se guardan las distancias. Nadie sabe cómo es conocido, si me permites el juego de palabras. Máximo no fue excepción, nadie lo es. [José an Arturo]
Beide Blickrichtungen werden hier bedacht, denn weder könne man einen anderen Menschen objektiv erkennen, noch selbst wissen, wie einen die anderen sehen. Aufschlussreich ist der Hinweis Josés auf den «héroe de papel» realistischer Romane, der wegen des identifizierbaren und einmal gegebenen Charakters der jeweiligen Hauptfigur so beliebt sei, und auf das Theater, bei dem immer eine Distanz zwischen Betrachter und Figur bleibe. Das ist es, was laut José die Lite-
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Insofern setzt Juego für die Literatur eine der Forderungen um, die der Kubist Jusep Torres Campalans der Malerei der Avantgarde aufgetragen hatte, nämlich den Zuschauer zum «Mitarbeiter» am Kunstwerk zu machen: «En la pintura se da todo hecho. Se daba todo hecho. Nosotros vamos a ir un poco más allá: que trabajen también los mirones.» (Campalans 213) Das Puzzle als Leitmetapher für die (unerfüllte) Hoffnung auf integrale Wahrnehmung der Wirklichkeit findet sich beispielsweise auch in George Perecs Roman La vie – mode d’employ (1978). Zu den Bezügen zwischen Max Aub und dem Ouvroir de Littérature Potentielle s. unten.
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ratur vom Leben unterscheidet: In der Welt der Fiktion gebe es eindeutige und zur Identifikation einladende Charaktere sowie die Möglichkeit, Distanz zu wahren. Die Lektüre dieses Fragments als poetologische Aussage, d.h. die Betrachtung von Máximo als héroe de papel y del juego, zeigt, dass Juego de cartas gerade nicht nur Literatur (nach Josés traditionellem Verständnis) ist, sondern darüber hinaus eine metaliterarische Versuchsanordnung über die Produktion von Literatur unter Mitwirkung des Lesers. Durch die Anlage als Spiel wird der Leser/ Spieler zum Teil der Textproduktion, kann also nicht auf Distanz bleiben, wobei zudem auffällt, dass keine Figur neutral oder gar distanziert über Máximo schreibt, sondern immer emotional eingebunden (dazu mehr weiter unten). Und durch die Vielzahl an antagonistischen Erzählungen entsteht eben kein kohärentes Bild eines traditionellen «héroe de papel». Mögliche Identitäten: Viele Blicke ergeben kein Bild Bei der Analyse der programmatischen Vorworte zu den biographischen Romanen Jusep Torres Campalans und Buñuel. Novela wurde herausgearbeitet, dass für Max Aub gerade die Vervielfachung der Perspektiven der einzige Weg ist, um eine Figur literarisch adäquat zu beschreiben. Markiert die Konstruktion von Juego hierzu eine Gegenposition? Nein, denn auch in jenen (Auto-) Biographien der Avantgarden wurden sich widersprechende oder sich ausschließende Aussagen über die Hauptfigur der Diegese zugelassen, wurde explizit benannt, dass auch Multiperspektivik kein Garant für ein vollständiges und wirklichkeitsgetreues Abbild der Person ist. Im Vorwort zu Buñuel etwa finden sich Sätze, die wie eine Blaupause zu Juego klingen: «Porque si nadie sabe cómo es uno, menos los demás. Tal vez, sin embargo, confrontando testimonios de lo que creen los otros, podamos aproximarnos al ‹dibujo› de quien sea […]» (Buñuel 16) Aus diesen Überlegungen heraus wurde Buñuel, entstanden nach Juego, aus Dutzenden von Blicken auf Luis Buñuel komponiert, während Jusep Torres Campalans, entstanden vor Juego, in seinem Motto noch vier Perspektiven als angemessen empfahl. Wobei anders als in Juego, wo keines der Puzzleteilchen zum anderen passen will, in diesen beiden Romanen immerhin ein heteroreferenziell anschlussfähiges «dibujo» der Figuren entsteht, obwohl das grundsätzliche Problem der Erkenntnis des Anderen bereits explizit angesprochen wird; so etwa im Vorwort des Herausgebers der Malerbiographie: «¿Qué sabemos con precisión de otro, a menos de convertirle en personaje propio?» (Campalans 15) Bei Campalans lag der besondere Reiz darin, dass der Leser gelockt wurde, sich den katalanischen Maler gemäß den Rezeptionsmustern realistischer Literatur, wie José sie in Juego skizziert, als Figur anzueignen; die Verlockung wurde durch das außerliterarische Spiel im Campalans-Komplex erhöht, während die logischen Widersprüche eher versteckt lagen. In Juego hingegen wird die Vervielfältigung der Perspektiven auf die Spitze getrieben, und die evidenten logischen Widersprüche zwischen denselben machen es dem Leser unmöglich, sich Máximo als «personaje propio» anzueignen. Während aber in Campalans und Buñuel die Multiperspektivik, und sei es mit Einschränkungen, als einzig möglicher Weg angeboten wird, erscheint 160
sie in Juego als Bedrohung, insofern die Figur Máximos hinter der Vielzahl der Blicke beinahe verschwindet. Die Festlegung des Subjekts durch die sich multiplizierenden Fremdbilder wird demnach in dem Augenblick zur Gefahr für das Subjekt, wenn sie sich über ein gewisses Maß hinaus vervielfältigen. Diese in Juego zum Ausdruck kommende Relativierung der in früheren Werken (Campalans) wie in späteren (Buñuel) verfochtenen Multiperspektivik deutet Juan Rodríguez als Reaktion des Autors auf den Ruhm und die breitere Bekanntheit, die dieser seit der Veröffentlichung von Jusep Torres Campalans und der Übersetzungen der Künstler-Biographie ins Englische und Französische erlangt hatte (vgl. Rodríguez 2003a: 30). Aub habe gefürchtet, als Subjekt hinter der Fremdwahrnehmung als Figur des öffentlichen Interesses zu verschwinden und nur noch «ein Teil seiner selbst» sein zu können, wie er am 4.8.1960 im Tagebuch schreibt: ¿Es uno autor de una o dos obras o de toda su obra? No es pregunta absurda. ¿Me conoce uno de otro? Aun conociéndole «a fondo», una parte. Si uno está llamado a ser lo que de uno conocen –no saben– los otros, está condenado a no ser más que una parte –cualquier parte– de sí mismo. No conozco a Tolstoi sino esto o lo otro, no conozco a Cervantes sino esto o lo otro. Nadie me conocerá, sino esto o lo otro. (Nuevos Diarios 220)
Dieser Gedanke, als erfolgreicher Schriftsteller gewissermaßen nur portioniert begriffen zu werden, findet sich in Juego, übertragen in die Welt der Porträtmalerei, im folgenden Brief formuliert: Mira, hija, uno es como es para sí, no como parece a los demás. Tú no puedes ser para otro, eres lo que se figuran que eres, con mayor o menor conocimiento de causa. Desde el primer día te retratan y a unos apareces según Memling o Durero, a otros según Velázquez o Rubens, a alguno le aparecerás retratada por Cézanne o Picasso. Ninguno eres tú. A lo sumo dirán: ¡qué parecido! [R. an Rufina]
Es ist gerade der Gegensatz zwischen Sein und Ähnlichkeit, zwischen Wissen und Ahnen, der in Juego (in den Worten «ser» vs. «parecido») wie im Tagebuch (mit den Worten «conocen –no saben–») hervorgehoben wird. Gerade die Spannung zwischen Wissen und Ahnen hatte sich als Schlüssel zum Verständnis der Spielregeln von Juego erwiesen, nach deren Vorgabe eben nicht derjenige gewinnt, der nach der Lektüre mehr weiß, vielmehr derjenige, der «adivina quien fue Máximo Ballesteros». Wer Máximo Ballesteros ist, bestimmt also nicht er selbst,9 sondern
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Zudem erinnert sich einer der Absender im Wortlaut daran, wie Máximo selbst einmal die Unmöglichkeit benannt hatte, sich oder andere zu (er)kennen: «Querido Salvador: Tras una noche de mucho beber me dijo, más o menos. ‹No es verdad que sepamos que no sabemos, tal vez es lo único que ignoramos. Sólo el que ignora es feliz, solo. Del infeliz dicen: es como lo hizo Dios. ¿Cómo te hizo, como me hizo? Siempre se es ajeno. ¿Quién ve los adentros? Siempre se interpreta basándose en la ignorancia.›» [Emilio an Salvador] Bezeichnenderweise wird der Gehalt dieser Worte durch den Hinweis relativiert, dass Máximo sie im Zustand der Trunkenheit vorgebracht habe und Emilio sich nur ungefähr an den Wortlaut erinnere («me dijo, más o menos»).
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die 108 untereinander und manchmal in sich widersprüchlichen Texte, die jene gut 100 Zeitgenossen über ihn schreiben.10 So fragil die Textoberfläche von Juego ist – eine vertauschte Karte ändert den discours – so unsicher ist die Aussagekraft der Briefe, die über Máximo Ballesteros geschrieben werden. Diese ergibt sich nicht nur dadurch, dass sie sich untereinander widersprechen, ihre referenzielle Relevanz wird explizit dadurch unterlaufen, dass einige der Briefautoren offen ihre Absicht kundtun zu lügen: [...] ¿qué renconcomio le ha entrado a Manuela de querer [...] reunir testimonios acerca de Máximo? [...] Como comprenderás, le voy a contar mentiras preciosas. ¿Quién no? [Cecilia an Pepita]
Einmal auf das Problem der Glaubwürdigkeit der Aussagen hingewiesen fällt zudem auf, dass kaum ein Autor sich neutral zu Máximo äußert, sondern entweder emphatisch positiv (die Gattin, Freunde, die Mutter sowie glücklich erinnernde Geliebte) oder negativ (Feinde, Ex-Geliebte). Die Aussagen über ihn sind nicht nur widersprüchlich und möglicherweise bewusst unwahr, sondern auch von den Emotionen der Schreibenden geprägt. Kommen wir noch einmal zu dem zweiten ins Auge springenden Element des Textes zurück, dem der Multiplikation, das auf der konstruktiven Ebene evident ist und auf der der erzählten Geschichte(n) auffällig präsent. Der Multiplikation der verschiedenen Textoberflächen entspricht die Vielzahl der Autoren, die sich über Máximo äußern bzw. die Empfänger der kurzen Billets sind. Immerhin haben wir es mit 98 Briefautoren zu tun sowie mit 104 Adressaten.11 Wo der klassische Briefroman Authentizität und referenzialisierbare Individualität erzeugt, indem er wenige Briefautoren und Adressaten miteinander und aufeinander Bezug nehmend kommunizieren lässt, unterläuft Juego dieses Prinzip. Hier fallen 202 Namensnennungen, und diese große Zahl an Briefautoren schreibt, ohne wechselseitig aufeinander Bezug zu nehmen, ohne aufeinander zu antworten oder auf gemeinsames Vorwissen zurückzugreifen, vor allem aneinander vorbei. Die Folge dieser Multiplikation der Absender und Adressaten ist, dass eine funktionierende Kommunikation in demonstrativer Weise nicht erfolgt. Wieder erkennen wir das Motiv der fehlschlagenden Kommunikation, das bereits in Max Aubs frühem Theater in Szene gesetzt wurde [ĸ Kap. I].
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Für Max Aub selbst war das, was faktisch falsche oder in sich widersprüchliche Texte mit einem Menschen machen können, nicht nur eine Ahnung (wie sie in dem obigen Zitat mit Blick auf den Erfolg von Campalans zum Ausdruck kommt), sondern auch konkrete Erfahrung körperlicher Gewalt. 1940 begann mit dem bewusst falschen Fremdbild eines Denunzianten, der ihn bei der Pariser Polizei als deutschen Juden und Kommunisten anschwärzte, seine Odyssee durch französische Konzentrationslager und Gefängnisse. Mehr noch: Dieser Kurztext über ihn, archiviert in den Akten der Ausländerpolizei, stand bis weit in die fünfziger Jahre einer Einreiseerlaubnis nach Frankreich im Weg [ĺ Kap. V]. Wenn «Doña Carmen Viuda de B.» identisch ist mit «Carmen». Die ausführlichste Beschreibung und mögliche Sortierung der auftretenden Figuren und ihrer Textfragmente findet sich bei Valcárcel (1996a).
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«Gana el que adivine quién fue Máximo Ballesteros.» Am Ende der vielen möglichen Lektüren kann der Leser einzig zu der Erkenntnis gelangen, dass niemand gewinnt, denn aus der Vielzahl der Erklärungen schält sich keine privilegierte heraus. Kein Spieler gewinnt, kein Leser gelangt zu einer kohärenten Semiose, und selbst die Joker betonen nur die Isotopie der Unergründlichkeit und Unerkennbarkeit des Subjekts. Eine andere Lesart ist die, alle Spieler/Leser als Gewinner zu begreifen: Dies ist der Fall, wenn man die sich multiplizierenden Lesarten mit den vielen einander widersprechenden Informationen korreliert, die in der Summe zu einer Art metamimetischem Porträt des Toten zusammenlaufen. Die Figur, die der Autor als halbes alter ego (MAXimo Ballesteros) für tot erklärte, wird durch die Semiose des Lesers reanimiert, nur um ihn zu der Erkenntnis zu führen, dass diese Wiedererweckung niemals vollendet werden kann. Zu dieser Einsicht in die Nicht-Erkennbarkeit führt letztlich jedes Blatt und jede Lektürefolge. Ist Juego de cartas nun ein offenes Kunstwerk, als das es eingangs apostrophiert wurde? Nur auf «paradoxe» Weise (Soldevila 1999a: 134), denn einerseits ist es offen, insofern es theoretisch eine beinahe unbegrenzte Zahl von Texten und sich daraus ergebenden Lesarten generiert, aber andererseits auch nicht, insofern es keinen Text im ursprünglichen Sinne gibt, «puesto que será cada lector el verdadero autor de su Máximo Ballesteros» (Soldevila 1999a: 134). Das von Umberto Eco vorgeschlagene Semioseprinzip der Exklusion lässt sich ebenfalls nicht sinnvoll anwenden: «Auch wenn ein Text potentiell endlos wäre», schrieb Eco in Interpretation and Overinterpretation, «folgte daraus nicht, daß jeder Akt der Interpretation ein ‹happy end› finden muß» (Eco 1994a: 29). Hier wie in seinen Norton Lectures von 1992/1993 modifizierte Eco sein früheres Konzept der unendlichen Semiose von Texten dahingehend, dass es durchaus Argumente gebe, die nahelegen, einzelne Lesarten eindeutig auszuschließen (vgl. Eco 1994b). Bei einem Text wie Juego jedoch ist es nicht möglich, zwischen den 108 Fakultät Lektürelinien und deren Semiose rational begründbar abzuwägen und schlüssig argumentierend Lektüremöglichkeiten auszuschließen. Haptische und visualisierte Sinnproduktion Daraus folgt, dass Juego de cartas nicht nur eine vielfältige Einladung zum Spiel ist, zu sich multiplizierenden Lektüren ohne explizit festzumachende Sinnzuschreibungen; allenfalls implizit kann gefolgert werden, dass gerade diese demonstrative Verweigerung von festen Sinnzuschreibungen als Bedeutung des Textes intendiert sein könnte. Nein, Juego ist kein Text, der Sinn vermittelt, sondern einer, der Sinnproduktion ermöglicht und zugleich sichtbar macht, ein Stück potenzieller Literatur im Sinne der Theorien des Ouvroir de Littérature Potentielle, das in seiner Spiel- und Lektüreanordnung die Herstellung von Sinn tatsächlich physisch greifbar macht (in den Spielkarten) und visualisiert (in Form der Kartenbilder). Juego verfolgt demnach in zweifacher Weise, haptisch wie semantisch, das Ziel, «[de] faire du lecteur, non plus un consommateur, mais un producteur du texte» (Barthes 1979: 10). Weil er seine Produktions- und Rezep163
tionsregeln in Form von Spielkarten darlegbar macht und damit offen darlegt, ist Juego als ein genuin metaliterarischer Text zu verstehen (vgl. Santiañez-Tió 1998: 193), vor allem dort, wo er explizit seine Anlage als durch den Spieler/Leser zu erstellenden Textoberfläche betont: Man denke an die zahlreichen Textstellen, die von der Konstruktion von Figuren (von sinnhaften Figuren) in Literatur und Malerei handeln. Gehen wir noch einen Schritt weiter: Versteht man das leere Zentrum des Textes, die Identität Máximo Ballesteros’, als eine zu erzählende Geschichte, werden all die Mikrotexte über ihn zu Interpretationen dieses Textes über seine Figur und sein Leben: Sekundärliteratur, die sich abarbeitet an einer nicht greifbaren Identität. Nil Santiañez-Tió schreibt: «Máximo Ballesteros es lo que los demás escriben de él.» (1998: 193) Folglich sind die Kurztexte als Lesarten eines Menschen zu begreifen, die den Blick auf ihn mehr verstellen als erhellen. In diesem Sinne ist Juego, ist die Summe von 108 mises en abyme des Interpretierens, nicht nur Metaliteratur, sondern auch Metasekundärliteratur.
Die wahrscheinlichen Lesarten Juego de cartas ist, so lange der Kartenstapel auf dem Tisch liegt und noch nicht an die Spieler/Leser verteilt ist, ein Text, dessen discours nicht gegeben ist, sondern durch die Anordnung der Spielkarten, also auf der Ebene der Textoberfläche, erst hergestellt werden muss. Dies kann entsprechend den Spielregeln erfolgen, aber auch nach eigenem Gutdünken. Anders als die bisherigen Analysen der möglichen Lesarten andeuteten, lassen sich unabhängig von den kaum zählbaren möglichen Anordnungen der Karten (unabhängig von den kaum zählbaren, aber semantisch sehr ähnlichen möglichen discours) mit etwas hermeneutischer Anstrengung durchaus nacherzählbare histoires rekonstruieren. Vergleichbar dem physischen Akt des Mausklicks in einem Hypertext, der potenzielle Textverknüpfungen konkretisiert (und schnell wieder rückgängig macht), lassen sich die Karten nach eigenen Vorgaben in der Ebene arrangieren, zum Beispiel sortiert nach dem Adressat (oder nach dem Geschlecht des Adressaten), nach dem Absender (nach dem Geschlecht des Absenders), nach der Haltung des Absenders gegenüber Máximo Ballesteros (Hass, Abneigung, Indifferenz, Zuneigung, Liebe), nach Oppositionen («er war Waise» / «mein Sohn»; «mujeriego» / «homosexual») etc.. Bei all diesen vom Leser intentional durchgeführten Operationen stößt man auf dasselbe Problem, dass vor allem die große Zahl der Absender und Adressaten die Referenzialisierbarkeit und damit die Konstruktion einer kohärenten histoire behindert: 98 Namen sind es, die als Absender auftauchen, 104 als Adressaten, und diese Figuren haben, außer im Fall der Witwe Carmen, kaum Bezüge untereinander. Durch diese Art der Anordnung entsteht also kein Netz von Bezügen zwischen den Briefschreibern, sondern eine sternförmige Figur, in deren Mitte der (unerklärliche) Máximo Ballesteros steht, gewissermaßen als das schwarze Loch der Semiose. Er ist das Zentrum aller Texte, der Zielpunkt aller Fragen, aber zugleich abwesend, retrospektiv nicht greifbar, als Charakter so wi164
dersprüchlich, dass dessen logische Nachbildung kaum möglich ist. Die histoire zu Juego, zu der man nach einer Weile gelangt, sähe abstrahierend gesprochen ungefähr so aus: Máximo Ballesteros kannte viele Menschen, und jeder nahm ihn anders wahr. Nun ist er tot, und wer er wirklich war und woran er starb, entzieht sich einer logisch fundierten Erklärung.12 Zu dieser Synthetisierung kommt man, das darf nicht vergessen werden, durch (hermeneutische) Intention und regelwidrigen13 Gebrauch des Textes. Aber: Zu diesem (Spiel-) Ergebnis kommt man nach wenigen Stunden, wohingegen die aleatorische Variante entsprechend den Regeln weitaus mehr Zeit erfordert und zum gleichen Fazit führt. So viel zur Legitimation der sogenannten wahrscheinlichen Lesart sowie dieser Art des Textgebrauchs. Vorläufer und Zeitgenossen: Surrealisten, OuLiPo, Borges und Cortázar Um Juego de cartas in einem zweiten Schritt als existenziellen Text interpretieren, ihn als Textspiel, Spieltext und als Schreiben vom Verschwinden lesen zu können, ist es sinnvoll, ihn in drei Schritten zu kontextualisieren. Zunächst möchte ich Vorläufer ähnlicher Form sowie literarische Spielanordnungen aus der Entstehungszeit von Juego betrachten, um anschließend formale und motivische Bezüge innerhalb des Werkes von Max Aub zum umfassenden Verständnis von Juego heranzuziehen. Was den Blick zurück in die Literaturgeschichte der literarischen Kartenspiele betrifft, wird man vor allem im Kontext der französischen Dadaisten und
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Die zu schließenden Leerstellen bei dieser Operation sind natürlich zahlreich, einige Spielkarten bleiben erratisch isoliert. Doch sind die so zu gewinnenden Isotopien immerhin so stark, dass Ignacio Soldevila die Charakterzüge von Máximo Ballesteros kurzerhand als Biographeme Aubs referenzialisiert und ihn mit einem von Aubs alter egos aus dem Laberinto mágico vergleicht: «Por muchos conceptos [M.B.] se asemeja a su creador [...] Otra cosa sería compararlo con algunas de sus criaturas favoritas, acercándolo, por ejemplo, a Julián Templado, con el que presenta gran semejanza.» (Soldevila 1973: 157) Wenn ein professioneller Leser wie Ignacio Soldevila Juego umstandslos biographisch anbindet, kann der Text nicht so ambig sein, wie es bei der anfänglichen Betrachtung der Textoberfläche den Anschein hatte. Die Nicht-Linearität der Textoberfläche generiert also keineswegs einen besonders komplexen und besonders vielfältige hermeneutische Operationen erfordernden Text, sondern vor allem einen nur potenziell vielgestaltigen und quantitativ einschüchternden. Daraus ergibt sich aber keineswegs eine ebensolche histoire, deren Entwicklung durch den Leser, anders als der erste Eindruck suggerieren mag, auch keine größeren Schwierigkeiten entgegenstehen als bei traditionellen Texten. Im Gegenteil: Die histoire eines Ritterromans wie des Tirant lo blanc dürfte schwieriger wiederzugeben sein. Ähnlich argumentiert Manfred Hinz bei seiner Analyse von Marc Saportas Composition Nr. 1 (s. unten), wenn er die vergeblichen interpretatorischen Bemühungen um die Rekonstruktion der histoireEbene bei solchermaßen «offenen» Texten mit der kanonisierter Texte vergleicht: «Wie verliefe denn etwa die histoire von Svevos Coscienza di Zeno (1923) oder von Ariosts Orlando furioso (1516–32)?» (Hinz 2006: 120). Folgt man Daniel Pennacs (1992) anregendem Essay über unser alltägliches Leserverhalten, zeigt sich, dass gerade regelwidrige Lektüren sich als semantisch besonders produktiv erweisen.
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Surrealisten fündig. 1925 veröffentlichte der belgische Lyriker Odilon-Jean Périer unter dem Titel A tous hasards ein Kartenspiel, das zugleich ein auf die 45 Karten verteiltes Gedicht wiedergibt; ein Jahr später antwortete ihm sein Landsmann Paul Nougé, ein Mitarbeiter René Magrittes, mit dem auf 52 Karten angeordneten Gedicht Le Jeu des Mots et du Hasard; es finden sich keine Belege, die dafür sprächen, dass Aub diese beiden wenig bekannten Vorläufer gekannt haben könnte (vgl. Rodríguez 2003a: 28). Dolores Fernández Martínez (1999: 147) verweist im Zuge einer Stilanalyse der von Jusep Torres Campalans gemalten Spielkarten ebenfalls auf die historischen Avantgarden – die Surrealisten hätten zu den Cadavres exquis ebenfalls ein Kartenspiel gemalt. Diejenigen Strömungen jedoch – etwa COBRA (1948–1952) oder die Letristen (1952–1959) (vgl. Rodríguez 2003a: 28) –, die dreißig Jahre später erneut versuchten, in formalen Experimenten Schrift und Bild aus den Konventionen ihrer Bezugssysteme zu lösen und einander anzunähern, waren Aub geläufig – eine Kreation wie Jusep Torres Campalans ist eindringlicher Beleg seiner produktiven Teilhabe an dieser Zeitströmung [ĸ Kap. II]. Zugleich knüpfte er damit an seine typographischen Vorlieben seit den zwanziger Jahren an, denn schon damals war ihm die graphische Gestaltung des Textes, mehr noch, das Zusammenspiel von Text und Bild besonders wichtig gewesen, wie am Beispiel der Erzählung Fábula verde gezeigt wurde [ĸ Kap. I]. Da Max Aub ab den späten fünfziger Jahren wieder regelmäßig nach Frankreich reisen konnte und sich beispielsweise vor der Veröffentlichung der französischen Übersetzung von Jusep Torres Campalans bei Gallimard für längere Zeit in Paris befand, war er über die dortige Literaturszene bestens im Bild (vgl. Malgat 2004). Explizit konzipierte er Juego de cartas als Breitseite gegen den damals neuen Nouveau Roman, wie man in seinem Tagebuch vom 9.5.1962 nachlesen kann: «Para ‹darles en la mera torre› a los del Nouveau Roman escribir Juego de cartas.» (Nuevos Diarios 242) Doch kam ihm gerade ein im Umfeld dieser Strömung entstandener Text formal in die Quere. Gemeint ist Marc Saportas experimentelle Composition Nr. 1 (Paris 1962), über den Aub in der Zeitung las und anschließend schulterzuckend im Tagebuch notierte: Leo hoy en L’Express del 28 [Juni 1962], entre los libros recomendados para las vacaciones: «Composition Nr. 1, por [sic] Marc Saporta. Un roman dont chaque page est autonome et qu’on peut battre comme un jeu de cartes ... » Echa abajo mi Juego de cartas, que escribí hace un par de meses pensando imprimirlo en auténticas barajas para ser regaladas a mis amigos para navidad. Las ideas son del tiempo. (Nuevos Diarios 243)
Saportas Composition Nr. 1 aus losen Blättern, betrachtet als frei kombinierbare Textoberfläche aus 150 Einzelblättern, scheint Aubs Juego auf den ersten Blick sehr ähnlich zu sein. Wie ein Vergleich weiter unten zeigen wird, sind die Unterschiede, vor allem bezüglich der lebensweltlichen Rückbindung des formalen Experiments, jedoch beträchtlich. Neben dem Nouveau Roman (als Antipode) bildet das von Raimond Queneau und François le Lionnais 1960 begründete Ouvroir de Littérature Potentielle (OuLiPo), dem sich bald Autoren wie George Perec, Italo Calvino, Harry Ma166
thews und später Jacques Roubaud anschlossen, einen wichtigen Bezugsrahmen. Zwar hatte Queneau seine Exercices de style, die Beschreibung einer banalen Alltagsszene in 99 verschiedenen Stilebenen bzw. Genres, schon 1947 veröffentlicht, ihre bekanntesten Schlüsseltexte wie die bereits erwähnten Cent mille milliards de poèmes (1961) oder Georges Perecs La disparition (1969) entstanden jedoch in den sechziger Jahren. Der Grundgedanke der Gruppe war, die Sprache und das Schreiben aus unreflektierten Automatismen zu befreien, weshalb «écriture et réécriture» von Texten nach vorab festgelegten formalen Regeln, nach den so genannten «contraintes», erfolgen sollte. Queneau schrieb zehn Sonette gleichen Reimschemas, schnitt das Buch zwischen den 14 Zeilen auf, so dass der Leser jede Zeile einer Position gegen neun andere austauschen konnte. Perecs «contrainte» bestand darin, für seinen Roman auf den im Französischen häufigsten Vokal «e» zu verzichten. Eine für jeden Leser leicht nachzuspielende (ihn selbst in einen Autor verwandelnde) «contrainte» folgt der Formel «S plus 7»: Man nehme eine beliebigen Text, vorzugsweise einen kanonisierten wie die Zehn Gebote oder ein berühmtes Gedicht, und ersetze alle Substantive («S») durch das Wort, das ihm im Wörterbuch an 7. Stelle («plus 7») folgt. Auf diese Weise entstehen Texte, die transparent die Regeln ihres Gemachtwerdens erkennen lassen. Diese Sichtbarkeit stellen die Autoren des OuLiPo – neben der Anstiftung des Lesers zum Mittun – in den Mittelpunkt ihrer kreativen Bemühungen, weil sie die alten, im verborgenen operierenden Regeln der traditionellen Kunst für überholt halten; stattdessen wollen sie neue schaffen und im Text selbst offenlegen. Indem sie also an (vorgefundene) Texte ein Axiom anlegen (im Fall von «S plus 7» oder bei der Multiplizierung des Architexts «Sonett» bei Queneau) bzw. ein Axiom vorschlagen, beteiligen sie den Leser (oder Mitspieler) an der Schaffung des neuen Textes und führen gleichzeitig das Potenzial vorhandener Texte vor Augen (vgl. OuLiPo 1988). Nichts anderes passiert im Spiel mit Aubs Juego de cartas, wenn der Leser/ Spieler aufgefordert ist, entsprechend den Spielregeln, nunmehr verstanden als «contrainte», das Potenzial der Textfragmente auszuschöpfen, angefangen beim Erkennen der vielfältigen Verdoppelungen (des Autors auf dem Karton, der spanischen und französischen Kartenspiele etc.) bis zur Realisierung der Elemente der antonymischen Dopplung oder der Multiplikation. So kann das, was Harry Mathews über das Grundprinzip der ouliposchen Textarbeit schreibt, auch für Juego gelten: «La lecture potentielle a le charme de faire ressortir la duplicité des textes [...].» (OuLiPo 1988: 91) Liest man weiter im Atlas de littérature potentielle (1988), in dem eine Vielzahl an Axiomen vorgestellt wird, findet man schließlich auch eine Art allgemeinen Bauplan für Juego de cartas. Paul Fournel erklärt das Axiom «parcours»: Lorsque’un texte ou un ensemble de textes est décomposé en éléments [...], il est possible de former un nouveau texte [...] utilisant ces éléments dans un ordre défini par une loi mathématique précise [...]. On peut alors laisser au lecteur le choix d’un cheminement, si toutefois le résultat est assuré d’être satisfaisant sur le plan syntaxique, contraintes poétiques genre rimes, nombre de pieds [...] (OuLiPo 1988: 239)
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Der «loi mathématique» bei Fournel entspräche bei Aub das Verteilen der Karten entsprechend den «Reglas del juego» oder, präziser noch, dem Ausspielen der Karten entsprechend den Regeln eines frei zu wählenden Kartenspiels. Die formale Nähe von Max Aubs Juego de cartas zu den vom Ouvroir de Littérature Potentielle zeitgleich formulierten Axiomen ist evident. Doch nicht nur in Europa, auch in Lateinamerika wurden die Grenzen für das Potenzial des Literarischen zu dieser Zeit neu vermessen und die Linearität des Textes aufgebrochen. Die dichtesten literarischen Reflexionen finden sich in den Erzählungen von Jorge Luis Borges, dessen El jardín de los senderos que se bifurcan (1941), nachzulesen in dem Band Ficciones (Buenos Aires 1956), in vielfältiger Weise nachzeichnen, wie man sich als Leser in der Semiose verlieren kann.14 Bezüge zwischen dem Werk Max Aubs und dem von Jorge Luis Borges hinsichtlich der Vorliebe für das Entwerfen fiktiver Biographien waren bereits bei der Analyse von Jusep Torres Campalans und Vida y obra de Luis Álvarez Petreña deutlich geworden [ĸ Kap. II]. Noch enger war Aubs Verbindung zu dem jüngeren Julio Cortázar, dem er in den sechziger Jahren in seiner Eigenschaft als Direktor des Universitätsradios an der Universidad Nacional Gelegenheit zu Auftritten und Veröffentlichungen bot (vgl. Aznar Soler 2003b). Cortázars Rayuela (Buenos Aires 1963) hat Aub also mit Sicherheit gekannt, und wie Juego de cartas ist dem Roman ein Programmtext vorangestellt, genannt «Tablero de dirección», der dem Leser verschiedene Möglichkeiten anbietet, wie er mit den 155 Kapiteln des Buches verfahren könnte. Bereits im ersten Satz findet sich erneut das in Juego auffällige Motiv der Verdoppelung: A su manera este libro es muchos libros, pero sobre todo es dos libros. El lector queda invitado a elegir una de las dos posibilidades siguientes: El primer libro se deja leer de forma corriente, y termina en el capítulo 56, al pie de la cual hay tres vistosas estrellitas que equivalen al la palabra Fin. Por consiguiente, el lector prescindirá sin remordimientos lo que sigue. El segundo libro se deja leer empezando por el capítulo 73 y sigiuendo luego en el orden que se indica al pie de cada capítulo. En caso de confusión u olvido, bastará consultar la lista siguiente: 73 –1 – 2 – 116 – 3 – 84 [...] (Cortázar 1994: o.S.)
Dieser programmatischen Gebrauchsanweisung für die Lektüre folgen dann die Kapitel 1–56 («el primer libro») sowie nach der Überschrift «De otros lados. (Capítulos prescindibles)» die Kapitel 57 bis 155, die für die Lektüre des im Tablero vorgeschlagenen «segundo libro» nötig sind. Im Unterschied zu einem Erzähltext in traditioneller Darbietungsform offeriert Rayuela also explizit zwei discours-Varianten, die eine 56, die andere 155 Kapitel umfassend, aus denen der Leser zwei unterschiedliche histoires rekonstruieren kann. Auf der technischen Textoberfläche bleibt dabei jedoch, anders als in Juego, die Linearität gewahrt.
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Eine Gegenüberstellung zwischen Juego und Borges’ Erzählung findet sich in Santiañez-Tió (1998: 192f.).
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Die Auflösung der Linearität: Zu Beginn dieses Abschnitts wurde das zugleich zielgerichtete und schnell korrigierbare Arrangement der Spielkarten mit dem Mausklick beim Weg durch hypertextgenerierte Texte verglichen. Wenn man sich noch einmal einige der Stichworte der vorangegangenen formalen Analyse vergegenwärtigt – «Kombinatorik», «technische Textoberfläche», «Steuerung über einen Programmtext» – muss man die Hypothese prüfen, ob Juego de cartas nicht nur ein Schlüsseltext für die kreative Weiterführung der Grundgedanken der historischen Avantgarden ist, sondern auch ein Hypertext avant la lettre? Schließlich scheint er jene drei Merkmale aufzuweisen, die Jacob Nielsen in seinem Grundlagenwerk Multimedia and Hypertext. The Internet and Beyond als charakteristisch für Hypertexte nennt: Eine (zunächst unsichtbare und verborgene) zugrunde liegende Datenbank, eine lesbare Oberfläche sowie ein Programm, das zwischen ihnen vermittelt (vgl. Nielsen 1995: 11). Nun ist nach über zwanzig Jahren methodologischer Reflexion über das narratologische Potenzial von Hypertexten im Unterschied zu nicht-elektronischen Texten noch nicht geklärt, welche Betrachtungsmodi und Terminologien sich durchsetzen werden. Erschwerend kommen die technischen Neuerungen hinzu, die die intensiv vorangetriebenen Strukturanalysen von HTML-gestützten Texten durch anders programmierte Verknüpfungen der Textelemente (etwa in Java-Skript) oder durch die Auflösung von Text in Graphik überholt haben. Nebeneinander ist die Rede von «offenen», «virtuellen», «interaktiven», «nichthierarchischen» oder von «nicht-linearen» Texten. «Sogar die brillanten und anregenden Ausführungen von Richard Lanham zielen eher auf eine politische [...] Gegenüberstellung von ‹alt› und ‹neu›, denn auf präzise Analyse.» (Hinz 2006: 119) In diese Richtung argumentiert auch Nielsen, der einräumt, dass die von ihm genannten drei Merkmale von Hypertexten durchaus für solche aus dem Gutenberg-Universum gelten können. Der Blick auf Aub oder Cortázar bestätigt diese Sichtweise: Demnach sind die oben genannten Merkmale grundsätzlich nicht distinktiv. Im Einklang mit diesen Einschränkungen aus dem Bereich der HypertextTheorie bezeichnet Rodríguez (2003a: 29) Juego zwar zwischenzeitlich als Hypertext, weil er die «linearidad del relato» zugunsten einer «red de epistolas» aufhebe, plädiert nachfolgend aber dafür, ihn nicht mit elektronischen Hypertexten heutigen Zuschnitts in eine direkte Reihe zu stellen. Die nötige Mitarbeit des Lesers bei der Semiose erfolge nicht anders als bei jedem anderen «texte scriptible» (Roland Barthes), und das Besondere an Juego sei vielmehr, dass er den Aspekt der nötigen Mitarbeit des Rezipienten betone und Lektüre als kollektiven Akt inszeniere: «Juego de cartas no haría más que poner en evidencia ese proceso, al tiempo que ofrece nuevas posibilidades […] de lectura colectiva.» (Rodríguez 2003a: 29) Im Zusammenhang mit der Spieltheorie wird auf diesen Gedanken der kollektiven Mitarbeit zurückzukommen sein.
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Marc Saportas Composition Nr. 1 Ganz anders liegen die Dinge im Fall der bereits erwähnten und Aub bekannten Composition Nr. 1 von Marc Saporta. Diese «Komposition» von Textfragmenten ist kein gebundenes Buch, sondern ein Karton mit 150 losen Blättern: einem Titelblatt, einem Hinweisblatt, auf dessen Rückseite sich ein Verzeichnis der 17 handelnden Personen befindet, sowie 148 Blättern mit Text. Anders als bei Rayuela fehlt hier die Buchbindung und damit eine linear fixierte Textoberfläche. Wo Cortázar noch eine Lesealternative im Rahmen eines vorab fixierten discours anbot, fordert Saporta in seinem Hinweisblatt zunächst dazu auf, durch Mischung der Blätter eine lineare Abfolge der Sequenzen aus den mehreren 1000 Milliarden möglichen zu erstellen. Wie bei Aubs Juego de cartas sind die einzelnen Textoberflächen in Form von DIN A4-Blättern haptisch greifbar, frei kombinierbar, und allein der Zufall entscheidet, welcher discours sich nach der Mischung der Textoberflächen ergibt. Der Leser kann sich aber auch über diese explizite Leseanweisung hinwegsetzen, die auf dem Hinweisblatt formuliert sind und versuchen, die Textfragmente mit einigen ordnenden Operationen in eine referenziell logische Linearität zu bringen. Reinhold Grimm hat seinerzeit in seiner ausführlichen Rezension des Buches beschrieben, wie sich um die drei Frauengestalten, die in Beziehung standen zu einem Mann namens «X», recht zügig die Stapel nach Situationen und Motiven sortieren (vgl. Grimm 1965: 1174). Zum gleichen Schluss kommt Manfred Hinz, der die histoire von Composition Nr. 1 wie folgt rekonstruiert: [...] ein zentraler Plot ergibt sich mühelos. Es genügt, die Blätter nach Eigennamen zu sortieren, die fast immer in der ersten oder zweiten Zeile angegeben sind, um zu bemerken, daß die Einzelschicksale kausal und chronologisch erzählt sind. [...] Der Protagonist, schon auf dem Waschzettel «X» genannt, kämpft im Krieg in der Résistance, heiratet danach seine Studienfreundin «Marianne», verliebt sich in «Dagmar», hat eine (Vergewaltigungs-?) Affäre mit dem Au-Pair-Mädchen «Helga» aus Köln und stirbt endlich an einem Autounfall. Zwischendurch begeht «X» zwei Diebstähle [...] Der erste Teil des Romans spielt noch an der Universität [...] Der zweite Teil erzählt vom Krieg, abgegrenzt auch stilistisch durch militärisches Vokabular. Der dritte führt dann die Frauenfiguren ein. [...] (Hinz 2006: 121)
Die Nähe zwischen Composition Nr. 1 und Juego de cartas, die Aub verständlicherweise frappierte, ist augenfällig: Beide verzichten auf die Buchbindung, beide bieten ein großes Set an frei beweglichen Textoberflächen, die über ein vorgeschaltetes Programm kombiniert werden sollen, wobei das Mischen der Blätter bzw. der Spielkarten vor der Lektüre die zufällige Abfolge und damit die Variation der Linearität garantiert. Das formale Spezifikum bei Aub ist die ikonotextuelle Doppelung des Textes, wodurch die Möglichkeit entsteht, die Karten nicht nur nach einer Textlogik, sondern auch nach einer Bildlogik zu benutzen und erst danach zu lesen. Ein Blick auf die Kritik zu Composition Nr. 1, die anders als die zu Juego de cartas vor allem bezüglich der Form wenig Ehrfurcht zeigt, ist zum weiteren Verständnis des Aubschen Textes durchaus hilfreich. Reinhold Grimm stachen auf der einen Seite die «Elemente des gehobenen Unterhaltungsromans» ins Au170
ge, auf der anderen die formale Raffinesse der Aleatorik oder der Darstellung der Innenwelt in der Tradition Joyces sowie die intermedialen Bezüge zur seriellen Musik. Saportas Buch ist für ihn ein beeindruckendes «offenes Kunstwerk», aber am Ende befremdet ihn die «ungelöste Diskrepanz zwischen Formalismus und Banalität» (Grimm 1965: 1184). So viel Mühe macht sich Umberto Eco nicht, der Composition Nr. 1, dessen englische Übersetzung 1989 erschienen war, in der englischen Ausgabe von Opera Aperta (Harvard 1989) kurz behandelt. Seine Beurteilung kann zugleich als Legitimation für die gesonderte Betrachtung der zweiten, der wahrscheinlichen Lesart von Juego de cartas zu Beginn dieses Kapitels herangezogen werden, denn Eco liest nur den Programmtext und beschränkt sich anschließend auf das Durchblättern der Textfragmente. Danach glaubt er genug verstanden zu haben: A brief look at the book was enough to tell me what its mechanism was, and what vision of life [...] it proposed, after which I did not feel the slightest desire to read even one of its loose pages, despite the promise to yield a different story every time it was shuffled. To me, the book has exhausted all its possible meanings in the very enunciation of its constructive idea. [...] Its only validity as an artistic event lays in its construction. (Eco 1989: 170)
Ähnlich wie Grimm 25 Jahre zuvor kritisiert Eco die Sterilität der konstruktiven Idee, die, einmal rezipiert und begriffen, kein weiteres Potenzial mehr habe außer der rein mechanischen und semantisch wenig produktiven Generierung von beinahe unendlich vielen Textoberflächen. Es geht an dieser Stelle nicht darum, ob eine unvollständige Lektüre solch ein Urteil rechtfertigt, sondern um die Frage, inwieweit die Beurteilungen von Grimm und Eco implizit für Juego de cartas Geltung beanspruchen können. Immerhin speisen sich, ähnlich wie bei Saportas Text, auch bei Aub die Textfragmente vordergründig «aus dem Repertoire des gehobenen Unterhaltungsromans» (Grimm 1965: 1174), insofern sich alles um Liebe und Mord (oder Selbstmord) dreht. Doch wie wir nun, mit Blick auf weniger bekannte Kurztexte Aubs zeigen werden, gilt für Juego de cartas ganz und gar nicht, dass seine «only validity as an artistic event lays in its construction».
Das abwesende Zentrum: Juego de cartas und die flüchtige Identität des Exilanten Tod und Ausschluss, Regelhaftigkeit und Zufall Betrachten wir noch einmal die thematischen Schwerpunkte in Aubs PostKartenspiel. Die Leitfrage, die unbeantwortet bleibt, ist die nach der Identität des Abwesenden (Máximo Ballesteros), und die immer wiederkehrende Frage der Fragmente kreist um den Tod dieser allen bekannten und doch sich entziehenden Figur. Juego konstituiert, auf zwei Ebenen, einen sozialen Zusammenhang, dessen Subjekte über ein abwesendes, ein flüchtiges Objekt verbunden sind: einmal auf der Ebene der in den Textkarten erzählten Mikrogeschichten, in der all die Freunde, Geliebten und Kollegen sich über Máximo äußern, der dennoch nie greif171
bar wird; zum anderen auf der Ebene des Spielvollzugs, in dem die Spieler/Leser um einen Tisch sitzen, den Akt des Lesens als Spiel inszenieren, vom einsamen zum gemeinsamen Erlebnis machen und, egal wie lange sie spielen, nie auch nur annähernd die Möglichkeiten des Textes ausschöpfen können. Wie Máximo für seine Freunde nicht greifbar wird, so entzieht sich die histoire von Juego jeglicher Festlegung. Bereits hier, ausgehend von der für Juego konstitutiven Identitätsfrage sowie der Problematik der Multiperspektivität, sind die erzählte Geschichte und die Form des Textes so miteinander verschränkt, dass von einer sterilen Form für banale Inhalte nicht gesprochen werden kann. Was bedeutet die Fokussierung auf die Themen Identität und Tod, zumal wenn wir bedenken, dass Aub zwischen Niederschrift und Veröffentlichung von Juego von Saportas Composition Nr. 1 erfuhr und dennoch, trotz der schwierigen Suche nach einem Verleger, trotz der für ihn ungünstigen Vertragskonditionen entschied, den Text in seiner ursprünglichen Form zu veröffentlichen? Die Antwort kann nur lauten, dass die Verknüpfung der Themen Tod und Ausschluss mit dem Prinzip des Kartenspiels offenbar auf ihn eine besondere Anziehungskraft ausübte. Zwar werden diese Themen in seinem Werk oft und in vielfacher Weise behandelt, aber nirgendwo sonst in einer Form, die das Prinzip der Regelhaftigkeit so eng mit dem Zufallsprinzip kombinieren würde. Der Schnittpunkt, an dem die bis hierher skizzierten Hypothesen zusammenlaufen, wäre in der symbolischen Verdichtung der Existenz im Exil zu sehen. Demnach wäre der Anwesende und doch Abwesende, derjenige, um den sich all das Reden seines sozialen Umfeldes dreht, ohne genaue Kenntnis über ihn verbürgen zu können,15 nicht nur das einzelne Subjekt Máximo Ballesteros, sondern auch der emblematische Exilant. Außerhalb seines ihm angestammten Kontextes stehend wird er allein retrospektiv erinnert, denn – egal ob er definitiv tot ist oder nicht – indem er außerhalb der Sozialgemeinschaft steht, ist er als Ausgeschlossener sozial tot. Die Erklärungen, die für seinen Tod genannt werden, sind so vielfältig, dass sie sich in der Summe neutralisieren. Letztlich gibt es keine Erklärung für den Ausschluss außer dem Zufall, denn je nach dem, welche Karte ein Spieler bekommt, kann er (in einem Spieldurchlauf) nur auf die dort gegebenen Argumente zurückgreifen. Diese Lesart wird gestützt durch die intratextuellen Bezüge, die sich bei der Lektüre von Aubs Tagebuch aus der Entstehungszeit von Juego de cartas aufdrängen. Im Januar 1962 schreibt er über den Schriftsteller und das Exil: El escritor eyacula lo suyo para su generación o la que sigue. Si no, queda en el olvido o, a lo sumo, catalogado en cualquier hilera enorme de nichos, que son las historias de literatura. Por los azares de la historia los exiliados suelen –a veces– padecer este mal. Es el caso de los rusos huidos de la revolución bolchevique. Es el caso nuestro, el caso mío; diez,
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«Máximo es la columna vertebral de la narración; es el que, estando ausente, sirve de referencia a todos los personajes que gravitan en torno suyo.» (Valcárcel 1996a: 278)
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veinte, cien personas –a lo sumo– saben de mí, con conocimiento de causa, en España, paro de contar. (Paro de contar sin dejar de contar, para no contar). (Nuevos Diarios 241)
Die Zufälle der Geschichte («los azares de la historia»), so Aubs Worte, bestimmen das Leben des Exilanten. Da die republikanischen Exilanten wie er («es el caso nuestro, el caso mío») kaum die Möglichkeit hätten, zu ihren Lesern zu finden, sei die Wahrscheinlichkeit gering, dass sich ihrer überhaupt jemand erinnert: «[el escritor] queda en el olvido.» Bezeichnenderweise fasst er dieses «Vergessenwerden» nicht nur als «Tod» auf, sondern als Entsorgung in einem der vielen Gräber («cualquier hilera enorme de nichos») einer Literaturgeschichte. Für sich selbst rechnet er genau damit, schließlich sei er in Spanien (seinem ursprünglichen Kontext) kaum hundert Leuten wirklich ein Begriff, «con conocimiento de causa». Anders gesagt: Vielleicht gibt es eine Ahnung, wer der Exilant Max Aub sein könnte, aber kaum jemand weiß etwas. Fünf Monate nach diesen Worten über das Exil, den Zufall, das Beerdigtwerden und das Erinnern – in der hier konsultierten Ausgabe der Tagebücher findet sich der Eintrag auf der folgenden Seite –, erwähnt Aub in der bereits zitierten Passage erstmals Juego de cartas. Er muss es in diesem ersten Halbjahr 1962 geschrieben haben, da sein Eintrag von Juni, in dem er die Lektüre über Saportas Composition Nr. 1 erwähnt, sein Textspiel in der Zeitform des Indefinido erwähnt, also als fertiges Werk: Las ideas son del tiempo. No hay nada que hacer. Ahora bien, ¿mi noveletta tiene interés, juego aparte? No lo sé, la escribí en vista de la impresión, del juego. Si es algo más, bueno va. Si no, no pasa de tiempo perdido. (Nuevos Diarios 243)
Auch wenn Aub an dieser Stelle selbst, passend zur Argumentation Umberto Ecos, vor allem von der Idee der Textkonstruktion spricht, mithin vom ersten Eindruck, den Juego de cartas machen sollte (und der nun, mit der Veröffentlichung Saportas, in Frage gestellt ist), räumt er doch selbst ein, dass an seinem Spieltext, «juego aparte», noch etwas von Interesse stecken könnte. Erinnern wir uns noch einmal der Spielanleitung, die nicht nur danach fragt, wer Máximo Ballesteros war, sondern auch – wie wir in den Zitaten zur Multiplikation der Perspektiven gesehen haben – die grundsätzliche Frage nach sich zieht, ob die Identität eines Menschen überhaupt erkannt werden kann. Juego fragt nicht nur konkret und explizit «¿quién fue Máximo Ballesteros?», sondern auch implizit und allgemein «¿quién es el hombre?» – es ist die gleiche Frage, die sich der Rabe Jacobo in Aubs Schlüsseltext über das Konzentrationslager Manuscrito cuervo stellt und an der er, trotz seiner umfassenden Vogelperspektive, scheitert [ĺ Kap. V]. Neben dieser Verallgemeinerung der Leitfrage der «Reglas del juego» gibt es noch ein zweites «etwas», das Juego über seine Spielidee hinaus interessant macht, nämlich die bereits erwähnte Verknüpfung der von aleatorischen Prinzipien geprägten Form mit dem für Aub existenziellen Thema des Exils. Diese Hypothese bestätigt sich in einem aus der Entstehungszeit von Juego stammenden Motto, das Aub in seiner Zeitschrift Los Sesenta (Ausgabe 3 von 1965) veröffentlichte: 173
Sabido es que AMOR, invertido, da ROMA; no se ha señalado que AZAR, al revés, se lee RAZA. (Aub 2006a: 401)
Indem Aub selbst neben das harmlose Palindrom aus «Liebe» und «Rom» das ganz anders nachhallende aus den Begriffen «Zufall» und «Rasse» stellt, gibt er sprachspielend den Schlüssel zu seinem Kartenspiel, in dem das Zufallsprinzip und der Lebensweg des wegen seiner «Rasse» verfolgten und dem Holocaust knapp entkommenen Exilanten miteinander verschränkt sind. Juego de cartas ist folglich weder ein Text, dessen verblüffende Form inadäquat wäre zu seinem banalen Gegenstand, noch gilt, dass «the book has exhausted all its possible meanings in the very enunciation of its constructive idea»; weder die Kritik von Reinhold Grimm, noch die von Umberto Eco (1989: 170) an Composition Nr. 1 ist also sinnvoll auf Aubs Text zu übertragen. Denn Juego ist, mehr als ein Spiel mit Texten und Karten, eine Spielanordnung über den eigentümlichen Tod des Exilanten.16 Das Bild vom Exilanten als abwesendes Zentrum, wie Juego es inszeniert, als Figur, deren Identität oszilliert zwischen ostentativ vorgeführter Unkenntlichkeit und individuell möglicher Ahnung («adivinar»), wirkt literarisch ähnlich stark wie die Abwesenheit des Buchstaben «e» in George Perecs La disparition als Symbol für die gewaltsame Auslöschung der europäischen Juden in der Shoa (vgl. Gelz 1996: 147ff.). Diejenigen Bücher Max Aubs, die sich unmittelbar mit dem Thema des Exils und dem Schreiben als Abwesender befassen, sind Gegenstand des nächsten Kapitels Ausgeschlossen Schreiben. Der folgende Blick auf die intratextuellen Bezüge von Juego de cartas richtet sich daher weniger auf die unmittelbar thematischen Verknüpfungen, sondern vielmehr auf Beispiele für besonderen formalen Umgang mit den Themen Tod, gewaltsamer Tod, Verschwinden etc., die, ähnlich wie in Juego, mit der Situation des Exilanten in Verbindung stehen. Listen des Todes: Paremiología particular, Epitafios, Crímenes ejemplares, De suicidios Das eben zitierte Palindrom (azar, raza) stammt aus einer Paremiología particular genannten Sammlung von 57 Aphorismen und Sentenzen (Aub 2006a: 400f.), von denen die ersten 33 jeweils als Motto der von Aub edierten Exil-Zeitschrift mit dem programmatischen Titel Sala de Espera vorangestellt waren; gesammelt
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Versteht man das Exil als Ausschluss des Individuums aus seinem sozialen und kulturellen Kontext, also als Dynamik der Vereinsamung im Gegensatz zu der der sozialen Integration, ließe sich auch die Spielanweisung, wonach «toda clase de solitarios» möglich sind, als Hinweis auf den Fokus Exil lesen: Die Einsamkeit des Spielers wäre dann homolog zur Einsamkeit des Exilanten zu betrachten. – Die folgende Analyse geht jedoch von der, wie sich zeigen wird, produktiveren Annahme aus, dass Juego zu mehreren gespielt wird. Damit öffnet sich die (einsame) Lektüre hin zum kollektiven Spiel.
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erschienen sie 1965 in der Generationen-Zeitschrift Los Sesenta.17 Neben dem bereits zitierten Palindrom umspielen zwei weitere, funktionalisiert als Motto für die Zeitschrift des Exils, Rolle und Funktion des Zufalls: «Escogido, al azar; pero escogidos. No olvidarlo; aun en lo peor, acordarse de ello», und «Del azar nace lo definitivo», wobei vor allem das zweite Motto sowohl die Spielsituation als auch die des Exils benennt. Ein drittes Motto formuliert denselben Gedanken, benutzt aber statt des Begriffs «Zufall» sein Gegenteil («Kausalität»): «La causalidad no tiene madre conocida.» Gerade diese Opposition zwischen der Kausalität der Regeln eines Kartenspiels und der dazu kontrafaktischen Aleatorik des Mischens der Karten ist es, die die Grundlage für den lebensweltlichen Doppelsinn von Juego bildet. Ähnlich knapp präsentiert sich Epitafios, ein über semantische Oppositionen konstruiertes Sprachspiel mit 19 möglichen Grabinschriften, die Aub ebenfalls erstmals in der Zeitschrift Sala de Espera (Februar 1951) und nochmals 1961 in der Revista de la Universidad de México veröffentlichte (Aub 2006a: 398f.). Jedem Epitaph vorangestellt ist ein Hinweis, zu wem es passen würde. Also: «Del bueno: NO SE ENTERÓ», «Del ortodoxo: NO ABRIÓ EL PICO» oder «De un tirano: FUE A LO SUYO POR LO TUYO». Der witzige Effekt der Reihung ergibt sich aus dem logischen Bezug (oder Widerspruch) zwischen Adressat und Epitaph, der sich auch auf eine schlichte Aversion des Autors beziehen kann («Del sociólogo: SE EQUIVOCÓ», oder «De un marica: DIO LO QUE NO TENÍA»). Über das Prinzip der seriellen Reihung [ĸ Kap. III] generiert Aub eine Aufzählung von (möglichen) Toten, deren bittere Pointe sich in den beiden letzten Epitaphen zeigt, wo es heißt: «Mío: NO PUDO MÁS» und, «Contraepitafio: SUEÑO O NADA. AQUÍ QUEDA ESO.» Beide brechen formal die Regelhaftigkeit der Aufzählung, da sie nicht mehr mit der Partikel «de» eingeleitet werden, inhaltlich brechen sie mit dem witzig gemeinten Sprach-Spiel um den Tod, indem zunächst der Autor selbst (seinerzeit 48 Jahre alt und am Ende der ersten Phase des Exils) nüchtern festhält, dass er nicht mehr weiter kann, während der abschließende Gegen-Epitaph, die Sentenz «Alles oder nichts» variierend, das «Alles» ins Reich der Träume verweist. Das Prinzip der Linearität des Textes, welches die Anlage von Juego als Kartenspiel gerade aufhebt, ist hier konstitutiv zur Vorbereitung der abschließenden Pointe, die ebenfalls über den Kontrast zwischen Sprachspiel und konkreter Lebenssituation im Exil operiert. Bekannter als die zuvor genannten Seiten ist das schmale Buch Crímenes ejemplares (1957), das sich streckenweise liest, als habe der Autor sich für Juego de cartas warmschreiben wollen. Es besteht aus 126 Kurz- und Kürzesterzählungen,18
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Bei dieser Zeitschrift durfte nur mitarbeiten, wer über sechzig Jahre alt war, also zu Aubs Generation gehörte. Die von Aub im Exil edierten Zeitschriften werden im Kapitel V untersucht. So viele Sequenzen enthält zumindest Aub (2006a: 355–386). Die genaue Zahl variiert auch in den zu Aubs Lebzeiten erschienen Ausgaben. Nimmt man auf Grundlage der Obras completas alle je in Crímenes aufgenommenen Texte zusammen, kommt man auf 146 Sequenzen. In der jüngsten Ausgabe der Crímenes von Pedro Tejada Tello,
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manche nur eine Zeile lang, keine eine Seite überschreitend, in denen verschiedene, zumeist Ich-Erzählerstimmen von Morden erzählen, wobei wiederum die meisten Sequenzen auf die Erklärung der jeweiligen Taten fokussiert sind. Der Titel lässt zunächst entweder an die Sammlungen der Verbrechensliteratur, an die Crimes célèbres des 19. Jahrhunderts denken, oder an die gleichermaßen antithetisch gebauten Titel einiger Novelas ejemplares von Cervantes (etwa La española inglesa), oder intratextuell an Aubs erstes Theaterstück Crimen (Melodrama) (1921). Fernando Valls beschreibt Crímenes einerseits als frühe Form des «microrelato» entsprechend den Parametern der neuesten Forschung zur «Nanophilologie» (Ette 2008a), andererseits bindet er den Text zurück an ähnliche Kürzesterzählungen der spanischen Avantgarden, wie sie etwa bei Gómez de la Serna zu finden sind (vgl. Valls 2006: 357). Neben der experimentellen Zuspitzung der Form sind es die para- oder alogischen Argumente, mithin die Verweigerung einer logischen Erklärbarkeit, die den Rückbezug auf die Avantgarde begründen. Die in den jeweiligen Kürzesterzählungen des Tötens genannten Gründe für das Verbrechen sind oft absurd («Lo maté porque era de Vinaroz», 357), lächerlich («Lo maté porque me lo dijo mi mamá», 381), hilflos («¡Yo quería un hijo, señor! A la cuarta hembra me la eché», 381), flapsig («De mí no se ríe nadie. Por lo menos ése ya no», 379), trotzig («Lo maté porque no pensaba como yo», 373). Das aus Juego bekannte Prinzip der antonymischen Doppelung findet sich auch hier, wenn es zunächst heißt «Lo maté porque era más fuerte que yo» (374) und direkt im Anschluss: «Lo maté porque era más fuerte que él»; oder auf derselben Seite «La maté porque me dolía el estómago», gefolgt von «La maté porque le dolía el estómago». Implizit legen solche sich ausschließenden Erklärungen (so sie sich auf ein Objekt beziehen, was die direkte Abfolge ja nahelegt) eine begrenzte Relevanz19 der Aussagen nahe, was an anderer Stelle explizit angesprochen wird: ERRATA Donde dice: La maté porque era mía. Debe decir: La maté porque no era mía. (Aub 2006a: 370)
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der in seinem Vorwort Entstehungs- und Editionsgeschichte rekonstruiert (Aub 2011: 9–16), sind zusätzlich sieben bisher unveröffentlichte Infanticidios nachzulesen (S. 101–103). Diese Beispiele analysiert Fernando Valls (2004: 284) in ähnlicher Weise: «A veces, [Aub] cuenta dos crímenes seguidos que se realizan por razones casi contrarias, con lo que pone de manifiesto que los móviles no tienen mayor importancia.» Daneben erkennt er folgendes Grundmuster in den Erklärungen der Morde durch die Täter: «La siempre peculiar ‹provocación› de la víctima es una de las excusas más habituales.»
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Durch diese Relativierung des bisher Gesagten werden die übrigen Erklärungen grundsätzlich in Frage gestellt – ähnlich wie durch den Hinweis einer der Stimmen in Juego, ab sofort nur noch falsche Aussagen zu treffen. Des weiteren verbindet Juego mit Crímenes, vor allem in den längeren Sequenzen, das Spiel mit den Soziolekten der Erzählerstimmen, die mal voller umgangssprachlicher Mexikanismen sind (383, vgl. Arranz Lago 2003), mal voller jugendlicher Anglizismen (375). Seinen Reiz gewinnt Crímenes durch die große Variabilität im Stil wie in der Länge der Sequenzen, und da weder Täter noch Opfer eindeutig mit Namen belegt werden, ist der Leser gefordert, selbst Geschlecht, Herkunft und Beziehungen der Figuren untereinander zu (re-) konstruieren. Als letzter relevanter Intratext sei schließlich noch De suicidios genannt, ebenfalls erstmals erschienen in Sala de Espera (1951, vgl. Aub 2006a: 393– 396), der wie ein kurzer Komplementär zu Crímenes ejemplares erscheint, insofern er in 43 Sequenzen Aussagen zum Selbstmord auflistet, mal überliefert von den Selbstmördern selbst, mal von anderen. Die meisten bestehen nur aus einem kurzen Satz, keiner ist länger als drei Zeilen. Manche begründen ernsthaft («A.R. se suicidó porque C. habló mal de él», 393), andere sind vor allem Sprachspiele («Trabaja uno hasta matarse», 395; «Llámenlo el sueño eterno. Como padezco horriblemente de insomnio, pruebo», 396) und erinnern, wie auch viele enigmatisch kurze Aussagen («Después de todo, nada», 396; «Suicidarse en seco», 393) an die Aphorismen in der Paremiología particular. Wie Valcárcel (1996a: 271f.) herausstellt, sind in Juego die Erklärungen, die Máximo als Opfer eines Mordes sehen, kontrastiv zu denen angelegt, die ihn als Selbstmörder erinnern. Crímenes und De suicidios, wo die beiden Möglichkeiten getrennt durchgespielt wurden, lassen sich demnach auch als Vorarbeiten zu Juego verstehen, wo sie in ein Textspiel integriert sind. Ob Epitafios, Crímenes ejemplares oder De suicidios – im Kern handelt es sich bei allen dreien um Texte, die ihren Reiz aus der Spannung zwischen dem existenziellen Gegenstand (dem gewaltsamen Tod) und der (sprach-) spielerischen Form mit stark verknapptem Umfang gewinnt: «Retórica final: Decir lo más, en menos, lo mejor posible» (Nuevos Diarios 472), so Aubs eigener Anspruch. Direkte Bezüge zur Lebenssituation im Exil finden sich in Paremiología particular, wo wiederum das Thema Tod ausgeklammert bleibt. Alle zusammen lassen sich als Vorarbeiten zu Juego de cartas begreifen, als Suchbewegungen zu einer Form, die das allgemeine Thema (gewaltsamer) Tod und das konkrete Thema (Exil) so miteinander verknüpfen könnte, dass eine möglichst weite, von aktuellen Zeitbezügen freie Rezeption möglich würde. Die Präsentation von Juego im Gewand eines Kartenspiels kaschiert einerseits diese existenzielle Ernsthaftigkeit, andererseits verweist gerade die moderne Spieltheorie auf jene anthropologische Konstante, wonach das Spiel (wie die Literatur) ein «sekundäres modellbildendes System» (Jurij M. Lotman) ist, in dem und mit dessen Hilfe sich der Mensch sich seine Stellung in der Welt versichert. Zum Verständnis von Juego de cartas dürfte also ein Blick auf die Erkenntnisse der Spieltheorie hilfreich sein.
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Theorie des Spiels und Spiel des Lebens Juego de cartas wurde in diesem Kapitel immer wieder als «Spieltext» oder «Textspiel» bezeichnet. Die spanischsprachige Kritik spricht gerne von den «juegos narrativos» dieses «texto lúdico» (Valles Calatrava 2007), Carmen Valcárcel (1996a: 280) doppeldeutig von der «partida de nuestra vida», die der Text ermögliche. Doch eine eingehende Analyse der Spielmetapher im Zusammenhang mit Juego de cartas fehlt bislang.20 Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist allerdings der von Soldevila vorgeschlagene und von Valcárcel (1996a: 275f.) weitergeführte Gedanke, Juego aufgrund seines performativen Potenzials als kollektives (Rollen-) Spiel, als gemeinsam zu realisierendes Theaterstück zu begreifen. Die Spielregeln provozierten «una pieza de teatro épico-didactico, como lo son muchas de las obras en un acto de Max Aub, que él mismo calificaba de ‹escala teatral para mejor comprender nuestro tiempo›» (Soldevila 1973: 159). Wie in seinen Einaktern stünden die Leser von Juego vor einer «situación tensiva», für die der Text keine Auflösung biete, sondern vielmehr zu einer «interrogación interpretativa» auffordere. Das gemeinsame Vorlesen mit anschließender Suche nach der Identität Máximos begreift Carmen Valcárcel als «comedia por hacer» ähnlich Pirandellos Sei personaggi in cerca d’autore, nur dass hier nicht der Autor gesucht, sondern ein abwesender Mitspieler aus der Erinnerung rekonstruiert werden müsse. Folgt man diesem Ansatz und betrachtet den Leser nicht nur als Karten-, sondern auch als Schauspieler, fällt zudem auf, wie vielfältig das Thema der Körperlichkeit in Juego umkreist wird. Bereits die physische Gestalt des Text-Korpus, der auf Buchbindung verzichtet und vom Leser/Spieler immer neu hergestellt werden muss, lässt sich als Entkörperlichung eines Buch-Textes verstehen. Gleiches gilt für die Abwesenheit Máximos, seine Nicht-Greifbarkeit im (leeren) Zentrum des Textes: Hinter der Hülle des Namens steht kein Charakter, er ist kein «héroe de papel», keine Hauptfigur aus Fleisch und Blut, sondern vor allem abwesender Körper, Emblem des abwesenden Exilanten. Dieser doppelten Entkörperlichung steht die Rekorporisierung des Lesers zum (Schau-) Spieler gegenüber, der im Kollektiv mit den anderen Spielern interaktiv, dynamisch und entsprechend den durch Konvention festgelegten Regeln des Kartenwie des Schauspielens (die auf dieser Abstraktionsebene homolog sind) agiert. Diese Öffnung des Lesetextes zum performativen Akt überrascht nicht, wenn man Aubs Liebe zum Theater mit in Betracht zieht [ĺ Kap. V], wenn man sich daran erinnert, wie er sich als Autor des Laberinto mágico mit einem mittelalterlichen Chronisten verglich, der, wenn das heute noch möglich wäre, am liebsten auf Marktplätzen rezitierend seinen Text in körperlicher Ko-Präsenz vortragen würde [ĸ Kap. III], oder wenn man sich noch einmal die lebensweltliche Inszenierung des Textes im Campalans-Komplex vergegenwärtigt [ĸ Kap. II].
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Michele Cesaros (1995) kurzer fünfseitiger Aufsatz «Il gioco della menzogna» reißt die Möglichkeiten einer solchen Betrachtung allenfalls an. Zur Annäherung an die Spieltheorie und zu ihrer Anwendbarkeit auf literarische Texte vgl. die Schwerpunktnummer der Zeitschrift für Semiotik (23, 3–4, 2001), darin insbesondere Ryan (2001).
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Doch zurück zum Spiel und zu den Analysemodellen der Spieltheorie, von denen sich die Taxonomie Roger Caillois’ ebenso zur Anwendung anbietet wie Wolfgang Isers Ansatz vom (literarischen) Fingieren oder Jacques Derridas Theorie vom Spiel der Zeichen (vgl. Caillois 1960, Iser 1993, Derrida 1970a). Zunächst drängt jedoch mit Blick auf Johan Huizingas formale Definition des Spiels als «eine freie Handlung […], die als ‹nicht so gemeint› und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird» (Huizinga 1955: 22), eine Abwägung der bisherigen Untersuchungsergebnisse auf. Wenn es stimmt, dass im Kern von Juego die symbolische Verdichtung der Problematik des Exils steht, wird gerade die Eigenschaft des Spiels unterlaufen, «nicht so gemeint» zu sein. Juego wäre demnach nur so lange Spiel, wie die Frage der Identität allein auf der Ebene der auf dem Karton genannten Spielregeln begrenzt bleibt. Aber wenn es stimmt, dass Juego die avantgardistische Forderung nach einer Verschiebung der Grenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit realisiert, indem es den Text tatsächlich ins Leben transponiert, kann es als Spiel nicht von der Welt getrennt betrachtet werden. Bereits der Blick auf Huizingas Grundlagenwerk der modernen Spieltheorie zeigt, dass Juego als Kartenpiel, das zwischen Spiel und Leben oszilliert, in der gleichen Weise Regeln und Grenzen unterläuft wie als Roman ohne greifbare Linearität oder kohärente Charaktere. Zieht man die von Roger Caillois vorgeschlagenen Unterscheidungen von Spieltypen heran, erscheint Juego vor allem als Glücksspiel («alea»). AleaSpiele sind die Grundlage all der Text-Spiele, von den Formen der surrealistischen «écriture automatique» über die OuLiPo-Generierungsmodelle bis zur elektronischen Poesie auf Basis von Hypertext-Datenbanken, die Sprache und Narration aus den Fesseln der kommunikativen Funktionalität und den sich daraus ergebenden Konventionen befreien wollen (vgl. Ryan 2001: 330f.). Auch deshalb ist es naheliegend, Juego in einer Traditionslinie zwischen historischer Avantgarde und Hypertext zu betrachten. Wie die meisten Spiele lässt sich Juego allerdings nicht allein einer Grundform zuordnen: Die Form des Wettstreits («agon») wird zwar über die Kernfrage der Spielanleitung angerissen, im gleichen Atemzug aber dementiert, insofern jeder Mitspieler gewinnt, sobald er auf Grundlage seines Blatts eine Ahnung äußert. Als Rätselspiel betrachtet, dessen Wettstreit eine Lösung und einen Gewinner vorsieht, wäre es als Illorätsel zu bezeichnen, weil es eben keine Lösung und keinen Gewinner gibt. Und weil die Spieler in dem Augenblick, in dem sie einen der Texte auf den Karten vorlesen, in die Rolle der Absender schlüpfen, ist Juego auch ein Nachahmungs- oder Als-ob-Spiel («mimikry»). Die Betrachtung von Juego aus der Perspektive von Jacques Derridas Konzept des freien Spiels (vgl. Derrida 1970a) mag auf den ersten Blick unpassend erscheinen, hebt dieses doch auf die radikale Autonomie der Sprache ab und basiert damit gerade auf der Aufhebung jener Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, an deren Perforierung Max Aub arbeitete, nicht nur in Juego, sondern vor allem in Büchern wie Campalans und Luis Álvarez Petreña [ĸ Kap. II]. Doch mindestens zwei der vier Grundelemente, die Marie-Laure Ryan aus Derridas Überlegungen ableitet, sind erhellend. Danach charakterisiert sich Sprache als 179
freies Spiel durch die «Zurückweisung stabiler zentraler Strukturen zugunsten von emergenten Konfigurationen von Bedeutungen, die unaufhörlichen Transformationen unterworfen sind», sowie durch die «Unmöglichkeit, ein totales und endgültiges Begreifen des literarischen Textes zu erreichen» (Ryan 2001: 333). Indem Juego als Kartenspiel gerade die Regeln (und die Regelhaftigkeit) sichtbar macht, nach denen Texte entstehen, und am Ende der Spielaufgabe, der Suche nach der Identität von Máximo, die Erkenntnis steht, dass gerade diese Erkenntnis durch Text nicht möglich ist, führt es in haptisch greifbarer Form diese beiden Derridaschen Grundelemente vor Augen. Exil als «Evidenzerfahrung» Während die eigentliche Spieltheorie das tiefere Verständnis des Spielcharakters von Juego ermöglicht und Jacques Derridas Dekonstruktivismus Text und Spiel ineinander denkt, öffnet die literarische Anthropologie Wolfgang Isers noch einen weiteren Möglichkeitsraum für die Aufschlüsselung von Juego de cartas. Dabei geht es nicht darum, die 108 Fakultät möglichen discours von Juego mit dem Verständnis von Literatur als «Panorama dessen, was möglich ist» kurzzuschließen (so eines der Axiome der Weiterführung der Rezeptionsästhetik in Das Fiktive und das Imaginäre). Vielmehr sind es Isers Gedanken zum Zusammenspiel von «Evidenzerfahrung» und Literatur, die die bisherige Analyse von Juego als symbolischer Verdichtung der Erfahrung des Exils weiter konkretisieren. Das Begehren des Menschen nach Inszenierung (verstanden als Akte des Fingierens) rührt laut Iser daher, dass «die Empirie des Lebens nicht komplettierbar ist», es folglich «keine endgültige Begrenzung dessen [gibt], was möglich ist» (Iser 1993: 507). Die Inszenierung macht das vorstellbar, «was die Empirie des Lebens auszumachen scheint: immer wieder anders zu erscheinen, ohne sich darin zu erschöpfen» (507), ein Gedanke, der in den über hundert Erscheinungen Máximo Ballesteros’, die ihn aber gerade nicht umfassend und dem Wissen zugänglich abbilden, prägnant zum Ausdruck kommt. Doch dürfen Kunst und Inszenierung nicht als Kompensation oder Vollendung dessen missverstanden werden, was in der Empirie des Lebens nicht realisiert werden kann und was Iser «das Unverfügbare» nennt: «Statt dessen entstehen durch Inszenierungen Simulacra des Unverfügbaren, die dessen Gestaltwandel genauso modellieren, wie sie als Bilder der Verschlossenheit ‹phantasieren›.» (508) Der Gegenbegriff zum «Unverfügbaren» des menschlichen Lebens ist der der «Evidenzerfahrung», «die sich durch eine instantane Gewißheit auszeichnen und folglich das glatte Gegenteil zur Unverfügbarkeit verkörpert» (508f.). Als Beispiel für solch eine Evidenzerfahrung kann die Liebe gelten. Iser schreibt: Was in Evidenz erfahren wird, wirkt wie ein sicherer Besitz. Die Liebe ist wohl die intensivste dieser Evidenzerfahrungen und doch gleichzeitig der zentrale Sachverhalt literarischer Inszenierung. Der Erfahrbarkeit also ist die Liebe nicht verschlossen, wohl aber dem Wissen, weil es von dem, was Evidenzerfahrung ist, kein Wissen gibt oder weil Evidenz alles Wissen redundant erscheinen läßt. Evidenzerfahrungen besitzen eine Fraglosigkeit, die offensichtlich zur Befragung verlockt. […] Das heißt, wo Evidenzer-
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fahrungen inszeniert werden, geht es um das Ausfächern von Alternativen zur instantanen Gewißheit. (Iser 1993: 509)
Als eine solche Evidenzerfahrung lassen sich auch Tod und Exil begreifen. Der Tod, der Máximo offenbar ereilte, und der, ausgehend von der Abwesenheit seines Körpers, mit der Abwesenheit des Exilanten in Verbindung steht. Wenn die Analyse stimmt, dass Juego eine symbolische Verdichtung der «Empirie des Lebens» im Exil ist, kann die doppelte «Inszenierung» von Juego als literarischer Text und als performatives Spiel als solch eine Verarbeitung der Evidenzerfahrung «Exil» begriffen werden. So bekommt auch die Anlage als Illorätsel eine Funktion, denn verstanden als Evidenzerfahrung ist das Exil mehr gelebte Erfahrung als Wissen (i.S.v. verstetigtes Begreifen). Diese Wahrnehmung des Exils vornehmlich als Erlebens- und Erfahrungswissen scheint in den Briefen, Tagebuchaufzeichnungen sowie in all den anderen Texten Aubs auf, in denen er immer wieder schwankt zwischen dem Sich-Fügen in das seit den späten vierziger Jahren dauerhafte Leben im Exil (dem sich-Fügen in die Evidenz) und dem Aufbegehren gegen das rational nicht zu packende Gefühl der Machtlosigkeit des Ausgeschlossenen. Juego de cartas ist der Text, der komplexer als jeder andere in seinem Werk die «Erfahrung zur Erscheinung [bringt], die sich jenseits dessen erstreckt, was das Bewußtsein einzuholen vermag» (Iser 1993: 510). Oszillierend zwischen Spiel und Text doppelt Juego diese «Unverfügbarkeit» sowohl literarisch als auch in seiner inneren Form. Noch einmal Iser: Evidenzerfahrungen sind in der Regel affektiv, so daß Inszenierung dem Bestreben entspringt, die eigene Affektmenge in die Hand zu bekommen; indem man sie durch Alternativen doppelt, geschieht eine Ablösung vom Erregungszustand. (Iser 1993: 510)
Nichts anderes tut Aub, wenn er die eingangs beschriebenen Figuren der Doppelung (Juego in der Doppelbedeutung von «Spiel» und als «Ensemble», cartas in der Doppelbedeutung von «Spielkarte» und «Postkarte», der Autor Aub plus der Graphiker Campalans, französischer plus spanischer Kartensatz etc.) und Multiplikation in Text plus Ikonotext umsetzt. Dynamisierung statt Archivierung In seinem Tagebuch hatte Max Aub angedeutet, dass Juego vielleicht mehr sein könnte als eine pfiffige (Spiel-) Idee: «Si es algo más, bueno va.» (Nuevos Diarios 243) Fassen wir zusammen, worin das «algo más» besteht. Zunächst ist Juego eine fragende Zuspitzung des formalen Bauprinzips der Multiperspektivität, dem Aub in anderen Büchern konstruktiv vertraut – nolens volens, muss man nach Juego hinzufügen, ist es doch gerade die Vervielfältigung der Blicke, die Máximos Identität auflöst. In einem weiteren Untersuchungsgang wurde gezeigt, dass Juego kein «texto lúdico» im Sinne eines freien Spiels der Signifikanten ist, einer Vorführung beinahe unendlich vieler histoires oder der uneingeschränkten Macht des Zufalls. Vielmehr muss der Text gelesen werden als ebenso kunstvolle wie düstere Spielanordnung über das Verschwinden des Exilanten aus seinem kulturellen und sozialen Kontext, wobei der Fokus auf der homologen Dynamik 181
der Bewegung (des Spiels wie des Exils) und der kontrastiven Soziabilität (des inklusiven Spiels und des exklusiven Exils) liegt. Unter der Perspektive einer anthropologisch argumentierenden Literaturtheorie ist Juego folglich keineswegs als Archiv möglicher Erfahrungen des Exils zu verstehen, vielmehr als textuell und spielerisch gedoppelte Vorführung der Dynamik der Exilsituation. Nicht der Gegenstand «Exil», sondern das Verfahren «Exklusion» macht seinen Kern aus, nicht das «Was», sondern das «Wie». Die Evidenzerfahrung Exil, dargestellt als Spiel (i.S.v. als «labiler Zwischenzustand»), ermöglicht im Modus des Fiktiven eine Erfahrung, die ein Wissen des Menschen von sich selbst nachvollziehbar macht. In diesem Sinne führt Juego den Grundgedanken einer Literaturtheorie vor, die den Lebensvollzug von Literatur als ein Spiel auffasst, welches den Speicher Literatur dynamisiert. Aubs Text hat «das Vermögen […], normative Formen von Lebenspraxis und Lebensvollzug nicht nur in Szene zu setzen, sondern auch performativ im ernsthaften Spiel zur Disposition zu stellen», wie Ottmar Ette (2004: 13) schreibt. Denn, so fährt er fort, das «Literarische enthält stets ein Wissen um die Grenzen der Gültigkeit von Wissensbeständen einer gegebenen Gesellschaft oder Kultur», und gerade diese Begrenztheit rationaler Zugänge ist es, was Juego betont: Bereits die Spielanleitung deutet den Wert der Intuition sowie die Generierung unfassbar vieler vom Zufall gesteuerter Erzählungen an und setzt damit erneut, wie schon in der Diegese des Laberinto mágico, dem Prinzip der Ratio das des Zufalls entgegen, zwei Prinzipien, aus deren Spannungsverhältnis die eigentliche Dynamik des Textes erwächst.
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V. Ausgeschlossen Schreiben
Texte des Ausschlusses Das Exil, der erzwungene Ausschluss aus einer sozialen Gemeinschaft, kann nicht verstanden werden ohne den Gedanken an die mögliche Wiedereingliederung in diese Gemeinschaft. «Pavese tenía razón: lo terrible no es el exilio –el confino– sino volver», heißt es zu Beginn von Max Aubs Stück mit dem bezeichnenden Titel La vuelta: 1964 (vgl. Aub 2002d: 181–262). Es ist der als unumkehrbar erlebte Weg des Ausschlusses, die Unmöglichkeit, selbst durch einen neuerlichen Einschluss wieder an die Existenz vor dem Exil anzuknüpfen, über die Aub als mehrfach Exilierter immer wieder reflektiert hat, in fiktionalen wie diktionalen Texten. «Fugitivos, desarraigados, apátridas, refugiados, emigrantes, exiliados o simples extranjeros pueblan las páginas dramáticas de Aub más que las de cualquier otro escritor español». Diese Worte von Silvia Monti (1998: 513) über sein Theater gelten ebenso für seine Prosa und seine Lyrik. Darum wurden bereits in dem Kapitel über die Darstellung des Bürgerkriegs im Laberinto Mágico einige Erzählungen sowie Campo francés unter dem Aspekt der Darstellungen des Ausgeschlossenseins behandelt [ĸ Kap. III], während die symbolische Verdichtung des Exils im Spiel um das Verschwinden des Exilanten den Zielpunkt der Interpretation von Juego de cartas bildete [ĸ Kap. IV]. Im folgenden Kapitel V nun stehen diejenigen Werke im Mittelpunkt, die das republikanische Exil und vor allem die Frage nach der Rückkehr aus dem Exil thematisieren: La gallina ciega. Diario español, der seinerzeit in Spanien als skandalös rezipierte Roman über Aubs erste Rückkehr nach Spanien im Jahr 1969, daneben seine Tagebücher sowie Erzählungen (z.B. El remate) und Theaterstücke (Los transterrados, Las vueltas). Doch Max Aub projizierte nicht einfach sein persönliches Schicksal in seine literarischen Werke,1 vielmehr erscheint bei ihm «el exilio como una condición humana dolorosa e injusta presente en todo tiempo y latitud […]» (Monti 1998: 513). Dieser Aspekt, das sollen die folgenden Analysen zeigen, wird nicht nur in den genannten Werken sichtbar, die sich thematisch am spanischen Bürgerkrieg und seinen Folgen ausrichten, sondern vor allem auch in denjenigen, die sich den Phänomenen Exil und Ausschluss unter einer Perspektive nähern, die mit der spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht unmittelbar zusammenhängt. Als Beispiele hierfür werden
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Diesen Anspruch unterstreicht er in seinem 1965 verfassten Vorwort zu Campo francés (in: Aub 2007b), wo er seinen Status als Zeitzeuge reflektiert und folgendermaßen zusammenfasst: «No hay en lo que sigue nada personal, curiosa afi rmación para lo que aseguro memorias. Fui ojo, vi lo que doy, pero no me represento; sencillamente: apunto con mi caletre, que no peca de agudo; una vez más, cronista.» (Aub 2007b: 69)
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die Stücke seines Teatro mayor wie No, San Juan und El rapto de Europa o siempre se puede hacer algo berücksichtigt und vor allem der Einakter De algún tiempo a esta parte analysiert. Doch wäre es grundverkehrt, das Phänomen Exil im Werk von Max Aub allein im Zusammenhang mit und als Folge seiner das Werk vordergründig prägenden Erfahrung als Verfolgter des Franco-Regimes zu betrachten. So wichtig diese historische Erfahrung auch sein mag – die deshalb in groben Zügen darzustellen ist –, weitaus wichtiger zum Verständnis seines Werkes ist die mehrfache Erfahrung von kultureller Alterität und sozialem Ausschluss aus religiösen, rassischen oder politischen Gründen. Ihr gilt deshalb das besondere Augenmerk der folgenden Ausführungen.
Räume und Geschichte(n) des Exils Die Geschichte des Exils, chronologisch Seit Februar 1939, als er mit André Malraux und dem Filmteam von Sierra de Teruel vor den franquistischen Truppen aus Barcelona nach Frankreich geflohen war, lebte Max Aub im Exil, also mehr als die Hälfte seines Erwachsenenlebens. Bereits als Kind hatte er im Alter von elf Jahren, als sein Vater samt Familie zu Beginn des Ersten Weltkriegs aus Frankreich ausreisen musste, die Erfahrung gemacht, aus seinem bisherigen Sprach- und Kulturraum ausgeschlossen zu werden. Allein aufgrund dieses ganz eigenen Lebenswegs zwischen der spanischen, der französischen und der deutschen Kultur und aufgrund der zeitlichen Dimensionen ist es unpassend, in seinem Fall von «Heimat» und «Wurzeln» im Gegensatz zu «Exil» und «Entwurzelung» zu sprechen. Bevor jedoch die spezifischen kulturellen Prägungen Max Aubs dargestellt werden können, gilt es zunächst die Dynamik seiner mehrfachen Exilierungen nachzuzeichnen, komplementär zu dem Abriss seiner Vita zwischen Paris, Valencia und Madrid im Umfeld der spanischen Avantgarden in den zwanziger und dreißiger Jahren, die im Kapitel I dieser Studie gegeben wurde.2 Die Ankunft Max Aubs im Februar 1939 in Paris ermöglicht das Wiedersehen mit seiner Frau und den drei Töchtern, die dort seit 1937 wohnten; damals hatte er in der französischen Hauptstadt die Funktion des Kulturattachés inne und leitete die Planungen für den Pavillon der Republik für die Weltausstellung 1937. Nun ziehen die Töchter zu Bekannten am Stadtrand, Aub und seine Frau leben in einer Dachkammer in der Rue de Capitaine Ferber. Unter schwierigen ökonomischen Verhältnissen dreht er mit Malraux die fehlenden Szenen von Sierra de Teruel nach. Gleichzeitig arbeitet er für Gallimard an der französischen
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Die folgende biographische Skizze stützt sich auf die Selbstzeugnisse Max Aubs (Tagebücher und Korrespondenzen), sowie auf die Darstellungen von Manuel García (2002), Gérard Malgat (2003b, 2003c und zusammenfassend 2007) und Manuel Aznar Soler (2003b, 2003c).
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Ausgabe der Werke des letzten Präsidenten der Republik Manuel Azaña; die Recherchen für dieses Projekt dienen der Rechtfertigung seiner ab Mai 1939 gültigen Aufenthaltserlaubnis. In den Monaten von Mai bis August 1939 entsteht Campo cerrado, der erste Band des Laberinto Mágico, anschließend beginnt Aub die Arbeit an Campo abierto. Zur gleichen Zeit entsteht der Theatermonolog De algún tiempo a esta parte, der von der Judenverfolgung nach der Besetzung Österreichs 1938 handelt. Ebenfalls im August finden vor geladenen Gästen drei Vorführungen von Sierra de Teruel statt, darunter Juan Negrín, Claude Mauriac und Louis Aragon, der den Film in Ce Soir als «película inconclusa, verdadera obra de arte» feiert (vgl. Malgat 2007: 85). Die französischen Behörden untersagen jedoch den für September geplanten Filmstart, weil sich die Regierung Daladier um gute Beziehungen zum neuen Regime in Spanien bemüht. In Absprache mit Malraux soll sich Aub um die Verbreitung des Films in Mexiko kümmern, und mit Hilfe von Alfonso Reyes beantragt er die Reisepapiere bei der mexikanischen Botschaft. Doch trotz der mit dem Beginn des Krieges zwischen Frankreich und Deutschland zunehmend bedrohlichen Situation tritt er die Reise nicht an. Anders als viele Republikaner will Aub in Europa bleiben – weil er sich als Europäer fühlt und bereits jetzt seine Marginalisierung unter den spanischen Flüchtlingen spürt: «Las organizaciones de refugiados: huirlas. ¿Irse a América? ¿Para qué? Uno es de Europa, ¿qué se nos ha perdido allí? Nadie me ofrece irme, dicho de paso.» (Diarios 186) Ungeachtet der «drôle de guerre» plant er weitere Editionsprojekte mit den Verlagen Gallimard (eine Reihe mit spanischen Klassikern) und Sagittaire (eine Reihe über die europäischen Länder der Vorkriegszeit). Im März 1940 geht bei der spanischen Botschaft eine anonyme Denunziation ein: «Max Aub. Nacionalidad alemana. Nacionalizado durante la guerra civil. Actividades: comunista y revolucionario de acción […].» Der franquistische Botschafter José Félix de Lequerica macht sich die Denunziation zu eigen und fordert die französischen Behörden auf, umgehend Maßnahmen gegen «este súbdito alemán (judío) […] este comunista notorio de actividades peligrosas» zu ergreifen (zit. nach Malgat 2003c: 112). Die Polizeibehörden entdecken nun den Namen Aubs in den Geheimdienstprotokollen, die die Überwachung der Republikaner während des Bürgerkriegs dokumentieren, was die Anschuldigung, ein «gefährlicher Kommunist» zu sein, in den Augen der inzwischen übervorsichtigen Sicherheitsbehörden ebenso bestätigt haben dürfte wie Aubs enger Kontakt zu André Malraux.3 Nicht in der ursprünglichen Denunziation enthalten war der Verweis auf Aubs jüdischen Glauben. Dieser wenig später, ab dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Frankreich lebensbedrohliche Zusatz stammte vom Botschafter selbst, wie der handschriftliche Zusatz «judío» neben Aubs Namen auf
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Dreißig Jahre später erinnert sich Aub folgendermaßen an diesen Zusammenhang: «Nadie supo quién era hasta que Malraux decidió –a mi gran sorpresa– a llevarme con él para hacer Sierra de Teruel. Empezaron a tenerme por comunista (menos los comunistas, por supuesto) y así quedé para mejor vocación en África.» (zit. nach Malgat 2007: 82)
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der in den Akten erhaltenen Denunziation nahelegt. Am 5. April 1940 wird Aub festgenommen und im Stadion Roland Garros inhaftiert. Er bittet Jules Romains (den er seit 1923 kennt, ĸ Kap I), den Vorsitzenden des französischen PEN, um Hilfe, doch der kann ebensowenig für ihn erreichen wie André Malraux, der selbst gerade zur Armee eingezogen wird. Am 5. Mai übermittelt die Polizeipräfektur dem Innenministerium eine Liste der Namen von 28 unerwünschten Ausländern, die Paris Richtung Südfrankreich zu verlassen haben, darunter auch Max Aub. Am 30. Mai trifft er im südfranzösischen Konzentrationslager Vernet ein, wo er bis zum 21. November interniert bleibt. Von November 1940 bis September 1941 lebt Aub in Marseille, zunächst im Hotel Europa, dann in einem Zimmer in der Rue du Paradis. Die Akten seiner polizeilichen Überwachung informieren detailliert über seine Bewegungen in Vichy-Frankreich, wo er einerseits die Kontakte zu befreundeten Schriftstellern wieder aufnimmt, andererseits bei der Flüchtlingshilfe des Emergency Rescue Committee mitarbeitet, das 1940 von Varian Fry gegründet und anschließend von Margaret Palmer geleitet wurde;4 Palmer war mit der Familie Aub seit den dreißiger Jahren befreundet, als sie sich ein Haus bei Valencia gekauft hatte. Auf einer der Listen Frys, in denen das Komitee die zu rettenden europäischen Verfolgten bereits in New York erfasst, tauchte Aubs Name unter der Nummer 1566 auf (vgl. Naharro-Calderón 1999: 206). Zur Absicherung seiner Person verfügt Aub über zwei fingierte Ämter: Der mexikanische Konsul Gilberto Bosques hat ihn zum Presseattaché ernannt, das Carnegie Institute in Pittsburgh mit einer Recherche zur spanischen Kunstgeschichte beauftragt. Im Schutz dieser offiziellen Missionen arbeitet er als Verbindungsmann zwischen der von der Polizei eng überwachten Flüchtlingshilfe, dem mexikanischen Konsulat (das vielen tausend Flüchtlingen die Ausreise ermöglichte) und den französischen Künstlern und Schriftstellern (Matisse, Gide, Aragon, Malraux und andere), die mit ihren Kontakten die Arbeit Margret Palmers zu unterstützen versuchen. Im Februar und erneut im April 1941 verfügt Aub über die nötigen Papiere für die Einreise nach Mexiko beziehungsweise in die USA, doch auch diese Gelegenheit zur Ausreise aus Europa lässt er verstreichen. Stattdessen intensiviert er seine Arbeit für Margret Palmer und gerät mehr und mehr ins Visier der Sicherheitsbehörden des Vichy-Regimes. Am 4. Juni 1941 wird er im Gefängnis von Nizza inhaftiert, am 21. Juni entlassen und am 5. September 1941 erneut nach Vernet deportiert: Diesmal in den Block B, der «extremistas peligrosos» vorbehalten ist (vgl. Naharro-Calderón 1999: 209). In den Akten der Sicherheitsbehörden sind inzwischen zu seinen Lasten auch die Reise seiner Tochter Elena in eine Ferienkolonie der
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Über die Zusammenarbeit mit Margaret Palmer schreibt Varian Fry in seinen Erinnerungen (1997: 183ff.). Varian Fry und seine Organisation haben etwa 2000 Verfolgten des Nazi-Regimes die Ausreise ermöglicht und damit das Leben gerettet, darunter auch deutschen Künstlern wie Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Heinrich Mann, Walter Mehring und Max Ernst. In Deutschland erinnert an ihn einzig ein Straßenname in Berlin. Im Herbst 2007 wurde ihm anlässlich seines 100. Geburtstags eine Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste gewidmet (vgl. Aktives Museum 2007).
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Spanienhilfe «auparavant dirigée par l’ex Parti Communiste»5 im Jahr 1939 sowie eine vermeintlich konspirative Reise nach Mexiko vermerkt. In der Logik der Textsorte «Akte», die einen Passantrag für eine Mexikoreise nur als Beleg für internationale Konspiration begreifen kann, wird aus dem liberalen Sozialisten Aub der «militante comunista peligroso», der unbedingt zu inhaftieren sei (vgl. Malgat 2003c: 116). Alle Anstrengungen von Bosques und Palmer, seine Entlassung zu erwirken, schlagen fehl: Zwar erhält Aub am 10. Oktober von der Lagerleitung die zu diesem Zeitpunkt äußerst seltene Genehmigung zur Überstellung in ein Transitlager, da alle Papiere für eine Ausreise nach Mexiko vorliegen. Aber der Einspruch der übergeordneten Polizeibehörden, die Aub auf einer Liste mit besonders gefährlichen Kommunisten führen, die aus Frankreich ausgelagert werden sollen, verhindert die Entlassung. Möglicherweise führte gerade die Vielzahl der Initiativen zu seiner Befreiung seitens verschiedener Hilfsorganisationen dazu, die Behörden in ihrem Verdacht gegenüber dem vermeintlich besonders wichtigen Häftling zu bestätigen. Dass auch eine jüdische Gefangenenhilfsorganisation (HICEM) sich für Aub, der in den Lagerakten als Katholik geführt wurde, einsetzte, wurde vom Präfekten des Département Arriège gegenüber dem Innenministerium als Fehler vermerkt («no es de raza judía») – zu seinem Glück, denn so entging er dem Schicksal, bei der Auflösung des Lagers Vernet im Jahr 1944 mit den noch verbliebenen Häftlingen nach Dachau deportiert zu werden (vgl. Naharro-Calderón 1999: 210f.). So wird Aub am 27. November 1941 aufgrund seiner besonderen Gefährlichkeit als vermeintlicher Kommunist an Bord des Pferdefrachters Sidi-Aïcha nach Nordafrika, in das Arbeitslager Djelfa in der algerischen Sahara deportiert.6 Im Lager Djelfa, in dem vor allem ehemalige Spanienkämpfer interniert sind, beginnt Aub sofort eine intensive Korrespondenz, um seine Befreiung zu erreichen, was angesichts der militärischen Führung des Lagers und der isolierten Lage am Rand des Hohen Atlas erstaunlich ist. Über Gilberto Bosques, dessen Arbeit die Vichy-Behörden immer engere Grenzen setzen, kann er zunächst nichts erreichen, doch Margaret Palmer, seit Dezember 1941 wieder in New York, besorgt Aub eine Einreiseerlaubnis und eine Schiffspassage für den Dampfer Swathone, der im März 1942 von Casablanca ablegen soll. Doch ohne Entlassungspapiere der französischen Sicherheitsbehörden nutzen Aub all seine Reisepapiere nichts. Nur dank der Intervention des Leiters der Polizeibehörden in Casablanca (wahrscheinlich ein Gaullist, wie Aub später andeutet), der telegrafisch die Entlassung Aubs aus dem Lager Djelfa anordnet, kommt Aub am 18. Mai frei – zu seinem Glück, denn wenige Wochen später findet sich sein Name auf einer Liste mit
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Faksimiles der Akten der französischen Sicherheitsbehörden bietet Malgat (2007: 99f.). Zwei Stücke seines Teatro mayor verarbeiten seine Erfahrungen als verfolgter Flüchtling: El rapto de Europa o siempre se puede hacer algo (1943) und San Juan (1942). Aubs wichtigster Text über die Haft im Konzentrationslager ist Manuscrito cuervo. Historia de Jacobo (1949/1950), der im Abschnitt über das «Eingeschlossen Schreiben» analysiert wird.
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sieben besonders gefährlichen Häftlingen, die auf Befehl der Vichy-Behörden auf keinen Fall aus Djelfa entlassen werden dürfen. Währenddessen verpasst Aub Ende Juni in Casablanca die Abfahrt seines Schiffes in die USA um zwei Stunden, und weil er eine neuerliche Verhaftung fürchtet, versteckt er sich für drei Monate in einer jüdischen Entbindungsklinik; seine Anlaufstelle vor Ort war die HICEM, mit der er und Palmer schon in Marseille zusammengearbeitet hatten und die in Casablanca ein Büro unterhielt (vgl. Aktives Museum 2007: 471). Nun ist es Gilberto Bosques,7 der ihm Einreisepapiere für Mexiko und eine Schiffspassage nach Veracruz verschafft, und so kann Aub sich schließlich am 10. September 1942 mit dem letzten Schiff, das vor der Landung der Alliierten Marokko Richtung Amerika verlässt, einschiffen. Am 1. Oktober 1942 trifft er in Mexiko ein. Es ist der Beginn seines drei Jahrzehnte dauernden Exils in Amerika. Die Zeitschriften des Exils: Sala de Espera, El Correo de Euclides und Los Sesenta Der große Beitrag des republikanischen Exils zur Anregung des akademischen und intellektuellen Lebens vor allem der spanischsprachigen Gastländer, bedingt durch den häufig hohen Bildungsstatus der Exilanten, ist hinlänglich bekannt (vgl. Abellán 1976–78 und 2001). Welche Rolle dabei die Vielzahl an Zeitschriften spielte, die im Exil gegründet wurden, rückt erst seit den neunziger Jahren verstärkt ins Interesse der Forschung (vgl. Caudet 1992, Aznar Soler 2006). Eine Sonderstellung in diesem Panorama ab 1939 neu geschaffener Publikationsorgane nehmen dabei jene wenigen Projekte ein, die allein von einem Autor verantwortet und mit Texten bestückt wurden. Eine solche «revista unipersonal» ist Max Aubs Sala de Espera (Aub 2000b). Die Zeitschrift – eine von dreien, die Aub in seinen mexikanischen Jahren herausgab – erschien von Juni 1948 bis Dezember 1952 in drei Lieferungen mit jeweils zehn «cuadernillos». Sie enthielt Texte aller Gattungen: Gedichte, die später als Teil von Diario de Djelfa veröffentlicht wurden, Essays und offene Briefe wie die Pequeña carta a Mr. Attlee, acerca de la dignidad humana, die seinerzeit in Tageszeitungen veröffentlicht und später in Hablo como hombre aufgenommen wurden, sowie Theaterstücke und Erzählungen (z.B. der Einakter Tránsito, El último piso, La vuelta: 1947), einen Großteil der in Kap. IV untersuchten Crímenes und die Erzählung Manuscrito cuervo. Historia de Jacobo, die weiter unten in diesem Kapitel behandelt wird. Die jedem «Cuaderno» vorangestellten «Proverbios», die zu einem guten Drittel den widerständigen Geist der Exilanten in epigrammatischer Kürze zu fassen
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In den biographischen Studien von Gérard Malgat werden die Bemühungen Gilberto Bosques betont, wohingegen José María Naharro-Calderón (1999: 250) die Verdienste seines Nachfolgers Edmundo González Roa, Konsul ab 1942, hervorhebt; Bosques, zum Botschafter in Vichy befördert, habe mit Passangelegenheiten seinerzeit nichts mehr zu tun gehabt.
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versuchten,8 erschienen später in Los Sesenta unter dem Titel Paremiología particular [ĸ Kap. IV]. Der Titel Sala de Espera darf nicht defensiv gelesen und missverstanden werden als ein Hinweis darauf, dass Aub sich mit dem dauerhaften Ausschluss aus Spanien abgefunden und nun passiv abgewartet hätte, wie seine private Situation und die der aus Spanien vertriebenen Intellektuellen sich entwickeln würde. Solch einer Auslegung, wie sie nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe von Sala de Espera durch Freunde aus dem Umfeld kommunistischer Exilvereinigungen unterstellt wurde, trat Aub entschieden entgegen und betonte in einem Brief (nachzulesen in Aznar Soler 2000: 5f.) sein offensives und optimistisches Verständnis des Terminus «espera» (i. S. v. «hoffen»), wie er es ähnlich bereits in einer «Nota» zur ersten Ausgabe formuliert hatte: Dice el diccionario: Espera, acción y efecto de esperar. Esperar, tener esperanza de conseguir lo que se espera. Creer que ha de suceder alguna cosa. Permanecer en un lugar … hasta que occura algo que se cree próximo. Ser inminente o estar próxima alguna cosa. Contra estas cuatro acepciones optimistas, una que puede interpretarse peyorativamente: Detenerse en el obrar hasta que suceda algo. («Nota» zu Sala de Espera Vol. I, 2000: o. S.)
Auch wenn man bei einer Zeitschrift, die in den ersten Jahren des Exils gegründet wird, zunächst an die Semantik des Wartens denken und den Titel mit Wartesaal übersetzen möchte,9 wollte Aub ihn als Saal der (hoffnungsvollen) Erwartung verstanden wissen, um damit einen Ort zu bezeichnen, an dem man nur vorläufig innehält, weil sich demnächst etwas ereignen wird: «Ser inminente o estar próxima alguna cosa.» Ein Punkt des Stillstands, der aber vor allem als Augenblick im Kontinuum einer Bewegung wahrgenommen wird. Im gleichen Vorwort fügt er ebenso pragmatisch wie hoffnungsvoll hinzu: «Las cosas son como son y como nosotros queramos que sean.» Die erwartbare Verneinung im zweiten Halbsatz entfällt, die Pointe liegt im lakonisch formulierten Paradoxon, die Umstände als gegeben zu akzeptieren und sie nach eigenen Wünschen zu verändern. Wie wichtig ihm das Denken in der Dynamik der Hoffnung war, lässt sich auch an der Begründung ablesen, mit der er 1952 die Zeitschrift einstellt: «Llevaban [los cuadernillos] camino de convertirse en Sala de Estar, y no era mi propósito.» («Nota» zu Sala de Espera Vol. III, 2000: o. S.) Da die Zeitschrift zu einem «Wohnzimmer» (sala de estar) zu werden drohte, in dem weniger die
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Hierfür mögen fünf Beispiele aus den 57 Motti genügen: «El que calla se entrega»,«El que espera no desespera», «Dejar y no dejarse», «Contra viento, marea», «Sólo el que se declara vencido perece.» (Aub 2006a: 400–401) Eine Assoziation, die mit der Ikonographie des Exilanten, des Flüchtlings, des Migranten zusammenhängen dürfte, der bis auf den heutigen Tag, bevorzugt als Mensch in einem Transitraum, mit seinem Gepäck wartend an einem Bahnhof, einem Hafen oder Flughafen abgebildet wird.
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Dynamik als die Statik des Wartens vorherrschte, sei es besser gewesen, sie einzustellen. Und noch einem zweiten möglichen Missverständnis gilt es entgegenzutreten: Sala de Espera ist zwar nur mit Texten eines einzigen Autors bestückt, aber darum keineswegs als Beispiel für eine «residencia en solitario» (Caudet 1996: 705) zu betrachten. In der «Nota» zur ersten Lieferung betonte Aub demonstrativ, dass er sein Projekt als Teil einer gemeinsamen Anstrengung verstand: Pese a lo que pueda parecer en su soledad, Sala de Espera no es un esfuerzo singular, sino que tiende a encajarse hombro con hombro, hombre con hombre, solidariamente, con el trabajo de todos por la reconquista de España, tan perdida hoy en brazos de la crueldad […]. («Nota» zu Sala de Espera Vol. I, 2000: o. S.)
Dieser pathetisch formulierte Glaube in den gemeinsamen Kampf um die Wiedereroberung Spaniens aus der ersten «Nota» von 1949 findet sich in dieser Form in den späteren Nummern zwar nicht mehr, aber auch in der letzten «Nota» von 1951 hält Aub an seiner grundsätzlichen Zuversicht fest: «Aguardaré la victoria […]. No hay desmayo si hay esperanza y España resurgirá de entre los condenados. Si se pierde todo, no se pierde la vida.» («Nota» zu Sala de Espera Vol. III, 2000: o. S.) El Correo de Euclides, Aubs zweites Zeitschriftenprojekt, hebt sich von Sala de Espera vor allem dadurch ab, dass es im Kern ein satirisches ist. Dieser Rundbrief erschien (bis auf eine Sonderausgabe vom 15. Juli 1967) von 1959 bis 1968 jeweils zum Jahresende und wurde gewissermaßen als überdimensionale Grußkarte an Freunde, Bekannte und Kollegen verschickt. Benannt nach der Straße Calle de Euclides, in der Aub seit seiner Ankunft in Mexiko wohnte, bestanden die Nummern jeweils nur aus einer großformatigen Zeitungsseite, zweifarbig bedruckt mit je einer rot hervorgehobenen Schlagzeile sowie einem guten Dutzend weiterer Zeilen in verschiedenen Lettern und Größen. Am Fuß der Seite steht zwar bei jeder Ausgabe «Pase a la pág. 2», doch eine zweite Seite gab es nie. Themen des Blattes waren politische Konstellationen (der Kalte Krieg) oder tagesaktueller Gesprächsstoff wie die Fortschritte der Raumfahrt. In der zweiten Ausgabe vom 31. Dezember 1962 dieses «Periódico conservador», wie die Zeitschrift im Untertitel ironisch benannt war, hieß es beispielsweise: «Paraíso Abierto a Todos / desde la semana próxima. / Noticia exclusiva radiada por nuestro satélite en la Via Láctea […].» Oder in der siebten Ausgabe (31.12.1968): «Dios / Creó la Tierra / por un informe equivocado de la C.I.A. / Información exahustiva [sic] por la / posible responsabilidad de la existencia / de Satanás y el Infierno / […].» Doch in diesen satirischen und vor allem über ihre großformatige Graphik10 wirkenden Texten kommt auch das Thema der Zeitlichkeit, das für das Verständnis der raum-zeitlichen Wahrnehmung des Exils so wichtig ist, zur Sprache. Die dritte Ausgabe (31.12.1963) – es ist das Jahr von Aubs 60. Geburts-
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Von den Ausgaben des Correo de Euclides gibt es einen Nachdruck, herausgegeben von der Max Aub-Stiftung; hier wird zitiert nach den Abbildungen in Calles (2003a: 333ff.).
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tag – postulierte die Inversion der Erdgeschichte, da das Universum nicht älter, sondern vielmehr jünger werde: «El Futuro, Pasado / Nuestro Pasado es el Mañana / La Expansión del Universo, Espejismo / Vivimos al Revés / […] Lo Más Viejo es el Pasado […].» In den uchronischen Erzählungen La verdadera historia de la muerte de Francisco Franco (Aub 2006a: 337–357) oder der fingierten Antrittsrede Academia Española... (Aub 1993) formulierte Aub die in diesem «Extrablatt» spielerisch anzitierte Vision einer umkehrbaren Zeit diegetisch aus. Demgegenüber war Los Sesenta bezüglich Konzeption, Umfang und Inhalt eine Zeitschrift klassischen Zuschnitts. Sie erschien in fünf Ausgaben zwischen 1964 und 1966, bestückt nur mit erstmals veröffentlichten Originaltexten von Autoren, die über sechzig Jahre alt zu sein hatten: Ein Generationen-Projekt, das noch einmal die kreative Kraft der um 1900 Geborenen demonstrieren sollte. Die konkrete Planung für Los Sesenta begann im Sommer 1963, wie man aus den Briefen im Epistolario del Exilio erkennen kann (vgl. Aub 1992a), die Aub und der spätere Nobelpreisträger Vicente Aleixandre austauschten (vgl. Candel Vila 2007).11 Von Beginn an konnte Aub auf die Unterstützung von Aleixandre, Jorge Guillén, Rafael Alberti und Dámaso Alonso setzen, die nach seinen Vorstellungen in ihrem jeweiligen Umfeld weitere Beiträger hätten anschreiben und betreuen sollen. Da es zu dieser Zusammenarbeit de facto nicht kam, verblieb die gesamte Koordination und Redaktion in Aubs Verantwortlichkeit. Hinzu kamen persönliche Animositäten, da etwa José Bergamín seine Mitarbeit verweigerte, sollte Alonso mitmachen (vgl. Mengual Català 1996: 717). Dennoch gelang es Aub, sieben Ausgaben fertigzustellen, von denen zwei durch die Druckerei Antigua Librería Robredo aber nicht mehr bearbeitet wurden. Die thematische Bandbreite und Qualität der Bände, die erscheinen konnten, ist allerdings beachtlich (vgl. Andújar 1978): Es finden sich Gedichte von Guillén, Aleixandre, Alberti, León Felipe, Manuel Altoaguirre, Erzählungen u.a. von Ramón J. Sender, Essays von Joaquin Casalduero, Julio Torri, Américo Castro sowie autobiographische Erstveröffentlichungen u.a von Miguel de Unamuno. Als literarische Zeitschrift bewertet Josep Mengual Català Los Sesenta als «fracaso», was er damit begründet, dass «lo que nacía como un elemento de cohesión […] acabó convirtiéndose en una empresa individual» (Mengual Català 1996: 717). In der Tat hatte Aub das kollektive Projekt als Demonstration der Gemeinsamkeit über die geographischen und politischen Grenzen hinweg geplant, mit Autoren del interior und del exterior, aus Europa, Nord- und Südamerika.
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Die Idee einer «Generationen-Zeitschrift» war nicht neu: In Spanien hatte es zwischen 1900 und 1904 bereits ein ähnlich konzipiertes Blatt namens Gente Vieja gegeben, unter Mitarbeit u.a von José Echegaray und Pérez Galdós (vgl. Mengual Català 1996: 715f.). Die Vision eines Periodikums allein mit Originalbeiträgen, ohne Literaturkritik und bevorzugt mit persönlichen Texten (Korrespondenzen, Erinnerungen, Tagebücher) geht zurück auf das ebenfalls von Aub initiierte Projekt einer Hommage an den 1958 verstorbenen Juan Ramón Jiménez, den literarischen Mentor seiner Generation, das in Form einer Zeitschrift namens In Memoriam in mehreren Bänden realisiert werden sollte (vgl. Mengual Català 1996: 716).
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Zu Beginn der Planungsphase schrieb er am 6. Oktober 1963 an Aleixandre: «Lo mejor de la revista será que tendremos que escribirnos con frequencia», und in beinahe gleichlautenden Worten formuliert er gegenüber den anderen Unterstützern seine Zuversicht, über Los Sesenta ein selbst geschaffenes intellektuelles Netzwerk zu etablieren. Mindestens ebenso wichtig wie die Zeitschrift selbst war ihm die Intensivierung des Kontakts zu seinen Kollegen. Darum steckt er als Herausgeber seine Energie nicht nur in die Suche nach attraktiven Texten – beinahe wäre es ihm gelungen, Federico García Lorcas El Público zur Erstveröffentlichung zu bekommen, was tatsächlich einer Sensation gleichgekommen wäre –, sondern beispielsweise auch in die Annäherung zwischen Bergamín und Alonso (vgl. Mengual Català 1996: 719f.). Die kollektive Redaktionsarbeit an diesem Projekt ließ sich zwar nicht umsetzen, was jedoch Wirklichkeit wurde war der zweite Teil der Vision: einen literarischen Freiraum zu schaffen für die Autoren seiner Generation, ungeachtet ihres derzeitigen Wohnortes, ungeachtet ihrer früheren politischen Präferenzen. Auch wenn sich die konkrete Redaktionsarbeit der ursprünglich designierten Co-Herausgeber nicht über die Zwänge der räumlichen Trennung hinwegsetzen konnte, die Zeitschrift selbst unterstrich nachdrücklich, dass sich andere Identitätskonstruktionen schaffen ließen, in diesem Fall die der selbst gewählten generationalen Gemeinsamkeit: eine Generationen-Identität, die sich über die Zwänge von Geographie und Politik hinwegzusetzen vermochte. Da es für die Generation der um 1900 geborenen, notgedrungen verstreut über viele Länder und zwei Kontinente, einen gemeinsamen identitätsbildenden geographischen und politischen Raum nicht gab, musste sie ihn sich selbst schaffen. Oder, wie Aub in der ersten «Nota» zu Sala de Espera geschrieben hatte: «Las cosas son como son y como nosotros queramos que sean.» Als 1968 definitiv klar war, dass weitere Ausgaben der Zeitschrift nicht mehr gedruckt werden würden, kündigte sich schon Aubs nächstes Generationen-Projekt an, diesmal in Form eines Romans aus Interviews: Luis Buñuel. Novela. Dort schrieb er im Vorwort über das prägende Umfeld seiner Generation in den zwanziger und dreißiger Jahren und unter Rückbezug auch auf ein Generationenprojekt wie Los Sesenta: «Si he dedicado los últimos años […] a reconstruir ese medio, el suyo, es porque fue paralelo al mío.» (Buñuel 24) Zeit-Schriften, Zeit-Räume In den drei Zeitschriften, die Max Aub im mexikanischen Exil konzipierte und edierte, wird eine spezifische räumliche und zeitliche Vorstellung vom Schreiben als Ausgeschlossener erkennbar, das sich durch Beweglichkeit und Dynamik charakterisiert. Zunächst einmal stellt ein Projekt wie Sala de Espera den Versuch dar, einen literarischen Freiraum zu etablieren, in dem der exilierte Autor weitgehend selbstbestimmt seine Texte veröffentlichen kann; da dieser Versuch als Einzelprojekt in Form einer «revista unipersonal» erfolgt, kommt den Paratexten die Funktion zu, den Akzent auf die gemeinsamen Anstrengungen des republikanischen Exils zu legen. Auffällig ist, dass dieser Freiraum dezidiert als beweglicher Raum verstanden wird: Daher Aubs Insistieren auf seiner Auslegung 192
des Terminus «espera», daher die Einstellung der Zeitschrift, als sie zur «Sala de estar» zu werden droht. Bei Correo de Euclides wie bei Los Sesenta steht die soziale und kommunikative Funktion der Zeitschrift im Vordergrund: Bei ersterer dominant, weil sie mit möglichst geringem Aufwand erstellt und postwendend als Grußbotschaft verschickt wird, bei letzterer, weil sie ein intellektuelles Feld knüpfen und festigen soll, das über keinen gegebenen geographischen und politischen Raum verfügt. Hier sind die Zeitschriften nicht nur als selbst geschaffener Raum des Schreibens zu verstehen, sondern vor allem auch Abbildungen einer anderen Vorstellung vom Raum des Ausschlusses: Ein Raum, der durch eine bestimmte Zeitlichkeit konstruiert wird, die der Generationalität. Indem in Los Sesenta nebeneinander Autoren einer Generation schreiben, die durch den Bürgerkrieg in viele Länder verstreut wurde, wird ein gemeinsamer Zeit-Raum rekonstruiert, der sich über die sonst geltende Logik des Ausschlusses hinwegsetzt. Die einigende Kraft der Generationenerfahrung ist in diesem Fall stärker als die ausschließende Kraft des politisch gewollten Ausschlusses und der geographischen Trennung. Als Ausdruck in einer «spezifischen Generationalität» (Reulecke 2005: 32) wird das bewegliche Medium Zeitschrift als Ort für eine zeitlich begründete Redefinition des Raumes des Ausschlusses genutzt. Denn dass nur eine bewegliche Vorstellung vom Raum des Exils in die Lage versetzt, das Denken in der binären Statik von Einschluss vs. Ausschluss aufzurauhen, war Aub schon Ende der vierziger Jahre bewusst; das belegen viele der Motti, die jeder Lieferung von Sala de Espera vorangestellt sind. Die widerständigen unter ihnen wurden bereits erwähnt, mehrere andere heben auf die Dynamik und Beweglichkeit ab, die für den Ausgeschlossenen nötig seien, etwa «Andar parar esperar» oder «Todo está por hacer: hagas lo que hagas, nunca se hizo». Das seinerzeit noch nicht realisierbare, aber in Los Sesenta umgesetzte Ziel einer neu geknüpften Verbindung, eines Brückenschlags, fand sich dort ebenfalls in pointierter Form: «Ser puente: todo ojos y buenos espolones.» (Aub 2006a: 400) Betrachtet man die Zeitschriften in ihrer Chronologie, könnte man Sala de Espera als die sich mit Augenmaß vorschiebende Uferbefestigung verstehen («todo ojos y buenos espolones») und Los Sesenta als die Brücke.
Von den Kulturen zur Transkulturalität Max Aubs Lebenslauf ist einerseits typisch für den Lebensweg eines um die Jahrhundertwende geborenen und mit der Segunda República sympathisierenden Intellektuellen: Flucht gegen Ende des Krieges nach Frankreich, schwierige Weiterreise in ein sicheres Gastland, provisorische Existenz in der Hoffnung auf baldige Rückkehr nach Spanien in den vierziger Jahren, dauerhafte Einrichtung im Gastland ab den fünfziger Jahren und schließlich Tod im Exil, ohne in Spanien je wieder ein nennenswertes Publikum gefunden zu haben. Mit denselben Worten ließen sich die Stationen des Exils von Luis Cernuda oder José Gaos, León Felipe oder Augustí Bartra zusammenfassen. Andererseits besteht die Besonderheit im Fall von Aub darin, dass er 1939 de jure zwar die spanische Staatsangehörigkeit 193
besaß, aber de facto mit einer gänzlich anderen transkulturellen Prägung ins Exil gezwungen wurde als seine Schriftstellerkollegen und politischen Weggefährten. Eben weil er, wie wir gesehen haben, nicht in Spanien in einer spanischen (und katholischen) Familie geboren wurde, weil spanisch nicht seine Muttersprache war und weil die spanische Kultur nicht seine einzige war. Wie wir bei der Analyse der Texte sehen werden, ist das Verständnis dessen, was der Begriff «Kultur» im Zusammenhang der Identitätsdiskussionen zwischen den Spaniern im Exil und den Spaniern in Spanien überhaupt meint, bei Aub signifikant anders besetzt als bei vielen anderen Exilanten – was nicht erstaunt, wenn man die longe durée des Kulturbegriffs in Spanien, Frankreich und Deutschland betrachtet. War der deutsche Kulturbegriff der Zwischenkriegszeit, mit dem Aub von seinem deutschen Kindermädchen und seiner Mutter erzogen wurde, ein emphatischer Leitbegriff, der zusammen mit dem der «Bildung» die Persönlichkeit eines Individuums (oder der Nation) bezeichnet, würde das semantische Äquivalent in Frankreich eher mit dem Begriff der «civilisation» benannt werden, während «culture» nahe der lateinischen Wurzel die (physische) Pflege und Verbesserung benennt. Auch der spanische Terminus «cultura» meint zuerst «cultivo», folgt man dem Wörterbuch der Real Academia. Unabhängig von dem in dieser Studie sonst gebrauchten heutigen Kulturbegriff zeigt dieser kurze Blick zurück auf die für Aub möglichen Kulturbegriffe, wie problematisch die Frage ist, zu welcher «Kultur» (im Singular) Max Aub wohl gehört. Sprechen wir also besser von den Kulturen des Max Aub. Die Wahl der Kulturen… Ungeachtet dieser Problematisierung des Kulturbegriffs operieren die bisherigen Arbeiten über die deutschen (vgl. Rodríguez Richart 1996) oder französischen Spuren in seinem Werk (vgl. Pérez Bowie 2005) zumeist mit bipolaren Modellen und statischen Konzepten: Andere Kulturen als die spanische werden getrennt voneinander betrachtet, und der verwendete Kulturbegriff ist eng gefasst. Aufhänger ist in erster Linie die juristische Kategorie der Staatsangehörigkeit oder die geographische des Raums. Zwar ist es einerseits nicht falsch zu sagen, dass Spanien und Frankreich die Länder sind «que más decisivamente han influido en su biografía y en su proceso de creación, las que han dejado huellas más indelebles en su espíritu, en su visión del mundo y en su literatura» (Rodríguez Richart 1996: 181), andererseits aber blendet die Fokussierung auf national zu begreifende «influencias» («Einflüsse») die transkulturelle Dynamik der kulturellen Praxis Max Aubs aus. Befördert wird diese Stillstellung der transkulturellen Dynamik durch die Vorgaben der Herausgeber wichtiger Sammelbände, die Werk und Vita a priori in regional getrennte Portionen zerteilen und bearbeiten lassen: So in dem Band Max Aub en el laberinto del siglo XX (Calles 2003a, ähnlich auch in Alonso 1996), in dem die Bezüge zur deutschen Kultur (Buschmann 2003d, Figueras 2003c) und zur französischen (Malgat 2003a) getrennt voneinander zu untersuchen waren. Demgegenüber soll nun erläutert werden, warum nur mit einem weniger präskriptiven und deterministischen Kulturverständnis, 194
vielmehr mit einem transarealen Ansatz, also mit einer nationalkulturelle Grenzen unterlaufenden Gesamtschau der kulturellen Erfahrungen der prekäre Status Max Aubs als «spanischer Schriftsteller» zu begreifen ist. Folgt man den Selbstzeugnissen, scheinen die Dinge einfach zu liegen. Die Annahme der spanischen Staatsangehörigkeit im Jahr 1923 ist nicht nur ein juristischer Akt, sondern bedeutet für Aub auch eine lebenslang gültige und ihn bindende kulturelle Wahl: «Nunca se me occurió dudar», schreibt er 1953 in einer biographischen Selbstauskunft an Rafael Prats Rivelles (zit. nach Soldevila 1999a: 23). Zwar zwingen ihn die politischen Umstände, 1955 die mexikanische Staatsbürgerschaft anzunehmen, an seiner kulturellen Wahl ändert das jedoch nichts, wie der folgende Eintrag vom 12. Januar 1967 in sein Tagebuch zeigt: [...] nada tengo que ver con los alemanes, ni con los polacos, ni con los japoneses, ni con los argentinos. Mis ligazones son con los mexicanos, los españoles, los franceses y algo, tal vez, con los ingleses. Tal vez más con los españoles, pero sólo, quizá, con los de mí tiempo. (Diarios 387)
Die Spanier seiner Generation, «los de mi tiempo», seien es, mit denen er die meisten Gemeinsamkeiten habe, erklärt Aub, und betont damit jenes Prinzip der generationenspezifischen Identitätsbildung, das in seinen biographischen Romanen Luis Álvarez Petreña und Luis Buñuel. Novela ebenso deutlich zu erkennen war [ĸ Kap II] wie in einer Zeitschrift wie Los Sesenta. Aub differenziert seinen Bezug zu Spanien, indem er die üblichen familiären, juristischen und geographischen Anknüpfungspunkte an dieser Stelle ausklammert und sie einschränkt auf eine Gruppe von Personen, mit denen er prägende kulturelle Erfahrungen der zwanziger und dreißiger Jahre teilt. Die in unseren westlichen Gesellschaften kodifizierten Kategorien kultureller Zugehörigkeit, die im Kern auf Ort und Rechtsraum der Geburt abheben und das Subjekt retrospektiv festschreiben, ersetzt Aub durch die selbst gewählte und vor allem bewegliche Kategorie der Generationenzugehörigkeit: Denn wen er zu seiner Generation zählt und wen nicht, bestimmt er allein, und er tut es prospektiv, als zukunftsgerichtete prise de position im literarischen Feld, wie bei der Planung für Los Sesenta zu sehen war. Die spezifische zeitliche Dimension der Existenz im Exil, auf die Aub mit der Fokussierung auf die gemeinsame Erfahrung der jungen Jahre abhebt, zeigt sich auch in seiner prononcierten Ausrichtung auf Valencia. Die Herkunft eines Menschen messe sich nicht an dem Ort, an dem er geboren wurde (eine das Subjekt in die Passivität drängende Vorstellung), sondern daran, wo er sein Abitur gemacht habe: «Y no se es de donde se nace [… sino] de donde se estudia el bachillerato; por eso soy valenciano.» (Aub 1969: 214) Die vom Subjekt nicht wählbare Kategorie des Geburtsorts ersetzt er durch die wählbare, den Ort eines prägenden Bildungserlebnisses, weshalb auch der Prozess und die soziale Anbindung dieser Bildungserfahrung mit einbezogen wird: Die Schulzeit mit ihren künstlerischen und intellektuellen Freundschaften. In einem Radiointerview mit André Camp erinnert sich Aub Anfang der sechziger Jahre an seine Schulzeit mit den beiden anderen in Mexiko lebenden Exilanten José Gaos und José Medina Echevarría: «Creo que esos recuerdos [...] quedan como la base misma de mi ser español. Si 195
se busca hacia atrás, no se encontará la tierra, sino los libros, el aire de Valencia, los naranjos, la huerta.» (Zit. nach García 2002a: 69) In diesem Zitat verdichtet sich die Orientierung weg von den statischen und fremdbestimmten Kategorien kultureller Identität hin zu beweglichen und selbstbestimmten, indem Aub «tierra» gegen «aire» setzt. Nicht die (geographischen, genetischen, juristischen) Wurzeln in der «Erde» zählen für ihn, sondern die «Luft» bzw. der «Geist» der Bildungserfahrung («los libros»), nicht die Natur («la tierra»), sondern was der Mensch daraus macht («los naranjos, la huerta»). Aubs «ser español» wird auf diese Weise spezifiziert zu einer Art «ser valenciano». In einem Brief an Ignacio Soldevila von 1962 bezeichnet er sich als «valencianischer Schriftsteller»: «Lo de ser escritor valenciano, además de parecerme bien, es verdad.» (Soldevila 1999a: 18) Diese spezifische Selbsteinschreibung bestätigt auch seine Tochter Elena Aub: «Se hizo español y valenciano con todas sus consequencias, con una aplicación cotidiana que no abandonaría nunca.» (E. Aub 2002: 56) In seinen Büchern schlägt sich diese deutlich affektive Bindung dergestalt nieder, dass seine Figuren sich in der Stunde der Not bevorzugt an die (glückliche) Zeit in Valencia erinnern. So etwa Vicente Dalmases, der in Campo abierto in der verdorrten Meseta in Erwartung eines Angriffs auf dem trockenen Boden liegt, im Angesicht des drohenden Todes an die fruchtbare Üppigkeit der Huerta denkt und an das Wasser des «Mediterráneo, azul, como una corteza de naranja. Azul y naranja» (Abierto 449). Stehen auf diesen Seiten Tod und Trockenheit Zentralspaniens gegen Wasser und Leben der Küstenstadt Valencia (zum Wassermotiv im Magischen Labyrinth vgl. Kap. III), ist es in der folgenden Textstelle aus Campo de sangre, in der die Figur Paulino Cuartero vor einem Bombenangriff in einem Metroschacht Schutz sucht, die Opposition Hunger vs. Sättigung, die die Semantik der Erinnerungskette lenkt: [...] en un solo cerrar los ojos vuelve a ver los buñuelos, hinchados, cuscurrosos, redondos, lucientes, todavía empapados del aceite que resudan en brunos lamparones sobre los abultados sacos de papel pajizo. Los buñuelos se van dorando en la caldera oscura, mantenidos por el aceite hirviendo, aureolándose de burbujas; cada buñuelo una isla, con su contorno de arrecifes, blanca espuma formada por el aire y el agua que desprende la masa que del color flavo de la miel helada pasa al dorado de la translúcida […] (Sangre 413)
Noch über eine ganze Seite hinweg wird die Erinnerung an diese kulinarische Spezialität Valencias bildreich und klangvoll ausgebreitet. In ihr zeigt sich nicht nur eine affektive Bindung der Figur an die Stadt, in der sinnlichen Vergegenwärtigung des regionalspezifischen Geschmackserlebnisses scheint sie auch jene Distanz überwinden zu wollen, die dem in Mexiko schreibenden Autor nur allzu bewusst ist und die er nur in der Imagination schließen kann. Wie wichtig diese sinnliche Erfahrbarkeit der Region Valencia war, belegen die vielen Seiten in La gallina ciega, denen Aub seiner Wiederbegegnung mit der iberischen Küche widmet. In die gleiche Richtung argumentiert Rafael Chirbes (auch er aus der Nähe von Valencia stammend), wenn er fordert, endlich einmal all die Verweise auf Valencia in Aubs Werk zu katalogisieren: 196
Alguien debería estudiar la presencia de Valencia en Max Aub, marcar la cantidad de veces que aparece la toponomia de la capital o de sus pueblos y comarcas en sus novelas sería un buen termómetro que daría una idea aproximada del dolor de esa ausencia en su vida de exilio. (Chirbes 2002: 122)
«Valencia» wäre demnach nicht nur referenziell als Ortsbezeichnung zu verstehen, als topographischer Aufhänger einer kontinuierlichen Identitäts(zu)schreibung, sondern vor allem symbolisch zu lesen, als Chiffre für eine jenseits der Imagination nicht zu überbrückende zeitliche und räumliche Distanz in Folge des politisch und historisch bedingten Ausschlusses. Aubs Selbsteinschreibung in die spanische Kultur, so viel lässt sich bereits sagen, ist nicht nur zeitlich (generationenspezifisch), sondern auch regional einzuschränken. Mit der ersten Einschränkung grenzt er sich ab gegen das Spanien derjenigen, die zwar in seinem Alter sind, sich aber nicht der Republik verpflichtet fühlten, sowie gegen die nachfolgenden Generationen, die von den Ideen und Idealen dieser Republik nichts mehr wissen (wollen); die schwierige Begegnung mit letzteren wird einen der roten Fäden in La gallina ciega bilden. Die enge kulturelle Anbindung an eine Region, einen Landstrich, eine Stadt hingegen ist im iberischen Kontext nicht distinktiv, sondern dient damals wie heute der Markierung der eigenen Identität. Dass Luis Buñuel Aragonese war und Salvador Dalí Katalane, Vicente Aleixandre Kastilier und Luis Cernuda Sevillaner, diese lokal spezifizierenden Hinweise fehlen in keinem spanischen Text über diese Künstler. Auch Aub hatte ja in seiner Einführung in die spanische Erzählliteratur Discurso de la novela española contemporánea bei jedem Autor vermerkt, von wo er stammte und wie er sich zu der Region seiner Herkunft verhielt [ĸ Kap. I] – das Besondere in seinem Fall besteht allerdings darin, dass er sich den Ort, die Region und mit ihm die Zeit (die literarische Generation) selbst wählte, die er für seine Identitätsbildung als entscheidend erachtete. Diesen Begriff der Wahl hat auch Antonio Muñoz Molina hervorgehoben, als er vor seiner Aufnahme in die Real Academia de la Lengua Española in einem Interview sein Bild des Intellektuellen Max Aub darlegte: Primero, él eligió ser español y luego eligió ser exilado español. Había vivido sólo 25 años en España, era judío askenazi, nacido en París y traído a España de niño, que al terminar la guerra civil podría haber escogido otro mundo intelectual. Eligir ser toda su vida un intelectual español, como actitud democrática y cívica, me parece verdaderamente ejemplar. (zit. nach Pereda 1996: 8)
Der Kern des Aubschen Kulturbegriffs ist also der der «Wahl». Grundsätzlich hätte er auch eine jeweils andere Wahl treffen können – sich um die französische Staatsbürgerschaft bemühen, praktizierender Jude werden oder seine Pariser Kindheit gegenüber der Valencianischen Jugend höher bewerten. Keiner dieser Wege scheint für Max Aub tatsächlich gangbar gewesen zu sein. Dennoch ist es sinnvoll, diese Optionen zu bedenken, denn wenn man sich diese Wahlmöglichkeiten vor Augen hält, wird eines deutlich: Egal welche Wahl Aub getroffen hätte, immer wäre der jeweils ausschlaggebende Parameter kein absoluter geworden, sondern ein durch die jeweiligen Co-Optionen relativierter geblieben. Anders 197
gesagt: Auch ein nach 1939 auf französisch schreibender Max Aub hätte sein spanisches und deutsches kulturelles Gepäck weiter mit sich getragen, auch unter den französischen Autoren wäre er höchstwahrscheinlich der Andere geblieben. Aubs kulturelle Biographie ist somit vor allem geprägt durch Optionen auf verschiedenen Ebenen (der staatsbürgerlichen, der sprachlichen, der religiösen), die ihn einerseits zu Wahlentscheidungen zwangen, ihm andererseits keine Wahl ließen: Zum einen standen ihm, aufgrund des Lebenswegs seiner Eltern, eben nur bestimmte Optionen offen, zum anderen schränkte die politische Entwicklung des 20. Jahrhunderts, vor allem Bürgerkrieg und Weltkrieg, die Optionen, die sein Überleben sichern helfen konnten, ein. So schwierig beispielsweise sein Bekenntnis zur spanischen Kultur ab 1939 war (und wie leicht vielleicht Einiges durch eine Rückbindung an die französische geworden wäre), eine Option für die deutsche Seite seiner Vita hingegen war damals ebenso lebensbedrohlich wie die unfreiwillige und fremdbestimmte Rückbindung an die jüdische Identität seiner Großeltern, zu der ihn ein franquistischer Denunziant, die französische Polizei und die auch in Südfrankreich aktive Gestapo zwangen. …und der Sprache Die zentrale Kategorie, nach der die kulturelle Zugehörigkeit eines Schriftstellers analysiert werden muss, ist sicherlich die der Sprache, in der er schreibt. Mehr noch als im Fall der (doppelten) Staatsangehörigkeit und der (selbst gewählten) geographischen Herkunft scheinen im Falle Aubs die Verhältnisse eindeutig zu sein.12 Die zu Beginn seiner Schriftstellerkarriere getroffene Entscheidung für das Spanische als seiner einzigen literarischen Sprache korrigiert er auch nicht im Exil, obwohl ihm auch andere Sprachen zur Verfügung gestanden hätten. Doch nie, auch nicht nach der Flucht aus Spanien 1939, zog er Französisch als Sprache seines literarischen Ausdrucks ernsthaft in Erwägung (vgl. Diarios 267). Dabei sprach er es akzentfrei, wie man beim Abhören der verfügbaren Interviews mit Radio France aus den sechziger Jahren bemerkt. Spanisch hingegen sprach er bis ins hohe Alter mit Akzent, sein französisches «r» klang immer durch (vgl. Giner de los Ríos in Lluch Prats 2010: 11, ebenso Segovia 2005: 168). In Hablo como hombre schreibt er dazu: «[...] me hice hablando un idioma extranjero – nadie nace hablando– que resultó ser el mío [...] Hablé mal y con peor acento [...].» (Hablo 11) Für Aub ist das Erlernen der Fremdsprache Spanisch ab dem elften Lebensjahr unmittelbar verknüpft mit dem Erwachsenwerden, weshalb die Worte «me hice hablando» eine doppelte Bedeutung haben. Der Halbsatz lässt sich einerseits übersetzen mit «ich wurde erwachsen, während ich Spanisch lernte», aber auch mit «indem ich Spanisch lernte, wurde ich jemand». Die lebenslang hörbare Markierung seiner Sprache (spanisch «lengua») durch seine
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María Luisa Capella (1999) hingegen leugnet in ihrem Aufsatz über Las patrias de Max Aub den Zusammenhang von Sprache und kultureller Identitätsbildung (vgl. Figueras 2000: 38).
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französische «Zunge» (spanisch «lengua») war damals noch nicht vorhersehbar. Später hingegen, als sie sich als irreversibel erwies, wurde sie problematisch. Viele Selbstzeugnisse dokumentieren seine Enttäuschung angesichts der Tatsache, dass ihn seine «lengua» (i. S. v. «mein französischer Zungenschlag») immer wieder marginalisierte: «¡Qué daño no me ha hecho, en nuestro mundo cerrado, […] hablar con ese acento francés que desgarra mi castellano, ¡qué daño no me ha hecho! […]» (Diarios 128)13 Betrachten wir nach den Besonderheiten der gesprochenen Sprache nunmehr Max Aubs Schriftspanisch. Inwieweit ist es normenkonformes Hochspanisch (Castellano), inwieweit hat es französische, valencianische oder mexikanische Elemente aufgenommen, variiert, transformiert? Auf lexikalischer Ebene sind Toponyme, lokale Varianten und Benennungen spezifischer Flora gerade für die Regionen Valencia und Aragón häufig anzutreffen, wie sich aus den Worterklärungen in der Kritischen Werkausgabe etwa der in Valencia spielenden Bände des Magischen Labyrinths ablesen lässt. Gleiches gilt für die Mexikanismen in den Cuentos mexicanos oder fremdsprachliche Einschübe in den Romanen, Erzählungen und Theaterstücken, die in Frankreich spielen. Besonders variantenreich ist daneben der Rückgriff auf Soziolekte (vgl. Pérez Bowie 1997: 100f.). Doch ist die Verwendung von Dialekten und Soziolekten, von klein- bzw. fremdsprachlicher Lexik noch kein Ausweis transkultureller Prägung des literarischen Ausdrucks, sondern zunächst nichts weiter als ein Stilmittel zur realistischen Ambientierung der Handlung. Wobei die lexikalische Vielfalt, mit der vor allem im Magischen Labyrinth Sprache und Landschaft Valencias emuliert werden, ähnlich wie die angesprochene thematische Konnotierung der Stadt als kompensatorische Evokation des unerreichbar Verlorenen verstanden werden kann. Weitaus komplexer als die Lexik stellt sich die Frage bei Syntax und Semantik. Ignacio Soldevila sieht in Aubs Spanisch semantische Interferenzen aus dem Französischen (Soldevila 1999a: 119) und Mercedes Figueras aus dem Mexikanischen: «A medida que transcurrió su vida en México, el lenguaje de Aub asimiló matices mexicanos, pero cuando pudo publicar en España, fueron esos matices justamente, los que los correctores españoles le eliminaron.» (Figueras 2000: 56) Gerade diese lateinamerikanischen Elemente waren es, die seinerzeit von kastilischen Korrektoren getilgt wurden. Als Aub 1968 beim Verlag Aguilar sein Teatro completo veröffentlichte, stellte er bei der Durchsicht der Fahnen fest, dass an seinem Text zahlreiche Veränderungen vorgenommen worden waren: Los correctores me han sustituido todos los mexicanimos. ¿Qué hacer? Evidentemente, corregir los que suceden en México. Pero, ¿y lo que no ocurre señaladamente en España? ¿Fiarse sólo del oído... ? ¿De qué oído? ¿Del mío, ahora, aquí? ¿Del de mañana, si lo tuviera, en España? (Diarios 412)
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Aubs Unbehagen hängt zusammen mit der großen Bedeutung der Sprache als Identitätsraum gerade in den hispanoamerikanischen Kulturen (vgl. Rehrmann 1996: 130ff.).
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Es ist bezeichnend für Aubs Sprachempfinden, dass er für die anstehende Korrektur nicht etwa auf das Diccionario de la Real Academia zurückgreifen wollte, sondern auf sein Gehör. Doch weil das Gehör nicht objektiv, sondern subjektiv ist, weil es mit seinem Träger altert, sah er, der seit beinahe dreißig Jahren nicht mehr das in Spanien gesprochene Spanisch hören konnte, sich außer Stande, den Korrektoren und ihrem Versuch der sprachlichen Expatriierung zu widersprechen und resümierte: «Curioso problema, sólo resuelto con la verdad: no darle importancia.» Gleichzeitig ist ihm wohl bewusst, dass es an dieser Stelle nicht nur um seine Sprache und um deren Bewertung aus der Perspektive des zentralspanischen Verlagshauses geht, sondern auch um die Anerkennung seines persönlichen Sprachstils, der Ausdruck seiner individuellen historischen, kulturellen und eben auch sprachpraktischen Lebenserfahrung ist. «No darle importancia», schreibt er zunächst pragmatisch über den Eingriff der Aguilar-Korrektoren, und fährt fort: «¿Qué más da? Sí da, pero sólo para mí.» Nur für ihn persönlich seien die verschiedenen nationalsprachlichen Strate, die seinen Stil determinieren, von Bedeutung. Andererseits: Bei keiner für den spanischen Leser möglicherweise ungewöhnlich anmutenden Textstellen, deren Syntax eigenartig invers ist, die bei knappen und humoristischen Repliken in den Dialogen auch einmal deutsch anmutet, oder bei der Stellung des modalen Hilfsverbs an französische Regeln erinnert, ließe sich eindeutig sagen, welcher Seite man das jeweilige syntaktische Phänomen nun zuschlagen sollte: dem (reflektierten) Stilwillen des Autors oder der (unbewussten) sprachlichen Prägung? Fest steht, dass Aub diese Fragen in seinen fiktiven Texten vielfach reflektiert hat, wie bei der Stilanalyse der Romane des Magischen Labyrinths gezeigt wurde.14 Dennoch stellt die Sprache Max Aubs für Leser, die allein in normativen nationalsprachlichen Kategorien denken, bis heute eine Provokation dar. So sprach Santiago Fernández Aub nach der Lektüre von Campo cerrado die Fähigkeit ab, Kastilisch zu schreiben: El prinicpal defecto [del libro...] es el rebuscado y abusivo uso que Max Aub hace de la lengua. No es que emplee vocablos en desuso, sino que utiliza vocablos que jamás se han usado. El lector precavido no deberá ceder la tentación de buscarlos en el diccionario. […] (Fernández 2002: o. S.)
Im ersten und im letzten Satz des Zitats legt Fernández implizit seine Bewertungsmaßstäbe dar, wenn er die «pingelige», die «gewollte» Wortwahl und die Fokussierung des Literarischen auf das Sprachmaterial selbst als «defecto» geißelt; umgekehrt formuliert läuft seine Argumentation darauf hinaus, dass eine gängige, unauffällige und vor allem im Wörterbuch überprüfbare Lexik als Ausweis von literarischer Qualität zu gelten habe. Aus der Abkanzlung Santiago
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Besonders sinnfällig und sinnlich wird diese Frage in der Diskussion zwischen Lagerhäftlingen aus aller Herren Länder behandelt, die in Campo francés über die korrekte Benennung für ein Eintopfgericht streiten und wortreich erläutern, warum ein Ragout mit einem Gulasch überhaupt nicht zu vergleichen sei (vgl. Gerhold 2003).
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Fernández’ spricht jener «cultural nationalism», wonach nur derjenige spanische Literatur schreibt, dessen Lexik sich im maßgeblichen kastilischen Wörterbuch findet, und gleiches gilt für die wörterbuchgläubige Depuration der Aguilar-Korrektoren. Wer Literatur nach solchen exklusiv nationalsprachlich fixierten Maßstäben beurteilt, kann mit einem Autor wie Max Aub, der sich auf die gehörte, auf die inkorporierte Spracherfahrung verlässt, der transareal Sprachbestände verknüpft und dynamisiert, nichts anfangen außer ihn schulmeisterlich zu korrigieren oder herabzusetzen. Dabei besteht der Reichtum dieser Sprache gerade in der kulturellen Dynamik, die sie abbildet und mit der sie eine individuelle Erfahrung miteinander verknüpfter kultureller Räume sprachlich erfahrbar werden lässt. In diesem Sinne könnte man die Literatursprache Aubs bildlich als seine Heimat bezeichnen, wenn nicht der Begriff der «Heimat» eine Statik und eine Herkunftssemantik suggerieren würde, die der doppelten Dynamik seiner Sprache entgegensteht: Der Bewegung, die der Leser in ihr nachvollziehen kann, und die Beweglichkeit, mit der sie Wirklichkeit modelliert.15 Sich selbst betrachtet Max Aub als «escritor español y ciudadano mexicano» (Hablo 11), obwohl seine multinationale Herkunft, seine Staatsbürgerschaften und seine Wahl der Literatursprache ihn keineswegs zum selbstverständlichen Teil der Gruppe der spanischen Schriftsteller oder der mexikanischen Staatsbürger machte. Mit dieser Problematik seiner vielen und prekären Zugehörigkeiten beschäftigt er sich durchgehend. Bereits im August 1945 schreibt er in seinem Tagebuch: ¡Qué daño no me ha hecho, en nuestro mundo cerrado, el no ser de ninguna parte! El llamarme como me llamo, con nombre y apellido que lo mismo pueden ser de un país que de otro... En estas horas de nacionalismo cerrado el haber nacido en París, y ser español, tener padre español nacido en Alemania, madre parisina, pero de origen también alemán, pero de apellido eslavo, y hablar con ese acento francés que desgarra mi castellano, ¡qué daño no me ha hecho! El agnosticismo de mis padres –librepensadores– en un país católico como España, o su prosapia judía, en un país antisemita como Francia, ¡qué disgustos, qué humillaciones no me ha acarreado! ¡Qué vergüenza! Algo de mi fuerza –de mis fuerzas– he sacado para luchar contra tanta ignominia. Quede constancia, sin embargo, y para gloria de su grandeza, de que en España es donde menos florece ese menguado nacionalismo, hez bronca de la época; aunque parezca mentira. Allí jamás oí lo que he tenido que oír, aquí y allá, en pago de ser hombre, un hombre como cualquiera. (Diarios 128f.)
Name, Herkunft, Akzent, Religion, alles lässt ihn am einen oder anderen Ort nicht dazugehören, und wieder ist es Spanien, dem der positive Wert zugeschrieben wird, den diversen Ausdrucksformen des Nationalismus noch am wenigsten zugeneigt zu sein. Aber im Exil, im Vergleich mit den zahlreichen anderen
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Auch María Luisa Capella (1996: 52ff.) weist die Aussage «la patria es el idioma» in Bezug auf Max Aub zurück, allerdings aus gänzlich anderen Gründen (der Wohnort ist ihr wichtiger), und benennt die französischen Spuren in seiner Sprache abwertend als «Verschmutzungen» («los galicismos de los que está plagado [su lengua]», Capella 1999: 53).
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spanischen Intellektuellen, die sein Schicksal des «destierro» teilen, wird ihm bewusst, dass in seinem Fall die Dinge noch einmal anders liegen, dass sein «destierro» keine «tierra» hat, auf die es sich unmittelbar und selbstverständlich beziehen könnte, sondern nur jene «aire» selbst gewählter Zugehörigkeit. Zum einen hat er sich, wie seine spanischen Mit-Exilanten, mit den Vorbehalten der Mexikaner gegen die in der Regel exzellent ausgebildeten und anfangs vom Staat umfassend unterstützten «gachupines» auseinanderzusetzen (vgl. Soldevila 1999a: 44). Zum anderen macht ihn sein «ser de ninguna parte» auch unter den spanischen Emigranten, für die nur Spanien als der Raum in Frage kommt, auf den sie sich beziehen werden, zum Außenseiter. Emblematisch die Formulierung von Gustav Siebenmann, wenn er sich an den Autor im Kreis seiner Freunde und Kollegen erinnert: «Max Aub saß still dabei, aus seiner Ecke ein scharfer Beobachter.» (Siebenmann 2007: 105) Unter den Spaniern ist er mit seinem unspanisch klingenden Namen, seiner deutschen Herkunft, seinem französischen Akzent und schließlich seinem Agnostizismus, mehr noch seinem nicht katholischen und irgendwie jüdisch geprägten religiösen Hintergrund der Andere. Eine mehrfach fundierte Alterität, deren ausschließende Wirkmacht nicht überrascht, wenn man die ungebrochene Hispanidad und den ihr eingeschriebenen «cultural nationalism» betrachtet, der oftmals in den Texten der spanischen Exilschriftsteller aufscheint.16 Der Wohnort Mexiko, der einerseits zum «sitio en el mundo» nicht werden konnte, ist andererseits alles andere als nur provisorisch bewohnter geographischer Raum. Man muss sich Max Aub vielmehr als vergleichsweise schnell und beruflich wie privat vielfältig integrierten Neuankömmling vorstellen. 1943 wird sein Stück La vida conyugal von Celestino Gorostiza, einem der namhaften jungen mexikanischen Regisseure, inszeniert. Zehn Jahre später, als er von der Zeitung Excelsior als «gefährlicher Kommunist» attackiert wird, wehrt er sich mit einem offenen Brief an den Staatspräsidenten Adolfo Ruiz Corino, in dem sich eine lange Aufzählung all derjenigen mexikanischen Intellektuellen findet, die das Gegenteil bezeugen könnten. Sebastiaan Faber sieht damit seine Integration in das mexikanische Geistesleben bestätigt: [...] the litany of prominent figures from Mexican public life that Aub invokes in support of his reputation shows how he had managed, during his eleven years in Mexico, to establish connections with a great number of important intellectuals and politicians. In the second place, it is interesting to note that Aub, as a Spanish intellectual, explicitly swears allegiance to a Mexican president and his regime. (Faber 2002a: 247)
Auch seine regelmäßig erscheinenden Bücher werden in dieser Zeit als selbstverständlicher Teil der mexikanischen Kultur wahrgenommen, beispielsweise sein aus Anlass des 100. Todestages von Heinrich Heine entstandender Essay über den
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In einem Streit muss Aub erleben, dass gegen ihn auch antisemitische Register gezogen werden, wie er im November 1943 im Tagbuch notiert: «En su rabia recurre al antisemitismo, curioso.» (Diarios 7.10.1943) – Zum «cultural nationalism» vieler Autoren des republikanischen Exils vgl. Faber (2000), Buschmann (2008).
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deutschen Exilanten. Die zahlreichen Rezensionen, die zu dem Buch erscheinen, «reflejan que Aub, a los quince años de haberse establecido en México, estaba integrado en el campo cultural del país y su producción literaria era apreciada» (Figueras 2000: 56). In einer dieser Rezensionen wurde er als «escritor hispanomexicano» bezeichnet (zit. nach Figueras 2000: 55), eine Zusammenziehung, die zu seiner aktiven Teilhabe an beiden Seiten des kulturellen Lebens der mexikanischen Hauptstadt durchaus passt. Vor allem in seiner Rolle als Leiter des Universitätssenders ab Mitte der fünfziger Jahre gelingt es ihm, auch jungen lateinamerikanischen Autoren wie Julio Cortázar oder Gabriel García Márquez eine Bühne zu bieten (vgl. Aznar Soler 2003b). Diese Integrationsleistung Aubs betonen auch María Luisa Capella (1999: 47) und Liliana Weinberg (2005). Doch für Aub selbst blieb die fehlende Rückbindung an den iberischen Kulturraum der bestimmende Faktor seiner Selbstbefragung. Das belegen die beinahe verzweifelten Briefe an seine Agentin Carmen Balcells, die sich seines Erachtens nicht ausreichend um spanische Ausgaben seiner Bücher bemüht. Oder sein enttäuschter Rückblick in dem Augenblick, als er 1971 nach der Lektüre des aktuellen Heftes von Hora de España über das spanische Theater feststellen muss, dass er dort nicht einmal erwähnt ist: Y es que siempre me [...] tuvieron aparte. La razón es demasiado sencilla: ¿cómo iba a ser igual a ellos, la mayoría andaluces, ese francés medio alemán? Así, de frente, nunca me lo hicieron notar como aquí, en México, ¡por español!, pero había –menos en mis amigos– una zanja que sólo al cabo de cincuenta años (y tal vez por la lejanía) se ha semicolmado. Y aún están un poco asombrados. (Diarios 477)
Hier bricht sie sich noch einmal Bahn, die schwarze Seite seiner Nicht-Zugehörigkeit, die in diesem Augenblick nicht als Anregung der Kreativität, sondern allein als Frustration seit seinen literarischen Anfängen erinnert wird: Schon die «Andalusier» – gemeint sind die aus Südspanien stammenden und tonangebenden Vertreter der Generation von 1927 wie García Lorca, Alberti, Salinas, Cernuda – hätten ihn nie als ihresgleichen akzeptiert, und die Folgen dieses Ausschlusses glaubt er, zurückgeworfen auf seinen Status als «francés medio alemán», noch vierzig Jahre danach zu spüren. Mehr noch: Im Exil lässt man ihn seine Alterität mehr spüren als zuvor in Spanien («nunca me lo hicieron notar como aquí, en México»), weshalb sein Exil nicht nur ein Ausschluss aus Spanien ist, sondern auch eine permanente Infragestellung seiner Zugehörigkeit zu der Gruppe der spanischen Schriftsteller. Dass es sich dabei um eine selbst gewählte Zugehörigkeit handelte, verschärft die Problematik zusätzlich, und beides zusammen könnte eine weitere Erklärung für die rastlose literarische Produktion seit den vierziger Jahren sein. Das Fragen nach dem Verhältnis von Ausschluss und Einschluss wird im Mittelpunkt des folgenden Unterkapitels stehen.
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Eingeschlossen Schreiben Flucht und Lager, Ausschluss und Einschluss In den ersten drei Monaten des Jahres 1939, als die republikanische Front in Katalonien zusammengebrochen war und der endgültig Sieg Francos unmittelbar bevorstand, flüchteten etwa 500.000 Spanier über die Grenze in die benachbarten südfranzösischen Départements. Die genaue Zahl lässt sich heute nicht einmal halbwegs präzise ermitteln, da weder von republikanischer Seite die Ausreise organisiert wurde, noch die französischen Behörden in der Lage gewesen wären, diese enorme Menge an Menschen administrativ zu erfassen (vgl. Bernecker 1990). Überhaupt waren die dünn besiedelten, landwirtschaftlich geprägten und armen Grenzregionen damit überfordert, so viele Menschen unterzubringen und zu ernähren. Entsprechend hoch war die Sterblichkeit in den improvisierten Internierungslagern wie Argelès-sur-Mer oder Saint-Cyprien, in denen bis zu 100.000 Menschen zusammengepfercht wurden, pragmatischerweise direkt am Meer, weil man sich so einen Teil der Umzäunung ersparen konnte (vgl. Eggers 2002: 35ff., Dreyfus-Armand 2000: 65ff.). Den Unbilden der Witterung ausgesetzt, vor allem den kalten Fallwinden aus den Pyrenäen, hausten die Internierten meist in Erdlöchern oder in aus Planen und Stöcken gezimmerten Unterständen, bevor sie im Verlauf des Jahres 1939 entweder auf neu errichtete Internierungslager verteilt, in Arbeitslager geschickt oder im Fall der Soldaten zur Fremdenlegion gelockt wurden. Viele der Lager bestanden bis 1944, wobei sie mit der Kriegserklärung im Oktober 1939 und der 1940 folgenden Niederlage und Teilung Frankreichs eine neue Funktion bekamen: Die aus Spanien ausgeschlossenen Gefangenen wurden weniger, sei es durch Ausreise nach Lateinamerika oder durch Rückkehr nach Spanien. Dafür wurden nun politisch verdächtige Ausländer interniert, darunter zahlreiche vor dem Nationalsozialismus nach Paris geflüchtete Deutsche und Österreicher sowie vor dem Kommunismus geflohene Mitteleuropäer. Max Aub geriet erst mit dieser zweiten Welle in die Welt des «univers concentrationnaire», denn im Februar 1939 war ihm, gemeinsam mit dem Filmteam von Sierra de Teruel und noch immer versehen mit seinem Diplomatenpass aus dem Jahr der Weltausstellung 1937, nicht nur die Flucht über die Grenze, sondern weiter nach Paris gelungen. Dort lebte er bis zu seiner ersten Festnahme am 5. April 1940, ohne sich von einer Inhaftierung oder gar Deportation in ein Lager bedroht zu fühlen. Es folgten im Mai 1940 die Internierung im Stadion Roland Garros und die Überstellung in das südfranzösische Lager Le Vernet d’Arriège, in dem er zweimal interniert war (Mai bis November 1940, September bis November 1941), das erste Mal im Block C für verdächtige Ausländer, das zweite Mal im berüchtigten Block B für «extremistas peligrosos». Aub sitzt damit unter besonders verschärften Bedingungen ein, denn «Le Vernet est et restera pendant toute la guerre le plus dur des camps d’internement en France» (Dreyfus-Armand/ Temime 1995: 42). Zwischen den Aufenthalten in Vernet lagen kürzere Inhaftierungen in den Gefängnissen von Marseille und Nizza, bevor er am 27. November 204
1941 aus dem Lager Vernet nach Nordafrika in das Arbeitslager Djelfa verlegt wurde, wo er bis Mai 1942 überlebte. Alle Zeugnisse deuten darauf hin, dass in diesem Arbeitslager Vernichtung durch Unterernährung praktiziert wurde (vgl. Nos Aldás 2003: 202f.). In der späten Erzählung El cementerio de Djelfa (1961, Aub 2006b: 416–422) erinnert Aub an die vielen dort Verstorbenen, die – marginalisiert in einem weltvergessenen Lager irgendwo im Hohen Atlas – zu keinerlei Erinnerungsgemeinschaft zählen. Wir stellen fest: Max Aub war einer von Zehntausenden Spaniern, die Anfang der vierziger Jahre in Frankreich unter Hintanstellung aller üblichen rechtsstaatlichen Regularien (Recht auf Anklage, auf einen Anwalt, auf einen Prozess etc.) in Lagern interniert wurden, und das unter Bedingungen, die ihren Tod durch Unterernährung, Seuchen, fehlende medizinische Versorgung, Erfrieren oder Erschöpfung beförderten.17 Nicht nur der Ausschluss aus Spanien bestimmt ab 1939 sein Leben und sein Schreiben, sondern auch der Ausschluss aus der (französischen) Zivilgesellschaft sowie der Einschluss in die «campos de concentración», wie sie im Spanischen zumeist ohne Umschweife benannt werden.18 Aub schrieb im Lager, und er veröffentlichte diese teilweise geretteten Manuskripte in unterschiedlich weit ausgearbeiter Form und in allen Genres: Theater und Erzählung, Lyrik und Drehbuch. Da das Lager eines der Paradigmen zum Verständnis der Gesellschaften des 20. Jahrhunderts sein dürfte, das für das Verständnis unserer Gegenwart des 21. Jahrhunderts nichts an Bedeutung verloren hat, ist vor der Analyse der Aubschen Texte des «eingeschlossenen Schreibens» ein Blick auf diese philosophische Diskussion nötig.
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Aus spezifisch französischer Perspektive nähert sich Bernard Sicot (2009) Aubs Lagererfahrung, insbesondere in Djelfa. Die Frage der sinnvollen Benennung der französischen Lager ist im Deutschen heikel, da der Begriff «Konzentrationslager» i.d.R. mit den nationalsozialistischen «Vernichtungslagern» gleichgesetzt wird – auch wenn das in der Sache oft nicht korrekt ist (vgl. Sofsky 1993: 61ff.). Beinahe automatisch klingen Benennungen wie «Durchgangslager», «Auffanglager» oder «Internierungslager» daher so, als ob es dort nicht so schlimm gewesen sei wie in dem Lager, dem Konzentrations- oder Vernichtungslager. Diesen Relativismus gilt es, zumal in Kenntnis der konkret lebensbedrohenden Zustände in den südfranzösischen Lagern (vgl. Malo 1990, Dreyfus-Armand/Temime 1995), zu vermeiden. Auch Hannah Arendts Vorschlag einer dreistufigen Typisierung (Lager des «Aus-dem-Weg-Räumens» als Hades, Arbeitslager als Fegefeuer, nationalsozialistische Lager als «Vollendung» und Hölle, vgl. Arendt 2001: 684f.), der sich aus ihrem Fokus auf deutsche und sowjetische Lager erklärt, ist für unseren Untersuchungsgegenstand unproduktiv. Um die implizite semantische Relativierung der o.g. Benennungen im Deutschen zu vermeiden oder zumindest zu mildern und den lebensbedrohenden Aspekt bzw. die faktische Tötung in diesen Lagern nicht zu unterschlagen, wird im Folgenden mal von «Lager», mal von «campo de concentración» gesprochen. – Eine differenzierte Diskussion dieser Denominationsprobleme findet sich in Nickel (2011).
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Das Lager als Paradigma der Moderne: Giorgio Agamben Wohl kaum ein Philosoph hat in den letzten Jahren die Vorstellung vom Menschen in der Gesellschaft der Moderne stärker beeinflusst und mit seiner politisch leicht aktualisierbaren Begrifflichkeit mehr geprägt als Giorgio Agamben, indem er Michel Foucaults Theorie der «procédures d’exclusion», Hannah Arendts Studien über die totalitäre Herrschaft und zuletzt Carl Schmitts Rechtsbegriff des Ausnahmezustands zusammen- und weitergedacht hat.19 In seinem Buch Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben beschreibt Agamben das Lager als «biopolitisches Paradigma der Moderne», als «Raum des nackten Lebens» (Agamben 2002: 128), in dem der Souverän absolute Verfügungsgewalt über das Leben des Menschen habe: «Der Protagonist dieses Buches ist das nackte Leben des homo sacer, der getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf […].» (18) Ort dieser Verfügungsgewalt ist das Lager, das er wie folgt skizziert: Man muß den paradoxen Status des Lagers von seiner Eigenschaft als Ausnahmeraum her denken: Es ist ein Stück Land, das außerhalb der normalen Rechtsordnung gesetzt wird, deswegen jedoch nicht einfach Außenraum ist. Was in ihm ausgeschlossen wird, ist nach der ethymologischen Bedeutung von exzeptio herausgenommen (ex-capere), eingeschlossen mittels seiner eigenen Ausschließung. Was aber auf diese Weise vor allem in die Ordnung mit hineingenommen wird, ist der Ausnahmezustand selbst. Denn insofern der Ausnahmezustand «gewollt» ist, begründet er ein neues juristisch-politisches Paradigma, in dem die Norm von der Ausnahme ununterscheidbar wird. Das Lager, heißt das, ist die Struktur, in welcher der Ausnahmezustand […] normal realisiert wird. Deshalb ist im Lager genaugenommen die quaestio iuris überhaupt nicht mehr zu unterschieden von der quaestio facti, und demnach ist jede Frage nach der Legalität oder Illegalität dessen, was dort geschieht, schlicht sinnlos. Das Lager ist ein Hybrid von Recht und Faktum, in dem die beiden Glieder ununterscheidbar geworden sind. (Agamben 2002: 179)
Agambens Ziel ist es nachzuweisen, dass das Lager, ursprünglich ein Produkt des Kriegsrechts und des Ausnahmezustands (vgl. 175f.), im Verlauf des 20. Jahrhunderts zur Regel geworden sei: […] Das nackte Leben, ursprünglich am Rand der Ordnung angesiedelt, [fällt] im Gleichschritt mit dem Prozeß, durch den die Ausnahme überall zur Regel wird, im-
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Foucault entwickelt seine Theorie der modernen Macht und den für Agamben zentralen Begriff der «Bio-Politik» in Surveiller et punir (Paris 1975) und in Histoire de la sexualité (Vol. I: La volonté de savoir) (Paris 1977). In dem für die Entwicklung der neueren Raumtheorie programmatischen Vortrag Des espaces autres (1967/1984) nennt Foucault (1994: 756) das Lager als ein Beispiel für «héterotopies de déviation»; bei Agamben wird das Lager demgegenüber nicht als Ort der Abweichung, sondern des Paradigmas begriffen. Arendts Theorie vom Konzentrationslager als Laboratorium für das Experiment der totalen Herrschaft findet sich in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (München/Zürich 2001), und Schmitts Leitsatz, dass «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet» in Politische Theologie (1922; vgl. Agamben 2004: 7). – Seine Art des Zugriffs sowie die Abgrenzung zu Foucault und Arendt erläutert Agamben in Homo sacer in dem Kapitel Die Politisierung des Lebens (2002: 127–134).
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mer mehr mit dem politischen Raum zusammen […] und auf diesem Weg [geraten] Ausschluss und Einschluss, Außen und Innen, zoé und bíos, Recht und Faktum in eine Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit. (Agamben 2002: 19)
Da Lager heute in allen Erdteilen in verschiedensten Ausprägungen ubiquitär sind (er nennt Aufnahmelager in Bari, das Gefangenenlager in Guantánamo, die Transit-Räume in internationalen Flughäfen u.v.a.m.), kommt er zu dem Schluss, dass unsere Gesellschaften sich nicht in erster Linie über ihre (demokratische) Staatsordnung definieren, sondern über die Logik des Lagers: «Das Lager und nicht der Staat ist das biopolitische Paradigma des Abendlandes.» (190) Nicht diese aktualisierende Zuspitzung soll im Folgenden im Mittelpunkt stehen, sondern die historisch ausgerichtete Fragestellung, wie das Lager zum möglichen Paradigma wurde und wie die Literatur und insbesondere das Werk Max Aubs ab den vierziger Jahren darauf reagierte. Denn die Literatur steht vor dem doppelten Problem, nicht nur die paradoxale Bedeutung des Lagers als repräsentativen Ausnahmeraum begreifen zu müssen, sondern auch glaubwürdig von etwas zu schreiben, was mit einem «Topos der Unverstehbarkeit» (Sofsky 1993: 19) und einem Topos der Unsagbarkeit belegt ist. Eli Wiesel schreibt: «Diejenigen, die diese Erfahrung nicht durchgemacht haben, haben keine Ahnung; und diejenigen, die sie durchgemacht haben, werden nichts verlauten lassen, nichts oder fast nichts, was vollständig wäre. Die Vergangenheit gehört den Toten, und der Überlebende erkennt sich nicht in den Bildern und Vorstellungen, die seiner Person zugeschrieben werden.»20 Schon 1951 Hannah Arendt hatte auf das Problem hingewiesen, dass die Zeugen der Lager entweder tot sind oder, so sie überlebt haben, ihre Zeugnisse für den Leser unglaubwürdig sind oder ermüdend: Die Berichte der Überlebenden […] sind außerordentlich zahlreich und von auffallender Monotonie. Je echter die Zeugnisse sind, desto kommunikationsloser sind sie, desto klagloser berichten sie, was sich menschlicher Fassungskraft und menschlicher Erfahrung entzieht. Sie lassen den Leser kalt, stoßen ihn […] in das gleiche apathische Nicht-mehr-Begreifen, in dem sich der Berichterstatter bewegt […]. Trotz überwältigender Beweise haftet das Odium der Unglaubwürdigkeit […] immer noch jedem an, der davon berichtet; und je entschlossener der Berichterstatter in die Welt der Lebenden zurückgekehrt ist, desto stärker wird ihn selbst der Zweifel an der eigenen Wahrhaftigkeit ergreifen, als verwechsle er einen Alptraum mit der Wirklichkeit. (Arendt 2001: 677)
Betrachten wir nun, wann und wo die Lager-Thematik in Aubs Werk auftaucht, wann der «Berichterstatter» Aub seine Lagererfahrung verarbeitet – und wie er den hier skizzierten Aporien des Schreibens über das Lager antwortet. Schreiben über das Lager: ein Überblick Bereits unmittelbar nach seiner Ankunft in Paris im Frühjahr 1939, also wenige Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriebs und knapp zwei Jahre bevor die
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Zit. nach Sofski (1993: 19). Die Literatur der Überlebenden französischer Lager analysiert Segler-Meßner (2005).
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Nationalsozialisten die Endlösung der Judenfrage propagierten, verfasste Aub einen Theatermonolog, in dessen Mittelpunkt der Tod eines Juden im Konzentrationslager Dachau steht. 1949 wurde dieser Text, dessen handschriftliches Manuskript verloren gegangen, dessen maschinengeschriebene Abschrift aber erhalten ist (vgl. Lluch Prats 2004), unter dem Titel De algún tiempo a esta parte in Mexiko veröffentlicht. Neben seinen Erzählungen ist dieses Stück nicht nur einer der wenigen literarischen Texte der spanischen Literatur, der das Phänomen der Konzentrationslager der dreißiger und vierziger Jahre literarisch verhandelt (vgl. Sánchez Zapatero 2008: 164), sondern wahrscheinlich auch der erste; er wird weiter unten als Beispiel für Aubs Theater über den Ausschluss analysiert. Die intensive literarische Arbeit, die Aub mit seinem Exil in Frankreich begann, wurde mit seiner Inhaftierung und dem Eintritt in sein «campo francés» (vgl. Nos Aldás 2001: 112ff.) keineswegs unterbrochen. In unzähligen Heften und Notizbüchern, die er zu einem großen Teil über alle Lager- und Gefängnisaufenthalte hinweg retten konnte und die sich heute in der Max-Aub-Stiftung befinden, schrieb er weiter, oftmals in winziger Schrift,21 um Platz zu sparen: An zuvor begonnenen Projekten wie den Campos-Romanen [ĸ Kap. III] oder an neuen Projekten, die nie veröffentlicht (vgl. Nos Aldás 2001: 143ff.) oder später zu Erzählungen und Theaterstücken ausgearbeitet wurden. In der von Javier Quiñones betreuten Ausgabe der Erzählungen Enero sin nombre. Los relatos completos del Laberinto Mágico (1994) sind die dreizehn Cuentos de los campos de concentración in einer Werkgruppe zusammengefasst, in dem zweiten Erzählungsband der kritischen Gesamtausgabe (Aub 2006a) finden sie sich entsprechend der Chronologie ihrer Erstveröffentlichung von den vierziger bis in die sechziger Jahre, von Manuel, el de la Font (1942) bis Cementerio de Djelfa (1963).22 Neben El limpiabotas del Padre Eterno (1955), «uno de los textos más logrados de Aub» (Llorens Marzo/Lluch Prats 2006: 29), ragt hier vor allem Manuscrito cuervo. Historia de Jacobo (1949/1950) heraus, der im Mittelpunkt der Analyse in diesem Unterkapitel stehen wird.23 Weitere Texte, die die Lagerproblematik behandeln, wurden bereits im Kapitel über das Magische Labyrinth untersucht, insbesondere das Drehbuch Campo francés (1965), das auf dem Theaterstück
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Ein Foto einer Seite der Notizbücher, beschrieben in Aubs beinahe mikroskopischer Lager-Handschrift, findet sich in Candel Vila (2008: 108). José María Naharro-Calderón (2004: 106ff.) unterscheidet innerhalb dieser Erzählungen über das Lager noch einmal zwischen einerseits den Texten, die weitgehend unbearbeitet aus den Notizbüchern übernommen wurden (wie Vernet, 1940, Una historia cualquiera oder Ese olor), die also eine «traslación en aparencia veraz y testimonial» darstellten (107), und andererseits den auf Grundlage der Lagernotizen literarisch nachund durchgearbeiteten Erzählungen. Die Erzählung Manuscrito cuervo, geschrieben ab 1940, erstmals veröffentlicht 1949/1950, ist nicht nur die erste literarische Reflexion spanischer Sprache über das Lager als Laboratorium der Moderne, sondern, wie zu zeigen ist, überhaupt eine der formal originellsten und konzeptionell tiefgründigsten. Dennoch wird die Vorreiterrolle dieses Textes in der Forschung bisher ebensowenig berücksichtigt wie die von De algún tiempo a esta parte.
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Morir por cerrar los ojos (1944) basiert, welches Aub bereits auf der Überfahrt von Marokko nach Mexiko verfasst hatte. Im Zusammenhang mit der Analyse der Wassersymbolik im Laberinto Mágico wurde auch der dritte Teil von Campo de los almendros bereits interpretiert, in dem die ersten franquistischen Lager nach Ende des Bürgerkriegs beschrieben sind als Ort der Trockenheit, ohne jede Perspektive auf eine selbstbestimmte Zukunft. In solchen Lagern starben in den Jahren nach dem Bürgerkrieg mehrere zehntausend Häftlinge vor allem durch Arbeit und Unterernährung (vgl. Silva/Macías 2003). Auch die Lyrik spielt eine Rolle für die Verarbeitung der Lagererfahrung, weil die unmittelbarste Form, um das Erlebte zu artikulieren, für Aub nicht etwa der Tagebucheintrag war, sondern die Lyrik, insbesondere die Form der Romance: Cuando, en el campo, intenté escribir lo más sencillamente posible lo que acontecía, en verso salió. El verso es lo más desnudo. Y para, nosotros, los españoles, el de 16 sílabas. Cuando nos ponemos a contar sucesos que se nos agarran, que nos desgarran el pecho, lo hacemos en romance.24
Einige dieser in den Lagern entstandenen Gedichte bilden den zweiten Gedichtband des Autors Diario de Djelfa (1944), von dem er im Vorwort sagt, dass er ihm das Leben gerettet habe: Fueron escritas estas poesías en el campo de concentración de Djelfa, en las altiplanicies del Atlas sahariano; les debo quizá la vida porque al parirlas cobraba fuerza para resisitir el día siguiente: todo cuanto en ellas se narra es real sucedido. (Aub 2001a: 93)
Das Erzählen in der Form der Romance als Zeugnis von der Wirklichkeit des Lagers, das Schreiben von Gedichten als Überlebensstrategie – anders als der vor allem der in der deutschen Kultur geläufige Unsagbarkeitstopos seit Theodor W. Adorno erwarten ließe, zweifelt Max Aub nicht an der Beschreibbarkeit des Lagers und empfindet das Schreiben über das Lager in der Zeit des Eingeschlossenseins als Hilfe beim Überleben.25 Der Ausschluss auf offener Bühne: De algún tiempo a esta parte (1939/1949) Von Max Aubs schwierigen Anfängen als Theaterautor in den zwanziger Jahren war bereits die Rede [ĸ Kap. I], und obwohl sein frühes experimentelles Theater ebenso selten gespielt wurde wie das politisch unbequeme aus der Zeit seines Exils nach dem spanischen Bürgerkrieg, blieb er der dramatischen Form bis Ende der 1960er Jahre treu. Sein umfangreiches, über 50 Stücke umfassendes Bühnenwerk lässt sich in drei Phasen einteilen: Auf das frühe Theater im Kontext der europäischen Avantgarden, beeinflusst durch die Theorien Jacques Copeaus
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In: «Este libro», zit. nach Naharro-Calderón (2004: 107). Im späten Rückblick geht er sogar so weit – allerdings nicht in Bezug auf Djelfa, sondern auf die erste Inhaftierung im weniger harten Block C von Vernet –, die Zeit des Lagers als Zeit des Innehaltens herauszustellen: Gegenüber Elliot S. Glass (1978: 62) habe er vom «descanso en el campo de concentración» gesprochen.
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und Edward Gordon Craigs (vgl. Figueras 2003a) folgte eine dezidiert engagierte Phase politisch motivierter Poduktionen (1931–1938), die ihren Höhepunkt im Propaganda- und Fronttheater des Bürgerkriegs fanden. Eine für 1939 geplante Ausgabe der zehn Stücke dieser Jahre unter dem Titel «teatro de circunstancias» konnte wegen der Kriegswirren nicht mehr erscheinen. Bis auf den Einakter Pedro López García (1936) mochte Aub selbst keinem dieser Stücke bleibenden Wert zusprechen, obwohl die Kritik sie heute ausdrücklich gegen eine pauschale Abwertung als Propagandastücke in Schutz nimmt (vgl. Sirera 2002: 35ff.). Mindestens ebenso wichtig wie die eigenen Texte sind in dieser zweiten Phase die praktischen Theatererfahrungen, die Aub nun macht. In vielfältiger Weise ist er an der Schaffung neuer Theaterstrukturen beteiligt: So leitet er eine studentische Wanderbühne (El Búho), die im Rahmen der «Misiones pedagógicas» den Auftrag hat, spanische Klassiker auf öffentlichen Plätzen dem Volk nahezubringen. Außerdem verfasst Aub im Auftrag der Regierung eine Denkschrift zum Aufbau einer nationalen Bühnenorganisation (1936) und leitet ab 1937 mit Antonio Machado den Consejo Central de Teatro.26 Mit der Flucht beginnt 1939 die dritte Phase, in der das Teatro mayor (sechs Dramen aus der Zeit von 1942–1952) sowie das Teatro breve (Einakter, Variationen und thematisch begrenzte Mehrakter, 1939–1968) unterschieden werden. In den von ihm selbst besorgten Ausgaben Teatro en un acto (1960) und Teatro completo (1968) hat Aub letztere thematisch gruppiert, in Stücke über das Exil (Los transterrados) und die mögliche Rückkehr des Exilanten (Las vueltas), die im folgenden Abschnitt behandelt werden, über Unfreiheit und Unterdrückung in Spanien (Teatro de la España de Franco) und Zerstreuungen (Diversiones). Die Unterscheidung in Teatro breve und Teatro mayor ist jedoch nur begrenzt aussagekräftig, wie der Blick auf De algún tiempo a esta parte zeigt. Nach formalen Kriterien wird es dem Teatro breve zugerechnet, inhaltlich mal dem Teatro de circunstancias der dreißiger, mal dem Teatro mayor der vierziger Jahre. Sinnvollerweise wird das Stück zuletzt eher in seiner Scharnierfunktion betrachtet, denn es markiere «la apertura de un ciclo: representa el paso de su teatro de preguerra, caracterizado por la incomunicación, al de su compromiso con la historia europea» (Lluch Prats 2004: 61). Betrachten wir also zunächst kurz Aubs Teatro mayor, auf das De algún tiempo a esta parte vorausweist. Der Kontext: das Teatro mayor Im Mittelpunkt des Interesses der Forschung zu Aubs Theater steht das Teatro mayor, mit dem Aub als Dramatiker «volljährig» geworden sei, wie er selbst es ausdrückte («alcanzó la mayoría de edad», Kemp 1971: 398). Nach der Flucht aus Spanien sowie in der Zeit seiner Inhaftierung entwarf er den Plan für eine Serie von politischen Dramen, die er noch während der Überfahrt 1942 ins me-
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Aubs Denkschrift sowie eine Einführung in seine theatertheoretischen Texte finden sich in Aznar Soler (1993).
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xikanische Exil zu schreiben begann und dort in rascher Folge veröffentlichte. La vida conyugal (1943, UA 1944) spielt unter der spanischen Diktatur 1927 und führt die Unfähigkeit des politisch desinteressierten Schriftstellers Ignacio vor, in der Stunde der Wahrheit privat und politisch Verantwortung zu übernehmen. San Juan (1943, UA 1998) zeigt ein schrottreifes Schiff voller Juden, die 1938 vor den Nazis aus Europa geflohen sind und in keinem Land Aufnahme finden. In Morir por cerrar los ojos (1944) treffen die ungleichen Brüder Julio und Juan, unpolitischer französischer Kleinbürger der eine, engagierter Spanienkämpfer der andere, 1940 im südfranzösischen Konzentrationslager Vernet wieder zusammen und ziehen Bilanz; eine Umarbeitung des Stücks als Filmdrehbuch erschien 1965 als Teil des Magischen Labyrinths unter dem Titel Campo francés. Das Stück El rapto de Europa o siempre se puede hacer algo (1945, UA in Englisch 1945) schildert, mit deutlich autobiographischen Anklängen an Aubs eigene Aktivitäten in jenen Jahren, die Arbeit von Margret Palmers Emergency Rescue Committee in Marseille 1941, das allen bürokratischen Schikanen zum Trotz den Verfolgten des Nazi-Regimes die Flucht aus Europa zu ermöglichen versucht. Ein politisches Schlüsseldrama ist Cara y cruz (1948), in dessen Hauptfigur Präsident Ventura, der einen Staatstreich durch General Carrasco nicht verhindern kann, der historische spanische Präsident Manuel Azaña porträtiert ist. Das letzte der großen politisch-historischen Stücke ist No (1952, UA 1976), das unter dem Eindruck des beginnenden Kalten Krieges entstand. Es spielt an der innerdeutschen Grenze, wo das Dorf Altberg durch eine Bahnlinie geteilt wird, die zugleich die Grenze zwischen Ost und West bildet. Die Parallelhandlung springt zwischen dem sowjetischen und dem US-amerikanischen Antragsbüro hin und her, wo diejenigen, die auf der Suche nach Freiheit auf die jeweils andere Seite wollen, mit teilweise denselben absurden Begründungen zurückgewiesen werden. Kein Antrag wird je genehmigt, in den Warteräumen vor den Büros kulminieren Familienschicksale, spielen sich groteske Szenen der Verzweiflung ab. Am Ende schaffen nur der Stalingradveteran Hermann und die russische Krankenschwester María den Weg in die Freiheit – durch einen Sprung in den Zuschauerraum. Ein Illusionsbruch, der das Heraustreten der Akteure aus der bipolaren und als lähmend dargestellten historischen Situation bühnenwirksam in Szene setzt (vgl. Buschmann 2010b). Beherrschendes Thema der Stücke ist die Haltung des Menschen gegenüber politischer oder rassistischer Verfolgung. Immer wieder setzt Aub seine Überzeugung in Szene, wonach man «immer etwas tun kann», wie der zweite Teil des Titels von El rapto de Europa o siempre se puede hacer algo postuliert. Wer nicht aktiv wird gegen Unfreiheit, Unterdrückung oder Entmündigung, verliert seine menschliche Würde, wie z.B. Ignacio in La vida conyugal, der seinem von der Geheimpolizei verfolgten Freund Samuel nur halbherzig Hilfe gewährt. Doch auch dem Versuch einer individuellen Auflehnung gegen ein kollektives Schicksal ist kein Erfolg vergönnt, wie die gescheiterte Flucht von Carlos zeigt, der in San Juan schwimmend an Land kommen will. Auch der Selbstmord als Ausweg wird negativ dargestellt, als Verweigerung der Freiheit zum Handeln in der Welt. Wenn aber Hermann und María in No oder Leva und seine Genossen in 211
San Juan gemeinsam fliehen, um im spanischen Bürgerkrieg kämpfen zu können, bleibt dem Zuschauer die Hoffnung, dass diese Flucht geglückt sein könnte.27 * Kommen wir zurück zu De algún tiempo a esta parte. Das Stück spielt in Wien 1938, kurz nach der Besetzung Österreichs: «Es de noche; en Vienna, y en 1938» (Aub 2002c: 394), heißt es am Ende der kurzen Regieanweisung zu Beginn, und schon die ungewöhnliche Zeichensetzung in diesem Satz betont die Bedeutung jener Koinzidenz, dass sich die Figur gerade in diesem Raum zu dieser Zeit befindet; der Titel, der sinngemäß mit «In letzter Zeit» zu übersetzen wäre, unterstreicht in seiner im Spanischen betont vagen Zeitangabe die Überzeitlichkeit der Handlung. Einzige Sprecherin ist Emma, die sich an ihre Jahre als großbürgerliche Gattin des Fabrikanten Adolfo erinnert, beide zum Katholizismus konvertierte Juden. Nun ist Emma nur noch Putzfrau im Theater, dort steht sie an der Rampe, beginnt nach dem Ende der letzten Vorstellung mit ihrer Arbeit und spricht dabei zum Publikum über ihr unbeschwertes Leben als unpolitische Frau und Mutter, über ihren Sohn Samuel, der im österreichischen Konsulat in Barcelona arbeitete und in den Wirren des Bürgerkrieges von Republikanern getötet wurde. Er hatte Botschaftsflüchtlingen geholfen, ihr Vermögen nach Österreich zu schaffen, was von den republikanischen Behörden so lange toleriert worden sei, wie Österreich unabhängig war («Mientras nuestro país fue un país […]», 399). Nach dem Einmarsch der Deutschen aber sei er inhaftiert und getötet worden: «Lo mató el Anschluss, como a ti.» (399) Abwesender Adressat von Emmas Monolog ist ihr Mann Adolfo, mehrfach dekorierter österreichischer Weltkriegsveteran, der als Jude im KZ Dachau ermordet worden ist und dem sie erklären will, warum sie nun keine ängstliche und passive Frau mehr ist: «[…] ahora ya no tengo miedo. No, no tengo miedo. El miedo ahora es de todos.» (404) Der Monolog über die für sie wie für ihre Adressaten – ihren Mann und das implizite Publikum des Jahres 1939 – schier unglaublichen Lebensumstände im damaligen Wien endet dennoch mit dem hoffungsvollen Satz: «Pero un día vendrá la libertad…» (410)28 Die Wirklichkeit des Konzentrationslagers kommt in Tiempo also nicht durch den «Berichterstatter» selbst, sondern vermittelt durch seine überlebende Frau
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Zum Teatro mayor vgl. Monti (1992), die Einzelanalysen in Alonso (1996), Aznar Soler (2003a), sowie die ausführliche Einführung von Sirera (2006) in Aub (2006c). Eine Bibliographie der Studien zu Aubs dramatischem Werk findet sich in Aub (2006c: 782–790), eine knappe Einführung in sein dramtisches Werk in Buschmann (2009b). Und auch wenn sie die «libertad», von der sie am Ende des Stücks träumt, noch nicht gefunden hat, dem Holocaust ist Emma zumindest intratextuell entgangen: Denn in dem Stück No tritt sie als eine der am Bahnhof von Altberg gestrandeten Flüchtlinge auf, die auf der sowjetischen Seite vergeblich auf die Möglichkeit zur Weiterreise warten. Die Regieanweisung des Stückes aus dem Jahr 1952 stellt sie mit folgenden Worten vor: «EMMA, es Emma Blumenthal, la de Algún tiempo a esta parte.» (Aub 2006c: 462)
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zur Sprache. Die weiß nur, dass ihr Mann tot ist – «dicen que te fusilaron porque intentaste escaparte, que te mataron contra la alambrada» (409) – und dass sie solchen offiziellen Erklärungen keinen Glauben schenken kann: «Ninguno de los que te conocían puede suponer que intentaras hacerlo. Nunca tuviste iniciativas audaces.» (409) Andererseits kann sie sich eben nicht vorstellen, was das Lager tatsächlich bedeutet und wie es einen Menschen verändert, insofern gibt ihre selbstverständliche Zurückweisung der offiziellen Todesursache (Tod auf der Flucht) genau die Perspektive des 1939 Außenstehenden wieder, dessen Vorstellung es übersteigt, was im Lager mit den Menschen geschieht. Drei Ausgeschlossene werden in Tiempo präsentiert: Emmas Ehemann, der nach dem sogenannten Anschluss unter Druck gesetzt wird, seine Zelluloidfabrik an den ehemaligen Geschäftsfreund Grossmann zu verkaufen, der dann von den Nazis nach Dachau deportiert und ermordet wird. Emmas Sohn Samuel, dessen politischer und juristischer Status als Ex-Österreicher in Spanien sich 1938 von einem Tag auf den anderen ändert, weshalb er herausfällt aus dem zuvor bestehenden diplomatischen Schutz und «en la cárcel o en un campo» (398) inhaftiert und ermordet wird. Ein politisches Ereignis (der «Anschluss») führt zum Tod beider Männer, der eine wird Opfer der Faschisten, der andere der Kommunisten.29 Die physische Vernichtung im Lager, sei es im kommunistischen oder faschistischen System, mithin das letzte Glied in einer Kette von Vernichtungen, die das Lagersystem nach Hannah Arendt kennzeichnen, das ist es, wofür der Ausschluss dieser beiden männlichen Figuren steht. Dies versteht Emma noch nicht, in deren Wahrnehmung die vorgeschalteten Stufen der ökonomischen, juristischen und moralischen Vernichtung (vgl. Arendt 2001: 907ff.) im Vordergrund stehen. Wie ihr Mann wurde sie unter Missachtung ihrer bürgerlichen Rechte ihres Besitzes beraubt, und als Zeugin der Novemberausschreitungen kann sie nicht glauben, dass anschließend die jüdischen Geschäftsbesitzer für die angeblichen Schäden auch noch zu zahlen haben (vgl. 406). Auf diesen ökonomischen und juristischen Ausschluss als erste Stufen der Vernichtung folgt für sie die moralische Vernichtung: Sie darf weiter in ihrer alten Wohnung wohnen, allerdings nur in der Mädchenkammer, und sich als Dienstmädchen der neuen Besitzer ihr Gnadenbrot verdienen. … la criada soy yo. Yo. Criada en mi casa, en lo que era mi casa. Limpiaré el sillón de mi marido para que se siente un patán que me mira de arriba abajo y se ríe: «Aún puede usted dar gracias de que no la hayan seguido haciendo barrer la calle.» Perros, perros, perros. (Tiempo 398)
Ohnmächtig muss sie mit ansehen, wie andere in ihrer Aussteuerwäsche schlafen, von ihrem Festtagsgeschirr essen. Ökonomisch, juristisch und moralisch ist
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1938 standen der Geheimdienst SIM sowie die Gefängnisse in Barcelona unter Kontrolle der kommunistischen Partei – was Emma nicht erwähnt, Max Aub aber sehr genau wusste. Erinnert sei an die Bedeutung des Verrats als Motiv im Magischen Labyrinth [ĸ Kap. III].
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sie bereits aus der Gesellschaft ausgeschlossen, physisch aber noch Teil ihres gewohnten Lebensumfeldes. Da sie sich gegen den Ausschluss wehren will («ya no tengo miedo»), bewahrt sie sich die Hoffnung, ein besseres Ende zu finden als ihr Mann und ihr Sohn. Im Augenblick aber ist sie, wie sie mehrfach betont, vor allem «sola», allein und isoliert in einer Gesellschaft, die inmitten eines scheinbar unveränderten Alltags die schrittweise Vernichtung derjenigen ins Werk setzt, die einige Wochen zuvor noch Mitbürger waren. Die bühnenwirksame Stärke, mit der Tiempo diesen Grundgedanken über die explizite Benennung in der mündlichen Rede hinaus übersetzt, liegt in der einleitenden Regieanweisung, die wie folgt beginnt: «Un salón gótico. La actriz aparece acurrucada en un gran sillón. Tan pronto como habla, los tramoyistas empiezan a desmontar el decorado y la protagonista a fregar el suelo. […]» (Tiempo 394) In der Bühnendekoration eines bürgerlichen Salons, der ihr eigener sein könnte, wird im Verlauf von Emmas Monolog im wörtlichen Sinne die Demontage der bürgerlichen Welt vorgeführt, denn je länger sie redet, desto weniger bleibt von ihrer Welt noch stehen. Stattdessen stellen die Bühnenarbeiter nun die Dekoration einer kargen Kammer auf, «pobre, abuhardillado, con un camastro y una silla». Auch Techniker, Beleuchter, andere Schauspieler laufen durch die Szene, aber geräuschlos und ohne mit ihr zu kommunizieren: «Todo sin ruido.» Während sie von ihrem Ausschluss und dem ihrer Familie erzählt, wird er hinter ihr in der Demontage ihrer Lebenswelt sichtbar, ebenso ihre kommunikative Isolierung in der Welt der Theatergewerke – deren Darsteller am Ende ebenfalls ganz verschwinden: «Al final, la actriz se queda sola.» Entrechtet, enteignet, moralisch erniedrigt und sozial isoliert steht sie am Ende da, nur die physische Vernichtung bleibt ihr erspart. Geschildert wird in De algún tiempo a esta parte also vor allem die Vorgeschichte des «univers concentrationnaire», und das schon 1939. Aub selbst betonte rückblickend den weiterhin gültigen Gegenwartsbezug des Stücks: El paso del tiempo, hasta hoy, no lleva a mis personajes a rectificar nada de lo dicho: todo está igual. Si no fuera así, tampoco emmendaría las planas; cuanto escribí, si algún valor tiene, es el de testimoniar; con lo que rabajo no poco mi mérito, todo para el tiempo – que no es de envidiar para los españoles –. Día llegará en que lo que dije no cuente. Ojalá sea pronto. (Aub 2002c: 391) 30
Seinerzeit habe er vor allem Zeugnis ablegen wollen über das, was in Europa geschah («testimoniar»). Da sich seitdem aber nichts grundsätzlich verändert habe an den Methoden des Ausschlusses («todo está igual»), gebe es für ihn keinen Grund, an dem Stück etwas zu ändern. Genau wie Emma am Ende von Tiempo gibt auch Aub am Ende seiner kurzen Vorbemerkung von 1939 die Hoffnung nicht auf, dass Texte wie dieser bald entbehrlich werden könnten. Dabei wusste
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Diese Erläuterung findet sich im Vorwort zu den drei Monologen aus den vierziger Jahren, zusammengefasst als Tres monólogos y sólo uno verdadero (1956), das identisch in der Ausgabe seines Teatro incompleto (1968) wieder abgedruckt wurde.
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Aub sehr gut, dass mit Beginn des Kalten Krieges wenig Hoffnung auf eine Welt ohne binäre Exklusionsdiskurse bestand, und wie wenig realistisch daher offene Schlüsse waren, die Hoffnung machen: Sie seien «ficticios, ficticios y falsos», sagte er in einem Interview. Und doch fügte er hinzu: «Y no quiero perder el optimismo.» (Aub in: Kemp 1977: 18) Spielen über das Lager: eine Premiere Max Aubs Theatermonolog De algún tiempo a esta parte, geschrieben nach der Flucht aus Spanien 1939 in Paris, nach Amerika gerettet trotz seiner Lagerhaft zwischen 1940 und 1942, veröffentlicht schließlich 1949 in Mexiko, ist der erste Text der spanischsprachigen Literatur (und einer der ersten überhaupt), der den Weg der europäischen Juden in die systematische Auslöschung analysiert. Dass bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die Vernichtung des Subjekts als in Stufen organisiertes Verfahren des (juristischen, moralischen, physischen) Ausschlusses benannt und in bühnenwirksamer Form sichtbar gemacht wird, spricht gleichermaßen für die politische Aufmerksamkeit des Autors wie für die ästhetische Dichte des Textes. Er bedeutet nicht nur eine Premiere der (Theater-) Literatur über den Holocaust, sondern auch eine formal kreative. Der politische Gegenwartsbezug von Tiempo schließt an das republikanische Teatro de circunstancias an, wohingegen die realistische Ambientierung sowie die Tragweite des Sujets auf das Teatro mayor vorausweisen. Formal neu ist die Anlage als Monolog: Offenbar wollte Aub nicht mehr die grundsätzliche Problematik aller menschlichen Kommunikation vor Augen führen, sondern seine Positionen möglichst ummittelbar und leicht inszenierbar zum Ausdruck bringen. Nicht nur für Tiempo, auch im Hinblick auf die anderen Stücke des Teatro mayor lässt sich Folgendes festhalten: Die bis heute anhaltende Relevanz von Max Aubs Theater erwächst aus dem Umstand, dass es meist von Ausgeschlossenen handelt, von «displaced persons» mit transnationalem kulturellem Hintergrund, die durch absurde Zufälle oder bürokratische Willkür aus Raum und Zeit fallen: So wie der aus Spanien stammende Pariser Juan in Morir por cerrar los ojos, der sich nach all seinen Jahren in der französischen Hauptstadt als Franzose wähnt, bis er als unerwünschter Ausländer inhaftiert wird. Oder die durch den Zweiten Weltkrieg Versprengten in No, deren verschlungene europäische Lebenswege nicht in die Karteiraster der Besatzungsmächte passen (vgl. Buschmann 2010b). Oder wie Emma, die in Wien lebende Französin, die zum Katholizismus konvertierte Jüdin, die auf die Hilfe ihrer Verwandten in Frankreich bei der Ausreise in die USA hofft. Über Schwellen: Manuscrito cuervo. Historia de Jacobo Hier spricht der Zeuge: Anders als in De algún tiempo a esta parte ist es in dem Prosatext Manuscrito cuervo. Historia de Jacobo, erstmals erschienen in Sala de Espera (Nr. 24–27, 1949/1950), der «Berichterstatter» im Arendtschen Sinne, der 215
das Wort ergreift: intradiegetisch der Rabe Jakob, der im Lager von Le Vernet mit den Menschen gelebt hat, extradiegetisch der ehemalige Lagerinsasse Max Aub. Wobei der Rabe Jakob auch eine historische Figur ist, da seine Existenz in weiteren autofiktionalen Werken über die Lagererfahrung auftaucht, zum Beispiel in Gustav Reglers Das Ohr des Malchus.31 Dort schreibt Regler: Am nächsten Morgen meldete sich Walter freiwillig zum Ausleeren der Latrine.[...] Er wankte vor mir her unter der Tragestange, in der der schwere bleierne Kübel hing. Der Rabe Jakob, den ein Gefangener ans Lager gewöhnt hatte, saß auf seiner Schulter und schlug mit den Flügeln. [...] Dann öffnete sich das Tor aus Stacheldraht, und wir fuhren auf kleinen Loren die Pappelallee hinunter zum Fluß. Der Rabe schwankte noch immer auf Walters Schulter. Plötzlich zog Walter einen Brief aus der Tasche. «Kräh», sagte der Rabe und hackte danach. Aber Walter verwarnte ihn und zeigte ihm den Schmutzkübel. Der Rabe schwieg.[…] Die Wächter schrien vorne schon die Befehle für den ersten Wagen. Jakob, der Rabe, spannte weit die Flügel und flatterte zu den Flußpappeln hinauf, um die schmutzige Arbeit aus der Adlerperspektive zu überwachen. Ich weiß noch, daß ich in dem Gestank unter einem Baum saß und an den Tränen würgte, die aufsteigen wollten. (Regler 1958: 453f.)
Zwar lebte Regler, der im Saarwahlkampf 1936 und anschließend im Spanischen Bürgerkrieg als kommunistischer Publizist und Schriftsteller gegen Hitler und Franco aktiv gewesen war, in den fünfziger Jahren ebenfalls im mexikanischen Exil, über einen Kontakt zwischen ihm und Aub ist jedoch nichts bekannt. Es spricht also wenig dafür, die Koinzidenz des Raben Jakob in zwei Texten aus dem Lager mit einer gemeinsam ausgeheckten Fälschung in der Art des Campalans-Komplexes [ĸ Kap. II] zu erklären. Es spricht viel dafür, ihn tatsächlich als Augenzeugen zu verstehen, zudem als Augenzeugen mit der Möglichkeit zur «Adlerperspektive» (wie Jacobo sie selbst nennt), dem Aub in seiner langen Erzählung – in den Obras completas umfasst sie 57 Druckseiten und ist neben El limpiabotas de Padre Eterno (53 S.) mit Abstand die längste – eine für Menschen verständliche spanische Stimme verleiht. Bevor allerdings der Rabe selbst spricht, ist ein gestaffeltes System von Schwellen vorgeschaltet, die paratextuell den Zugang zum Zeugen steuern. Bereits das Titelblatt nennt als Herausgeber einen «J. R. Bululú», «cronista de su país y visitador de algunos más» (Manuscrito 202), der selbst ebenfalls im Lager von Le Vernet eingesessen habe, wie er uns im ersten Satz seines Vorwortes informiert: «Cuando salí, por primera vez, del campo de concentración de Vernete y llegué a Toulouse, en los últimos meses de 1940, encontré en mi maleta un cuaderno que no había puesto ahí.» (203) Ebenfalls auf dem Titelblatt vorge-
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Einen weiteren intertextuellen Beleg für den Raben erbringt Nos Aldás (2001: 318ff.), die in Arthur Koestlers Abschaum der Erde (1941) den Hinweis auf einen Raben Jakob findet, der einem Mitgefangenen Schachfiguren gestohlen habe (319). In einem unveröffentlichten autobiographischen Fragment, das den Herausgebern der Kritischen Gesamtausgabe vorlag, beteuerte Aub die tatsächliche Existenz des Raben (vgl. Aub 2006b: 202, Fußnote 133).
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stellt wird der Übersetzer «Abén Máximo Albarrón», der die Aufzeichnungen des Raben aus der Rabensprache («del idioma cuervo») erstmals ins Spanische übertragen habe. Auf der ersten Seite folgt zunächst ein Motto32 des JesuitenMissionars José de Acosta, darauf der «Prólogo» des Herausgebers Bululú, in dem er sachlich seinen wissenschaftlichen Umgang mit dem Manuskript des Raben beschreibt sowie erläutert, wie er zu den Papieren jenes «cuervo amaestrado» gekommen sei, «cuya mayor habilidad consistía en pasarse en las tapaderas de las tinas repletas de las evacuaciones, propias y ajenas, que llevábamos a vaciar y a limpiar al río» (203). Als graphisches Element findet sich zweimal der identische Scherenschnitt eines Raben, auf dem Titel sowie am Ende des Vorworts, das unterzeichnet ist mit «Marsella, 25 de junio 1946». Wie Graphik wirkend, aber als Text semantisiert sind 26 wie Krallenabdrücke wirkende Zeichen der Schrift des Raben, die man gemäß der von Bululú erläuterten Transkriptionsregeln als «nuestro riquísimo idioma» übersetzen kann. Einige der Effekte dieser paratextuellen Schwellen kennen wir bereits aus den entsprechenden Analysen zu Jusep Torres Campalans [ĸ Kap. II] und Juego de cartas [ĸ Kap. IV]: Doppelungs- und Spiegelungseffekte zwischen Figuren und Autor, da sowohl der Herausgeber (Chronist, Reisender, Ex-Häftling) als auch der Übersetzer (mit Vornamen MÁXimo, der Nachname aus dem Arabischen übersetzbar als «Sohn des großen Reisenden») Bezüge zum Autor Aub nahelegen; intertextuelle Verweise auf den Don Quijote, wo ebenfalls ein arabischer Übersetzer namens Cide Hamete Benengeli auftaucht und ebenfalls den Text mit fiktionsironischen Anmerkungen kommentiert; das autofiktional fundierte Generieren einer wissenschaftlich glaubwürdigen Vorgehensweise (explizites Benennen von Methoden und Quellen), das nachfolgend aber in Teilen unterlaufen wird;33 die Kombination von textueller und ikonotextueller Kommunikation, ein Motto, das diese Elemente noch einmal wie im Brennglas konzentriert, und zwar einschließlich ihrer Infragestellung: Denn in dem Zitat des jesuitischen Chronisten Acosta verweist die Wendung «no sé qué de primor» gerade auf das Rätselhafte und Unbegreifliche der Wirklichkeit, die getreu abzubilden der Chronist doch angetreten ist, wie Ottmar Ette feststellt (2004: 206).34 Er resümiert
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Es lautet: «Realmente tienen las obras de la divina arte no sé qué de primor como escondido y secreto, con que, miradas unas y otras muchas veces, causan siempre un nuevo gusto.» (203) Acosta (1540–1600) war ab 1571 am Hof der Vizekönige in Peru tätig, wo er sein ethnographisches Werk De Procuranda Indorum salutate e Historia Natural e Moral de las Indias verfasste, dem das Motto entnommen ist. Im Fall des Raben etwa dadurch, dass er seinen Ausführungen ein Inhaltsverzeichnis voranstellt, das mit den nachfolgenden Ausführungen nur in Teilen übereinstimmt. Den ersten Versuch einer genaueren Analyse der Paratexte liefert de Marco (1996). Sehr systematisch und ausführlich ist die Darstellung der Erzählinstanzen bei Pérez Bowie (1999b), der fünf kommunikative Ebenen («circuito comunicativo») unterscheidet: auf der ersten Ebene den homodiegetischen Erzähler Jacobo, auf der zweiten den extradiegetischen Übersetzer Albarrón, auf der dritten den homodiegetischen Erzähler und Herausgeber Bululú, auf der vierten den impliziten und auf der fünften den realen Autor. Die Simulation der Vielzahl von Erzählerstimmen setzt er in Beziehung zum Theater
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seine Analyse der Paratexte sowie der komplex konstruierten Erzählsituation mit den Worten: En el caso de Manuscrito cuervo de Max Aub se presenta a un animal en función de testigo del que, sin lugar a dudas, debió haber un ejemplar real en el campo de concentración. Como figura que posee el don de la palabra y la escritura en una tradición literaria, tal animal deja reconocer tanto su corte ficcional como las instancias editoras y traductoras que se adjuntan a este texto. Con lo que una ficción anclada en la realidad será la encargada de crear credibilidad, comunicación y consternación ante los sucesos expuestos más allá del bon sens. «La locura –si buena– no se cura», como apunta Bululú en una nota a pie de página, amparándose en el refranero español en vista de las detenciones y los encarcelamientos tan arbitrarios. Con otras palabras: con medios únicamente racionales no se puede contra la irracionalidad. Con lo cual, lo fáctico no desaparece en una ficcionalidad con características de pesadilla; más bien, lo ficcional reclama la creación de un mundo (narrativo) capaz de superar la falta de comunicación de la que acusó Hannah Arendt a los informes de los testigos presenciales [...]. (Ette 2005b: 184)
Während Arendt feststellt, dass den Augenzeugenberichten der realen Zeugen oft nicht geglaubt wird, weil ihre Schilderungen das für den «bon sens» glaubwürdige Maß überschreiten, reagiert Aub mit der Einbettung seines gleichermaßen fiktiven wie dokumentarisch nachweisbaren Raben in einen fiktiven Editions- und Übersetzungsrahmen, der über mehrere «circuitos comunicativos» den «wahren Wahnsinn»35 erst erzählbar macht. Über Grenzen: der Blick des Raben auf den Menschen im Lager Klammern wir für einen Augenblick die paratextuellen Brechungen aus und betrachten den Text, den der «Berichterstatter» Jacobo über den Menschen verfasst, seinen «tratado de la vida de los hombres, para aprovechamiento de su especie», wie Bululú es formuliert (Manuscrito 203). Er beginnt mit einem Inhaltsverzeichnis, gefolgt von zwei vorgeschalteten Abschnitten: In den «Consideraciones preliminares de mí» (206f.) stellt Jacobo sich selbst und seine Herkunft vor; die simple Feststellung, nicht zu wissen, wo er geboren wurde, gibt ihm Anlass zu erläutern, dass der Geburtsort bei den Menschen kurioserweise von besonders hoher Bedeutung sei, weil der Boden die Nationenzugehörigkeit und in der Folge sein ganzes weiteres Leben präge: El caso es que no sé donde nací. Considero importante este aspecto porque los hombres han resuelto que el lugar donde ven la luz primera es de trascendencia supina para su
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des Siglo de Oro (Pérez Bowie 1999b: 27). Eine Vielzahl von dokumentarischen Bezügen zwischen der Diegese und der Lagerwirklichkeit haben Naharro Calderón (1999) und Nos Aldás (2001) aufgearbeitet. Die präziseste und zugleich umfassendste Analyse des Manuscrito und seiner Paratexte findet sich bei Ette (2004: 189–225, 2005b), der zudem die möglichen Verbindungen zu Arendt und Agamben diskutiert. «Den wahren Wahnsinn heilt man nicht», so Ettes (2004: 207) Übersetzung des von Bululú zitierten Sprichworts «La locura –si buena– no se cura».
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futuro. Es decir: que si en vez de nacer en un nido A, se nace en el nido B, las condiciones de vida cambian de todo en todo. Si usted ha nacido en Pekín, por las buenas le declaran chino; del propio modo si es usted bonaerense, cátese argentino, así sea blanco, negro, amarillo o cobrizo. Añádense los pasaportes, para mayor claridad. ¿Os figuráis un cuervo francés o un cuervo español, por el hecho de haber nacido de un lado u otro de los Pirineos? [...] Visto desde el ángulo humano, una persona que no sabe dónde ha nacido o quiénes fueron sus padres, es un ser peligroso. Menos mal que soy cuervo, que si no ya estaría fichado. [...] Es decir, que aúnan la paternidad con el suelo, lo que debe ser producto de muy antiguos ritos. Simbolizan las tierras con muy vistosas banderas. Estas varían con el tiempo y las banderías. (Manuscrito 206)
Daneben nennt er drei Gründe für seine Untersuchung: Einmal mache es ihm einen «Rabenspaß» («porque me da la corvina gana», 206), zweitens hoffe er auf Ruhm, und drittens möchte er den anderen Raben einen Dienst erweisen. Im folgenden Abschnitt «De mi método, y algunas generalidades» (207–210) rückt dieser dritte Antrieb für seine Studie über die «casta primitiva, netamente inferior» der Menschen in den Vordergrund. Er habe sie vor allem geschrieben, weil der Mensch trotz all seiner Defekte die Tierart sei, die vom Raben am meisten gelernt habe (etwa die Monogamie und die Vorliebe für glänzende Objekte, 209). Seine Arbeitsweise kündigt er als streng wissenschaftlich an, als objektiv und zeitnah zu den Beobachtungen am Objekt dokumentiert: Todo cuanto describa o cuente ha sido visto y observado por mis ojos, escrito al día en mis fichas. Nada he dejado a la fantasía –esa enemiga de la política– ni a la imaginación –esa enemiga de la cultura. Todos los hechos aquí traídos a cuenta no lo son por mi voluntad, sino porque así sucedieron. He rechazado todos los relatos que me pudieran parecer sospechosos aunque el informador me mereciera crédito. He procurado seguir el procedimiento más riguroso posible. [...] Se es erudito, o se es nada. (Manuscrito 208f.)
Keine Phantasie, keine Imagination, sondern kritische Augenzeugenschaft verspricht der Rabe – und weiß doch um die Risiken dieser dokumentarischen Vorgehensweise: «Conceptúo difícil que un cuervo acepte a medias, sin rechistar, lo que aquí voy a exponer» (210), und kaum ist an dieser Stelle implizit der Unverstehbarkeitstopos der Lagerliteratur angerissen, folgt auch der Unsagbarkeitstopos in Form des selbstkritischen Hinweises auf die Begrenzungen der Rabensprache zur Wiedergabe dessen, was er im Umgang mit dem Menschen gesehen habe: «Advertencia importante: Nuestro riquísimo idioma cuervo no puede expresar tan exactamente como yo hubiese deseado un cúmulo de palabras de las que no he podido todavía averiguar el exacto sentido.» (210) Wir haben es also mit einem höchst reflektiert vorgehenden «Berichterstatter» zu tun, der allein schon den Gedanken, das Problem der wahrhaftigen Beschreibbarkeit der Welt mit den ihm möglichen erzählerischen Mitteln anzugehen, weit von sich weist: «Hubiese podido dar más amenidad al relato a costa de lo auténtico, mas para mí la exactitud, los papeles, el método, es mi propia razón de ser.» (209) Nun folgen 55 Abschnitte, mal nur wenige Zeilen, mal mehrere Seiten umfassend, die das Lager von «Vernete» und seine Bewohner in exemplarischer Weise für die Spezies Mensch beschreiben. Die in den Überschriften meist ge219
nannten Kategorien der Untersuchung sind entweder aus den Spezifika des Untersuchungsgegenstandes abgeleitet («De las gafas», «Del trabajo», «Del dinero») oder aus denen des Beobachters («Del pico», «De la muda y de las fronteras»); dieses Prinzip der generalisierenden Betrachtung gibt der Rabe auf den letzten zehn Seiten auf: Unter der Überschrift «Algunos hombres» präsentiert er gewissermaßen seinen Zettelkasten und stellt von den «unos seis mil internados […] unos cuantos, escogidos al azar» (248) vor. Knapp 20 Prozent des Textes von Manuscrito geben nun, beginnend mit den kursiv gesetzten Namen, 30 Kurzcharakteristiken wieder, sowie drei Beschreibungen von Menschengruppen («Los inseparables», «los vazcos españoles» und die «comunistas»). In dieser angeblich zufällig zusammengestellten Liste entsteht ein exemplarisches Bild von der Willkür des Lageralltags und von der Willkürlichkeit der Wege ins Lager. Denunziation und falsche Nachrede sind die häufigsten Gründe, gefolgt von der Nationalität oder den politischen Vorlieben, jedoch ohne Kohärenz. Es finden sich Ungarn, Tschechen, Spanier, Deutsche, aber auch Franzosen; Republikaner, Kommunisten, Sozialisten, aber auch ein Faschist. Bürgerliche und ein Adliger. Künstler und Arbeiter. Im Falle eines Zwillingspaars heißt es, «los detuvieron a los dos porque no sabían a ciencia cierta quién era el sospechoso. Dicen que uno es anarquista. Ellos no dicen cuál» (256), und dem Anarchisten Juvenal García werden sogar seine Träume zum Verhängnis: «Le contó a un guardia que la noche anterior había soñado que se escapaba. Lo tundieron a golpes. ‹De aquí nos se escapa nadie, ni en sueños.›» (255)36 Hier wie auch schon in den vorherigen Passagen ist es der Humor, der aus den logischen Widersprüchen zwischen der Perspektive des Raben und dem Weltwissen des Lesers entspringt, was das grausame Erfahrungswissen um den Lageralltag leichter lesbar macht. Dies wird in beinahe jedem Abschnitt deutlich, so auch in denen, die Ein- und Ausschluss, Verfasstheit des Lagers und das Funktionieren von Grenzen beschreiben und die nun näher betrachtet werden sollen. Das Lager beschreibt Jacobo als einen privilegierten Ort, denn aus der hohen Zahl an Gebildeten in «Vernete […] en el departamento d’Arriège, región en el sudoeste de Francia» folgert er, dass es sich um «uno de los centros culturales de mayor nombre» handelt (210), deshalb auch die strenge Abschottung des Lagers nach außen. Damit die «internados« möglichst viel Zeit für ihre Arbeit haben, sorgen die uniformierten «guardias» dafür («como los porteros de los mejores hoteles», 211), dass sie möglichst wenig durch Besuch gestört werden, auch nicht durch Verwandte. Unter allen menschlichen Einrichtungen sei das Lager vergleichsweise perfekt: «Es uno de los servicios culturales del hombre mejor organizados.« (211) Darum wolle auch niemand das Lager freiwillig verlassen:
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Bei zahlreichen Eigennamen konnte Antonio Pérez Bowie (1999a: 180–182) deren Verwendung in anderen Lagertexten Aubs (v.a. in Morir por cerrar los ojos, Francés sowie in den Erzählungen) nachweisen und sie auf Aubs autobiographische Lagernotizen zurückführen – die er meist in solchen Schulheften machte, die auch der Herausgeber Bululú philologisch präzise als physischen Träger des Rabenmanuskripts beschreibt (vgl. Manuscrito 204, Fußnote 136).
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«No sale nadie, como no sea con los pies por delante» (248), wie es am Ende des Abschnitts «De las condiciones de salida» heißt. Die Inversion zwischen der Logik der Außenwelt (für die Menschen der Alltag, für den Raben die Ausnahme) und der Logik des Lagers (für den Menschen die Ausnahmeerfahrung, für den Raben der Alltag) ermöglicht eine ironische Brechung, die das Erzählen vom Lager erleichtert. Der Witz des Texts fungiert, wie auch schon im Magischen Labyrinth [ĸ Kap. III], als Gegengewicht zur existenziellen Wucht des Erzählten. Also wird diese humoristische Mechanik auch im konkreten Zusammenhang von Tod und Lagererfahrung durchgehalten. Betrachten wir den Abschnitt «De la muerte», in dem auch explizit die Vernichtungslager und der Holocaust angesprochen werden. Zunächst bedauert Jacobo den Menschen für seine Dekadenz, da er seine Toten nicht mehr, wie früher üblich, als eine Art Huldigung an die Raben an Bäumen hängend oder auf Türmen darbiete,37 sondern «con complicadas ceremonias» in der Erde begrabe. Und gerade in letzter Zeit lasse es der Mensch, was seine Totenrituale betrifft, den nötigen Respekt gegenüber den Raben vermissen, da er andere Menschen erst mit Gas desinfiziere und anschließend verbrenne: Estos últimos tiempos, en los que las matanzas han sido mejor organizadas, han llegado a extremos inauditos, hijos de la desesperación. Con tal de ofendernos, queman las carnes, después de haberlas desinfectado con gases, en cámaras especiales. Supongo que la reclamación acerca de tal desacato, de nuestro ministro en Ginebra, surtirá algún efecto. Si no hay holocausto en nuestro honor, ¿para qué las guerras? ¿para qué tanto cadáver? Y ¡oh colmo de la estupidez!, ni siquiera escogen a los mejor cebados! (Manuscrito 232)
Aus Rabenperspektive sind die nationalsozialistischen Vernichtungslager deshalb ungeheuerlich, weil die Leichen verbrannt werden, anstatt sie rituell den Raben zur Verfügung zu stellen, und zudem absurd, weil gerade nicht die gut genährten Menschen ausgewählt werden. Mit anderen Worten beschreibt Jacobo an dieser Stelle den «homo sacer» im Sinne Agambens, einen Menschen, «der getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf» (Agamben 2002: 18), wobei aus der Perspektive des Raben das ausbleibende Opfer das Skandalon ist, nicht das Töten selbst. Die Reduktion eines Vertreters einer «casta primitiva» wie der des Menschen zum «nackten Leben» ergibt für ihn keinen Sinn, weil er die Distinktion zwischen «Leben» und «nacktem Leben» beim Menschen nicht kennt. Der tote Menschenkörper darf aus seiner Perspektive gerne als Nahrung dargeboten werden, darüber hinaus gibt es keine Transzendenz. Entsprechend ungerührt kann Jacobo auch von all den Fällen berichten, in denen Menschen aus ihm unerfindlichen Gründen getötet werden – wobei immer wiederkehrend sein Unverständnis der rätselhaften Funktion der Grenzen gilt, um die die Menschen Krieg um Krieg führten («se pasan la vida matándose»): «Sépase que frontera es algo muy importante, que no existe y que, sin embargo, los hombres defienden
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Die Symbolik des Raben in Literatur- und Kulturgeschichte, und dort die rituelle Funktion des «Rabensteins», erläutert Ette (2005b 191f.).
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a pluma y pico como si fuese real», schreibt er im Abschnitt «De la muda y de las fronteras» (229). Die maximale Absurdität der Folgen von Grenzziehungen verdichtet auf kürzestem Raum die folgende Kurzerzählung des Abschnitts «De la nacionaldiad», die vor dem Hintergrund des Hitler-Stalin-Paktes (1938) und der Teilung Polens (1939) spielt: A veces los internados cambian de nacionalidad sin comerlo ni beberlo. Se duermen polacos y se despierten rusos. Se acuestan rumanos y se levantan soviéticos. Por la noche, internos, por la mañana libres. No tenían pasaporte y ahora lo pueden tener. Misterios de las fronteras y de los pactos. Nicolai y Alexei Tirsanof, dos hermanos, nacidos en dos aldeas polacas, distantes entre ellas diez kilómetros, se despiertan esta mañana, el uno libre y el otro preso, debido a una nueva frontera. Malficios de la imaginación. (Manuscrito 241)
Dank seines Überblicks als gelehrter Vogel (dank seiner «Adlerperspektive») kann Jacobo Wissensbestände auch von außerhalb des Lagers heranziehen, was ihm aber auch nicht weiterhilft beim Verständnis der Wirkung des Phänomens «Grenze» auf die Menschen innerhalb des Lagers. Grenzen und geographische Grenzziehungen sind ihm deshalb so unbegreiflich, weil sie für ihn nicht gelten und weil sie in seiner Rabenwelt nicht existieren. Der Rabe ist nicht an Grenzen gebunden, er kann sich innerhalb des Lagers zwischen den Blöcken bewegen, aber auch das Lager verlassen und es von außen in den Blick nehmen. Ihm ist beides möglich, die Innen- wie die Außenperspektive, also die Überschreitung der vom Menschen geschaffenen politischen oder räumlichen Grenzen. Dafür ist seine Perspektive anderen Begrenzungen unterworfen, die sich aus seinem Standpunkt als Rabe ergeben: Sein Tertium bei jedem Vergleich ist die Vogelperspektive, von der aus er beispielsweise den Menschen als defizitäres Tier ohne Federn, ohne Flügel, ohne Schnabel wahrnimmt (vgl. Manuscrito 209). Was aber die vom Menschen erdachten Grenzen betrifft, bewegt er sich so frei über sie hinweg, dass er nicht einmal die Semantik des Wortes «frei» versteht, weil er sich «unfrei» nicht vorstellen kann. Wegen dieses Nichtbegreifens fügt er an einer Stelle, als von der «zona libre» im Süden Frankreichs im Gegensatz zur «zona ocupada» die Rede ist, bei dem Wort «libre» eine Fußnote ein und schreibt: «No sé lo que es.» (248) Dieses Unverständnis hat noch einen tieferen Grund, der im sich wandelnden Verhältnis zwischen der Lagerwirklichkeit auf der einen und Staat und Gesellschaft auf der anderen Seite zu sehen ist. «Das Lager», schreibt Agamben, taucht zu einem Zeitpunkt auf, da das politische System des modernen Nationalstaats, das auf dem funktionalen Nexus zwischen einer bestimmten Lokalisierung (dem Territorium) und einer bestimmten Rechtsordnung (dem Staat) gründet und von automatischen Regeln der Einschreibung des Lebens (der Nativität oder Nationalität) gesteuert wurde, in eine fortdauernde Krise gerät […]. (Agamben 2002: 184)
Der Rabe Jacobo beobachtet die Menschen genau in diesem Moment im Lager, als sie selbst noch an die Wirkmacht der alten «Einschreibungsregeln» des modernen Nationalstaats glauben, wo doch «das Lager [schon zum] Zeichen der Unmöglichkeit» geworden ist, «daß das System funktioniert, ohne sich in eine 222
tödliche Maschinerie zu verwandeln» (Agamben 2002: 184). Weil die in der alten Ordnung gegebene funktionale Verbindung zwischen Ort der Geburt und Gültigkeitsraum der staatlichen Rechtsordnung brüchig geworden ist, verlieren die Inhaftierten den Glauben an die Sinnhaftigkeit von Grenzen, Ausweispapieren oder staatlichen Rechtsgarantien, und der Rabe kann diese Konzepte nicht begreifen, weil sie im Lager, verstanden als Paradigma der Moderne, auch keine Gültigkeit mehr haben.38 Weil das Lager nicht mehr «Ausnahmezustand» ist, sondern bereits Ausdruck einer neuen «Bio-Politik», können die Gefangenen nicht anders als verzweifeln, und der Rabe muss mit seiner Untersuchung scheitern. Das Scheitern des Raben, der Erfolg der Erzählung Jacobo ist ein gebildetes Wesen, und er ist ein Augenzeuge dessen, was im Lager passiert. Die grundsätzlichen Schwierigkeiten beim Begreifen und Verbalisieren von so etwas Unbegreiflichem wie dem Menschen sind ihm wohl bewusst. Er kann zwischen der Innen- und der Außenperspektive des Lagers wechseln, und keine menschlichen moralischen Tabus bremsen seinen Forscherdrang, weshalb er konsequent invers das Grauen des Lageralltags beschreibt, als sei es die alltäglichste Normalität. Dennoch führen ihn seine Studien zu keinem befriedigenden Wissen über den Menschen. Vielmehr entgleitet ihm sein Projekt insofern, als er sich, anders als im Inhaltsverzeichnis annonciert, ab dem Abschnitt «Algunos hombres» nicht mehr mit der Gattung, sondern mit Einzelschicksalen beschäftigt. Den Schlusspunkt bildet schließlich das Eingeständnis, dass er nicht genug weiß, um die Menschen zu verstehen, vor allem nicht die Kommunisten, die er eigentlich bewundert: «Son muy de admirar, según las fotografías que vi: ostentan más estrellas, más medallas, más condecoraciones que nadie. Brillan», lautete der einzige Satz des Abschnitts «De los comunistas» (239). Auf der letzten «ficha» seines Bericht heißt es voller Bewunderung über die Kommunisten, dass sie sich von anderen Menschen wohltuend abheben, weil für sie weder Geld zähle noch der Ort der Geburt, sondern allein die UdSSR. «La mayoría ha luchado en otro país, que tampoco es el suyo: España. Alli murieron muchos.» (257) Geeint würde diese Gruppe durch ein unbeschreibliches Gefühl («sentimiento indescriptible») namens «Solidarität». Doch an dieser Stelle endet die Bewunderung, denn nun ist der Rabe mit seiner Weisheit am Ende und muss konstatieren, dass bei den Kommunisten stattdessen andere, ihm nicht weniger nachvollziehbare «procédures d’exclusion» wirksam werden, die Ausschluss und Einschluss in der Gruppe regeln:
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Es ist wichtig sich vor Augen zu halten, dass Jacobo nicht etwa deshalb scheitert, weil er das Lager als pars pro toto für die menschliche Gesellschaft nimmt: «Die Grenzen, an die Jacobo stößt, sind die Grenzen des Lagers. Das Problem seiner Darstellung besteht jedoch gerade nicht darin, die Welt der Menschen mit dem Innenraum des Lagers verwechselt zu haben. Denn dort hat der Rabe konzentriert vorgefunden, was das Denken der Menschen im ‹Massenzeitalter› der Moderne bestimmt.» (Ette 2004: 220)
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Pero en el momento en que uno del grupo no está conforme con el sentir de la mayoría, lo expulsan acusándole de lo peor; lo ignoran como si fuese apestado; lo que nada tiene que ver con lo que pregonan: el hombre primero. Intransigentes y sectarios, roídos por la desconfianza. El que no piensa como ellos, traidor. Salvando lo poco que sé de la historia de los hombres, se trata de la aristocracia: no permiten casamiento más que entre ellos. No admiten, en ningún momento, considerar las cosas desde otro punto de vista que no sea el suyo, aun dándose el lujo de cambiarlo constantemente. [...] Aseguran que el hombre es producto de su medio, pero cuando no piensa como ellos lo aniquilan, sin pensar que –según su teoría– no tiene culpa. Lo malo: que los demás son peores, por el dinero. Debe haber algo más.
(Manuscrito 257)
Die einen glauben an Solidarität und sind von Misstrauen zerfressen, predigen den Wert der Sozialgemeinschaft und strafen für Verfehlungen individuell, während die anderen ihr Leben von vornherein nur am «dinero», am Materiellen ausrichten. Das soll der Mensch sein? Der Rabe ist mit seinem Latein am Ende: «A cada momento tropiezo con las contradicciones del hombre, que me hacen tan difícil poner en claro sus costumbres.» (257) Wenn man seinen Schlusssatz «Debe haber algo más» nicht moralisierend als Ausdruck inständiger Hoffnung auf einen besseren Menschen liest, auch nicht politisch im Hinblick auf einen Dritten Weg zwischen den Machtblöcken des beginnenden Kalten Kriegs (vgl. Buschmann 1997), bleibt die dritte Möglichkeit, ihn als Eingeständnis des Scheiterns der eigenen Studie und ihrer Vorgehensweise zu begreifen. Mit dem Schlusssatz «Da muss es doch noch etwas geben» räumt Jacobo ein, dass die Menschen in «Vernete» nach Regeln handeln, die er nicht erfassen und nicht erklären kann, weshalb er als Wissenschaftler an seinem selbst gesteckten Ziel der umfassenden Erklärung des Menschen gescheitert ist. Gescheitert wäre damit der Rabe. Aber stimmt es, wenn Valeria de Marco daraus folgert, dass das Manuscrito cuervo «una alegoría de la imposibilidad del hombre contemporáneo de narrar experiencias radicales» (de Marco 1996: 565) sei? Ist es sinnvoll, mit José Antonio Pérez Bowie in diesem Eingeständnis des Raben einen «fracaso de la escritura» und in der Erzählung eine «metáfora de la indecibilidad del horror» zu sehen (Pérez Bowie 1999b: 40), oder wie Isabel Vázquez de Castro (2010) vor allem die Grenzen des rationalen Diskurses interpretatorisch zu betonen? Diese drei auf den «Topos der Unsagbarkeit» rekurrierenden Lektüren messen der Selbstbeobachtung des (höchst selbstkritischen) Raben einen hohen Stellenwert bei, lassen aber außer Acht, wieviel vom Lagersystem, seinen symbolischen und körperlichen Erniedrigungen eben doch rational erfasst, beschrieben und bewertet wurde: Die Wirkung der Appelle, die Willkür der Verwaltung, die Absurdität der Grenzen sowie ihrer Wirkung bis ins Lager hinein. Vor allem aber werten de Marco und Pérez Bowie das «Rabenmanuskript», als gäbe es nicht die eingangs analysierte Rahmenfiktion, die die Schriften des Raben einbindet in einen kommunikativen Kontext mit dem Übersetzer Albarrón und den Herausgeber Bululú. Doch nur im Bewusstsein dieser «Theorie des kommunikativen Raben» (Ette 2004: 207) wird erkennbar, dass das Manuskript des Raben ja nur eine der Stimmen im Manuscrito cuervo ist. Als er sich mit seinem wissenschaftlichen 224
Latein am Ende sieht, folgt ein Übersetzer, der seine Schrift (kommentierend) der Übersetzung für würdig erachtet, sowie ein Herausgeber, der sie einem gänzlich neuen Publikum, nämlich dem Menschen, zugänglich macht. In dieser Dynamik der fiktionsironischen Brechung kann aus dem Unverständnis des Raben das Verständnis des Lesers über Entstehung, Funktion und Bedeutung des Lagersystems erwachsen, gerade weil er von der naiven Feststellung des Herausgebers auf die nach wie vor virulente Gegenwärtigkeit des hier beschriebenen Phänomens gestoßen wird. Er gebe, schrieb Bululú 1946, das Rabenmanuskript als faktisch überholtes Kuriosum in Druck, als «recuerdo de un tiempo pasado que, a lo que dicen, no ha de volver, ya que es de todos bien sabido que se acabaron las guerras y los campos de concentración» (203). Da aber von den fünfziger Jahren jeder Leser weiß, dass es weiterhin Kriege und Lager gibt, lenkt die böse ironische Wirkung dieser Anmerkung seine Aufmerksamkeit genau darauf, aus dem verstehenden Missverstehen des Raben ein Wissen über die «Ununterscheidbarkeit […von] Ausschluss und Einschluss, Außen und Innen» (Agamben 2002: 19) zu destillieren.39 Nur indem die Erzählung den Alleinerklärungsanspruch des teilnehmenden Beobachters und Wissenschaftlers Jacobo in Frage stellt und seine Erkenntnisse einbindet in einen Erzählzusammenhang, in dem durch Albarrón und Bululú eine weitere Außen- und Innenperspektive auf das Lager mit berücksichtigt ist, werden das Bild des Lagers und die Problematik der Abbildbarkeit des Lagers in differenzierter Form sichtbar und nachvollziehbar. Schreiben über das Lager, aus dem Lager, nach dem Lager Max Aub schrieb über die Welt des Lagers zu einem Zeitpunkt, als er sie aus eigener Anschauung und Erfahrung noch gar nicht kannte. Dennoch haben wir gesehen, wie differenziert bereits De algún tiempo a esta parte die vorgelagerten Ausschlussmechanismen benennt, die nötig sind, damit eine auf das Lagersystem gründende Gesellschaft funktionieren kann. Wie lässt sich dieses analytische Gespür erklären, ohne das diese literarische Pionierleistung nicht möglich gewesen wäre? Sie dürfte in der komplexen Erfahrung der «Kulturen des Max Aub» begründet liegen, die den Autor erstmals in seiner Jugend die Erfahrung des Ausschlusses machen ließ, die er zum Zeitpunkt der Redaktion von Tiempo, gerade vertrieben aus Spanien, erneut erlebte. Die später im Einschluss des Lagers wie unter einem Brennglas mögliche Erkenntnis, dass die Verbindung «zwischen einer bestimmten Lokalisierung (dem Territorium) und einer bestimmten Rechtsordnung (dem Staat) […] und von automatischen Regeln der Einschreibung des Lebens (der Nativität oder Nationalität)» (Agamben 2002: 184) brüchig geworden ist und ausgehebelt wird, musste er als in jungen Jahren aus Frankreich Vertriebener bereits machen, lange bevor er im Lager eingeschlossen wurde. Als
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Dass eine Verallgemeinerung dessen, was im Text konkret beschrieben wird, intendiert sein dürfte, lässt sich daran ablesen, dass von dem historischen Ort des Lagers «Vernet» im Text immer in der Pluralform «Vernete» gesprochen wird.
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jemand, der wegen seiner Herkunft und seiner Sprache und seiner selbst gewählten Einschreibung in die spanische Kultur nie an die quasi naturgesetzliche Kraft des von Agamben betonten Nexus glauben konnte, hatte er eine besondere Aufmerksamkeit für die Beweglichkeit von Konzepten wie «Innen» und «Außen», «Einschluss» und «Ausschluss». Das erklärt seine Fixation auf die Absurditäten von «fronteras» und «papeles», die sein ganzes Werk durchzieht. Insofern greift es zu kurz danach zu fragen, was Max Aub «aus dem Lager» und was er «nach dem Lager» geschrieben hat und welcher der beiden Kategorien Manuscrito cuervo. Historia de Jacobo zuzuordnen ist. Auf diese Frage gibt es zunächst die genuin philologische Antwort, die nach der Lektüre von Diario de Djelfa, «Manuel, el de la Font» oder eben Tiempo den kritischen Apparat der jeweiligen Ausgabe der Obras completas sichtet und aus dem Variantenvergleich mit den erhaltenen Notizbüchern aus der Lagerhaft rekonstruiert, wieviel Text jeweils aus dem Lager stammt oder der Redaktion nach dem Lager zuzuschreiben ist. In Anbetracht der hier skizzierten Aufmerksamkeit Aubs für das Schreiben zwischen Einschluss und Ausschluss scheint es allerdings sinnvoller, den Horizont zu öffnen und den Kontext des Schreibens im (mehrfachen) Exil mit zu berücksichtigen. Als Schreiben im Angesicht des Ausschlusses könnte man dann seine Literatur charakterisieren,40 als eine von der diffusen Erfahrung des kulturellen Ausschlusses wie der konkreten Erfahrung des Einschlusses ins Lager gleichermaßen geprägte und sensibilisierte Literatur.
Aubs Anagnorisis: die Rückkehr 1969 Rückkehr und Imagination der Rückkehr «23 de agosto. Aeropuerto de Barcelona. Desierto. ¿Por ser sábato? Nadie. Hemos entrado como en nuestra casa. Nadie nos ha preguntado nada.» (Gallina 111) Sommer 1969, und Max Aub betritt, in Begleitung seiner Frau, nach gut dreißig Jahren im Exil wieder spanischen Boden. Dreißig Jahre, in denen er diesen Augenblick wieder und immer wieder imaginiert, verdrängt, ersehnt und dann doch als unmöglich beschrieben hat. Imaginiert wird die Rückkehr etwa in der bereits analysierten Szene, in der Vicente Dalmases sich in Todesangst an Valencia erinnert und in einem Stück kastilischer Erde die Hoffnung auf sein Überleben sucht [ĸ Kap. III]. Häufiger aber wird die Rückkehr für unmöglich erklärt, etwa als Aub Ende 1946 seinen Ausschluss in der Formel «Mi patria, España; mi pueblo, el mundo» (Diarios 130) zu erfassen versucht. Diese Grundhaltung verhindert jedoch keineswegs, dass er sich unermüdlich weiter literarisch an dem Gedanken abarbeitet, wie es wäre wenn.
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Die Formulierung erweitert folgende Bewertung von Ottmar Ette zum Rabenmanuskript: «Max Aubs Schreiben ist kein Schreiben nach Auschwitz, sondern ein Schreiben im Angesichts des Lagers, aus dem Bewußtsein, daß die Menschheit noch immer weit davon entfernt ist, mit dem Lager fertig zu sein.» (Ette 2004: 221)
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Bis zu La gallina ciega, dem literarischen Tagebuch seiner Spanienreise 1969, sind es vor allem Erzählungen und Theaterstücke, die das Verhältnis des Emigranten zu seinem selbst gewählten kulturellen Bezugsort «Spanien» kartographierten. Neben den im vorherigen Unterkapitel vorgestellten Stücken des Teatro mayor sind es die kurzen Stücke des von Aub so genannten Teatro breve, die die Situation des Ausgeschlossenseins thematisieren. Sie sind zu Werkgruppen zusammengefasst, die bereits in ihren Denominationen den Bogen von der Außenperspektive über die Innensicht bis zur Konfrontation von Außen und Innen spannen: Szenen aus der Lebenssituation der Exilanten beschreiben die vier Einakter der Gruppe Los transterrados, beinahe gleichzeitig entstanden zwischen 1943 und 1944; die Situation innerhalb Spaniens in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre thematisieren drei Einakter des Teatro de la España de Franco, die zwischen 1944 und 1947 geschrieben wurden. Und um die Darstellung einer Rückkehr nach Spanien, sei es aus der Gefangenschaft oder aus dem Exil, geht es in Las vueltas (La vuelta: 1947, La vuelta: 1960, La vuelta: 1964), die jeweils in den Jahren geschrieben wurden, in denen sie spielen, und insofern eine Brücke über zwei Jahrzehnte Exilerfahrung hinweg bilden, von der Einsicht in die Dauerhaftigkeit des Exils bis zur fiktiven Imagination einer faktisch als unmöglich erachteten Rückkehr wenige Jahre vor der tatsächlichen Reise. Aubs Spanienreise im Jahr 1969 stand von Beginn an unter dem in zahlreichen Interviews wiederholten Motto «he venido, pero no he vuelto», das er in Gallina wortspielerisch variiert und zugleich verdeutlicht: «Vengo –digo–, no vuelvo. Es decir, vengo a dar una vuelta, a ver, a darme cuenta, y me voy. No vuelvo. Volver sería quedarme.» (220) Für Aub konnte es nie einen Zweifel daran geben, dass eine dauerhafte Rückkehr nach Spanien so lange nicht in Frage kam, wie Franco an der Macht war. Selbst als Toter wollte er nicht unter den Einflussbereich des Diktators geraten, wie er im Mai 1971 bei seiner zweiten Spanienreise notierte: «Vuelvo a repetirlo, no entiendo a todos esos moribundos que aspiran a ser enterrados aquí, a pesar de sus ideas. Mientras reine Franco, no morirme en España ni por casualidad. Cualquier otro lugar sería bueno.» (Diarios 529) Als Aub 1967 davon hört, dass der betagte José Bergamín (geb. 1895) mit dem Gedanken spiele, wieder nach Spanien zurückzukehren («regresar»), hält er ihm kühl entgegen: «No puedes volver, sólo puedes ir.» (Diarios 392) Ähnlich ist das Panorama, das die Erzählungen über Exil und (unmögliche) Rückkehr eröffnen. Diese 17 «relatos del exilio» (Aub 1994: 341–499) decken ein weites Spektrum ab, von der Darstellung des Auslösers der Vertreibung (des Bürgerkriegs einschließlich seiner Vorgeschichte), über die Erzählungen von der Flucht aus Spanien, der Inhaftierung in Konzentrationslagern bis zum Alltag des Exilanten und den Szenarien möglicher Rückkehr.41 Alle diese Erzählungen, Theaterstücke sowie einige Gedichte und Essays bilden, wie im Folgenden zu
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Sie finden sich teils in dem Band Relatos II der Gesamtausgabe (Aub 2006b), sowie in dem von Manuel Aznar Soler zusammengestellten Band Escritos sobre el Exilio (Aub 2008a).
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sehen sein wird, den Hintergrund für das Hauptwerk der Verarbeitung des Ausschlusses, für das literarische Reisetagebuch La gallina ciega. Tránsito und Las vueltas: Einakter zwischen innen und außen 22 Einakter schrieb Max Aub ab 1943, die meisten handeln vom Exil im weitesten Sinne, von der Situation des Ausschlusses, des Einschlusses, der unmöglichen Rückkehr – allerdings oft ohne direkten Bezug zur spanischen Geschichte. So handelt von den vier Stücken, die Aub als Werkgruppe unter dem Titel Los transterrados42 zusammenfasste, nur Tránsito (1944) von einem republikanischen Exilanten in Mexiko. In A la deriva (1943, UA 1947) hingegen sind es zwei Ungarn, die sich in Paris begegnen, El puerto (1944) handelt von der Flucht eines französischen Résistance-Offiziers nach England, und El último piso (1944) zeigt eine russische Tänzerin in Mexiko, die «im letzten Stockwerk» die existenzielle Situation von Verfolgung und Ausschluss erlebt. Diese Stücke, entstanden noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, reflektieren die Situation des Exils aus einer weniger spanischen, vielmehr universellen Perspektive, die den Kampf zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Freiheit und Unterdrückung als übergeordnete Parameter in den Vordergrund rückt. Es ist sicher kein Zufall, dass alle vier spät nachts spielen, in der Dunkelheit, die als Raum der Orientierungslosigkeit, als Zwischenraum vor einer ungewissen Zukunft erscheint.43 Am wenigsten «offen» von diesen vier Stücken ist bezeichnenderweise Tránsito. Es zeigt den männlichen Protagonisten Emilio in einer schlaflosen Nacht, in «una habitación cualquiera, de noche. En México, en 1947» (Aub 2002d: 82). Neben ihm schläft seine mexikanische Frau mit dem allegorischen Namen Tránsito, gleichzeitig erinnert er sich an seine spanische Familie und seine Frau Cruz, die ihm, Trauerkleidung tragend, in seiner Phantasie erscheint und am vorderen Bühnenrand sitzend auftritt. Im Dialog zwischen Emilio und Cruz, in den sich später auch die erwachte Tránsito einschaltet, wird dem alter ego Aubs44 bewusst, wieviel ihn von seiner spanischen Vergangenheit trennt, und wie wenig er sich zugleich in der neuen Umgebung heimisch fühlt. So sehr es ihn emotional zu Cruz zieht, so sehr ihn der mögliche Tod seines Sohnes, in Spanien erschossen von der Guardia Civil, rührt, so klar ist für ihn, dass er aus ganz grundsätzlichen Erwägungen heraus nicht zurückkehren kann. Diese Grundsätzlichkeit jenseits
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Die Selbstbezeichnung der republikanischen Exilanten als «transterrados» stammt von dem Philosophen José Gaos, mit dem Max Aub schon in Valencia eine enge Freundschaft verband und der sich wie er nach Mexiko gerettet hatte; dort lehrte er am Colegio de México. Zu ihrer (intellektuellen) Freundschaft vgl. Aubs Nachruf auf Gaos von 1970 (Aub 2001d: 209–225). Zur Analyse dieser vier Einakter vgl. Monleón (1971: 77–82), Aznar Soler (1985) und Monti (2002: 14–24). «[…] Emilio […], el exiliado español en México, detrás del cual, más que nunca podemos ver el mismo Aub», so Silvia Monti (2002: 18). Als Aub das Stück schrieb, befanden sich seine Frau Perpetua und seine Töchter noch in Spanien.
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des privaten Dilemmas wird durch den kurzen Auftritt seines Freundes Alfredo betont, der Emilio mitteilt, morgen die Rückreise nach Spanien antreten zu wollen. Emilios Reaktion ist eine eindeutige Ablehnung. Auf Alfredos Erklärung, die Zeiten hätten sich inzwischen geändert («Eran otros tiempos…», Aub 2002d: 88), antwortet Emilio mit einem Monolog, der den getrennten Raum zwischen Spanien und Mexiko zeitlich als Einheit denkt: ¿Crees que los tiempos cambian así como así? El tiempo es de uno. De quien lo vive, y es como uno quiere que sea; no hay otros tiempos, ni los habrá. Existe el tiempo que vives. El tiempo que eres. Lo haces, lo levantas, lo conquistas, con tu fuerza, con tu voluntad, con tus ideas. ¿Que las cosas van mal? Pues aguantarse y procurar que vengan mejor. Pero ¿entregarse, declararse vencido? No eres tú, no estás sólo. Tu deserción envuelve la del que te seguirá. (Aub 2002d: 88)
Während Emilio noch an die gemeinsamen Werte von früher glaubt (an die Solidarität und an die Kraft des gemeinsamen Glaubens an eine Idee), hat Alfredo sie als gestrig («eran otros tiempos») abgeschrieben. Der eine glaubt an eine mögliche Veränderung der Situation (was 1944, zum Zeitpunkt der Niederschrift, durchaus naheliegend war), der andere resigniert vor dem politischen Sieg Francos – und vor seiner Sehnsucht nach dem «pueblo»: «Daría cualquier cosa por […] dar una vuelta por los portales … Tomar un gazpacho en casa de Juanón.» (88) Für Emilio hingegen bedeutet die Rückkehr, dass man sich selbst als Verlierer definiert, aufgibt und die anderen Exilanten verrät. Wie grundsätzlich dieses Verdikt gegen die Rückkehr nach Franco-Spanien gemeint ist, unterstreicht auch der Hinweis der ersten Regieanweisung, wonach das Stück 1947, also in der Zukunft spielt. Diese Uchronie betont, wie schon die politische Dopplung der privaten Vordergrundshandlung, den Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Überzeitlichkeit. Ist in Tránsito die Rückkehr nach Spanien noch ein nächtlicher (Alb-) Traum, eine Vision jenseits des Denkbaren, verschiebt sich in den drei Einaktern La vuelta: 1947, La vuelta: 1960 und La vuelta: 196445 der Akzent der Handlung auf das Durchspielen möglicher Situationen der Rückkehr in ein inzwischen unbekanntes Spanien. Aub selbst schreibt zu dieser beschränkten Perspektive im Vorwort von 1965: «Inútil decir que reflejan la realidad tal y como me la figuré. ¿Qué tienen que ver con la verdad? Daría cualquier cosa por saberlo.» (Aub 2002d: 181) Mit den gleichen Worten, mit denen Alfredo in Tránsito seine (dauerhafte) Rückkehr rechtfertigte («Daría cualquier cosa […]»), räumt Aub den begrenzten Wahrheitsgehalt seiner Darstellung Spaniens in den Stücken ein – auch dies ein Hinweis, dass er nunmehr, Mitte der sechziger Jahre, eine (temporäre) Rückkehr nicht mehr ausschließt. Aber betrachten wir zunächst den Wandel der Darstellung der Rückkehrer vom Ende der vierziger Jahre an.
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Benannt sind die drei Stücke jeweils nach dem Jahr der Redaktion, wie Aub im Vorwort zur Veröffentlichung als Werkgruppe Las vueltas in den Obras incompletas de Max Aub von 1965 schreibt (vgl. Aub 2002d: 181). – Zur Analyse dieser drei Einakter vgl. Monleón (1971: 87–101), Monti (1998), Monti (2002: 24–31) und Sáinz (2006).
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La vuelta: 1947 zeigt die ehemalige Lehrerin Isabel, verurteilt zu 30 Jahren Gefängnis, die überraschend bereits nach acht Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird und unangekündigt in ihr Dorf und zu ihrem Mann Damián zurückkehrt. Der ist inzwischen mit der früheren Hausangestellten Paca zusammen, die Isabels Tochter Anita ganz im Sinne des neuen Regimes erzieht. Weder im Dorf noch in der Familie gibt es einen Platz für Isabel, sie ist ein störendes Element, das unangenehme Fragen stellt und ungute Erinnerungen weckt. Am Ende der Bühnenhandlung wird sie von einem Zivilgardisten abgeholt, denn ihre Freilassung war ein Versehen. Das Gefängnis ist hier der Ort des Ausschlusses, in dem die Figur keinerlei Wissen und Gestaltungsmacht über den Ablauf der Zeit hat: Lebenslänglich verurteilt, wird sie nach acht Jahren plötzlich freigelassen, um nach drei Tagen wieder festgenommen zu werden. Im Gespräch mit Nieves, einer ehemaligen Schülerin, die sich als Einzige über Isabels Rückkehr freut («Nos hemos acordado mucho de usted», 187) und mit einer Untergrundorganisation im Kontakt steht, stellt sie das Gefängnis als Ort dar, wo man durchaus über die Außenwelt informiert ist («Ya estábamos enterados», 188), und den sie der ängstlichen Unfreiheit und Geducktheit des Lebens außerhalb der Gefängnismauern beinahe vorzieht. Auf Nieves’ Frage, ob es im Gefängnis sehr schlimm zugehe, antwortet Isabel: «Ahora, visto desde fuera, no.» (188) Ähnlich wie in Tránsito das Exil erscheint in La vuelta 1947 das Gefängnis als Ort, aus dem es keinen Ausweg gibt, der aber dennoch dem Leben in Spanien, einem Leben in Unfreiheit und Angst, vorzuziehen ist. Auch in der zweiten Vuelta von 1960 ist es eine Rückkehr aus dem Gefängnis, die dargestellt wird, diesmal allerdings eine dauerhafte: Nach 22 Jahren Haft kehrt Remigio zu seiner Familie zurück, zu seiner Frau Elisa und den beiden Kindern Manuel und Carmen. Kein Ehestreit, keine Eifersucht trübt das Glück, wieder bei den Seinen zu sein, denn so wie Remigio in der Haft niemanden verraten hat, so hat auch seine Frau immer zu ihm gehalten: «No todos han tenido compañeras de ese temple» (209), kommentiert der Freund und Genosse Carlos. Aber alle Hoffnungen auf ein würdiges Leben in Freiheit macht die Warnung der Partei zunichte, die Carlos ihm überbringt: «Mira, Remigio, he venido a verte para decirte, para ordenarte, que te estés quieto, que no te muevas, que no veas a nadie, que no intentes relacionarte con ninguno de nosotros.» (210) Nicht nur für ihn gilt, dass er wegen seiner republikanischen Vergangenheit (die nicht spezifiziert wird, aber als gegeben feststeht) nicht mehr zur Sozialgemeinschaft Zugang hat, dass er ausgeschlossen bleiben wird. Mehr noch, diese Begrenzung der sozialen Bewegungsfreiheit gilt auch für seine Tochter, die sich an der Universität engagiert, wie Carlos hinzufügt: «[…] basta que sea tu hija, para que le siguen los pasos, para que se fijen más en ella.» (211) Auch 21 Jahre nach Kriegsende ist die Spaltung des Landes in «vencedores» und «vencidos» noch wirksam und setzt sich fort in der nachfolgenden Generation. Anders als Isabel 13 Jahre zuvor in La vuelta: 1947 kann Remigio zwar in Spanien bleiben, allerdings jeder Möglichkeit beraubt, eine menschenwürdige Existenz jenseits des privaten Raums zu führen: «No tengo que ocuparme de nada; no hablar de nada; cerrar los oídos, la boca, los ojos, a cal y canto.» (213) Seine einzige Hoffnung ist die auf das priva230
te Glück mit seiner Frau – von dem sicherheitshalber aber auch niemand etwas erfahren darf. Was ihnen nun noch bleibe im Leben, fragt Elisa, und Remigio antwortet: «Querernos. Callando, no sea que se entere la gente y nos denuncie por ser felices.» (213) Ob dieses Liebe im Kontext von Diktatur, Unfreiheit und Bespitzelung aber möglich ist, lässt die letzte Replik Remigios offen. Dort heißt es erneut: «Daría cualquier cosa por saberlo.» (213) «Nada de lo que sigue es invención. Me lo refirió –con puntos y comas– mi hermano.» (Aub 2002d: 215) So hebt die Vorbemerkung zum Figurenverzeichnis von La vuelta: 1964 an. Nach dem Traum von der Rückkehr in Tránsito und der als real inszenierten Situation der Rückkehr aus dem Gefängnis in den ersten beiden Vueltas, rückt die Rückkehr mit diesem Text noch näher an den Autor heran. Es ist der eigene Bruder namens Rodrigo, in der ersten Regieanweisung vorgestellt als in Mexiko exilierter Autor, der die Hauptfigur dieses Stücks ist. Gezeigt wird «mi hermano», wie er durchgehend in den Nebentexten genannt wird, im angeregten Gespräch mit acht alten Freunden und jüngeren Bekannten sowie seiner Jugendfreundin Mariana, in einer Madrider Tertulia im Februar des Jahres 1964 – also kurz vor den mit enormem propagandistischen Aufwand inszenierten Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Kriegsendes, die der zuständige Minister Manuel Fraga Iribarne als «25 años de paz» begehen ließ. Waren in den vorhergegangenen Stücken die Bezüge zu Spanien46 eher unspezifisch – etwa durch den Auftritt eines uniformierten Zivilgardisten –, sind nun die privaten wie die politischen und literarischen Wortwechsel voller Referenzen auf die historische Realität Spaniens: Wenn sich Mariana an die «años de hambre» der vierziger Jahre erinnert (Aub 2002d: 224), wenn aktuelle Artikel aus den Zeitschriften Índice oder Revista de Occidente kommentiert werden (249), oder wenn etliche seinerzeit in Spanien schreibende Autoren, Intellektuelle und Philosophen beim Namen genannt werden. Besonders auffällig geschieht dies im abrupten Ende des Stücks. Mitten hinein in die Gespräche platzt Juna, die Ehefrau von «mi hermano», mit der Nachricht, dass beide aufgrund einer polizeilichen Anordnung binnen 24 Stunden das Land zu verlassen hätten. Voller Empörung verkündet einer der Freunde, sofort einen Protestbrief zu verfassen, den sicher viele weitere Intellektuelle unterschreiben werden, worauf die Umsitzenden durcheinander die Namen der möglichen Unterstützer durcheinander rufen: TODOS. (Atropellándose, pero uno tras otro.) – Y Laín. – Y Lapesa. – Y Buero Vallejo. – Y Casona. – Y Sastre.
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Das Wort «Spanien» fiel in den ersten beiden Vueltas nur einmal; vgl. Monti (1998: 515).
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– Y Neville. […] – Y Delibes – Hasta Castillo Puche lo firmará. (Aub 2002d: 260f.)
Die Aufzählung der 26 potenziellen Unterstützer des Protestbriefs wird vom Kellner unterbrochen, der das Durcheinander (und das Stück) mit dem Satz beendet: «Perdonen los señoritos, pero ustedes parecen tontos…» (261) So weit Aubs skeptischer Blick auf die Bedeutung der Tertulia, dem so wichtigen Raum politisch-literarischer Öffentlichkeit für jenes republikanische Spanien, wie es in den Romanen des Magischen Labyrinths dargestellt ist [ĸ Kap. III]. Die ausführlich kommentierende und sich über drei Seiten erstreckende Vorstellung des Personals zu Beginn des Textes – jedem der Auftretenden wird, anders als sonst in den Stücken Aubs, eine heterodiegetisch verankerte Kurzbiographie zugeschrieben – lässt keinen Zweifel daran, dass es zu der Unterschriftensammlung nicht gekommen ist, dass vielmehr der Kellner mit seinem Zwischenruf die Tertulia beendet und «mi hermano» mit seiner Frau das Land verlassen hat: «Rodrigo entró en España el 24 de enero de 1964 […]. Falleció, de un infarto, exactamente dos meses después; acababa de cumplir sesenta y tres años.» (215) Auch in dieser Vuelta kann der Ausgeschlossene sich nicht in das gegenwärtige Spanien integrieren. Wie in den beiden vorherigen Stücken der Serie wird er durch Anweisung ‹von oben› wieder ausgeschlossen, in diesem Fall mit der Folge, dass er kurz darauf an einem Herzinfarkt stirbt. Die Rückkehr ist definitiv unmöglich, selbst als Toter findet «mi hermano» nicht zurück. Der Tunnel als Fluchtpunkt des Exils: Die Erzählung El remate Der Ort des Toten: «Mientras reine Franco, no morirme en España ni por casualidad. Cualquier otro lugar sería bueno,» (Diarios 529) schrieb Aub in sein Tagebuch, und während er seinem «Bruder» in La vuelta: 1964 das Los erspart, in Spanien beerdigt zu werden, lässt er El remate (Aub 2006b: 389–415), eine der Schlüsselerzählungen über die Unmöglichkeit der Rückkehr, genau auf diesen Punkt zulaufen. Sie entstand zwischen den beiden letzten Vueltas im Jahr 196147 und spielt auch im selben Jahr: Der Erzähler erinnert sich, dass vor 25 Jahren der Bürgerkrieg begonnen hat. Dieser Ich-Erzähler, selbst Exilant in Südfrankreich, lebt dort mit seiner französischen Frau und seinen drei Töchtern. In Spanien war er bis 1939 Journalist, nach der Flucht und der Erfahrung der Résistance hat er seinen Frieden mit der Situation im Exil gemacht. Nun bekommt er Besuch von seinem alten Freund Remigio, der inzwischen in Mexiko lebt und sich nahe der spanisch-französischen Grenze mit seinem inzwischen erwachsenen Sohn treffen will; Frau und Kinder, die nach dem Krieg in Spanien geblieben sind, hat er seit zwei Jahrzehnten nicht gesehen. Nur in Frankreich kann das
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Die erste Veröffentlichung erfolgte in Aubs Zeitschrift Sala de Espera vom 19. August 1961.
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Treffen stattfinden, denn nach Spanien würde Remigio niemals reisen: «¿Ir yo a España? Sería como faltar a un voto. No que me prometiera nada ni a nadie. Pero me sentiría disminuido, deshonrado, humillado, esclavo.» (Aub 2006b: 392) Der Erzähler und Remigio verstehen sich schnell wieder wie einst. Körperlich haben sie sich beide stark verändert, «no nos encontramos cambiados, sólo con veinticinco años más» (392), aber da sie gemeinsame Erfahrungen teilen, konnte die räumliche Trennung ihrer Beziehung nichts anhaben. Ganz anders das Resultat der Wiederbegegnung Remigios mit seinem Sohn: Mit verweinten Augen berichtet er dem Erzähler von dem Treffen, bei dem keinerlei Bezug zwischen Vater und Sohn möglich gewesen sei; selbst das Spanisch des ihm ablehnend gegenübertretenden jungen Mannes sei ihm fremd vorgekommen. Im Mittelpunkt der Erzählung steht die lange nächtliche Diskussion der beiden Männer, die nach dem gescheiterten Wiedersehen Bilanz ihrer Situation als Exilanten und Verlierer des Bürgerkriegs ziehen. «Sencillamente, no existimos» (397), resümiert Remigio, womit er sich vordergründig auf die Tatsache bezieht, dass er als Romancier und Essayist in keiner spanischen Literaturgeschichte vorkomme, was aber auch eine existenzielle Dimension habe, insofern niemand in Spanien mehr seinen Namen kennt («[…] ni conocen el santo de mi nombre», 394) und sich folglich auch niemand seiner erinnern wird. Erst jetzt, mit der Rückkehr und der Wiederbegegnung mit dem spanischen Sohn wird Remigio klar, dass er den Krieg verloren hat und sich niemand der Ideale seiner Generation erinnern wird: «Perdimos. No lo admití hasta ahora que regresé.» (397) Da er den Krieg und den Kampf um das Gedächtnis verloren habe, weil auch die Erinnerung von den Siegern beherrscht werde, so sein Fazit, lohne es sich nicht, weiter zu leben. Konsequenterweise wählt er als Lösung den Selbstmord, so die Vermutung des Erzählers: «Y antes que se me olvide; hallaron a Remigio, destrozado, en el túnel que une Cerbère a Portbou. Sin duda se tiró sobre la vía. Como le descubrieron español, en Portbou le enterraron.» (415) Dieser Schluss enthält zunächst einmal eine bitter ironische Wendung: Remigio, der als Lebender niemals einen Fuß auf spanischen Boden setzen wollte, solange Franco an der Macht ist, wird als Toter in spanischer Erde bestattet. Die Rückkehr nach Spanien ist also offenbar nur als Toter möglich, als Verlierer, der nicht mehr widerstehen will. Besonders betont ist diese Pointe dadurch, dass Remigio von einem Ausflug an die Grenze erzählt, wo er vor dem Bahntunnel, «mitad Francia, mitad España», gestanden habe, durch den er 1939 geflohen war. In seiner Phantasie habe er davon geträumt, «con la frente alta» (402) wieder zurückzukehren, aber in diesem Augenblick sei ihm bewusst geworden, dass diese Rückkehr «erhobenen Hauptes» unmöglich sei: «Se me cayó el alma a los pies.« (402) Wie wichtig dieser Tunnel, der dunkle Weg zwischen dem Ausschluss und der Rückkehr, für diese Erzählung ist, zeigen auch die intratextuellen Bezüge. So taucht der Tunnel als Transit-Raum in die Unfreiheit bereits im Kapitel III der längeren Erzählung El limpiabotas del Padre Eterno (Aub 2006b: 275–328) auf, wo die Hauptfigur El Málaga nach der Flucht 1939 von französischen Grenzbeamten mit Hunderten anderen Flüchtlingen in den Tunnel getrieben wird («– ¡Al túnel! ¡Al túnel! El túnel, negra boca del infierno […]», 287), um sie wenigstens 233
irgendwo unterzubringen. Mit beinahe gleichlautenden Worten beschreibt Aub im Tagebuch seine eigene Flucht. In Cerbère hatte er sich 1958 mit seiner Mutter getroffen und sich beim Anblick des Tunnels an den Grenzübertritt 1939 erinnert, der den Beginn des Exils bedeutet: «Perpignan. Cerbère. Mi madre. España. Por ahí, por ese camino, salí. El mar. Las rocas. Me siento tres horas, mirando. –¡Al túnel! ¡Al túnel!, nos mandaban. No hemos salido.» (Diarios 296) 48 Für Remigio ist der Tunnel der Ort des Todes, für El Málaga der Ort der Inhaftierung. Für Aub ist er einerseits Fluchtweg hinaus aus Spanien, andererseits konnotiert er den Tunnel selbst rückblickend als Raum des Exils: «No hemos salido.» Der Transit-Weg, der weder Spanien ist noch Frankreich, mithin weder innen noch außen, als Raum des Exils, auf diesen Gedanken wird am Ende des Kapitels noch zurückzukommen sein. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass anders als in den Einaktern in der Erzählung El remate die Wiederbegegnung mit Spanien nicht nur als schwierig, von Kommunikationsproblemen belastet und letztlich fruchtlos dargestellt ist, sondern unmittelbar tödliche Folgen hat. Die tatsächliche Wiederbegegnung verstellt jeder Idealisierung des Vergangenen den Weg und macht unmissverständlich klar, dass die Zeit zusätzlich trennt: «El tiempo nos mata» (396), erkennt Remigio, und weil er an sein Selbstbild als optimistischer und politisch aktiver Exilant nicht mehr glauben kann («Somos vencidos […] nos han borrado del mapa», 393) 49, weiß er nicht mehr, wer er noch ist: «[…] ni yo me reconozco.» (395) Als Mensch ohne Ort und ohne stabiles Selbstbild wählt er den Tod als letzten Ausweg, der ihn paradoxerweise dorthin führt, wohin er nicht wollte: nach Franco-Spanien. Als Max Aub im August 1969 in Barcelona aus dem Flugzeug stieg und doch noch einmal spanischen Boden betrat, hatte er – das hat die Lektüre der drei Vueltas und von El remate gezeigt – recht genaue Vorstellungen und Befürchtungen, was ihn erwarten würde. La gallina ciega und die Reise von 1969 «Yo tengo una atracción fatal por España», lautet das zweite Motto, das La gallina ciega. Diario español vorangestellt ist (Gallina 109). Es ist ein Zitat von Luis Buñuel, der diesen Satz am 18. August 1971 in dem Restaurant El Parador in Mexiko-Stadt geäußert haben soll, wenige Wochen vor Aubs Tod und vermutlich zum Zeitpunkt der letzten Fahnenkorrekturen an dem Buch. Mit der Figur des Re-
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In diesem Zitat kann «Mi madre. España.» einmal beiordnend als Aufzählung verstanden werden («Meine Mutter. Spanien.»), aber auch zusammengezogen als «Meine Mutter Spanien». Mit den gleichen Worten formuliert Aub 1955 seine Befürchtung, als Exilant «von der Landkarte getilgt» zu werden: «Somos unos ‹perdidos›. ¿Porqué no reconocerlo? Lo hemos perdido todo, menos la vida. Es decir, no hemos perdido nada: todo queda por hacer. Hasta que nos borren del mapa; no falta mucho.» (Diarios 268) Aub, für den der Selbstmord nie eine gangbare Alternative war, zieht hier noch den optimistischen Schluss, durch sein Handeln verhindern zu können, völlig vergessen zu werden.
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gisseurs und langjährigen Freundes war auch der äußere Anlass für die dreimonatige Rückkehr nach Spanien verbunden: Aub bereitete für den spanischen Verlag Aguilar eine Buñuel-Biographie vor, die er als Komposition von Interviews mit Zeitzeugen plante; da viele Freunde und Verwandte des Regisseurs in Spanien lebten, war eine Recherchereise unumgänglich. In der Zeit vom 23. August bis zum 4. November 1969 konnte Aub Dutzende Gespräche führen, insgesamt sammelte er 400 Stunden Tonbandaufnahmen und ca. 5000 Seiten Transkriptionen [ĸ Kap. II].50 Ähnlich wie das Buch über Buñuel ist Aubs Reisetagebuch aufgebaut, das über weite Strecken aus der Wiedergabe seiner unzähligen Gespräche mit Freunden und Verwandten sowie mit Verlegern, Autoren, Journalisten und Studenten besteht. Da diese Gesprächsaufzeichnungen nachträglich gekürzt, arrangiert und narrativ miteinander verknüpft, also literarisch bearbeitet wurden, und da zudem die Diskussionen über den Bürgerkrieg und seine Nachwirkungen den roten Faden der Erinnerung des Reisenden bilden, ist das Buch auch als ein weiterer Roman des Magischen Labyrinths bezeichnet worden, als «Campo oscuro» oder «Campo de sombras», lesbar als Epilog zum Romanzyklus (Aznar Soler 1995: 18). Aub selbst äußerte kurz vor seinem Tod die Hoffnung, dass es in Zukunft besser als Roman verstanden werden sollte: «La verdad es que, con el tiempo, espero que La gallina ciega venga a ser una novela.» (Diarios 495) Aub bewegte sich vor allem in Barcelona, Madrid und Valencia, wo er im Keller der Universität seine nach dem Bürgerkrieg beschlagnahmte Bibliothek entdeckte (vgl. Oleza Simó 2008). Gerne hätte er noch andere Städte besucht, allein die wegen des begrenzten Visums knappe Zeit hinderte ihn an Besuchen in Südspanien oder Kantabrien. «¿Qué no hubiese dado por volver a Sevilla o a Santander?, y quien dice Sevilla nombra Granada; quien Santander, Santiago o Pamplona […]», schreibt er im Prólogo (Gallina 9). «¿Qué no hubiese dado» – Aub verwendet an dieser Stelle die gleiche Wendung wie seine Figuren in den Vueltas, um seine Sehnsucht nach der freien Bewegung in Spanien zu formulieren. Von Beginn an ist seine Wahrnehmung Spaniens von der Erinnerung an den Bürgerkrieg sowie an Politik und Kultur der zwanziger und dreißiger Jahre überlagert. Bereits in den ersten Eindruck vom modernen Flughafengebäude in Barcelona drängt sich die Erinnerung, dass auf den Tag genau vor 30 Jahren der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen worden sei (vgl. Gallina 112). Eine Woche später wirken die Ramblas von Barcelona auf ihn «desconocidas, a pesar de no haber cambiado» (Gallina 138). Aub schimpft sich selbst dafür, dass er immer nur sieht, was war, und so nicht wahrnehmen kann, was ist. Mit einer für seine
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Das Buch, geplant als vielstimmige künstlerische Biographie der Generation der um 1900 Geborenen, konnte Aub zu Lebzeiten nicht mehr fertigstellen. Die 1985 erschienene, 600-seitige Fassung Conversaciones con Buñuel. Seguidas de 45 entrevistas con familiares, amigos y colaboradores del cineasta aragonés, herausgegeben von Aubs Schwiegersohn Federico Álvarez, enthält nur einen Bruchteil der Materialien, die in der Rohfassung ein beeindruckendes Dokument der Erinnerung der spanischen Avantgarden an sich selbst darstellen und demnächst als Teil der Obras Completas erscheinen sollen.
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selbstkritische Schreibweise typischen Nebenbemerkung bringt er seine Rolle als zeitversetzter Beobachter auf den Punkt: «Soy un turista al revés; vengo a ver que ya no existe.» (Gallina 244) Diese Fixierung auf die Vergangenheit ist gleichermaßen Reaktion auf die Gedächtnispolitik des Franco-Regimes und Ausdruck der grundsätzlichen Ungleichzeitigkeit des Exilanten. Letzteres hält ihm einer der vielen jungen Gesprächspartner vor: «¿La guerra? Es vieja y, además, ¿para qué acordarse?» (Gallina 162) An dieser Stelle ist es sogar sein Neffe, ein durchaus gebildeter Jurist, der offensiv den Standpunkt vieler jüngerer Spanier vertritt, die einerseits durch die Zensur und durch die Bildungspolitik des Regimes nur begrenzt Zugang zur eigenen Geschichte haben, andererseits die traumatische Vergangenheit Spaniens vergessen wollen, um ihr Glück in einer unbelasteten Zukunft zu suchen. Deren in Aubs Augen mittelmäßige Selbstbescheidung in Konsum und Ignoranz stachelt ihn geradezu an, sie immer wieder an die intellektuelle Größe der Autoren seiner frühen Jahre zu erinnern sowie an die seinerzeit erkämpften freiheitlichen demokratischen Werte. Die Reise als Gedächtnisreise: die Anagnorisis Dokumentation der Reise, Tagebuch, Roman einer Wiederbegegnung – wie so viele Texte Max Aubs ist auch La gallina ciega nicht auf ein Genre festzulegen. Francisco Ayala schreibt: «Diría yo que La gallina ciega es […] más novela que las novelas del propio autor, pues aquí hay un protagonista –el propio autor– que en sus múltiples encuentros polemiza no sólo con este o con aquel […] sino con el país entero.» (Ayala 1973: 3) Während Ayala also den Roman eines Duells, einer konfrontativen Begegnung zwischen Aub und Spanien liest, lassen sich gleichzeitig so viele heteroreferenzielle Bezüge zum Ablauf von Aubs tatsächlicher Reise nachweisen (vgl. Aznar Soler 1995: 10– 16), dass Ignacio Soldevila das Buch mit gleichem Recht als «testimonio» und «documento» bezeichnet (Soldevila 1975: 153). Dass der Autor selbst in den Paratexten – mehreren Vorbemerkungen sowie einer Erklärung des Titels auf der vierten Umschlagseite der mexikanischen Erstausgabe – dem Unterlaufen klarer Zuschreibungen das Wort redet, kann zum Ende unserer Untersuchung nicht mehr überraschen. Der Wahrheitsgehalt des im Buch Wiedergegebenen hänge von Zufällen ab, «[son] conversaciones mal recordadas o reproducidas al pie de la letra; dependió […] de la casualidad» (Gallina 97), schreibt Aub im Prólogo, und obwohl er sich als Zeuge («testigo») bezeichnet, seien Objektivität oder Neutralität nicht sein Ziel gewesen («No pretendo la menor objetividad», 98).51 In die gleiche Richtung weisen die Aussagen im Text selbst: Mal wird metanarrativ die getreue Wiedergabe der Reisenotizen versprochen («Tengo aquí unas notas para poder escribir lo de aquel día […]», Gallina 480), mal die Rekon-
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Das vollständige Zitat lautet: «No pretendo la menor objetividad […] No intenté ser imparcial. […] Vi, oí, digo lo que me parece justo. No busco acuerdos. Una vez más testigo no hago sino dar cuenta sin importarme las consequencias.» (98f.)
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struktion aus der Erinnerung eingeräumt («Claro que reconstruyo esta salomónica columna vertebral de nuestra conversación», 218) oder gar zugegeben, dass selbst die schriftlichen Unterlagen nicht mehr dabei helfen, beispielsweise ein Gespräch über Pío Baroja zu transkribieren: «En mis notas confundo lo dicho por él y por mí. Como no importa gran cosa, así lo dejo.» (455) Eine Verwischung der Grenzen zwischen den sprechenden Subjekten, zwischen dem autodiegetischen Erzähler ‹Aub› und seinem Gegenüber, wie sie bereits in Vida y obra de Luis Álverez Petreña so auffällig hervortrat [ĸ Kap II]. Selbst wenn Gallina kein Tagebuch ist, wie der Autor erklärt,52 ein autofiktionaler Text ist das Buch aber ohne Zweifel, schließlich ist der auf dem Umschlag genannte Autorname identisch mit dem des autodiegetischen Erzählers. Wer hier aber über wen erzählt, das hängt davon ab, ob ‹Aub› selbst die «blinde Kuh» ist, von der der Titel spricht, oder Spanien.53 Betrachten wir die ausführliche Erläuterung auf der vierten Umschlagseite der mexikanischen Ausgabe von 1971: No sé por qué se llama así este libro. Se me ocurrió que era bueno, lo puse. ¿A qué se refiere? Goya, sí, pero no al tapiz o su cartón. Ní al juego. Sí a una persona privada de luz, en oscuridad completa –sin perder la vista, pero metida dentro de las tinieblas gracias a una venda o un pañolón–, anublados el juicio y la razón, incapaz de juzgar los colores, a quien su ignorancia parece discreción […]. Sí: España con los ojos vendados, los brazos extendidos, buscando inútilmente a sus compañeros o hijos, dando manotazos al aire, perdida. También «gallina ciega», refiriéndose a haber empollado huevos ajenos: – En eso no ha cambiado. – No digo que lo haya hecho. ¿Quiénes somos? Tal vez otros. No la reconocemos. No la [España] reconocí aunque haya dejado tantos rastros, raigones con los que tropecé, raices por doquier que trepaban por mis arterias y venas. Tal vez los ciegos seamos sus hijos. Quizá la gallina ciega soy yo y España siempre fue así y no sólo hace treinta y tres años. Acaso únicamente haya cambiado el tiempo. Acaso los que empollamos huevos extraños fuimos los que nos fuimos. Tal vez. Quizá por eso acudió el título. Quizá no. Pero esto vi. Acaso, ciego (o sin coma). (La gallina ciega, México 1971, U4)
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«Diario sólo hasta cierto punto, porque éstos suelen limitarse a anotaciones de sucesos, reflexión de lo inmediato. Interesa en ellos lo inesperado, la gracia del aire; no tiene éste ninguna.» (Gallina 98) Im Tagebuch von 1972 schreibt er über seine Zweifel gegenüber dem Text: «Miro la Gallina, perplejo. Francamente, no sé a qué atenerme» (Diarios 494), und ähnlich äußert er sich im Vorwort zu Gallina (97). Vgl. die Verwendung des Begriffs «autofiction» in Serge Doubrovskis Roman Fils (1977). Zugleich ist die Namensidentität zwischen dem im Paratext (auf dem Buchumschlag) genannten Autor und dem «Ich» der autobiographischen Erzählung gegeben, die nach Philippe Lejeunes einen «pacte autobiographique» ermöglicht. Im Fall Aubs kommt, wie wir sehen werden, noch ein dritter Aktant, nämlich «Spanien», zum Identitäts-Spiel hinzu.
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Zuerst habe er bei dem Titel, ausgehend von Goyas Gemälde54 und dem Kinderspiel «Blinde Kuh», an Spanien gedacht, das wie ein Mensch mit verbundenen Augen in Dunkelheit lebt und, blind mit den Armen tastend, vergeblich nach seinen Freunden und Kindern sucht. Wobei «Goya, sí» auf jene andere spanische Traditionslinie kritischer Autoreflexivität anspielt, als deren Erbe Aub die Zweite Republik und das republikanische Exil versteht: la otra España. Nachfolgend schlüsselt er den Ausdruck «gallina ciega» aber auch als «blindes Huhn» auf, das fremde Eier («huevos ajenos») beziehungsweise «seltsame, einem fremde Eier» («huevos extraños») ausbrüte. Die Tatsache, dass er Spanien bei seiner Reise nicht wiedererkannt habe, rühre womöglich daher, dass das Land schon immer anders gewesen sei, als er es sich vorgestellt habe, folglich seien er und die anderen Exilanten («los que nos fuimos») die «Blinden». Doch nicht nur mit zwei expliziten Einschränkungen wird diese Lesart des Titels gleich wieder in Frage gestellt («Tal vez», «Quizá»), sondern auch mit dem abschließenden Wortspiel: «Pero esto vi. Acaso, ciego (o sin coma).» Wie auch immer der Titel zu erklären sei, so dieses elliptische Fazit, der Text enthalte, was er tatsächlich gesehen habe («Pero esto vi»), sei es einschränkend als «Blinde Kuh» (gelesen mit Komma), sei es, weil es so offensichtlich erkennbar ist, dass es sogar ein Blinder sieht (ohne Komma). «Das habe ich gesehen, aber vielleicht bin ich auch blind», wäre die eine mögliche Übersetzung, die andere könnte lauten: «Aber das habe ich gesehen, habe ich blind erkannt.» In einem Atemzug unterstreicht das Wortspiel einerseits Relativität und Limitierung des im Text vermittelten Bildes von Spanien, andererseits dessen Evidenz. Eine paradoxe Figur, die zurückwirkt auf Kategorien selbst, die Begriffe wie «Relativität», «Limitierung» oder «Evidenz» in Frage stellt und so erneut die Problematik der Erkennbarkeit der Welt selbst aufwirft. Diese bei Aubs Büchern schon mehrfach zu beobachtende und grundsätzliche Infragestellung von eindeutigen Sinnzuschreibungen und Verfahren der Wissensproduktion hält dazu an, die alternativen Erklärungen des Titels beim nun folgenden Blick auf den Text selbst weiter offen zu halten.55 Wie bereits einleitend gesagt, bildet die Erinnerung an Orte und Schlüsselmomente des spanischen Bürgerkriegs den roten Faden des Textes – aber weniger retrospektiv als vielmehr auf die Erzählgegenwart bezogen. Immer wieder stellt Aub fest, dass er seine Gesprächspartner nicht versteht, was er zurückführt auf unterschiedliche Erinnerungen an den Bürgerkrieg beziehungsweise auf das Fehlen jeglicher Information über den Krieg bei der jüngeren Generation. «Estuvo el mayor tiempo posible con
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Gemeint ist ein 1789 entstandener sogenannter «cartón», eine Webvorlage, die Francisco de Goya für die Königliche Teppichmanufaktur malte. Er zeigt acht junge Männer und Frauen in populärer Kleidung, die um einen weiteren Mann im Kreis tanzen, der sie, mit verbundenen Augen tastend, abzuschlagen versucht. Wohingegen Helena López González de Orduña (2004: 145) sich zügig für die Referenz auf Spanien entscheidet: «Esa gallina mutilada no es sino la España mediocre y fascista, que a Aub se le representa como una estructura híbrida en la que se aglutinan irreconciliablemente el pasado y el presente de manera monstruosa.»
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gente joven o lo que fue hace poco; extraños y familiares; ninguno me preguntó nunca nada acerca de la guerra civil», schreibt er in seiner Vorbemerkung (Gallina 106) und fügt eine Liste von Fragen hinzu, die er erwartet hätte, die ihm aber niemand gestellt habe. Der Grund hierfür liege in der Erziehungspolitik des Regimes: «Metidos hasta el cuello en la ignorancia. Acepto que es natural: el régimen se encargó de ello; para eso venció y convenció.» (107) Aub war sich bewusst, dass er fast dreißig Jahre lang von der Entwicklung Spaniens und seiner kollektiven Selbstbilder abgeschnitten war. Umgekehrt hatte das Franco-Regime lange Zeit die Existenz eines republikanischen Exils geleugnet, um möglichst ungehindert seine hegemoniale Version der spanischen Geschichte und seiner nationalspanischen Identität durchsetzten zu können. Zwangsläufig bedeutete die Rückkehr eines Exilanten demnach die Begegnung zwischen einander fremd Gewordenen bzw. gezielt Entfremdeten. Es überrascht nicht, dass allein schon die physische Präsenz Aubs, verbunden mit seinen für den innerspanischen Diskurs befremdlichen Aussagen zur nationalen Identität Spaniens oder zu Positionen der Exilanten eine Provokation darstellten: Wenn der Besucher aus Mexiko gegenüber der Presse an Antonio Machado erinnerte oder die Qualität eines Federico García Lorca ansprach, machten allein schon solche Aussagen die wirklichkeitsfremde Konstruiertheit des franquistischen Selbstbildes sichtbar und stellten es zugleich in Frage (vgl. López González 2004: 149). Entsprechend aggressiv waren teilweise die Reaktionen in der Presse auf Aubs öffentliche Auftritte.56 Die in Jahren nicht zu messende zeitliche Distanz zu Spanien, die Aub zu spüren glaubte, verdichtete er in der folgenden Formel, mit der er Raum und Zeit in eins zu denken versuchte: «No son sólo treinta años. Hace más: el tiempo multiplicado por la ausencia» (Gallina 542), mit der er den Kernsatz Karl Schlögels (2003) «Im Raume denken wir die Zeit» in eine Art Rechenformel für Vertriebene integrierte. Es fällt auf, dass Aub diesen Gedanken nach einem Blick in den Spiegel formuliert: ¿Qué tienen los espejos españoles que no tengan los demás? Ignoro los secretos de azogue. Me veo más viejo; cosa que a nadie debe asombrar, pero no son sólo treinta años. Hace más: el tiempo multiplicado por la ausencia. (Gallina 542)
Letztlich ist die ganze Reise ein Blick in den Spiegel, die ihn die fortschreitende Entfremdung von Spanien in den Jahren der Abwesenheit besonders deutlich spüren lässt. Im Blick auf Spanien (in den spanischen Spiegel) will sich Aub aber nicht nur selbst erkennen, sondern auch Spanien einen Spiegel vorhalten. Demnach schildert La gallina ciega eine doppelte Identitätssuche, die nach der
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Vgl. die Synopse der Pressereaktionen während der Reise in Aznar Soler (1995: 66ff.) sowie den Reprint der damaligen Zeitungsartikel in El Correo de Euclides (5/2010, S. 135–196). Zum Skandalon wurde die Veröffentlichung des Buches zwei Jahre später: Kein Text Max Aubs hat zu seinen Lebzeiten in Spanien für mehr Aufregung gesorgt. Weil sein Ziel eine «radiografía moral de la sociedad española durante el franquismo y una reivindicación militante de la memoria histórica» (Aznar Soler 1995: 81) war, weckte es selbst bei systemkritischen Intellektuellen Widerspruch.
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spanischen und nach der eigenen, und jedes Gespräch über spanische Geschichte, spanische Literaturgeschichte oder spanische Politik kann verstanden werden als Gnorismaton, als Erkennungszeichen, das die Anagnorisis vorbereitet. Als ein solches Sich-Wieder-Erkennen, in dem in der Peripetie die Unkenntnis in Erkenntnis umschlägt – so die Definition der Anagnorisis –, muss man die wahrscheinlich meistzitierte Stelle des Buches begreifen, jene ergreifende Schilderung eines frühmorgendlichen Spaziergangs in Madrid, bei dem sich Aub zunächst nur die Frage nach dem Grund der Reise stellt: «Sencillamente no podía dormir porque no podía poner en claro la razón de mi estancia en España […] ¿Buñuel? Sí, desde luego, era la razón, la razón de la razón. Pero uno no se deja llevar nunca por la sola razón.» (Gallina 310) Oder könnte es ihm jenseits dieser praktischen und vernunftzentrierten Frage vielleicht doch um den emotionalen Aspekt gegangen sein, um die Hoffnung, im heutigen Spanien doch etwas von seinem Spanien wieder-erkennen zu können? Diesen Gedanken fühlt er wie eine «Falle» in sich aufsteigen, in die er «hineingezogen» zu werden droht.57 Nachdem er mehrere Hypothesen für seine innere Verunsicherung verworfen hat,58 kommt er zu dem Schluss, dass er sich deshalb so verloren vorkomme, weil es für ihn in Spanien keine Gegenwart gebe: «¿Por qué tuerces el alma? ¿De qué tienes ansia? Sí: te deshaces en deseos, te consuma la furia del amor hacia un pasado que no fue, por un futuro imposible.» (Gallina 311) Da seine Vergangenheit im heutigen Spanien inexistent ist («un pasado que no fue») und die Zukunft des Landes ebenfalls keinen Platz für ihn bereithält, ist die dortige Gegenwart für ihn ein Nicht-Ort. Damit ist es kein sinnvoller Bezugspunkt mehr für «deseos», ist austauschbar mit «México […] Francia […] Italia» (310).59 Dieser Augenblick, in dem Aub keine Antwort mehr weiß auf die Frage nach dem Grund seiner Reise, ist auch der Augenblick des Erkennens zwischen ihm und Spanien: ¿A qué vienes? No lo sabía. Me apoyé en un arbol y, en el amanecer ya vivo, sentí que lloraba. Lloraba calmo, por mí y por España. Por España tan inconsequente, olvidadiza, inconsciente, lejana de cualquier rebeldía, perjura. (Gallina 311)
Spanien wird hier personifiziert als inkonsequent, sich seiner selbst nicht bewusst, duckmäuserisch, dem Meineid und dem Vergessen verschrieben – eine spiegelbildliche Charakterisierung zu Aubs Selbstbild als widerständigem und geradlinigem Fürsprecher des Erinnerns und als Verächter jeglicher Art des Ver-
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Er schreibt: «[…] sentía como uno de mis pies –o de mis manos– estaba cogido en esa trampa.» (310) Das Detail, dass es die suchend tastende Hand ist, die in die Falle zu gehen droht, kann als intratextueller Verweis auf sich selbst als «Blinde Kuh» verstanden werden. Dass das heutige Spanien nicht mehr «mi España» ist, daran kann es nicht liegen, denn: «Pero lo sabía con certeza de antemano y hacia mucho tiempo.» (Gallina 310) Noch im Gespräch am Abend zuvor hatte er festgestellt, dass ihn die Modernisierung anderer Städte wie Paris oder London nicht störe, er sie sogar begrüße – nicht so in Madrid, dem er einen Sonderstatus zuspricht: «Para mí, Madrid es –fue siempre– otra cosa.» (309)
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rats [ĸ Kap. III]. Doch im Augenblick der Anagnorisis geht Aub vor allem mit sich selbst scharf ins Gericht und bezweifelt, auch «um Spanien zu weinen»: ¿Sobre qué lloras? […] ¿Sobre los mineros de Asturias? ¿Sobre los obreros de Sabadell o de los alrededores de Madrid? ¿Sobre los campesinos andaluces? No me hagas reír. Lloras sobre ti mismo. Sobre tu propio entierro, sobre la ignorancia en que están todos de tu obra mostrenca, que no tiene casa ni hogar ni señor ni amo conocido, ignorante y torpe… […] Vete. (Gallina 310)
War ihm zuvor nur die Unmöglichkeit seiner Gegenwärtigkeit in Spanien klar geworden, so kommt nun noch die der Abwesenheit seines literarischen Werks hinzu, das niemand dort kenne. Beides zusammen bedeutet seinen Tod, und nur der sei es, den er beweine: «Lloras […] sobre tu propio entierro.» Sehr aufschlussreich ist die Aufzählung, mit der an dieser Stelle das eigene Werk beschrieben ist: «[…] tu obra mostrenca, que no tiene casa ni hogar ni señor ni amo conocido, ignorante y torpe.» Das Adjektiv «ignorante» korrespondiert mit dem Substantiv «ignorancia» im Satz davor – einmal wird damit Spaniens Blick auf Aubs Werk benannt, das andere Mal das Werk selbst. Wenn man sich daran erinnert, dass ein Charakteristikum der «Blinden Kuh» in ihrer «ignorancia» liegt, legt diese Textstelle nahe, die Frage nach der Referenz des Titels nicht als ‹Entweder-Oder› zu begreifen, sondern sie mit einem ‹Sowohl-Als-Auch› zu beantworten. Aub und das Spanien des Jahres 1969 sind wechselseitig «blind» füreinander, deshalb konnte es nicht zu dem Dialog kommen, den sich Aub im Vorwort erhofft hatte. Das einzige Spanien, das Aub findet, ist das seiner Erinnerung, vor allem das der Erinnerung an die Schriftsteller der zwanziger und dreißiger Jahre. Im imaginierten Dialog mit Dámaso Alonso schreibt er: ¿Y nuestra España? Sí, la nuestra: la de Rafael, la de Jorge, la de Vicente, la de Federico […], la tuya, la de Luis (Cernuda) […] la mía ¿Dónde está nuestra España? ¿Dónde queda? ¿Qué han hecho con ella? No lo sabes, no lo sé, nadie lo sabe. Habría que inventarla. (Gallina 413)
Immer wieder die Frage nach dem Ort: Wo ist (unser) Spanien, wo ist es geblieben? Dass dieses Spanien nicht mehr präsent sein kann, hatte er bereits im Augenblick der Anagnorisis erkannt, als ihm bewusst wurde, dass er als Träger der Erinnerung an dieses Spanien in der Gegenwart keinen Ort hat. Und die gleiche Ortlosigkeit konstatiert er gleich dreifach für sein Werk, wenn er es als «obra mostrenca, que no tiene casa ni hogar» bezeichnet. Bewegungen des Erkennens La gallina ciega hebt darauf ab, dass die Selbstbilder des von außen kommenden Autors wie die des zu beschreibenden Gegenstandes «Spanien» nicht prästabil sind, dass sie nicht essenzialistisch wahrgenommen werden können, sondern nur in ihrer spezifischen Zeitlichkeit. Zeit- und Raumwahrnehmung sind dabei, wie wir gesehen haben, eng miteinander verknüpft. Betrachten wir zum Abschluss noch einmal genauer die Orte, die den Augenblick der Anagnorisis determinieren. Aub unternimmt seinen Spaziergang zum Kloster San Francisco el Gran241
de, nachdem er kurz zuvor, auf dem Rückweg vom Restaurant, den Puente de Segovia überquert hatte – den bevorzugten Tatort für Madrider Selbstmörder. Aub selbst spricht schlicht vom «lugar de muerte […] que ni es sitio para ver surgir el día» (Gallina 310). Diese Brücke über den Manzanares verbindet die Ausfallstraßen Calle de Segovia und Calle de Extremadura beziehungsweise das erweiterte Madrider Stadtzentrum mit der Vorstadt, doch wird nichts Präzises darüber gesagt, wo jener Baum steht, an dem der Erzähler nachfolgend von den Tränen überwältigt wird. Entscheidend aber ist, dass der Weg ihn über die Brücke hinweg geführt hat, bevor er, nach der Anagnorisis, ins Hotel «en la esquina Ángel y Calatrava» (307) zurückkehrt. Die Brücke als Zwischen-Ort, weder Teil des Zentrums noch der Peripherie, aber auch ein Ort, der die beiden Ufer verbindet. Analog lässt sich die ambivalente Raum- und Zeitwahrnehmung der Anagnorisis verstehen, bei der Aub sich zwischen Vergangenheit und Zukunft sieht, zwischen dem erinnerten Spanien und dem heutigen Wohnort Méxiko, als Autor ohne Ort in der spanischen Gegenwart, mit einem Werk «que no tiene casa ni hogar». Dazu passt, dass diese Schlüsselszene sich zwischen Tag und Nacht im Verlauf des langsamen Morgengrauens vollzieht, ein Detail, das mehrfach benannt wird und umso mehr heraussticht, als präzise Zeitangaben in Gallina selten zu finden sind. Der Spaziergang über die Brücke in jenem knapp bemessenen Augenblick zwischen Tag und Nacht, diese Bewegung entspricht der Reise des Autors durch Spanien in der knapp bemessenen Zeit von Ende August bis Anfang November: Eine Bewegung im Raum, die Grenzen quert, aber in der Bewegung auch Getrenntes miteinander in Kontakt bringt. Und schließlich betont die Rahmung in der Diegese die Dynamisierung des Raums, beginnt sie doch mit der Landung in Barcelona, und sie endet erneut in einem Flugzeug, mit «notas escritas en el avión, todavía sobre territorio español» (Gallina 602). Diese Dynamik des Raums und im Raum, wie sie in Gallina zu erkennen ist, fällt besonders auf, wenn man sie vergleicht mit den zuvor analysierten Texten zur Problematik der möglichen Rückkehr. Zwar zeigen sie, ganz ähnlich wie Gallina, ein Spanien, in dem die jeweiligen Hauptfiguren sich nicht frei bewegen können, weshalb der jeweilige Gegen-Raum (das Gefängnis, das mexikanische oder französische Exil) als Raum der Freiheit semantisiert ist. Doch zeigen die Theaterstücke nur jeweils einen geschlossenen Raum (eine Küche, eine Tertulia), und in der Erzählung El remate gibt der in Frankreich bleibende Erzähler nur einen Bericht dessen, was seinem Freund bis zu seinem Tod im Tunnel widerfahren ist. Im Gegensatz zu dieser statischen Raumanordnung in den Texten, mit denen Aub die Szene einer Rückkehr vorab durchgespielt hatte, liegt das wesentliche Merkmal von Gallina in der Dynamisierung des Protagonisten und Beobachters in mehreren aufeinander bezogenen Schritten: Der autodiegetische Erzähler begibt sich selbst in den spanischen Raum, quert ihn im Verlauf der Reise und findet am Höhepunkt seiner Suche die Selbst-Erkenntnis während des Spaziergangs über die Brücke. * 242
Blickt man zurück auf die Analysen dieses Kapitels, so wird deutlich, dass in Max Aubs Praxis als Schriftsteller des Exils, das heißt in seinem Schreiben im Angesicht des Ausschlusses immer wieder ein Impuls zum Ausdruck kommt: die Selbstbehauptung. Der durch die Lebensumstände unvermeidlichen Erfahrung des Ausschlusses, sei es dem aus Frankreich, aus Spanien, aus der Zivilgesellschaft oder aus der Gruppe der in Spanien ‹verwurzelten› Exilanten, setzt er eigene Projekte und Konzepte entgegen: Zeitschriften, die bewegliche Freiräume des Schreibens absichern und mit deren kommunikativer Brückenfunktion er die binäre Statik des «Innen» und «Außen» zwischen «España y el exterior» unterläuft. Eine Vorstellung von Kultur und Sprache, die nicht den Ort der Geburt, sondern den Aspekt der selbstbewussten Wahl in den Vordergrund stellt. Ein Konzept von Generationalität, das weniger rückblickend auf die biologische Determination achtet, sondern vielmehr eine selbstbestimmte und zukunftsorientierte «prise de position» darstellt: «Al fin y al cabo sólo vivimos para quienes convivimos.» (Gallina 97) Der Umgang mit der Zeitlichkeit des Lebens ist der Schlüssel zum Verständnis von dem Teil seines Schreibens, das den räumlichen Ausschluss literarisch zu unterspülen versucht. «El tiempo nos mata», sagt der Exilant Remigio resignierend in El remate, doch Aub setzt dem entgegen: «Intento no darle tiempo al tiempo.»60 Die Selbsteinschreibung in eine selbst definierte Generation markiert einen der Versuche, dem Lauf der Zeit etwas entgegenzusetzen, ebenso das Schreiben von Uchronien oder das Bezeugen und Dokumentieren historischer Grenzerfahrungen. Dass dieser – letztlich vergebliche – Versuch der Selbstbehauptung des Subjekts gegen den Lauf der Zeit nicht zu geschlossenen Texten führt, hängt mit der durchgehend kritischen Selbstbefragung des Autors zusammen, die sich textuell in fi ktionsironischen Brechungen, relativierender Multiperspektivität oder aufrauhenden Sprachspielen niederschlägt. Aubs Selbstbehauptung ist durch die Fähigkeit zur Selbstironie gebrochen und kommt ohne Dogmatik aus: «Después de haber asegurado que no tenía por qué volver a España, y lo dije en varios tonos, regresé.» (Gallina 105) Wie fragil seine Konstruktion einer selbstbestimmten Zeitlichkeit des Exils war, zeigte sich bei der Spanienreise 1969. Sie machte ihm unmissverständlich deutlich, dass die räumliche Trennung das Vergehen der Zeit noch beschleunigt hatte («el tiempo multiplicado por la ausencia») – was die so schmerzliche Anagnorisis am Höhepunkt von La gallina ciega erklärt. Als die literarischen Glanzlichter dieses Kapitels haben sich vor allem De algún tiempo a esta parte und Manuscrito cuervo. Historia de Jacobo erwiesen, die zusammen gelesen eine ungewöhnlich differenzierte und ästhetisch innovative Darstellung des Weges in die Lager und des Lebens im Lager vermitteln, und das zudem mit kritischem Blick auf beide Totalitarismen des 20. Jahrhunderts.
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In: «Nota» zu Sala de Espera Vol. I (2000: o.S.).
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Es ist Max Aubs Erfahrungswissen als Autor, geprägt von sich wandelnden politischen Grenzen und von wechselnden kulturellen Ausgrenzungen, das die theatralische Repräsentation des Ausschlusses in Tiempo so sinnlich greifbar, das die Disseminierung des Begriffs der Grenze in Manuscrito so weit vorantreibt und beide Texte bis heute zu einer produktiven Lektüre macht.
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VI. Max Aub heute
«[…] la bêtise consiste à vouloir conclure.» Gustave Flaubert (1973: 679f.) «Toda vida, toda novela, debiera acabar en medio de una frase […]» Max Aub (2002b: 460) «Così [...] ci affacceremo al nuovo millennio, senza sperare di trovarvi nulla di più di quello che saremo capaci di portarvi.» Italo Calvino (1988: 30)
Der Blick zurück nach vorn Nachdem die wichtigsten Werke Max Aubs vorgestellt und exemplarisch analysiert sind, zentrale programmatische Texte ebenso wie seine autobiographischen Schriften, seine zeitgeschichtlichen Romane und Theaterstücke ebenso wie seine Auseinandersetzungen mit der Biographie der Avantgarde, seine vermeintlich spielerischen neoavantgardistischen Experimente ebenso wie seine existenziellen Verarbeitungen der Situation des Ausschlusses, stellt sich die Frage: Was bleibt? Auf die philologische Sichtung eines quantitativ imposanten Lebenswerks, das den Bogen von der Zeit der historischen Avantgarden über das dokumentarische Schreiben der Nachkriegszeit bis zu den formalen Radikalisierungen der sechziger Jahre spannt, muss die Frage folgen: Sind Max Aubs Bücher auch im 21. Jahrhundert noch relevant, oder gebührt ihnen allein ein (Ehren-) Grab in der Literaturgeschichte, «catalogado en cualquier hilera enorme de nichos, que son las historias de literatura», wie er es in seinem Tagebuch sich und den meisten Exilanten prophezeit hat (Nuevos Diarios 242)? Die Frage stellt ein nicht kleiner Teil der spanischsprachigen Kritik bevorzugt aus biographischer Perspektive und mit moralischem Unterton: «Estamos por Max, por difundir su vida, por hacerle justicia», schreibt Miguel Ángel González Sanchis (1995: 49). Eleanor Londero (1996: 8) möchte, dass ihre Analysen «contribuyan a la rendición póstuma de una justicia merecida». Dieser Art der Rezeption geht es in erster Linie darum, dem vier Jahrzehnte dauernden erzwungenen Vergessen der spanischen Literatur des Exils und der daran anschließenden selbstvergessenen Ignoranz in den Jahren der Transición mit einer demonstrativen Aufwertung eines ihrer herausragenden Vertreter zu antworten. Im folgenden Resümee soll demgegenüber stärker auf intellektuelle Entwicklungslinien und ästhetische Parameter eingegangen werden, ohne jedoch die Betrachtung von Aubs Vita auszuklammern.
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Den Ausschluss denken Was Exil bedeutet, hat Max Aub nicht nur früh am eigenen Leib erfahren, sondern auch früher als andere spanische Schriftsteller seiner Generation reflektiert. Von Beginn an, so seine Erinnerung im Herbst 1970, habe er, der eben kein geborener Spanier war, seine Randstellung zu spüren bekommen: Y es que siempre me [...] tuvieron aparte. La razón es demasiado sencilla: ¿cómo iba a ser igual a ellos, la mayoría andaluces, ese francés medio alemán? (Diarios 477)
Dass seine nationale Zugehörigkeit von seiner Jugend an nicht mehr selbstverständlich war, schlug sich in Werken und Projekten nieder, die die selbstbestimmte Wahl einer Zugehörigkeit in den Vordergrund stellten. In seinen Zeitschriften Sala de Espera, Los Sesenta und Correo de Euclides schuf er sich Freiräume für die Darstellung einer raum-zeitlichen Dynamik, die etwa die Frage der Generationalität nicht biologisch, sondern biographisch verstand, oder die die Semantik von «espera» gegen alle Erwartungen optimistisch zu deuten wusste. Spanier waren für ihn folglich «los de mi tiempo» (Diarios 387), und Spanisch zu allererst die Sprache seiner Wahl, nicht seiner Geburt. Auf die Probe gestellt worden war diese Verteidigung der Autonomie des Subjekts kurz zuvor durch die Lagererfahrung der 1940er Jahre, die er in Dutzenden von Theaterstücken, Erzählungen und Gedichten verarbeitete, ohne das Lager im starren Binom von Einschluss vs. Ausschluss zu denken. «Schreiben im Angesicht des Ausschlusses» lautete die Formel, mit der De algún tiempo a esta parte oder Manuscrito cuervo. Historia de Jacobo im Kapitel V Ausgeschlossen Schreiben als Texte gewürdigt wurden, die Oppositionen wie «Innen» und «Außen», «Lager» und «Nicht-Lager» als bewegliche Konstrukte erkennen lassen. Aus heutiger Sicht ungemein hellsichtig wirkt die Analyse der Schritt für Schritt aufeinanderfolgenden Ausschlussprozeduren der jüdischen Bürger in Deutschland, wie sie Aub bereits 1939 in Tiempo beschreibt und mit der das Stück als erster Text der spanischsprachigen Literatur über die systematische Vernichtung der europäischen Juden gelten kann. Kaum weniger frappierend ist die Souveränität, mit der Manuscrito cuervo, geschrieben 1949 und damit erst kurz nach den Nürnberger Prozessen, dank der Erfindung eines (märchenhaften) «Berichterstatters» in Gestalt des (authentischen) Raben Jacobo einen Darstellungsmodus entwickelt, der dem Lager als «biopolitisches Paradigma der Moderne» (Agamben) in all seiner Universalität und Grenzenlosigkeit ästhetisch gerecht wird. Die im engeren Sinne religiöse ebenso wie rassistische Dimension der Lagerwirklichkeit bleibt daher nachgeordnet, denn Aubs Bücher versuchen das Phänomen der Gewaltausübung durch Ein- oder Ausgrenzung möglichst allgemein zu gestalten. Was durchaus überrascht, weil er geradezu gezwungen wurde, sich mit jenem jüdischen Teil seiner Identität zu befassen: Schließlich hätte er nach seiner Denunziation als Jude in Marseille, wo er politisch in der Flüchtlingshilfe aktiv war, jederzeit der Gestapo in die Hände fallen können. Doch gestand er dieser lebensbedrohlichen familiengeschichtlichen Filiation ebenso wenig Evidenz zu wie der potenziell lebensrettenden französischen Staatsbürgerschaft, stattdessen 246
bestand er auch unter Lebensgefahr auf seiner Wahl, Agnostiker und Spanier zu sein. Gut zwanzig Jahre später, bei einem Aufenthalt in Israel im Auftrag der UNESCO, stellte er sich noch einmal dem jüdischen Identitätsangebot. Am 12.1.1967 notiert er in sein Tagebuch: Creí que tenía algo de judío no por la sangre (que, pobrecita, ¿qué sabe de eso?) sino por la religión de mis antepasados –mis padres no la tuvieron– y vine aquí con la idea de que iba a resentir algo, no sé que, que me iba a enfrentar conmigo mismo. Y no hubo nada. Nada tengo que ver con estas gentes que no sea lo mismo que con los demás [...]. No, no tengo nada de judío. Lo siento, pero no puedo llorar, me son extraños, tanto o más que los noruegos o los turcos. (Diarios 387)
Obwohl er danach sucht, findet er keinen Zugang zum Judentum. Gerade weil er in religiösen Fragen so leidenschaftslos war (eine unter Spaniern seiner Generation seltene Haltung), konnte er religiösen und mit ihnen verbundenen rassischen Ideologemen in den Auseinandersetzungen seiner Zeit mit rational begründeten Gegenpositionen antworten. Ein bekennender Katholik wie Paulino Cuartero, eine der Hauptfiguren des Magischen Labyrinths, erscheint in diesem Zusammenhang als liberaler Gegenentwurf zum militanten National-Katholizismus der Franquisten, und ein Theaterstück wie San Juan, das von einem mit jüdischen Flüchtlingen beladenen Seelenverkäufer handelt, der irgendwo im östlichen Mittelmeer in einen Hafen einzulaufen versucht, beschreibt bereits 1943 die der jüdisch-zionistischen Suche nach einem eigenen Lebensraum innewohnende Sprengkraft. In der Art und Weise, wie er Kategorien und Verfahren von Ausschluss und Einschluss darstellt, in Frage stellt und reflektiert, ist Max Aub einer der wenigen spanischen Intellektuellen seiner Zeit, die über den spanischen Horizont hinausgehen – verstanden als geographischen wie epistemologischen Raum – und über Themen wie den Holocaust und die Folgen des 2. Weltkriegs schreiben; Antonio Muñoz Molina, der seine Rede zum Eintritt in die Königliche Akademie dem Werk Max Aubs widmete, ist einer der wenigen, die diese Qualität seines Schaffens deutlich herausstellen (vgl. Muñoz Molina 1996). Identitätsfragen, besser gesagt: Fragen nach den Kategorien, in denen Identitätsfragen angegangen werden können, prägen das in den mexikanischen Jahren entstandene Werk, das sich an der Sehnsucht nach einer Wiederbegegnung mit Spanien abarbeitet – wobei mehr und mehr in den Vordergrund rückt, dass das Spanien, wie es die Exilanten imaginieren, immer weniger mit dem Spanien zu tun hat, in das sie so gern reisen oder vielleicht sogar zurückkehren würden. Ein Widerspruch, den Aubs Bücher in aller (tödlichen) Schärfe einfangen, vor allem Stücke wie Los transterrados, Las vueltas oder Erzählungen wie El remate. In La gallina ciega schließlich, dem Roman der Anagnorisis des Vertriebenen, wird die Unmöglichkeit einer synchronen Zeiterfahrung in getrennten kulturellen Räumen zum Auslöser für die Erkenntnis, wie fragil der Status einer selbstbestimmten und autoreflexiven Identität «im Angesicht des Ausschlusses» ist. Doch antwortet das Buch auf diese unhintergehbare Wahrheit nicht mit Dogmatik, sondern mit selbstironischem Witz, nicht mit der resignativen Hervorhebung der 247
(trennenden) Gräben, sondern mit der Betonung der Beweglichkeit der Akteure und der Dynamik der Prozesse im Bild der (verbindenden) Brücke. Nicht nur die im Kapitel V analysierten Bücher belegen diesen roten Faden im Werk Max Aubs, sondern auch ein Textspiel wie Juego de cartas sowie die «Listen des Todes», die im Kapitel IV Textspiel, Spieltext und das Schreiben vom Verschwinden im Mittelpunkt standen. Hier ist es die Opposition zwischen Körperlichkeit und Entkörperlichung, die auf der Gegenstandsebene des Textspiels ebenso wie für den potentiellen Leser bzw. Kartenspieler die Verfahren des Ausschlusses gleichsam performativ erfahrbar macht: Der trotz hundertfacher Beobachtung nicht greifbare Máximo Ballesteros, nach dessen Identität die Spielanleitung fragt, wird mehr und mehr erkennbar als vor allem sozial isolierter und letztlich abwesender Körper, mithin als Emblem des Exilanten. Dass diese Sichtweise gerade nicht in einem als Buch gebundenen Text aufgehoben ist, sondern nur in Form eines Spieltexts erfahrbar wird, unterstreicht das für so viele Werke Aubs fundamentale Prinzip, dass Wissensbestände nur durch bewegliche Verknüpfungen geprüft und erneuert werden können. Nicht Archivierung, sondern Dynamisierung von Wissen ist ihr Anliegen, und im Fall von Juego de cartas sowie den hier als Vorarbeiten verstandenen «Listen des Todes» erfolgt diese Dynamisierung in einer neoavantgardistischen Form, die durchaus auch im Kontext der Hypertextliteratur zu diskutieren war. Wie die kontrastive Analyse von Juego im Vergleich mit anderen formensprengenden Experimenten der 1960er Jahre, etwa mit Marc Saportas Composition Nr. 1, darüber hinaus zeigen konnte, war es gerade Max Aubs spezifisches Lebenswissen als Autor im Angesicht des Ausschlusses, das verständlich macht, warum in Juego de cartas ein formales Spiel nicht l’art pour l’art bleibt, sondern die «Evidenzerfahrung» (Wolfgang Iser) von Tod und Exil exemplarisch verdichtet, die im Karten- wie im Textspiel nachvollzogen werden kann. Die Prüfung der Avantgarden Wie wir gesehen haben, gewinnen Max Aubs Bücher über das «Exil», über den Ausschluss aus einem intendierten sozialen Kontext (deren letzte Konsequenz der Tod ist) wie über den erzwungenen Einschluss durch Fremdzuschreibungen, ihre besondere ästhetische Prägnanz durch ursprünglich avantgardistische Verfahren: Auflösung der Einheit des Werkes sowie der Grenzen zwischen Produktion und (performativer) Rezeption, Multiplikation der Perspektiven, Durchbrechung der Linearität des Textes, Fragmentierung des Textkorpus etc.. Das gilt nicht nur für Juego de cartas, Manuscrito cuervo oder den Theater-Sprung am Ende von No, sondern auch für Crímenes ejemplares, un texto que podía entenderse dentro de la evolución de la prosa española de vanguardia de los años veinte e treinta, de Juan Ramón Jiménez y Gómez de la Serna y que en la narrativa mexicana arranca con Julio Torri y continúa más viva que nunca en nuestros días,
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wie Fernando Valls schreibt (2006: 357) und damit den Bogen schlägt von den historischen Avantgarden über die Neoavantgarden der sechziger Jahre bis in unsere Tage. Und gerade in der Zeit, als der alternde Max Aub an solchen «Listen des Todes» arbeitet, erkennt er im Voranschreiten auf den Tod die «echte Avantgarde». Am 21.9.1962 notiert er: En veinticinco años vi a mi madre cuatro días en Londres, en 1956; dos, entre Lyon y Berna, en 1960. Me quería más que a nadie. No es cuestión de dilucidar si valió la pena (la separación): fue así. De repente: «Quedó tan guapa como siempre», me dice mi hermana por teléfono. No nos dijimos más. Largo silencio, que sólo empieza. Ya nadie por delante, adelantado; la auténtica vanguardia. Moriré de cualquier manera, menos sorprendida, igual que cualquiera. No habiendo estado con ella, enterraré a mi madre muchas madrugadas. (Diarios 334f.)
Mit dem Tod der Mutter ist Aub nun der Älteste der Familie: «Niemand mehr vor einem, [...] das ist echte Avantgarde.» In diesen Worten formuliert er seinen Lebensweg in der Terminologie ästhetischer Zuschreibung, unterläuft er einmal mehr die Trennlinie zwischen Lebenswirklichkeit und Bücherwelt. Genau diese zentrale Frage der Avantgarden – welchen Status hat die Kunst im Verhältnis zum Leben? – übersetzte er bevorzugt in Narrationen, in denen der Leser nicht mehr in der Lage ist, die Trennlinie zwischen den beiden Bereichen klar auszumachen. Das gilt für die fiktionsbrechenden Einschübe im letzten Band des Magischen Labyrinths Campo de los almendros, wo das Tagebuch des tödlich scheiternden Autors Paco Ferrís mit den «Blauen Seiten» des Erzählers ‹Max Aub› in einen intratextuellen Dialog tritt, für Uchronien wie Academia Española, Aubs Antrittsrede vor einer nun nicht mehr königlichen Akademie in einer spanischen Republik, und vor allem für all die apokryphen Figuren seines Werkes, für die im Kapitel II Avantgarde der Biographie exemplarisch Jusep Torres Campalans und Luis Álvarez Petreña untersucht wurden. Neben dem nicht mehr vollendeten Roman Luis Buñuel. Novela sind diese beiden Bücher zugleich auch umfassende Biographien von Avantgardisten, für die Aub eine durchaus avantgardistische Umsetzung findet: Im Fall von Campalans in Form der Verschränkung des Textes mit einem vermeintlich authentischen Ikonotext sowie einer lebensweltlichen Kontextualisierung, die die Wahrnehmung der Fiktion als Diktion nicht nur ermöglicht, sondern geradezu aufnötigt; im Fall von Petreña durch einen jahrzehntelangen work in progress, der die Selbstbefragung der Avantgarde immer weiter zuspitzt und schließlich in der Auflösung der Autorfigur selbst gipfelt. Als Grundlage für diese lebenslange Prüfung der Avantgarden wurde im Kapitel I Max Aubs sehr frühe und kritische Auseinandersetzung mit José Ortega y Gassets Vorstellungen von einer «neuen Kunst» benannt, die von einer Ästhetik des Bruchs schwärmte und die Forderung nach einer «deshumanización del arte» erhob. Dem setzte er in seiner Literaturgeschichte Discurso de la novela española contemporánea die Überzeugung entgegen, dass der Mensch als Teil seiner sozialen Systeme im Mittelpunkt der künstlerischen Praxis zu stehen habe. Während Ortega die Kunst des Realismus als überholt und unzeitgemäß abtat, 249
konstruierte Aub eine genuin spanische Tradition des gebrochenen (und daher für ihn: avantgardistischen) Realismus, als deren Vertreter er den anonymen Autor des Lazarillo de Tormes nennt, Francisco Goya und Ramón del Valle-Inclán oder seinen Freund Pablo Picasso. Über dessen Guernica sagt er, als er das Gemälde im Spanischen Pavillon der Pariser Weltausstellung 1937 erstmals dem Publikum präsentiert: Nuestro tiempo es el del realismo, pero cada país percibe lo real de cierta manera. El realismo español no representa sólo lo real sino también lo irreal porque, para España en general, siempre fue imposible separar lo que existe de lo imaginado. Esta suma forma la realidad profunda de su arte. Por eso Goya y Picasso son pintores realistas. (Hombre 13)
Die Sphäre jenseits des Realen als Teil des Realismus, das ist seine Vision einer spezifisch spanischen Tradition, mit der daher auch angesichts der Herausforderung des Surrealismus nicht demonstrativ gebrochen werden muss. Dies umso weniger, als der Surrealismus die epistemologische Funktion der Ratio grundsätzlich in Frage stellte, während sie für Aub am Anfang aller Literatur steht. Am 24. März 1951 notiert er: La literatura debe tener razón, razón de ser. Una literatura irracional es inconcebible, menos para su autor, a condición de que sea exclusivamente para su uso personal. Creo que la literatura tiene algo más que hacer que divertir: debe tener razón. Creo que la literatura tiene algo más que hacer que ser bonita: debe tener razón. Debe tener razón en todos los sentidos de la frase. (Diarios 178)
Zwar wollte Aub ein «Revolutionär des Theaters» sein und eine neue Sprache für die Darstellung der Sphären jenseits der Wirklichkeit finden, aber zugleich wies er die avantgardistische Denkfigur des Bruchs zurück, hielt fest an Teilen der Tradition und verteidigte die Ratio – in dieser Positionierung zwischen den Extremen wurde Aubs Haltung als spanischer Avantgardist im Kapitel I als durchaus repräsentativ erkannt. Diese Verteidigung der Ratio prägt auch seine späteren Werke, in denen die Aufwertung des Zufalls gewissermaßen als Antidot gegen jeglichen blinden Vernunftglauben fungiert, sei es auf der Handlungsebene im Magischen Labyrinth, in dem immer wieder die tödliche Rolle des Zufalls die Regeln einer konventionalisierten Erzählökonomie ins Unrecht setzt, oder in Juego de cartas, wo die Leitfrage der Spielanordnung von der Zufallsverteilung der Karten ausgehebelt wird. Hier wie in den im Kapitel IV untersuchten Aphorismen Aubs wird deutlich, dass dem Zufall – im Jahrhundert des Holocaust – eine lebensbedrohliche Kraft innewohnt: «Sabido es que AMOR, invertido, da ROMA; no se ha señalado que AZAR, al revés, se lee RAZA.» (Aub 2006a: 401) Waren der Theoretiker José Ortega y Gasset und der Praktiker Ramón Gómez de la Serna diejenigen Autoren, gegen die Max Aub, wie im Kapitel I gezeigt, sein avantgardistisches Schreiben positionierte, so wurden im Kapitel II José Díaz Fernandez und seine «literatura de avanzada» sowie die erst in jüngster Zeit rekonstruierte Aufwertung des biographischen Schreibens innerhalb des Zirkels um Ortega als maßgebliche Bezugsgrößen herausgestellt. Als Beispiel hierfür 250
wurde das neben dem Magischen Labyrinth vermutlich bekannteste Buch Aubs, die Malerbiographie Jusep Torres Campalans als mehrfach transareal verankerte Biographie eines Avantgardisten vorgestellt, der auf zentrale Maximen der Avantgarde keine Antwort findet (kann Vorhut dauerhaft gelebt werden? kann die Zerstörung des Bestehenden ad infinitum kreativ umgesetzt werden?) und aus den Aporien der Avantgarde nur einen Ausweg weiß: die geographische Flucht aus Europa und die kreative Flucht in die biologische Produktivität. Auf der Handlungsebene feiert der Roman Campalans als Anarchisten und Kubisten, weil er Kubismus und Anarchismus als Suchbewegungen zur individuellen Freiheit verteidigt, gegen Surrealismus und Kommunismus, die der Freiheit des Individuums enge Grenzen setzen. Letzteres eine Überzeugung, die explizit am Ende von Manuscrito cuervo zum Ausdruck kommt. Die Infragestellung der Grenzen zwischen Fiktion und Diktion wie auch die avantgardistische Innovation erfolgen in Campalans in Form der intermedial inszenierten und nachfolgend performativ flankierten Fälschung von Bildern und Diskursen. Mit Blick auf die aktuelle kulturwissenschaftliche Forschung zum Phänomen der Fälschung konnte der Roman, der auf der einen Seite seine textuellen Fälschungen offen erkennbar präsentiert und auf der anderen ikonotextuell wie performativ das Original feiert und somit dem Künstler als Schöpfer im ursprünglichen Sinne huldigt, als eine epistemologische Versuchsanordnung gelesen werden, die den Leser via Fälschungs-Fiktion mit dem Versprechen lockt, noch einmal das eine, das wahre Original zu finden. Ein Versprechen, das letztlich zu der Erkenntnis führt, dass das Original eben doch nicht eindeutig bestimmt werden kann, und dass es gerade die Sehnsucht nach dem Original ist (mit der jeder gute Fälscher gekonnt spielt), in der sich die Fragilität unserer Identitätskriterien zeigt. Darum ist Campalans ebensowenig wie Juego de cartas als Spielerei abzutun, gelingt es doch beiden, den Leser via Spiellust an einer Dynamisierung des Textes zu beteiligen, die jenseits der erzählten Inhalte Erkenntnisgewinn verspricht. Zwar gilt für alle Art Literatur, dass sie «stets ein Wissen um die Grenzen der Gültigkeit von Wissensbeständen einer gegebenen Gesellschaft oder Kultur» enthält (Ette 2004: 13), aber das Besondere an den genannten Texten Max Aubs ist, dass sie die Voraussetzungen für dieses Wissen in den Mittelpunkt von expliziten Spiel- oder Versuchsanordnungen rücken. In diesem Sinne kommt ihnen in besonderer Weise «das Vermögen zu, normative Formen von Lebenspraxis und Lebensvollzug nicht nur in Szene zu setzen, sondern auch performativ im ernsthaften Spiel zur Disposition zu stellen» (Ette 2004: 13). Somit tritt am Ende der Lektüre von Campalans deutlich zu Tage, dass Oppositionen wie «echt» vs. «gefälscht«», «wahr» vs. «falsch» nicht klar zu definieren sind. Vielmehr markieren die Begriffe ein Spannungsverhältnis, das auch im gegenwärtigen kulturellen Feld, dominiert von der Opposition zwischen allgegenwärtiger Virtualität und Sehnsucht nach Authentizität, weiterhin produktiv ist: «[…] el libro sintoniza con las inquietudes de nuestra […] posmodernidad.» (Eberenz 1998: 73) Hinzu kommt, dass Campalans noch ergänzt wird um den Campalans-Komplex, die von Aub und seinen Freunden kollektiv inszenierte 251
Implantierung seiner Versuchsanordnung in die Wirklichkeit: Die faktische Ausstellung der echten Gemälde des erfundenen Malers beglaubigt dessen Existenz, und alle Besucher der Vernissage, alle Kommentatoren der Ausstellung und alle Rezipienten der nachfolgenden Diskussion sind damit erneut zu Mitspielern aufgewertet. Das Überschreiten von Genre- und Mediengrenzen, die kollektive Inszenierung, die Aktivierung der passiven Rezipienten – aus alledem ergibt sich, dass Campalans nicht nur eine Biographie der Avantgarden erzählt, sondern auch selbst eine Avantgarde biographischen Schreibens und Inszenierens darstellt. Befragt Jusep Torres Campalans ganz allgemein die Rolle des SchöpferSubjekts in der Kunst nach den historischen Avantgarden, so beschränkt sich Luis Álvarez Petreña auf die Frage nach der Rolle des Autors. Damit zielt das über fast vierzig Jahre hinweg in drei Lieferungen fortgeschriebene Buch, nicht intermedial inszenierend, sondern intratextuell radikalisierend, ins Herz der Literatur selbst, und das bezeichnenderweise zuletzt zeitgleich mit Roland Barthes’ und Michel Foucaults Infragestellungen des Autors. Petreña – Mann ohne Eigenschaften, Autor ohne Werk, Mensch ohne Liebe –, den Aub Anfang der dreißiger Jahre vor allem erfindet, um die Sterilität einer Avantgarde à la Ortega y Gasset zu brandmarken, in der das Autor-Subjekt sich absolut setzt und daher ein Publikum außerhalb seiner selbst gar nicht erreichen kann, entwickelt sich bis in die siebziger Jahre zum flüchtigen, zum verschwindenden Autor. Als solchen zeichnet ihn der Erzähler namens ‹Aub› als Gegenüber, von dem abzugrenzen ihm zunehmend schwer fällt. Wie schon bei der Lektüre von Juego de cartas verschränken sich hier Avantgarde und Exil, erscheint doch gerade der Avantgardist Petreña der dritten Lieferung als nowhere man, der schon zu seinen Lebzeiten ein Vergessener und dessen kultureller Raum nach mehrfachen Orts- und Namenswechseln nicht mehr klar erkennbar ist, nicht einmal auf seinem Grabstein. Drei Schlüsselbegriffe stehen im Mittelpunkt der Diskussionen, in denen sich Petreña und ‹Aub› über die Jahrzehnte begegnen: Identität, Generationalität und Fruchtbarkeit. Gibt es überhaupt eine rational fassbare und kommunizierbare Identität des Subjekts? Petreña verneint dies, folglich fehlt seiner Autorschaft jeglicher Mittelpunkt, verschwindet er als Teil seiner Generation, zeugt er weder Werk noch Nachkommen. ‹Aub› hält dagegen: Gerade darin, die Fragilität des (Autor-) Subjekts vorzuführen, liege die Herausforderung für die Literatur; die Mechanismen der Identitätsfiktionen zu gestalten, indem man vielstimmig und multiperspektivisch, also im Sinne eines Jusep Torres Campalans «kubistisch» schreibt und so den Leser einbindet; gerade darin, Oppositionen zu unterspülen, Binome zu hinterfragen usf.. Doch in der Auseinandersetzung mit seinem Gegenüber, das er zu Beginn als klares Gegenbild entworfen hatte, als abschreckendes Beispiel, lässt er über die drei Lieferungen des Romans zu, dass auch seine eigenen Positionen als brüchig erscheinen, als nicht klar abgrenzbar in Frage gestellt werden. Genau das macht die von Max Aub geschaffenen apokryphen Künstler außergewöhnlich, dass er sie sich zwar als Gegenbilder entwirft, ihnen aber eine eigene Wirklichkeit als autonomen Bezugsrahmen zugesteht. Das gilt für den Schriftsteller Luis Álvarez Petreña wie für den Maler Jusep Torres Camplanas, über den Joan Oleza Simó schreibt: 252
Los inventó como antagonistas [… pero] nadie fue tan lejos como Max en la pretensión de proporcionarles una realidad propia, empírica, contrastada, nadie acumuló tanta documentación, tantos artículos de prensa, tantos estudios críticos, tanta bibliografía, nadie contó con tanta colaboración de testigos reales que se prestaron a colaborar en la superchería, compartiéndola, corresponsabilizándose con ella, extrayendo por tanto la invención del ámbito de la creación personal para insertarla como acto en la historia. Nadie como Max, por último, proporcionó al menos a uno de sus apócrifos, Jusep Torres Campalans, una obra que no estaba urdida sólo de escritura, prisionera por tanto de esa cárcel de irrealidad que es el lenguaje, sino de escritura y pintura, de cuadros que pudieron ser catalogados y exhibidos y pueden volver a serlo en cualquier otro momento, que proporcionaron firma, bulto, peso y hasta un precio de mercado a su fantasma. (Oleza Simó 2003b: 330)
Max Aub gelingt im Verlauf seiner Prüfung der Avantgarden mithin zweierlei: Er stellt eine Geschichte der Avantgarde dar, und er schreibt Geschichte: indem er die Figur Jusep Torres Campalans tatsächlich in die Welt bringt. Die Rezeption und «il peso di vivere» Bei wenigen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts klaffen die spätere positive Beurteilung durch die (akademische) Kritik und die fehlende symbolische Anerkennung zu Lebzeiten so weit auseinander wie bei Max Aub. Heute wird er als einer der wichtigsten spanischsprachigen Erzähler des 20. Jahrhunderts gewürdigt, während Eleanor Londero noch Mitte der neunziger Jahre «el silencio (casi se podría decir, la hostilidad)» beklagt, «con que fue recibida su obra, no sólo en vida, sino también después» (Londero 1996: 5). Auch wenn eine detaillierte Rezeptionsgeschichte seines Werkes noch aussteht, die Spanien und Mexiko ebenso berücksichtigen würde wie seine Aufnahme im englischen, französischen und deutschen Sprachraum, kann man doch sagen, dass Max Aub bis zu seinem Tod ein verkannter Autor war.1 Heute hingegen besteht in der Fachwelt kein Zweifel an der herausragenden Bedeutung seiner Bücher. Warum aber kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass seine Rezeption noch einmal schwieriger verlief als die vieler anderer Exil-Autoren seiner Zeit? Gemeinsam ist den Autoren des republikanischen Exils, dass sie erst zeitversetzt und unter verzerrten Bedingungen Zugang zum spanischen Publikum fanden. Doch wird Aub, anders als andere literarische Größen des Exils, weder in der Zeit der begrenzten kulturellen Öffnung der sechziger Jahre noch während der Transición auf eine Weise wiederentdeckt, die ihn beim Publikum wirklich bekannt gemacht hätte. Verschiedene Gründe werden hierfür genannt: Vor dem Bürgerkrieg war er kein bekannter
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Zur Rezeptionsgeschichte der Werke Max Aubs allgemein vgl. Aznar Soler (2003a); zur Rezeption in Spanien vgl. Asís (1992: 213ff.), Aznar Soler (2003b) und Naharro-Calderón (2005); zur Konzeption der Obras completas vgl. Bellveser (2011); zur Rezeption in Mexiko vgl. Faber (2002a), Buschmann (2002b), Caudet (2004), Férriz Roure (2002, 2004) und Weinberg (2003, 2005); zur Rezeption in Frankreich vgl. Malgat (2004, 2005, 2010); zur Rezeption in Deutschland vgl. Rodríguez Richart (1996), Buschmann (2003d, 2003/2004b, 2004b, 2009e) und Figueras (2003b, 2003c).
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Autor, seine Berühmtheit erschrieb er sich erst im Exil, aus ideologischen und kulturellen Gründen blieb er auch unter den Exilanten ein Außenseiter etc. Im Mittelpunkt der Erklärungen für seinen Status als nur schwierig vermittelbarer Autor steht aber meist der Hinweis auf das Magische Labyrinth. Sein hartnäckiges Festhalten an diesem literarischen Stoff, so die Hypothese, hätte den Zugang zu einem spanischen Publikum, das unter Franco an dem Thema immer weniger und während der Transición an ihm nicht viel mehr interessiert gewesen sei, wesentlich behindert. Mit anderen Worten: Das historische Gewicht des Themenkomplexes spanischer Bürgerkrieg habe wesentlich dazu beigetragen, die Rezeption des Werkes von Max Aub zu erschweren, und gemeint ist damit wohl auch das physische Gewicht eines einschüchternd umfangreichen Romanzyklus, der zudem flankiert wird von Dutzenden Erzählungen, Theaterstücken, Gedichten. Diese Hypothese lässt allerdings die Vielzahl an literarischen Verfahren außer Acht, mit denen Max Aub dem historischen Gewicht des Themas ästhetisch seine Schwere zu nehmen versuchte. In seinem posthum erschienenen Essay Lezioni americane. Sei proposte per il prossimo millennio (Calvino 1988) beschrieb Italo Calvino gerade den Umgang mit der Schwere als besondere Herausforderung an die Literatur des 21. Jahrhunderts. «Lightness» und «quickness» lauten die Schlüsselbegriffe, mit denen er in seiner «literaturgeschichtlich argumentierenden Poetik» (Gelz 1996: 200) die lebensweltliche Schwere angehen will: «[…] la letteratura [ha una] funzione esistenziale, la ricerca della leggerezza come reazione al peso di vivere.» (Calvino 1988: 28) Dies meint nicht, die Schwere des Lebens zu missachten, zu ignorieren oder zu leugnen. Vielmehr ist das Leitbild seines Essays eine offene Poetik, die zwar den Leitbegriff «lightness» argumentativ untermauert, aber immer auch dessen Gegenpol (die Schwere) mitdenkt. Calvinos eng miteinander verknüpften Überlegungen und Beispiele zu den Begriffen «Leichtigkeit» und «Schnelligkeit» lassen sich von beiden Seiten, von der existenziellen Schwere und der Langsamkeit wie von deren Gegenpolen her («Lightness», «quickness») auf das Magische Labyrinth und seine Spezifika beziehen, wie sie in dieser Studie aufgearbeitet wurden. Seine erste «Lektion» beginnt mit der Darstellung der ‹schweren› Literatur, mit dem Bekenntnis seiner Vorliebe für mythische Erzählungen (Calvino 1988: 17ff.), und wir denken an den Stier in seinem Labyrinth und die weitere Mythogenese im Zyklus. Calvino verteidigt die erzählerischen Wiederholungen und Abschweifungen (68), und wir denken an die bisweilen repetitiven Dialoge in den Beschreibungen der diversen Tertulias des Magischen Labyrinths, an den 70-seitigen Monolog des sterbenden Don Leandro in Campo abierto und all die anderen nur auf den ersten Blick unökonomisch ausführlich beschriebenen Figuren. Aus dieser Perspektive korrespondiert also das Gewicht von Aubs Thema mit den metaphorisch gesprochen ‹schweren› ästhetischen Verfahren im Sinne Calvinos. Doch die besondere Qualität von Aubs Ästhetik besteht gerade darin, dass er dieser Schwere und der mit ihr einhergehenden Verlangsamung des Textes durch zahlreiche die Erzählung beschleunigende Verfahren gezielt gegensteuert. Exemplarisch zu erinnern wäre an die harten Schnitte zwischen den Einzelszenen, 254
an spannungsfördernd parallel präsentierte Handlungsstränge, und besonders an jene elliptischen Konstruktionen und konzeptistische Sprachspiele zur sprachlichen Brechung der Repräsentation des brutalen Kriegsalltags, wie sie im Kapitel III Gegenästhetik des Bürgerkriegs dargestellt wurden. Aub geht es, wie Calvino, nicht um physische, sondern um mentale Geschwindigkeit: «Il tema che qui ci interessa non è la velocità fisica, ma il rapporto tra velocità fisica e mentale.» (42) Vor allem aber sind es die Aufzählungen und Listen, die neben anderen in den vorangegangenen Kapiteln erörterten Verfahren der Calvinoschen Maxime entsprechen [di scrivere] saghe ed epopee racchiuse nelle dimensioni d’un epigramma. Nei tempi sempre più congestionati che ci attendono, il bisogno di letteratura dovrà puntare sulla massima concentrazione della poesia e del pensiero. (Millennio 50)
Dieses Streben nach epigrammatischer Kürze für die narrativen Langformen Sage und Epos verwirklicht Aubs Schreiben beispielhaft in den Listen des Magischen Labyrinths, insbesondere in den Kurzviten in der Liste der 300 Frisöre in Campo abierto, ebenso in den fragmentierten Lebensbildern der «Listen des Todes» (Crímenes ejemplares, De suicidios etc.) oder in der Serie der biographischen Karteikarten am Ende von Manuscrito cuervo, die auf engstem (Erzähl-) Raum das Eingeschlossensein im «univers concentrationnaire» transzendieren. In all diesen Passagen nähert sich Aubs Schreiben einer «collezione di racconti d’una sola frase, o d’una sola riga, se possibile» (Calvino 1988: 50), die nach Italo Calvinos Vorstellung eine heutige Literatur leicht und schnell macht. An Manuscrito cuervo konnte zudem exemplarisch gezeigt werden, wie das ‹Gewicht› des Gegenstands, belastet durch die Topoi der Unverstehbarkeit und der Unsagbarkeit des «peso di vivere» der Lagerwirklichkeit, durch diverse Rahmungen, Fragmentierungen und fiktionsironische Brechungen überhaupt erst kommunizierbar wurde. Was nun die Romane des Magischen Labyrinths betrifft, deren Rezeption in erster Linie durch das spezifische Gewicht des historischen Sujets behindert worden sein soll, so konnte gezeigt werden, dass durch die genannten Verfahren der Erleichterung und Beschleunigung diese Schwere ästhetisch gebrochen und dynamisiert wird, und dass gerade darin die Besonderheit des Zyklus liegt. Die hier vertretene Gegenthese lautet also, dass das Magische Labyrinth weniger wegen seines Gewichts den Leser fordert, sondern wegen seiner dieses Gewicht aushebelnden Ästhetik, die ohne das Wissen um ihre «avantgardistische Impfung» (Ette 2000) nicht begriffen werden kann. Diese besondere Gegenästhetik des Bürgerkriegs dürfte der Grund dafür sein, warum Aubs Zyklus ab den neunziger Jahren für Autoren wie Rafael Chirbes (vgl. Chirbes 2002) oder Antonio Muñoz Molina (vgl. Muñoz Molina 1996, 1997) zur Referenz wurde und heute im Sinne der von Italo Calvino formulierten Thesen höchst gegenwärtig ist.
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Max Aub – ein spanischer Autor? Max Aubs Zugehörigkeit zu Spanien in Frage zu stellen ist politisch heikel, schließlich wurde ihm genau diese Einschreibung während der vier Jahrzehnte des Franquismus verwehrt, und das in ganz elementarer Weise: Weder durfte er in Spanien schreiben, noch konnten seine Texte dort frei und unzensiert zirkulieren. Auf diese Zwangsausgrenzung des Exilanten antwortet vor allem die spanische Literaturwissenschaft mit einer forcierten Rückführung des verlorenen Sohns. Zwar mahnte Joan Oleza Simó schon 1996, man müsse nun die Phase seiner gleichsam zwanghaften Rezeption hinter sich lassen und die Lektüre seiner Werke heutiger Normalität anpassen (Oleza Simó 1996), aber noch immer wird Aub in Spanien bevorzugt und in emphatischer Weise als spanischer Autor gelesen. Nach wie vor prägen die durch die Diktatur erzwungenen Kategorien «Innen» und «Außen», «Spanier» und «Nicht-Spanier» die Diskussion, die gerade dazu beitragen möchte, diese Kategorien zu überwinden und die zwischen 1936 und 1977 außerhalb Spaniens entstandene Exilliteratur in den nationalen Kanon zu integrieren. Dabei hatte Aub selbst schon eine ganz eigene Formel jenseits dieser Dichotomien gefunden, um seinen Status zu beschreiben. Er nannte sich «escritor español y ciudadano mexicano» (Hablo 11). Aber werden mit Max Aubs posthumer Einbürgerung nicht Differenzen verwischt, die ihn von anderen Exil-Autoren seiner Generation unterscheiden? Anders gefragt: Ist sein Werk angemessen zu erfassen, wenn man ihn nur als spanischen Autor betrachtet? Sicher nicht, schließlich standen in Kapitel V die Aspekte der spezifisch transkulturellen Prägung seines Werks im Mittelpunkt, die schon damit beginnt, dass es nicht in seiner Muttersprache Französisch verfasst ist, nicht in seiner Vatersprache Deutsch, sondern auf Spanisch, der Sprache seines transatlantischen Lebensraums. Diese Wahl seiner Lebenssprache Spanisch hält Aub gegen alle Anfechtungen aufrecht. Als weiteres Kennzeichen seiner nicht im nationalliterarischen Rahmen zu begreifenden anderen Hispanität ist an die selbst konstruierte Generationalität zu erinnern, nach der Aub sich nur «los de mi tiempo» (Diarios 387) als Mit-Spanier verbunden fühlt, und wer für diese Gruppe in Frage kommt, entscheidet nicht die Biologie, sondern er selbst. Doch nicht nur zeitlich, auch räumlich schränkt er sein «ser español» ein, wenn er als eigentlichen Geburtsort eines denkenden Menschen den des Abiturs und demnach sich selbst in erster Linie als Valencianer postuliert. Letzteres könnte in einem von mächtigen Regionalismen geprägten Spanien noch zum Ausweis seiner perfekten Anpassung an dessen kulturellen Code gewendet werden, nicht jedoch die Gestalt seiner Sprache: Bis ins hohe Alter fühlt Aub sich markiert durch seinen französischen Akzent, und Syntax wie Lexik seiner Bücher unterscheiden sich so deutlich von der im spanischen literarischen Feld gesetzten Norm, dass ihm mehrfach die Fähigkeit abgesprochen wurde, korrektes Spanisch zu schreiben. Solche Ausgrenzungsdiskurse sind häufig Thema seines Schreibens, und in Texten wie Manuscrito cuervo oder dem Theaterstück No demontiert und demaskiert er deren oft tödlich wirkende Ignoranz mit aporetischen Zuspitzungen und absurder Komik. In den Tagebüchern jedoch bricht sich immer wieder die 256
Verzweiflung darüber Bahn, dass er mit seiner Herkunft, seinem für hispanische Ohren seltsam klingenden Namen, seinem Akzent, seinem Agnostizismus unter den Spaniern immer «der Andere» bleiben wird, und das gilt vor allem für sein Leben im Exil. Aub erkennt, dass gerade der zwangsweise Ausschluss das Denken in biologischen Metaphern befördert. Vor seiner Abreise aus Spanien schreibt er 1969 in einem Artikel: Es difícil hablar de la patria cuando uno se hace viejo lejos de ella porque, ¿cómo es, aún sabiendo como está? […] Tal vez el destierro nos ha servido ante todo para fijarnos y para que nos fijemos en las raíces, raigones, brotes familiares. (Zit. nach Capella 2002: 74)
Weil er nicht in gleicher Weise wie seine Mit-Exilanten über «Wurzeln, Verwurzelungen, familiäre Keime» verfügt, versteht er den Ausschluss gerade als Aufforderung, sich mit seinen diskursiven Konstruktionen zu befassen. Dieser Aufgabe kommt er in seinen Büchern in vielfältiger Weise nach, immer mit dem sehr heutigen Resultat, dass kulturelle Identitätskonstruktionen – sei es von einzelnen Subjekten oder Kollektiven – weniger starr und biologisch rückgebunden, sondern vielmehr als auf Vernunft begründete bewegliche und modifizierbare Einschreibungen zu verstehen sind. Wie wichtig ihm Bewegung und Dynamik als alles bestimmende Kategorien sind, zeigt sich auch in einer für spanische Gepflogenheiten höchst ungewöhnlichen literarhistorischen Charakterisierung der spanischen Kultur als vor allem von «Bewegung» gekennzeichnet: «Porque lo importante en el arte español es la acción, el movimiento: en el teatro, en la pintura y en la escultura, en la novela, en la vida. Aún lo místico es en España movimiento.» (Discurso 143) Aus all diesen Gründen ist Max Aub kein spanischer Autor im engeren Sinne, weshalb Tomás Segovia (2005: 158) von «la innegable paradoja de llamar a Max Aub un escritor español» spricht. Gerade weil sich seine in Leben und Werk erkennbaren kulturellen Einschreibungen in so vielerlei Hinsicht von denen eines Rafael Alberti, eines Luis Cernuda, einer Rosa Chacel oder eines Luis Buñuel unterscheiden, kann er nicht verstanden werden, wenn man ihn allein als «escritor español» betrachtet: Weil sonst bei der weiteren Erforschung seiner Werke gerade die transkulturellen Aspekte in den Hintergrund rücken würden, die die eigentliche Signatur seines Schreibens ausmachen. Seine besondere Aufmerksamkeit für fragile Identitäten zwischen Sprachen und Kulturen, für transareal geformtes Lebenswissen im Angesicht von diskursivem und physischem Ausschluss, aufgehoben im Speicher einer offenen Literatur frei von epistemologischen Binomen – all das markiert für sein Werk eine konzeptionelle wie ästhetische Beweglichkeit, die über den Kontext der spanischen Literatur zwischen Avantgarde und Exil hinausweist. Eine Beweglichkeit, die seine Bücher angesichts der Herausforderung, die Globalisierung zu begreifen und zu erzählen, für unser 21. Jahrhundert so anregend macht.
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VII. Bibliographie & Anhänge
Das folgende Werkverzeichnis verzeichnet die in dieser Studie zitierten Ausgaben; bei häufiger verwendeten Texten sind in eckiger Klammer die Abkürzungen genannt, deren Verzeichnis sich am Ende dieser Bibliographie findet. Eine vollständige Bibliographie der Veröffentlichungen von Max Aub in chronologischer Reihenfolge, geordnet nach Gattungen, bietet Soldevila (2002a). Werke von Max Aub (1943): (1952): (1958): (1967a): (1967b): (1969): (1970): (1972):
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Abkürzungen
Hinter den Abkürzungen sind das Erscheinungsjahr der in dieser Arbeit verwendeten Ausgabe sowie, falls davon abweichend, in eckiger Klammer das Jahr der Erstausgabe genannt. Abierto Academia Almendros Antología Buñuel Campalans Cerrado Cojo Crímenes Diarios Discurso Francés Gallina Hablo Intenciones Juego Limpiabotas Manuscrito Moro Nuevos Diarios Petreña Rapto Remate Sangre Tiempo Valverde Verdadera historia
Campo abierto (2001b [1951]) Academia Española. El teatro español sacado a luz de las tinieblas de nuestro tiempo por Max Aub… (1993 [1972]) Campo de los almendros (2002b [1968]) Antología traducida (2001a [1972]) Conversaciones con Buñuel (1985) Jusep Torres Campalans (1958) Campo cerrado (2001b [1943]) El cojo (2006b [1938]) Crímenes ejemplares (2006a [1957]) Diarios (1939–1972) (1998) Discurso de la novela española contemporánea (2004 [1945]) Campo francés (2007b [1965]) La gallina ciega. Diario español (1995 [1971]) Hablo como hombre (1967) Las buenas intenciones (2007a [1954]) Juego de cartas (2010 [1964]) El limpiabotas del Padre Eterno (2006b [1955]) Manuscrito cuervo. Historia de Jacobo (2006b [1949/50]) Campo del moro (2002a [1963]) Nuevos diarios inéditos [1939–1972] (2003b) Vida y obra de Luis Álvarez Petreña (1999c [1934 /1965 /1971]) El rapto de Europa o siempre se puede hacer algo (2006c [1945]) El remate (2006b [1961]) Campo de sangre (2002a [1945]) De algún tiempo a esta parte (2002c [1949]) La calle de Valverde (2007a [1961]) La verderadera historia de la muerte de Francisco Franco (2006b [1960])
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Register
Aarseth, Aspen 156 Abellán, José Luis 4, 30, 36, 188 Agamben, Giorgio 36, 113, 206f., 218, 221–226, 246 Aktives Museum 186, 188 Albert, Mechthild 12 Alberti, Rafael 10, 12, 21, 23, 52, 76, 98, 191, 203, 257 Alborg, Juan Luis 41 Alcalá Galiano, Álvaro 86 Aleixandre, Vicente 4, 52, 66, 191f., 197 Álfaro Siqueiros, David 48, 58f. Alonso, Cecilio 98, 194, 212 Alonso, Dámaso 4, 8, 10, 52, 191f., 241 Altoaguirre, Manuel 191 Álvarez, Federico 235 Álvarez del Vayo, Julio 8 Álvarez Quintero, Serafín und Joaquín 16 Andrés Álvarez, Valentín 28 Andújar, Manuel 57, 191 Andújar García, José Ramón 10 Appia, Adolphe 18 Aragon, Louis 9, 21, 32, 83, 185f. Aranguren, José 136 Arendt, Hannah 205ff., 213, 215, 218 Arcipreste de la Hita (eig. Juan Ruiz) 28 Arniches, Carlos 16 Arp, Hans 42 Arranz Lago, David Felipe 177 Asholt, Wolfgang 3, 19 Asís, María Dolores de 253 Aub, Elena 196 Aub, Ludwig 11 Ayala, Francisco 25, 53, 87, 236 Azaña, Manuel 8, 10, 16, 185, 211 Aznar Soler, Manuel 6, 13, 16, 18, 35f., 70, 99, 149, 168, 184, 188f., 203, 210, 212, 227f., 235f., 239, 253f. Azorín (eig. José Martínez Ruíz) 25 Azuela, Mariano 31f. Baeza, Ricardo 86 Bagué Quílez, Luis 53 Balcells, Carmen 203 Balzac, Honoré de 28 Bandau, Anja 34, 130, 135
Bannasch, Bettina 143 Baroja, Pío 100, 237 Barthes, Roland 84, 163, 169, 252 Bartolí, Josep 113 Bellveser, Ricardo 3, 253 Benavente, Jacinto 16 Benítez Burraco, Raquel 15 Benjamin, Walter 45 Bergamín, José 16, 191f., 227 Bernecker, Walther 204 Besteiro, Julián 106f., 119, 148 Bhabha, Homi 34 Blasco Ibañez, Vicente 25, 76 Blum, Léon 113 Blumenberg, Hans 110 Bolz, Norbert 64 Borges, Jorge Luis 70, 165, 168 Borrás, Ángel 3 Bosques, Gilberto 186ff. Bourdieu, Pierre 35 Braque, George 41, 48f., 51 Brauneck, Manfred 18 Breton, André 19 Buñuel, Luis 4–12, 18f., 33, 37, 40, 89, 160, 197, 234f., 240, 257 Bürger, Peter 19f., 45 Burke, Peter 141f. Buschmann, Albrecht 6, 15, 34, 41, 53, 85, 95, 102, 112ff., 123–135, 141–148, 152ff., 158, 194, 202, 211–224, 253 Caillois, Roger 179 Calles, Juan Maria 3, 6, 12, 21, 190, 194 Calvino, Italo 128, 166, 245, 254f. Camp, André 195 Campbell, Roy 53 Candel Vila, Xelo 3, 12, 52, 158, 191, 208 Capella, María Luisa 198, 201, 203, 254 Carballo, Emmanuel 58 Carreño, Antonio 12 Casado, Segismundo 106f., 148 Casalduero, Joaquín 191 Casares Quiroga, Santiago 119 Casona, Alejandro 17, 231 Cassou, Jean 42, 47 Castro, Américo 191
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Caudet, Francisco 97, 109, 111, 127, 188, 190, 253 Cela, Camilo José 31, 68 Cernuda, Luis 7, 98, 193, 197, 203, 241, 257 Cervantes Saavedra, Miguel de 28, 79, 85, 104, 120, 139, 161, 176 Cesaro, Michele 178 Chabas, Juan 7, 23, 87 Chacel, Rosa 87, 257 Chirbes, Rafael 196f., 255 Churchill, Winston 113 Clarín (eig. Leopoldo Alas) 25 Cocteau, Jean 22 Compagnon, Antoine 20 Companys, Lluis 103, 136 Conejero, Molina 111 Copeau, Jacques 18, 209 Corella Lacasa, Miguel 39, 45, 73 Corino, Karl 42, 202 Cortázar, Julio 27, 165–170, 203 Dalí, Salvador 4, 10, 19, 33, 197 de Gaulles, Charles 44, 70 de Lequerica, José Félix 185 de Man, Paul 20 de Marco, Valeria 217, 224 de Salas, Javier 52 de Torre, Guillermo 20f. de Vlaminck, Maurice 49, 51 del Pino, José M. 21 del Valle-Inclán, Ramón 16, 30, 32, 250 Dennis, Nigel 27 Derrida, Jacques 179f. Díaz Fernández, José 21, 28, 34, 73–76, 101, 250 Diego, Gerardo 11f., 21, 48 Dieste, Rafael 16 Diez-Canedo, Enrique 7, 11, 87 Doubrovski, Serge 237 Dreyfus-Armand, Geneviève 204f. Durán, Manuel 41, 70 Durruti, Bonaventura 136 Eberenz, Rolf 3, 47, 56, 64, 154, 251 Echegaray, José 191 Eco, Umberto 43, 60, 65, 154f., 163, 171–174 Eggers, Christian 204 Ehrenburg, Ilja 8, 105 Ernst, Max 48, 186 Escobar, Antonio 136 Espejo-Saavedra, Ramón 100 Espina, Antonio 28, 87
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Ette, Ottmar 2, 6, 30f., 46f., 56, 64, 90, 122f., 133, 176, 182, 217f., 221–226, 251, 255 Faber, Sebastiaan 36, 93, 202, 253 Fähnders, Walter 3, 19f. Felipe, León 191, 193 Fernández, Santiago 124, 200f. Fernández Martínez, Dolores 3, 42, 53–62, 166 Ferrer, Francisco 51 Ferriz Roure, Teresa 253 Feuchtwanger, Lion 186 Figueras, Mercedes 3, 6, 18, 95, 148, 152, 194, 198f., 203, 210, 253 Finisterre, Alejandro 152 Flaubert, Gustave 245 Foucault, Michel 84, 206, 252 Franco, Francisco 1, 8, 29f., 93, 98, 104–115, 119f., 129, 136–140, 148, 184, 204, 216, 227–236, 239, 254 Freud, Sigmund 39 Fritz, Sabine 95, 148f. Fry, Varian 186 Fuentes, Carlos 42, 57–60 Fuentes, Víctor 77, 86 Fundación Max Aub 3, 52, 95, 111, 149, 152, 190, 208 Ganivet, Ángel 68 Gaos, José 7, 36, 193, 195, 228 García, Manuel 6, 184, 196 García Lorca, Federico 4, 10, 15f., 19, 25, 33, 192, 203, 239 García Márquez, Gabriel 203 García Sánchez, Franklin 15 Gelz, Andreas 174, 254 Genette, Gérard 38, 53 Gerhold, Stefanie 95, 124, 200 Gide, André 9, 100, 186, Gil-Alabert, Juan 7 Giménez Caballero, Ernesto 88 Glass, Elliot S. 209 Gómez de la Serna, Ramón 20, 25ff., 33, 89, 91, 176, 248, 250 González de Orduña, Helena López 238 González Pozuelo, Ignacio 120 González Roa, Edmundo 188 González Sanchis, Miguel Angel 47, 52, 245 Gordon Craig, Edward 18, 210 Gorostiza, Celestino 202 Goya, Francisco 28, 32, 237f., 250 Gracián, Baltasar 45ff., 127,
Grillo, Rosa Maria 64 Grimm, Reinhold 170f., 174 Gris, Juan 41, 48f., 51, 54, 62 Gründer, Karlfried 39 Guevara, Che (eig. Ernesto) 18 Guillén, Jorge 11, 14, 52f., 191 Gumbrecht, Hans Ulrich 23, 28, 33 Hardt, Manfred 19 Heine, Heinrich 90, 202 Hemingway, Ernest 8, 105 Hernández, Juan Carlos 6 Hernández, Miguel 4, 76 Hinz, Manfred 154, 156, 165, 169f. Hitler, Adolf 29, 108, 113, 216, 222, 235 Holm, Christiane 143 Hörner, Wolfgang 94, 124 Huidobro, Vicente 48 Huizinga, Johan 179 Ingendaay, Paul 123 Iredi, Werner 6 Irizarry, Estelle 56, 59 Iser, Wolfgang 179ff., 248 Jameson, Frederic 36 Jammes, Francis 10f. Jarnés, Benjamín 28, 86f. Jiménez, Juan Ramón 191, 248 Joyce, James 22, 26, 39, 171 Jung, Carl Gustav 22 Kafka, Franz 22 Kahnweiler, Daniel-Henry 41, 51 Kaminsky, Amy K. 36 Kant, Immanuel 39, 61 Kemp, Lois A. 3, 15f., 18, 210, 215 Klengel, Susanne 45–48, 51, 54, 56 Koestler, Arthur 216 Kretschmer, Ernst 22 Lahuerta, Genaro 7, 13 Largo Caballero, Francisco 105 le Lionnais, François 166 Leal-Santiago, Fuencisla 41, 77 Lejeune, Philippe 77, 237 Líster, Enrique 105 Llorens Marzo, Luis 95f., 123, 126, 131f., 208 Lluch Prats, Javier 18, 93, 97, 99, 126, 148, 198, 208, 210 Londero, Eleanor 47f., 54f., 245, 253 Longoria, Francisco A. 3 Lope de Vega, Félix 28
López-Casanova, Arcadio 10f. López Corro, Raymond 3 López de Abiada, José Manuel 12, 28, 74ff. Lotman, Jurij M. 177 Ludwig, Ernst 24 Luengo, Ana 141 Lüdke, W. Martin 19 Machado, Antonio 4, 8, 16, 40, 78, 210, 239 Macías, Santiago 209 Magritte, René 166 Mainberger, Sabine 140ff. Mainer, José-Carlos 37, 85 Malgat, Gérard 6, 8, 44, 166, 184f., 187f., 194, 253 Malo, Erik 205 Malraux, André 8, 14, 32, 44f., 57, 95, 107, 184ff. Mann, Heinrich 186 Marinetti, Felippo Tommaso 20 Marra-López, José R. 123f., 141 Martínez Latre, Pilar 15 Marx, Karl 39 Mathews, Harry 166f. Matisse, Henri 11, 186 Mauriac, Claude 185 Maurois, André 87 McClennen, Sophia A. 36, 90 Medina Echevarría, José 7, 195 Mehring, Walter 186 Mengual Català, Josep 191f. Mesonero Romanos, Ramón de 107 Miaja, José 104f., 119 Mihura, Miguel 16 Milkovitch-Rioux, Catherine 134, 143 Miró, Gabriel 27, 45 Mistral, Gabriela 48 Mondrian, Piet 49, 51 Monleón, José 3, 17f., 228f. Monti, Silvia 18, 89, 101, 183, 212, 228f., 231 Moraleda, Pilar 3, 14f., 18 Muñoz-Alonso López, Agustín 21 Muñoz Molina, Antonio 197, 247, 255 Naharro-Calderón, José María 186ff., 208f., 253 Negrín, Juan 106, 148, 185 Nelken, Margarita 59 Neuschäfer, Hans-Jörg 140 Nickel, Claudia 205 Nielsen, Jacob 169
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Nietzsche, Friedrich 39 Nora, Eugenio de 72, 93 Nos Aldás, Eloísa 205, 208, 216, 218 Nougé, Paul 166 Nünning, Ansgar 115ff., 129 Oleza Simó, Joan 12, 39f., 76–79, 89, 235, 252f., 256 Ortega y Gasset, José 4, 10, 13, 21f., 24–31, 45f., 61, 67, 72ff., 78, 86ff., 249f., 252 OuLiPo 165ff., 179 Palmer, Margret 186ff., 211 Pardo Bazán, Emilia 25 Pavese, Cesare 183 Paz, Octavio 11, 42, 60 Pennac, Daniel 165 Perec, Georges 159, 166f., 174 Pereda, Rosa 197 Pérez Bowie, José Antonio 39f., 52, 69, 77, 85, 118, 125, 141, 194, 199, 217f., 220, 224 Pérez de Ayala, Ramón 27 Pérez Firmat, Gustavo 12, 21 Pérez Galdós, Benito 25, 76, 100, 113, 191 Périer, Odion-Jean 166 Pessoa, Fernando 40, 78 Picasso, Pablo 8, 41f., 47–52, 61f., 91, 128, 161, 250 Pirandello, Luigi 17, 147, 178 Plá, Cecilio 7 Poniatowska, Elena 58 Prats Rivelles, Rafael 3, 6, 195 Prieto, Indalecio 105 Primo de Rivera, Miguel 10, 94 Proust, Marcel 26 Puccini, Dario 63 Queneau, Raimond 154, 166f. Quiñones, Javier 6, 99, 127, 208 Quiroga, Horacio 32 Quiroga Plá, José María 23 Radványi, Lázló 114 Reemtsma, Jan Philipp 142 Regler, Gustav 8, 216 Rehrmann, Norbert 5, 31, 199 Reulecke, Anne-Kathrin 42ff., 50, 60–65, 90f. Reulecke, Jürgen 102, 193 Reyes, Alfonso 41, 49, 67, 185 Rilke, Rainer Maria 22, 39
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Ritter, Joachim 39 Rivera, Diego 48 Robles, Gil 4 Ródenas de Moya, Domingo 12 Rodiek, Christoph 3 Rodríguez, Juan 6, 24, 151–154, 161, 166, 169 Rodríguez Monegal, Emir 107, 123f. Rodríguez Richart, José 6, 17, 194, 253 Romains, Jules 7, 186 Roubaud, Jacques 167 Ruano, Antonio 37 Ruiz Corino, Adolfo 202 Russel, Bertrand 22 Ryan, Marie-Laura 178ff. Safir, Margery A. 41, 70 Sáinz, José Ángel 229 Salazar y Chapela, Ernesto 88 Salinas, Pedro 7, 27f., 203 Sánchez, Pedro 13 Sánchez Rivero, Ángel 86 Sánchez Vidal, Agustín 37, 81 Santa Marina, Luys 102, 136 Santiañez-Tió, Nil 152f., 156, 158, 164, 168 Sanz Álvarez, María Paz 3, 15, 97, 99, 101 Scarano, Laura 89 Schlögel, Karl 239 Schmitt, Carl 206 Schöttker, Detlev 45 Seghers, Anna 114 Segler-Meßner, Silke 207 Segovia, Tomás 57, 198, 257 Sender, Ramón J. 191 Seuphor, Michel 42 Sicot, Bernard 205 Siebenmann, Gustav 3f., 21, 28, 33, 68, 125, 151f., 202 Sietencron, Heinrich von 142 Silva, Emilio 209 Simmel, Georg 22 Sirera, Josep Lluís 18, 210, 212 Sofsky, Wolfgang 205, 207 Soguero García, Francisco Miguel 86ff. Soldevila Durante, Ignacio 3, 11, 13ff., 47, 95ff., 100, 107, 123–126, 152, 157f., 163, 165, 178, 195f., 199, 202, 236 Soria Olmedo, Andrés 21 Steinbeck, John 32 Temime, Émile 204f. Teresa de Ávila, Santa 28 Terres, Jaime García 58f.
Torres Campalans, Jusep 38, 41–65, 70, 79, 83, 86, 89, 91, 122, 151ff., 158f., 166, 181, 251ff. Torri, Julio 191, 248 Tortosa, Virgilio 77 Trapiello, Andrés 102 Tuñón de Lara, Manuel 100 Umbral, Francisco 35, 124 Unamuno, Miguel de 25, 69f., 100, 191 Valcárcel, Carmen 47, 54, 152ff., 162, 172, 177f. Valéry, Paul 39 Valls, Fernando 176, 249 van Berg, Hubert 46 van Doesburg, Theo 42
van Dongen, Kees 49, 51 Vantongerloo, Georges 42 Velázquez, Diego Rodríguez de 28, 161 Vilches de Frutos, María Francisca 17 von Koppenfels, Martin 19 von Ranke-Graves, Robert 133ff. von Treskow, Isabella 34, 130, 135, 142f. von Tschilschke, Christian 33 Weinberg, Liliana 203, 253 Weisgerber, Jean 19, 21, 39 Wentzlaff-Eggebert, Harald 19 Werfel, Franz 186 Westheim, Paul 57 Wiesel, Eli 207 Wilde, Oscar 39 Winter, Ulrich 141
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