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German Pages 252 Year 2009
Verbraucherschutz im Kreditgeschäft Compliance in der Kreditwirtschaft
Bankrechtstag 2008
BrV 29
Schriftenreihe der Bankrechtlichen Vereinigung
herausgegeben von Walther Hadding, Mainz Klaus J. Hopt, Hamburg Herbert Schimansky, Marxzell
Band 29
De Gruyter Recht · Berlin
Verbraucherschutz im Kreditgeschäft Compliance in der Kreditwirtschaft Bankrechtstag 2008
De Gruyter Recht · Berlin
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 978-3-89949-528-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Copyright 2009 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und buchbinderische Verarbeitung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Umschlaggestaltung: Angela Dobrick, Hamburg
Vorwort Zwei hochaktuelle kreditwirtschaftliche Themen hatte die Bankrechtliche Vereinigung – Wissenschaftliche Gesellschaft für Bankrecht e.V. dem Bankrechtstag 2008 in Mainz gewidmet: „Verbraucherschutz im Kreditgeschäft“ und „Compliance in der Kreditwirtschaft“. Das von Frau U. Heinen, Parlamentarische Staatssekretärin beim BMELV, dankenswerterweise überbrachte Grußwort machte eindrucksvoll deutlich, welch hohen Stellenwert die Rechtspolitik dem Verbraucherschutz bei Kreditgeschäften beimisst. Als wesentliche neue Entwicklungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung, die im Rahmen des Bankrechtstages diskutiert werden konnten, seien insbesondere genannt: die Grundlagenurteile des BGH zu finanzierten Immobiliengeschäften, die seit 2006 die Rechtsprechung prägen, die zu diesem Zeitpunkt im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Gesetzesvorhaben zur Stärkung des Verbraucherschutzes im Bankbereich, z. B. bei Immobilienkrediten (Risikobegrenzungsgesetz) und beim Datenschutz, sowie die fortdauernde Diskussion über die Rolle von Kreditinstituten bei Verbraucherinsolvenzen. Die Vorträge hielten B. Mayen, T. Hoeren und C. W. Hergenröder. Dem Thema Compliance im Kreditgeschäft verliehen die in jüngster Zeit aufgedeckten Korruptionsaffären einiger Großunternehmen eine besondere Aktualität und Brisanz. Dementsprechend ging es bei diesem Thema vor allem darum, die Funktionen, Aufgaben und Grenzen der Compliance sowie ihre Auswirkungen auf das Unternehmen und die Organe und Mitarbeiter näher zu beleuchten. Diesem Problemkreis waren die Vorträge von C. E. Hauschka, M. Casper und W. Gößmann gewidmet. In ausführlichen Berichten über den Bankrechtstag 2008 sind die Referate sowie die Stellungnahmen der Vortragenden und der Teilnehmer in den Diskussionen wiedergegeben worden. Hingewiesen sei deshalb auf die umfänglichen Berichte von M. Webler, WM 2008, 1435-1442 und M. Lenenbach, ZBB 2008, 267-276. Die Druckvorbereitung dieses Bandes haben dankenswerterweise Herr Christoph Kumpan und Frau Ingeborg Stahl und die Anfertigung des Stichwortverzeichnisses Herr Lukas Mezger, alle Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg, vorgenommen.
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Vorwort
Allen, die zum Gelingen des Bankrechtstages 2008 beigetragen haben, insbesondere Frau Stefanie Barth vom Sekretariat der BrV, sei besonders gedankt. Mainz, Hamburg, Marxell im Februar 2009
Hadding, Hopt, Schimansky
Inhaltsverzeichnis Ursula Heinen, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Berlin
Aktuelle und verbraucherpolitische Perspektiven im Bankbereich...........
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1. Abteilung: Verbraucherschutz im Kreditgeschäft Moderation: Dr. Rainer Metz Unterabteilungsleiter beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Berlin Barbara Mayen Richterin am Bundesgerichtshof, Karlsruhe
Finanzierte Immobiliengeschäfte in der aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung.......................................................... 11 Professor Dr. Curt Wolfgang Hergenröder Universität Mainz
Die Verbraucherinsolvenz im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Realität und Restschuldbefreiungstourismus ............................................ 39 2. Abteilung: Compliance in der Kreditwirtschaft Moderation: Dr. Michael Berghaus Leiter Recht und Compliance, WestLB AG, Düsseldorf Dr. Christoph E. Hauschka PricewaterhouseCoopers AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
Compliance im Gesellschaftsrecht und die aktuellen Entwicklungen in der Diskussion ....................................................................................... 103 Professor Dr. Matthias Casper, Universität Münster, Schriftleiter ZBB
Rechtliche Grundlagen und aktuelle Entwicklungen des Compliance am Beispiel des Kapitalmarktrechts ............................... 139
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Inhaltsverzeichnis
Dr. Wolfgang Gößmann Leiter Unternehmensbereich Recht und Group Compliance, HSH Nordbank AG, Hamburg
Die Stellung von Compliance im Aufsichtsrecht und im Bankrecht unter besonderer Berücksichtigung der persönlichen Verantwortung des Vorstandes ...................................... 179 Tagungsbericht .......................................................................................... 229 Stichwortverzeichnis ................................................................................. 241
Aktuelle und verbraucherpolitische Perspektiven im Bankbereich Ursula Heinen, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Berlin
I.
Einleitung ............................................................................................................1
II.
Schutz der Verbraucher bei der Veräußerung von Immobilienkrediten..............2
III. Datenschutzrechtliche Anforderungen an Scoringverfahren...............................4 IV. Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie und der Zahlungsdiensterichtlinie ....................................................................................5 V.
Schluss ................................................................................................................7
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrter Herr Professor Mülbert, sehr geehrte Damen und Herren!
I.
Einleitung
Der Bankrechtstag 2008 beschäftigt sich in seiner 1. Abteilung mit dem „Verbraucherschutz im Kreditgeschäft“. Finanzierte Immobiliengeschäfte waren in jüngster Vergangenheit des öfteren Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung. Ich freue mich, dass das Thema Verbraucherschutz auch im Finanzdienstleistungsbereich zunehmend in den Fokus rückt.
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In meinem Grußwort möchte ich auf drei verbraucherpolitische Aspekte eingehen, die den Bankenbereich aktuell betreffen. Es sind dies: − der Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher bei der Veräußerung von Immobilienkrediten, − die datenschutzrechtlichen Anforderungen an Scoringverfahren und − die anstehende Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie sowie der Zahlungsdiensterichtlinie.
II. Schutz der Verbraucher bei der Veräußerung von Immobilienkrediten Vor einigen Monaten schreckten Meldungen die Öffentlichkeit auf, dass Banken Immobilienkredite an Finanzinvestoren verkauft haben, die sogleich die Zwangsvollstreckung in die Grundstücke betrieben haben. Die Darlehensnehmer sind in höchstem Maße verunsichert: Muss jetzt jeder damit rechnen, einen neuen Vertragspartner vorgesetzt zu bekommen? Wird nun rücksichtslos in die Grundstücke vollstreckt? In der weit überwiegenden Mehrzahl sind zwar sog. notleidende Kredite betroffen, bei denen der Darlehensnehmer die fälligen Raten nicht mehr ordnungsgemäß bedient. Zur Wertsteigerung der verkauften Kreditpakete werden aber auch ordnungsgemäß bediente Kredite mitverkauft. Für den Verbraucher macht es einen bedeutenden Unterschied, wer sein Vertragspartner ist: Die Hausbank ist in der Regel an einer langfristigen Geschäftsbeziehung mit dem Darlehensnehmer interessiert und deshalb eher bereit, auf seine finanzielle Situation Rücksicht zu nehmen. Für den Finanzinvestor spielt die Qualität der Geschäftsbeziehung mit dem Darlehensnehmer hingegen keine Rolle. Er möchte sein investiertes Geld möglichst bald mit Rendite wiedersehen. Diese Entwicklung konnte die Politik nicht tatenlos hinnehmen. Die Koalitionsfraktionen im Bundestag wollen deshalb in Zusammenarbeit mit dem Finanz-, Justiz- und Verbraucherschutzministerium Regelungen zum Schutz des Darlehensnehmers in das Risikobegrenzungsgesetz integrieren, das noch vor der Sommerpause verabschiedet werden soll.
Aktuelle und verbraucherpolitische Perspektiven im Bankbereich
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Ich möchte kurz die wichtigsten Punkte aufzählen: − Bereits vor Vertragsschluss muss die Bank den Verbraucher darüber aufklären, ob und welche Möglichkeiten bestehen, die Darlehensforderung an einen anderen abzutreten oder auf Seiten des Darlehensgebers den Vertragspartner auszutauschen. − In Allgemeinen Geschäftsbedingungen kann dem Verbraucher grundsätzlich kein neuer Vertragspartner mehr aufgedrängt werden. Zumindest muss ihm in diesem Fall ein Kündigungsrecht zugebilligt werden. − Die Bank muss den Verbraucher über eine Abtretung der Darlehensforderung oder einen Vertragspartnerwechsel unverzüglich unterrichten. Dies gilt allerdings nicht, wenn nach Abtretung der Forderung die Bank weiterhin Ansprechpartner des Verbrauchers bleibt. − Auch der Kündigungsschutz des Verbrauchers wird ausgebaut: Es soll ein Mindestbetrag eingeführt werden, mit dem der Verbraucher im Rückstand sein muss, ehe ihm gekündigt werden kann. Es wird noch diskutiert, ob der Mindestbetrag ein Viertel der Jahresleistung oder 2,5 Prozent des Nennbetrags und gleichzeitig zwei aufeinanderfolgende Teilzahlungen betragen soll. − Schließlich werden verbraucherfreundliche Regelungen zur Sicherungsgrundschuld geschaffen. Die Einreden aus dem Sicherungsvertrag zwischen dem Verbraucher und der Bank, etwa die Erfüllung der Darlehensforderung, können uneingeschränkt auch dem neuen Gläubiger entgegengehalten werden. Dies gilt auch dann, wenn sich der Erwerber darauf beruft, gutgläubig gewesen zu sein. − Unberechtigte Vollstreckungen in das Grundstück werden mit einem verschuldensunabhängigen Schadensersatzanspruch sanktioniert. Mit diesen neuen Regelungen haben wir nicht nur den Schutz der Kreditnehmer verbessert, sondern auch die Grundlage dafür geschaffen, dass das Vertrauen zwischen Bank und Kunde voll wiederhergestellt wird. Einige Banken haben bereits im Vorgriff auf die gesetzlichen Vorgaben reagiert und bieten inzwischen bereits freiwillig Kredite an, die nicht veräußerlich sind.
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III. Datenschutzrechtliche Anforderungen an Scoringverfahren Ein zweites aktuelles Thema im Bankenbereich, das ich ansprechen möchte, sind die datenschutzrechtlichen Anforderungen an Scoringverfahren. Der Gesetzentwurf des Innenministeriums zur Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes befindet sich noch in der Ressortabstimmung, ist aber bereits den Ländern und Verbänden zur Stellungnahme übersandt worden. Scoringverfahren zur Bewertung der Bonität haben einen erheblichen Einfluss auf die finanzielle Zukunft der Verbraucherinnen und Verbraucher. Auf ihrer Grundlage entscheidet sich zunehmend, ob der Verbraucher einen Kredit bekommt und zu welchen Konditionen er ihn bekommt. Leider sind die Scoringverfahren für die Verbraucher sehr intransparent, was angesichts ihrer großen Bedeutung nicht länger hinnehmbar ist. Die Novelle zum Bundesdatenschutzgesetz setzt an zwei Punkten an: 1. Es wird geregelt, welche Daten in Scoringverfahren zur Bonitätsprüfung einfließen dürfen. Die genutzten Daten müssen unter Zugrundelegung eines wissenschaftlich anerkannten mathematisch-statistischen Verfahrens nachweisbar für die Prognose erheblich sein. Zusätzliche Voraussetzung ist, dass nur solche Daten im Scoringverfahren verwendet werden dürfen, die auch einzeln von der Auskunftei übermittelt bzw. bei der Entscheidung verwendet werden dürften. Das schließt eine Verwendung von sog. besonderen Arten personenbezogener Daten, wie z.B. die rassische oder ethnische Herkunft und die Gesundheit, regelmäßig aus. Die Verwendung sog. georeferenzierter Daten zur Beurteilung der Bonität von Personen halte ich wegen der stigmatisierenden Wirkung für fragwürdig. Es kann ganz unterschiedliche Gründe geben, weshalb man in einer bestimmten Gegend wohnt. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass der Betroffene vor der Berechnung des Scorewerts auf die Verwendung der Anschriftsdaten besonders hingewiesen werden muss. 2. Die Transparenz der Scoringverfahren und der auf sie gestützten Entscheidungen wird erhöht. Sowohl die Auskunftei als auch der potenzielle Vertragspartner des Verbrauchers sind verpflichtet, ihm auf Anfrage das Ergebnis des Scoring-
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verfahrens, den sog. Scorewert, und die Grundzüge der Berechnung mitzuteilen. Gerade im Bankenbereich halte ich diesen doppelten Auskunftsanspruch gegenüber der Auskunftei und dem Vertragspartner für unumgänglich: Die Bank bezieht einen Scorewert von einer Auskunftei, z.B. der SCHUFA, reichert diesen mit weiteren eigenen und fremden Daten an, und führt abermals ein Scoringverfahren durch. Die verbesserte Transparenz macht Entscheidungsprozesse nachvollziehbar. Fehler in der Entscheidungsgrundlage können so aufgedeckt und korrigiert werden. Außerdem erhöhen die geplanten Regelungen die Rechtssicherheit. Sie dienen daher nicht nur den Verbrauchern, sondern auch der Wirtschaft.
IV. Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie und der Zahlungsdiensterichtlinie Damit bin ich bei meinem dritten und letzten Thema angekommen: Die bevorstehende Umsetzung der EU-Verbraucherkreditrichtlinie und der Zahlungsdiensterichtlinie in nationales Recht. Das Justizministerium hat vor wenigen Wochen die Ressortabstimmung eingeleitet und möchte das Gesetzgebungsverfahren mit der 2. und 3. Lesung im Bundestag vor der Sommerpause 2009 abgeschlossen haben. Der Gesetzentwurf sieht hauptsächlich Änderungen im BGB und im Einführungsgesetz zum BGB vor. Die öffentlich-rechtlichen Regelungen zur Zahlungsdiensterichtlinie, insbesondere zur Zulassung von Zahlungsdiensteanbietern und zur Aufsicht, sollen Gegenstand eines weiteren Gesetzes sein, für das das Finanzministerium federführend ist. Der Regelungsinhalt ist durch die beiden Richtlinien schon weitgehend vorgegeben. An einzelnen Stellen besteht jedoch noch Umsetzungsspielraum. Das Verbraucherschutzministerium wird sich hier für eine möglichst verbraucherfreundliche Gestaltung einsetzen. Aus meiner Sicht sind die folgenden Punkte erwähnenswert: Bei Verbraucherkrediten gibt es eine verbreitete Praxis, Lockvogelangebote mit niedrigen Zinssätzen zu verwenden, die in der Realität keinem oder kaum einem Kreditnehmer gewährt werden.
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Die Verbraucherkreditrichtlinie sieht hingegen vor, dass ein repräsentatives Beispiel gegeben wird. In Großbritannien bestehen Rechtsvorschriften, die Consumer Credit Advertisements Regulations, die vorschreiben, dass der beworbene effektive Jahreszins auf zwei Drittel aller zu erwartenden Vertragsabschlüsse zutreffen muss. Eine solche Regelung kann ich mir auch gut für Deutschland vorstellen. Was den liberalen Briten Recht ist, sollte uns doch billig sein! Verbraucherkredite werden häufig im Paket mit einer Restschuldversicherung abgeschlossen. Die Kosten der Restschuldversicherung stehen oft in keinem angemessenen Verhältnis zum gebotenen Versicherungsschutz. Es sollte gesetzlich unmissverständlich klargestellt werden, dass diese Kosten in die Berechnung der Gesamtkosten des Kredits und somit des effektiven Jahreszinses einbezogen werden müssen. Dies darf nicht nur dann gelten, wenn ohne Abschluss der Restschuldversicherung der Kredit überhaupt nicht gewährt wird, sondern auch dann, wenn dies zu anderen Bedingungen, insbesondere einem höheren Zinssatz führt. Auch zur Vorfälligkeitsentschädigung bei der vorzeitigen Rückzahlung des Kredits wird es voraussichtlich Diskussionen geben. Die Verbraucherkreditrichtlinie kommt dem Verbraucher zwar dadurch entgegen, dass die bislang geltende Drei-Monats-Frist für eine Kündigung durch den Kreditnehmer wegfällt. Gleichzeitig hat die Richtlinie aber eine Pflicht zur Vorfälligkeitsentschädigung geschaffen, die nach geltendem deutschem Recht bei Krediten ohne grundpfandrechtliche Sicherung nicht bestand. Um eine unangemessene Benachteiligung der Verbraucher zu vermeiden, sollten wir uns bei der Richtlinienumsetzung an der untersten Grenze des europarechtlich Zulässigen bewegen. Der Gesetzgeber sollte von der Option Gebrauch machen, wonach eine Vorfälligkeitsentschädigung nicht fällig ist, wenn der vorzeitig zurückgezahlte Betrag unter dem Schwellenwert von 10.000 € liegt. Der Gesetzentwurf regelt außerdem Zahlungsdienste wie Überweisungen, Lastschriften und Kartenzahlungen. Die Haftung beim Missbrauch von Bank- und Kreditkarten wird erstmals gesetzlich geregelt. Dies ist vor dem Hintergrund zunehmender Missbrauchsfälle und erfindungsreicher Manipulationen auch dringend nötig. Hier ist es Aufgabe des Gesetzgebers, eine angemessene Risikoverteilung zwischen Kartenaussteller und Karteninhaber vorzunehmen.
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Besonderes Fingerspitzengefühl ist erforderlich, wenn es darum geht, inwieweit die vom Kartenaussteller vorgegebenen Nutzungsbedingungen zu einer Haftung des Karteninhabers führen. Aus verbraucherpolitischer Sicht wäre es nicht hinnehmbar, wenn der Kartenaussteller durch besonders einfallsreiche und kaum erfüllbare Nutzungsbedingungen jegliches Haftungsrisiko auf den Karteninhaber abwälzen könnte.
V. Schluss Meine Damen und Herren, ich hoffe auf Ihre Zustimmung und Unterstützung zu den geschilderten verbraucherpolitischen Anliegen bei Finanzdienstleistungen. Ich bin davon überzeugt, dass mit transparenten Marktbedingungen und fairen Angeboten auf längere Sicht beiden Seiten gedient ist: den Verbrauchern und der Wirtschaft. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche dem Bankrechtstag 2008 viele interessante Vorträge und fruchtbare Diskussionen!
1. Abteilung Verbraucherschutz im Kreditgeschäft Moderation: Dr. Rainer Metz Unterabteilungsleiter beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Berlin
Finanzierte Immobiliengeschäfte in der aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung Barbara Mayen Richterin am Bundesgerichtshof, Karlsruhe
I.
Einführung.........................................................................................................12
II.
Ausgangslage ....................................................................................................12 1. Fallkonstellation .........................................................................................12 2. Art der geltend gemachten Einwendungen.................................................13 3. Situation der Rechtsprechung bis Frühjahr 2006........................................14 a) Nationalrechtlicher Hintergrund ..........................................................14 b) Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs vom 25. Oktober 2005 .................................................................................16
III. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit April 2006..................................17 1. Einführung..................................................................................................17 2. Geklärte Rechtsfragen zu Einwendungen aus dem RBerG und §§ 4, 6 VerbrKrG.................................................................................18 a) Einwendungen aus dem RBerG ...........................................................18 b) Einwendungen aus §§ 4, 6 VerbrKrG..................................................19 c) Ergebnis ...............................................................................................19 3. Rückabwicklung bei verbundenen Geschäften in Fällen eines Widerrufs des Darlehensvertrags nach dem HWiG und bei arglistiger Täuschung des Anlegers............................................................19 a) Einführung ...........................................................................................19 b) Voraussetzungen eines verbundenen Geschäfts im Sinne des § 9 Abs. 1 VerbrKrG ...........................................................................20 c) Rückabwicklungsmöglichkeiten bei verbundenen Geschäften............22 d) Ergebnis: Rechte des Anlegers bei verbundenen Geschäften ..............28 4. Rückabwicklung in Fällen, in denen kein verbundenes Geschäft vorliegt, insbesondere also beim Realkreditvertrag im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG .........................................................................28 5. Mögliche Schadensersatzansprüche der Anleger, die zu einer Risikoverlagerung auf das Kreditinstitut führen können ............................30 a) Einführung ...........................................................................................30 b) Schadensersatzanspruch aus Verschulden bei Vertragsschluss wegen unterbliebener Widerrufsbelehrung..........................................31 c) Beweiserleichterungen bei institutionalisiertem Zusammenwirken ................................................................................32 IV. Zusammenfassung – Gesamtkonzept der Rechtsprechung................................37
Barbara Mayen
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I.
Einführung
Gescheiterte Immobilienfinanzierungen beschäftigen die Justiz seit einigen Jahren in einem außerordentlichen Umfang. Dabei geht es sowohl um den finanzierten Erwerb von Immobilien als auch um finanzierte Beitritte zu Immobilienfondsgesellschaften. Ausgangspunkt der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu diesem Themenkomplex sind zwei Urteilsserien vom 25. April 20061 und 16. Mai 2006,2 auf deren Grundlage der Bundesgerichtshof seitdem judiziert. Wie im folgenden Beitrag näher erläutert werden soll, stellen sich diese Urteile als ein Gesamtkonzept dar, mit dem für die Fälle des finanzierten Erwerbs von Gründstücken und Fondsanteilen so weit wie möglich miteinander harmonisierte Lösungen für die verschiedenen Konstellationen entwickelt worden sind. Da die dem Bundesgerichtshof bislang unterbreiteten Fälle sämtlich „Altfälle“ waren, die noch dem Verbraucherkreditgesetz (im Folgenden: VerbrKrG) und dem Haustürwiderrufsgesetz (im Folgenden: HWiG) unterfielen, betrifft auch dieser Beitrag allein dem VerbrKrG und dem HWiG unterfallende Sachverhalte.
II. Ausgangslage 1. Fallkonstellation Die hier in Rede stehenden finanzierten Immobiliengeschäfte zeichnen sich durch folgende typische Merkmale aus: − Es handelt sich jeweils um Immobilienkäufe oder Beteiligungen an Immobilienfonds, die die Anleger – oft gerade auch Bezieher mittlerer
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XI ZR 193/04, BGHZ 167, 252-268 = WM 2006, 1003-1008 = ZIP 2006, 940946 = NJW 2006, 1788-1792 = BKR 2006, 237-242; XI ZR 219/04 = WM 2006, 1060-1066 = ZIP 2006, 1088-1095 = NJW 2006, 1957-1960 = BKR 2006, 323-329; XI ZR 29/05 = BGHZ 167, 223-238 = WM 2006, 1008-1013 = ZIP 2006, 987-992 = NJW 2006, 1952-1955 = BKR 2006, 329-333; XI ZR 106/05 = BGHZ 167, 239-252 = WM 2006, 1066-1071 = ZIP 2006, 1084-1088 = NJW 2006, 1955-1957 = BKR 2006, 333-337. XI ZR 6/04, BGHZ 168, 1-27 = WM 2006, 1194-1202 = ZIP 2006, 1187-1196 = NJW 2006, 2099-2106 = BKR 2006, 337-345.
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und kleinerer Einkommen – überwiegend zu Steuersparzwecken vornahmen. Typischerweise wurden die Anleger durch einen Vermittler geworben, der sie in vielen Fällen zu Hause aufsuchte. Oft wurde ein Treuhand- oder Geschäftsbesorgungsvertrag abgeschlossen und dem Geschäftsbesorger eine umfassende Vollmacht für mannigfache Geschäfte erteilt. Zur Finanzierung des Erwerbs wurden Kredite bei Banken und Sparkassen aufgenommen, die oft über den selben Vermittler vermittelt wurden, der auch die Anlage vermittelt hatte. Nachdem die Anlagegeschäfte in vielen Fällen die Erwartung der Anleger nicht erfüllten, versuchen diese, sich möglichst ohne Schaden aus dem finanziellen Engagement zu lösen. Hierbei nehmen sie insbesondere auch die finanzierenden Kreditinstitute in Anspruch, da diese (anders als manch anderer an diesen Geschäften Beteiligter) Solvenz garantieren.3 2. Art der geltend gemachten Einwendungen
Die Anleger berufen sich typischerweise auf bestimmte Einwendungen: Sie machen Schadensersatzansprüche gegen das finanzierende Kreditinstitut aus zugerechnetem oder eigenem Aufklärungsverschulden geltend. Viele der Klagen sind auf die Verletzung von Hinweispflichten durch das Kreditinstitut gestützt und insbesondere auf die Behauptung, der Vermittler habe die Anleger in der finanzierenden Bank zurechenbarer Weise durch unwahre Angaben zum Erwerbsgeschäft bewogen. Weitere Einwendungen resultieren aus dem VerbrKrG. In erster Linie geht es um die mögliche Formunwirksamkeit des Darlehensvertrages gemäß §§ 4, 6 VerbrKrG und um die Frage, ob der Anleger der finanzierenden Bank im Wege des Einwendungsdurchgriffs gemäß § 9 Abs. 3 VerbrKrG mit Erfolg Einwendungen aus dem Erwerbsgeschäft entgegen halten kann. Andere Einwendungen folgen aus dem HWiG, mit dessen Hilfe die Anleger nach Widerruf ihrer Vertragserklärungen die Rückabwicklung der Verträge erstreben.
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Bülow, WuB I G 5. – 6.06; Geisler, jurisPR-BGHZivilR 10/2007 Anm. 1.
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Schließlich werden Einwendungen aus dem Rechtsberatungsgesetz (im Folgenden: RBerG) erhoben. Im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu wegen Verstoßes gegen das RBerG unwirksamen Treuhandverträgen4 berufen sich die Anleger auf die Unwirksamkeit der umfassenden Treuhändervollmachten wegen Verstoßes dieser Vollmachten gegen das RBerG und damit zugleich auf die Unwirksamkeit der durch die Treuhänder für sie abgegebenen Erklärungen. 3. Situation der Rechtsprechung bis Frühjahr 2006 Die beiden Urteilsserien des Bundesgerichtshofs aus dem Frühjahr 2006 standen vor einem nationalrechtlichen und vor einem gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund. a) Nationalrechtlicher Hintergrund Es hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt im Bundesgerichtshof zwei Rechtsprechungsstränge entwickelt. Zum einen handelte es sich um die Rechtsprechung des für das Darlehensrecht zuständigen XI. Zivilsenats zum realkreditfinanzierten Wohnungserwerb und Fondsbeitritt. Zum anderen gab es – ausgehend von einer Urteilsserie vom 14. Juni 20045 – seit dem Jahr 2004 hinsichtlich der Fondsbeitritte die zum Teil erheblich hiervon abweichende Rechtsprechung des für das Gesellschaftsrecht zuständigen II. Zivilsenats. Zusammengefasst führte die Rechtsprechung der beiden Senate zu den verschiedenen vorgebrachten Einwendungen zu folgenden unterschiedlichen Ergebnissen: Nach der Rechtsprechung des XI. Zivilsenats zum realkreditfinanzierten Wohnungskauf und Fondsbeitritt − konnte der Darlehensnehmer der Bank keine Einwendungen aus dem Kaufgeschäft im Wege des Einwendungsdurchgriffs entgegen halten. − Im Falle eines Haustürgeschäfts konnte er sich zwar vom Darlehensvertrag lösen, blieb aber regelmäßig zur Rückzahlung des Kredits ver4 5
Ausgehend von BGH, Urteil vom 28. September 2000 – IX ZR 279/99, BGHZ 145, 265, 270 f. BGHZ 159, 280 ff.; BGHZ 159, 294 ff.; II ZR 392/01, WM 2004, 1518 ff., II ZR 374/02, WM 2004, 1525 ff.; II ZR 407/02, WM 2004, 1536 ff.
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pflichtet und konnte die Bank nicht auf die finanzierte Wohnung verweisen, da die Regelungen über verbundene Geschäfte bei Realkrediten im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG nicht anwendbar sind. − Dem Einwand, der Darlehensvertrag sei unwirksam wegen Verstoßes der Treuhändervollmacht gegen das RBerG, stand bei Vorlage der Vollmacht die Rechtsscheinhaftung nach §§ 171 ff. BGB entgegen. − Formmängel des Darlehensvertrags nach § 4 VerbrKrG hatten auch in Fällen, in denen die Darlehensvaluta nicht an den Darlehensnehmer selbst, sondern vereinbarungsgemäß an einen Dritten – etwa den Treuhänder – ausgezahlt wurde, nicht die Unwirksamkeit des Darlehensvertrags zur Folge (Heilung nach § 6 Abs. 2 VerbrKrG). Abweichend hiervon hatte der Verbraucher nach Auffassung des II. Zivilsenats bei Fondsbeitritten verschiedene Möglichkeiten, sich von seinem Kreditengagement zu lösen, ohne zur Rückzahlung der Darlehensvaluta verpflichtet zu sein, sofern Fondsbeitritt und Darlehensvertrag verbundene Geschäfte waren. − Der Darlehensnehmer konnte sich gegenüber der Bank bei fehlerhafter Risikoaufklärung über das Anlagegeschäft mit Erfolg auf einen Einwendungsdurchgriff und einen Rückforderungsdurchgriff berufen, und zwar sowohl bei Ansprüchen gegen die Fondsgesellschaft als auch gegen Gründungsgesellschafter, Fondsinitiatoren, maßgebliche Betreiber, Manager und Prospektherausgeber. − Bei Vorliegen eines Haustürgeschäfts hatte die Bank in Fällen eines verbundenen Geschäfts bei der Rückabwicklung nach § 3 HWiG gegen den Darlehensnehmer nur einen Anspruch auf Abtretung der Gesellschaftsbeteiligung, da nach Auffassung des II. Zivilsenats nur diese im Sinne des § 3 HWiG empfangen war, nicht aber auf Rückzahlung der Valuta. − Dies sollte auch in Fällen der Einschaltung eines Treuhänders, dem eine gegen das RBerG verstoßende Treuhändervollmacht erteilt war, der Fall sein, sofern verbundene Geschäfte vorlagen, ohne dass eine Rechtscheinhaftung nach §§ 171 ff. BGB greifen sollte. − Auf den Fondsanteil sollte der Erwerber die Bank auch bei bestimmten Formmängeln nach § 4 VerbrKrG verweisen können. Eine Heilung des Formmangels nach § 6 Abs. 2 VerbrKrG schied nach Auffassung des
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II. Zivilsenats aus, da der Darlehensnehmer die Valuta, die an den Treuhänder ausgezahlt worden war, nicht empfangen habe. Die unterschiedliche Beurteilung der beiden Senate bekam ein zusätzliches Gewicht dadurch, dass der II. Zivilsenat das Vorliegen eines verbundenen Geschäfts im Sinne des § 9 VerbrKrG in wesentlich weitergehendem Umfang 6 als der XI. Zivilsenat annahm. Nach Auffassung des II. Zivilsenats kam die die Anwendung des § 9 VerbrKrG ausschließende Bereichsausnahme des § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG für Realkredite in wesentlich geringerem Umfang zur Anwendung, nämlich nur dann, wenn der Darlehensnehmer selbst das von § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG vorausgesetzte Grundpfandrecht bestellt hatte; die Übernahme eines bereits bestehenden Grundpfandrechts durch den Dar7 lehensnehmer schloss die Annahme eines verbundenen Geschäfts nicht aus. Die Beseitigung dieser Rechtsprechungsdivergenzen war der nationalrechtliche Hintergrund, vor dem die Urteile des XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 25. April und 16. Mai 2006 standen. b) Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs vom 25. Oktober 2005 Die Urteile sind ferner vor einem gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund zu sehen. Zu entscheiden war auch darüber, ob bzw. inwieweit den Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (im Folgenden: EuGH) vom 25. Oktober 20058 Rechnung zu tragen war, die sich mit Fragen der Rückabwicklung von in einer Haustürsituation zustande gekommenen Darlehensverträgen, die im Rahmen eines Kapitalanlagemodells abgeschlossen worden waren, befassten. Der Gerichtshof hat darin in Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen betont, dass die Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (Abl. EG Nr. L 372/31 vom 31. Dezember 1985, „Haustürgeschäfterichtlinie“) es nicht verbietet, den Verbraucher nach Widerruf eines Darlehensvertrages zur sofortigen Rückzahlung der Dar6 7 8
Hierzu BGHZ 161, 15, 26 f. BGHZ 159, 294, 307 f.; BGH, Urteil vom 14. Juni 2004 – II ZR 407/02, WM 2004, 1536, 1540. EuGH, Urteile vom 25. Oktober 2005 – Rs. C-350/03, WM 2005, 2079 ff. Schulte und Rs. C – 229/04, WM 2005, 2086 ff. Crailsheimer Volksbank.
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lehensvaluta zuzüglich marktüblicher Zinsen zu verpflichten, obwohl die Valuta nach dem für die Kapitalanlage entwickelten Konzept ausschließlich der Finanzierung des Erwerbs der Immobilie diente und unmittelbar an deren Verkäufer ausgezahlt wurde. Die Rechtsprechung des XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs zu § 3 HWiG und auch zur Frage des Empfangs der Valuta, die unmittelbar an den Verkäufer oder Treuhänder ausgezahlt worden ist, ist damit in vollem Umfang bestätigt worden. Allerdings hat der Gerichtshof im Weiteren die Auffassung vertreten, der Verbraucher sei durch die Haustürgeschäfterichtlinie vor den Folgen der vom Gerichtshof näher bezeichneten Risiken von Kapitalanlagen der vorliegenden Art zu schützen, die er im Falle einer ordnungsgemäßen Widerrufsbelehrung der kreditgebenden Bank hätte vermeiden können.9
III. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit April 2006 1. Einführung Ausgangspunkt der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den kreditfinanzierten Immobiliengeschäften sind die beiden genannten Urteilsserien vom 25. April und 16. Mai 2006, mit denen zuvor kontrovers diskutierte Rechtsfragen geklärt wurden, und auf deren Grundlage der Bundesgerichtshof seitdem judiziert. Die Urteile vom 25. April 2006 betrafen Fondsbeitritte und die Urteile vom 16. Mai 2006 auf Grund einer Haustürsituation zustande gekommene, realkreditfinanzierte Immobilienerwerbe. Beide Urteilsserien stehen jedoch in engem Zusammenhang. Durch ihr Zusammenspiel und weitere, auf ihnen aufbauende Urteile ist ein Gesamtsystem für die Rückabwicklung finanzierter Immobiliengeschäfte geschaffen worden, bei dem die wesentlichen Rechtsfolgen nicht mehr maßgeblich davon abhängen, ob die Anleger – was oft mehr oder weniger zufällig war – für den Erwerb eines Fondsanteils oder für den Erwerb einer Eigentumswohnung geworben worden waren. Entscheidend für die Erfolgsaussichten der Anleger ist nun, auf welche Art von Einwendungen sie sich berufen.
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EuGH, Urteile vom 25. Oktober 2005 – Rs. C-350/03, WM 2005, 2079, 2086. Schulte und Rs. C – 229/04, WM 2005, 2086, 2089 Crailsheimer Volksbank.
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2. Geklärte Rechtsfragen zu Einwendungen aus dem RBerG und §§ 4, 6 VerbrKrG Durch die Urteile vom 25. April 2006 wurde geklärt, dass der Erfolg von auf das RBerG und auf die §§ 4, 6 VerbrKrG gestützten Einwendungen sowohl beim finanzierten Erwerb einer Eigentumswohnung als auch beim finanzierten Erwerb eines Immobilienfondsanteils nicht davon abhängt, ob Darlehensvertrag und Anlagegeschäft ein verbundenes Geschäft im Sinne des § 9 VerbrKrG sind. a) Einwendungen aus dem RBerG In den Fällen, in denen mit umfassenden Vollmachten ausgestattete Treuhänder eingeschaltet worden waren, die über keine Erlaubnis nach dem RBerG verfügten, gilt – wie schon zuvor mit Urteil vom 26. Oktober 2004 vom XI. Zivilsenat für die Kreditfinanzierung von Immobilien entschieden10 – auch bei kreditfinanzierten Immobilienfondsbeteiligungen, dass die Rechtsscheinvorschriften der §§ 171, 172 ff. BGB anwendbar sind, ohne dass es auf die Frage ankommt, ob Fondsbeitritt und finanzierender Darlehensvertrag ein verbundenes Geschäft bilden. Die §§ 171 ff. BGB gelten daher sowohl bei Fondsbeitritten, die mit dem Darlehensvertrag ein verbundenes Geschäft bilden, als auch bei Fondsbeitritten, bei denen das nicht der Fall ist, etwa weil der Beitritt durch einen Realkreditvertrag im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG finanziert worden ist.11 An seiner zuvor vertretenen Auffassung, nach welcher im Falle eines verbundenen Geschäfts der Rechtsschein einer wirksamen Vollmacht dem einzelnen Anleger mangels eines Vertrauensverhältnisses zwischen Treuhänder und Anleger nicht gemäß §§ 171 ff. BGB zugerechnet werden sollte,12 hat der II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs nicht festgehalten.13
10 BGHZ 161, 15, 24 f.; ebenso: BGH, Urteil vom 17. Juni 2005 – V ZR 78/04, WM 2005, 1764, 1766. 11 BGHZ 167, 223, 229, 232 f., Tz. 18, 24 ff.; BGH, Urteil vom 25. April 2006 – XI ZR 219/04, WM 2006, 1060, 1062, Tz. 18 ff. 12 BGHZ 159, 294, 300 ff. und BGH, Urteil vom 14. Juni 2004 – II ZR 407/02, WM 2004, 1536, 1538. 13 Vgl. BGHZ 167, 223, 238, Tz. 41.
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b) Einwendungen aus §§ 4, 6 VerbrKrG Geklärt ist auch einvernehmlich, dass die Frage der Heilung von Formmängeln des Vertrags im Sinne der §§ 4, 6 VerbrKrG unabhängig von der Frage ist, ob Darlehensvertrag und Anlagevertrag ein verbundenes Geschäft sind. Bei Formmängeln nach § 4 VerbrKrG tritt eine Heilung durch Empfang des Darlehens nach § 6 Abs. 2 VerbrKrG auch dann ein, wenn dem Verbraucher die Darlehensvaluta nicht direkt zugeflossen ist.14 Es ist ausreichend, wenn sie vertragsgemäß unmittelbar an den Treuhänder zum Erwerb des Fondsanteils ausgezahlt worden ist. Ebenso wie bei der Frage der Anwendbarkeit der §§ 171 ff. BGB spielt es insoweit keine Rolle, ob Fondsbeitritt und Darlehensvertrag ein verbundenes Geschäft nach § 9 VerbrKrG darstellen. Die Frage des Empfangs des Darlehens ist vielmehr in beiden Fällen gleich zu behandeln, die weisungsgemäße Auszahlung an einen Dritten also auch bei verbundenen Geschäften ausreichend. Dies entspricht der einhelligen Meinung der Kommentarliteratur zu § 6 Abs. 2 VerbrKrG bzw. jetzt § 494 Abs. 2 Satz 1 BGB. Auch der EuGH hat nach europäischen Vorgaben in diesen Fällen einen Empfang des Darlehens angenommen.15 c) Ergebnis Für die Fälle, in denen die Anleger Einwendungen aus dem RBerG und Wirksamkeitseinwendungen aus den §§ 4, 6 VerbrKrG erheben, ergeben sich keine Vorteile mehr für sie, wenn Darlehensvertrag und Anlagegeschäft ein verbundenes Geschäft bilden. 3. Rückabwicklung bei verbundenen Geschäften in Fällen eines Widerrufs des Darlehensvertrags nach dem HWiG und bei arglistiger Täuschung des Anlegers a) Einführung Anders als bei den dargestellten Einwendungen nach dem RBerG und nach §§ 4, 6 VerbrKrG, kommt es in Fällen, in denen die Anleger den Dar14 BGHZ 167, 223, 235 ff., Tz. 33 ff.; 239, 244 ff., Tz. 15 ff.; 252, 263 ff., Tz. 30 ff.; BGH, WM 2006, 1060, 1064 f., Tz. 36 ff. 15 EuGH, WM 2005, 2079, 2085.
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lehensvertrag nach § 1 HWiG wirksam widerrufen haben, und auch in Fällen, in denen sie durch falsche Angaben zum Anlagegeschäft bewogen worden sind, nach der aktuellen Rechtsprechung des BGH demgegenüber maßgeblich auf die Frage an, ob Darlehensvertrag und Anlagegeschäft verbundene Geschäfte sind. b) Voraussetzungen eines verbundenen Geschäfts im Sinne des § 9 Abs. 1 VerbrKrG aa) Die Bereichsausnahme des § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG Die Annahme eines verbundenen Geschäfts kommt nur in Betracht bei Krediten, für die die Bereichsausnahme des § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG nicht greift. Für Realkredite im Sinne dieser Vorschrift gelten die Vorschriften über verbundene Geschäfte im Sinne des § 9 Abs. 1 VerbrKrG nicht. Voraussetzung des § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG ist, dass der Kredit zu für grundpfandrechtlich gesicherte Kredite üblichen Bedingungen gewährt16 und von der Sicherung durch ein Grundpfandrecht abhängig gemacht worden ist. Nach seit dem 25. April 2006 einvernehmlicher Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs greift § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG auch dann ein, wenn das Grundpfandrecht nicht vom Verbraucher, sondern von einem Dritten bestellt worden ist und der Verbraucher es lediglich (teilweise) übernommen hat.17 Dies hatte der XI. Zivilsenat bereits zuvor für Kreditverträge zur Finanzierung des Erwerbs von Immobilien entschieden.18 Es gilt nun gleichermaßen für kreditfinanzierte Immobilienfondsbeitritte, nachdem der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs an seiner abweichenden Ansicht19 nicht festgehalten hat.20 Damit greift nun – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – die Bereichsausnahme des § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG unabhängig von der Frage, ob der Kredit der Finanzierung eines Eigentums16 Vgl. etwa BGH, Urteile vom 18. März 2003 – XI ZR 422/01, WM 2003, 916 und vom 25. April 2006 – XI ZR 219/04, WM 2006, 1060, 1066, Tz. 50, entscheidend sind insbesondere die Zinshöhe und die sonstigen Kreditkonditionen. 17 BGHZ 167, 223, 229, Tz. 20 ff.; BGH, Urteil vom 25. April 2006 – XI ZR 219/04, WM 2006, 1060, 1065 f., Tz. 46 ff. 18 BGHZ 161, 15, 26 f. 19 BGHZ 159, 294, 307 f.; siehe auch oben bei Fn. 7. 20 BGHZ 167, 223, 238, Tz. 41.
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erwerbs oder eines Fondsbeitritts dient, auch in all den Fällen, in denen der Anleger ein bestehendes Grundpfandrecht übernimmt mit der Folge, dass auch in all diesen Fällen die Annahme eines verbundenen Geschäfts ausscheidet. bb) Verbundenes Geschäft im Sinne des § 9 VerbrKrG Ein verbundenes Geschäft im Sinne § 9 Abs. 1 VerbrKrG liegt vor, wenn der Kredit der Finanzierung des Kaufpreises dient und beide Verträge als wirtschaftliche Einheit anzusehen sind. Eine wirtschaftliche Einheit wird nach § 9 Abs. 1 Satz 2 VerbrKrG unwiderleglich vermutet, wenn der Kreditgeber sich bei der Vorbereitung oder dem Abschluss des Kreditvertrages der Mitwirkung des Verkäufers bedient. Dies ist nach der seit jeher übereinstimmenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs21 der Fall, wenn der Kreditvertrag nicht aufgrund eigener Initiative des Kreditnehmers zustande kommt, sondern deshalb, weil der Vertriebsbeauftragte des Anlagevertreibers dem Interessenten zugleich mit den Anlageunterlagen einen Kreditantrag des Finanzierungsinstituts vorgelegt hat, das sich zuvor dem Anlagevertreiber gegenüber zur Finanzierung bereit erklärt hatte.22 Bei Fehlen einer Finanzierungszusage reicht unter Umständen auch ein sich aus anderen Umständen ergebendes planmäßiges und arbeitsteiliges Zusammenwirken aus.23 Zwingende Voraussetzung einer unwiderleglichen Vermutung ist jedoch, dass der finanzierenden Bank das Zusammenwirken des für sie tätigen Vermittlers mit dem Verkäufer positiv bekannt ist.24 Sofern die Voraussetzungen für eine unwiderlegliche Vermutung nicht vorliegen, kann sich auch aus einer Gesamtschau der Indizien im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 VerbrKrG ergeben, dass ein verbundenes Geschäft vorliegt. Indizien hierfür können etwa eine Zweckbindung des Darlehens, der zeit-
21 BGHZ 156, 46 ff. und BGH, Urteil vom 23. September 2003 – XI ZR 135/02, WM 2003, 2232 ff. 22 BGHZ 156, 46, 51; BGH, Urteil vom 23. September 2003 – XI ZR 135/02, WM 2003, 2232, 2234. 23 BGH, Urteil vom 19. Juni 2007 – XI ZR 142/05, WM 2007, 1456, 1458, Tz. 19. 24 BGH, Urteil vom 19. Juni 2007 – XI ZR 142/05, WM 2007, 1456, 1458, Tz. 20.
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gleiche Abschluss der Verträge und konkrete wechselseitige Hinweise auf den jeweils anderen Vertrag sein.25 c) Rückabwicklungsmöglichkeiten bei verbundenen Geschäften Erweisen sich Darlehensvertrag und Anlagegeschäft als verbundene Geschäfte, so haben die aufgrund einer Haustürsituation oder durch arglistige Täuschung zum Erwerbsgeschäft bewogenen Anleger nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs weitgehende Möglichkeiten, sich von den Kreditverpflichtungen zu lösen. aa) Nach HWiG widerrufene Darlehensverträge Nach einem Widerruf aufgrund des HWiG steht der Bank bei einem verbundenen Geschäft kein Zahlungsanspruch gegen den Darlehensnehmer in Höhe des Darlehenskapitals zu. Sie ist ihrerseits verpflichtet, an den Darlehensnehmer auf das Darlehen geleistete Zahlungen zurückzuerstatten. Dieser muss im Gegenzug nur seine Fondsbeteiligung bzw. seine Rechte daraus an die kreditgebende Bank abtreten.26 Zwar hat ein Darlehensnehmer die Valuta im Fall des Widerrufs nach dem HWiG grundsätzlich nach § 3 HWiG zurückzuzahlen. Das Widerrufsrecht soll nämlich seine rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit gewährleisten, nicht jedoch das wirtschaftliche Risiko der Darlehensverwendung auf den Darlehensgeber abwälzen. Es entspricht jedoch seit der sogenannten „Securenta-Rechtsprechung“ aus dem Jahr 199627 seit jeher auch der Rechtsprechung des XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, dass eine andere Beurteilung unter anderem dann geboten ist, wenn der Darlehensvertrag und das finanzierte Geschäft ein verbundenes Geschäft bilden mit der Folge, dass der Widerruf des Darlehensvertrages zugleich auch der Wirksamkeit des finanzierten Geschäfts entgegensteht. In diesem Fall erfordert der Zweck der gesetzlichen Widerrufsregelung eine Auslegung des § 3 HWiG dahin, dass dem Darlehensgeber nach dem Widerruf kein Zahlungsanspruch gegen den Darlehensnehmer in Höhe des Darlehenskapitals zusteht. Der Zweck der 25 Einzelheiten siehe BGH, Urteil vom 18. Dezember 2007 – XI ZR 324/06, WM 2008, 967, 969, Tz. 24 ff. 26 BGHZ 167, 252, 256 f., Tz. 12. 27 BGHZ 133, 254, 259 ff.
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gesetzlichen Widerrufsregelung besteht nämlich darin, dem Kunden innerhalb einer angemessenen Überlegungsfrist frei und ohne Furcht vor finanziellen Nachteilen die Entscheidung zu ermöglichen, ob er an seinen Verpflichtungserklärungen festhalten will oder nicht. Die Rückabwicklung hat in diesem Falle daher unmittelbar zwischen dem Kreditgeber und dem Partner des finanzierten Geschäfts zu erfolgen.28 Der Anleger muss sich lediglich die aus der Fondsbeteiligung erlangten Erträge abziehen lassen29 und – wie mit Urteil vom 24. April 2007 entschieden – die ihm endgültig verbleibenden Steuervorteile.30 Zwar ist die Anrechnung von Steuervorteilen im Wege der Vorteilsausgleichung eigentlich ein Institut des Schadensersatzrechts. Ausnahmsweise ist dieser Rechtsgedanke hier jedoch aus Billigkeitsgründen entsprechend anzuwenden. Es wäre nicht mit dem Sinn und Zweck des § 3 HWiG zu vereinbaren, wenn der Anleger nach Rückabwicklung der kreditfinanzierten Fondsbeteiligung besser stünde als er ohne diese Beteiligung gestanden hätte. Daher mindern in Fällen der Rückabwicklung nach § 3 HWiG31 unverfallbare und nicht anderweitig erzielbare Steuervorteile seinen Rückzahlungsanspruch gegen die Bank. Entscheidend ist, dass diese Vorteile dem Anleger endgültig verbleiben und die Ersatzleistung nicht ihrerseits zu versteuern ist.32 Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass bei einem Widerruf des Darlehensvertrags nach dem HWiG, der mit dem Anlagegeschäft ein verbundenes Geschäft bildet, das wirtschaftliche Risiko des Anlagegeschäfts auf die finanzierende Bank verlagert wird.
28 BGHZ 133, 254, 259 ff.; 152, 331, 337; BGH, Urteile vom 17. September 1996 – XI ZR 197/95, WM 1996, 2103, 2104 f. und vom 26. November 2002 – XI ZR 10/00, WM 2003, 64, 66; BGH, Beschlüsse vom 16. September 2003 – XI ZR 447/02, WM 2003, 2184, 2186 und vom 23. September 2003 – XI ZR 325/02, WM 2003, 2186, 2187. 29 BGHZ 167, 252, 267 f., Tz. 41. 30 BGHZ 172, 147, 152 ff., Tz. 20 ff. 31 Anwendbarkeit der Rechtsprechung auf Bereicherungsansprüche nach §§ 812 ff. BGB offengelassen: BGH, Urteil vom 4. Dezember 2007 – XI ZR 227/06, WM 2008, 244, 247, Tz. 34. 32 BGHZ 172, 147, 156, Tz. 29; BGH, Urteile vom 3. Dezember 2007 – II ZR 21/06, WM 2008, 391, 394, Tz. 27 und vom 30. November 2007 – V ZR 284/06, WM 2008, 350, 351, Tz. 11.
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bb) Rückabwicklung bei arglistiger Täuschung des Anlegers Dasselbe gilt seit der Urteilsserie des Bundesgerichtshofs vom 25. April 2006 für Anleger, die durch arglistige Täuschung zum Anlagegeschäft bewogen worden sind.33 Auch sie haben in Fällen eines verbundenen Geschäfts weitgehende Möglichkeiten, sich von den Kreditverpflichtungen zu lösen. Hierbei stehen ihnen drei Möglichkeiten zu: (1) Einwendungsdurchgriff Ergibt sich, dass der Vermittler den Anleger über die Fondsbeteiligung arglistig getäuscht hat, so ist der Anleger, sofern er sein Recht nicht verwirkt hat,34 nach der Entscheidung des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 21. Juli 200335 zur jederzeitigen fristlosen Kündigung der Fondsbeteiligung berechtigt und kann die Auszahlung seines Abfindungsguthabens verlangen. Bei einem verbundenen Geschäft kann er dieses Recht auch der finanzierenden Bank entgegensetzen und die Rückzahlung des Kredits gemäß § 9 Abs. 3 Satz 1 VerbrKrG verweigern, soweit ihm gegen die Fondsgesellschaft ein Abfindungsanspruch zusteht. Dieser Rechtsprechung des II. Zivilsenats36 hat sich der XI. Zivilsenat angeschlossen, soweit sie Ansprüche des Anlegers gegen die Fondsgesellschaft betrifft.37 Anders als zuvor kann der Anleger dem Rückzahlungsverlangen der Bank im Wege des Einwendungsdurchgriffs nach § 9 Abs. 3 VerbrKrG jedoch nach nunmehr einvernehmlicher Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs keine Ansprüche gegen Gründungsgesellschafter, Fondsinitiatoren, maßgebliche Betreiber, Manager und Prospektherausgeber entgegensetzen, weil bei diesen Personen der nach § 9 VerbrKrG notwendige Finanzierungszusammenhang nicht besteht.38 Bei einer arglistigen Täuschung durch diese Personen kommt allerdings – worauf noch zurückzukommen sein wird39 – gegebenenfalls ein Schadensersatzanspruch 33 34 35 36 37 38
BGHZ 167, 239, 249 ff., Tz. 26 ff. Vgl. BGHZ 156, 46, 53. BGHZ 156, 46, 50, 51. BGHZ 156, 46, 50 ff. BGHZ 167, 239, 249 f., Tz. 27 f. BGHZ 167, 239, 250, Tz. 28; BGH, Urteile vom 24. April 2007 – XI ZR 340/05, WM 2007, 1257, 1259, Tz. 27 und vom 5. Juni 2007 – XI ZR 348/05, WM 2007, 1367, 1368, Tz. 12. 39 Siehe unten III 5 c) bb) bei Fn. 74.
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gegen die Bank aus eigenem Aufklärungsverschulden in Betracht, sofern sie mit den außerhalb des Verbunds Stehenden in institutionalisierter Art und Weise zusammengewirkt hat.40 (2) Anfechtung des Anlagevertrags und des Darlehensvertrags nach § 123 BGB Die Rechte des Anlegers und Darlehensnehmers erschöpfen sich bei dessen arglistiger Täuschung durch den Vermittler über das Anlagegeschäft, wenn dieses mit dem Darlehensvertrag ein verbundenes Geschäft bildet, aber nicht in den genannten Rechten gegen die Fondsgesellschaft, die gemäß § 9 Abs. 3 Satz 1 VerbrKrG der kreditgebenden Bank entgegengehalten werden können. Der Kreditnehmer kann in einem solchen Fall vielmehr auch den mit dem Anlagevertrag gemäß § 9 Abs. 1 VerbrKrG verbundenen Darlehensvertrag als solchen nach § 123 BGB anfechten, wenn die Täuschung auch für dessen Abschluss kausal war, denn der Vermittler sowohl des Anlagegeschäfts als auch des Darlehensvertrags ist für die kreditgebende Bank bei einem verbundenen Geschäft nicht Dritter i.S. von § 123 Abs. 2 BGB.41 (3) Schadensersatzanspruch aus vorsätzlicher culpa in contrahendo Anstelle der Anfechtung auch des Darlehensvertrages kann der über das Erwerbsgeschäft arglistig getäuschte Anleger und Kreditnehmer bei einem verbundenen Vertrag im Falle eines Vermögensschadens außerdem einen Schadensersatzanspruch aus vorsätzlichem Verschulden bei Vertragsschluss gegen die kreditgebende Bank geltend machen. Denn diese muss sich bei einem verbundenen Geschäft im Sinne des § 9 Abs. 1 VerbrKrG die das Anlagegeschäft betreffende arglistige Täuschung des Vermittlers nach der Wertung des § 123 BGB zurechnen lassen.42 Zuzurechnen ist allerdings nur eine vorsätzliche Täuschung des Anlegers durch den Vermittler, wie sie
40 BGH, Urteil vom 21. November 2006 – XI ZR 347/05, WM 2007, 200, 202, Tz. 29. 41 BGHZ 167, 239, 250 f., Tz. 29. 42 BGHZ 167, 239, 251, Tz. 30; BGH, Urteile vom 21. November 2006 – XI ZR 347/05, WM 2007, 200, 202, Tz. 28, vom 5. Juni 2007 – XI ZR 348/05, WM 2007, 1367, 1368 f., Tz. 14, 21 und vom 19. Juni 2007 – XI ZR 142/05, WM 2007, 1456, 1459, Tz. 24 ff.
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§ 123 BGB voraussetzt. Fahrlässigkeit genügt nicht.43 Hat der Vermittler über die Risiken des Anlagegeschäfts nicht ausreichend aufgeklärt, ist also notwendig, dass dies vorsätzlich geschehen ist.44 Bei der Beurteilung, ob dem Vermittler Vorsatz zur Last fällt, ist zu beachten, dass ein Rechtsirrtum nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Vorsatz ausschließt.45 Sofern die Voraussetzungen einer vorsätzlichen culpa in contrahendo vorliegen, ist der Anleger und Kreditnehmer nach dem Grundsatz der Naturalrestitution (§ 249 Satz 1 BGB) so zu stellen, wie er ohne die Täuschung gestanden hätte. Nach der Lebenserfahrung ist davon auszugehen, dass er das Anlagegeschäft dann nicht getätigt hätte46 und deshalb auch den Kredit nicht aufgenommen hätte. Der Anleger muss den Kredit deshalb nicht zurückzahlen, sondern nur seinen Fondsanteil an die kreditgebende Bank abtreten bzw. nach dessen Kündigung seinen Abfindungsanspruch. Die Bank schuldet ihrerseits die Rückerstattung von Zins- und Tilgungsleistungen an den Kreditnehmer und Anleger, wobei allerdings die nach dem Prinzip der Vorteilsausgleichung anzurechnenden Fondsausschüttungen und etwaige Steuerersparnisse, die der Anleger erzielt hat, abzuziehen sind.47 cc) Rückforderungsdurchgriff Weitgehend geklärt ist mittlerweile auch die in diesem Zusammenhang unter dem Stichwort „Rückforderungsdurchgriff“ diskutierte Frage, ob der Anleger im Falle eines verbundenen Geschäfts sein Geld zurückerhält, sofern er bereits gezahlt hatte. Der II. Zivilsenat hatte einen Rückforderungsdurchgriff in entsprechender Anwendung des § 9 Abs. 2 Satz 4 VerbrKrG bejaht,48 der XI. Zivilsenat hatte die Frage, ob und inwieweit ein Rückforderungsdurchgriff möglich ist, zunächst offen gelassen.49 In den meisten Fällen der vorbezeichneten Art stellt 43 BGH, Urteile vom 5. Juni 2007 – XI ZR 348/05, WM 2007, 1367, 1369, Tz. 21 und vom 11. März 2008 – XI ZR 381/07, Tz. 20, zitiert nach juris. 44 BGH, Urteil vom 11. März 2008 – XI ZR 381/07, Tz. 20, zitiert nach juris. 45 BGH, Urteil vom 5. Juni 2007 – XI ZR 348/05, WM 2007, 1367, 1369, Tz. 21. 46 BGHZ 124, 151, 159 f.; BGHZ 167, 239, 251, Tz. 31. 47 BGHZ 167, 239, 251 f., Tz. 31. 48 BGHZ 156, 46, 54 ff. 49 Vgl. BGH, Urteil vom 4. Dezember 2007 – XI ZR 227/06, WM 2008, 244, 246, Tz. 30 m.w.Nachw.
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sich das Problem bei Zugrundelegung der Rechtsprechung vom 25. April 2006 nicht mehr. Da – wie zuvor gezeigt – der arglistig getäuschte Darlehensnehmer im Wege der Naturalrestitution und der aufgrund des HWiG zum Widerruf befugte Darlehensnehmer gemäß § 3 HWiG bei Vorliegen eines verbundenen Geschäfts gegen die finanzierende Bank einen Anspruch auf Rückzahlung der geleisteten Beträge haben, kommt es weitgehend auf die Frage eines Rückforderungsdurchgriffs nicht an. Von Bedeutung ist die Frage nach der Möglichkeit eines Rückforderungsdurchgriffs beim verbundenen Geschäft jedoch dann, wenn dem Anleger kein Widerrufsrecht nach dem HWiG zusteht, er auch nicht arglistig getäuscht worden ist, das Anlagegeschäft sich aber (etwa wegen Verstoßes gegen das RBerG ) als von Anfang an unwirksam erweist. Nach der Rechtsprechung des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs hätte dem Anleger in diesem Fall bei einem verbundenen Geschäft gegenüber der finanzierenden Bank ein Rückforderungsdurchgriff in entsprechender Anwendung des § 9 Abs. 2 Satz 4 VerbrKrG zugestanden. Der XI. Zivilsenat ist dem nun mit Urteilen vom 4. und 18. Dezember 2007 zwar im Ergebnis, nicht aber in der Begründung, beigetreten.50 In Fällen einer anfänglichen Nichtigkeit des Anlagegeschäfts ist zwar für eine Analogie zu § 9 Abs. 2 Satz 4 VerbrKrG kein Raum, ein Rückforderungsdurchgriff ergibt sich jedoch aus § 813 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V. mit § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB. Bei anfänglicher Nichtigkeit des Anlagegeschäfts wäre der Anleger nämlich berechtigt, gegenüber dem Verkäufer die Kaufpreiszahlung zu verweigern. Damit steht zugleich beim verbundenen Geschäft dem Zahlungsanspruch des Kreditgebers wegen des möglichen Einwendungsdurchgriffs nach § 9 Abs. 3 Satz 1 VerbrKrG eine dauernde Einrede des Kreditnehmers entgegen. Der Verbraucher kann daher nach § 813 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V. mit § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB die auf den Finanzierungskredit geleisteten Zahlungen vom Kreditgeber zurückverlangen.
50 BGH, Urteile vom 4. Dezember 2007 – XI ZR 227/06, WM 2008, 244, 246 f., Tz. 30 ff. und vom 18. Dezember 2007 – XI ZR 324/06, WM 2008, 967, 968, Tz. 20.
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d) Ergebnis: Rechte des Anlegers bei verbundenen Geschäften Erweisen sich Darlehensvertrag und Anlagegeschäft als verbundene Geschäfte, haben sowohl die Anleger, die ein nichtiges Erwerbsgeschäft abgeschlossen haben, als auch die zum Widerruf des Darlehensvertrags nach dem HWiG berechtigten als auch die durch arglistige Täuschung des Vermittlers oder Verkäufers zum Erwerbsgeschäft bewogenen Anleger weitgehende Möglichkeiten, sich von den Kreditverpflichtungen zu lösen. Das Anlagerisiko wird hier letztlich auf die finanzierende Bank verlagert. 4. Rückabwicklung in Fällen, in denen kein verbundenes Geschäft vorliegt, insbesondere also beim Realkreditvertrag im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG Abweichend hiervon bleibt es bei Realkrediten im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG nach den Regelungen des VerbrKrG bei dem Grundsatz, dass das wirtschaftliche Risiko der Anlageentscheidung grundsätzlich der Kreditnehmer zu tragen hat. Für den Darlehensnehmer scheidet insoweit ein Einwendungsdurchgriff nach § 9 Abs. 3 VerbrKrG aus, da realkreditfinanzierte Wohnungskäufe und Immobilienfondsbeteiligungen wegen § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG nicht als verbundene Geschäfte behandelt werden können.51 Der Darlehensnehmer kann daher die Rückzahlung des ausgereichten Darlehens weder im Falle des wirksamen Widerrufs eines Realkreditvertrags noch bei arglistiger Täuschung über das Erwerbsgeschäft noch bei anfänglicher Unwirksamkeit des Anlagegeschäfts unter Hinweis auf § 9 Abs. 3 Satz 1 VerbrKrG verweigern. Der Ausschluss des Einwendungsdurchgriffs in § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG gilt nach dem eindeutigen Wortlaut dieser Vorschrift ausnahmslos und zwar auch dann, wenn der Realkredit der Finanzierung eines Immobilienfondsbeitritts diente. Dass der Gesetzgeber inzwischen für kreditfinanzierte Grundstücksgeschäfte in § 358 Abs. 3 Satz 3 BGB eine Differenzierung nach dem Zweck der Kreditaufnahme geschaffen hat, rechtfertigt kein anderes Ergebnis. Für Altkredite nach dem VerbrKrG, die Gegenstand dieses Beitrags sind, ist eine Differenzierung nach dem Zweck der Kreditaufnahme angesichts der
51 BGHZ 168, 1, 9, Tz. 21 m.w.Nachw.
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klaren Regelung des § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG nicht zu rechtfertigen.52 Vielmehr scheidet ein Einwendungsdurchgriff in den Fällen, in denen Anlagegeschäft und Kreditvertrag keine wirtschaftliche Einheit im Sinne des § 9 VerbrKrG darstellen, generell aus. Dies gilt auch für die Fälle des Haustürwiderrufs. Anders als im Anschluss an die Entscheidungen des EuGH vom 25. Oktober 200553 in der Literatur und instanzgerichtlichen Rechtsprechung zum Teil vertreten, folgt auch aus dem Gemeinschaftsrecht kein ausreichender Ansatz für eine analoge Anwendung des § 9 VerbrKrG oder eine richtlinienkonforme Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG. Vielmehr bleibt es auch unter dem Gesichtspunkt der Haustürgeschäfterichtlinie in Fällen von Haustürgeschäften bei einer getrennten Rückabwicklung von Darlehensvertrag und Anlagegeschäft.54 Ebenso scheidet – wenn Erwerbsgeschäft und Kreditvertrag kein verbundenes Geschäft sind – eine Anfechtung des Anlegers, der vom Vermittler arglistig über das Erwerbsobjekt getäuscht worden ist, gegenüber der Bank aus. Eine Haftung der Bank aus zugerechnetem Verschulden für unwahre Angaben des Vermittlers kommt nicht in Betracht.55 Eine Bank muss sich nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei realkreditfinanzierten Wohnungskäufen und Immobilienfondsbeteiligungen, die – wie hier – wegen § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG nicht als verbundene Geschäfte behandelt werden dürfen, ein Fehlverhalten des Anlagevermittlers – auch wenn er zugleich den Kredit vermittelt – durch unrichtige Erklärungen über die Kapitalanlage nicht nach § 278 BGB zurechnen lassen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird der im Rahmen von Kapitalanlagemodellen auftretende Vermittler als Erfüllungsgehilfe im Pflichtenkreis der in den Vertrieb nicht eingeschalteten Bank nur insoweit tätig, als sein Verhalten den Bereich der Anbahnung des Kreditvertrages betrifft.56 An dieser ständigen Rechtsprechung aller mit dieser Frage befassten Senate des 52 BGHZ 167, 223, 231, Tz. 22; BGH, Urteile vom 6. November 2007 – XI ZR 322/03, WM 2008, 115, 117, Tz. 22 und vom 26. Februar 2008 – XI ZR 74/06, WM 2008, 683, 684 f., Tz. 16. 53 EuGH, Urteile vom 25. Oktober 2005 – Rs. C-350/03, WM 2005, 2079 ff. Schulte und Rs. C – 229/04, WM 2005, 2086 ff. Crailsheimer Volksbank. 54 Siehe im Einzelnen hierzu: BGHZ 168, 1, 10 ff., Tz. 26 ff. 55 BGHZ 168, 1, 27, Tz. 63 m.w.Nachw. 56 St. Rspr., vgl. etwa BGHZ 152, 331, 333 und BGH, Urteil vom 23. März 2004 – XI ZR 194/02, WM 2004, 1221, 1225, jeweils m.w.Nachw.
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Bundesgerichtshofs hat der XI. Zivilsenat in den Urteilen vom 16. Mai 2006 ausdrücklich festgehalten.57 Damit tragen – anders als dies der Fall ist, wenn Darlehensvertrag und Anlagegeschäft ein verbundenes Geschäft im Sinne des § 9 VerbrKrG sind – bei Realkrediten sowohl die aufgrund einer Haustürsituation als auch die durch arglistige Täuschung über das Anlageobjekt zum Vertragsschluss veranlassten Kreditnehmer im Grundsatz das wirtschaftliche Risiko ihrer Anlage selbst. 5. Mögliche Schadensersatzansprüche der Anleger, die zu einer Risikoverlagerung auf das Kreditinstitut führen können a) Einführung Jedenfalls für einen Teil dieser Fälle, d.h. der Fälle, in denen die Verbraucher keine Möglichkeit haben, sich über den Weg des verbundenen Geschäfts aus dem gesamten finanziellen Engagement zu lösen, hat der Bundesgerichtshof jedoch nun Wege geöffnet, die ein zu weites Auseinanderlaufen der zum Teil eher zufälligen unterschiedlichen Konstellationen vermeiden helfen sollen. Ausgangspunkt dessen sind die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vom 58 16. Mai 2006. Im Zusammenhang mit den oben näher erläuterten Urteilen vom 25. April 2006 stellt sich die Rechtsprechung als ein Gesamtkonzept 59 dar, mit dem den unterschiedlichen Fallkonstellationen in einer Weise Rechnung getragen werden soll, die Wertungswidersprüche so weit wie möglich vermeidet. Im Interesse der Effektivierung des Verbraucherschutzes bei realkreditfinanzierten Wohnungskäufen und Immobilienfondsbeteiligungen, die nicht als verbundene Geschäfte behandelt werden können, und um dem in den Entscheidungen des EuGH vom 25. Oktober 2005 zum Ausdruck kommenden Gedanken des Verbraucherschutzes vor Risiken von Kapitalanlagemodellen im nationalen Recht Rechnung zu tragen, hat der Bundesgerichtshof die Möglichkeit der Darlehensnehmer, eine Rückabwicklung der Verträge über schadensersatzrechtliche Lösungen erreichen zu können, 57 BGHZ 168, 1, 27, Tz. 63. 58 Grundlegend: BGHZ 168, 1 ff. 59 Vgl. auch den Verweis in BGHZ 168, 1, 22, Tz. 50 auf BGHZ 167, 252 ff. und den Hinweis in BGHZ 167, 239, 251, Tz. 30 a.E.
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verbessert. Dies betrifft einmal Haustürfälle, in denen die Darlehensnehmer 60 nicht ordnungsgemäß über ihr Widerrufsrecht belehrt worden waren. Außerdem betrifft es arglistig getäuschte Anleger in Fällen eines institutionalisierten Zusammenwirkens des Kreditinstituts mit Vermittlern und ande61 ren Beteiligten. b) Schadensersatzanspruch aus Verschulden bei Vertragsschluss wegen unterbliebener Widerrufsbelehrung Wie ausgeführt, bleibt es auch angesichts der Entscheidungen des EuGH vom 25. Oktober 2005 grundsätzlich dabei, dass die finanzierende Bank bei einem wirksamen Widerruf des Darlehensvertrages gegen den widerrufenden Darlehensnehmer gemäß § 3 Abs. 1 HWiG einen Anspruch auf Erstattung des ausgezahlten Nettokreditbetrages sowie auf dessen marktübliche Verzinsung 62 hat. Aufgrund der Entscheidungen des EuGH kann in diesen Fällen jedoch ein Schadensersatzanspruch des Darlehensnehmers aus Verschulden bei Vertragsschluss wegen unterbliebener Widerrufsbelehrung gemäß § 2 Abs. 1 HWiG in Betracht kommen, den der Darlehensnehmer ggf. dem Anspruch 63 der kreditgebenden Bank aus § 3 HWiG entgegenhalten kann. § 2 HWiG ist danach richtlinienkonform als Rechtspflicht des Unternehmers zu verstehen, deren Verletzung Ersatzansprüche aus Verschulden bei Vertragsschluss aus64 lösen kann. Ein solcher Schadensersatzanspruch aus Verschulden bei Vertragsschluss kommt grundsätzlich auch dann in Betracht, wenn die Hautürsituation nicht bei dem Vertragsschluss selbst, sondern nur bei dessen Anbahnung vorlag. Der gegenüber dem Haustürwiderrufsgesetz engere Anwendungsbereich der Haustürgeschäfterichtlinie rechtfertigt es nicht, die Haftung nach nationalem 65 Recht wegen fehlender Belehrung auf solche Fälle zu beschränken. Der Schadensersatzanspruch setzt allerdings nach nationalem Recht zwingend ein
60 61 62 63 64 65
BGHZ 168, 1, 16 ff., Tz. 36 ff.; BGHZ 169, 109, 120 ff., Tz. 40 ff. BGHZ 168, 1, 22 ff., Tz. 50 ff. BGHZ 168, 1, 11 ff., Tz. 27 ff. BGHZ 169, 109, 120 ff., Tz. 40 ff. BGHZ 169, 109, 120, Tz. 41. BGH, Urteil vom 26. Februar 2008 – XI ZR 74/06, WM 2008, 683, 685, Tz. 19.
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Verschulden des Kreditinstituts voraus und die Schadensursächlichkeit des 67 68 Belehrungsverstoßes, für die keine widerlegliche Vermutung besteht, bezüglich derer es vielmehr eines konkreten Nachweises der Darlehensnehmer bedarf, dass sie den Darlehensvertrag bei ordnungsgemäßer Belehrung tat69 sächlich widerrufen hätten. Dies nachzuweisen, und so eine Verlagerung des Risikos auf die finanzierende Bank zu erreichen, wird in vielen Fällen schwierig sein. c) Beweiserleichterungen bei institutionalisiertem Zusammenwirken aa) Einführung Für einen Teil der in Rede stehenden Finanzierungen wird aber das von den Verbrauchern erstrebte Ziel auf andere Weise zu erreichen sein. Der Bundesgerichtshof hat in den Urteilen vom 16. Mai 2006, die mittlerweile durch zahlreiche weitere Urteile ergänzt worden sind, den Weg für eine mögliche Verschiebung des Risikos auf die finanzierende Bank nämlich zusätzlich dadurch geöffnet, dass er seine Rechtsprechung zum Bestehen eigener Aufklärungspflichten der Kreditinstitute ergänzt und Beweiserleichterungen zu Gunsten von Verbrauchern vorgenommen hat, die über das finanzierte Geschäft arglistig getäuscht worden sind. Anders als bei den Fällen verbundener Geschäfte scheidet hier – wie dargelegt – eine unmittelbare Anfechtung auch des Darlehensvertrages gemäß § 123 Abs. 1 BGB aus. Mit der Rechtsprechungsergänzung soll dem aus den Entscheidungen des EuGH vom 25. Oktober 2005 zum Ausdruck kommenden Gedanken des Verbraucherschutzes vor Risiken von Kapitalanlagemodellen im nationalen 70 Recht besser Rechnung getragen werden. Außerdem erschien es erforderlich, die Differenz der Ergebnisse im Falle einer arglistigen Täuschung des 66 BGHZ 169, 109, 120 f., Tz. 42; BGH, Urteil vom 26. Februar 2008 – XI ZR 74/06, WM 2008, 683, 685, Tz. 21 m.w.Nachw. 67 BGHZ 168, 1, 18, Tz. 38; BGHZ 169, 109, 121 f., Tz. 43; BGH, Urteil vom 26. Februar 2008 – XI ZR 74/06, WM 2008, 683, 686, Tz. 24. 68 BGH, Urteile vom 6. November 2007 – XI ZR 322/03, WM 2008, 115, 121, Tz. 55 und vom 26. Februar 2008 – XI ZR 74/06, WM 2008, 683, 686 f., Tz. 33 f. , jew. m.w.Nachw. 69 BGH, Urteile vom 6. November 2007 – XI ZR 322/03, WM 2008, 115, 121, Tz. 55 und vom 26. Februar 2008 – XI ZR 74/06, WM 2008, 683, 687, Tz. 34. 70 BGHZ 168, 1, 22, Tz. 50.
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Verbrauchers durch den Vertreiber, Vermittler oder Fondsinitiator bei verbundenen Geschäften und nicht verbundenen Geschäften im Rahmen des Möglichen zu reduzieren, weil es oft mehr oder weniger zufällig war, ob der für eine steuersparende Anlage geworbene Verbraucher zu dem realkreditfinanzierten Erwerb einer Immobilie oder zu dem personalkreditfinanzierten einer Immobilienfondsbeteiligung veranlasst worden war. bb) Die Rechtsprechung zu Beweiserleichterungen bei institutionalisiertem Zusammenwirken Nach den Urteilen des XI. Zivilsenats vom 16. Mai 2006 können in Fällen institutionalisierten Zusammenwirkens der finanzierenden Bank mit dem Verkäufer/Vermittler für die Anleger, die sich auf eine Haftung der Bank aus einem eigenen Aufklärungsverschulden berufen, unter bestimmten Umständen Beweiserleichterungen greifen, und zwar dann, wenn die Darlehensnehmer durch arglistige Täuschung zum Anlagegeschäft bewogen worden sind. Die kreditgebende Bank, die bei Vertragsschluss weiß, dass das Anlagegeschäft ihres Kunden auf einer arglistigen Täuschung im Sinne des § 123 BGB beruht, trifft schon seit jeher nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Aufklärungs- und Warnpflicht wegen eines aufklärungspflichtigen Wissensvorsprungs.71 Den Darlehensnehmern fiel es allerdings naturgemäß oft schwer, dieses Wissen der Bank von der Täuschung zu beweisen. Insbesondere mit Rücksicht hierauf nimmt der Bundesgerichtshof nun unter bestimmten Voraussetzungen eine Beweiserleichterung zugunsten des Verbrauchers in Form einer widerleglichen Vermutung an. Die eine eigene Aufklärungspflicht auslösende Kenntnis der Bank von einer solchen arglistigen Täuschung wird unter drei Voraussetzungen widerleglich vermutet:72 − Verkäufer oder Fondsinitiatoren, die von ihnen beauftragten Vermittler und die finanzierende Bank müssen in institutionalisierter Art und Weise zusammenwirken, − auch die Finanzierung der Kapitalanlage muss vom Verkäufer oder Vermittler angeboten worden sein und 71 BGH, Urteile vom 1. Juni 1989 – III ZR 277/87, WM 1989, 1368, 1370 und vom 11. Februar 1999 – IX ZR 352/97, WM 1999, 678, 679. 72 BGHZ 168, 1, 23, Tz. 52.
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− der Anleger muss vom Verkäufer, Fondsinitiator oder der für sie tätigen Vermittler bzw. des Verkaufs- oder Fondsprospekts nach den Umständen des Falles durch objektiv evident unrichtige Angaben arglistig getäuscht worden sein. Die Kriterien sind eng angelehnt an die Voraussetzungen eines verbundenen Geschäfts im Sinne des § 9 VerbrKrG. Ziel war es, bei personal- und realkreditfinanzierten Immobilienanlagegeschäften (seien es Fondsbeitritte oder Wohnungskäufe) im Rahmen des Möglichen zu vergleichbaren Ergebnissen zu kommen. Dem dient auch, dass die Beweiserleichterung sowohl bei realkreditfinanzierten Wohnungskäufen als auch bei Fondsbeitritten Anwendung findet, und ebenso nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21. November 200673 in Fällen verbundener Geschäfte, in denen die Anleger durch außerhalb des Verbunds stehende Beteiligte arglistig getäuscht worden waren,74 mit denen das finanzierende Kreditinstitut in institutionalisierter Weise zusammengearbeitet hat. Letzteres schließt eine durch die Urteile vom 25. April 2006 entstandene Haftungslücke, da die Anleger Ansprüche gegen außerhalb des Verbunds Stehende der finanzierenden Bank nicht im Wege des Einwendungsdurchgriffs entgegenhalten können.75 cc) Voraussetzungen für die Beweiserleichterung (1) Institutionalisiertes Zusammenwirken Erforderlich ist, dass zwischen Verkäufer oder Fondsinitiator, den von ihnen beauftragten Vermittlern und der finanzierenden Bank ständige Geschäftsbeziehungen bestanden. Diese können in unterschiedlicher – vom Bundesgerichtshof nicht abschließend festgelegter – Form bestehen. In Betracht kommen Vertriebsvereinbarungen, ein Rahmenvertrag, konkrete Vertriebsabsprachen, ein gemeinsames Vertriebskonzept, aber auch, dass den vom Verkäufer oder Fondsinitiator eingeschalteten Vermittlern von der Bank Büroräume überlassen wurden, oder dass sie – ähnlich wie beim verbundenen Geschäft – Formulare der Bank benutzt haben, ohne dass die Bank das bean73 XI ZR 347/05, WM 2007, 200, 202 f., Tz. 29. 74 Siehe oben III 3 c) bb) (1) bei Fn. 39. 75 BGHZ 167, 239, 250, Tz. 28; BGH, Urteile vom 24. April 2007 – XI ZR 340/05, WM 2007, 1257, 1259, Tz. 27 und vom 5. Juni 2007 – XI ZR 348/05, WM 2007, 1367, 1368, Tz. 12.
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standet hat.76 Notwendig ist eine regelmäßige Zusammenarbeit, die lediglich von Zeit zu Zeit erfolgende Prüfung von Finanzierungen genügt nicht.77 Ob ein Zusammenwirken im genannten Sinn vorlag, ist grundsätzlich vom Tatrichter festzustellen.78 (2) Finanzierung der Kapitalanlage vom Verkäufer oder Vermittler angeboten Weitere Voraussetzung ist, dass der Kreditvertrag nicht aufgrund eigener Initiative des Kreditnehmers zustande kommt, sondern deshalb, weil der Vertriebsbeauftragte des Verkäufers oder Fondsinitiators dem Interessenten im Zusammenhang mit den Anlage- oder Verkaufsunterlagen einen Kreditantrag des Finanzierungsinstituts vorgelegt hat, das sich zuvor dem Verkäufer oder dem Fondsinitiator gegenüber zur Finanzierung bereit erklärt hatte.79 (3) Arglistige Täuschung durch evident unrichtige Angaben Schließlich müssen die Anleger durch evident unrichtige Angaben arglistig getäuscht worden sein. Hiervon ist auszugehen, wenn die Angaben objektiv grob falsch sind, so dass sich aufdrängt, die kreditgebende Bank habe sich der Kenntnis der Unrichtigkeit und der arglistigen Täuschung geradezu verschlossen.80 Es handelt sich insoweit um ein objektives Merkmal, das einen Anhaltspunkt für das Wissen der Bank um die Unrichtigkeit der Angaben gibt. Die objektiv evident falschen Angaben müssen zudem auf Arglist beruhen, müssen also ihrerseits eine subjektive Komponente umfassen, etwa vorsätzlich falsch oder auch ins Blaue hinein gemacht sein.81 Auch dies festzustellen ist Sache des Tatrichters,82 wobei es konkreter, dem 76 BGHZ 168, 1, 23, Tz. 53. 77 BGH, Urteil vom 26. September 2006 – XI ZR 283/03, WM 2006, 2347, 2350 f., Tz. 31. 78 Vgl. zu den Voraussetzungen eines institutionalisierten Zusammenwirkens auch: BGH, Urteile vom 20. März 2007 – XI ZR 414/04, WM 2007, 876, 882, Tz. 56, vom 24. April 2007 – XI ZR 340/05, WM 2007, 1257, 1260 f., Tz. 40 ff. und vom 6. November 2007 – XI ZR 322/03, WM 2008, 115, 120 f., Tz. 51. 79 BGHZ 168, 1, 24, Tz. 54. 80 BGHZ 168, 1, 24, Tz. 55. 81 BGH, Urteile vom 23. Oktober 2007 – XI ZR 167/05, WM 2008, 154, 156 f., Tz. 16, vom 6. November 2007 – XI ZR 322/03, WM 2008, 115, 120, Tz. 49 f. und vom 4. März 2008 – XI ZR 288/06, zitiert nach juris, Tz. 49. 82 BGH, Urteil vom 27. Mai 2008 – XI ZR 132/07, WM 2008, 1260, 1262, Tz. 21.
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Beweis zugänglicher unrichtiger Angaben des Verkäufers oder Vermittlers über das Anlageobjekt bedarf. Nicht ausreichend sind bloße subjektive Prognosen oder Werbeanpreisungen.83 dd) Rechtsfolge Sofern die genannten Voraussetzungen vorliegen, wird die Kenntnis der Bank von der arglistigen Täuschung widerleglich vermutet und der Bank steht es sodann offen, die Vermutung zu widerlegen.84 Gelingt ihr das nicht, so muss die Bank, die nicht aufgeklärt hat, die Anleger nach dem Grundsatz der Naturalrestitution (§ 249 Satz 1 BGB) so stellen, wie sie ohne die schuldhafte Aufklärungspflichtverletzung gestanden hätten. Dabei ist nach der Lebenserfahrung davon auszugehen, dass die Anleger bei einer Aufklärung über die Unrichtigkeit der Angaben das Anlagegeschäft – Fondsbeitritt oder Wohnungskauf – mangels Rentabilität nicht getätigt und auch den Darlehensvertrag nicht abgeschlossen hätten.85 Auch in diesem Fall – also auch bei nicht verbundenen Geschäften und bei verbundenen Geschäften, bei denen die arglistige Täuschung nicht von einem im Verbund Stehenden begangen wurde – sind damit für die Anleger und Darlehensnehmer die Möglichkeiten verbessert, das finanzielle Risiko ihres Anlagegeschäfts auf finanzierende Banken, die eng mit dem Vertrieb zusammengearbeitet haben, zu verlagern.
83 BGHZ 169, 109, 115 f., Tz. 24 ff.; vgl. zur evidenten Unrichtigkeit auch BGH, Urteile vom 20. März 2007 – XI ZR 414/04, WM 2007, 876, 882, Tz. 55, vom 24. April 2007 – XI ZR 340/05, WM 2007, 1257, 1258, Tz. 16 ff., vom 6. November 2007 – XI ZR 322/03, WM 2008, 115, 120, Tz. 50, vom 27. Mai 2008 – XI ZR 132/07, WM 2008, 1260, 1261 f., Tz. 20 ff. und vom 3. Juni 2008 – XI ZR 319/07, WM 2008, 1346, 1348, Tz. 18. 84 Vgl. hierzu BGH, Urteile vom 27. Mai 2008 – XI ZR 132/07, WM 2008, 1260, 1262 f., Tz. 27 f. und vom 3. Juni 2008 – XI ZR 131/07, WM 2008, 1394, 1396, Tz. 23. 85 BGHZ 168, 1, 26, Tz. 61.
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IV. Zusammenfassung – Gesamtkonzept der Rechtsprechung Die Urteilsserien des XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 25. April und 16. Mai 2006 sind Ausgangspunkt für ein Gesamtkonzept der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu kreditfinanzierten Fondsbeteiligungen und Wohnungskäufen. Für die rechtliche Bewertung kommt es in einigen wesentlichen Fragen nicht mehr darauf an, ob Kreditvertrag und Anlagegeschäft ein verbundenes Geschäft darstellen oder nicht. Dies betrifft die nach dem RBerG und die nach §§ 4, 6 VerbrKrG erhobenen Wirksamkeitseinwendungen. Hier werden finanzierte Fondsbeitritte und Wohnungskäufe nunmehr unabhängig von der Frage behandelt, ob es sich um mit dem Darlehensvertrag verbundene Geschäfte handelt oder nicht. In zwei wichtigen Fallgruppen hängt das Ergebnis hingegen entscheidend von der Frage ab, ob Darlehensvertrag und finanziertes Geschäft (Fondsbeitritt oder Immobilienerwerb) ein verbundenes Geschäft, also eine wirtschaftliche Einheit im Sinne des § 9 Abs. 1 VerbrKrG, darstellen. Die erste Fallgruppe betrifft die Rückabwicklung aufgrund wirksamen Widerrufs des Darlehensvertrags nach dem Haustürwiderrufsgesetz. Hier kann der Darlehensnehmer die Bank bei verbundenen Geschäften nach dem Widerruf des Darlehensvertrags auf die finanzierte Anlage verweisen. Handelt es sich hingegen nicht um ein verbundenes Geschäft, muss der Darlehensnehmer der Bank nach dem Widerruf des Darlehensvertrags den Darlehensbetrag zurückzahlen. Dabei bleibt es grundsätzlich auch unter gemeinschaftsrechtlichen Gesichtspunkten. Die zweite Fallgruppe betrifft Verbraucher, die durch arglistige Täuschung zu dem finanzierten Anlagegeschäft bewogen worden sind. Bei verbundenen Geschäften hat der Anleger in diesem Fall verschiedene Möglichkeiten sich von seinem finanziellem Engagement zu lösen, ohne den Darlehensbetrag zurückzahlen zu müssen. Er kann die Bank insbesondere über den Weg der Anfechtung nach § 123 BGB oder im Wege der Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs aus zugerechnetem vorsätzlichen Aufklärungsverschulden auf den Fondsanteil verweisen. Bei realkreditfinanzierten Wohnungskäufen oder Immobilienfondsbeteiligungen kommt dies hingegen nicht in Betracht, weil Anlagegeschäft und Darlehensvertrag in diesem Fall nicht als verbundene Geschäfte behandelt werden können. Gleiches gilt für Fälle, in denen die arglistige Täuschung durch Gründungs-
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gesellschafter, Initiatoren, maßgebliche Betreiber und Prospektherausgeber begangen wurde, da diese nicht im Verbund stehen. In einem Teil dieser Fälle bestehen nun aber auch bei realkreditfinanzierten Immobiliengeschäften oder bei der arglistigen Täuschung des Anlegers durch außerhalb des Verbunds Stehende verbesserte Möglichkeiten, auf anderem Weg dennoch zu einem vergleichbaren Ergebnis zu kommen. In Fällen institutionalisierten Zusammenwirkens der finanzierenden Bank mit dem Vertrieb greifen für die Anleger, die durch arglistige Täuschung zu dem Anlagegeschäft bewogen worden sind, unter bestimmten Umständen Beweiserleichterungen, aufgrund derer sie nun mit größerer Erfolgsaussicht die finanzierende Bank wegen Verletzung einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht auf Rückabwicklung in Anspruch nehmen können. Die Frage, ob sich Anleger zu Lasten der Bank von einem fehlgeschlagenen finanzierten Immobiliengeschäft befreien können, hängt damit grundsätzlich nicht mehr davon ab, ob sie zu einem finanzierten Wohnungserwerb oder einem finanzierten Fondsbeitritt veranlasst worden waren. Ihre Erfolgsaussichten knüpfen vielmehr maßgeblich an die Art der von ihnen erhobenen Einwendungen an und – über die Regelungen zum verbundenen Geschäft oder über das Merkmal des institutionalisierten Zusammenwirkens – an die Zusammenarbeit der Finanzierungsbank mit dem Vertrieb.
Die Verbraucherinsolvenz im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Realität und Restschuldbefreiungstourismus Professor Dr. Curt Wolfgang Hergenröder Universität Mainz*
I.
Die Entschuldung zahlungsfähiger Personen als ewiger Reformprozess.........40
II.
Wirtschaftliche Situation der privaten Haushalte.............................................44 1. Wirklichkeit und Empirie ..........................................................................44 2. Anzahl der zahlungsunfähigen Haushalte .................................................46 3. Auslöser der Überschuldung und pfändbares Einkommen........................47 4. Art und Zahl der Gläubiger .......................................................................49 5. Verschuldungshöhe ...................................................................................50
III.
Verbraucherinsolvenz und Restschuldbefreiung als legislative Reaktion auf die Überschuldung der Privathaushalte......................................................50 1. Ausgangspunkt: Unbeschränkte Vermögenshaftung für Verbindlichkeiten ................................................................................50 2. Entschuldung als insolvenzrechtlicher Ausweg ........................................51 3. Gründe der Schuldbefreiung......................................................................52
IV. Das Verbraucherinsolvenzverfahren nach den §§ 304 ff. InsO........................55 1. Erste Stufe: Außergerichtlicher Einigungsversuch....................................55 2. Zweite Stufe: Gerichtlicher Schuldenbereinigungsplan ............................56 3. Dritte Stufe: Verbraucherinsolvenzverfahren............................................57 4. Wohlverhaltensperiode..............................................................................58 5. Restschuldbefreiung ..................................................................................59 V.
*
Entschuldung im Ausland – der „Restschuldbefreiungstourismus“.................60 1. Zahlungsunfähigkeit in den Rechtsordnungen europäischer Staaten ........60 2. Rechtstatsächliches und Rechtspolitisches zum Restschuldbefreiungstourismus.................................................................62 3. Anerkennung der ausländischen Restschuldbefreiung im Inland..............65 4. Rechtsmissbrauch durch forum-shopping? ...............................................68 Wiss. Leiter der Forschungs- und Dokumentationsstelle für Verbraucherinsolvenz und Schuldnerberatung (Schuldnerfachberatungszentrum) Rheinland-Pfalz an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
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VI. Eckpfeiler des InsO-Regierungsentwurfs 2007................................................69 1. Kostenbelastung der Justizhaushalte als eigentlicher Auslöser der Reform .................................................................................69 2. Aufwertung des außergerichtlichen Einigungsversuchs............................71 a) Aussichtslosigkeit eines Schuldenbereinigungsplans .........................71 b) Zustimmungsersetzung durch das Insolvenzgericht ...........................72 3. Aufspaltung des Verfahrens im Hinblick auf das Vorliegen einer kostendeckenden Masse ...................................................................73 4. Entschuldungsverfahren bei Masselosigkeit..............................................74 5. Modifiziertes Verbraucherinsolvenzverfahren bei Massehaltigkeit ..........75 a) Verschärfung der Versagungsgründe..................................................75 b) Wegfall des Treuhänders ....................................................................76 c) Verfahrensvereinfachungen................................................................77 d) Anfechtungs- und Verwertungsbefugnis ............................................77 e) Vereinfachte Verteilung......................................................................78 6. Kostentragungspflicht des Schuldners.......................................................79 7. Abgekürzte Wohlverhaltensperiode ..........................................................81 VII. Gesamtgesellschaftliche Folgen der Zahlungsunfähigkeit ...............................82 1. Überschuldung und Kriminalität ...............................................................83 2. Überschuldung und Krankheiten...............................................................85 3. Zahlungsunfähigkeit in seiner psycho-sozialen Dimension und Netzwerkanalyse ................................................................................88 VIII. Notwendige Rahmenbedingungen zur Bekämpfung der Überschuldung.........90 1. 1. Erlernen des Umgangs mit Geld bereits im Schulalter..........................90 2. Verantwortliche Kreditvergabe .................................................................91 3. Recht auf ein Girokonto auf Guthabenbasis..............................................92 4. Mitfinanzierung der Schuldnerberatung durch die Kreditinstitute ............94 5. Fonds statt Verfahren?...............................................................................97 IX. Fazit: Prävention statt Reaktion .......................................................................98
I.
Die Entschuldung zahlungsfähiger Personen als ewiger Reformprozess
Seit ihrer Einführung zum 1.1.1999 sind Verbraucherinsolvenzverfahren und Restschuldbefreiung nicht zur Ruhe gekommen. Dies belegt schon die Tatsache, dass weniger als zwei Jahre nach Inkrafttreten der Insolvenzordnung eine erste legislative Korrektur erfolgen musste. An der Grundaussage, dass nur bei kostendeckender Masse ein Insolvenzverfahren durchgeführt wird, hatte das neue Recht seinerzeit nämlich nichts geändert, vgl. §§ 26 Abs. 1,
Verbraucherinsolvenz zwischen Realität und Restschuldbefreiungstourismus
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207 Abs. 1 InsO. Sehr schnell stellte sich indes heraus, dass völlig mittellose Schuldner die Verfahrenskosten regelmäßig nicht leisten konnten; rund 80 % des zahlungsunfähigen Personenkreises verfügt über kein pfändbares Einkommen!1 Gerade für diese Personengruppe sollte aber eine Entschuldung ermöglicht werden, für sie war die Verbraucherinsolvenz gedacht. Die Verfahrenszahlen der ersten Jahre waren vor diesem Hintergrund ernüchternd: Im Jahre 1999 waren 3.357 Verfahren eröffnet worden, im Jahre 2000 betrug die entsprechende Zahl 10.479. Ganz in der Tradition der alten Konkursordnung hatte die Insolvenzordnung keine Prozesskostenhilfe vorgesehen. Allerdings dient das Verfahren neben der unveränderten Zielsetzung der Gläubigerbefriedigung nunmehr gemäß § 1 S. 2 InsO auch dem Zweck, den Schuldner von seinen restlichen Verbindlichkeiten zu befreien. Damit trat bei mittellosen Schuldnern ein eklatanter Widerspruch zwischen den Verfahrenszielen auf: Einerseits bedurfte der Schuldner des Insolvenzverfahrens, um Restschuldbefreiung überhaupt erlangen zu können. Anderseits verlangte und verlangt das Gesetz eine kostendeckende Masse für eben dieses Verfahren. Nachdem sich die Rechtsprechung2 zu einer richterrechtlichen Korrektur dieser rechtspolitisch unbefriedigenden Situation außerstande gesehen hatte, reagierte der Gesetzgeber: Die durch das InsOÄndG vom 26.10.20013 neu eingeführten §§ 4a − c InsO legen fest, dass Anwalts- und Gerichtskosten zunächst nicht vom Schuldner zu tragen sind. Indes handelt es sich dabei nicht um eine Verfahrenskostenhilfe im herkömmlichen Sinne, sondern um ein Stundungsmodell.4 In der Begründung des Regierungsentwurfes wurde die uneingeschränkte Anwendung der §§ 114 ff. ZPO – also der Vorschriften über die Prozesskostenhilfe – mit der Begründung abgelehnt, die Justizhaushalte der Länder würden bei einer entsprechenden Vorgehensweise vor kaum lösbare Aufgaben gestellt.5 Stundung der Verfahrenskosten wird nur gewährt, wenn der Schuldner einen Antrag auf Restschuldbefreiung gestellt hat, diese 1 2 3 4 5
Landesstatistik Rheinland-Pfalz 2006, 13; abrufbar unter . BGH, ZInsO 2000, 280 mit Anm. Pape. Dazu Graf-Schlicker/Remmert, ZinsO 2000, 321, 325 f. BGBl. I 2710. Dazu Hergenröder, DZWIR 2001, 397. In diesem Sinne Kirchhof, ZinsO 2001, 1, 13. Vgl. weiter Pape, ZinsO 2001, 587, 588 f. BT-Drucks. 14/5680, 12. Die enge Anlehnung der §§ 4a – d InsOÄndG an die Vorschriften über die PKH betont aber Pape, ZinsO 2001, 587, 589.
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nicht offensichtlich zu versagen ist und sein Vermögen voraussichtlich nicht ausreicht, um die Verfahrenskosten zu decken, vgl. im Einzelnen § 4a Abs. 1 S. 1 InsO. Die Stundung erfolgt gemäß § 4a Abs. 3 S. 2 InsO für jeden Verfahrensabschnitt besonders. Wird sie bewilligt, tritt der Schuldner das pfändbare Einkommen wie auch sonst an den Treuhänder ab. Dieser verteilt die eingehenden Beträge bis zur vollständigen Rückzahlung der gestundeten Verfahrenskosten an die Staatskasse, danach an die ungesicherten Gläubiger entsprechend der Insolvenzquote. Lediglich die mit einer Lohnvorausabtretung (§ 114 InsO) gesicherten Gläubiger werden auch bei bewilligter Stundung noch vor der Staatskasse bedient. Nachdem in den zahlungsunfähigen Privathaushalten häufig nicht einmal die Verfahrenskosten erwirtschaftet werden können, läuft das im Ergebnis vielfach zunächst auf eine Einstandspflicht des Staates hinaus. Die Reform des Jahres 2001 mit ihrer Entlastung des zahlungsunfähigen Schuldners von den Verfahrenskosten war ein durchschlagender Erfolg; die Verfahrenszahlen explodierten förmlich. So waren im Jahre 2001 bereits 13.277 Verfahren (+ 26,7 %) rechtshängig, in den Folgejahren nahm ihre Zahl stetig zu:6 21.441 im Jahre 2002 (+ 61,5 %), 33.609 im Jahre 2003 (+ 56,8 %), 49.123 im Jahre 2004 (+ 46,2 %), 68.898 im Jahre 2005 (+ 40,3 %), 92.310 im Jahre 2006 (+ 40,2 %). Im Jahre 2007 schließlich waren 105.238 Anträge auf Eröffnung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens rechtshängig, im ersten Halbjahr 2008 gab es 48.466 Verfahren. Die Verbraucherinsolvenz ist zahlenmäßig also ein Erfolg. Die Freud’ der Schuldner ist allerdings zugleich das Leid des Staates. Die Belastung der Justizhaushalte mit den Kosten der Verbraucherinsolvenzen hat so drastisch zugenommen, dass mit den steigenden Verfahrenszahlen erneut Reformüberlegungen aufkamen. Auch aus insolvenzrechtlicher Sicht wird Handlungsbedarf geltend gemacht:7 Der Gesetzgeber sei angehalten, Möglichkeiten anzubieten, um eine Verbraucherinsolvenz sinnvoller und effizienter abwickeln zu können als dies bislang der Fall sei. Freilich ist man sich in der Fachöffentlichkeit keineswegs einig, wie denn nun das optimale Entschuldungsverfahren 6 7
Statistisches Bundesamt, Überschuldung privater Personen und Verbraucherinsolvenzen, 2008, 5; abrufbar unter . Siehe nur Aufruf deutscher Insolvenzrichter und -rechtspfleger zur Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit der Insolvenzgerichte und der Insolvenzordnung, ZinsO 2002, 1176.
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auszusehen habe.8 So verwundert es auch nicht, dass in den Jahren 2004 bis 2007 drei Referentenentwürfe9 zur Novellierung des Rechts der Verbraucherentschuldung zu vermerken sind, hinzu kommt ein Alternativentwurf.10 Unter dem 22.8.2007 brachte dann die Bundesregierung einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag ein.11 Auch dieser Vorstoß wurde äußerst kontrovers diskutiert, die Einschätzung der Interessenträger ging weit auseinander. Ob es in dieser Legislaturperiode noch zu einer Novellierung der Insolvenzordnung kommt, ist derzeit fraglich. Dies lässt es tunlich erscheinen, sich in der Folge die Rahmenbedingungen der Entschuldung zahlungsunfähiger Personen vor Augen zu halten. Dabei ist insbesondere auch der sog. „Restschuldbefreiungstourismus“ zu beleuchten. Unter Einbeziehung empirischer Erkenntnisse können dann die Eckpfeiler der Reform einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Es soll also um die Grundlinien des juristischen Umgangs mit zahlungsunfähigen Personen gehen.
8 Vgl. Förster, ZinsO 2002, 17; Hofmeister, ZVI 2003, 12; Hofmeister/Jäger, ZVI 2005, 180; Jäger, ZVI 2003, 55; Klaas, ZinsO 2003, 577; Kohte, Ziel und Wirkung gesetzlicher Änderungen der InsO und ZPO auf überschuldete und von Überschuldung bedrohte Haushalte, 2004; Mäusezahl, ZVI 2003, 49; Springeneer, Reform der Verbraucherinsolvenz: Die Suche nach einer sozialverträglichen Funktionsbestimmung, 2005; Stephan, ZVI 2003, 145. Vgl. auch Hergenröder, FS Konzen, 2006, 287. 9 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung, des Kreditwesengesetzes und anderer Gesetze vom 16.9.2004, abgedruckt ZVI 2004, Beil. 3 zu Heft 9; Entwurf eines Gesetzes zur Entschuldung völlig mittelloser Personen und zur Änderung des Verbraucherinsolvenzverfahrens vom 2.6.2006, abgedruckt ZVI 2006, Beil. 1 zu Heft 3, dazu Hergenröder, DZWIR 2006, 265, 441; Entwurf eines Gesetzes zur Entschuldung mittelloser Personen, zur Stärkung der Gläubigerrechte sowie zur Regelung der Insolvenzfestigkeit von Lizenzen vom 23.1.2007, BR-Drucks. 600/07, abgedruckt ZVI 2007, Beil. 2 zu Heft 8. 10 Grote/Heyer, ZVI 2006, 528. 11 Entwurf eines Gesetzes zur Entschuldung mittelloser Personen, zur Stärkung der Gläubigerrechte sowie zur Regelung der Insolvenzfestigkeit von Lizenzen vom 22.8.2007 (im folgenden: RegE InsO 2007); abrufbar unter .
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II. Wirtschaftliche Situation der privaten Haushalte 1. Wirklichkeit und Empirie Wer sich in kontroversen rechtspolitischen Fragen mit empirischen Daten befasst, merkt schnell, dass der Winston Churchill zugeschriebene Satz „Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe“, einer gewissen Wahrheit nicht entbehrt. Dies gilt auch und insbesondere in Bezug auf Zahlen zur Verschuldungssituation der Bevölkerung und ihre Ursachen. Wirtschaftliche und sozialpolitische Interessen der verschiedensten Akteure spielen eine Rolle, die Herkunft des Zahlenmaterials muss also stets kritisch beleuchtet werden. Ein Weiteres kommt hinzu: In einer Gesellschaft, in welcher Konsum und Wohlstand Leitprinzipien der Lebenskultur sind, spricht man schon aus Scham nicht gerne über Schulden. Die Dunkelziffer ist also nicht zu unterschätzen. Immerhin lassen sich durch bestimmte amtliche bzw. halbamtliche Statistiken sowie durch andere Indikatoren auch außerhalb der mit den entsprechenden Unsicherheiten behafteten Umfrage repräsentative Ergebnisse erzielen. So kann unterstellt werden, dass jeder, der eine eidesstattliche Versicherung abgibt, auch zahlungsunfähig bzw. überschuldet12 ist. Weitere Indizien stellen unter anderem die Kontoführung auf Guthabenbasis, Kreditkündigungen, Miet- und Energieschulden und natürlich Lohn- und Gehaltspfändungen dar. Umfragen bei den Schuldnerberatungsstellen liefern ebenso Datenmaterial wie Auskünfte der Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung (Schufa). Zur Ermittlung der Zahl der zahlungsunfähigen 12 Im sozialwissenschaftlichen Schrifttum ist regelmäßig von „Überschuldung“ die Rede, nicht zuletzt deshalb, um den Gegensatz zur landläufig durchaus akzeptierten „Verschuldung“ zu betonen, vgl. etwa Korczak/Roller, Überschuldung in Deutschland zwischen 1988 und 1999, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2000, 47: Überschuldung „liegt vor, wenn der nach Abzug der notwendigen Lebenshaltungskosten verbleibende Einkommensrest nicht mehr ausreicht, die eingegangenen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen.“ Nach der InsO ist demgegenüber begrifflich zu trennen: Zahlungsunfähigkeit definiert § 17 Abs. 2 InsO – als Voraussetzung für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach §§ 17 Abs. 1, 16 InsO – wie folgt: „Der Schuldner ist zahlungsunfähig, wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen“. Satz 2 ergänzt: „Zahlungsunfähigkeit ist in der Regel anzunehmen, wenn der Schuldner seine Zahlungen eingestellt hat“. Demgegenüber ist der Begriff der Überschuldung den juristischen Personen vorbehalten und bei diesen gemäß § 19 Abs. 1 InsO Eröffnungsgrund.
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bzw. überschuldeten Haushalte kann demgemäß auf ein etabliertes Indikatorenmodell zurückgegriffen werden, welches die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen, die Konsumentenkredite und deren Kündigungen, die eidesstattlichen Versicherungen, die Mietschulden und die Klientenstatistiken der Schuldnerberatungsstellen berücksichtigt. Während einzelne Bundesländer wie Rheinland-Pfalz13 schon seit längerer Zeit statistisches Material durch Erhebungen der Schuldnerberatungsstellen bereitstellen, wird seit dem Jahre 2006 zur Verbesserung der Datenlage eine freiwillige Überschuldungsstatistik vom Statistischen Bundesamt durchgeführt, welche auf Daten der Schuldnerberatungsstellen zurückgreift. Im Jahre 2008 haben sich von den rund 950 Schuldnerberatungsstellen in Deutschland 303 Stellen beteiligt, die Zahl der Beratungsfälle belief sich auf insgesamt ca. 80.000. Interessant ist die Teilnahmequote an der Befragung: Während in einzelnen Bundesländern sich alle oder nahezu alle Beratungsstellen an der Erhebung der Daten beteiligten,14 ließen sich in anderen Bundesländern kaum Schuldnerberatungsstellen finden, die mit ihren Erkenntnissen zur Statistik beitragen wollten.15 Allerdings haben Überschuldungsstatistiken der Länder auch eine politische Komponente: Ihr Studium mag nämlich manchen zu der Behauptung verleiten, die jeweilige Landesregierung treibe die Bevölkerung durch ihre Politik in die Schuldenfalle. Insoweit ist klarzustellen, dass weder aus den Fallzahlen der Schuldnerberatung noch einem Ansteigen der Verbraucherinsolvenzverfahren Rückschlüsse auf „Schuldeneldorados“ bzw. Regionen, in denen die Welt finanziell noch heil ist, gezogen werden
13 . 14 So etwa in Berlin (22 von 22 = 100 %), in Hamburg (8 von 10 = 80 %), in Rheinland-Pfalz (49 von 52 = 94,2 %), im Saarland (15 von 15 = 100 %), in Schleswig-Holstein (39 von 39 = 100 %) und in Thüringen (28 von 32 = 87,5 %), vgl. Statistisches Bundesamt (oben Fn. 6), 10; abrufbar unter . 15 Aus dieser Gruppe sind in erster Linie Baden-Württemberg (13 von 89 = 14,6 %), Bayern (10 von 117 = 8,54 %), Hessen (7 von 54 = 13 %), NordrheinWestfalen (15 von 206 = 7, 3 %), Sachsen (3 von 54 = 5,6 %) und SachsenAnhalt (3 von 27 = 11,1 %) zu nennen, vgl. Statistisches Bundesamt (oben Fn. 6), 10.
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können.16 Die Absurdität entsprechender Annahmen wird deutlich, wenn man die Zahl der Verbraucherinsolvenzverfahren (92.319) zur Menge der zahlungsunfähigen Haushalte in Deutschland (3,42 Millionen) im Jahre 2006 ins Verhältnis setzt. Im Gegenteil ist die verstärkte Inanspruchnahme der Schuldnerberatungsstellen sowie ein hoher Anteil an Verbraucherinsolvenzverfahren Ausdruck einer guten Landespolitik. Die drastische Streichung von Mitteln für die Schuldnerberatung durch die Administrationen einzelner Bundesländer ist vor diesem Hintergrund nicht nur unklug, sie kostet auch den Staat im Ergebnis weit mehr Geld als durch den Stellenabbau eingespart wird. Und sie treibt aufgrund langer Wartelisten bei den verbleibenden Schuldnerberatungsstellen die Schuldner in die Hände privater „Schuldenregulierer“, deren Seriosität regelmäßig mehr als zweifelhaft ist.17 2. Anzahl der zahlungsunfähigen Haushalte Galten 1994 noch 2 Millionen Haushalte als überschuldet,18 so bezifferte ein im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durch die GP Forschungsgruppe München erstelltes Gutachten für das Jahr 2002 die Zahl derjenigen Haushalte, bei denen der nach Abzug der notwendigen Lebenshaltungskosten verbleibende Einkommensrest nicht mehr ausreicht, die eingegangenen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen, auf 16 Dazu die Untersuchung von Lechner/Backert, Dynamik des Verbraucherinsolvenzverfahrens – Regionale Disparitäten und aktivierende Wirkungen, in: Bundesministerium für Familien, Frauen, Senioren und Jugend (Hrsg.), Materialien zur Familienpolitik Nr. 21/2005. 17 Zur Strategie gewerblicher Schuldenregulierer näher Maltry, in: Arbeitskreis Neue Armut, EWS e.V. (Hrsg.), Geschäfte mit der Armut – Unseriöse Kreditvermittlung und Schuldenregulierung, 2003, 33, 35 ff.; Dick, in: AG SBV (Hrsg.), Geschäfte mit der Armut. Dokumentation der Fachtagung am 5. Juni 2003, 15 ff.; Risch, ebenda, 27 ff. Siehe auch Hergenröder, ZVI 2003, 577, 579. 18 Eingehend hierzu Korczak/Roller (oben Fn. 12); siehe zuvor schon Korczak, Marktverhalten, Verschuldung und Überschuldung privater Haushalte in den neuen Bundesländern, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 1997; Korczak/Pfefferkorn, Überschuldungssituation und Schuldnerberatung in der Bundesrepublik Deutschland, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie und Senioren, Bd. 3, 1992.
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insgesamt 3,13 Millionen, was 8,1 % aller deutschen Haushalte entsprach.19 Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich hierbei um Haushalte handelt, nicht um Einzelpersonen. Wenn man davon ausgeht, dass regelmäßig Ehe- oder Lebenspartner durch Bürgschaften oder Schuldmitübernahmen ebenfalls Verbindlichkeiten haben, muss man die genannten Zahlen deutlich erhöhen, wenn nicht gar verdoppeln. Für das Jahr 2008 wird denn auch von 6,87 Millionen zahlungsunfähigen Privatpersonen ausgegangen, was bei 67,97 Millionen Menschen über 18 Jahre eine Quote von 10,11 % bedeutet.20 Schon diese Zahlen machen deutlich, dass die Überschuldung zu einem gesellschaftspolitischen Problem ersten Ranges geworden ist, das nicht ignoriert werden kann. Für die nächsten zwei Jahre wird angesichts der durch die Bankenkrise verursachten drohenden Rezession eine neue Überschuldungswelle prognostiziert.21 3. Auslöser der Überschuldung und pfändbares Einkommen Eine Schlüsselfrage jedweden gesetzgeberischen Handelns ist allerdings diejenige nach den Ursachen der Zahlungsunfähigkeit. Müsste man insoweit alleine die Person des Schuldners dafür verantwortlich machen, so bestünde vor dem Hintergrund der Privatautonomie an sich kein Anlass, korrigierend einzugreifen. Anders sieht es aber aus, wenn man insoweit ein bestimmtes Versagen der Gesellschaft konstatieren müsste, also etwa die unzureichende Ausstattung bestimmter Personengruppen mit Geldmitteln über die sozialrechtlich vorgesehenen Maßnahmen hinaus. Häufig sind freilich mehrere Ursachen für die Überschuldung maßgeblich. Ein Blick auf die Bundesstatistik des Jahres 200722 lehrt, dass Hauptursache der Zahlungsunfähigkeit der Eintritt von Arbeitslosigkeit ist (29,3 %). Danach folgt das Scheitern bzw. das Ende einer Paar-Beziehung (13,5 %). Erkrankung, Unfall oder Sucht stehen an dritter Stelle mit 9,8 %, die gescheiterten Selbständigen schließen sich an (9,5 %). Erst an fünfter Stelle kommt die unwirtschaftliche Haushalts19 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Überschuldung: Betroffenen helfen, finanzielle Allgemeinbildung verbessern, 2004. 20 Creditreform Schuldneratlas Deutschland, 2008, 4. 21 Creditreform Schuldneratlas Deutschland, 2008, 50. 22 Statistisches Bundesamt (oben Fn. 6), 13 (dort auch weiter nach dem Alter der Betroffenen aufgeschlüsselt).
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führung (8,6%), also die Unerfahrenheit mit oder Naivität gegenüber Kreditund Konsumangeboten. Mit 4,0 % schlägt schließlich die gescheiterte Immobilienfinanzierung zu Buche. Gesagt werden soll aber auch noch, dass selbst ein an sich positives, gesamtgesellschaftlich erwünschtes Lebensereignis wie die Geburt eines oder mehrerer Kinder in den Schuldturm führen können: Die Kosten des familiären Haushalts steigen an, ein Einkommen – regelmäßig der Mutter – fällt weg. Familien mit Kindern haben oft gar keine andere Möglichkeit, als den vorhandenen Geldbedarf mittels Krediten zu decken, da junge Eltern im Alter zwischen 25 und 35 Jahren regelmäßig über keine Ersparnisse verfügen, dies auch gar nicht können, gleichzeitig aber im Lebenszyklus die höchsten Kosten entstehen.23 In der genannten Statistik vermisst man allerdings das dauerhafte Niedrigeinkommen, also diejenigen Personen, deren Einnahmen schlichtweg nicht ausreichen, um die wirtschaftlichen Bedürfnisse zu decken. Angesprochen sind damit die sog. Armutsschuldner. Immerhin wird in der Bundesstatistik das durchschnittliche Nettoeinkommen der überschuldeten Haushalte im Jahre 2007 mit gerade mal 1.165 € angegeben, bei erwerbstätigen zahlungsunfähigen Personen erfährt man einen Nettobetrag von 1.106 €.24 Kann man davon eine Familie ernähren, ohne Schulden zu machen? Es hätte also nahe gelegen, auch diese Ursache näher zu hinterfragen, zumal sie andernorts wie selbstverständlich empirisch beleuchtet wird.25 Damit korrespondierend ist festzuhalten, dass im Jahre 2006 auf der Grundlage der Landesstatistik von Rheinland-Pfalz 79 % der Rat suchenden Schuldner über kein pfändbares Einkommen verfügten.26 In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und geringer Chancen auf dem Arbeitsmarkt tendiert die Wahrscheinlichkeit einer Rückzahlung der Schulden damit gegen Null – diese wenig attraktive Aussicht mag mancher Gläubiger freilich nicht wahrhaben!
23 Reifner, Armut in der Kreditgesellschaft. Unveröffentlichtes Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2000, 4; zitiert nach Korczak/Roller (oben Fn. 12), 88. 24 Statistisches Bundesamt (oben Fn. 6), 27 f. 25 Korczak/Roller (oben Fn. 12), 167. 26 Landesstatistik Rheinland-Pfalz (Fn. 1), 13.
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4. Art und Zahl der Gläubiger Im Jahre 2007 belief sich die durchschnittliche Verschuldenshöhe auf 36.467 €.27 Erwartungsgemäß entfiel davon auf die Kreditinstitute der Löwenanteil, nämlich 21.212 € und somit 58,16 %. Dabei sollte man wissen, dass Kredite ganz überwiegend für Baufinanzierungen und für den Kauf von Pkws aufgenommen werden.28 Weit abgeschlagen folgen die Inkassobüros (2.913 € = 7,98 %), öffentliche Gläubiger (2.584 € = 7,08 %), Vermieter (913 € = 2,5 %) und Telefongesellschaften (606 € = 1,66 %). Die Zahlen sind dabei kumulativ zu sehen, da es relativ selten ist, dass eine zahlungsunfähige Person nur bei einer Stelle Verbindlichkeiten hat. Zu bemerken ist, dass in dem Durchschnittsbetrag von 36.467 € auch die dinglich gesicherten Kredite für die Immobilienfinanzierung und die Verbindlichkeiten gescheiterter Selbständiger enthalten sind. Die entsprechenden Schulden sind aber deutlich höher als andere Verbindlichkeiten. Gescheiterte Immobilienfinanzierer standen 2007 durchschnittlich mit rund 151.000 € in der Kreide, bei Selbständigen belief sich die Schuldsumme auf 95.000 €. Bei letzterer Personengruppe stößt die Schuldenregulierung auf noch größere Schwierigkeiten, da neue Gläubigergruppen wie Sozialversicherungsträger, Finanzämter und Berufsgenossenschaften hinzukommen und ohne betriebswirtschaftliche Kenntnisse die Situation der Schuldner kaum zu klären ist.29 Für das Verbraucherinsolvenzverfahren in jeder Hinsicht relevant ist die Zahl der Gläubiger: Zum einen werden die Verfahrenskosten dadurch beeinflusst, zum anderen sinkt mit steigender Gläubigerzahl die Möglichkeit einer vergleichsweisen Schuldenbereinigung. Laut Bundesstatistik30 hatten 39,1 % der überschuldeten Haushalte im Jahre 2007 einen bis vier Gläubiger, also vergleichsweise wenige Forderungsinhaber zu bedienen. 27,9 % der überschuldeten Haushalte wiesen fünf bis neun Gläubiger auf, 23,2 % hatten dann schon zehn bis neunzehn Gläubiger, also eine stattliche Zahl. Zwanzig und mehr Gläubiger verteilen sich auf 9,9 % der zahlungsunfähigen Haushalte.
27 Statistisches Bundesamt (oben Fn. 6), 23 mit Ausdifferenzierung nach Alter und Familienstand. 28 Korczak/Roller (oben Fn. 12), 47. 29 Siehe Müller-York, DZWir 1999, 10, 11. 30 Statistisches Bundesamt (oben Fn. 6), 22 mit Ausdifferenzierung nach Alter und Familienstand.
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50 5. Verschuldungshöhe
Abschließend zu diesem empirischen Komplex ist auf die Verschuldenshöhe der einzelnen Haushalte einzugehen. Das Statistische Bundesamt beziffert wie schon angeführt für das Jahr 2007 die durchschnittliche Gesamtverschuldung der überschuldeten Haushalte in Deutschland auf 36.467 €. Dies wirft freilich die Frage auf: Ab welchem Betrag ist man denn eigentlich zahlungsunfähig? Die InsO nennt keine Summe, § 17 Abs. 2 S. 1 stellt nur darauf ab, ob der Schuldner in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Hört man sich bei Schuldnerberatern um, so werden die Summen teilweise sehr niedrig angesetzt. Die Bundesstatistik weist als niedrigstes Datum – wenig aussagekräftig!31 – Forderungen unter 10.000 € aus, in diese Gruppe gehören 40,9 % der Schuldner. 27,6 % der erfassten Haushalte haben Schulden zwischen 10.000 € und 25.000 €, 16,4 % müssen 25.000 € bis 50.000 € abtragen. Mit 50.000 € bis 100.000 € Verbindlichkeiten stehen 7,6 % der Haushalte in der Kreide, 100.000 € und mehr belasten immerhin noch 7,5 % der deutschen Haushalte. Gerade die erste Gruppe sollte nach der Forderungshöhe weiter ausdifferenziert werden, denn je geringer die Schulden sind, desto mehr sollte über Alternativen zu einem Verbraucherinsolvenzverfahren nachgedacht werden (siehe noch unten VIII.5.). Diese Konsequenz legt schon eine einfache (Verfahrens)Kosten-Nutzen(Entschuldung)-Analyse nahe.
III. Verbraucherinsolvenz und Restschuldbefreiung als legislative Reaktion auf die Überschuldung der Privathaushalte 1. Ausgangspunkt: Unbeschränkte Vermögenshaftung für Verbindlichkeiten § 241 Satz 1 BGB formuliert lapidar: Kraft des Schuldverhältnisses ist der Gläubiger berechtigt, von dem Schuldner eine Leistung zu verlangen. Keinerlei Probleme gibt es, wenn der Schuldner leisten will und auch kann. Das Schuldverhältnis erlischt, wenn die geschuldete Leistung von dem Schuldner bewirkt wird, § 362 Abs. 1 BGB. Von einer Erfüllung der Verbindlichkeiten kann in Fällen der Zahlungsunfähigkeit freilich nicht die Rede sein. Das BGB 31 Präziser auch hier die Landesstatistik Rheinland-Pfalz (oben Fn. 1), 17.
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enthält für entsprechende Fälle keine Regelung. „Pacta sunt servanda“ lautet der alte römischrechtliche Grundsatz,32 der im Kern auch heute noch unverändert gilt und nichts anderes besagt als: Verträge müssen eingehalten werden. Und zwar grundsätzlich alle! Von der Geldschuld wird der Schuldner auch dann nicht frei, wenn die Leistung für ihn unmöglich ist.33 Geht also ein Rechtssubjekt zu viele Verbindlichkeiten angesichts seines finanziellen Leistungsvermögens ein, so hat es für diese dennoch einzustehen. Insoweit handelt es sich um einen unserer Rechts- und Wirtschaftsordnung immanenten allgemeinen Rechtsgrundsatz; er kommt in dem Prinzip der unbeschränkten Vermögenshaftung zum Ausdruck. Der in den §§ 850 ff. ZPO normierte Pfändungsschutz der Zivilprozessordnung garantiert dem Schuldner zwar einen gewissen Mindeststandard, die Schulden als solche lässt er allerdings unangetastet. Der mittellose Schuldner wird immerhin zur Kenntnis genommen, die legislative Reaktion verkörpert aber lediglich die sozialstaatlich gebotene Reaktion auf seine besondere Situation bei der Zwangsvollstreckung. 2. Entschuldung als insolvenzrechtlicher Ausweg Dem Gesagten entsprechend ist vorrangiges Ziel des Insolvenzrechts die bestmögliche Gläubigerbefriedigung, wie sich § 1 Satz 1 InsO entnehmen lässt: „Das Insolvenzverfahren dient dazu, die Gläubiger eines Schuldners gemeinschaftlich zu befriedigen, indem das Vermögen des Schuldners verwertet und der Erlös verteilt oder in einem Insolvenzplan eine abweichende Regelung insbesondere zum Erhalt des Unternehmens getroffen wird“. Satz 2 der Vorschrift schlägt andere Töne an: „Dem redlichen Schuldner wird Gelegenheit gegeben, sich von seinen restlichen Verbindlichkeiten zu befreien“. Es geht also nicht mehr nur um Vollstreckungsschutz, sondern um die vollständige Befreiung vom Rest der Schulden bzw. von den Schulden schlechthin. Angesprochen sind damit das sog. „Verbraucherinsolvenzverfahren“ sowie vor allem die „Restschuldbefreiung“. Knapp formuliert kann man die diesbezügliche Zielsetzung der Insolvenzordnung wie folgt wiedergeben: Es geht darum, für wirtschaftlich gescheiterte Personen die Möglichkeit der 32 Vgl. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 6. Aufl., 1998, 165 (3) m.w.N. 33 Siehe nur Palandt/Heinrichs, 67. Aufl., 2008, BGB, § 275 Rdnr. 3.
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Entschuldung innerhalb angemessener Zeit unter möglichst geringer Belastung der Gerichte zu schaffen. Übrigens kannten frühere deutsche Rechte bereits der Restschuldbefreiung vergleichbare Institute, exemplarisch sei hier nur die Hamburger Fallitenordnung vom 31.8.1753 genannt. Diese ging auf das römische Recht zurück, das dem Schuldner nach der „cessio bonorum“, also der Abtretung der Güter Schuldturm und Infamie ersparte. Die Schuldenbereinigung existiert freilich schon seit frühester Zeit als Motiv und gesellschaftliche Aufgabe im jüdisch-christlichen Kulturkreis.34 Die Entwicklungslinie der Entschuldungsgesetzgebung in jüngerer Zeit beginnt mit der Geschäftshilfe aus dem Jahre 1914 und findet ihre Fortsetzung in den Vergleichsordnungen der Jahre 1927 und 1935. Für den Bereich der Landwirtschaft findet sich in der Weimarer Zeit eine Entschuldungsgesetzgebung, die bis in die NS-Zeit reicht.35 Zu nennen ist schließlich auch das Vertragshilfegesetz aus dem Jahre 1952. Während in den genannten Gesetzen des 20. Jahrhunderts anfänglich nur die Rahmenbedingungen der Schuldentilgung geregelt wurden, also dem Schuldner die Rückzahlung erleichtert wurde, ging der Gesetzgeber später dazu über, finanzielle Hilfe zur privatautonomen wenn auch staatlich-moderierten Entschuldung zu gewähren, um schließlich die hoheitliche Entlastung der Bürger von ihren Schulden sicherzustellen.36 3. Gründe der Schuldbefreiung Wenn man über Schuldbefreiung nachdenkt, muss man sich, noch bevor man überhaupt an das Regelungsinstrumentarium und seine Bewertung herangeht, fragen, warum es eine solche überhaupt geben soll. Denn Privatautonomie und unbeschränkte bürgerlichrechtliche Vermögenshaftung für Verbindlich34 Anlauf, Vorgänger der Restschuldbefreiung nach heutigem Insolvenzrecht, 2006, 3, der auf folgendes Zitat aus 3. Mose 25, Verse 8-10 verweist: „Und Du sollst zählen sieben Sabbatjahre, siebenmal sieben Jahre, dass die Zeit der sieben Sabbatjahre neunundvierzig Jahre ausmache. Da sollst Du die Posaune blasen lassen durch euer ganzes Land am zehnten Tage des siebenten Monats, am Versöhnungstag. Und ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und sollt eine Freilassung ausrufen, für alle, die darin wohnen; es soll ein Erlassjahr für Euch sein. Da soll ein jeder bei euch wieder zu seiner Habe und zu seiner Sippe kommen“. 35 Dazu grundlegend Anlauf (oben Fn. 34), 143 ff., 203 ff. 36 So das Fazit bei Anlauf (oben Fn. 34), 391.
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keiten aus Schuldverhältnissen sind ja wie ausgeführt integraler Bestandteil unserer Rechts- und Wirtschaftsordnung. Auch der Gleichheitsgedanke kommt insoweit ins Spiel: Warum soll der solvente Schuldner für eine Leistung einzustehen haben, der nicht solvente aber ebenso in den Genuss der Gegenleistung kommen, ohne die Leistung erbringen zu müssen, und zwar alleine deshalb, weil er nicht leisten kann? Insoweit sei nochmals an die Überschuldungsgründe erinnert: Hauptursache der Zahlungsunfähigkeit ist der Eintritt von Arbeitslosigkeit (29,3 %), eine Ursache, welche der betroffene Schuldner regelmäßig nicht beeinflussen kann. Von diesem eher psychologischen Argument mit Blick auf die Gläubiger einmal abgesehen kann man an erster Stelle als Regelungsziel der Restschuldbefreiung die Gleichbehandlung von natürlichen Personen gegenüber Kapitalgesellschaften in der Insolvenz nennen.37 Juristische Personen sind keinem Nachforderungsrecht ausgesetzt, weil sie mangels Vermögen aufgelöst (§ 262 Abs. 1 Nr. 3 AktG, § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG) und dann in der Regel im Register gelöscht werden (§ 141a FGG). Natürlichen Personen bleiben ihre Verbindlichkeiten demgegenüber erhalten. Weiter soll dem Schuldner die Chance eröffnet werden, sich finanziell zu erholen und eine neue Existenz aufbauen zu können. Neben dem sozialen und wirtschaftlichen Auftrag, dem Schuldner einen Neubeginn zu ermöglichen, wird gleichzeitig auch das gesamtwirtschaftliche Ziel verfolgt, den Schuldner als Marktteilnehmer zu reintegrieren. Auch die Verfassung wird insoweit ins Feld geführt: Eine Berücksichtigung der Grundrechte des Art. 1 GG, der die Menschenwürde garantiert, und des Art. 2 GG, welcher die allgemeine Handlungsfreiheit gewährleistet, lässt sich in diesem Zusammenhang vornehmlich dort hören, wo es ohne Vertretenmüssen des Schuldners oder gegebenenfalls auch leichter Fahrlässigkeit zu Schulden großen Ausmaßes gekommen ist und ohne die Möglichkeit einer Entschuldung eine massive Existenzbeeinträchtigung die Folge wäre.38 Mit der Garantie des Existenzminimums und mit der Unverfügbarkeit der Arbeitskraft trägt die Restschuldbefreiung der Achtung des Schuldners Rechnung und schließt ebenfalls Personen ein, die 37 Arnold, DGVZ 1996, 65, 66; siehe auch Foerste, Insolvenzrecht, 4. Aufl., 2008, Rdnr. 527. 38 Frankfurter Kommentar zur InsO/Ahrens, 4. Aufl., 2006, § 286 Rdnr. 5e m.w.N.; Uhlenbruck/Vallender, InsO, 12. Aufl., 2003, Vor § 286 Rdnr. 54 ff. m.w.N.; zweifelnd Foerste (oben Fn. 37), Rdnr. 528.
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durch Krankheit oder Alter bedingt nicht mehr aktiv in der Wertschöpfungskette beteiligt sind. Richtig ist jedenfalls, dass Schuldner wie Gläubiger nur gewinnen können, wenn es gelingt, dem Schuldner wiederum eigenverantwortliche Entscheidungen zu ermöglichen und ihn in seinem Arbeitswillen zu stärken. Denn von einem ausweglos in finanzielle Bedrängnis geratenen Schuldner hat auch der Gläubiger nichts mehr zu erwarten. Letztendlich stand der deutsche Gesetzgeber freilich noch in ganz anderer Hinsicht unter Druck: Ausländische Rechtsordnungen gewähren ihren Schuldnern ebenfalls unter gewissen Voraussetzungen die Möglichkeit einer Entschuldung. Damit ist freilich schon der „Restschuldbefreiungstourismus“ angesprochen, auf den noch einzugehen sein wird. Durch die Einführung des Verbraucherinsolvenzverfahrens sowie der Restschuldbefreiung für zahlungsunfähige Privatpersonen sowie ebensolche Kleingewerbetreibende eröffnet der deutsche Gesetzgeber die Möglichkeit, die Schuldenlast auch ohne Einwilligung der Gläubiger in einem (vermeintlich) einfachen Verfahren loszuwerden. § 304 Abs. 1 S. 1 InsO spricht vom Schuldner als „natürliche(r) Person, die keine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit ausübt oder ausgeübt hat“. Juristische Personen sind damit von vorneherein aus dem Verbraucherinsolvenzverfahren ausgeschlossen. Kleingewerbetreibende erfasst § 304 Abs. 1 S. 2 InsO, welcher dieser Schuldnergruppe die Verbraucherinsolvenz dann ermöglicht, wenn die Vermögensverhältnisse überschaubar sind und keine Forderungen aus Arbeitsverhältnissen bestehen. Überschaubarkeit im genannten Sinne ist nach § 304 Abs. 2 InsO dann gegeben, wenn zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens weniger als zwanzig Gläubiger vorhanden sind. Allerdings ist der Regelungskomplex gerade nicht als ein im ausschließlichen Schuldnerinteresse zu verstehendes „Schuldenerlassgesetz“ zu sehen. Vielmehr handelt es sich nach wie vor um ein Verfahren zur möglichst gleichmäßigen Befriedigung der Gläubiger eines Schuldners, dessen Mittel zur vollständigen Tilgung aller Verbindlichkeiten nicht mehr ausreichen. Der Schuldner erhält freilich die Chance, nach Ablauf von sechs Jahren seine Verbindlichkeiten loszuwerden. Das setzt voraus, dass er redlich ist und sich einem komplizierten Verfahren unterwirft, wobei die Insolvenzordnung ein Dreistufenmodell geschaffen hat: Auf die nächste Stufe kommt der Schuldner nur dann, wenn er die vorherige erfolgreich durchlaufen hat. Da die Bewertung dieses Modells seine nähere Kenntnis voraussetzt, sind seine Grundzüge im Folgenden kurz zu skizzieren.
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IV. Das Verbraucherinsolvenzverfahren nach den §§ 304 ff. InsO 1. Erste Stufe: Außergerichtlicher Einigungsversuch Die erste Stufe, welche der Schuldner zu durchlaufen hat, ist der außergerichtliche Einigungsversuch. Gemäß § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO muss der Schuldner eine außergerichtliche Einigung mit den Gläubigern über die Schuldenbereinigung auf der Grundlage eines Plans innerhalb der letzten sechs Monate vor dem Eröffnungsantrag erfolglos versucht haben; dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist eine entsprechende Bescheinigung beizulegen oder nachzureichen. Die Insolvenzordnung selbst regelt diesen außergerichtlichen Einigungsversuch nicht näher, es fehlen Angaben über Form und Inhalt des Schuldenbereinigungsplans. Hintergrund seiner Einführung als Antragsvoraussetzung war die Überlegung, dadurch die Justiz zu entlasten. Das Gebot eines „Plans“ bezweckte, dass wirklich ernsthafte Verhandlungen mit den Gläubigern geführt würden; der außergerichtliche Einigungsversuch sollte also gerade nicht zur bloßen Formalität verkommen. Es muss mit allen Gläubigern verhandelt werden; erklärt sich auch nur ein Gläubiger mit dem Plan nicht einverstanden, so ist der außergerichtliche Einigungsversuch gescheitert. Regelmäßig wird freilich schon die Aufstellung des Plans für den Schuldner ohne fremde Hilfe unmöglich sein; dies gilt insbesondere für Schuldner mit vielen Gläubigern. Jedenfalls für die Bescheinigung des außergerichtlich gescheiterten Einigungsversuchs bedarf der Schuldner gemäß § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO einer „geeigneten Person oder Stelle“. Dies ist im kostengünstigsten Falle ein Schuldnerberater, in Betracht kommen aber auch beispielsweise Steuerberater, Rechtsanwälte und Notare.39 Sind alle Gläubiger mit dem Schuldenbereinigungsplan einverstanden, richten sich die Rechtsverhältnisse der Beteiligten ausschließlich nach materiellem Recht; insbesondere ist der Schuldenbereinigungsplan per se kein Vollstreckungstitel. Nach Erfüllung der insoweit vereinbarten Tilgung der Verbindlichkeiten wird der Schuldner frei. Für ein Verbraucherinsolvenzverfahren besteht kein Anlass mehr. Kommt hingegen kein Schuldenbereinigungsplan zustande, was schon bei der fehlenden Zustimmung auch nur eines Gläubigers der Fall ist, geht es in die zweite Stufe des Verfahrens. Die Vor-
39 Zu den in den Landesausführungsgesetzen zur InsO geregelten „geeigneten Stellen“ näher Hergenröder, ZVI 2007, 448.
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aussetzung für das gerichtliche Schuldenbereinigungsverfahren ist gegeben, binnen sechs Monaten hat der Schuldner den Antrag auf Verfahrenseröffnung zu stellen. 2. Zweite Stufe: Gerichtlicher Schuldenbereinigungsplan Schon mit dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens muss der Schuldner neben Vermögens-, Gläubiger- und Forderungsverzeichnissen einen Schuldenbereinigungsplan vorlegen, § 305 Abs. 1 Nr. 3 und 4 InsO. Jener dient als Grundlage des nunmehr folgenden gerichtlichen Güteversuchs. Es handelt sich zwar um einen eigenständigen Plan im Vergleich zum Schuldenbereinigungsplan im außergerichtlichen Verfahren, gleichwohl kann und wird Letzterer regelmäßig als Vorlage dienen. Das Insolvenzgericht ist nun nochmals um eine Einigung zwischen Schuldner und Gläubiger(n) bemüht, der Antrag auf Eröffnung des Verfahrens ruht, wobei das Gesetz für diesen neuerlichen Güteversuch drei Monate vorsieht, § 306 Abs. 1 InsO. Allerdings ist klarzustellen, dass es sich insoweit nicht um ein Vermittlungsverfahren dergestalt handelt, dass das Gericht zusammen mit den Beteiligten die Schuldenbereinigung erarbeitet. Das Insolvenzgericht trifft keine Beratungspflicht. Vielmehr hat der Insolvenzrichter unter Wahrung der allgemeinen Grundsätze des Insolvenzverfahrens strikte Neutralität zu wahren. Das Gericht stellt den Gläubigern den Plan sowie Vermögens-, Gläubigerund Forderungsverzeichnis zu und fordert sie auf, binnen eines Monats Stellung zu nehmen, § 307 Abs. 1 S. 1 InsO. Äußert sich ein Gläubiger nicht, so fingiert § 307 Abs. 2 InsO dessen Einverständnis mit dem Schuldenbereinigungsplan. Erhebt kein Gläubiger Einwendungen, so gilt der Schuldenbereinigungsplan als angenommen, § 308 Abs. 1 S. 1 InsO. Unter den Voraussetzungen des § 309 Abs. 1 InsO ersetzt darüber hinaus das Insolvenzgericht die erforderliche Zustimmung ablehnender Gläubiger. Unerlässlich ist allerdings, dass mehr als die Hälfte der benannten Gläubiger dem Plan zugestimmt hat und die Summe der Ansprüche dieser Gläubiger mehr als die Hälfte der Ansprüche der benannten Gläubiger ausmacht. Kommt der Plan solchermaßen zustande, so stellt das Insolvenzgericht dies durch Beschluss fest; gemäß § 308 Abs. 1 S. 2 InsO hat dieser die Wirkung eines gerichtlichen Vergleichs. Das Insolvenzverfahren ist damit beendet, § 308 Abs. 2 InsO fingiert die Rücknahme der Anträge auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens und auf Erteilung von Restschuldbefreiung. Der Schuldner ist seine Verbindlich-
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keiten los, wenn er die im Schuldenbereinigungsplan genannten Auflagen erfüllt hat. Eine Ausnahme ist allerdings zu machen: Gläubiger, deren Forderungen vom Schuldner nicht im Verzeichnis aufgeführt und die auch nicht bei der Planerrichtung berücksichtigt worden sind, können nach § 308 Abs. 3 InsO unbeschränkt weiter gegen den Schuldner vorgehen; ihre Forderungen erlöschen nicht. Scheitert die Einigung im gerichtlichen Schuldenbereinigungsverfahren, so wird das bislang ruhende Insolvenzverfahren gemäß §§ 311, 27 InsO von Amts wegen durch Beschluss wieder aufgenommen; es geht auf die dritte Stufe. 3. Dritte Stufe: Verbraucherinsolvenzverfahren Erst wenn der außergerichtliche und der gerichtliche Einigungsversuch gescheitert sind, kommt es zum vereinfachten Verbraucherinsolvenzverfahren, das sich vom Regelinsolvenzverfahren insbesondere durch folgende Punkte unterscheidet: Öffentliche Bekanntmachungen erfolgen auszugsweise, es wird bei Verfahrenseröffnung nur der Prüfungstermin bestimmt (§ 312 InsO), der sog. „Treuhänder“ mit deutlich eingeschränkten Befugnissen (§ 313 InsO)40 ersetzt den Insolvenzverwalter, schließlich ist ein vereinfachtes Verteilungsverfahren möglich. Von der Verwertung der Insolvenzmasse kann ganz oder teilweise abgesehen werden, stattdessen muss der Schuldner einen dem Wert der Masse entsprechenden Betrag an den Treuhänder zahlen, § 314 Abs. 1 S. 1, 2 InsO. Liegt ein Eröffnungsgrund nach §§ 16 ff. InsO, also Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 InsO oder drohende Zahlungsunfähigkeit nach § 18 InsO, vor, wird bei Deckung der Kosten oder deren Stundung nach § 4a InsO das Verfahren vom Insolvenzgericht eröffnet, vgl. § 26 Abs. 1 S. 1, 2 InsO. Es bestimmt den schon genannten Treuhänder und einen Termin zur Prüfung der beim Treuhänder anzumeldenden Forderungen. Der Beschluss wird bekannt gemacht und ist den Gläubigern, dem Schuldner sowie den Schuldnern des Schuldners zuzustellen, vgl. im Einzelnen § 30 InsO. Mit Verfahrenseröffnung geht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf den Treuhänder über, §§ 304, 80, 313 InsO. Dennoch erfolgende Verfügungen des Schuldners sind vorbehaltlich einer Genehmigung durch den Treuhänder
40 Zur Stellung des Treuhänders näher Hergenröder, ZVI 2005, 521.
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nach §§ 304, 81 InsO unwirksam. Soweit pfändbares Vermögen des Schuldners vorhanden ist und vom vereinfachten Verteilungsverfahren abgesehen wird, wird es verwertet und der Erlös an die Gläubiger nach Quoten ausgeschüttet. Mit Verwertung der Insolvenzmasse bzw. Zahlung des Betrags nach § 314 InsO ist das Verbraucherinsolvenzverfahren beendet, §§ 196, 197, 200 InsO. 4. Wohlverhaltensperiode Hat der Schuldner die Restschuldbefreiung entsprechend §§ 305 Abs. 1 Nr. 2, 287 InsO beantragt, prüft das Insolvenzgericht insbesondere, ob der Schuldner überhaupt berechtigt ist, eine Restschuldbefreiung zu erfahren und in Bezug auf welche Forderungen sie erfolgen kann; es wird die Höhe der einzelnen Forderungen festlegen, eventuelle Rangfolgen bestimmen, strittige Forderungen mit Schuldnern und Gläubigern erörtern und einen Treuhänder bestimmen. Soweit die Voraussetzungen in der Person des Schuldners gegeben sind, also insbesondere keine Versagungsgründe vorliegen, wird die Restschuldbefreiung angekündigt, § 291 Abs. 1 InsO. Der Schuldner muss freilich gemäß § 287 Abs. 2 S. 1 InsO seine pfändbaren Bezüge für die Zeit von sechs Jahren nach Ablauf des Insolvenzverfahrens an den Treuhänder abtreten. Die Versagungsgründe zählt § 290 InsO sorgfältig auf gemäß dem Leitsatz des § 1 S. 2 InsO: „Dem redlichen Schuldner wird Gelegenheit gegeben, sich von seinen Schulden zu befreien“. Zu den Gründen, warum eine Restschuldbefreiung versagt werden kann, zählen etwa die Verurteilung wegen einer Insolvenzstraftat, falsche Selbstauskünfte sowie die Verletzung von Mitwirkungspflichten im Verfahren, vgl. im Einzelnen § 290 Abs. 1 InsO. Auch die vorsätzliche oder grob fahrlässige Beeinträchtigung der Befriedigung der Gläubiger durch die Begründung unangemessener Verbindlichkeiten oder die Verschwendung von Vermögen im letzten Jahr vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist gemäß § 290 Abs. 1 Nr. 4 Versagungsgrund. Hinzuweisen ist darauf, dass diese Versagungsgründe nicht von Amts wegen, sondern nur auf Gläubigerantrag geprüft werden, der überdies glaubhaft gemacht werden muss, § 290 Abs. 2 InsO. Wird die Restschuldbefreiung angekündigt, gehen die pfändbaren Bezüge des Schuldners nunmehr auf den Treuhänder über.
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Voraussetzung für die endgültige Restschuldbefreiung des Schuldners ist, dass sich der Schuldner nach Abschluss des Insolvenzverfahrens in der sechsjährigen Wohlverhaltensperiode (§ 287 Abs. 2 S. 1 InsO) gesetzeskonform verhält. Die diesbezüglichen Obliegenheiten nennt § 295 InsO: Danach hat der Schuldner eine angemessene Erwerbstätigkeit auszuüben, im Fall von Arbeitslosigkeit darf keine zumutbare Tätigkeit abgelehnt werden. Erbschaften sind zur Hälfte dem Treuhänder zu übergeben. Neben bestimmten Auskunfts- und Berichtspflichten gegenüber Insolvenzgericht und Treuhänder darf der Schuldner insbesondere Zahlungen nur an den Treuhänder leisten, jede Bevorzugung eines Insolvenzgläubigers ist untersagt. Werden die genannten Obliegenheiten schuldhaft verletzt und wird dadurch die Befriedigung der Insolvenzgläubiger beeinträchtigt, kann dies zur Versagung der Restschuldbefreiung führen. Gleiches gilt, wenn der Schuldner im Zeitraum der Wohlverhaltsperiode wegen einer Insolvenzstraftat verurteilt wird, § 297 InsO. Immerhin bietet § 292 Abs. 1 S. 4 InsO dem Schuldner einen gewissen Anreiz, durchzuhalten: Nach Ablauf von vier Jahren erhält er einen jährlich steigenden Selbstbehalt aus der zur Verfügung stehenden Verteilungssumme. In der Sache geht es bei alledem um eine Beschränkung der Nachhaftung, vgl. § 201 Abs. 3 InsO: In der Wohlverhaltensperiode können die Gläubiger Befriedigung ihrer offenen Forderungen nur über den Treuhänder erreichen. Dieser zieht die abgetretenen Forderungen des Schuldners ein und kehrt sie an dessen Gläubiger aus, vgl. § 292 Abs. 1 S. 2 ZPO. Vollstreckungsmaßnahmen gegen den Schuldner sind gemäß § 294 Abs. 1 InsO während der Treuhandphase unzulässig. 5. Restschuldbefreiung Hat der Schuldner die drei Stufen − außergerichtlicher Einigungsversuch, gerichtlicher Einigungsversuch und vereinfachtes Verbraucherinsolvenzverfahren − überwunden und dann noch die sechsjährige Wohlverhaltensperiode durchgestanden, erteilt das Insolvenzgericht die Restschuldbefreiung, wenn keine Versagungsgründe vorliegen, § 300 InsO. Die Restschuldbefreiung hebt die Nachhaftung des Schuldners auf. Sie beseitigt nicht die Forderungen, diese werden vielmehr zu unvollkommenen Verbindlichkeiten.41 Die An41 Siehe Begr. RegE BR-Drucks. 1/92, 194; Frankfurter Kommentar zur InsO/ Ahrens (oben Fn. 38), § 300 Rdnr. 13; § 301 Rdnr. 8; Wenzel, DB 1990, 975,
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sprüche bleiben also erfüllbar, können aber von den Gläubigern nicht mehr durchgesetzt werden. § 301 Abs. 2 S. 1 InsO stellt ausdrücklich klar, dass die Rechte der Insolvenzgläubiger gegen Mitschuldner und Bürgen des Schuldners nicht berührt werden. Allerdings ist nach Abs. 2 S. 2 der Vorschrift ein Rückgriff dieser Personengruppe gegen den Schuldner nunmehr ausgeschlossen. Gewisse Forderungen wie etwa solche aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung werden von der Erteilung der Restschuldbefreiung nicht berührt, § 302 InsO. Bei vorsätzlicher Verletzung von Obliegenheiten des Schuldners und damit einhergehender erheblicher Beeinträchtigung der Befriedigung der Insolvenzgläubiger kann nach § 303 InsO binnen eines Jahres allerdings der Widerruf der Restschuldbefreiung beantragt werden.
V. Entschuldung im Ausland – der „Restschuldbefreiungstourismus“ 1. Zahlungsunfähigkeit in den Rechtsordnungen europäischer Staaten Die Überschuldung der Privathaushalte ist kein rein deutsches Problem, vielmehr sind viele europäische Staaten hiervon betroffen. So betrug der Prozentsatz der überschuldeten Haushalte im Jahre 2002 in Finnland rund 2 %, im Jahre 2003 in Frankreich und Schweden jeweils 3 %, und in den Niederlanden im Jahr 2004 rund 4 %.42 Deutlich höher liegen diese Prozentsätze in Großbritannien (2004: 7,6 %, 2005: 8,1 %, 2006: 8,3 %, 2007: 10,0 %, 2008: 10,4 %) und den USA (2004: 12,7 %, 2005: 13,6 %, 2006: 13,9 %, 2007: 10.4 %, 2008: 14,7 %).43 Äußerst unterschiedlich ist allerdings die Art und Weise, wie die betreffenden Rechts- und Gesellschaftsordnungen mit ihren zahlungsunfähigen Schuldnern umgehen. Eine ganze Reihe von Staaten verfahren nach dem System, wie es dem deutschen Recht über ein Jahrhundert unter der alten Konkursordnung eigen war: Die Insolvenz dient der alleinigen Befriedigung der Gläubiger. Eine Hilfe zur Bereinigung der Verbindlichkeiten stellt sie indes kaum dar. Nach Abschluss des Gesamtvollstreckungs977. Von einer natürlichen Verbindlichkeit oder Naturalobligation sprechen Arnold DGVZ 1996, 65, 70; Braun/Lang, InsO, 3. Aufl., 2007, § 301 Rdnr. 9; Döbereiner, KTS 1998, 31. 42 Reifner/Springeneer, Private Überschuldung im internationalen Vergleich, 2004. 43 Creditreform Schuldneratlas Deutschland, 2008, 33.
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verfahrens können die Gläubiger ihre Restforderungen unbeschränkt geltend machen. Die Weiterhaftung des Schuldners entfällt nur insofern, als sie in einem Vergleich, gegebenenfalls auch einem Zwangsvergleich, ausgeschlossen wird. Keine Restschuldbefreiung in diesem Sinne kennen unter anderem Bosnien, Bulgarien, Griechenland, Kroatien, Italien, Lettland, Litauen, Polen, Portugal, Slowenien, Spanien, die Türkei und Ungarn. So ist z.B. das ungarische Konkursgesetz44 nur auf Unternehmen ausgerichtet; eine der Restschuldbefreiung vergleichbare Regelung für Privatpersonen gibt es nicht. Die Schuldner bleiben auf Dauer den Forderungen ausgesetzt. Auch besteht in Ungarn keine Beschränkung der Forderungen auf einen pfändbaren Teil. Verbindlichkeiten sind mit dem vollen Einkommen zu befriedigen. Der ungarische Gesetzgeber verzichtete bewusst auf eine der Restschuldbefreiung ähnliche Regelung, da man der Ansicht war, sonst vorsätzlichen Verschuldungen Tür und Tor zu öffnen. Der Gläubigerschutz hat also Vorrang. Auch in anderen Staaten wie etwa in Polen scheiterte bislang die Einführung einer Privatinsolvenz mit Restschuldbefreiung am politischen Widerstand. Wieder andere Länder wie die Schweiz kennen zwar keine Restschuldbefreiung, ermöglichen dem zahlungsunfähigen Schuldner aber ein Sanierungsverfahren sowie ein Privatinsolvenzverfahren. Der Schuldner kann zwar keine Restschuldbefreiung erwirken, die nach Abschluss des Konkursverfahrens verbleibenden Forderungen werden aber gestundet und bestehen in Form von sogenannten Verlustscheinen weiter. Die dritte Gruppe von Staaten weist – teilweise allerdings mit deutlichen Unterschieden in der Ausgestaltung – Parallelen zur deutschen Verbraucherinsolvenz auf. Restschuldbefreiung kann man unter anderem in Belgien, England45, Finnland, Frankreich46, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Schweden und Tschechien erlangen. Von Bedeutung ist dabei die Regel(!)verfahrensdauer bis zur Entschuldung. Sie reicht von sieben Jahren (Österreich) über fünf bzw. drei Jahre (Belgien, Finnland, Niederlande, Schweden) bis zu einem Jahr (Elsass-Moselle, England). Klarzustellen ist, 44 Csödtörvény 1991. XLIX. 45 Zu den Privatinsolvenzrechten auf der britischen Insel eingehend Hergenröder/ Alsmann, ZVI 2007, 337. 46 Hierzu näher Köhler, Entschuldung und Rehabilitierung vermögensloser Personen im Verbraucherinsolvenzverfahren – ein Vergleich der Verfahrensreformen in Frankreich und Deutschland, 2003, 367 f.; ders., ZVI 2003, 626, 644.
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dass es sich um eine Regelverfahrensdauer handelt, die je nach Rechtsordnung im einzelnen Verfahren erheblich differieren kann. 2. Rechtstatsächliches und Rechtspolitisches zum Restschuldbefreiungstourismus Es liegt nahe, dass eine zahlungsunfähige Person, welche von den deutlich kürzeren Entschuldungsfristen im Ausland erfährt, den Weg dorthin antritt, sofern sie sich in Sicherheit wiegen kann, dass die unter einem fremden Recht erlangte Restschuldbefreiung auch den inländischen Gläubigern entgegengehalten werden kann (dazu sogleich unter V.3.). Folgender im Schrifttum47 dokumentierte Fall („Londoner Radiologe“) mag als Anschauungsmaterial dienen: Der Schuldner wurde vom OLG Koblenz am 15.3.2006 zur Zahlung von 185.989,57 € verurteilt. Anschließend übertrug er sein Grundstück auf die Ehefrau. Es folgte der Umzug nach London, dort wurde eine Limited gegründet, als deren Geschäftsführerin die Ehefrau fungierte. Diese Limited stellte den Schuldner gegen ein Monatsgehalt von 500 englischen Pfund an. Sie überließ danach den Schuldner einem englischen Krankenhaus zu einem Stundensatz von 50 Pfund als Aushilfe. Alsbald stellte der Schuldner in London den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Das Verfahren wurde im Februar 2007 eröffnet, der High Court of Justice London erklärte mit seiner Entscheidung vom 22.6.2007 die Verfahrenseröffnung als ordnungsgemäß. In der Praxis erfreuen sich in erster Linie Elsass-Moselle und England einer entsprechenden Beliebtheit. Zwischenzeitlich existiert eine Vielzahl kommerzieller Anbieter von Entschuldungen im Ausland, welche der deutsche Schuldner etwa über Anzeigen in Zeitungen, Hinweisen auf den Hauptseiten von Providern oder schlicht durch Eingabe entsprechender Suchworte wie „EU-Insolvenz“ in Suchmaschinen im Internet findet. Angeboten werden Erstberatungen zu pauschal 1.500 € bzw. Honoraren von 86 € pro halber Stunde. Das „Komplettpaket“ zur Entschuldung in Großbritannien ist gegenwärtig zu einem Preis von 7.500 € zu haben. Letzteres beinhaltet unter anderem die Anmietung einer Wohnung in London, die Eröffnung eines privaten
47 Pel, ZVI 2008, 152.
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Kontos bei der Bank, die Gründung der „notwendigen“ Limited mit Betriebsstätte in England, welche den Schuldner offiziell beschäftigt, die Stellung der notwendigen Treuhänder der Gesellschaft, die Eröffnung des Geschäftskontos der Limited und die steuerliche Anmeldung, eine „aktive“ Geschäftsadresse der Limited in England mit Sekretariats- und Telefonservice, die Gestaltung des Arbeits- oder Dienstleistungsvertrages zwischen dem Schuldner und der Gesellschaft mit Sitz in England, die Einleitung und Antragstellung des „Bankrottverfahrens“ in England, die Betreuung durch einen Anwalt in England sowie die Begleichung der Verfahrenskosten. Man hat es insoweit mit einem speziellen Zweig der Vertretung des Schuldners zu tun, nämlich der gewerblichen Schuldnerberatung.48 Freilich wird in manchen Anzeigen mehr versprochen als angesichts der Rechtslage in den betreffenden Staaten gehalten werden kann. Dies mag man dem Schuldner im „Startertreff“ dann auch klarmachen; freilich hat er für diese Auskunft dann schon ein Honorar zu berappen, welches den monatlichen Hartz-IV-Bezug weit überschreitet. Wer sich über die Seriosität solcher Angebote informieren möchte, mag die entsprechenden Foren im Internet konsultieren. Teilweise geht es aber auch gar nicht um eine Restschuldbefreiung im Ausland: Vielmehr wird dem Schuldner unverhohlen angeboten, mit der Drohung der Einleitung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens in England oder Frankreich seine deutschen Gläubiger zum Abschluss eines Vergleichs zu bewegen nach dem Motto: „Besser eine geringe Quote als eine ausländische Restschuldbefreiung“. Davon aber einmal abgesehen, ist in Frankreich oder England die Restschuldbefreiung binnen Jahresfrist durchaus zu erlangen, wenn die Voraussetzungen erfüllt werden. Freilich ist in rechtstatsächlicher Hinsicht zweierlei zu bemerken: Der Schuldner muss über die notwendigen Geldmittel verfügen, um die Vermittlung bezahlen zu können. Für die völlig mittellosen Personen kommt die Reise ins Ausland also von vorneherein nicht in Betracht. Was die Gläubiger anbelangt, so werden die Kleingläubiger eine Verfolgung über die Grenze regelmäßig nicht betreiben; sie werden auch die Eröffnungszuständigkeit des angegangenen französischen oder englischen Insolvenzgerichts nicht bestreiten. Sie sind also die wahren Verlierer des Restschuldbefreiungstourismus. Anders sieht es aus, wenn kapitalstarke Gläubiger wie 48 Dazu eingehend Hergenröder, ZVI 2003, 577; ders., ZVI 2007, 448, 453 f.
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Kreditinstitute vorhanden sind: Diese haben durchaus die Möglichkeit, sich auf entsprechende ausländische Verfahren einzulassen und entsprechend einen Rechtsmissbrauch – der häufig vorliegen wird – vorzutragen. Gesagt werden muss auch, dass die französischen Insolvenzgerichte immer weniger geneigt sind, das Spiel mitzumachen.49 Jedenfalls geht der „Trend“ zur Zeit eindeutig nach England. Dies wird bei den entsprechenden gewerblichen Anbietern gegenwärtig auch mehr oder minder deutlich kommuniziert. Rechtspolitisch wird der Restschuldbefreiungstourismus durchaus unterschiedlich bewertet. Von Seiten mancher Insolvenzverwalter wünscht man sich ein deutsches Insolvenzrecht, welches im Wettbewerb der Rechtsordnungen dazu führt, dass Unternehmensinsolvenzen künftig in Deutschland abgewickelt werden. Die Privatinsolvenzen mögen ruhig ins Elsass gehen, wenigsten würden die deutschen Insolvenzverwalter und Insolvenzgerichte damit nicht belastet. Für den Staat mag dies in der Tat interessant sein: Da gegenwärtig bei mittellosen Schuldnern die Kosten gestundet werden, sie de facto also uneinbringlich sind – Rückflüsse einmal außen vor gelassen –, würden die Gerichtskosten dann im Ausland anfallen; in Frankreich ist das Privatinsolvenzverfahren ohnedies kostenfrei.50 Allerdings muss man auch sehen, dass bei steigenden Verfahrenszahlen in der Verbraucherinsolvenz die Unternehmensinsolvenzen in den letzten Jahren deutlich abnahmen; damit haben die Verbraucherinsolvenzen für manche Verwalterkanzlei durchaus an Interesse gewonnen. Rechtspolitisch mag man aber auch noch anderes anmerken: Man hat sich daran gewöhnt, dass das Kapital dahin geht, wo es am meisten Zinsen bringt, sich also am schnellsten vermehrt. Der Schuldner, der im Ausland Restschuldbefreiung zu erlangen trachtet, verhält sich folglich nur marktgerecht:51 Er geht dahin, wo die Schulden am schnellsten verschwinden! Kapitalvermehrung und Schuldenbeseitigung haben also durchaus etwas gemeinsam. Wie schon angedeutet, zahlen der völlig mittellose 49 Aus Anwaltskreisen verlautet, dass es zunehmend zu negativen Kompetenzkonflikten komme: Der französische Insolvenzrichter hält den begründeten elsässischen Wohnsitz für vorgeschoben und eröffnet das Verfahren nicht, das dann angegangene deutsche Insolvenzgericht lehnt seine Zuständigkeit mit der Begründung ab, der Schuldner sei ja nach Frankreich verzogen. 50 Bei den Anwaltsgebühren muss der Schuldner mit ca. 3.000 € rechnen; allerdings besteht kein Anwaltszwang. 51 Diesen Hinweis verdanke ich Rechtsanwalt Dr. Schiebe.
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Schuldner sowie der Kleingläubiger die Zeche: also wieder einmal die schwächsten Glieder der Kette! 3. Anerkennung der ausländischen Restschuldbefreiung im Inland Die Entschuldung im Ausland ist für den inländischen Schuldner nur dann von Interesse, wenn er sicher sein kann, dass er sie seinen Gläubigern auch entgegenhalten kann, wenn sie also in Deutschland anerkannt wird.52 Für den hier alleine interessierenden Bereich der Europäischen Gemeinschaft ist insoweit die EG-VO Nr. 1346/2000 über Insolvenzverfahren (EuInsVO) maßgeblich. Nach Art. 1 Abs. 1 EuInsVO gilt die Verordnung für Gesamtverfahren, welche die Insolvenz des Schuldners voraussetzen und den vollständigen oder teilweisen Vermögensbeschlag gegen den Schuldner sowie die Bestellung eines Verwalters zur Folge haben. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich bei dem Schuldner um eine natürliche oder juristische Person, einen Kaufmann oder eine Privatperson handelt.53 Erfasst werden neben den eigentlichen Insolvenz- auch die meisten der im Binnenmarkt bekannten Sanierungs- sowie Reorganisationsverfahren.54 Art. 2 lit. a EuInsVO i.V.m. Anhang A der Verordnung ist zu entnehmen, welche mitgliedstaatlichen Verfahren in concreto dem Gemeinschaftsrechtsakt unterfallen. Für Deutschland zählen hierzu Konkurs- und Vergleichsverfahren sowie Gesamtvollstreckungs- und Insolvenzverfahren. Auch die Restschuldbefreiung (§§ 286 ff. InsO), welche wirtschaftlich gescheiterten Personen im Rahmen eines Verbraucherinsolvenzverfahrens einen Neustart ermöglichen soll, fällt unter den Regelungsbereich der EuInsVO.55 Art. 1 Abs. 2 EuInsVO schließt die Geltung der Verordnung lediglich für Insolvenzverfahren bestimmter Unternehmen des Finanzdienstleistungsbereichs aus, um spezielle Vorschriften nationaler Aufsichtsbehörden nicht zu umgehen.56 Nachdem diese Einschränkung für Verbraucherinsolvenzverfahren ohne Belang ist, werden sie richtiger Ansicht nach von der EuInsVO ohne weiteres erfasst.57 Ohne dass dies 52 53 54 55 56 57
Siehe zum folgenden auch Hergenröder, ZVI 2005, 233. Vgl. Erwägungsgrund Nr. 9 der Präambel zur EuInsVO. Leible/Staudinger, KTS 2000, 533, 540. Siehe auch Ehricke/Ries, JuS 2003, 313, 314. Leible/Staudinger, KTS 2000, 533, 540. Vgl. auch Ehricke/Ries, JuS 2003, 313, 314.
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ausdrücklich so formuliert wird, sind die Vorschriften der EG-VO Nr. 1346/2000 über Insolvenzverfahren anwendbar, wenn der Insolvenzschuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft hat, vgl. auch Art. 3 Abs. 1 EuInsVO.58 Hierunter ist der Ort zu verstehen, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und damit für Dritte erkennbar ist (vgl. Erwägungsgrund 13). Gemeint ist der Ort, an dem der Schuldner objektiv seinen Lebensmittelpunkt hat, der Ort mit dem er sozial verwurzelt ist. Dies entspricht in der Regel dem Ort des gewöhnlichen Aufenthalts.59 Weitere Voraussetzung für die Anwendbarkeit der EuInsVO ist, dass es sich um einen Fall mit Auslandsberührung handeln muss. Das Verbraucherinsolvenzverfahren muss also einen grenzüberschreitenden Bezug privatrechtlicher Art und damit einen transnationalen Charakter aufweisen.60 Dies wird als so selbstverständlich vorausgesetzt, dass es nicht ausdrücklich vermerkt ist. Die EG-Verordnung wollte kein „europäisches Insolvenzverfahren“ schaffen. Ausgangspunkt sind vielmehr die einzelnen nationalen Insolvenzrechte der EG-Mitgliedstaaten. Nachdem die Verordnung nur im Verhältnis der Mitgliedstaaten der EG zueinander gilt, sind im Verhältnis zu Drittstaaten die autonomen internationalen Insolvenzrechte der einzelnen Mitgliedstaaten weiter maßgeblich.61 Damit lässt sich die Art der erforderlichen Auslandsberührung des Insolvenzverfahrens jedenfalls insoweit eingrenzen, als ein Bezug zu einem EG-Mitgliedstaat gegeben sein muss. Insoweit soll es bereits genügen, wenn Vermögen in einem anderen Mitgliedstaat belegen ist. Hinsichtlich Vermögen, das sich in einem Drittstaat befindet, findet die EuInsVO demgemäß keine Anwendung, vielmehr verbleibt die Regelungsautonomie bei den Mitgliedstaaten.62 Die Voraussetzungen der Anerkennung ergeben sich aus Art. 25 Abs. 1 EuInsVO. Es muss sich um die Entscheidung eines Gerichts i.S.d. Art. 2 lit. d eines Mitgliedstaates der EU – mit Ausnahme Dänemarks – zur Durchfüh58 Pannen/Pannen EuInsVO, 2007, Art. 1 Rdnr. 112. 59 Knopf, ZinsO 2005, 1017, 1022. 60 Balz, ZIP 1996, 948 f.; Gottwald, Grenzüberschreitende Insolvenzen – Europäische und weltweite Tendenzen und Lösungen, 1997, 18. 61 Eidenmüller, IPRax 2001, 2, 5; Leible/Staudinger, KTS 2000, 533, 538; Taupitz, ZZP 111 (1998), 315, 320. 62 Leible/Staudinger, KTS 2000, 533, 539.
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rung und Beendigung des Insolvenzverfahrens handeln. Aus Art. 25 Abs. 1 Unterabs. 2 ergibt sich, dass hierunter auch Entscheidungen fallen, die unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergehen und mit diesem in engem Zusammenhang stehen. Darunter ist insbesondere die Entscheidung über eine Restschuldbefreiung zu fassen.63 Diese Entscheidung muss nach dem Recht des Entscheidungsstaates wirksam sein.64 Ist dies der Fall, wird sie ohne „weitere Förmlichkeiten“ anerkannt. Es gilt der Grundsatz der automatischen Anerkennung. Ein besonderes Anerkennungsverfahren findet nicht statt. Die Anerkennung einer ausländischen Restschuldbefreiung hat zur Folge, dass die Wirkungen dieser Entscheidung auf alle Mitgliedstaaten automatisch erstreckt werden. Die jeweiligen Wirkungen bestimmen sich nach dem Recht des Entscheidungsstaates (Universalitätsprinzip). Des Weiteren bringt es die Anerkennung mit sich, dass in allen anderen Mitgliedstaaten eine entsprechende Entscheidung nicht mehr gefällt werden kann (sog. Prioritätsprinzip). Der einzige von der EuInsVO anerkannte Versagensgrund wird durch den ordre-public-Vorbehalt des Art. 26 EuInsVO begründet, wobei dieser restriktiv auszulegen ist, um den Zielen der Verordnung nicht entgegen zu stehen.65 Ein Verstoß gegen den ordre public ist ausnahmsweise dann zu bejahen, wenn und soweit die Anerkennung der ausländischen Entscheidung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundgedanken des Anerkennungsstaates offensichtlich unvereinbar ist. Dies kommt insbesondere für den Fall in Betracht, dass dem Schuldner kein rechtliches Gehör66 gewährt oder sein Recht auf Beteiligung am Verfahren verletzt wurde. Eine Verletzung des ordre public kommt weiterhin im Falle einer Ausländerdiskriminierung (Art. 12 EV) in Betracht, wenn eine Entscheidung z.B. Gläubiger allein deshalb schlechter gestellt hat, weil diese ihren Sitz in anderen Mitgliedstaaten haben.67 Dagegen darf ein Gericht die Anerkennung nicht verweigern, weil es das Entscheidungsgericht nicht für zuständig hält. Das anerkennende Gericht muss respektieren, wenn das entscheidende Gericht sich selbst für 63 Pannen/Riedemann, EuInsVO, 2007, Art. 25 Rdnr. 20; Paulus, EuInsVO, 2008, Art. 25 Rdnr. 8. 64 Pannen/Riedemann, EuInsVO, 2007, Art. 25 Rdnr. 14. 65 Kemper, ZIP 2001, 1609, 1614. 66 EuGH NZI 2006, 360, 363 (Eurofood). 67 Pannen/Riedemann, EuInsVO, 2007, Art. 26 Rdnr. 9.
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international zuständig nach Art. 3 EuInsVO (analog)68 erklärt hat. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (vgl. Erwägungsgrund 22 EuInsVO).69 Diesbezüglich verbleibt allein die Möglichkeit, im Entscheidungsstaat Rechtsbehelfe nach dem lokalen Recht zu erheben.70 Dies wird, wie schon angedeutet, allenfalls Großgläubigern wie Kreditinstituten möglich sein. 4. Rechtsmissbrauch durch forum-shopping? Fraglich ist, ob aufgrund der Tatsache, dass der Schuldner bewusst seinen Lebensmittelpunkt beispielsweise nach Frankreich verlegt, um dort von für ihn günstigeren Bestimmungen (z.B. kurze Wohlverhaltensphase) zu profitieren, die Anerkennung versagt werden darf.71 Dieses gezielte Ausnutzen der nicht aufeinander abgestimmten nationalen Rechtsordnungen durch bewusste Auswahl oder gar Manipulation der einschlägigen Anknüpfungspunkte mit dem Bestreben, das für das angestrebte Ziel jeweils günstigste Recht zu wählen, bezeichnet man als „forum shopping“.72 Zwar ergibt sich aus Erwägungsgrund 4, dass die Verordnung sich zum Ziel gesetzt hat, forum shopping gerade zu verhindern. Allerdings muss dies im Hinblick auf den vereinheitlichenden Gedanken der Verordnung und insbesondere im Hinblick auf die Freizügigkeit von Personen (Art. 39 − 42 EG) hingenommen werden. Die Rechte der EU-Bürger dürfen nicht mit dem Argument eingeschränkt werden, ein Umzug würde im Hinblick auf die zu erlangende Restschuldbefreiung als rechtsmissbräuchlich angesehen werden.73 Will man forum-shopping verhindern, kommt nur eine einheitliche Regelung der Entschuldungsfrist auf EG-Ebene als Lösung in Betracht. 68 Für Annexentscheidungen i.S.d. Art. 25 Abs. 1 Unterabs. 2 EuInsVO ergibt sich die Zuständigkeit aus Art. 3 EuInsVO analog, da insoweit eine planwidrige Regelungslücke vorliegt; sog. europarechtliche vis attractiva concursus, vgl. Pannen/Riedemann, EuInsVO, 2007, Art. 25 Rdnr. 23. 69 Pannen/Riedemann, EuInsVO, 2007, Art. 26 Rdnr. 11. 70 EuGH NZI 2006, 360, 362 (Eurofood). 71 Zum Problemkreis näher Geroldinger, JAP 2006/2007, 167; Hergenröder, ZVI 2005, 233, 240 f.; Hölzle, ZVI 2007, 1. 72 Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky, EuInsVO, Kommentar, 2002, Vorb. Rdnr. 11. 73 Hergenröder, ZVI 2005, 233, 241; Paulus, EuInsVO, 2008, Art. 26 Rdnr. 16.
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VI. Eckpfeiler des InsO-Regierungsentwurfs 2007 1. Kostenbelastung der Justizhaushalte als eigentlicher Auslöser der Reform Für die aktuellen Reformbestrebungen waren nahezu ausschließlich fiskalische Erwägungen maßgeblich; der Restschuldbefreiungstourismus wird insoweit nicht zur Kenntnis genommen. Gemäß § 26 Abs. 1 Satz 1 InsO setzt die Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Deckung der Verfahrenskosten aus dem Vermögen des Schuldners voraus. Verfahrenskosten sind Gerichtskosten (§§ 35, 37 GKG i.V.m. KV Nr. 5110 ff.), Veröffentlichungskosten (§§ 9, 30 InsO) und Treuhänderkosten (§ 313 Abs. 1 InsO). Im RegE InsO 200774 werden die durchschnittlichen Kosten eines Verbraucherinsolvenzverfahrens mit ca. 2.300 € veranschlagt. Diese Summe setzt sich zusammen aus den Personalkosten (370 €), den Sachkosten z.B. für die Vergütung eines beigeordneten Rechtsanwalts oder eines Sachverständigen (160 €), den Treuhänderkosten nach § 13 Abs. 1 InsVV nebst Auslagen im Insolvenzverfahren (1.005 €) sowie nach § 293 InsO in der Wohlverhaltensperiode gemäß § 14 Abs. 3 InsVV (774 €). Wurde im Vorfeld des Verfahrens Beratungshilfe gewährt, kommen nochmals 550 € hinzu. Der mittellose Schuldner wird die insoweit erforderliche Summe regelmäßig nicht aufbringen können, auch wenn sie unterhalb des Durchschnittswertes von 2.300 € liegt. Legt man die Landesstatistik der Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen von RheinlandPfalz für das Jahr 200675 zugrunde, so beträgt der Anteil der Ratsuchenden ohne pfändbares Einkommen 79 %. Das sind rund vier Fünftel der zahlungsunfähigen Haushalte. Tatsächlich liegt der Anteil der mittellosen Schuldner bezogen auf Gesamtdeutschland aber weit höher, da Rheinland-Pfalz mit seiner im Verhältnis geringen Arbeitslosenquote76 und seiner gut organisierten Schuldnerberatung eine positive Ausnahmestellung innehat. Nimmt man die Zahl von 105.238 Verbraucherinsolvenzen im Jahre 2007 zum Maßstab, beträgt bei einer Quote von 80% zahlungsunfähiger Haushalte die Zahl der Verfahren, bei denen die Verfahrenskosten nicht vom Schuldner 74 RegE InsO 2007 S. 44 f. 75 Abrufbar unter . 76 Arbeitslosigkeit ist seit jeher die Hauptursache des Eintritts von Zahlungsunfähigkeit, vgl. für 2007 oben unter II.3. Siehe aber auch schon Korczak/Roller (oben Fn. 12), 166 ff.
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aufgebracht werden können, 84.190. Setzt man pro Verbraucherinsolvenz die genannte Summe von 2.300 € an, kommt man auf eine Gesamtsumme in Höhe von 193.637 Mio. € an Verfahrenskosten allein im Jahre 2007. Hiervon wäre zunächst diejenige Summe abzuziehen, in der Höhe der Schuldner die Verfahrenskosten zu tragen in der Lage ist. Aus den genannten Gründen kann dieser Betrag aber wohl vernachlässigt werden, zumal die Möglichkeit der Kostenstundung die Bereitschaft, den entsprechenden Betrag aus dem unpfändbaren Einkommen aufzubringen, deutlich herabgesetzt hat. Bisher ungeklärt geblieben ist hingegen die Frage einer Rückzahlung der gestundeten Kosten. Die Beantwortung bereitet einige Schwierigkeiten, denn Zahlen sind zumeist nur mittels statistischer Erhebungen ohnehin arbeitsüberlasteter Gerichte zu erlangen.77 Eine für das Jahr 2005 durchgeführte INDat-Statistik betreffend die Rückflüsse aus Kostenstundungen aller Einzelpersonen – also sowohl Verbraucher- wie Regelinsolvenzverfahren – beziffert die Rückzahlungssumme auf 48,29 Mio. €.78 Grundlage dieser Erhebung sind zwei Jahre zurückliegende Verfahren aus dem Jahr 2003, bei denen die Zahl der eröffneten Verfahren aller Einzelpersonen auf 61.990 geschätzt wird. Dieses Ergebnis deckt sich wiederum mit dem von der InsO vorgeschriebenen Verfahrensablauf, der vorsieht, dass Stundungskosten frühestens nach Abschluss des Verfahrens an den Staat zurückfließen können.79 Für das Jahr 2006 werden unter Zugrundelegung der zwei Jahre alten Verfahren des Jahres 2004, die auf 82.164 Verfahren beziffert werden können, Stundungsrückzahlungen von 55.253.000 € erwartet.80 Nochmals zum Vergleich: Die Gesamtkosten aller Verbraucherinsolvenzverfahren ohne pfändbares Einkommen – und nur dieser(!) – wurden mit 193.637.000 € im Jahre 2007 errechnet. Die genannten Summen lassen sich auf die Zahl der zahlungsunfähigen Personen in Deutschland insgesamt hochrechnen. Legt man die aktuellen Zahlen des Jahres 2008 zugrunde, müssten 6,87 Millionen Personen entschuldet werden. Die Verfahrenskostensumme insgesamt beliefe sich auf 77 Busch/Mäusezahl, ZVI 2005, 398, 399. Vgl. demgegenüber die Untersuchung von Rüntz/Heßler/Wiedemann/Schwörer, ZVI 2006, 185. 78 Kollbach, ZVI 2005, 453, 455. Siehe aber auch die Zahlen bei Vallender, NZI 2006, 279, 280. 79 Kollbach, ZVI 2005, 453, 455. Vgl. auch die detaillierten Berechnungen von Rüntz/Heßler/Wiedemann/Schwörer, ZVI 2006, 185 ff. 80 Kollbach, ZVI 2005, 453, 456.
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15,801 Mrd. €. Für die völlig mittellosen Schuldner ergäbe sich eine Gesamtsumme von 12,6408 Mrd. €, welche nach der augenblicklichen Rechtslage aus den Justizhaushalten zu tragen wäre. Hiervon wären dann die der Staatskasse zufließenden Beträge aus dem Stundungsmodell abzusetzen. Hinzu kommen allerdings die Kosten für jeden Fall der neu eintretenden Zahlungsunfähigkeit eines Schuldners! Trotz aller Unsicherheiten, die mit dem genannten Zahlenmaterial verbunden sind, wird die Zielsetzung des Regierungsentwurfs jedenfalls deutlich: Unter der Rubrik „Finanzielle Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte“ werden „drastische Einspareffekte“ prognostiziert.81 Um diese Entlastung der Justizkassen zu erreichen, wird eine ganze Reihe von Novellierungsvorschlägen unterbreitet. 2. Aufwertung des außergerichtlichen Einigungsversuchs Kosten für die öffentlichen Haushalte entstehen naturgemäß erst gar nicht, wenn sich der Schuldner mit seinen Gläubigern im Vorfeld eines Insolvenzverfahrens privatautonom einigt. Außerdem können Mittel von dritter Seite (Unterstützung durch Angehörige, Zuschüsse aus Stiftungen) einbezogen werden. Vor allem aber lässt sich durch entsprechende Schuldenbereinigungspläne auch die Entschuldung weiterer Personen wie insbesondere des Ehe- oder Lebenspartners erreichen. Zudem sind spezielle Verwertungsvereinbarungen denkbar.82 Der RegE InsO 2007 behält deshalb den Zwang zu einem entsprechenden Einigungsversuch zwar grundsätzlich bei, allerdings wird der geltende Rechtszustand in zweierlei Hinsicht modifiziert. a) Aussichtslosigkeit eines Schuldenbereinigungsplans Zum einen kann auf den Einigungsversuch verzichtet werden, wenn dieser von vorneherein aussichtslos erscheint. Aussichtslosigkeit im genannten Sinne ist nach § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO-E gegeben, wenn die Gläubiger nur eine Befriedigungsquote von nicht mehr als 5 % zu erwarten haben oder der Schuldner bei mehr als 20 Gläubigern Verbindlichkeiten hat. Im letzteren Falle soll die Vielzahl der zu beteiligenden Personen einen nicht mehr ver81 RegE InsO 2007 S. 3; siehe auch S. 46. 82 RegE InsO 2007 S. 80.
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tretbaren Aufwand bedeuten und eine außergerichtliche Einigung kaum zulassen. Nachdem rund die Hälfte (50,7 %) aller eingereichten Pläne flexible „Nullpläne“ sind,83 d.h. den Gläubigern bis zur Besserung der Vermögensverhältnisse keine Zahlungen angeboten werden, dürfte also künftig nur noch in jedem zweiten Fall ein außergerichtlicher Einigungsversuch erforderlich sein. Bei Nullplänen kann der Erfahrung nach regelmäßig mit keiner Zustimmung der Gläubiger gerechnet werden. Klarzustellen ist, dass der Plan der Zustimmung aller Gläubiger bedarf. Die geeignete Stelle84 hat als Voraussetzung für die Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens wie bisher zu bescheinigen, dass eine außergerichtliche Einigung der Parteien auf der Grundlage eines Plans erfolglos versucht worden ist; nunmehr kann die Bescheinigung auch lauten, dass eine außergerichtliche Schuldenbereinigung offensichtlich aussichtslos war. b) Zustimmungsersetzung durch das Insolvenzgericht Die zweite im RegE InsO 2007 vorgesehene diesbezügliche Änderung soll den außergerichtlichen Einigungsversuch aufwerten. Zunächst legt § 305 Abs. 1 Nr. 4 InsO-E fest, dass der Schuldner mit dem Antrag auf Verfahrenseröffnung entweder den Schuldenbereinigungsplan, der Gegenstand der außergerichtlichen Verhandlungen war, nebst der Bescheinigung des Scheiterns oder aber die soeben erwähnte Aussichtslosigkeitsbescheinigung der geeigneten Stelle bei Gericht vorlegen muss. Nach dem neuen § 305 Abs. 1 Nr. 5 InsO-E muss dem Antrag weiter entweder das Gesuch auf Zustimmungsersetzung oder die Erklärung, dass eine solche nicht beantragt wird, beigefügt werden. § 305a InsO-E regelt die Voraussetzungen, unter denen der Antrag des Schuldners auf Ersetzung der Zustimmung der Gläubiger zu dem außergerichtlichen Schuldenbereinigungsplan zulässig ist. Zunächst muss sich ein Gläubiger zu dem Plan außergerichtlich nicht geäußert oder ihn abgelehnt haben; die Einleitung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen nach Aufnahme der Verhandlungen über die außergerichtliche Schuldenbereinigung steht der Ablehnung gleich. Weiter darf die Zustimmungsersetzung 83 Vgl. Heuer/Hils/Richter/Schröder/Sackmann, Der außergerichtliche Einigungsversuch im Verbraucherinsolvenzverfahren, Forschungsberichte des Instituts für Soziologie der Universität Halle-Wittenberg, 2005, 22. 84 Zu dieser eingehend Hergenröder, ZVI 2007, 448.
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nach den Quoren nicht ausgeschlossen sein. Nach § 305a Abs. 2 S. 1 InsO-E ist der Antrag zulässig, wenn den Schuldenbereinigungsplan weniger als die Hälfte der benannten Gläubiger ausdrücklich abgelehnt hat und die Summe der Ansprüche der ablehnenden Gläubiger weniger als die Hälfte der Summe der Ansprüche der benannten Gläubiger beträgt. Abs. 2 S. 2 InsO-E legt fest, dass dem Antrag die eingegangenen Stellungnahmen der Gläubiger sowie die Erklärung beizufügen sind, dass allen darin benannten Gläubigern der dem Gericht vorliegende Schuldenbereinigungsplan sowie die Vermögensübersicht übersandt wurden. Soweit der Zustimmungsersetzungsantrag des Schuldners zulässig ist, stellt das Insolvenzgericht den Schuldenbereinigungsplan sowie die Vermögensübersicht den vom Schuldner genannten Gläubigern zu, die einer außergerichtlichen Einigung nicht zugestimmt haben, § 307 S. 1 InsO-E. Sie erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme binnen einer Notfrist von einem Monat. § 308 InsO-E Abs. 1 S. 1 durchbricht dann den bürgerlich-rechtlichen Grundsatz, dass Schweigen keine Zustimmung bedeutet, und legt fest, dass die Nichtäußerung eines im Schuldenbereinigungsplan benannten Gläubigers binnen der Notfrist des § 307 S. 1 InsO-E als Einverständnis zu werten ist. Haben alle Gläubiger dem Plan zugestimmt oder kommt es zu einer Zustimmungsersetzung nach § 309 InsO-E, so stellt das Insolvenzgericht gemäß § 308 Abs. 1 S. 2 InsO-E die Annahme des Schuldenbereinigungsplans durch Beschluss fest. Andernfalls weist es den Antrag auf Zustimmungsersetzung zurück, § 308 Abs. 1 S. 3 InsO-E. Die Zustimmungsersetzung nach § 309 InsO-E setzt voraus, dass dem Schuldenbereinigungsplan mehr als die Hälfte der benannten Gläubiger zugestimmt hat und die Summe der Ansprüche der zustimmenden Gläubiger mehr als die Hälfte der Summe der Ansprüche der benannten Gläubiger beträgt. Kommt der Schuldenbereinigungsplan solchermaßen zustande, hat er gemäß § 308 Abs. 3 S. 1 InsO-E die Wirkung eines Vergleichs im Sinne des § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. 3. Aufspaltung des Verfahrens im Hinblick auf das Vorliegen einer kostendeckenden Masse Wie schon angesprochen, ergibt ein „klassisches“ Insolvenzverfahren bei völlig mittellosen Schuldnern wenig Sinn, da es nichts zu verteilen gibt, also für die Gläubiger nicht einmal eine Minimalquote in Aussicht steht. Dieser Erkenntnis will der RegE InsO 2007 durch ein gespaltenes Verfahren Rech-
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nung tragen: Sofern der Schuldner über Vermögenswerte verfügt, die jedenfalls noch eine teilweise Befriedigung der Gläubiger gewährleisten, muss er nach wie vor ein Insolvenzverfahren durchlaufen. Andernfalls steht ihm ein vereinfachtes Entschuldungsverfahren offen. Ein Herzstück der Reform stellen daher die neu hinzugekommenen §§ 289a bis 289c InsO-E dar. Sie sollen eine einfache Entschuldung für diejenigen Antragsteller ermöglichen, deren finanzielle Mittel zur Deckung der Kosten eines Insolvenzverfahrens nicht ausreichen. Ist absehbar, dass dies der Fall ist, hat das Gericht nach § 289 Abs. 1 S. 1 InsO-E einen vorläufigen Treuhänder85 zu bestellen, für welchen die §§ 22, 56, 58 bis 66 InsO entsprechend gelten. Die Bestellung hat allerdings zu unterbleiben, wenn die Kosten für die Einleitung des Entschuldungsverfahrens vom Schuldner nicht aufgebracht werden können, § 289a Abs. 2 S. 1 InsO-E. Kann der Antragstellter den entsprechenden Betrag nicht leisten, ist ihm der Weg ins Verfahren versperrt, dies ist wohl aus Sicht des Schuldners die einschneidendste Änderung des RegE InsO 2007; sie dient der Entlastung der Justizhaushalte!86 Aufgabe des vorläufigen Treuhänders ist es in der Folge, anstelle eines Sachverständigen zu prüfen, ob die Verfahrenskosten gedeckt sind. Vorhandene Barmittel sind zu sichern und von ihm entsprechend zu verwenden. Darüber hinaus treffen den Treuhänder in Bezug auf den Schuldner verschiedene Unterrichtungs- und Belehrungspflichten, § 289a Abs. 3 S. 3, Abs. 4 und 5 InsO-E. 4. Entschuldungsverfahren bei Masselosigkeit § 289b InsO-E regelt die Einleitung des neuen Entschuldungsverfahrens. Sofern der vorläufige Treuhänder zum Ergebnis kommt, eine kostendeckende Masse sei nicht vorhanden, beschließt das Gericht mit der Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Eröffnungsverfahrens mangels Masse zugleich die Einleitung des Entschuldungsverfahrens, § 289b Abs. 1 S. 3 InsO-E. Weitere Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der Schuldner die Verzeichnisse über Vermögen und Einkommen, Gläubiger und Verbindlichkeiten gemäß § 287 Abs. 1 und 2 InsO-E vorgelegt und erklärt hat, ob Versagungsgründe nach § 287 Abs. 1 Nrn. 1 und 3 InsO vorliegen. Andernfalls ist nach erfolgloser Nachfristsetzung der Antrag zu verwerfen, § 289b Abs. 1 S. 2 InsO-E. 85 Eingehend zum vorläufigen Treuhänder Stephan, ZVI 2007, 441. 86 RegE InsO 2007 S. 63.
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Nach § 26 Abs. 1 S. 3 InsO ist die Abweisung mangels Masse bekannt zu machen, die Anzeige der Masseunzulänglichkeit gemäß § 208 Abs. 2 S. 1 und der Antrag auf Einstellung des Verfahren nach § 214 Abs. 1 S. 1 InsO sind zu veröffentlichen. § 289c Abs. 1 InsO-E ergänzt diese Regelungen durch das Gebot, in den genannten Veröffentlichungen auf den Antrag auf Restschuldbefreiung sowie die Niederlegung der Verzeichnisse zur Einsichtnahme beim Insolvenzgericht hinzuweisen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen entspricht das Entschuldungsverfahren in seinem Ablauf der bisherigen Wohlverhaltensperiode. § 289c Abs. 2 InsO-E sieht unter bestimmten Voraussetzungen die Versagung der Restschuldbefreiung auf Antrag eines Gläubigers oder von Amts wegen vor. Wird kein Versagungsantrag gestellt bzw. wird einem solchen nicht stattgegeben, kündigt das Gericht dem Schuldner gemäß § 291 InsO die Restschuldbefreiung an, wenn er seine Obliegenheiten erfüllt und auch keine Versagungsgründe entgegenstehen. Allerdings muss der Entwurf ein Problem lösen, welches das neue Verfahren mit sich bringt: Was passiert, wenn der Schuldner – man muss sagen wider Erwarten – während der Wohlverhaltensperiode über die Kostendeckung hinausgehendes neues Einkommen bzw. Vermögen erlangt. Der „konsequente“, freilich mit vielen Schwierigkeiten behaftete Weg wäre sicherlich die Überleitung in ein Insolvenzverfahren. Mit guten Gründen geht der Regierungsentwurf diesen Weg nicht, vielmehr soll ein vereinfachtes Verteilungsverfahren Platz greifen, §§ 292 Abs. 1 c, 292a InsO-E. 5. Modifiziertes Verbraucherinsolvenzverfahren bei Massehaltigkeit a) Verschärfung der Versagungsgründe Werden die Verfahrenskosten durch das Einkommen des Schuldners gedeckt, ist auch nach dem neuen Recht ein Verbraucherinsolvenzverfahren durchzuführen. Allerdings sind einige Modifikationen vorgesehen. So werden die Versagungsgründe verschärft, insbesondere soll es in bestimmten Fällen eine Versagung von Amts wegen geben, § 290 Abs. 3 InsO-E. Dies gilt gemäß § 300 Abs. 2 InsO-E auch für die Wohlverhaltensperiode. Das geltende Recht geht davon aus, dass es alleine Sache der Gläubiger ist, dem Schuldner die Restschuldbefreiung durch das Gericht versagen zu lassen, dementsprechend setzt die Versagung einen entsprechenden Antrag voraus. Freilich lehrt die Praxis, dass der typische Gläubiger in massearmen oder gar masselosen Ver-
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fahren wenig Neigung verspürt, sich mit dem Verfahren noch auseinanderzusetzen: Sein Geld ist ohnedies verloren! Um dem Insolvenzgericht zu ersparen, sehenden Auges eine materiell unrichtige Entscheidung treffen zu müssen, sieht der RegE InsO 2007 nun bei bestimmten Versagungsgründen die Versagung von Amts wegen vor.87 b) Wegfall des Treuhänders Vorgesehen ist die ersatzlose Streichung der §§ 312 bis 314 InsO. Hintergrund ihrer seinerzeitigen Einführung war die Vereinfachung des Verfahrens und damit die Entlastung der Gerichte bei Verbraucherinsolvenzen. Prominentes Opfer der Reform ist der Treuhänder: Ihn wird es der Konzeption des Entwurfs nach im Verbraucherinsolvenzverfahren nicht mehr geben, seine Aufgaben soll der Insolvenzverwalter übernehmen. Demgemäß ist die ersatzlose Streichung des § 313 Abs. 1 InsO vorgesehen. Begründet wird dies damit, dass die Regelung die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt habe.88 Hintergrund der Einführung des Treuhänders war zunächst, dass nur eine Person für die Verwalter- und Treuhänderaufgaben auch in der Restschuldbefreiungsphase bestellt werden sollte.89 In der Praxis wird denn auch regelmäßig90 der Treuhänder zu Beginn des Verbraucherinsolvenzverfahrens zugleich auch für das Verfahren zur Erlangung der Restschuldbefreiung bestellt. Weiter hat der Treuhänder im Verbraucherinsolvenzverfahren gegenüber dem Insolvenzverwalter im Regelinsolvenzverfahren nur einen beschränkten Aufgaben- und Kompetenzbereich, wie § 313 Abs. 2, 3 und § 314 InsO für das dort geregelte Anfechtungs-, Verwertungs- und Verteilungsrecht belegen.91 Nachdem die genannten Vorschriften ersatzlos wegfallen sollen, sieht der Entwurf im Hinblick auf die Tätigkeit des Treuhänders praktisch keine Unterschiede mehr zu den Aufgaben eines Insolvenzverwalters. Dem geringeren Aufwand könne über die Vergütung Rechnung getragen werden. Damit gebe es aber auch keinen Bedarf mehr für einen Treuhänder im Verbraucherinsolvenzverfahren. § 313 Abs. 1 InsO soll daher gestrichen wer87 88 89 90
Vgl. RegE InsO 2007 S. 70 f. RegE InsO 2007 S. 81. BT-Drucks. 12/7302, 193. Dazu näher Hergenröder, ZVI 2005, 521, 534 ff. Braun/Buck (oben Fn. 41), § 313 Rdnr. 4; anders aber AG Göttingen, ZVI 2005, 53. 91 Vgl. eingehend Hergenröder, ZVI 2005, 521, 524 ff.
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den. Klarzustellen ist, dass es den Treuhänder im Restschuldbefreiungsverfahren weiter geben wird. c) Verfahrensvereinfachungen Auf der Grundlage praktischer Erfahrungen hält es der Entwurf für nicht länger geboten, Verfahrensvereinfachungen, wie die Möglichkeit des schriftlichen Verfahrens, die Bestimmung nur eines Prüfungstermins sowie die Einführung einer Notfrist für Forderungsanmeldungen, auf Insolvenzen natürlicher Personen zu beschränken.92 Maßgeblich soll nicht mehr die Qualifikation als Verbraucher oder juristische Person sein, vielmehr werden als ausschlaggebende Kriterien die Überschaubarkeit der Vermögensverhältnisse und die Zahl der Gläubiger bzw. die Höhe der Verbindlichkeiten genannt. Die Verfahrensvereinfachungen sollen künftig einen weiteren Anwendungsbereich erhalten, als ihn § 312 InsO gegenwärtig vorsieht, die Vorschrift wird daher entfallen. In § 5 Abs. 2 InsO93 findet sich nunmehr die Option, das Verfahren oder einzelne seiner Teile schriftlich durchzuführen. d) Anfechtungs- und Verwertungsbefugnis Im vereinfachten Verfahren ist die Anfechtung gegenwärtig in erster Linie Sache der Insolvenzgläubiger und nicht des Treuhänders, § 313 Abs. 2 S. 1 InsO. Diese vom Regelinsolvenzverfahren abweichende Konzeption wurde damit begründet, dass die Gläubiger fähig und hinreichend motiviert seien, die Anfechtung von sie schädigenden Handlungen durchzuführen.94 Schon im Zuge der Reform der InsO im Jahr 2001 stellte sich heraus, dass die Regelung, soweit sie das Recht zur Anfechtung auf die Gläubiger übertrug, zweifelhaft war.95 Durch die Möglichkeit zur Beauftragung des Treuhänders durch die Gläubigerversammlung versuchte der Gesetzgeber, die aufgetretenen Probleme zu lösen. Man erhoffte sich davon eine bessere Nutzung der Anfechtungsmöglichkeiten.96 Die diesbezügliche Erwartung trog 92 RegE InsO 2007 S. 81. 93 Eingefügt mit dem Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens v. 13.4. 2007, BGBl. I 509. 94 BT-Drucks. 12/7302, 193. Siehe zum Folgenden auch Hergenröder, ZVI 2005, 521, 525. 95 BR-Drucks. 14/01, 71. 96 BT-Drucks. 14/5680, 33.
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freilich.97 Der Forderung der Praxis, dem Treuhänder ein originäres Anfechtungsrecht zu geben, will der Entwurf durch die Streichung des § 313 Abs. 2 InsO Rechnung tragen. § 313 Abs. 3 S. 2 InsO wiederum überträgt das Verwertungsrecht an denjenigen Massegegenständen, welche mit Pfandrechten oder anderen Absonderungsrechten belastet sind, auf die betreffenden Gläubiger. Der Treuhänder hat das Recht zur Verwertung nur unter den Voraussetzungen der §§ 313 Abs. 3 S. 3, 173 Abs. 2 InsO, wenn eine vom Gericht gesetzte Frist verstrichen ist. Der Entwurf geht davon aus, dass sich die genannte Aufgabenverlagerung auf die Gläubiger nicht bewährt habe,98 woraus sich die beabsichtigte Streichung des § 313 Abs. 3 InsO erklärt. e) Vereinfachte Verteilung Ratio des geltenden § 314 InsO ist die Vereinfachung des Verfahrens durch Verringerung des Aufwands für den Treuhänder.99 Sofern der Schuldner alleine oder mit Hilfe Dritter einen Betrag aufbringen kann, welcher dem Wert des Massegegenstands entspricht, kommt es durch den Verzicht auf die Verwertung durch den Treuhänder zu einer Reduzierung der Kosten. § 314 InsO normiert einen speziellen Fall der Freigabe.100 Hauptanwendungsbereich der Norm ist das Kraftfahrzeug des Schuldners, welches etwa für die Fahrten zur Arbeit genutzt wird, aber nur noch einen geringen Verkehrswert hat.101 Auch § 314 InsO ist zur Streichung vorgesehen, im Entwurf findet sich einmal mehr der Hinweis, die Vorschrift habe sich nicht bewährt.102 Die vereinfachte Verteilung führe zu einem erheblichen Aufwand, der bei geringwertigen Massegegenständen nicht zu rechtfertigen sei. Viel einfacher sei es, mit dem Schuldner eine Vereinbarung zu treffen, dass ihm der Gegenstand gegen Zahlung des Restwertes überlassen werde. Den Betrag könne der Schuldner dann aus dem pfändungsfreien Einkommen aufbringen
97 RegE InsO 2007 S. 88. 98 RegE InsO 2007 S. 88. 99 BT-Drucks. 12/7302, 194. Zum folgenden auch Hergenröder, ZVI 2005, 521, 525 f. 100 Uhlenbruck/Vallender (oben Fn. 38), § 314 Rdnr. 1 spricht von einer qualifizierten Freigabe. 101 Vgl. Uhlenbruck/Vallender (oben Fn. 38), § 314 Rdnrn. 2, 3. 102 RegE InsO 2007 S. 88.
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bzw. von einer dritten Person erhalten. Weiter wird auf die skizzierte Gefahr der Versagung der Restschuldbefreiung hingewiesen. 6. Kostentragungspflicht des Schuldners Rechtspolitisch sicherlich am umstrittensten ist der Regierungsentwurf insoweit, als er dem Schuldner die Kosten des Verfahrens aufbürdet. §§ 4a bis 4c werden aufgehoben, das Stundungsmodell soll der Vergangenheit angehören. „Der Schuldner hat für die Durchführung des Verfahrens zumutbare Kostenbeiträge zu leisten“, wie es gleich zu Beginn des Regierungsentwurfs heißt,103 oder etwas später: „Eine Entschuldung zum Nulltarif soll es nicht mehr geben“.104 Wie schon ausgeführt, setzt bereits die Bestellung eines vorläufigen Treuhänders voraus, dass die Kosten für die Einleitung des Entschuldungsverfahrens vom Schuldner beglichen werden, § 289a Abs. 2 S. 1 InsOE. Gemäß § 289a Abs. 2 S. 3 InsO-E gilt der Antrag auf Restschuldbefreiung als zurückgenommen, wenn auf Aufforderung des Insolvenzgerichts zur Zahlung binnen zwei Wochen keine Berichtigung der Kosten vorgenommen wird. Der entsprechende Betrag findet sich künftig in der Anlage 1 (Kostenverzeichnis) zum GKG und lautet auf 25 €.105 Reicht das Vermögen des Schuldners zur Deckung der darüber hinausgehenden Treuhändervergütung nicht aus, hat die Staatskasse den entsprechenden Betrag auszugleichen, vgl. § 289a InsO-E. Der entsprechende Betrag von regelmäßig 425 €106 kann auch nach Abschluss des Entschuldungsverfahrens gegen den Schuldner geltend gemacht werden, die Nachhaftung ist aufgrund der Verjährungsregelung in § 5 GKG auf einen Zeitraum von vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in welchem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen wurde, begrenzt.107 103 RegE InsO 2007 S. 1. 104 RegE InsO 2007 S. 63. 105 Vgl. auch RegE InsO 2007 S. 34 und Gebührenverzeichnis Nr. 2310: 0,5, mind. 25 €. Da es um Nullmasseverfahren geht, der Streitwert damit „0 €“ ist, ergibt sich die Standardformulierung der 25 € Eingangsgebühr. 106 Nach § 14a Abs. 1 InsVV-E erhält der Treuhänder bei durchschnittlich 12 Gläubigern 450 € inkl. Umsatzsteuer und Auslagen. Zieht man hiervon den Eigenanteil des Schuldners von 25 € ab, so fallen bei den öffentlichen Kassen pro Entschuldungsverfahren 425 € an, vgl. RegE InsO 2007 S. 46. 107 Siehe RegE InsO 2007 S. 65.
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Auswirkungen hat die Neuregelung in der Folge dann nur für das Entschuldungsverfahren, welches freilich für den ganz überwiegenden Teil der deutschen Schuldner maßgeblich sein wird. Denn die Eröffnung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens neuen Zuschnitts setzt voraus, dass eine kostendeckende Masse nach dem Bericht des vorläufigen Treuhänders vorhanden ist. Im Entschuldungsverfahren hat der Schuldner gemäß § 298 InsO-E die Mindestvergütung des Treuhänders abzudecken. Der Regierungsentwurf geht davon aus, dass der Schuldner insoweit pro Monat höchstens 13 € wird aufbringen müssen, da die Mindestvergütung des Treuhänders jährlich unverändert zur gegenwärtigen Rechtslage in der Wohlverhaltensperiode gemäß § 14 InsVV 100 € zuzüglich Umsatzsteuer und Auslagen beträgt.108 Die Konsequenzen für den insoweit leistungsunfähigen Schuldner sind allerdings verheerend: § 298 InsO-E sieht für diesen Fall die Versagung der Restschuldbefreiung auf Antrag des Treuhänders vor, sofern der Schuldner den Betrag nicht noch berichtigt. Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass nach der Neuregelung der Schuldner entweder die genannten Beträge aus dem pfändungsfreien Einkommen aufzubringen hat oder sie ihm Dritte zur Verfügung stellen müssen; mag man den Betrag von 25 € für die Einleitung des Verfahrens noch als wirtschaftlich vertretbar ansehen können, so dürfte eine Dauerbelastung von 13 € pro Monat manchen Hartz IV-Empfänger vor ernste Probleme stellen. Dies gilt insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass in der Rechtsprechung109 Stimmen laut werden, wonach die Hartz-IV-Regelleistungen nicht ausreichen, um das soziokulturelle Existenzminimum von Familien zu decken. Der Regierungsentwurf verspricht sich von der Neuregelung jedenfalls Einsparungen in Höhe von 115 Mio. € pro Jahr.110 Verfassungsrechtliche Bedenken sehen die Entwurfsverfasser nicht.111 Im Schrifttum werden allerdings entsprechende Bedenken gegen die Einführung des Kostenbeitrags erhoben.112 Vor dem rechtspolitisch wünschenswerten Hintergrund einer Entschuldung breiter Kreise der Bevölkerung ist die Regelung verfehlt. Den 108 109 110 111 112
Hierzu näher Hergenröder, ZVI 2005, 521, 532 f. Hessisches Landessozialgericht vom 29.10.2008, Az.: L 6 AS 336/07. RegE InsO 2007 S. 46. RegE InsO 2007 S. 35 f. Vgl. Ahrens, NZI 2008, 86, 87; Jäger, ZVI 2007, 507, 514; Pape, NZI 2007, 681.
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Schuldnerberatungsstellen wird in manchen Fällen wieder nichts anderes mehr übrig bleiben, als über Treuhandvereinbarungen die Verfahrenskosten anzusparen.113 7. Abgekürzte Wohlverhaltensperiode Schließlich ist noch auf die Wohlverhaltensperiode von sechs Jahren einzugehen. Rechtlich ist dieser Zeitraum klar strukturiert, tatsächlich stellen sechs Jahre einer marginalisierten Lebensführung die betreffenden Haushalte vor große Herausforderungen. Denn in unserer konsumorientierten Gesellschaft müssen der Schuldner und seine Familie über sechs Jahre hinweg mit dem nicht pfändbaren Einkommensteil wirtschaften. Maßgeblich für die Frage, ob dieser lange Zeitraum durchgehalten werden kann, werden nicht zuletzt die zur Verfügung stehenden Einkünfte sein. Im europäischen Vergleich kennt nur Österreich eine längere (Regel-)Wohlverhaltensperiode, in den meisten Staaten mit Restschuldbefreiung ist der Entschuldungszeitraum kürzer. Der RegE InsO 2007 wählt eine zwiespältige Lösung, um dieses Problems Herr zu werden: So hat das Gericht vorzeitig über die Restschuldbefreiung zu entscheiden, wenn zwei Jahre der Wohlverhaltensperiode verstrichen sind und die Insolvenzgläubiger während des Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahrens mindestens 40 % ihrer im Schlussverzeichnis aufgenommenen Forderungen erhalten haben (§ 300 Abs. 1 Nr. 1 InsO-E) oder vier Jahre der Wohlverhaltensperiode verstrichen sind und den Insolvenzgläubigern während des Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahrens mindestens 20 % ihrer im Schlussverzeichnis aufgenommenen Forderungen bezahlt wurden (§ 300 Abs. 1 Nr. 2 InsO-E). Hintergrund dieser Privilegierung von Schuldnern, auf deren Verbindlichkeiten Zahlungen in entsprechender Höhe geleistet werden, ist die Überlegung, dass damit ein deutlicher Anreiz geschaffen wird, den Gläubigern eine möglichst hohe Befriedigungsquote zu verschaffen. Das effektivste Mittel, den Schuldner zu entsprechenden „überobligationsmäßigen“114 Anstrengungen anzuhalten, sei eine fühlbare Abkürzung der Wohlverhaltensperiode. Der Entwurf geht ohne weiteres davon aus, dass entsprechende Zahlungen regelmäßig nur von Dritten kommen können, genannt werden ausdrücklich die Verwandten des Schuldners. 113 Zu diesem Problemkreis Hergenröder, ZVI 2002, 349. 114 So die Formulierung in RegE InsO 2007 S. 78.
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Rechtspolitisch ist § 300 Abs. 1 InsO-E äußerst bedenklich.115 Zwar ist es durchaus zu begrüßen, wenn dem Schuldner durch die Verkürzung der Wohlverhaltensperiode ein Anreiz geboten wird, sich um die Begleichung der Forderungen verstärkt zu bemühen. Die in der geplanten Vorschrift genannten Quoten entbehren indes jeglicher Realität. Zieht man die schon genannte statistische Untersuchung einmal mehr heran,116 so ergibt sich, dass in 72,8% der außergerichtlichen Einigungsversuche eine Regulierungsquote von unter 10% vorgeschlagen wird; im Intervall von 10 bis 20% liegen weitere 10,3% der Pläne. In den weiteren Intervallen nehmen die relativen Häufigkeiten kontinuierlich ab und steigen lediglich im letzten Intervall noch einmal an. Insgesamt haben nur knapp 7% der Einigungsvorschläge eine Regulierungsquote von über 50%. Die durchschnittliche Regulierungsquote beträgt 11,1%. Der Entwurf geht selbst davon aus, dass die Quote von 40 % entsprechend § 300 Abs. 1 Nr. 1 InsO-E kaum realisierbar ist.117 Zu befürchten steht aber insbesondere, dass die Vergleichsbereitschaft von Gläubigern im außergerichtlichen Einigungsversuch deutlich zurückgehen wird, wenn sie etwa bei der Verwandtschaft des Schuldners „Geld riechen“. Denn warum sollte ein Gläubiger eine realistisch niedrige Quote akzeptieren, wenn im Verfahren eine wesentlich höhere lockt? Dabei ist noch gar nicht einmal ein möglicher Missbrauch des Verfahrens berücksichtigt, den der Entwurf immerhin sieht. In der Tat: Bringt ein Schuldner nach zwei Jahren 40 % des den Gläubigern geschuldeten Betrages auf, muss man sich fragen, woher das Geld stammt!118
VII. Gesamtgesellschaftliche Folgen der Zahlungsunfähigkeit Jede Reform der Verbraucherinsolvenz muss Stückwerk bleiben, wenn sie gesamtgesellschaftliche Gegebenheiten außer Acht lässt, zumal in der bisherigen Diskussion unverständlicherweise nur die Kosten für die Justizhaushalte eine Rolle spielen. Völlig ausgeblendet blieben bislang die finanziellen 115 115 116 117 118
In diesem Sinne auch Jäger, ZVI 2007, 507, 514; Stephan, ZVI 2008, 141. Heuer u.a. (oben Fn. 83), 24. Heuer u.a. (oben Fn. 83), 24. Siehe RegE InsO 2007 S. 78. So auch schon Springeneer, ZVI 2006, 1, 7.
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Auswirkungen der privaten Überschuldung aus volkswirtschaftlicher Sicht. Drei Aspekte sollen hier119 näher beleuchtet werden: Zunächst sind die Wechselbeziehungen zwischen Überschuldung und Kriminalität sowie zwischen Überschuldung und Krankheiten zu beleuchten. Danach ist die Überschuldung in ihrer psycho-sozialen Dimension anzusprechen. 1. Überschuldung und Kriminalität In einer konsumorientierten Gesellschaft gelten Besitz und Konsum als erstrebenswerte Ziele. Gleichzeitig stehen legitime Mittel zur Erreichung dieser Ziele nicht allen Personen offen. Zu den benachteiligten bzw. völlig von der Teilhabe ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen zählen insbesondere von Armut und Schulden betroffene Menschen. Neben der mangelnden Kaufkraft fehlt diesen Personen häufig auch eine schulische oder berufliche Ausbildung, um auf legale Weise materiellen Wohlstand zu erreichen.120 Nach der von Durkheim erstmalig vertretenen und von Merten weitergeführten und erweiterten „Anomietheorie“ ist Konsequenz dieser ökonomischen Deprivation, dass die Betroffenen Kriminalität als Mittel zur Erlangung der angestrebten Ziele einsetzen und so den gegebenen sozialen Bedingungen anpassen.121 Wenn die Gegensätze von Arm und Reich wachsen, steigt auch der „Anomiedruck“. In einer Gesellschaft, die den Wert eines Menschen in hohem Maße von dessen ökonomischem Status abhängig macht, ist für von Armut betroffene Personen der Weg zur Straftat oftmals nicht mehr weit. Schulden können unter diesen Aspekten eine Motivation erzeugen, die zu Eigentumskriminalität führt. Im Unterschied dazu wird ein schwächerer Zusammenhang zwischen Armut und Gewaltkriminalität vermutet. Etwas anderes gilt nur dann, wenn, wie bei Raubdelikten, Gewalt zur Erlangung von 119 Die entsprechenden Probleme in ihrem interdisziplinären Zusammenhang aufzuzeigen ist Gegenstand einer Untersuchung einer Forschergruppe der Universitäten Mainz, Trier und Saarbrücken. Das Projekt, welches unter anderem historische, rechtsvergleichende, kriminologische, medizinische, erziehungswissenschaftliche und wirtschaftspädagogische Studien vereint, erfährt eine Förderung im Rahmen der Exzellenzinitiative des Landes Rheinland-Pfalz, vgl. näher Bock/Breuer/Clemens/Gestrich/Hergenröder/Hermann-Otto/Irsigler/ Münster/Schnabel-Schüle/ Schweppe, ZVI 2007, 515 ff. 120 Vgl. auch Bock u.a. (vorige Fn.) 518 f. 121 Lamnek, Theorien abweichenden Verhaltens, 5. Aufl. 1993, 124 ff.
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Eigentum eingesetzt wird.122 Die beschriebenen Abläufe sind indes komplex, auf verschiedenen Ebenen angesiedelt und nicht zwingend. Erschwerend kommt hinzu, dass Armut und Schulden nur ein möglicher Ausgangspunkt für kriminalitätsfördernde Prozesse sind. Diese gehen meist mit weiteren Faktoren einher, die wiederum selbst im Zusammenhang mit Armut stehen, etwa schwierige familiäre Konstellationen, beengte Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit.123 Fest steht, dass Armut das Verhalten des Einzelnen prägen und Einfluss auf die Kriminalitätsentwicklung nehmen kann.124 Aber Kriminalität kann auch zur Überschuldung führen: Studien zufolge sind Inhaftierte im männlichen Erwachsenenvollzug und im Jugendstrafvollzug mit erheblichen Verbindlichkeiten belastet.125 Rund die Hälfte der Inhaftierten sieht sich mit einer Schuldensumme von mehr als 5.000 € konfrontiert.126 Eine in sächsischen Justizvollzugsanstalten durchgeführte Studie konnte ermitteln, dass nur jeder vierte Inhaftierte schuldenfrei war.127 Bedingt durch Wiedergutmachungsansprüche der Opfer, Anwalts- und Gerichtskosten, offene sonstige Verpflichtungen, insbesondere gebotene Ratenzahlungen bei Banken und Kreditinstituten mit weiterlaufenden Zinsen, befinden sich die Inhaftierten in einer immer kritischer werdenden finanziellen Situation.128 Als Fazit lässt sich daher zusammenfassen, dass Armut sich im Bereich der Kriminalität auf zwei Ebenen auswirken kann: zum einen direkt, in dem sich aus Armut die Motivation zur Begehung von Straftaten ergibt, die sog. „Notkriminalität“. Zum anderen die indirekte Ebene, indem Armut im Zusammenwirken mit anderen gesellschaftlichen Bedingungen die Sozialisation der einzelnen Person prägt und es dieser damit erschwert wird, die für 122 Pfeiffer/Ohlemacher, DVJJ-Journal 1995 (Nr. 149), 178, 185. 123 Meier, „Neue Armut“ und die Entwicklung von Jugendkriminalität, FS Günther Kaiser, 1998, 1081. 124 Siehe aber auch Meier, FS Günther Kaiser, 1998, 1083, der aufgrund der Komplexität der Zusammenhänge insoweit einen herausragenden Einfluss auf die Kriminalitätsentwicklung leugnet. 125 Klotz, Strafentlassenhilfe, in Salmann: Soziale Arbeit mit Straffälligen, 1986, 89 ff. 126 Schwind/Böhm/Jehle/Best, Strafvollzugsgesetz, 4. Aufl. 2005, § 73 Rdnr. 7. 127 Kernter, Schulden und Schuldenregulierung der Gefangenen in sächsischen Justizvollzugsanstalten, 1999, 137 ff. 128 Laubenthal, Strafvollzug, 4. Aufl. 2007, 345.
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die Wahl einer normenkonformen Verhaltensalternative notwendige Selbstkontrolle aufzubringen.129 2. Überschuldung und Krankheiten Detaillierte Untersuchungen liegen zwischenzeitlich zu den Wechselbeziehungen zwischen Überschuldung und Krankheiten vor.130 Das Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Mainz hat in den Jahren 2005 bis 2007 die sozialmedizinische Befragungsstudie „Armut, Schulden und Gesundheit“ (ASG-Studie) durchgeführt.131 Es handelt sich hierbei um eine wissenschaftliche Erhebung zum Gesundheitszustand und zum Inanspruchnahmeverhalten von medizinischen Leistungen von überschuldeten Privatpersonen in Rheinland-Pfalz. In Zusammenarbeit mit 53 offiziell in Rheinland-Pfalz nach § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO anerkannten Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen und in Kooperation mit dem Schuldnerfachberatungszentrum der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz wurde eine anonyme, einmalige schriftliche Befragung organisiert. Insgesamt konnten 2.235 Fragebögen132 an 53 Schuldnerberatungsstellen verteilt werden, wobei von 129 Meier, FS Günther Kaiser, 1998, 1083. 130 Vgl. zum Folgenden näher Münster/Rüger/Ochsmann/Alsmann/Letzel, Überschuldung und Gesundheit. Sozialmedizinische Erkenntnisse für die Versorgungsforschung, ArbeitsmedizinSozialmedizinUmweltmedizin 2007, 628; Münster/Rüger, Überschuldung bei Krebspatienten. Finanzielle Not, ein Thema für das medizinische Versorgungssystem, FORUM, Jg. 23 (2008), Heft 3, 42; Münster/Letzel, Überschuldung, Gesundheit und soziale Netzwerke. Expertisen zur Erarbeitung des dritten Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung, in: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Materialien zur Familienpolitik: Lebenslagen von Familien und Kindern, Überschuldung privater Haushalte Nr. 22/2008, 55. 131 Die Studie wurde im Rahmen des Landesexzellenzclusters „Gesellschaftliche Abhängigkeit und soziale Netzwerke“ erstellt, vgl. Bock u.a. (oben Fn. 119), 519 f. Siehe auch unter und . 132 Der eigens für die ASG-Studie entwickelte standardisierte Fragebogen enthielt 58 – vorrangig geschlossene – Fragen zum gesundheitlichen Status der Probanden, der Überschuldungssituation, sowie zu Strukturen und Qualität des egozentrierten sozialen Netzwerks und der Inanspruchnahme des Versorgungssystems. Der Fragebogen wurde mit einem adressierten und frankierten Rück-
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diesen insgesamt 1876 Fragebögen in dem Erhebungszeitraum an Klienten weitergegeben wurden. Insgesamt haben 666 Personen (51,1% Frauen) im Alter zwischen 18 und 79 Jahren (durchschnittliches Alter: 41 Jahre) bei einer Teilnahmerate von 35,5% an der ASG-Studie teilgenommen. Von diesen 666 Klienten der Schuldnerberatungsstellen hatten 68 % eine eidesstattliche Versicherung abgegeben, sowie 52 % bereits Erfahrungen mit einer Antragstellung für ein Privatinsolvenzverfahren. Insgesamt vermerkten 79 % (N = 467) der Probanden, an mindestens einer Erkrankung zu leiden. Hierbei ist auffällig, dass 84 % der Arbeitslosen und 76 % der Erwerbstätigen eine Erkrankung nannten. Deutlich wurde, dass psychische Erkrankungen (z.B. Angstzustände, Depressionen, Psychose), gefolgt von Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen mit jeweils ca. 40 % am häufigsten als derzeitige Erkrankung angegeben werden. Frauen leiden signifikant häufiger mit 42,4% bzw. 46,2% unter diesen. Als Hauptursache ihrer finanziellen Probleme nannten 33 % der Probanden (N = 217) einen gesundheitsbezogenen Grund, sei es durch Unfall (2 %) oder Krankheit (23 %) oder Sucht (13 %) bedingt. Signifikante Geschlechtsunterschiede konnten nicht festgestellt werden. Als Freitextfeld wurde um die Nennung der Krankheit gebeten, wobei am häufigsten psychische Erkrankungen (Depression, Psychose, Persönlichkeitsstörung; N = 20), gefolgt von Wirbelsäulenerkrankungen (Bandscheibenvorfall, Skoliose; N = 18) und Herzerkrankungen (Herzinfarkt, -entzündung; N = 14) aufgeführt wurden. Als weitere schwere Erkrankungen wurden darüber hinaus Schlaganfall, Epilepsie und HIVInfektion als Hauptgrund für die Überschuldung genannt. Auffällig ist, dass lediglich 21 % (N = 137) des Gesamtkollektivs die Aussage, die Schuldensituation habe sie krank gemacht, verneinten. Generell kann man sagen, dass zahlungsunfähige Personen im Vergleich zur „Normalbevölkerung“ bei den jeweiligen Erkrankungen ein zwei- bis dreifaches Risiko haben. Unübersehbar sind die Parallelen zu den kriminologischen Studien im Hinblick auf die Wechselwirkungen beider Faktoren: Krankheiten führen nicht nur zur Überschuldung, sondern die Überschuldung führt auch zu Krankheiten! Die Mehrzahl der Probanden gab an – und dies ist ein zentrales Ergebnis der Untersuchung – sowohl aus Geldmangel vom Arzt verschrieumschlag von den Schuldnerberatern an deren Klienten ausgegeben, mit der Bitte um Teilnahme.
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bene Medikamente nicht gekauft (65 %) als auch aufgrund der Schuldensituation und der 10-Euro-Selbstbeteiligung einen Arztbesuch in den letzten 12 Monaten unterlassen zu haben (61 %). Auffällig ist, dass arbeitslose Probanden diese eingeschränkte Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen im Vergleich zu erwerbstätigen Probanden häufiger nannten (Arztbesuche: 68 % gegenüber 60 %; Medikamentenkauf 73% gegenüber 64%). Die ASG-Studie zeigt eindrucksvoll die im Verhältnis zu finanziell besser gestellten Menschen deutlich schlechtere Gesundheitslage und das prekäre Inanspruchnahmeverhalten von medizinischen Leistungen durch überschuldete Privatpersonen auf. Es ist zu betonen, dass neben den ökonomischen und juristischen Problemen der Überschuldung die gesundheitlichen und sozialen Probleme dominant sind und eine Teilhabechance bei der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen, die der Zuzahlung bedürfen, eingeschränkt erscheint. Gesundheit ist eine Grundlage für viele Lebensbereiche des Menschen. Ist diese geschwächt, kann dies Einfluss auf die ökonomisch-materiellen, sozialen und kulturellen Aktivitäten nehmen, was wiederum die Teilhabechancen am gesellschaftlichen Leben und an den sozialen Sicherungssystemen tangiert. Ebenso kann die Überschuldung eines Menschen dazu führen, dass die ökonomisch-materiellen, sozialen, und kulturellen Ebenen des Betroffenen angegriffen werden und die Gesundheit darunter leidet. Unter ethischen und sozialpolitischen Gesichtspunkten ist es notwendig, sich der Überschuldungsproblematik in Deutschland auch insoweit interdisziplinär entgegenzustellen und zwar mit effektiven und nachhaltigen Präventionsmaßnahmen, die auf validen, wissenschaftlich fundierten Grundlagen über das Ausmaß und das Erscheinungsbild der Mehrdimensionalität aufbauen. Dem Bereich der öffentlichen Gesundheitspflege, neudeutsch „Public Health“ genannt, kommt bei der hier erforderlichen wissenschaftlichen Analyse sowie bei der Umsetzung der Erkenntnisse eine bedeutende Rolle zu, da die Prävention und Gesundheitsförderung als Schlüsselrolle für die Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme gilt. Der Rechtspolitik sei daher folgender Satz von Herophilos von Chalkedon (um 300 v. Chr.) ins Bewusstsein gerufen: „Ohne Gesundheit können sich Wissen und Kunst nicht entfalten, vermag Stärke nichts auszurichten und Reichtum und Intelligenz liegen brach.“
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3. Zahlungsunfähigkeit in seiner psycho-sozialen Dimension und Netzwerkanalyse Betrachtet man die Ursachen der Verschuldung, wird deutlich, dass an den Umstand der Zahlungsunfähigkeit nicht nur in einem juristisch-administrativen Sinne herangetreten werden kann. Faktisch schließt sich an die reinen juristischen Definitionen133 der Erscheinung auch das soziale Umfeld an, und hierbei nicht nur die Beziehung zu den Gläubigern. Die Bedeutung der psycho-sozialen Bedingungen tritt neben die ökonomische Zwangslage. Dies wird nicht nur aus den oben erörterten Rahmenbedingungen der Zahlungsunfähigkeit, sondern auch in folgender Definition deutlich, die von der Bundesregierung selbst in ihrem ersten Armuts- und Reichtumsbericht verwendet worden war: „Überschuldung ist die Nichterfüllung von Zahlungsverpflichtungen, die zu einer ökonomischen und psycho-sozialen Destabilisierung von Schuldnern führt. Überschuldung bedeutet daher nicht allein, dass nach Abzug der fixen Lebenshaltungskosten der verbleibende Rest des monatlichen Einkommens für zu zahlende Raten nicht mehr ausreicht, sondern birgt massive soziale und psychische Konsequenzen in sich.“134 Ungeachtet des Bedürfnisses nach einer Handhabung der Begrifflichkeit der Verschuldung und Überschuldung vom Blickwinkel der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin,135 kommt man nicht umhin, den multifaktoriellen Charakter der Zahlungsunfähigkeit zu berücksichtigen. Überschuldung stellt nicht nur ein rein finanzielles Problem dar, sondern erfasst alle Lebensbereiche der von einer Zahlungsenge betroffenen Person. Die wirtschaftliche Destabilisierung geht regelmäßig mit einer psycho-sozialen Belastung einher.136 Um dem sozialpolitischen Erwartungshorizont des Verbraucherinsol133 Zu den verschiedenen Definitionen der Verschuldung Korczak, Definitionen der Verschuldung und Überschuldung im europäischen Raum (2003), Literaturrecherche im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; abrufbar unter . 134 Korczak/Pfefferkorn (oben Fn. 18), XXI. 135 Zu dem administrativ-juristischen, objektiv-quantitativen oder subjektiv-qualitativen Bedeutungsgehalt der Überschuldung im deutschen und europäischen Kontext vgl. Korczak (oben Fn. 133). 136 Umfassende Befunde in den Materialien zur Familienpolitik: Lebenslagen von Familien und Kindern – Überschuldung privater Haushalte; Expertisen zur Erarbeitung des dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung,
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venzverfahrens zu erfüllen, dem redlichen Schuldner den Weg zurück zur ökonomischen Anteilnahme zu weisen und ihn zu einer handlungsfähigen Teilhabe am Erwerbsleben zu motivieren, bedarf es mehr als der Eröffnung eines institutionell geregelten Verfahrens. Die Analyse monetärer Faktoren ist lediglich ein Teilaspekt zur Überwindung der individuellen Überschuldungskrise. Es bedarf der ganzheitlichen Begleitung. Aktuelle Untersuchungen belegen, dass von der formalen und juristischen Reintegration des Verbraucherinsolvenzverfahrens profitiert wird, eine soziale Reintegration in vielen Fällen jedoch nicht erreicht werden kann.137 Die psycho-soziale Dimension einer Verschuldungssituation lässt sich anhand von vier Elementen erfassen. Lebensqualität wird mit Blick auf die emotionale Situation des Betroffenen, seine soziale Integration, die körperliche Verfassung und seine Lebenseinstellung kategorisiert.138 Die Einbindung in ein Netzwerk sozialer Unterstützung spielt hierbei eine bedeutende Rolle. Die schon skizzierten sozialmedizinischen Forschungen weisen darauf hin, dass ein defizitäres soziales Netzwerk in einer Wechselwirkung zu der Überschuldungssituation steht und sich gegenseitig bedingen kann. Der Zusammenhang zwischen der Bewältigung von psychischem und finanziellem Stress ist einsichtig. An dieser Stelle kann die soziale Netzwerkanalyse als eine Methode der Praxisdisziplin der sozialen Arbeit ansetzen.139 Mit diesem Konstrukt lassen sich gleichzeitig die Lebenswelt des Schuldners (Mikrobereich) und die Systemwelt der ihn umgebenden gesellschaftlichen Institutionen (Makrobereich) verknüpfen, um zu klären, welche Ressource das jeweilige Unterstützungsnetzwerk für den Betroffenen darstellt. Die Analyse ermöglicht es, die wechselseitigen Beziehungen in den verschiedenen Strukturen zu erfassen und die vorhandenen Hilfsreserven eines in Nr. 22/2008, 129 ff.; abrufbar unter . 137 Vgl. die Materialien zur Familienpolitik: Lebenslagen von Familien und Kindern – Überschuldung privater Haushalte (oben Fn. 136), 33 ff. 138 Kuhlemann/Walbrühl, Expertise im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; erörtert in den Materialien zur Familienpolitik: Lebenslagen von Familien und Kindern – Überschuldung privater Haushalte (oben Fn. 136). 139 Zur sozialen Arbeit in der Beratungspraxis Bullinger/Nowak, Soziale Netzwerkarbeit (1998); Pearson, Beratung und soziale Netzwerke (1997).
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Zahlungsnot Geratenen zu begreifen. Mit Hilfe ausgewählter Variablen der Beziehungskanten können Aussagen über die Dichte und Reichweite, den Inhalt und die Dauer etc. des jeweiligen sozialen Unterstützungsnetzes gemacht werden.140 Sichtbar wird, inwieweit ein Schuldner in soziale Netze eingebunden ist, welchen Halt er durch diese erfährt, wie Unterstützungsbarrieren aufgelöst werden und welche Rücklagen möglicherweise noch erschlossen werden können, da entscheidende Bereiche, die objektiv Hilfsmöglichkeiten anbieten würden, (noch) nicht mobilisiert wurden.
VIII. Notwendige Rahmenbedingungen zur Bekämpfung der Überschuldung 1. Erlernen des Umgangs mit Geld bereits im Schulalter Ein wesentlicher Faktor zur Bekämpfung der Zahlungsunfähigkeit ist die Prävention: Die Überschuldung natürlicher Personen muss soweit als möglich vermieden werden. Die Schwierigkeiten liegen freilich auch hier auf der Hand: So lässt sich die statistische Hauptursache der Zahlungsunfähigkeit, die Arbeitslosigkeit, nicht von heute auf morgen senken. Dies setzt neben anderen Faktoren zunächst einmal auch eine vernünftige Bildungspolitik voraus. Und was will man gegen den zweithäufigsten Grund der Überschuldung, das Scheitern einer Paar-Beziehung, tun? Was man aber tun kann, ist den Umgang mit Geld von klein auf besser zu vermitteln. Einer Jugendstudie des Bundesverbandes Deutscher Banken aus dem Jahre 2006 zufolge gaben 48 % der Befragten im Alter zwischen 14 und 24 Jahren an, dass sie sich in Geld- und Finanzfragen „eher nicht“ oder „überhaupt nicht“ auskennen.141 Aus der Schuldnerberatung hört man, dass insbesondere die sog. „Handyschulden“ ein zunehmendes Problem bei Jugendlichen darstellen. Richtigerweise sollte daher der Umgang mit Geld bereits in der Schule vermittelt wer-
140 Zu den Erfragungskategorien Lang/Schnegg, Netzwerkanalyse – Eine praxisorientierte Einführung, Methoden der Ethnographie (2006), NWA 1.4, 19 ff.; abrufbar unter . 141 Jugendstudie 2006; Wirtschaftsverständnis und Finanzkultur, 12. Abrufbar unter .
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den.142 Schon der Jugendliche muss wissen, worauf er sich mit einem Kredit einlässt, worin das Risiko bestimmter Finanzierungsformen liegt. Die zunehmende Überschuldung gerade junger Erwachsener, die den Verlockungen der Konsumindustrie erliegen, ist ein ernstes Warnsignal. Bei einem Leben an der Pfändungsfreigrenze wird die Privatautonomie zur Farce. 2. Verantwortliche Kreditvergabe Eine wichtige Rolle in Bezug auf die Prävention spielen selbstredend die Darlehensgeber und Finanzierer. Solange die Kreditpolitik der Banken vom Gewinnmaximierungsprinzip beherrscht wird, es also bei der Ablehnung von Krediten nicht darum geht, eine übermäßige Belastung der Schuldner zu vermeiden, sondern alleine darum, eine möglichst große Differenz zwischen dem erwarteten Gewinn aus Kreditgewährungen und dem erwarteten Verlust aus geplatzten Finanzierungen zu erwirtschaften, wird sich an der gegenwärtigen Situation nichts ändern. Stehen die Mitarbeiter unter Verkaufsdruck, wird manches Darlehen vergeben, dessen Bewilligung angesichts der finanziellen Situation des Schuldners besser unterblieben wäre.143 Die Frage ist in der Tat, ob man den Arbeitnehmer der Bank als Berater des Kunden zu verstehen hat oder vielmehr als Verkäufer, der seine Vertriebsziele – gegebenenfalls motiviert durch Provisionen – erreichen muss. Angesprochen ist damit also das Gebot der verantwortlichen Kreditvergabe. Die Zeche bezahlen ohnedies diejenigen, welche ihre Kredite bedienen können, da sie mit ihren Zinszahlungen die finanziellen Ausfälle säumiger Schuldner ausgleichen müssen. Insbesondere die gerne kolportierte These, steigende Ausfälle aus Verbraucherkrediten würden einzelne Kreditinstitute dazu bringen, keine im Hinblick auf die Rückzahlung zweifelhaften Darlehen mehr zu vergeben und deshalb die Kreditzinsen für zahlungsfähige Kunden zu senken, was in der Folge aus Wettbewerbsgesichtspunkten auch anderen Banken zu einer entsprechenden Kreditpolitik zwingen würde, erscheint wenig überzeugend. 142 Das Thema ist auch für die Kreditinstitute nicht neu, wie die im Jahre 1955 vom Deutschen Sparkassen- und Giroverband herausgegebene kleine Schrift „Erziehung zur Sparsamkeit im Schulalter“ beweist. 143 Zur Bedeutung des Konsumentenkreditmarktes für den „modernen Schuldturm“ Ebli, Pädagogisierung, Entpolitisierung und Verwaltung eines gesellschaftlichen Problems? Die Institutionalisierung des Arbeitsfeldes „Schuldnerberatung“, 2003, 53 ff.
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3. Recht auf ein Girokonto auf Guthabenbasis Zwar besteht seit dem Jahr 1995 eine „ZKA-Empfehlung zum Girokonto für Jedermann“ des Zentralen Kreditausschusses,144 in dem die Spitzenverbände der Kreditwirtschaft zusammengeschlossen sind. Gleichwohl verfügt in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor eine große Anzahl von Menschen nicht über ein Girokonto, obwohl sie ein solches zur Teilnahme am wirtschaftlichen Leben benötigen und es auch anstreben. Nach Schätzungen handelt es sich in Deutschland um rund 500.000 Menschen. Die Verweigerung eines Girokontos führt binnen kürzester Zeit zur finanziellen Exklusion und ist nicht nur rechtlich zweifelhaft, sondern auch rechtspolitisch töricht. Plastisch formuliert dies die Begründung des Gesetzesantrags145 der Freien Hansestadt Bremen vom August 2008, mit welchem das Recht auf ein Girokonto im Kreditwesengesetz146 verankert werden soll: „Ohne Girokonto ist die Teilnahme am Wirtschaftsleben heutzutage kaum noch denkbar. Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ist häufig gefährdet, wenn die Lohnzahlung 144 Hierzu näher Mülbert, FS Konzen, 2006, 561, 565 ff. 145 BR-Drucks. 653/08 v. 4.9.2008. 146 In das Kreditwesengesetz soll folgende Bestimmung eingefügt werden: „§ 22q Rechtsanspruch auf Führung eines Girokontos. (1) Kreditinstitute, die Bankgeschäfte im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 9 betreiben, sind verpflichtet, jeder natürlichen Person ohne Girokonto auf Antrag die Führung eines Girokontos als Guthabenkonto anzubieten. Mit dem Antrag ist zu versichern, dass ein Girokonto nicht besteht. (2) Eine Verpflichtung nach Absatz 1 Satz 1 besteht nicht, wenn dem Kreditinstitut die Führung eines Girokontos unzumutbar ist, insbesondere weil die Person 1. Leistungen des Kreditinstituts für gesetzwidrige Vorhaben missbraucht oder missbraucht hat, 2. für das Vertragsverhältnis wesentliche Angaben falsch oder nicht macht oder gemacht hat, 3. Mitarbeiter oder Kunden des Kreditinstituts grob belästigt oder gefährdet oder dies getan hat, 4. das Konto nicht zur Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr nutzt und auf absehbare Zeit nicht nutzen wird oder 5. nicht sicherstellt, dass das Kreditinstitut die für die Kontoführung und -nutzung vereinbarten oder üblichen Entgelte erhält. (3) Das Kreditinstitut darf für die Einrichtung und Führung des Girokontos und damit verbundene Dienstleistungen Entgelte höchstens in der Höhe verlangen, die es üblicherweise mit Kunden für solche Dienstleistungen vereinbart“.
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nicht bargeldlos erfolgen kann, Sozialleistungen werden nur unter Einschränkungen bar ausgezahlt, und Vermietende erwarten die Mietzahlungen per Dauerauftrag. Auch machen die zunehmende Einschränkung des persönlichen Services bei den Bankdienstleistungen und die vermehrte Schließung von Bankfilialen die Notwendigkeit einer Kontokarte immer dringender.“ Soweit man demgegenüber einwenden mag, durch die Tätigkeit der Ombudsstellen der Banken sei den Interessen der betroffenen Personen Genüge getan, ist auf die Begründung des Gesetzentwurfs zu verweisen: Die Möglichkeit der kostenlosen Inanspruchnahme einer Schlichtungsstelle sei den Betroffenen weitgehend unbekannt geblieben. Komme es trotzdem zu einem Schlichtungsverfahren, seien die Schlichtungssprüche für die einzelnen Kreditinstitute nicht verbindlich. Das Verfahren stelle sich als intransparent und nicht verbraucherorientiert dar. Insbesondere die Veröffentlichungspraxis von Schlichtungssprüchen sei unzureichend. Werde schließlich ein Konto eingerichtet, entstünden der Kundin/dem Kunden vielfach erhöhte Kosten.147 Ergänzt werden soll insoweit nur noch, dass Menschen, die kein Girokonto haben, sofort(!) Abhilfe benötigen. Die Entscheidung eines Ombudsmanns Wochen später ist keine Perspektive. Im Übrigen ist zu betonen, dass Kreditinstitute Entscheidungen der Schlichtungsstellen nicht selten ignorieren. Die ZKA-Empfehlung hat jedenfalls die Erwartungen nicht erfüllt, Versuche der Rechtsprechung, aus ihr einen verbindlichen Anspruch abzuleiten,148 konnten sich nicht durchsetzen.149 Das LG Berlin150 judizierte zuletzt, ein Kreditinstitut könnte unter dem Gesichtspunkt des Kontrahierungszwanges verpflichtet sein, einem Antragsteller die Führung eines gebührenpflichtigen Kontos auf Guthabenbasis zu ermöglichen. Von einer derartigen Verpflichtung sei auszugehen, wenn der Antragsteller geltend mache, auf ein Girokonto angewiesen zu sein, sich bei mehreren Kreditinstituten vergeblich um ein Konto bemüht habe und kein sachlicher Grund für die Ablehnung der Kontoeröffnung bestehe. Ein sachlicher Grund für die Ablehnung einer Kontoeröffnung könne allein das Vorliegen von Gründen sein, die nach der 147 So die Begründung in BR-Drucks. 653/08 v. 4.9.2008, 1 f. 148 So LG Bremen, WM 2005, 2137; a.A. AG Stuttgart, WM 2005, 2139. 149 Siehe OLG Bremen, VuR 2006, 161 mit Anm. Kohte; Mülbert, FS Konzen, 2006, 561, 565 ff. 150 LG Berlin, ZVI 2008, 362; dazu auch Pieper, ZVI 2008, 457.
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ZKA-Empfehlung ausnahmsweise eine Kontoführung für das Kreditinstitut unzumutbar machten. Der Umstand, dass bereits ein Konto des Antragstellers bei diesem Kreditinstitut wegen einer Kontopfändung gekündigt wurde, führe für sich genommen noch nicht zur Unzumutbarkeit. Mag man der Argumentation über § 826 BGB letztendlich auch kritisch gegenüberstehen, so ist der Entscheidung in der Sache ohne weiteres beizupflichten. Die gesetzliche Verankerung des Anspruchs, wie ihn die Freie Hansestadt Bremen anstrebt, ist freilich die rechtssichere Lösung. 4. Mitfinanzierung der Schuldnerberatung durch die Kreditinstitute Gestärkt werden muss nach alledem die Schuldnerberatung. Es ist volkswirtschaftlich allemal günstiger, die Schuldnerberatungsstellen personell und sachlich vernünftig auszustatten und dadurch Zahlungsunfähigkeit bereits im Vorfeld zu verhindern151 bzw. eine gütliche Einigung mit den Gläubigern herbeizuführen, als eine Reform des Verbraucherinsolvenzrechts nach der anderen mit jeweils zweifelhaften Erfolgsaussichten zu versuchen. Jeder mittellose Mensch muss die Möglichkeit haben, Schuldnerberatung kostenlos in Anspruch zu nehmen – und zwar innerhalb angemessener Zeit! Die rigorose Streichung von Mitteln für die Schuldnerberatung durch die Administrationen einzelner Bundesländer152 ist vor diesem Hintergrund nicht nur rechtspolitisch töricht, sie kostet auch den Staat weit mehr Geld als durch den Stellenabbau eingespart wird. Und sie treibt aufgrund langer Wartelisten bei den verbleibenden Schuldnerberatungsstellen die Schuldner in die Hände privater „Schuldenregulierer“, deren Seriosität regelmäßig mehr als zweifelhaft ist.153 Die Finanzierung der Schuldnerberatung liegt in der Kompetenz der Länder und ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich geregelt.154 Um 151 Zu Aufgaben und Selbstverständnis der Schuldnerberatung Ebli (oben Fn. 143), 141 ff.; siehe auch Hergenröder, ZVI 2003, 577, 578; zu den Aufgaben der „geeigneten Stellen“ i.S.d. § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO ders., ZVI 2007, 448. 152 Während Hessen im Haushaltsjahr 2003 für die Schuldnerberatung noch 2.096.000 € aufgewandt hatte, wurde die Förderung ab 2004 eingestellt. 153 Siehe die Nachweise bei Fn. 17. 154 Teilweise erfolgt wie in Bayern eine Förderung ohne Rechtsanspruch im Rahmen verfügbarer Haushaltsmittel (2005: 1.749.600 €), teilweise wird nach Fallpauschalen abgerechnet, so in Baden-Württemberg (2006: 870.000 €) und
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die Ausstattung der Schuldnerberatungsstellen sicherzustellen bzw. zu verbessern, bietet sich eine flächendeckende Mitfinanzierung durch die Kreditinstitute an. Schon jetzt verpflichten § 2 Abs. 1 S. 4 Sparkassengesetz Brandenburg, § 3 Abs. 2 S. 3 Sparkassengesetz Nordrhein-Westfalen und § 2 Abs. 2 S. 4 und 5 Sparkassengesetz Rheinland-Pfalz die Sparkassen in den genannten Bundesländern zur Finanzierung der Schuldnerberatung. Die Regelungen sind vor dem Hintergrund des öffentlichen Auftrags der Sparkassen zu sehen. In der Begründung der rheinland-pfälzischen Regelung findet sich unter anderem der Hinweis auf die Verpflichtung zur Wirtschaftserziehung der Jugend und die verbraucherpolitische Bedeutung der Schuldnerberatung.155 Vorgesehen ist zudem die Kooperation der Sparkassen mit der Schuldnerberatung, geleistet werden soll die Information, Aufklärung, Fortbildung und Schulung der Schuldnerberater. Auch die Mitarbeit bei der praktischen Klärung und Lösung einzelner Überschuldungsfälle wird angestrebt. In anderen Bundesländern leisten die Sparkassen auf freiwilliger Basis Beiträge zur Finanzierung der Schuldnerberatung.156 In Einzelfällen beteiligen sich auch Banken an Präventionsmaßnahmen. Brandenburg (Haushaltsmittel 2007: 772.600 €). Andere Länder kennen eine Mischfinanzierung: In Bremen übernimmt die Kommune über § 17 SGB II oder § 75 SGB XII die Schuldnerberatungskosten über Fallpauschalen (364 € bis 1.920 € je nach Gläubigeranzahl), eine ähnliche Regelung kennt Hamburg (Haushaltsmittel 2005: 3.100.000 €), vergleichbar handhabt die Finanzierung Niedersachsen (Haushaltsmittel 2005: 4.700.000 €). In Mecklenburg-Vorpommern wiederum wird nach einem Förderschlüssel für Personal- und Sachausgaben verfahren (Haushaltsansatz 2006: 1.600.000 €), ähnlich in NordrheinWestfalen (Haushaltsmittel 2005: 5.061.000 €), in Rheinland-Pfalz (Haushaltsmittel 2006: 1.886.500 €), in Thüringen (Haushaltsmittel 2004: 1.410.000 €) und im Saarland (Haushaltsmittel 2006: 350.000 €). In Sachsen wurde die Verbraucherinsolvenzberatung 2005 über Fallpauschalen mit 1.500.000 € finanziert, in Sachsen Anhalt wurden 2003 insoweit 1.147.000 € aufgebracht. Beide Länder kennen keine Förderung für die allgemeine Schuldnerberatung (mehr). In Schleswig-Holstein erhielten anerkannte Stellen nach § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO im Jahre 2006 3.750.000 €. Die Angaben erfolgen jeweils ohne Gewähr. 155 Landtag Rheinland-Pfalz, Drucks. 12/2794, 13; Landtag Rheinland-Pfalz, 12. Wahlperiode, Plenarprotokoll der 62. Sitzung, 4908. 156 In Niedersachsen beteiligen sich die Sparkassen aufgrund einer Vereinbarung mit dem Land vom 4.4.2005 an der Finanzierung der Schuldnerberatung (511.292 € im Jahre 2005). In Schleswig-Holstein bringen die Sparkassen 350.000 € für die geeigneten Stellen i.S.d. von § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO auf.
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Das gesetzliche Regelungsmodell existiert also bereits, es sollte auf alle Kreditinstitute ausgedehnt werden. Verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf die Zulässigkeit einer entsprechenden Sonderabgabe mit Finanzierungszweck bestehen auch unter Berücksichtigung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung157 zu diesem Problemkreis von vorneherein nicht:158 Denn die Kreditinstitute bilden eine „homogene Gruppe“, es zeichnet sie also eine gemeinsame durch die gesellschaftliche Wirklichkeit vorgegebene Interessenlage aus, welche sie von anderen Gruppen abgrenzbar macht. Weiter stehen die Banken und Sparkassen dem mit der Abgabenerhebung verfolgten Zweck der Finanzierung der Schuldnerberatung evident näher als jede andere Gruppe oder die Allgemeinheit der Steuerzahler, es besteht ersichtlich die geforderte Sachnähe der Abgabepflichtigen zu der zu finanzierenden Aufgabe. Aus der oben empirisch unterlegten Tatsache, dass die Kreditinstitute prozentual mit deutlichem Abstand die Hauptgläubiger sind, und der damit verbundenen Sachnähe zum Erhebungszweck folgt weiter ihre besondere Gruppenverantwortung für die Erfüllung der mit der außersteuerlichen Abgabe zu finanzierenden Schuldnerberatung. Schließlich setzt die nicht-steuerliche Belastung der Kreditinstitute noch voraus, dass zwischen der mit der Sonderabgabe bewirkten Belastung und den mit ihr finanzierten Begünstigungen eine sachgerechte Verknüpfung besteht. Nachdem das Abgabenaufkommen letztendlich im Interesse der Abgabepflichtigen, also gruppennützig, verwendet wird, ist auch diese Voraussetzung gegeben. Denn bei einer angemessen ausgestatteten Schuldnerberatung ist mit einer deutlich niedrigeren Rate geplatzter Kredite zu rechnen. Ausländischen Rechtsordnungen sind durch die Kreditgeber finanzierte Fonds, mittels derer die Entschuldung zahlungsunfähiger Personen bewerkstelligt bzw. erleichtert werden soll, keineswegs fremd. Insoweit soll ein Blick auf unser Nachbarland Belgien genügen: So ist in Belgien der „Fonds 157 BVerfGE 55, 274 („Berufsausbildungsplatzabgabe“); 82, 159 („Abgabe an den Absatzfonds der deutschen Agrarwirtschaft“); 91, 186 („Kohlepfennig“); 108, 186 („Altenpflegeumlage“); BVerfG NVwZ 2004, 1477 („KlärschlammFonds“). 158 Eine Zusammenfassung der Zulässigkeitskriterien findet sich bei Ossenbühl, DVBl. 2005, 667, 669 f.; siehe ferner Kirchhof, FS Friauf, 1996, 669; Schmidt, NVwZ 1991, 36; Selmer/Brodersen, DVBl. 2000, 1153; Staudacher, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Sonderabgaben, 2004.
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de Traitement du Surendettement“ (Fonds zur Bekämpfung der Überschuldung) von den Kreditgebern nach Maßgabe von Art. 20 § 2 des Gesetzes über die Kollektive Schuldenregelung vom 5.7.1998 i.d.F. vom 19.10.2000 zu speisen.159 Im Übrigen sei Folgendes angemerkt: Im Jahre 2007 betrug der Anteil der rheinland-pfälzischen Sparkassen an der Finanzierung der Schuldnerberatung im Land 1,1 Mio. €.160 Ohne polemisch werden zu wollen, kommt man doch um die Feststellung nicht herum, dass die Bezüge vieler Vorstandsmitglieder von Kreditinstituten weit oberhalb dieses Betrages liegen. Es fragt sich nach der jüngsten Bankenkrise, wo das Geld besser angelegt ist! 5. Fonds statt Verfahren? Schließlich soll noch ein weiterer Gesichtspunkt in die Diskussion eingebracht werden, der auf den ersten Blick sicherlich ungewöhnlich erscheint, aber möglicherweise den Interessen beider Parteien, der Gläubiger wie der Schuldner, entgegenkommt. Ein Blick in die deutsche Rechtstradition lehrt, dass der deutsche Gesetzgeber in der Vergangenheit notleidenden Kreditnehmern mit Umschuldungsfonds geholfen hat. Als Beispiel mag hier die Ostpreußenhilfe sowie die Osthilfe der Weimarer Zeit dienen.161 Derlei Fonds bezweckten also nicht die Entschuldung, sondern sollten dem Schuldner die Tilgung seiner Verbindlichkeiten durch Gewährung günstiger – im besten Falle zinsloser – Darlehen ermöglichen. Wie ausgeführt, beziffert die Bundesstatistik 2007 den Prozentsatz der Schuldner, welcher Forderungen unter 10.000 € ausgesetzt ist, auf 40,9 %.162 Die insoweit weiter ausdifferenzierte Landesstatistik von Rheinland-Pfalz für 2006 weist einen Prozentsatz von 12,5 % für Personen mit Schulden unter 5.000 € und eine Quote von 16,5 % für Personen mit Verbindlichkeiten zwischen 5.000 € und 10.000 € aus.163 Die Kosten eines masselosen Verbraucherinsolvenzverfahrens, wel159 Zur Bedeutung des Fonds im belgischen Privatinsolvenzrecht Verbraucherschutzzentrale (VSZ) VOG Eupen (Hrsg.), Kollektive Schuldenregelung, 2008, 26; abrufbar unter . 160 . 161 Anlauf (oben Fn. 34), 73 ff. 162 Statistisches Bundesamt (oben Fn. 6), 5. 163 Landesstatistik Rheinland-Pfalz (oben Fn. 1), 17.
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ches die Justiz gegenwärtig sechs Jahre – bzw. unter Hinzurechnung der Nachstundungsphase zehn Jahre – beschäftigt, belaufen sich nach dem RegE InsO 2007 durchschnittlich auf 2.300 €.164 Man sollte zumindest erwägen, ob nicht die Umschuldung über sog. „Feuerwehrfonds“165 jedenfalls bei Schulden unterhalb einer bestimmten Grenze einen einfacheren Weg als ein Verbraucherinsolvenzverfahren darstellen.
IX. Fazit: Prävention statt Reaktion Die Zahlungsunfähigkeit weiter Kreise der deutschen und der europäischen Bevölkerung ist ein gesellschaftspolitisches Problem ersten Ranges. Die einzelnen Rechtsordnungen regeln die Überschuldung von Privatpersonen unterschiedlich. Die Spanne reicht von sehr großzügigen Entschuldungskonzeptionen bis hin zur unbeschränkten Vermögenshaftung. So nimmt es nicht wunder, dass sich auch das deutsche Recht konzeptionell schwer tut; die Verbraucherinsolvenz ist ein ewiger Reformprozess geworden. Freilich kann das Recht alleine die insoweit bestehenden gesellschaftlichen Defizite nicht ausgleichen. Vielmehr bedarf es interdisziplinärer Ansätze zur wissenschaftlichen Durchdringung der Problematik und damit korrespondierend flankierender sozialpolitischer Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und Schulden. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich das Erlernen des Umgangs mit Geld, das Recht auf ein Girokonto auf Guthabenbasis für mittellose Personen, der von den Kreditinstituten mit zu finanzierende kostenlose Zugang zur Schuldnerberatung sowie gebotene Maßnahmen im Gesundheitssystem als Postulate, welche im Interesse beider Parteien liegen. Sind die entsprechenden Maßnahmen auch für den Schuldner gedacht, so kommen sie doch gleichermaßen dem Gläubiger zugute, kann dieser doch unter den genannten Voraussetzungen viel eher mit einer Begleichung seiner Forderungen rechnen. Und auch der Staat kann volkswirtschaftlich nur gewinnen. Die Notwendigkeit der Anrufung des Insolvenzgerichts sollte erst gar nicht entstehen, denn bei der Reaktion der Rechtsordnung durch Verbraucherinsolvenz und Restschuldbefreiung verliert nicht nur der Gläubiger, sondern auch der Schuldner. Letzterer hat über Jahre hinweg eine marginalisierte Lebens164 RegE InsO 2007 S. 44 f. 165 Siehe auch schon Korczak/Roller (oben Fn. 12), 210.
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führung zu überstehen, die Gefahr der dauerhaften finanziellen Exklusion bleibt ungeachtet einer letztendlich erlangten Restschuldbefreiung dennoch bestehen. Die Folgen für die Gesamtgesellschaft sind dabei noch gar nicht bedacht!
2. Abteilung Compliance in der Kreditwirtschaft Moderation: Dr. Michael Berghaus Leiter Recht und Compliance, WestLB AG, Düsseldorf
Compliance im Gesellschaftsrecht und die aktuellen Entwicklungen in der Diskussion Dr. Christoph E. Hauschka PricewaterhouseCoopers AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
I.
Funktionen von Compliance ...........................................................................104 1. Reputationsschutz.....................................................................................106 2. Schadensprävention..................................................................................107 3. Beratung- und Informationsfunktion ........................................................108 4. Überwachungsfunktion.............................................................................109 5. Frühwarn- und Risikomanagementfunktion .............................................110 6. Qualitätssicherungs- und Innovationsfunktion .........................................111 7. Gewährleistung fairen Leistungswettbewerbs ..........................................111 8. Corporate Social Responsibility (CSR) ....................................................112 9. Compliance und Ethik ..............................................................................113
II.
Compliance in den gesetzlichen Vorschriften .................................................113 1. Legalitätsprinzip .......................................................................................113 2. Weitere rechtliche Grundlagen und Grenzen............................................114 a) Strafrecht/Nebenstrafrecht .................................................................114 b) § 91 Abs. 2 AktG ...............................................................................115 c) Deliktsrechtliche Organisationspflichten...........................................115 d) Spezialgesetze....................................................................................116 e) Vertragliche Bindungen.....................................................................116 f) Allgemeine Rechtspflicht zur Compliance-Organisation ..................116 3. Deutscher Corporate Governance Kodex .................................................117 4. Richtlinien der EU....................................................................................118 5. Eine Zumutbarkeitsgrenze für alle Compliance-Maßnahmen? ................119
III. Compliance in den Rollen der Akteure ...........................................................120 1. Geschäftsführer und Mitglieder des Vorstands ........................................120 a) Business Judgment Rule für Compliance?.........................................120 b) Noch immer „nützliche Pflichtverletzungen“? ..................................122 c) Safe Harbour und Haftungsmilderung durch Compliance? ...............123 2. Rolle des Aufsichtsrats .............................................................................125 a) Compliance-Compliance ...................................................................125 b) Informationsrechte und -pflichten......................................................125 c) Wirksamkeitsprüfung ........................................................................126 3. Compliance-Manager ...............................................................................127 a) Organ oder Beauftragter ....................................................................127
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b) Einbindung in die Organisation .........................................................127 c) Kündigungsschutz und Haftung.........................................................130 d) Initiativrecht des Compliance-Managers ...........................................131 IV. Compliance im Konzern..................................................................................132 1. Erwerbsvorgänge......................................................................................132 2. Nationaler Konzern ..................................................................................133 3. Internationaler Konzern............................................................................136
I.
Funktionen von Compliance
Compliance ist ein Abkömmling des – im allerweitesten Sinne – Bankrechts. Von daher ist es mir eine große Ehre, heute als jemand, der seinen beruflichen Hintergrund in der Industrie und nicht in einer Bank hat, auf dem Bankrechtstag über Compliance sprechen zu dürfen. Dr. Dieter Eisele begründete bereits im Jahre 1992 – in Anlehnung an angelsächsische Erfahrungen – bei der Deutschen Bank die erste ComplianceOrganisation. Damals gab es die wertpapierrechtliche Organisationspflicht nach § 33 WpHG noch nicht. Mit dieser Vorschrift wurde dann 1994 in Umsetzung der EG-Wertpapierdienstleistungsrichtlinie eine Organisation gefordert, die unter anderem dazu diente, Interessenkonflikte zwischen dem Wertpapierdienstleistungsunternehmen und Kunden oder zwischen verschiedenen Kunden zu minimieren. Dazu wurden angemessene interne Kontrollverfahren gefordert. Seither ist im Bank- und Wertpapiergeschäft der Begriff Compliance eine feste Größe geworden. Er wurde konkretisiert unter anderem in der Compliance-Richtlinie1 des damaligen Bundesaufsichtsamtes für den Wertpapierhandel und zuletzt in der WpDVerOV.2 Der angelsächsische Begriff Compliance wird nun auch vom deutschen Gesetzgeber in § 33 WpHG
1 2
Richtlinie zur Konkretisierung der Organisationspflichten von Wertpapierdienstleistungsunternehmen gemäß § 33 Abs. 1 des Wertpapierhandelsgesetzes vom 25. Oktober 1999. Verordnung zur Konkretisierung der Verhaltensregeln und Organisationsanforderungen für Wertpapierdienstleistungsunternehmen (Wertpapierdienstleistungs- Verhaltens- und Organisationsverordnung WpDVerOV vom 20. Juli 2007, BGBl. I, 1432.
Compliance im Gesellschaftsrecht und die aktuellen Entwicklungen
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gebraucht. Im Versicherungsrecht wird der Begriff Compliance bislang vor allem von der EU-Kommission3 verwendet. Neben diesem Begriff Compliance, wie er traditionell im Bank- und Wertpapiergeschäft verstanden wird, hat sich jedoch, worauf wiederum zuletzt Eisele hingewiesen hat,4 in der Literatur und vor allem in der unternehmerischen Praxis5 ein wesentlich weiterer Compliance-Begriff gebildet. Er hat die Einhaltung aller denkbaren rechtlichen und innerbetrieblichen Vorgaben zum Gegenstand, vom Arbeitsrecht über die Korruptionsbekämpfung bis zum Umweltschutz. So wird von Compliance in den Unternehmen gesprochen im Zusammenhang mit der Organisation kapitalmarkt-rechtlicher Pflichten,6 bei unternehmensinternen Vorbereitungsmaßnahmen auf das EUChemikalienrecht REACH7 oder im Zusammenhang mit der vorbereitenden Produktrückruforganisation,8 um nur einige Beispiele zu nennen. So reicht Compliance heute durch alle Rechtsgebiete, ist eine Querschnittaufgabe für Juristen, Revision, Controlling, Risikomanagement, Personalabteilungen, Öffentlichkeitsarbeit und vor allem die Geschäftsleitungen geworden. Dabei sind die Ziele, die jetzt in sehr vielen Unternehmen mit Compliance verbunden werden, von den Vorstellungen so weit nicht entfernt, wie sie die Kreditwirtschaft seit über 15 Jahren mit dem Begriff Compliance belegt. Lassen Sie mich einige davon nennen.
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Vor allem in Artikel 45 des Vorschlags einer Solvency II-Richtlinie, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und Rückversicherungstätigkeit vom 10.7.2007, KOM 2007, 361 endgültig; dazu Bürkle, CCZ 2008, 50. Eisele, in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, Bd. II, München 2007, § 109 Rdn. 3; ebenso Röh, BB 2008, 398 „gefestigter Bestandteil des … wirtschaftsrechtlichen Vokabulars“. Nach einer Emnid-Umfrage aus dem Jahre 2007 verfügten alle DAX 30Unternehmen und 95 % der befragten, in anderen Börsensegmenten gelisteten Unternehmen über ein Compliance-Management, dazu Melcher/Mattheus, in: Der Aufsichtsrat 2007, 122. Wendel, CCZ 2008, 41. Drohmann, CCZ 2008, 60. Klindt, CCZ 2008, 81.
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106 1. Reputationsschutz
Da ist zunächst der Schutz der Reputation des Unternehmens. Das ist bereits die ursprüngliche Idee des deutschen Kreditgewerbes am Anfang der 90er Jahre gewesen. Man wollte mit Compliance die Marktintegrität wahren und Interessenkonflikte im Wertpapiergeschäft vermeiden.9 Ohne Zweifel ist für eine Bank die Reputation ein wichtiges Gut. So war noch im Geschäftsbericht 2005 der Deutschen Bank10 zu lesen, dass neben bankbetrieblichen Risiken und Risiken allgemeiner unternehmerischer Tätigkeit, das Reputationsrisiko das bedeutendste Risiko sei, dem eine Bank ausgesetzt ist. Die Deutsche Bank definierte das Reputationsrisiko als Gefahr, das „durch die öffentliche Berichterstattung über eine Transaktion, einen Geschäftspartner oder eine Geschäftspraxis, an der ein Kunde beteiligt ist, das öffentliche Vertrauen in unsere Organisation negativ beeinflusst wird“. Das lässt sich über die Banken hinaus leicht erweitern. Bei den Versicherungen wird der Reputationsschutz kaum geringer zu erachten sein als bei den Banken. Für alle anderen Unternehmen, auch in Handel und Industrie gilt zumindest die Erkenntnis des US-Investors Warren Buffett, es dauere 20 Jahre, um eine Reputation für ein Unternehmen aufzubauen, aber nur fünf Minuten, um diese wieder zu zerstören. Da ist es nur logisch, wenn eine neuere Umfrage bei Investoren, Geschäftsführen und Aufsichtsräten zum Thema ergab, dass alle Stakeholder-Gruppen den Bereichen Risikominderung und Compliance „einhellig höchste Priorität“ einräumten.11 Der Reputationsschutz mag in verschiedenen Branchen und Unternehmen zu verschiedenen Zeiten einen verschiedenen Rang einnehmen. So gilt auch Compliance in den Unternehmen mal als oberstes Gebot, mal eher als Formalie. Nur wird es kein Unternehmen geben, das sich auf Dauer um seine Reputation nicht bekümmern muss, vor allem wenn es um Rechtsverstöße geht. Und ist der Fall erst einmal eingetreten, und sei das Unternehmen noch so bedeutend, und die Reputation gerät in Gefahr, wird Compliance schnell zum wichtigsten Thema.
9 Eisele (oben Fn. 4) Rdn. 3. 10 Geschäftsbericht 2005 der Deutschen Bank, S. 44 und S. 45. 11 Dazu Thelemann, CCZ 2008, 25.
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2. Schadensprävention Neben dem Reputationsschutz gilt bei den Unternehmen allgemein die Schadensprävention als der wichtigste Grund, sich mit Compliance zu befassen. Dabei ist die Liste der wirtschaftlichen und persönlichen Nachteile lang, die es zu verhindern gilt. Sie reicht von dreistelligen Millionenbeträgen oder Bußgeld bis zu 10 % des Konzernumsatzes wegen Kartellverstößen über den Ausschluss von internationalen Märkten als Folge von Korruptionsdelikten bis hin zur Strafverfolgung der Organe, um nur einige Beispiele zu nennen. Neben den Fällen, bei denen der Regulierungsdruck der bestimmende Faktor gewesen ist, hat stets das eigene Interesse der Unternehmen an der Vermeidung finanzieller Nachteile im Vordergrund der Bemühungen um Compliance gestanden. Dabei hat es auch bei den Banken, schon vor dem Milliardenverlust bei der Société Generale im letzten Jahr, immer wieder Fälle gegeben, bei denen einzelne Personen, meist Händler, die Institute in Gefahr oder um die Existenz gebracht haben. Sie erinnern sich bestimmt an Nick Leeson, der an einem Tag 220 Millionen Dollar Verlust machte und die damals 223 Jahre alte Barings Bank in London in ihr Ende trieb. In Deutschland führte der Fall des Devisenhändlers Dany Dattel 1974 zum spektakulären Zusammenbruch der Kölner Bank I. D. Herstatt. Ähnliche Fälle hat es auch in der Industrie gegeben. Denken Sie nur an den „Ungarn-Deal“ des Chefdevisenhändlers Burkhard Junger von Volkswagen, der das Unternehmen Ende der achtziger Jahre 381 Mio. DM kostete. Neuerdings wird man ein Bußgeld von 480 Mio. Euro, wie es ThyssenKrupp in 2007 wegen eines Kartellverstoßes im Bereich von Wartungsverträgen bei Aufzuganlagen zahlen musste, in die Reihe dieser spektakulären Verluste aufgrund des Handels einzelner Personen einstellen dürfen. Derartige Vorfälle zwingen alle Unternehmen zum radikalen Überdenken der Abläufe und zum sofortigen Handeln. Es muss sofort sichergestellt werden, dass ein Wiederholungsfall mit allen erdenklichen Mitteln ausgeschlossen wird. Er würde nicht nur dem Unternehmen weiteren, unermesslichen wirtschaftlichen Schaden zufügen können, sondern mit einiger Wahrscheinlichkeit auch die Organmitglieder in die strafrechtliche und zivilrechtliche Haftung bringen. Dafür, dass das nicht geschieht, steht in den Unternehmen Compliance. Die Verhinderung von Schäden ist ein ganz bestimmender Faktor.
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3. Beratung- und Informationsfunktion Auch die Beratungs- und Informationsfunktion steht in der Praxis der Unternehmen, die sich mit Compliance befassen, längst außer Frage. Vorbei sind die Zeiten, in denen Konzernobergesellschaften irgendwelche Richtlinien an ihre operativen Einheiten in aller Welt verschickten und dann stillschweigend davon ausgehen durften, dass nun alles gehandhabt werde, wie die Konzernspitze es vorgegeben hat. Zu häufig ist es vorgekommen, dass Geschäftsleitung und Mitarbeiter die Vorgaben einfach ignoriert oder dagegen verstoßen haben, oft mit der Duldung der Konzernzentrale, im Inland und noch mehr im Ausland. Das wissen auch die Ermittler, welche die entsprechende Regulierungspraxis gern mit einem spöttischen „gelesen-gelacht-gelocht“ diskreditieren. Die Komplexität internationalen oder weltweiten Tätigwerdens im Hinblick auf einzuhaltende Normen bringt es mit sich, dass die Mitarbeiter Anlaufstellen benötigen, welche sie über die einzuhaltenden Rahmenbedingungen beraten und informieren. Keine Konzernspitze kann sich mehr darauf verlassen, dass ihre Vorgaben tatsächlich gelebt werden, wenn es nicht Mitarbeiter gibt, die hierüber beraten und informieren. Bei den Banken wird man diese Erkenntnis als seit langem unbestritten ansehen können.12 Nun ist die Beratungsfunktion von Compliance auch in § 12 Abs. 3 Nr. 2 WpDVerOV ausdrücklich verankert. Die Gesetzesbegründung hebt die Bedeutung von Kommunikation und Schulung sowie der Unterstützung der Mitarbeiter im Rahmen der Compliance ausdrücklich hervor.13 Für die Versicherungen erkennt die EU-Kommission eine Beratungsfunktion von Compliance an, wenn sie in Ihrem Entwurf für eine Richtlinie Solvency II14 formuliert: „Zur letztgenannten Funktion (gemeint ist Compliance, der Verf.) zählt auch die Beratung des Verwaltungs- oder Managementorgans betref-
12 So etwa Eisele (oben Fn. 4) Rdn. 4. 13 Begründung vom 1. Oktober 2007, 17. Dabei wird insbesondere auf die internen Grundsätze zum Interessenkonfliktmanagement und die Leitlinien und Maßnahmen zu Mitarbeitergeschäften Bezug genommen. 14 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit Solvabilität II, KOM (2007) 361 endgültig vom 10.7.2007.
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fend die Einhaltung der gemäß dieser Richtlinie erlassenen Rechts- und Verwaltungsvorschriften.“
Nun gibt es auch außerhalb der Banken und Versicherungen viele Unternehmen, die mit mehr oder minder komplexen Rechtsfragen und Rechtsrisiken umgehen. So wird man zumindest bei den meisten größeren und international tätigen Unternehmen aber dasselbe Bedürfnis nach Beratung durch eine Compliance-Funktion, wie immer diese ausgestaltet und organisiert ist, annehmen dürfen. 4. Überwachungsfunktion Die Überwachungsfunktion im Sinne einer „klassischen Kontrollfunktion“, etwa im Bereich Insidergeschäfte oder Geldwäscheprävention, ist für Compliance immer wieder hervorgehoben worden.15 Die Notwendigkeit, in irgendeiner Form eine Kontrollfunktion im Unternehmen zu installieren, ergibt sich letztlich schon aus der strafrechtlichen Verpflichtung der Organe nach §§ 30, 130 OWiG, die eine Aufsicht dahingehend verlangen, dass die Begehung bestimmter Straftaten „aus dem Unternehmen heraus“ verhindert wird. Der Bundesgerichtshof hat dies bereits 1985 zum Anlass genommen, die Einrichtung einer Revisionsabteilung in einem Bauunternehmen für erforderlich zu halten, wenn der Betriebsinhaber die entsprechenden Kontrollen – in dem Fall ging es um die Prävention von Kartellabsprachen – nicht selbst hinreichend durchführen könne.16 Nach geltendem Recht ist den Banken und Versicherungen die Einsetzung einer Überwachungsfunktion in den verschiedensten Normen vorgegeben. Schon § 33 Abs. 1 Nr. 6 WpHG spricht von der Überwachung organisatorischer Maßnahmen. § 64 a Abs. 1 Nr. 2 VAG nennt „aufbau- und ablauforganisatorische Regelungen, die die Überwachung und Kontrolle der wesentlichen Abläufe … sicherstellen müssen“.17
15 Zuletzt etwa von Bürkle, CCZ 2008, 52. 16 BGH Beschluss vom 25.6.1985, NStZ 1986, 34; ähnlich schon BGH Beschluss vom 24.3.1981 LLMR 1981, 17; ebenso OLG Frankfurt NJW-RR 1993, 231. 17 Zu § 64a VAG Bürkle, Versicherungswirtschaft 3/2008.
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Diese Aufgabe der Überwachung teilt sich in den meisten Unternehmen die Compliance-Abteilung mit der internen Revision und dem Controlling sowie speziellen Beauftragten, wie einem Geldwäschebeauftragten oder einem Datenschutzbeauftragten. Dabei ist der Revision zumindest traditionell innerhalb des internen Überwachungssystems die „Funktion eines kritischen Gewissens im Unternehmen“18 zugekommen. Sie richtete ihren Blick meist in die Vergangenheit, hatte aber alle Unternehmensbereiche und Tätigkeiten im Visier. Compliance und Beauftragte sehen ihre Aufgabe dagegen meist in der Prävention. Dieser Blick richtet sich dann entweder auf Rechts- und Regelverstöße generell oder im Falle von Beauftragten eben auf die speziellen Rechtsmaterien. Ob dieses traditionelle Rollenverständnis weiter so gültig sein wird, scheint mir nicht sicher, die Dinge sind vor allem in den Revisionsabteilungen in Bewegung geraten.19 5. Frühwarn- und Risikomanagementfunktion Dabei ist das Erkennen von Rechtsrisiken die erste Stufe jeder Tätigkeit eines Compliance-Managers. Sie ist für alle Unternehmen besonders wichtig, weil deren andere Frühwarnsysteme, insbesondere eine unternehmensinterne Risikomanagementabteilung, mit den speziellen Rechtsthemen, wie z.B. Vorhaben in der Gesetzgebung mit Relevanz für das Unternehmen, nicht unbedingt vertraut sind. Dies adressiert nun bei den Versicherungen der Solvency II-Entwurf der EU-Kommission als Aufgabe von Compliance: „Sie umfasst ebenfalls eine Bewertung der möglichen Auswirkungen von Änderungen des Rechtsumfeldes auf die Tätigkeit des betreffenden Unternehmens sowie die Identifizierung und Bewertung des Risikos der Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften („Compliance“).
Diese Aufgabe, das Management auf Gesetzesänderungen hinzuweisen und überkommene Praktiken im Unternehmen abzustellen, klingt nach einer selbstverständlichen Aufgabe für jede traditionelle Rechtsabteilung. Eine Komponente der Unterbindung von Verstößen war damit nicht immer verbunden, man hat sich gelegentlich darauf beschränkt, auf die Probleme hinzuweisen. Trotzdem standen etwa im Jahre 1999, als die Auslandsbestechung
18 Lück, Die Zukunft der Internen Revision, Berlin 2000, Rdn. 4. 19 Dazu Obermayr in: Hauschka, Corporate Compliance, München 2007, 336 ff.
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in Deutschland strafbar wurde, viele Unternehmensjuristen vor erhebliche Herausforderungen. Es galt, überkommene Praktiken abzustellen, die in den Augen vieler Vorstände unabdingbar mit erheblichen Umsätzen in ausländischen Staaten verbunden waren. Wo den Beratern die Umstimmung der Organe nicht gelungen ist, hat die Nichtbewältigung manches exportorientierte Unternehmen Jahre später in noch größere Schwierigkeiten gebracht. 6. Qualitätssicherungs- und Innovationsfunktion Eher selbstverständlich ist, dass eine leistungsfähige Compliance-Abteilung einen wesentlichen Beitrag im Rahmen der Qualitätssicherung des Unternehmens erbringt. Wer als Unternehmen, Bank oder Versicherung nicht in der Lage ist, internationale Regeln und Standards, seien sie selbst gesetzt oder von Dritter Seite auferlegt, konsequent durchzuhalten, wird im Wettbewerb nicht bestehen. Darüber hinaus wird aber Compliance zunehmend auch als „Erfolgsfaktor“ und „essentieller Bestandteil“ für ein kundenorientiertes und wettbewerbsfähiges Wertpapiergeschäft20 der Banken wahrgenommen, wenn auch eine gewisse Bürokratisierung das Bild etwas trübt. Auch außerhalb der Kreditwirtschaft werden die Vorteile bemerkt, wie etwa der Umstand zeigt, dass mir eine der Big-Four WP-Gesellschaften kürzlich eine Broschüre mit dem Titel „From Compliance to Competitive Edge“ zugesandt hat, welche die Wettbewerbsvorteile von Risikomanagement und Compliance klar hervorhebt.21 7. Gewährleistung fairen Leistungswettbewerbs Wenn man damit bei wettbewerblichen Aspekten von Compliance angelangt ist, lässt sich hier die Gewährleistung eines fairen Leistungswettbewerbes unschwer den positiven Aspekten hinzufügen. Selbstverständlich kann es Folge von Regelverstößen sein, dass Anbieter aus dem Konkurrenzverhältnis ausscheiden müssen, wenn sie lediglich aufgrund unredlichen Geschäftsgebarens im Stande waren, sich am Markt zu behaupten. Unsere Wettbewerber aus den USA, wo der Foreign Corrupt Practices Act (nachstehend FCPA) schon seit 1977 sehr wirksam bestimmte Praktiken verbietet, haben 20 So ausdrücklich Röh, BB 2008, 398 und 403. 21 Ernst & Young, From Compliance to Competitive Edge, 2007.
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mit den wettbewerblichen Aspekten von Compliance ihre Erfahrungen gemacht. 8. Corporate Social Responsibility (CSR) Gelegentlich werden auch Ansprüche an Compliance gestellt, die eher dem Bereich der Corporate Social Responsibility (CSR) zuzuordnen sind. CSR geht in ihren Anforderungen an die Unternehmen über Compliance hinaus. Unter CSR versteht man nach der Definition der Europäischen Kommission22 ein: „Konzept, das den Unternehmen als Grundlage dient, auf freiwilliger Basis soziale Belange und Umweltbelange in ihre Unternehmenstätigkeit und in die Wechselbeziehungen mit den Stakeholdern zu integrieren“.
Das kann Compliance nicht leisten. Compliance verlangt also weniger als CSR. Die Grenzen sind jedoch fließend, wenn es etwa darum geht, in bestimmten Ländern als Unternehmensspitze regulierend in Produktionsprozesse oder in die Lieferantenkette einzugreifen. Dies kommt unter dem Druck der Presse bei international geächteten Umständen wie Kinderarbeit oder sklavenarbeitsähnlichen Bedingungen durchaus vor. So hat sich ALDI eben den Selbstverpflichtungen der Business Social Compliance Initiative der Foreign Trade Association in Brüssel angeschlossen,23 um öffentlicher Kritik an den Produktionsbedingungen in der Textilherstellung in Schwellenländen zu begegnen. Aus dem Blickwinkel von CSR ist dies die freiwillige Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung. Aus der Sicht von Compliance kann man bei einer drohenden und abwendbaren Gefahr für Reputation und Geschäftsergebnis der deutschen Unternehmensteile, wenn entsprechende Sachverhalte in die Presse geraten, über eine rechtliche Verpflichtung nachdenken.
22 Grünbuch Europäische Rahmenbedingungen für die soziale Verantwortung der Unternehmen, KOM (2001) 366 endgültig. 23 So die Meldung im Internet in Glocalist Daily News vom 26. Februar 2008, .
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9. Compliance und Ethik Nur eine kurze Randbemerkung zum Thema Ethik. Ohne Ethik keine Compliance lautet das Motto derjenigen, die Unternehmensethik und Compliance Management für „zwei Seiten einer Medaille“24 halten. Der das geschrieben hat, ist ein prominenter Professor für Wirtschafts- und Unternehmensethik. Die Praktiker in den Compliance-Organisationen der Industrie haben da gelegentlich einen etwas pragmatischeren Ansatz. Die Ausgabe des Branchenblattes JUVE zu Compliance erschien letztes Jahr mit der Titelseite „Compliance: Den Vorstand aus dem Gefängnis heraushalten“. In der wertpapierrechtlichen Literatur herrscht ein ganz und gar unproblematischer Umgang mit dem Begriff Ethik. Da wird Compliance als Umschreibung der „ethischen Grundlagen“ des bankgeschäftlichen Handels verstanden, als berufsständische Verhaltensethik umschrieben.25 Nun ist an sich das für alle geltende Recht der kleinste gemeinsame Nenner jeder Gesellschaft, oder mit anderen Worten, es bedarf keiner besonderen Ethik, um als Bürger, Unternehmen oder Bank die Gesetze einzuhalten.26 Trotzdem setzen große Unternehmen wie Allianz und General Electric ihre Compliance-Programme auf der Grundlage wirtschaftsethischer Grundwerte auf. Das ist auch sinnvoll, will man den Mitarbeitern mehr bieten als das Recht und den Staatsanwalt. Ohne Frage sind Charakter, Glaubwürdigkeit und Integrität als Führungsqualitäten dort, wo sie vorgelebt werden und nicht nur im Ethik-Kodex stehen, die Themen der Zukunft.27
II. Compliance in den gesetzlichen Vorschriften 1. Legalitätsprinzip In den Anfängen der Compliance-Diskussion klang gelegentlich an, dass es sich bei Compliance möglicherweise um nicht mehr handle, als um die 24 So der Titel des Aufsatzes von Wieland, CCZ 2008, 15. 25 Lösler, Compliance im Wertpapierdienstleistungskonzern, Berlin 2003, 12; zum ethischen Gehalt von Compliance auch Eisele (oben Fn. 4) Rdn. 6. 26 Anders Lösler (vorige Fn.) 122, demzufolge der Feststellung, Compliance basiere auf ethischen Grundlagen, „ohne weiteres zuzustimmen“ sei. Compliance beruht auf Rechtsnormen, diese haben oft einen ethischen Hintergrund. 27 So Wieland, CCZ 2008, 15.
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Umsetzung des Legalitätsprinzips für die Leitungsorgane. Selbstverständlich waren Unternehmen schon immer und überall in Einklang mit Recht und Gesetz zu führen. Das Legalitätsprinzip erschöpft sich jedoch nicht in eigener Rechtstreue der Organe, es schließt eine Legalitätskontrolle fremder Personen ein.28 Jeder Geschäftsleiter ist verpflichtet, für die Rechtmäßigkeit des Tätigwerdens der ihm nachgeordneten Mitarbeiter zu sorgen. In einem weltweit tätigen Unternehmen mit zehntausenden von Mitarbeitern ist damit Compliance eine erhebliche Aufgabe für das Management. 2. Weitere rechtliche Grundlagen und Grenzen Im Übrigen wird die Diskussion um die rechtlichen Grundlagen von Compliance von mindestens vier Seiten geführt. Da gibt es eine strafrechtliche Grenzziehung nach §§ 30, 130 OWiG. Da ist der gesellschaftsrechtliche Rahmen der §§ 91 Abs. 2 und 76, 93 AktG. Das Deliktsrecht mit den dort entwickelten Verkehrspflichten ist in eher jüngerer Zeit hinzugekommen. Die mögliche Vorbildfunktion einzelner Spezialgesetze wie § 33 WpHG, § 25a KWG (und zuletzt § 64a VAG n.F.) hat die Diskussion von Anfang an geprägt. a) Strafrecht/Nebenstrafrecht § 130 OWiG ordnet an, dass Betriebsinhaber (nach § 30 OWiG gilt dies auch für Vorstände und Geschäftsführer) solche Aufsichtsmaßnahmen herbeiführen müssen, die erforderlich sind um (verkürzt) zu verhindern, dass in dem Betrieb oder Unternehmen Zuwiderhandlungen gegen bestimmte betriebsbedingte Pflichten begangen werden, wenn solche durch die gehörige Aufsicht verhindert oder erschwert worden wären. Im Kern geht es darum, zu verhindern, dass „aus dem Betrieb heraus“ bestimmte Straftaten begangen werden. Im Übrigen ist in diesem Zusammenhang zunehmend die Lehre von der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung von Bedeutung. Hiernach wird (ebenfalls sehr verkürzt) als Täter verfolgt, wer seine betriebliche Stellung
28 So formuliert von Fleischer, CCZ 2008, 1, 2.
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und den Betrieb zu einer Straftat missbraucht.29 Soweit etwa eine Garantenstellung der Geschäftsleitung angenommen wird, kann dies bei Insiderdelikten in einem Finanzdienstleistungsunternehmen verwirklicht sein, wenn der Vorgesetzte das Verhalten des Mitarbeiters erkennt und untätig bleibt, obwohl er objektiv und subjektiv die Deliktsbegehung hätte verhindern können.30 Soweit die strafrechtliche Seite. Eine Pflicht zur Einführung eines Compliance-Management-Systems resultiert hieraus nach wohl derzeitiger Auffassung nicht.31 Es kann aber sehr wohl zu empfindlichen Sanktionen gegen Vorstände und Geschäftsführer kommen, wenn sich entsprechende Vorfälle ereignen. b) § 91 Abs. 2 AktG Von der gesellschaftsrechtlichen Seite her bestimmt vor allem § 91 Abs. 2 AktG, das nur der Vorstand geeignete Maßnahmen zu treffen, insbesondere ein Überwachungssystem einzurichten hat, damit den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen früh erkannt werden können. Dabei wird man auch hier wohl davon ausgehen können, dass über den Wortlaut des Gesetzes hinaus den Vorstand die Pflicht trifft, auch geeignete Maßnahmen zu treffen, damit erhebliche Schäden, welche der Gesellschaft drohen, frühzeitig erkannt werden. Diese Konsequenz ist zwar aus § 91 Abs. 2 AktG so direkt noch nicht gezogen worden, sie ergibt sich jedoch im Umkehrschluss aus der Schadensabwendungspflicht der Organe gegenüber der Gesellschaft. c) Deliktsrechtliche Organisationspflichten Bachmann hat zuletzt Compliance auf deliktsrechtliche Organisationspflichten gestützt, die zu §§ 823, 831 BGB entwickelt worden sind, soweit die dort geschützten Rechtsgüter verletzt werden könnten.32 Wenn man das so sehen 29 Zu Compliance-Aspekten der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung in Finanzdienstleistungsunternehmen Gebauer/Kleinert, in: Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 533. 30 Beispiel von Gebauer/Kleinert (vorige Fn.) 533. 31 Mit Nachweisen Lösler (oben Fn. 25) 132 ff. 32 So vor allem Bachmann, Compliance: Rechtsgrundlagen und offene Fragen; (erscheint demnächst in der VGR-Schriftenreihe).
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will, wäre sogar § 831 BGB selbst eine Compliance-Norm. Schließlich geht es auch dieser Vorschrift darum, dass Verrichtungsgehilfen so ausgewählt werden, dass sie Dritten keine Schäden zufügen, das wäre in der ComplianceTerminologie eine Funktion der Schadensprävention. d) Spezialgesetze Im Übrigen gibt es eine Reihe hinreichend bekannter Spezialgesetze, vor allem im Bereich der Kreditwirtschaft, beginnend mit § 25a KWG und § 33 WpHG, von denen in den anschließenden Referaten sicher noch ausführlich die Rede sein wird. Die Versicherungswirtschaft hat Anfang dieses Jahres mit § 64a VAG eine umfassende Compliance-Vorschrift erhalten. Diese wird jetzt schon wieder als „rein nationale Vorgabe“ angesehen, die demnächst mit den Anforderungen des Entwurfes der Solvency II-Richtlinie der EU konfrontiert sein wird, welche deutlich darüber hinausgehende Anforderungen an die Compliance-Funktion33 enthält. e) Vertragliche Bindungen Am Rande vermerkt sei, dass Compliance zunehmend auch vertraglich geschuldet wird,34 wie dies neuerdings in vielen Zulieferverträgen etwa in der Automobilindustrie zu sehen ist.35 Industrieübergreifend gibt es bereits einen Arbeitskreis, der sich mit der Frage der gegenseitigen Anerkennung von Ethik-Management-Systemen in diesem Zusammenhang befasst. f) Allgemeine Rechtspflicht zur Compliance-Organisation Wenn man das Vertragsrecht einmal beiseite lässt, ist die generell streitige Frage36 nun, ob sich aus der Summe der genannten Vorschriften eine allgemeine Rechtspflicht für alle Unternehmen ableiten lässt, für eine Compliance-Organisation im Unternehmen zu sorgen.
33 34 35 36
So Bürkle, CCZ 2008, 50, 52. Darauf weist zu Recht Bachmann hin (oben Fn. 32). Zur Wirksamkeit dieser Klauseln Gilch/Pelz, CCZ 2008, 131. Dafür vor allem Uwe H. Schneider, ZIP 2003, 645, 648; dagegen Hauschka, ZIP 2004, 877.
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Hier hat zuletzt Bachmann37 auf das Zusammenrücken der Positionen hingewiesen. Selbstverständlich muss nicht jedes Unternehmen mit einem dichten Compliance-Netz überzogen werden. Ein Minimum an Prävention wird dagegen überall erforderlich sein. Auch folgt nicht aus Spezialnormen wie § 33 WpHG oder § 64a VAG ein allgemeiner Rechtsgedanke, der für alle Unternehmen eine Compliance-Organisation erzwingt.38 Ab dem Erreichen gewisser Risikoschwellen wird man dagegen eine Pflicht zur Errichtung einer Compliance-Organisation von der Unternehmensleitung verlangen können.39 Dies wird mit §§ 30, 130 OwiG und neuerdings mit den deliktsrechtlichen Organisationspflichten begründet, die zu §§ 823, 831 BGB entwickelt worden sind, soweit die dort geschützten Rechtsgüter verletzt werden könnten.40 Auch die Leitungsverantwortung des Vorstandes nach §§ 76 und 93 AktG wird herangezogen.41 Das könnte ein Ansatz sein, der auch die Gerichte eines Tages überzeugt. 3. Deutscher Corporate Governance Kodex Der Deutsche Corporate Governance Kodex hat Compliance nunmehr an drei Stellen aufgenommen. Da ist zunächst in Ziffer 4.1.3 die Definition, wonach der Vorstand für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und der unternehmensinternen Richtlinien zu sorgen hat und auf deren Beachtung durch die Konzernunternehmen hinwirkt (Compliance). Im Übrigen wird in Ziffer 5.3.2 die Compliance in den Aufgabenbereich des Prüfungsausschusses des Aufsichtsrates verwiesen. Der Vorstand informiert gemäß Ziffer 3.4. Abs. 2 den Aufsichtsrat regelmäßig über (unter anderem) Compliance. Damit sind die Bestimmungen des Deutschen Corporate Governance Kodex zu Compliance denkbar knapp ausgefallen. Jedenfalls hat man sich mit der Formulierung, dass der Vorstand der Konzernobergesellschaft auf deren Beachtung durch die Konzernunternehmen hinwirkt, auf eine konzernweite Compliance-Pflicht festgelegt, welchen Inhalt diese Verpflichtung auch haben mag (dazu sogleich). 37 38 39 40 41
Bachmann (oben Fn. 32). So aber vor allem Uwe H. Schneider, ZIP 2003, 645. Bachmann (oben Fn. 32). So vor allem Bachmann (oben Fn. 32). Bachmann (oben Fn. 32).
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118 4. Richtlinien der EU
Einen kontroversen Akzent zu Compliance setzt die Regelung der Abschlussprüferrichtlinie der EU,42 die bis Juni dieses Jahres umzusetzen ist. Ähnlich wie im Deutschen Corporate Governance Kodex wird dort in Artikel 41 herausgestellt, dass der Prüfungsausschuss die Wirksamkeit des internen Kontrollsystems, gegebenenfalls des internen Revisionssystems und des Risikomanagementsystems zu prüfen habe. Dazu hat das Berlin Center of Corporate Governance einen Leitfaden43 erstellt. In diesem Leitfaden wird die Überwachung des internen Kontrollsystems, der internen Revision und des Compliance-Systems dem Prüfungsausschuss des Aufsichtsrates zugewiesen. Dieser Prüfungsausschuss solle sich auch mit „den wichtigsten Einzelfällen“ befassen. Er solle einen jährlichen Bericht des Chief Compliance Manager erhalten und diesen in Abwesenheit des Vorstandes befragen können. Darin wird ein erheblicher Bruch mit der bisherigen Praxis gesehen, wonach die Aufsichtsräte nur über den Vorstand in das Unternehmen hineinreichende Kontrolltätigkeiten wahrnehmen. Auch erhielte der Prüfungsausschuss damit eine Kompetenz, die bislang dem Gesamtaufsichtsrat nicht zustand.44 So ist denn schon die Frage aufgeworfen worden, ob „Euro-Sox“, wie die Prüferrichtlinie auch genannt wird, die Vorstände „das Fürchten lehren“ werde.45 Vielleicht entspannt sich die Diskussion nach der Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber. Das Bundesjustizministerium hat jedenfalls angekündigt, die Umsetzung werde „eins zu eins“, also mit möglichst geringer zusätzlicher Belastung für die Unternehmen erfolgen, und es würden den Unternehmen keine Vorgaben für die Errichtung eines internen Risikomanagementsystems gemacht werden.46
42 Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2006, ABl. 2006/L 157/87 ff. 43 Leitfaden des Berlin Center of Corporate Governance, Verfasser Nonnenmacher, Pohle, von Werder, DB 2007, 2412. 44 Beides kritisiert zu Recht Sünner, CCZ 2008, 56. 45 So der Titel des Aufsatzes von Fietz, in: Der Aufsichtsrat 2008, 2. 46 Information des BMJ, Eckpunkte der Reform des Bilanzrechts, vom 8. November 2007, zu finden auf der Homepage des BMJ, dort S. 7.
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Wiederum andere Schwerpunkte setzt Artikel 45 der Solvency II Richtlinie der EU. Auch hier wird zunächst auf ein wirksames internes Kontrollsystem abgestellt. Dann jedoch ist ausdrücklich davon die Rede, dass auch die Beratung des Verwaltungs- und Managementorgans und die Bewertung möglicher Auswirkungen von Änderungen des Rechtsumfeldes auf die Tätigkeit des Unternehmens Gegenstand von Compliance ist, ebenso die Identifizierung und Bewertung des Risikos der Einhaltung der rechtlichen Vorgaben. Hier findet sich die gesamte Palette der Funktionen von Schutzfunktion, über Beratungs- und Informationsfunktion bis hin zur Qualitätssicherungsfunktion wieder. Nicht zu unterschätzen sind dennoch die Konsequenzen für die betroffenen Versicherungsunternehmen. Die Compliance Praxis wird sich, wie kürzlich Bürkle herausgearbeitet hat, „im Finanzdienstleistungssektor nachhaltig verändern“. Vor allem werden die Beratungs- und Gestaltungsaufgaben und ihre Bedeutung der Compliance-Funktion für den Unternehmenserfolg wachsen. Wenn die veränderten Rahmenbedingungen für Unternehmen aller Branchen dort „hilfreiche Anregungen für ihre individuellen Compliance-Systeme erwarten dürfen“,47 weist Solvency II für Compliance auf einen Erfolg versprechenden Weg. 5. Eine Zumutbarkeitsgrenze für alle Compliance-Maßnahmen? Ganz wesentlich im Zusammenhang mit einer Rechtspflicht zur ComplianceOrganisation ist dabei, ob man allgemein für Compliance-Maßnahmen von einer Zumutbarkeitsgrenze zugunsten der Unternehmen ausgehen kann.48 Das scheint praktisch zwingend und vernünftig. Immerhin spricht schon § 25a Abs. 1 Satz 3 KWG von einem „angemessenen und wirksamen Risikomanagement“. Auch beispielsweise § 33 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 3 WpHG erwähnen „angemessene Grundsätze“, „angemessene Vorkehrungen“ und „angemessene Maßnahmen“. Bei den Versicherungen spricht § 64a VAG ebenfalls von einem „angemessenen Risikomanagement“. Noch deutlicher ist § 12 Abs. 5 WpDVerOV, der besagt: „Soweit das Wertpapierdienstleistungsunternehmen darlegen kann, dass die Anforderungen nach Absatz 4 Satz 3 aufgrund Art, Umfang 47 So Bürkle, CCZ 2008, 50, 56. 48 So etwa Dreher, ZWeR 2004, 74, 94; Bürkle, BB 2005, 565, 569.
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und Komplexität seiner Geschäftstätigkeit oder der Art und des Spektrums seiner Wertpapierdienstleistungen unverhältnismäßig sind und die ordnungsgemäße Erfüllung der Compliance-Funktion nicht gefährdet ist, entfallen diese Anforderungen.“
Das bezieht sich allerdings nur auf die in Absatz 4 Satz 3 geregelten Vergütungsfragen des Compliance-Beauftragten. Ob man nun daraus schon schließen kann, dass es für alle ComplianceMaßnahmen in allen Unternehmen eine Zumutbarkeitsgrenze gibt, erscheint unsicher. Man könnte auch den Schluss ziehen, dass außerhalb der geregelten Fälle eben keine Zumutbarkeitsgrenze vom Gesetzgeber intendiert war. Dann bleibt noch §§ 30, 130 OWiG. Soweit man diese Bestimmungen zur Begründung einer allgemeinen Compliance-Verpflichtung für alle Unternehmen heranzieht, ist dort die entsprechende Einschränkung „zumutbar-erforderlichgeeignet“ anerkannt.49 Ansonsten wird man zur Begründung einer allgemeinen Zumutbarkeitsschranke für Compliance auf das verfassungsrechtliche und europarechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip verweisen können.50
III. Compliance in den Rollen der Akteure 1. Geschäftsführer und Mitglieder des Vorstands a) Business Judgment Rule für Compliance? Neben dem Legalitätsprinzip prägt vor allem die Business Judgment Rule den Blick der Leitungsorgane auf Compliance. Gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt eine Pflichtverletzung eines Vorstandsmitgliedes nicht vor, wenn dieses bei einer „unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen dürfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“. Es dürfte mittlerweile als gesichert anzusehen sein, dass das Privileg der Business Judgment Rule allen Geschäftsleitern, auch den Geschäftsführern der GmbHs und Leitungsorgane sonstiger Verbände zugute kommt.51
49 So schon BGH Beschluss vom 25.6.1985, NStZ 1986, 34. 50 So Bachmann (oben Fn. 32). 51 Zur Begründung Hauschka, GmbHR 2007, 11.
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Hier kann man nun teilweise hören, im Bereich von Compliance sei kein Raum für die Anwendung der Business Judgment Rule. Das ist dann konsequent, wenn man davon ausgeht, dass Compliance nur die Einhaltung des geltenden Rechts sei und hier keinerlei Spielraum für die Organe bestehe. Dies würde voraussetzen, dass man eine unbedingte Rechtspflicht konkreten Inhalts (Pflichtenheft, Kodex, Schulung etc.) für alle Unternehmen annimmt. Dann wäre die Entscheidung über die Einführung solcher Maßnahmen keine „unternehmerische Entscheidung“, sondern „gebundene Entscheidung“, für welche die Business Judgment Rule tatsächlich nicht zur Anwendung käme.52 Anders sieht dies aus, wenn man wie dies auch Cromme bei der Vorstellung der Änderung des Corporate Governance Kodex getan hat,53 dem Vorstand ein Ermessen bei der Auswahl der zu treffenden ComplianceMaßnahmen zubilligt. Die Business Judgment Rule erfasst dann zugunsten des Geschäftsleiters dessen Ermessensentscheidung, welche ComplianceMaßnahmen er wählt. Dabei steht das übliche Instrumentarium von Schulungen, Ombudsleuten, Hotlines, Audits, Richtlinien und Kodices zur Auswahl. Hierüber hat sich der Geschäftsleiter angemessen zu informieren, vernünftigerweise wird er diese Information angesichts der ungünstigen Beweislastverteilung im Haftungsprozess54 auch dokumentieren. Man kommt also bei der Frage, in wieweit die Business Judgment Rule im Bereich von Compliance zugunsten der Organe greift, zu der auch sonst vertretenen Unterscheidung55 zwischen „ob“ und „wie“ bei der zu beurteilenden Entscheidung. Die Business Judgment Rule greift nicht für die Frage, ob das Unternehmen gesetzeskonform geführt wird, und wohl auch nicht für die Frage, ob überhaupt Compliance-Maßnahmen ergriffen werden, da hier wegen des Legalitätsprinzips kein Ermessen besteht. Für die Auswahl der zu treffenden Maßnahmen, das „wie“, gilt die Business Judgment Rule zugunsten des Vorstands uneingeschränkt.
52 Zu Ermessensentscheidung und gebundener Entscheidung bei der Business Judgment Rule statt vieler Hüffer, AktG, 8. Aufl., München 2008, § 93 Rdn. 4 f. 53 Die Rede ist auf der Homepage der DCGK zu finden . 54 Dazu Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 3. Aufl. 2003, 105. 55 Ausführlich Hauschka, GmbHR 2007, 11, 13.
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122 b) Noch immer „nützliche Pflichtverletzungen“?
Schließlich gibt es im Rahmen von Compliance und Business Judgment Rule noch immer eine Diskussion um die Frage, ob auch gewisse „nützliche Pflichtverletzungen“ dem Wohle der Gesellschaft dienen können. Dies geht nicht zuletzt zurück auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs, der noch im Jahre 1986 davon ausgegangen war, dass sich Geschäftsleiter nach deutschem Recht nicht rund um die Welt an die jeweils vor Ort geltenden Gesetze halten müssten. Der BGH hatte das damals so formuliert: „Von einem deutschen Unternehmer kann zwar nicht erwartet werden, dass er in den Ländern, in denen staatliche Aufträge nur durch Bestechung der zuständigen Staatsorgane zu erlangen sind, auf dieses Mittel völlig verzichtet und damit das Geschäft weniger gewissenhaften Konkurrenten überlässt“.56
Das war immerhin zu einer Zeit, als der FCPA schon elf Jahre galt. Die entsprechenden Praktiken haben dem Ansehen der deutschen Wirtschaft im Ausland nicht immer gut getan, wie ich selbst in Lesotho erlebt habe. Seit 1999 ist die Auslandsbestechung in Deutschland strafbar. Die Entscheidung des BGH ist heute ohne jeden Belang, hier sollte kein Zweifel offen bleiben. Gesellschaftsrechtlich ist unbestritten, dass jeder Gesetzesverstoß dem Leitungsorgan das Privileg der Business Judgment Rule entzieht. Im Übrigen wird von einem Geschäftsleiter erwartet, dass er sich über die kaufmännischen Folgen von Rechtsverstößen informiert. Zwar hat der Geschäftsleiter, der in dieser rechtlichen Grauzone operiert, meist ohnehin das Privileg der Business Judgment Rule verloren. Es bleibt ihm aber noch der individuelle Entlastungsbeweis, er habe nicht rechtswidrig oder schuldhaft gehandelt. Lässt er aber kraft Fehlinformation zu, dass das Unternehmen als Folge seiner Entscheidung einen Schaden erleidet, der absehbar gewesen wäre, hätte man sich hinreichend informiert, wird auch der Entlastungsbeweis nicht gelingen können, der ansonsten trotz des Verstoßes gegen die Business Judgment Rule möglich wäre. Es hat eben nicht damit sein Bewenden, dass der Vorstand nach § 91 Abs. 2 AktG ein Frühwarnsystem gegen bestandsgefährdende Risiken einzurichten hat. Er hat auch ganz konkret vermeidbare
56 BGH NJW 1985, 2405, 2406.
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Vermögensnachteile abzuwehren, die der Gesellschaft bei Rechts- und Regelverletzungen drohen.57 c) Safe Harbour und Haftungsmilderung durch Compliance? Soweit Compliance seiner Aufgabe gerecht wird, gibt es keine – wie auch immer geartete – Haftung des Unternehmens, der Mitarbeiter und Organe. Wenn Compliance versagt, stellt sich die Frage, ob eine existierende und – abgesehen vom Einzelfall – ansonsten funktionierende Compliance-Organisation wenigstens zu einer Verminderung des Haftungsrisikos führen kann. Aus der Sicht der Business Judgment Rule sollte diese Frage eigentlich zu bejahen sein. Die Betrachtungsperspektive ist ohne Zweifel „ex ante“, also aus der Sicht der Geschäftsleitung zu dem Zeitpunkt, als die vorbeugenden Maßnahmen getroffen wurden. War die Unternehmensleitung bei dieser unternehmerischen Entscheidung über Präventivmaßnahmen angemessen informiert, durfte sie zu diesem Zeitpunkt vernünftigerweise annehmen, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, sollte das Handeln als pflichtgemäß unterstellt werden können und eine Pflichtwidrigkeit und damit auch Haftung grundsätzlich ausscheiden. Dies wird allerdings nicht immer der Fall sein, es gibt einige durchaus gravierende Ausnahmen. Da sind zunächst die Fälle der Gefährdungshaftung, bei denen es auf Pflichtwidrigkeit nicht ankommt, wenn es auch hier einige Haftungserleichterungen gibt.58 Regelmäßig wird es hier dann aber zu einer Haftung des Unternehmens kommen, nicht aber zu einer Haftung des Managements, wenn dieses pflichtgemäß gehandelt hat. Daneben gibt es Rechtsmaterien wie Strafrecht oder Kartellrecht, für welche die Business Judgment Rule zumindest nicht unmittelbar gilt. Im Rahmen von §§ 30, 130 OWiG werden sich die Bemühungen um Compliance im Unternehmen bei der Buße gegen das Unternehmen weniger auszahlen. Bei der Frage, ob das Organ seiner Aufsichtspflicht im Rahmen dieser Vorschriften hinreichend genügt hat, werden sie aber eine erhebliche Rolle spielen. Dasselbe gilt letztlich für das Kartellrecht, wo vor allem im Bereich der „Hard-Core-Kartelle“ die Existenz eines Compliance-Pro57 So ausdrücklich Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider, ZIP 2007, 2061, 2062. 58 Mit Beispielen aus dem Produkthaftungsrecht und § 7 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StVG Bachmann (oben Fn. 32) (Fußn. 102).
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grammes für die Höhe des zu verhängenden Bußgeldes als irrelevant angesehen wird.59 Selbst soweit dies vertreten wird, steht außer Frage, dass ein Compliance-Programm „für die Frage einer möglichen Aufsichtspflichtverletzung der Unternehmensleitung bedeutsam“60 ist. Wenn man ausländische Rechtsvorschriften etwa der USA, wie den FCPA und den Sarbanes Oxley Act (SOX) hinzunimmt, stellt sich die Frage, ob man auf ein Compliance-Programm verzichten kann, ohnehin nicht. Nach Art. 406 SOX ist offen zu legen, ob das Unternehmen einen Ethikcode für leitende Angestellte, insbesondere im Bereich Finanzen und Buchhaltung eingeführt hat. Ein effektives Korruptionsbekämpfungsprogramm nach dem FCPA setzt unter anderem ein Bekenntnis der Leitung zur Einhaltung des FCPA, eine öffentlich abrufbare Formulierung von Korruptionsbekämpfungsmaßnahmen im Unternehmen, Zuweisung von Verantwortlichkeiten und Systeme zur Überprüfung und Schulungsmaßnehmen voraus. Nach Art. 302 und Art. 906 SOX müssen CEO und CFO eine Erklärung zu (unter anderem) FCPA-Verletzungen und internen Kontrollmechanismen „zertifizieren“, die der Unternehmensleitung weithin die Berufung auf fehlende Kenntnis von Unregelmäßigkeiten abschneidet.61 Das alles kann eine verantwortliche Unternehmensleitung nur auf sich nehmen, wenn sie zuvor ein umfassendes Compliance-Programm etabliert hat, das den Anforderungen der Behörden genügt. Nachdem der FCPA auf Unternehmen angewendet wird, die nur geringfügige Anknüpfungspunkte in den USA haben,62 und selbst dann eine Verfolgung möglich ist, wenn „die Tathandlung vollständig außerhalb der USA begangen wird“,63 ist Prävention durch ComplianceProgramme praktisch unverzichtbar. Im Ergebnis lässt sich die eingangs gestellte Frage nach der Haftungsmilderung durch Compliance damit so beantworten, dass diese keineswegs gewährleist ist, aber bei fehlenden Compliance-Anstrengungen vor allem die persönlichen Risiken für das Management unverhältnismäßig ansteigen.
59 So Pampel, BB 2007, 1636, 1640. 60 Pampel (vorige Fn.). 61 Zu allem Schulte/Görts, RIW 2006, 561; Partsch, The Foreign Corrupt Practices Act (FCPA) der USA, Berlin 2007. 62 Beispiele bei Cohen/Holland, CCZ 2008, 7, 8. 63 So Schulte/Görts, RIW 2006, 564.
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2. Rolle des Aufsichtsrats a) Compliance-Compliance Der Aufsichtsrat ist auch bereits vor der Umsetzung der Abschlussprüferrichtlinie das „geborene Compliance-Organ der AG“.64 Er soll nicht nur das Handeln des Vorstandes überprüfen, sondern auch die Compliance des Aufsichtsrates selbst, wofür der Begriff Compliance-Compliance kreiert worden ist.65 Das ist aus Compliance-Sicht eine unvorteilhafte Situation, weil kein Überwachungsorgan sich selbst überwachen sollte. Andererseits sind weder Abschlussprüfer noch Hauptversammlung zu einer laufenden Überwachung der Rechtsmäßigkeit der Tätigkeit des Aufsichtsrates in der Lage, so dass man sich darauf verlassen muss, dass der Aufsichtsrat selbst über seine eigene Compliance wacht, zumal er selbst mit persönlicher Haftung bedroht ist. Derzeit scheint hierzu keine Alternative in Sicht. b) Informationsrechte und -pflichten Diskutiert werden hier vorwiegend die Fragen, ob sich Mitarbeiter am Vorstand vorbei direkt an den Aufsichtsrat wenden dürfen, und ob der Aufsichtsrat sich unmittelbar selbst an Mitarbeiter wenden kann. Davon unberührt ist die Spezialregelung nach § 12 Abs. 4 WpDVerOV, wonach der nach dieser Vorschrift tätige Compliance-Beauftragte für die Berichte an das Aufsichtsorgan, in der Regel den Aufsichtsrat66 der Gesellschaft, verantwortlich ist. Die h.M. verneint ein allgemeines Informationsrecht des Aufsichtsrates bei Angestellten des Unternehmens im Regelfall. Beim Verdacht erheblicher Pflichtverletzungen soll es in beide Richtungen Ausnahmen geben.67 Das wird man wohl vorsichtig um die Fälle erweitern können, bei denen der Gesellschaft ein erheblicher Schaden droht, der bei entsprechendem Handeln zugunsten der Gesellschaft noch abwendbar wäre. Hier wäre es zumindest problematisch, wenn der Aufsichtsrat von entsprechenden Vorfällen im Unternehmen etwa durch den Compliance-Manager erfährt, aber 64 So formuliert von Bachmann (oben Fn. 32). 65 Wiederum von Bachmann (oben Fn. 32). 66 Von „Aufsichtsrat- oder Verwaltungsrat“ spricht auch die Gesetzesbegründung, 1. Oktober 2007, 18. 67 Hüffer (oben Fn. 52) § 90 Rdn. 11.
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keine Konsequenzen zöge. Zwar ist der Aufsichtsrat nach § 111 AktG Abs. 4 Satz 1 zu Maßnahmen der Geschäftsführung nicht befugt, doch hat die Überwachungsaufgabe auch ein präventives Element.68 Zumindest dann, wenn Compliance-Verstöße bekannt werden, die auch eine Abberufung des Vorstandes aus wichtigem Grund nach § 84 AktG tragen würden, kann sich „in kritischer Lage die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrates bis zur vorübergehenden Unternehmensführung steigern“.69 In dieser Situation muss der Aufsichtsrat auch die Möglichkeit haben, sich über das ComplianceManagement und andere Stellen im Unternehmen unmittelbar zu informieren. In den Unternehmen, in denen ein Compliance-Manager tätig ist, wird sich faktisch die Problematik weitgehend auf diesen verlagern. Er wird entscheiden müssen, ob er den Aufsichtsrat informiert, wenn aus dem Unternehmen heraus die Behauptung an ihn herangetragen wird, sein Vorstand verhalte sich grob rechtswidrig oder gar strafbar. Im Geltungsbereich des § 12 IV WpDVerOV i.V.m. § 33 I 2 Nr. 5 WpHG (i.V.m. § 33 I 2 Nr. 1 WpHG) ist er ohnehin zur Auskunft verpflichtet. Im Übrigen wird er aber mit der Situation konfrontiert sein, dem Aufsichtsrat Auskunft geben oder eben verweigern zu müssen, wenn sich dieser wegen angeblicher, schwerwiegender Pflichtverletzungen im Unternehmen direkt an ihn wendet. c) Wirksamkeitsprüfung Die Diskussion ist hier im Flusse und mit der Umsetzung der EUAbschlussprüferrichtlinie kann es weitere Veränderungen geben. So soll in einem neuen § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG festgeschrieben werden, dass der Prüfungsausschuss die „Wirksamkeit der internen Risikomanagementsysteme“ und „der internen Revision“ prüfen muss.70 Da bleibt angesichts der eigenen Haftungssituation des Aufsichtsrates offen, ob sich dieser wie bisher ausschließlich auf die Berichterstattung des Vorstandes verlassen darf oder soll. Schließlich wird gerade in der Rechtmäßigkeitskontrolle ein Schwer68 Hüffer (oben Fn. 52) § 111 Rdn. 5. 69 So wörtlich Hüffer (oben Fn. 52) § 111 Rdn. 7. 70 Hier zitiert nach Ernst & Young, Aufsichtsrat und Internes Risikomanagement – die Weiterentwicklung der Corporate Governance in Deutschland – Die Umsetzung relevanter EU-Richtlinien im Rahmen des aktuellen Entwurfs zum Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG), 2008, 10.
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punkt der Aufsichtsratstätigkeit gesehen.71 Da ist absehbar, dass der eine oder andere Aufsichtsrat die Meinung vertreten wird, er könne die Wirksamkeit der Systeme nur persönlich vor Ort und im direkten Gespräch mit den Verantwortlichen im Unternehmen prüfen, auch wenn dies das gesamte hergebrachte aktienrechtliche Berichtswesen sprengt. 3. Compliance-Manager a) Organ oder Beauftragter Die Einordnung des Compliance-Managers, wie sie die Abschlussprüferrichtlinie vornimmt, hat anklingen lassen, dass es sich bei dem ComplianceManager möglicherweise um ein „Organ der Gesellschaft“ handeln könnte. Auch das kann man gelegentlich bei Veranstaltungen hören. Doch lässt die gesetzliche Verfassung der Kapitalgesellschaften hier keinen Spielraum. Organe einer Aktiengesellschaft sind eben nur Vorstand, Aufsichtsrat und die Hauptversammlung. Sie lassen sich nicht durch die Rechtsentwicklung beliebig erweitern. Richtigerweise ist der Compliance-Manager ein auf privatrechtlicher Grundlage beauftragter Funktionsträger der Gesellschaft. Solche Beauftragte gibt es mittlerweile in einer großen Zahl von Rechtsgebieten. Seine Rechtsstellung leitet er ausschließlich aus dieser Beauftragung ab, die als Vollmacht oder arbeitsvertraglich ausgestaltet ist und zusätzlich auch mit einer gesetzlichen Vertretungsmacht wie etwa Prokura versehen werden kann. Wo dies gesetzlich so festgelegt ist, wie dies bisher nur in § 12 Abs. 4 WpDVerOV der Fall ist, hat der Compliance-Manager die Stellung eines gesetzlichen Beauftragten. b) Einbindung in die Organisation Hier lassen sich möglicherweise aus den Erfahrungen in der Kreditwirtschaft allgemeine Anforderungen für eine sachgerechte Einordnung des Compliance-Manager ziehen. Der Compliance-Beauftragte im Sinne des § 12 Abs. 4 WpDVerOV muss:
71 Thümmel (oben Fn. 54) S. 124.
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Christoph E. Hauschka – für die Compliance-Funktion sowie die Berichte an die Geschäftsleitung und das Aufsichtsorgan nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 WpHG verantwortlich sein; – über die für eine ordnungsgemäße und unabhängige Erfüllung der Compliance-Funktion … erforderlichen Fachkenntnisse, Mittel und Kompetenzen verfügen, – sowie über Zugang zu allen für ihre Tätigkeit relevanten Informationen verfügen.72
Nicht mehr ausdrücklich erwähnt ist, dass das Compliance-Management unmittelbar der Geschäftsleitung verantwortlich sein muss, wie dies noch in der Compliance-Richtlinie der BAW stand. Der Gedanke, dass der Compliance-Beauftragte seine Abteilung in Unabhängigkeit und Effizienz organisieren soll, wird für alle Unternehmen Geltung beanspruchen können. Ihm müssen die notwendigen personellen und materiellen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Die ComplianceAbteilung muss auch gegenüber Rechtsabteilung, Risikomanagement und Revision unabhängig sein. Dies mag in der Kreditwirtschaft Standard sein, in weiten Teilen der Industrie ist es das noch nicht. Interessant ist im Zusammenhang mit der persönlichen Stellung des Compliance Managers vielleicht noch, dass im Geltungsbereich der WpDVerOV nun auch Vergütungsfragen geregelt sind. Hiernach: „…dürfen sie weder an den Wertpapierdienstleistungen beteiligt sein, die sie überwachen, noch darf die Art und Weise ihrer Vergütung eine Beeinträchtigung ihrer Unvoreingenommenheit bewirken oder wahrscheinlich erscheinen lassen.“
72 In der Compliance-Richtlinie des BAW war dies noch etwas ausführlicher gefasst. Danach sollte das Compliance-Management unmittelbar der Geschäftsleitung verantwortlich sein, im Rahmen seiner Aufgabenerfüllung weisungsunabhängig sein, der Geschäftsleitung regelmäßig, mindestens einmal im Jahr berichten, die der Compliance-Stelle übertragenen Aufgaben dürften durch sonstige Tätigkeiten nicht beeinträchtigt werden, sie sollten ein uneingeschränktes Auskunfts-, Zugangs und Einsichtsrecht hinsichtlich aller einschlägigen Unterlagen, Bücher und Aufzeichnungen haben, diese Unterlagen seien der Compliance-Stelle jederzeit zur Verfügung zu stellen, diese sollte von der Revision und anderen Bereichen dortige Feststellungen zu compliancerelevanten Tatsachen gemeldet erhalten, 4.2 Richtlinie zur Konkretisierung der Organisationspflichten von Wertpapierdienstleistungsunternehmen gemäß § 33 Abs. 1 des Wertpapierhandelsgesetzes vom 25. Oktober 1999.
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Die Bestimmung ist Ausdruck des Bemühens, eine Unabhängigkeit der Compliance-Funktion zu gewährleisten. Eine „Verknüpfung“ mit dem „Gesamtergebnis des Unternehmens hält die Gesetzesbegründung für grundsätzlich möglich, nicht aber eine „Abhängigkeit vom Geschäftsfeldergebnis der überwachten Geschäftsbereiche“.73 Das Vorgehen, dass die Vergütung in einem Verfahren festzulegen ist, das die Wahrnehmung der Aufgaben weder beeinträchtigt noch gefährdet, scheint mir ein tauglicher Anhaltspunkt für alle Compliance-Verantwortlichen in allen Unternehmen zu sein. Danach wäre die Koppelung der variablen Vergütung mit dem Gesamtergebnis des Unternehmens zulässig, im Sinne einer Funktion eines Schutzes vor erheblichen Vermögensnachteilen sogar wünschenswert. Andererseits wäre eine Koppelung mit dem Ergebnis einzelner, überwachter Unternehmensbereiche abzulehnen.74 Diese Frage der erfolgsabhängigen Vergütung stellt sich aber in der Compliance-Diskussion ohnehin, wenn auch an ganz anderer Stelle, und zwar vorwiegend im internationalen Geschäft. Da soll es vorwiegend in der Industrie Praktiken geben, wonach in bestimmten Ländern die festen Vergütungsanteile der dort Beschäftigten so gering gehalten werden, dass sie zur Bestreitung des Lebensunterhaltes kaum ausreichen. Wenn dies mit hohen Erfolgsvergütungen, etwa im Vertrieb gekoppelt wird und in dem betreffenden Land die Vermutung nahe liegt, dass diese Umsätze auf legalem Wege kaum zu erreichen sind, ist die deutsche Geschäftsleitung schon im Bereich der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung. Einen ganz eingeschränkten Teilbereich dieser Vergütungsfragen berührt § 13 Abs.1 Nr. 2 WpDVerOV. Hiernach muss geprüft werden, ob (unter anderem) Mitarbeiter: „am Ergebnis einer für die Kunden erbrachten Dienstleistung oder eines für diese getätigten Geschäfts ein Interesse haben, das nicht mit dem Kundeninteresse an diesem Ergebnis übereinstimmt“.
Das scheint mir sehr allgemeine Fragen für alle Dienstleistungsunternehmen aufzuwerfen und sollte wenigstens im Arbeitsrecht ernsthaft diskutiert werden, bevor das Strafrecht diesen Komplex aufgreift. Auch die BaFin scheint die Brisanz des Themas erfolgsabhängiger Vergütungen im Vertrieb, 73 Gesetzesbegründung (oben Fn. 66) 17 ff. 74 Röh, BB 2008, 403.
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das in keiner Weise auf Banken und Versicherungen oder auch nur das Inland beschränkt ist, nunmehr zu sehen.75 c) Kündigungsschutz und Haftung Auf europäischer Ebene bereits diskutiert wurde die Frage eines Kündigungsschutzes für Compliance-Manager.76 Hier kann es – ebenso wie bei der Frage der persönlichen Haftung – derzeit mangels gesetzlicher Regelung keine Besonderheiten geben. Der Compliance-Manager haftet nach arbeitsrechtlichen Grundsätzen ebenso wie jeder andere leitende Angestellte. Obwohl sein exponiertes Tätigwerden im Unternehmen einen Kündigungsschutz nahe legen würde, ist dieser gesetzlich nicht vorgesehen. Dies ist trotz ähnlicher Interessenlage anders als bei manchen gesetzlichen Beauftragten, wie dem Immissionsschutzbeauftragten, dem Störfallbeauftragten, dem Abfallbeauftragten, dem Gewässerschutzbeauftragten, dem Strahlenschutzbeauftragten oder dem Datenschutzbeauftragten, die allesamt einen besonderen Kündigungsschutz genießen.77 Ihn allein aus den Begriff der Unabhängigkeit herleiten zu wollen, ginge mangels rechtlicher Grundlage ganz einfach zu weit.78 Nun hätte es für diejenigen, denen der Kündigungsschutz als für eine herausgehobene Managementfunktion wie Compliance unangemessen erscheint, auch noch eine Alternative gegeben, die der Versicherungswirtschaft entstammt. Dort gibt es den „verantwortlichen Aktuar der Lebensversicherung“ nach § 11 a VAG, der als Versicherungsmathematiker eine ganz herausgehobene Stellung, gerade auch im Hinblick auf die Aufsicht genießt. Er kann nur vom Aufsichtsrat bestellt und entlassen werden, § 11 Abs. 2a VAG. An eine ähnliche Stellung könnte man vielleicht de lege ferenda auch beim Compliance-Manager denken.
75 Röh, BB 2008, 405 zitiert eine Rede des BaFin-Präsidenten Sanio, die Kritik an dem hohen Vertriebsdruck in den Instituten übte. 76 So Röh, BB 2008, 398. 77 § 58 BImschG, § 55 (3) KrW-AbfG, § 58d BImschG, § 21 WHG, § 32 (5) StrahlenschutzV, § 4 (3) BDSG. 78 So Röh, BB 2008, 403.
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d) Initiativrecht des Compliance-Managers An der Frage, ob der Compliance-Manager an der bestehenden Leitungsorganisation, insbesondere am Vorstand vorbei sich an Behörden wenden muss und darf, scheiden sich die Geister.79 So wurde auch im Zuge der MiFiDUmsetzung eine Pflicht des Compliance-Beauftragten zur Meldung von Gesetzesverstößen an die zuständige Aufsichtsbehörde diskutiert, aber schließlich nicht übernommen.80 Einerseits hat der Compliance-Beauftragte in bestimmten Funktionen, etwa bei der Geldwäsche-Prävention, unmittelbare Verpflichtungen gegenüber den Behörden. Dann ist die Frage klar beantwortet, wo gesetzliche Pflichten bestehen, können diese durch Weisungen der Geschäftsleitung oder arbeitsvertragliche Bindungen nicht aufgehoben werden. Teilweise wird der Compliance-Funktion aber nur die allgemeine Funktion zugewiesen, die Beziehungen mit den Aufsichtsbehörden zu pflegen und als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen (Repräsentationsfunktion, „Relations with regulators“).81 Die Frage ist, ob bei diesen gesetzlich nicht geregelten Fällen ein Initiativrecht besteht. Hier obliegt schließlich die Leitung der Gesellschaft den dafür zuständigen Organen, in der Aktiengesellschaft dem Vorstand, der die Gesellschaft „unter eigener Verantwortung“ (§ 76 AktG) leitet. Es wäre daher zumindest bedenklich, wenn außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle an dem Leitungsorgan vorbei für die Gesellschaft gehandelt wird. Das Ergebnis wird man davon abhängig machen können, wann Compliance dem öffentlichen Interesse dient, und wann nur der Schutz des Unternehmens betroffen ist. Das ist lediglich eine weitere Fassung der Unterteilung, die man nach Eisele das Verhältnis von kunden- und unternehmensschützenden Aufsichtsregeln nennen könnte, auch für solche Unternehmen, die eben keiner speziellen Aufsicht unterworfen sind.82 Das muss auch nicht immer ein Gegensatz sein, viele Pflichten, welche unzweifelhaft im öffentlichen Interesse wahrgenommen werden, minimieren die Risiken
79 80 81 82
Ausführlich zu den Kompetenzen Lösler (oben Fn. 25) 190 ff. So Röh, BB 2008. So Eisele (oben Fn. 4) Rdn. 4. Eisele (oben Fn. 4) Rdn. 3.
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der betroffenen Unternehmen.83 Trotzdem ist die Abgrenzung nicht ohne Interesse, wie sich eben gerade bei der Frage zeigt, inwieweit die Einzelmaßnahmen der Compliance-Organisation zur Disposition des Unternehmens stehen, bzw. den Anweisungen der Organe unterworfen sind.
IV. Compliance im Konzern 1. Erwerbsvorgänge Nach der Vorgabe des deutschen Corporate Governance Kodex hat der Vorstand der Konzernobergesellschaft, wie es dort heißt, auf deren Beachtung durch die Konzernunternehmen hinzuwirken. Nach dem Selbstverständnis des deutschen Corporate Governance Kodex gibt dies lediglich die geltende Rechtslage wieder. Es ist jedoch eine offene Frage, welchen Inhalt dieses „Hinwirken“ auf die Compliance bei Konzernunternehmen haben kann und vor allem muss. Dabei entstehen die ersten Compliance-Fragen schon bevor ein Unternehmen überhaupt zum konzernangehörigen Unternehmen wird, genauer gesagt bereits beim Erwerb. Selbstverständlich wird sich die Due Diligence auf den Umstand erstrecken müssen, ob Compliance in der Zielgesellschaft ein Anliegen der Unternehmensleitung ist, ob Anhaltspunkte für rechtswidriges oder künftiges konzernrichtlinienwidriges Verhalten vorliegen und ob die gesellschaftsrechtlichen Mittel ausreichen, um ein Verhalten zu erzwingen, das die zu erwerbende Gesellschaft dort zu einem compliancekonformen Konzernunternehmen macht, wo dies noch nicht der Fall ist. Dies wird vor allem bei Unternehmenskäufen im Ausland ein Thema sein müssen. Denken Sie nur an die Tochtergesellschaften vieler deutscher Unternehmen in Ländern wie Vietnam, Serbien, oder den Ländern des früheren Ostblocks, die so manchem Konzernvorstand erhebliche Sorgen bereiten. Zuletzt hat sogar die Hypo Group Alde Adria Bank, an der die Bayerische Landesbank in Liechtenstein beteiligt ist, für politische Aufregung gesorgt. Das Institut hat wenige Wochen nach Bekanntwerden der Steuerhinterziehungen in Deutschland den Verkauf dieser liechtensteinischen 49%83 Ebenso für Compliance-Programme im Wertpapierdienstleistungsunternehmen Eisele (oben Fn. 4) Rdn. 3.
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Beteiligung beschlossen.84 Letztlich stellt man jede Beteiligung eines Kreditinstitutes an einem Institut an einem Offshore-Platz in Frage, wenn man diese Orte mit einem, auch völkerrechtlich sicher nicht unproblematischen Generalverdacht der Steuerhinterziehung belegt. Eine Prüfung im Einzelfall kann das aber nicht ersetzen. Man muss bei jedem Unternehmenskauf prüfen, ob bei dem Zielunternehmen die rechtlichen Standards aufrechterhalten werden, die von einem Konzernunternehmen eines deutschen Unternehmensverbundes erwartet werden. Ist dies nicht der Fall und auch künftig nicht zu gewährleisten, muss man aus Compliance-Aspekten vom Erwerb absehen. Das mag manchem weitgehend scheinen, ist aber nur konsequente Umsetzung des Legalitätsprinzips und damit eine Selbstverständlichkeit. 2. Nationaler Konzern Im Übrigen wird in der Literatur seit langem kontrovers diskutiert, welche Verpflichtungen den Vorstand der Konzernobergesellschaft bereits im Hinblick auf den nationalen Konzern treffen. Dabei ist unstreitig, dass im faktischen Unterordnungskonzern das herrschende Unternehmen über die Konzerngeschäftspolitik und bei zentraler Konzernleitung auch über einzelne Maßnahmen des Tagesgeschäfts entscheidet. Inwieweit die Konzernleitung zu den Aufgaben des Vorstands gehört, ist dagegen wenig geklärt. Gesichert ist allenfalls, dass bei der Entscheidung über die Konzerngeschäftspolitik der Vorstand an Recht und Gesetz sowie die Regeln guter und verantwortungsbewusster Unternehmensleitung gebunden ist. Konzernweite Organisationspflichten wird es zwangsläufig ebenfalls geben, wie dies zuletzt etwa Uwe H. Schneider in mehreren gemeinsam mit seinem Sohn verfassten Aufsätzen85 dargelegt hat. Für Teile der Compliance-Funktion in den Banken ist das ohnehin leicht beantwortet, nachdem § 25a KWG, § 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 WpHG und im Strafrecht § 15 Geldwäschegesetz eine konzerndimensionale Organisations84 Angeblich auf Druck der BayernLB und in der Aufsichtsratssitzung vom 6. März 2008, . 85 Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider, ZIP 2007, 2061; sowie dies., ZIP 2005, 57.
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pflicht86 festlegen. In § 15 Geldwäschegesetz steht ausdrücklich, dass die dort bezeichneten Unternehmen dafür zu sorgen haben, dass die Verpflichtungen nach diesem Gesetz auch von den abhängigen und konzernierten Gesellschaften im Ausland erfüllt werden müssen. Dasselbe gilt seit der Neunten Novelle zum Versicherungsaufsichtsgesetz mit Wirkung ab dem 1. Januar dieses Jahres für die Versicherungen, nachdem der neu eingefügte § 64a VAG die „übergeordneten Unternehmen einer Versicherungsgruppe“ verpflichtet, „ein angemessenes Risikomanagement der wesentlichen Risiken auf Ebene der Versicherungsgruppe sicherzustellen“. Ein weiteres Standardbeispiel ist das Kartellrecht, nachdem Konzernobergesellschaften von den Kartellbehörden für Verstöße von Tochtergesellschaften regelmäßig in Mithaftung genommen werden. Holger Fleischer hat die Compliance-Pflichten des Vorstandes des herrschenden Unternehmens konkretisiert und vor allem ein konzernweites Berichtssystem (Compliance-Reporting) und eine konzernweite Überwachungspflicht (Compliance-Audit) gefordert.87 Darüber hinaus zählen Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider neben konzernweiter Finanzierung, grundlegenden Personalentscheidungen, einem konzernweiten Risikoüberwachungs- und Informationssystem auch eine konzernweite Compliance-Organisation zu den Pflichtaufgaben des Vorstands aller herrschenden Unternehmen. Wenn diese fehle, seien Schadenersatzansprüche gegen die Vorstandsmitglieder des herrschenden Unternehmens denkbar.88 Uwe H. Schneider/ Sven H. Schneider89 gehen darüber noch weit hinaus und fordern: − ein unternehmensbezogenes Pflichtenheft und Compliance-Trainingsprogramm mit Zero-Tolerance-Policy, − ein Compliance-Programm mit dem Ziel der dauerhaften Verfolgung der Standards, − ein Informationssystem zur Aufdeckung von Regelverstößen, − die Bestellung eines Compliance-Beauftragten und die Einrichtung einer Hotline,
86 87 88 89
Eisele (oben Fn. 4) Rdn. 94. Fleischer, CCZ 2008, 1; ähnlich schon Lösler (oben Fn. 25) 300. Sven H. Schneider/Uwe H. Schneider, AG 2005, 57, 59. Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider, ZIP 2007, 2061, 2064.
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− sowie Disziplinarmaßnahmen, damit die Standards beachtet und Verletzungen geahndet werden. De facto führt dies zu einer aktiven konzernweiten Organisationspflicht, welche die Compliance-Verantwortung für Tochtergesellschaften einschließt. Offen bleibt allerdings, was geschehen soll, wenn die Einwirkungsmacht der Muttergesellschaft in Sachen Compliance an ihre gesellschaftsrechtlichen Grenzen stößt und sich die Tochtergesellschaft schlichtweg weigert, bestimmten Vorgaben ihrer Muttergesellschaft zu folgen. So verweist etwa die Gesetzesbegründung zu § 64a VAG ausdrücklich darauf, dass eine Versicherungs-Holdinggesellschaft auf die gruppenangehörigen Unternehmen nur einwirken darf, „sofern das allgemeine Gesellschaftsrecht nicht entgegensteht“.90 Diese Grenze ist aber schon nach deutschem Recht schnell berührt, wenn die Tochtergesellschaft eine Aktiengesellschaft ist, die deren Vorstand nach § 76 Abs. 1 AktG „in eigener Verantwortung zu leiten“ hat. Für diesen Fall verlangt etwa Fleischer, die Muttergesellschaft müsse über ihre Repräsentanten im Aufsichtsrat von ihrer Personalkompetenz Gebrauch machen, wenn deren Vorstandsmitglieder Gesetzesverstöße dulden oder fördern würden.91 Wenn man davon ausgeht, dass das Legalitätsprinzip sich auf den gesamten Unternehmensverbund bezieht und der Vorstand der herrschenden Gesellschaft für die Einhaltung die Verantwortung trägt, ist dies nur konsequent. Fraglich ist dann allenfalls, was denn geschehen soll, wenn die gesellschaftsrechtlichen Mittel auch für personelle Einzelmaßnahmen nicht ausreichen, etwa weil es sich um eine Minderheitsbeteiligung handelt. Das wird in Deutschland keine so große Rolle spielen, im internationalen Konzern mag dies aber anders aussehen. Wenn man die Geschäftsberichte mancher deutscher Konzerne etwa mit der jährlich erscheinenden Liste der Hochrisikoländer von Transparency International92 vergleicht, ergeben sich gelegentlich auch für Vorstände überraschende Ergebnisse. Wer aber nicht sicherstellen kann, dass sich die Geschäftsleitung seiner Beteiligung in
90 Bundesrat-Drucksache 599/07 vom 31.8.07. 91 Fleischer, CCZ 2008, 6. 92 Zu finden über , dort unter Korruptionswahrnehmungsindex.
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Usbekistan oder Venezuela93 den deutschen Rechtsvorstellungen zu Korruption oder Geldwäsche unterwirft, der wird sich als Konzernobergesellschaft in letzter Konsequenz von dieser Beteiligung trennen müssen. 3. Internationaler Konzern Damit sind wir bereits beim internationalen Konzern angelangt. Hier wird zunächst einigermaßen unstreitig sein, dass auch ausländische Rechtsvorschriften einzuhalten sind, sofern nicht die Grenzen des Ordre Public nach Art. 6 EGBGB dem entgegenstehen. Sofern also ausländisches Recht grundsätzlich anzuwenden ist, findet dieses seine Grenzen dort, wo es zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des Deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar wäre. Nun ist zunächst selbstverständlich sicherzustellen, dass spezielle Compliance-Anforderungen in ausländischen Rechtsordnungen, wie etwa die Vorgaben der Securities and Exchange Commission (SEC) beim „dual listing“ oder die Compliance-Standards der New York Stock Exchange von den Unternehmensteilen eingehalten werden, welche diesen Regelungen unterfallen. Aber auch dort, wo ausländische Rechtssysteme eine extraterritoriale Geltung beanspruchen, wie etwa beim FCPA, ist abzuwägen. So ist etwa die in der Schweiz domizilierende ABB, Ltd. von der SEC unter dem FCPA wegen Rechtsverstößen belangt worden, die in Nigeria, Angola und Kasachstan stattgefunden hatten. Dafür hat ausgereicht, dass die Zahlungen unter anderem über US-Tochtergesellschaften der ABB, Ltd. gelaufen waren.94 Immer dann, wenn die deutsche Muttergesellschaft aus internationalen Rechtsverletzungen einen vermeidbaren Schaden erleiden kann, ist auch das ausländische Recht compliance-relevant. Darüber hinaus ordnet der FCPA korrupte Handlungen in der ausländischen Tochtergesellschaft der Konzernmutter grundsätzlich zu, selbst wenn die Tochtergesellschaft nicht unter den FCPA fällt.95 So ist ausländisches Recht stets anzuwenden und einzuhalten, wenn seine Missachtung zu einem Schaden der Muttergesellschaft führen kann, der bei 93 Nr. 162 (Venezuela) und Nr. 175 (Usbekistan) der bis Nr. 179 reichenden Länderliste in 2007. 94 Dazu Cohen/Holland, CCZ 2008, 7, 8. 95 Schulte/Görts, RIW 2006, 561, 564.
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rechtskonformem Verhalten vermeidbar gewesen wäre. Dies wird aber praktisch fast immer der Fall sein. Bereits ein einzelnes Ausreiseverbot eines Mitarbeiters, die Schließung einer Auslandsgesellschaft oder sonstige Sanktionen im Ausland werden regelmäßig solche vermeidbaren Schäden sein. Sanktionslose Rechtsverstöße sind auch nach ausländischem Recht eher die Ausnahme als die Regel. Damit besteht aber eine weitgehende Verpflichtung der Konzernobergesellschaft, ihre Auslandstöchter zur Einhaltung des ausländischen Rechts anzuhalten und dies entsprechend zu überprüfen.
Rechtliche Grundlagen und aktuelle Entwicklungen der Compliance am Beispiel des Kapitalmarktrechts Professor Dr. Matthias Casper, Universität Münster, Schriftleiter ZBB
I.
Einleitung ........................................................................................................140 1. Zu Begriff und Bedeutung der Compliance..............................................140 2. Die einschlägigen Normen im Überblick .................................................143 3. Vorgehensweise........................................................................................144
II.
Die Compliancefunktion (§ 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 WpHG, § 12 WpDVerOV) ...........................................................................................145 1. Anforderungen an die organisatorische Verselbständigung .....................145 a) Organisatorische Trennung................................................................145 b) Verbot der Teilnahme am operativen Geschäft .................................147 c) Erleichterungen für kleinere Unternehmen........................................148 2. Vergütung.................................................................................................149 3. Rechtsstellung und Rechtsnatur des Compliancebeauftragten .................150 a) Fragestellungen und Vorgehensweise................................................150 b) Keine janusköpfige Doppelfunktion des Compliancebeauftragten....151 c) Weisungsgebundenheit gegenüber dem Vorstand, fehlende Unabhängigkeit..................................................................................152 d) Folgerungen für die Berichtspflichten, Verhältnis zum Aufsichtsrat........................................................................................154 e) Einordnung als Unternehmensbeauftragter?......................................155 f) Personalunion mit weiteren Ämtern eines Unternehmensbeauftragten ................................................................156 4. Aufgaben und Befugnisse.........................................................................157 a) Ermittlungsebene ...............................................................................157 b) Eskalation nach der Aufdeckung von Gesetzesverstößen, Weisungsrechte..................................................................................158 5. Folgt aus § 33 Abs. 1 die Pflicht, ein anonymes Whistle-BlowingSystem einzurichten?................................................................................161 6. Rechtsfolgen von Verstößen gegen die Pflichten aus § 33 Abs. 1 WpHG.............................................................................163 a) Haftung des Vorstands.......................................................................163 b) Haftung des Compliancebeauftragten................................................165
III. Interessenkonflikte (§ 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 WpHG, § 13 WpDVerOV) .........166 1. Der normative Dreiklang in § 13 WpDVerOV, Fragestellungen .............166
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140
2. Unabhängige Vergütung...........................................................................167 3. Vertraulichkeitsbereiche (Chinese Walls) ................................................169 IV. Besonderheiten einer konzernweiten Compliance ..........................................169 1. Pflicht zur Einrichtung einer konzernweiten Compliancefunktion?.........170 2. Konzernrechtliche Grenzen ......................................................................172 V.
Fazit und Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse in Thesen ............174
I.
Einleitung
1. Zu Begriff und Bedeutung der Compliance Compliance hat sich in den letzten Jahren zu einer Art Zauberwort entwickelt. Und nicht zuletzt die Skandale bei einigen Unternehmen jenseits der Finanzdienstleistungsbranche scheinen den Befund zu bestätigen, dass Complianceabteilungen unverzichtbar sind. Ganze Handbücher werden zu diesem Thema verfasst1 und sogar spezielle Compliance-Zeitschriften2 herausgegeben. Dabei geht es auf den ersten Blick um etwas ganz Banales. „To comply with something“ bedeutet nichts anderes als befolgen. Dass Gesetze sowie selbstgesetztes Recht auch von Unternehmen befolgt werden müssen, ist nichts anderes als eine bare Selbstverständlichkeit, die sich auch ohne weitere Umstände mit den Grundsätzen eines ehrbaren Kaufmannes deckt.3 Was ist nun das Besondere an Compliance, dass es in jüngerer Zeit solche Wellen schlagen konnte? Versucht man den schillernden Begriff der Compliance zu systematisieren, so lassen sich drei Teilbereiche ausmachen. Zum einen existiert ein materieller Compliancebegriff. Er besagt nichts weiter, als den bereits eben skizzierten und seit Jahrhunderten tradierten Grundsatz, dass geltendes Recht – sei es vom Gesetzgeber gesetzt oder von der Wirtschaft selbst geschaffen – beachtet werden muss. Dazu gibt es wenig Neues beizu-
1 2 3
Vgl. etwa Hauschka, Corporate Compliance, 2007. Corporate Compliance Zeitschrift (CCZ), 1. Jahrgang 2008. Ebenso z.B. Spindler, WM 2008, 905 sowie U. H. Schneider, ZIP 2003, 645, 646; zur Frage nach einer allg. Legalitätspflicht im Unternehmensrecht vgl. den Nachw. in Fn. 21.
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tragen und wollte man diesen Aspekt zum Gegenstand eines Beitrages über Compliance im Kapitalmarktrecht machen, so müsste man einen Parforceritt über Verhaltensvorschriften im Kapitalmarktrecht wie beispielsweise das Insiderhandelsverbot unternehmen. Dies wäre nicht nur angesichts der für den Vortrag, der diesem Beitrag zugrunde liegt, gesetzten Zeit ein hoffnungsloses Unterfangen. Vielmehr spielt die compliancerechtliche Musik auch in einem anderen Bereich. Neben dem materiellen Compliancebegriff rückt nämlich zunehmend ein formeller Aspekt in den Vordergrund.4 Hierunter sind all solche Normen zu subsumieren, die den Finanzdienstleister dazu anhalten, Vorrichtungen zu schaffen, die die Einhaltung von Gesetz und Satzung sicherstellen. Mit anderen Worten handelt es sich um Organisationsrecht, das Strukturen schafft, die neben das betriebsinterne Controlling, das Risikomanagement und die Überwachung durch den Aufsichtsrat treten. Dieser organisationsrechtliche Aspekt ist seit der Umsetzung des Art. 6 MiFID5 durch das FRUG6 in § 33 Abs. 1 WpHG und §§ 12, 13 WpDVerOV7 besonders in den Fokus der Diskussion gerückt.8 Zu der formellen Seite des Compliancebegriffs gehören aber auch Regelungen wie die zu Mitarbeitergeschäften in § 33b WpHG.9 Sie sichern speziell das materielle Verbot ab, Interessenkonflikte zulasten des Kunden aufzulösen. Die Abgrenzung dieser 4 5 6
7 8 9
Vgl. nur Spindler, WM 2008, 905, 906. Richtlinie 2004/39/EG – Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente, ABl. L 145 vom 30.4.2004 sowie Art. 13 der Durchführungsrichtlinie 2006/73, vom 10.8.2006, ABl. L 241/26 v. 2.9.2006. Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (RiL 2004/39/EG, MiFID) und der Durchführungsrichtlinie (RiL 2006/73/EG) der Kommission (Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz (FRUG, MiFIDUmsetzungsgesetz)) v. 16.7.2007, BGBl. I 2007, 1330 v. 19.7.2007. Verordnung zur Konkretisierung der Verhaltensregeln und Organisationsanforderungen für Wertpapierdienstleistungsunternehmen (WpDVerOV) idF v. 21.11.2007, BGBl. I 2007, 2602. Lesenswerter Überblick bei Spindler, WM 2008, 905 ff. sowie bei Röh, BB 2008, 398 ff.; vgl. weiterhin Schicht, BKR 2006, 469 ff. Diese können hier nicht näher behandelt werden, insoweit ist auf den Überblick bei Röh, BB 2008, 398, 407 f.; Schlicht, BKR 2006, 469, 474 f. und ausführliche Darstellung bei Göres, in: Böhlen/Kann, MiFID-Konpendium, 2008, S. 301, 317 ff.; Held, in: Clouth/Lang (Hrsg.), MiFID Praktikerhandbuch, 2007, Rn. 447 ff. sowie das BaFin Rundschreiben 8/2008 – Überwachung von Mitarbeitergeschäften gem. § 33b WpHG und § 25a KWG v. 18.8.2008 zu verweisen.
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organisationsrechtlichen Komponente des Compliancebegriffs – § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 WpHG spricht insoweit etwas schwer verständlich von Compliancefunktion10 – von der klassischen Innenrevision (neudeutsch Controlling) und dem Risikomanagement kann hier nur angedeutet werden. Controlling soll sicherstellen, dass der Unternehmenszweck erreicht wird, also Gewinn erwirtschaftet wird, effiziente Strukturen geschaffen und betriebsinterne Vorgaben eingehalten werden.11 Demgegenüber zielt Compliance auf die Einhaltung rechtlicher und nicht nur wirtschaftlicher Vorgaben. Unter Risikomanagement sind hingegen gemäß § 25a Abs. 1 S. 3 KWG Systeme zu verstehen, die der systematischen Erfassung und Bewertung von Risiken sowie der Steuerung von Reaktionen auf festgestellte Risiken dienen.12 Damit sind zwar nicht zwingend nur wirtschaftliche, sondern auch rechtliche Risiken gemeint, diese stehen aber anders als bei Compliance nicht im Vordergrund. Eine wirklich trennscharfe Abgrenzung zwischen diesen soeben skizzierten drei Bereichen ist in der Praxis jedoch kaum möglich.13 Zwischen dem formellen und dem materiellen Compliancebegriff stehen so genannte Vorfeldtatbestände. Hierbei handelt es sich um Normen, die auf die Einhaltung anderer gesetzlicher Vorschriften abzielen. Exemplarisch sei auf die in § 15b WpHG statuierte Pflicht zur Führung eines Insiderverzeichnisses verwiesen. Diese Pflicht existiert nicht um ihrer selbst Willen, sondern um die Bekämpfung von Verstößen gegen das Insiderhandelsverbot zu erleichtern.14 Ein weiteres Beispiel in diesem Zusammenhang bildet das Directors’ Dealings nach § 15a WpHG. Durch die Offenlegung von Tranksaktionen mit potentiellen Insiderpapieren soll ein Ausnutzen von Insider-
10 Es handelt sich um eine linguistisch wenig überzeugende wörtliche Übersetzung des engl. Begriffs „compliance function“. 11 Zum betriebswirtschaftlichen Begriff des Controllings vgl. statt aller Hoffmann, in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaftslehre, 6. Aufl. 2007, Stichwort Controlling, Sp. 212, 213 f. 12 Zum betriebswirtschaftlichen Begriff des Risikomanagements vgl. etwa Schradin, in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaftslehre, 6. Aufl. 2007, Stichwort Risikomanagement, Sp. 1584 f. 13 So im Ergebnis auch Spindler, WM 2008, 905, 907. 14 Vgl. dazu statt aller etwa Sethe in: Assmann/Schneider (Hrsg.), WpHG, 4. Aufl. 2006, § 15b Rn. 2 f.; monographisch etwa v. Neumann-Cosel, Die Reichweite des Insiderverzeichnisses nach § 15b WpHG, 2008, S. 27 ff.
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informationen verhindert werden.15 Letztlich ist auch die Ad-hoc-Publizitätspflicht ein Vorfeldtatbestand zum Insiderhandelsverbot, wobei dieser daneben freilich auch ein Eigenziel, nämlich dem Abbau von Informationsasymmetrien am Kapitalmarkt, verfolgt.16 Solche nur noch mittelbar als Vorfeldtatbestände wirkenden Normen wird man sinnvollerweise nicht mehr in die Familie der Compliancevorschriften einordnen. 2. Die einschlägigen Normen im Überblick Im Bereich der Finanzdienstleistungsunternehmen existieren bereits seit längerem zwei Zentralvorschriften, die sich mit Compliance beschäftigen, die aber durch die Umsetzung ein ganz neues, deutlich konturiertes Gesicht erhalten haben. Neben § 25a KWG17 steht vor allem § 33 Abs. 1 WpHG im Vordergrund.18 Von dem dort aufgestellten doppelten Dreiklang sollen im Folgenden allein die Verpflichtung zur Errichtung einer Compliancefunktion (§ 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 WpHG) sowie die Regelungen zur Vermeindung von Interessenkonflikten (§ 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 WpHG) herausgegriffen werden. Dazu korrespondieren die jeweiligen Konkretisierungen in §§ 12, 13 WpDVerOV.19 Die in § 33 Abs. 1 WpHG ebenfalls enthaltene Pflicht zur Schaffung von Geschäftskontinuität (§ 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 WpHG) und zur Einrichtung eines Beschwerdemanagements (§ 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 WpHG) können hier nicht thematisiert werden. Die in § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 WpHG statuierte Berichtspflicht der Compliancefunktion gegenüber Vorstand und Aufsichtsrat sowie die Pflicht zur regelmäßigen Evaluierung der durch die Compliancefunktion ergriffenen Maßnahmen gemäß § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 WpHG werden im Sachzusammenhang mit den Vorgaben zur Errichtung einer Compliancefunktion angesprochen.
15 Statt aller etwa Sethe in: Assmann/Schneider (oben Fn. 14), § 15a Rn. 9. 16 Vgl. dazu nur Casper in KK-KapMuG, 2008, §§ 33b, c WpHG Rn. 2 f. 17 Einzelheiten zu § 25a KWG, der vor allem eine Pflicht zur Einrichtung eines Risikomanagements beinhaltet, kann hier nicht vertieft werden, insoweit ist auf den Beitrag von Gößmann in diesem Band S. 179 ff. zu verweisen. 18 Vgl. exemplarisch den Nachw. in Fn. 8. 19 Kritisch zur Verlagerung wichtiger materieller Fragen wie die nach dem Compliancebeauftragten Veil, WM 2008, 1093, 1094.
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Damit ist das weitere Programm schnell umrissen. Nach einem Überblick über die Normenfamilie, die Compliance im Kapitalmarktrecht als Organisationsrecht eingeführt hat, sollen in einem ersten Schritt die Anforderungen an die Compliancefunktion untersucht werden (sub II.). Neben den Anforderungen an eine organisatorische Verselbständigung der Complianceabteilung soll auch die Rechtsstellung des mit § 12 Abs. 4 S. 1 WpDVerOV inaugurierten Compliancebeauftragten (gerne auch als Chief Compliance Officer, kurz CCO bezeichnet) und sein Verhältnis zum leitungsbefugten Vorstand in der Aktiengesellschaft auf das Korn genommen werden. Sodann sind die Aufgaben und Befugnisse dieses Beauftragten und seiner Abteilung zu untersuchen. Zweitens soll aus der Normenfamilie die Regelung in § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 WpHG herausgegriffen werden, die organisatorische Anforderungen zur Vermeidung von Interessenkonflikten einfordert (sub III.). Dabei geht es neben den hinlänglich bekannten Vertraulichkeitsbereichen (Chinese Walls) vor allem um die Begrenzung von umsatzabhängigen Provisionen für Vertriebsmitarbeiter innerhalb des Wertpapierdienstleistungsunternehmens in § 13 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 WpDVerOV, also jenseits der klassischen Kick-BackProblematik mit Drittbezug (heute § 33d WpHG). Abschließend soll das bisher noch nicht hinreichend ausgelotete Verhältnis zwischen Konzernrecht und § 33 WpHG am Beispiel einer Pflicht zur Einführung einer konzernweiten Compliancefunktion angesprochen werden (sub IV.). Die allgemeine Frage, ob es jenseits dieser Vorschriften im WpHG eine allgemeine, aus der Leitungsverantwortung des Vorstandes folgende Legalitätspflicht gibt oder ob „nützliche“ Pflichtenverstöße hinzunehmen sind, angefangen vom Falschparken, um noch den wichtigen Geschäftstermin zu erreichen, bis hin zu Korruption in sog. Schurkenstaaten20, soll hier nicht thematisiert werden.21
20 Der mehr als zweifelhafte Begriff des Schurkenstaats geht im Völkerrecht zurück auf Rawls, The Law of Peoples, 2002, p. 2 ff. und passim und bezeichnet solche Staaten, die sich bewusst außerhalb der Völkerrechtsordnung gestellt haben und Recht systematisch brechen. 21 Vgl. dazu außer dem Beitrag von Hauschka in diesem Band S. 103 ff. vor allem Bachmann, in: VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2007, 2008, S. 66, 68 ff.; Fleischer, CCZ 2008, 1 f.; ders., ZIP 2005, 141 ff.; MünchKommAktG/Spindler § 93 Rn. 63 f.; ders., WM 2008, 905 f.
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II. Die Compliancefunktion (§ 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 WpHG, § 12 WpDVerOV) 1. Anforderungen an die organisatorische Verselbständigung a) Organisatorische Trennung Art. 6 Abs. 2 MiFID-DurchführungsRL22 fordert, „die Einrichtung und Unterhaltung einer dauerhaften und wirksamen Compliance-Funktion, die unabhängig“ sein muss. Dies wird in § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 WpHG aufgegriffen. Damit werden drei Gebote, nämlich das der „Wirksamkeit“, das der „Dauerhaftigkeit“ und schließlich ein Unabhängigkeitserfordernis aufgestellt. Weitere Anforderungen an die organisationsrechtliche Ausgestaltung der Compliancefunktion, für die künftig der gängigere Begriff der Complianceabteilung synonym verwendet werden soll, stellt § 33 Abs. 1 WpHG nicht. Vielmehr hängt die konkrete Ausgestaltung nach Satz 3 von der Art, dem Umfang, der Komplexität sowie dem Risikogehalt der Geschäfte des jeweiligen Wertpapierdienstleisters ab. Auch der konkretisierende § 12 WpDVerOV enthält naturgemäß keine abschließenden Vorgaben. Aus dem Wirksamkeits- und dem Unabhängigkeitserfordernis sowie einem Umkehrschluss zu § 12 Abs. 5 WpDVerOV, der Ausnahmen für kleinere Unternehmen bereithält, lässt sich aber ableiten, dass die Compliancefunktion in einer eigenen organisatorischen Einheit, also in einer betriebsinternen Abteilung zu bündeln ist, die vom Compliancebeauftragten zu führen ist.23 Sinn und Zweck dieser räumlichen und organisatorischen Trennung der Compliancefunktion von anderen Abteilungen ist die organisatorische Abgrenzung zum operativen Geschäft. Diese mit dem Tagegeschäft betrauten Abteilungen soll die Complianceabteilung gerade auf Gesetzesverstöße durchmustern. Diese Kontrollfunktion würde durch eine organisatorische 22 Durchführungsrichtlinie 2006/73 der Kommission zur Durchführung der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die organisatorischen Anforderungen an Wertpapierfirmen und die Bedingungen für die Ausübung ihrer Tätigkeit sowie in Bezug auf die Definition bestimmter Begriffe für die Zwecke der genannten Richtlinie vom 10.8.2006, ABl. L 241/26 v. 2.9.2006, S. 26, 36. 23 Vgl. ebenso etwa Schicht, BKR 2006, 469, 470; Veil, WM 2008, 1093, 1096; der Sache nach auch Harm, Compliance in Wertpapierdienstleistungsunternehmen und Emittenten von Finanzinstrumenten, 2008, S. 62 sowie Röh, BB 2008, 398, 400 und Spindler, WM 2008, 905, 908.
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Verknüpfung gefährdet, weshalb mit diesem Trennungsgebot gerade auch das Unabhängigkeitserfordernis verwirklicht wird.24 Bei größeren Wertpapierdienstleistungsunternehmen, die eine ausgeprägte Spartenorganisation bis hin zu einem virtuellen Konzern25 aufweisen, stellt sich jedoch die Frage, ob es mehrere Complianceabteilungen geben kann, etwa für jede Unternehmenssparte eine. Hiergegen streitet auf den ersten Blick die Verwendung des Singulars in § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 WpHG, der eben nur von „Funktion“ spricht. Gleichwohl wird man unter Heranziehung der drei Organisationsgebote, insbesondere des Wirksamkeitserfordernisses, keine Bedenken gegen mehrere, dezentrale Abteilungen erheben können. Indes sieht § 12 Abs. 4 WpDVerOV nur einen Compliancebeauftragten vor. Hieraus und aus dem Gebot der Wirksamkeit wird man deshalb schlussfolgern können, dass der Compliancebeauftragte Leiter jeder dieser Abteilungen sein muss oder dass die Einzelabteilungen letztverantwortlich durch eine zentrale Complianceabteilung (Groupcompliance) unter Leitung des Compliancebeauftragten geführt werden müssen. Im Einzelfall wird das Wirksamkeitsgebot sogar eine Anbindung von Teilen der Complianceabteilung bzw. einzelner Complianceabteilungen an die jeweiligen Sparten gebieten, damit die Kontrollfunktion wirksam erfüllt werden kann.26 Ebenfalls nicht abschließend geklärt ist, auf welcher Ebene die Complianceabteilung innerhalb der Unternehmenshierarchie angesiedelt sein muss. Auch wenn § 33 WpHG bzw. § 12 WpDVerOV insoweit keine Vorgaben machen, wird man aufgrund der herausgehobenen Stellung der Complianceabteilung verlangen müssen, dass zumindest die zentrale Compliancefunktion (Groupcompliance) unmittelbar unterhalb des Vorstandes bzw. der Geschäftsleitung zu verankern ist.27
24 Zur ebenfalls verbotenen Mitwirkung am operativen Geschäfts sogleich unter b). 25 Teilweise auch als virtuelle Holding bezeichnet, so etwa bei Schwark, FS Peter Ulmer, 2003, S. 605, 606 ff. m. weit. Nachw. zur Begriffsbildung. 26 Ähnlich Lösler, WM 2008, 1098, 1103; ähnlich Spindler, WM 2008, 905, 908. 27 Ebenso Lösler, WM 2008, 1098, 1102 f.; zu sehr reaktivierend aber Spindler, WM 2008, 905, 914.
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b) Verbot der Teilnahme am operativen Geschäft Das Unabhängigkeitserfordernis spezifiziert § 12 Abs. 4 S. 3, 1. HS WpDVerOV dahin, dass der Compliancebeauftragte und seine Mitarbeiter nicht an den Wertpapierdienstleistungen beteiligt sein dürfen, die sie überwachen sollen. Hieraus lässt sich ein weitgehendes Verbot der Teilnahme am operativen Geschäft herleiten.28 Damit lehnt sich Art. 6 MiFiD-DurchführungsRL und § 12 Abs. 4 S. 3 WpDVerOV an eine entsprechende Vorgabe in Principle 5 der Compliancegrundsätze des Baseler Bankenausschusses an.29 Dieses Verbot gilt allerdings nicht grenzenlos. So ist es durchaus möglich, dass Mitarbeiter der Complianceabteilung in den Entwicklungsprozess von neuen Produkten bzw. deren Fortentwicklung eingebunden werden, um frühzeitig eventuelle Gesetzesverstöße zu erkennen. Ausgeschlossen ist aber, dass der CCO oder seine Mitarbeiter letztlich für die Produktentwicklung verantwortlich sind. Eine unmittelbare wie mittelbare Mitwirkung im Vertrieb ist ausgeschlossen. Allerdings ist auch hier eine beratende Tätigkeit denkbar. Möglich ist auch die Übernahme oder Mitwirkung an anderen Stabstätigkeiten, die dem gesamten Unternehmen zugute kommen. Denkbar ist etwa, dass ein in der Complianceabteilung angesiedelter Jurist an einem Gutachten zu Umsetzung von Gesetzesänderungen mitwirkt, das an sich von der Rechtsabteilung erstellt wird oder anderen Unternehmensbeauftragten wie dem Geldwäschebeauftragten zuarbeitet. Davon abzugrenzen ist die Frage, ob der Compliancebeauftragte zugleich die Funktion eines Geldwäschebeauftragen oder des Datenschutzbeauftragen übernehmen darf. Hierauf ist unter II. 3. f) zurückzukommen, da dies erst dann sinnvoll beantwortet werden kann, wenn man die Rechtsstellung des Compliancebeauftragten im Vergleich zu anderen sog. Unternehmensbeauftragten analysiert hat.
28 Vgl. allg. dazu Lösler, WM 2008, 1098, 1103; Schlicht BKR 2006, 469, 470; und zum alten Recht etwa Eisele, in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.) Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 109 Rn. 102 ff. 29 Basel Committee on Banking Supervision, Compliance and the compliance function in banks, December 2004.
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c) Erleichterungen für kleinere Unternehmen Von den soeben aufgestellten Grundätzen macht § 12 Abs. 5 WpDVerOV nicht unerhebliche Ausnahmen für kleinere Wertpapierdienstleistungsunternehmen. Dies trägt dem Umstand Rechung, dass für kleinere Unternehmen mit nur wenigen Beschäftigten, die oft auch eine geringere Risikostruktur als größere Einheiten aufweisen, die Einrichtung einer ganzen Complianceabteilung oder auch nur eines hauptberuflich tätigen Compliancebeauftragten einen unverhältnismäßigen Aufwand bedeuten würde.30 Ausweislich seines Wortlauts befreit § 12 Abs. 5 WpDVerOV allerdings nur von dem Verbot der Teilnahme am operativen Geschäft, nicht aber davon, überhaupt eine Compliancefunktion zu schaffen. Entsprechendes gilt für die dazugehörige europarechtliche Vorgabe in Art. 6 Abs. 3 S. 2 MiFID DurchführungsRL. Wenn jedoch schon der Compliancebeauftragte sein Amt sozusagen nebenberuflich neben einer Mitwirkung am laufenden Geschäft ausüben darf, wäre wenig einsichtig, wenn gleichwohl eine ganze Complianceabteilung mit mehreren nebenberuflich Beschäftigten ins Leben gerufen werden müsste.31 Zieht man neben der Begründung zu der Verordnung auch noch das Telos des § 12 Abs. 5 WpDVerOV heran, das darin besteht, unnötige Bürokratie und Lasten zu vermeiden, so wird man bei kleineren Unternehmen auch eine EinmannCompliancefunktion akzeptieren müssen. Es ist also möglich, die Complianceaufgaben in einer Person zu bündeln, die gleichzeitig auch am operativen Geschäft beteiligt ist oder aber auf mehrere Personen zu verteilen, die entsprechend ihrer Sachkunde diese Aufgaben neben dem alltäglichen, laufenden Geschäft betreiben, sofern einer von ihnen als Compliancebeauftragter letztlich die Verantwortung trägt.32 Ebenfalls ist es nicht ausgeschlossen, dass ein Mitglied der Geschäftsleitung diese Aufgabe übernimmt, insbesondere dann, wenn auf Ebene der Mitarbeiter keine Person hinreichend für das Amt des Compliancebeauftragten qualifiziert ist. § 12 Abs. 5 WpDVerOV enthält hingegen keine konkreten Vorgaben, ab wann ein Unternehmen als klein zu qualifizieren ist, sondern stellt allein darauf ab, ob aufgrund von Art, Umfang und Komplexität der Geschäftstätigkeit 30 Begr. zu § 12 WpDVerOV, Stand v. 1.10.2007, S. 18 f. 31 So im Ergeb. wohl auch Veil, WM 2008, 1093, 1095. 32 Begr. zu § 12 WpDVerOV, Stand v. 1.10.2007, S. 18 f.; Röh, BB 2008, 398, 403.
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oder der Art und des Spektrums der Wertpapierdienstleistungen die regelmäßig geltenden Anforderungen unverhältnismäßig wären und die ordnungsgemäße Compliancefunktion nicht gefährdet ist. Dies im Einzelfall näher auszugestalten und abstrakte Maßstäbe aufzustellen, bleibt Aufgabe der Rechtspraxis, insbesondere der BaFin, und ist mit wissenschaftlicher Methodik nur bedingt konkretisierbar. 2. Vergütung In § 12 Abs. 4 S. 3 aE WpDVerOV wird ein Verbot einer erfolgsabhängigen Vergütung normiert. Ausweislich seines Wortlauts bezieht sich diese Vorschrift nicht nur auf den Compliancebeauftragten, sondern auf alle mit der Compliancefunktion betrauten Personen, also auf sämtliche Mitarbeiter in der Complianceabteilung. Sie soll das Gebot einer unabhängigen Compliancefunktion absichern. Variable Vergütungen, die sich am Teilerfolg einzelner Abteilungen ausrichten, sind unzulässig.33 Dies gilt unabhängig davon, ob der jeweiligen Compliancemitarbeiter gerade diese Abteilung oder eine andere kontrolliert. Ebenfalls bedenklich sind Profitcenterstrukturen in der Complianceabteilung in Sinne einer Kopf- oder Fangprämie. Möglich sind aber variable Vergütungen, die von der erfolgreichen Erreichung von Zielvereinbarungen abhängen. Denkbar sind erfolgsbezogene variable Vergütungen jedoch nur, soweit sie vom Gesamterfolg des Unternehmens abhängen, in dessen Interesse die Complianceabteilung tätig ist. Es ist zu Recht moniert worden, dass anderenfalls hinsichtlich der Vergütung eine Zweiklassengesellschaft entstehen würde, die die Attraktivität der Aufgabe in einer Complianceabteilung mindern und somit den Wettbewerb um qualifizierte Mitarbeiter in diesem Bereich beeinträchtigen könnte.34 Die Grenze zu einem Verstoß gegen § 12 Abs. 4 S. 3 aE WpDVerOV ist dort zu ziehen, wo der Compliancebeauftragte durch eine Beteiligung am Gesamtertrag des Unternehmens in Versuchung geraten kann, Gesetzesverstöße im Unternehmen zu decken, um den Gewinn und somit seine erfolgsabhängige Vergütung nicht zu gefährden. Dies wird man bei Aktienoptionen regelmäßig zu bejahen haben. Selbst bei langfristigen Aktienoptionsprogrammen kommt es nach Ablauf der Sperrfrist stets zu einem kurzfristigen Effekt, wenn der Aktien33 Harm (oben Fn. 23) S. 64. 34 Spindler, WM 2008, 905, 910; ähnlich Harm (oben Fn. 23) S. 63.
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kurs an der Ausübungsschwelle liegt. Langfristige Bonusprogramme, die sich am Gewinn des Gesamtunternehmens orientieren, sind hingegen nicht zu beanstanden.35 Auch ein Bonusprogramm, das auf die Beteiligung am jährlichen Gewinn abstellt, ist regelmäßig nicht zu beanstanden, da die Complianceabteilung unter normalen Umständen nicht in der Lage sein dürfte, den Gewinn des gesamten Unternehmens durch das Unterlassen von Maßnahmen nachhaltig zu beeinflussen. 3. Rechtsstellung und Rechtsnatur des Compliancebeauftragten a) Fragestellungen und Vorgehensweise § 12 Abs. 4 S. 1 WpDVerOV enthält eine der wesentlichen Neuerungen gegenüber der Rechtslage vor Umsetzung der MiFID. Danach hat jedes Wertpapierdienstleistungsunternehmen einen Compliancebeauftragten zu ernennen.36 Ihm ist die Leitung der Complianceabteilung zu übertragen. Unklarheit herrscht bisher aber über seine Rechtsstellung und sein Verhältnis zum Vorstand. Einigkeit besteht nur darüber, dass der Compliancebeauftragte kein Organ der Gesellschaft ist.37 Uneinig sind sich die bisherigen Stellungnahmen aber hinsichtlich seiner Unabhängigkeit. Die Diskussion findet derzeit auf drei Ebenen statt. Zum einen wird kontrovers diskutiert, ob der Compliancebeauftragte (Chief Compliance Officer, CCO) allein dem Unternehmensinteresse unterworfen ist oder ob er daneben auch im öffentlichen Interesse tätig wird. Damit korrespondiert zweitens die Frage, ob der Compliancebeauftragte Weisungen des Vorstands unterworfen ist. Schließlich 35 In diesem Sinne auch Spindler, WM 2008, 905, 910; Harm (oben Fn. 23) S. 63 f.; Röh, BB 2008, 398, 403; Schicht, BKR 2006, 469, 470; Held, in: Clouth/ Lang (Hrsg.), MiFID Praktikerhandbuch, 2007, Rn. 437. 36 Nicht mehrere, vgl. Lösler, WM 2008, 1098, 1100. 37 Veil, WM 2008, 1093, 1096 f.; allg. für Unternehmensbeauftragte Dreher, FS Claussen, 1997, 69, 71, 77, der zu Recht darauf hinweist, dass trotz der öffentlich-rechtlichen Pflicht zur Bestellung eines Unternehmensbeauftragten zwischen ihm und dem Unternehmen allein eine privatrechtliche Beziehung bestehe; ebenso Rehbinder ZGR 1989, 305, 318, 321, 338, der aber von einem „anderen Organ der Unternehmensverfassung“ spricht, ohne damit aber auf den allgemeinen Organbegriff zurückzugreifen; zu letzterem nunmehr ausführlich Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2007, speziell zum Unternehmensbeauftragten ebd. S. 224 f.
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spiegeln sich die Argumente bei der Diskussion wider, ob der CCO wie der Datenschutz- oder Geldwäschebeauftragte ein Unternehmensbeauftragter ist. Mit Rücksicht auf die ausführliche Stellungnahme des Verfassers zu diesen Fragen an anderer Stelle,38 soll der Diskussionsstand und die wesentlichen Ergebnisses hier nur nochmals kurz nachgezeichnet werden. b) Keine janusköpfige Doppelfunktion des Compliancebeauftragten Namentlich von Rüdiger Veil stammt die These, dass der Compliancebeauftragte nicht nur im Interesse des Unternehmens, sondern auch im öffentlichen Interesse tätig werde, da er die Aufgabe habe, Gesetzesverstöße zu verhindern und somit öffentlichen Interessen zur Geltung verhilft.39 Dieser Vorstellung, dass der Compliancebeauftragte mit einer Gesichtshälfte auf das Unternehmensinteresse und mit der anderen auf das öffentliche Interesse schaut, ist zu widersprechen.40 Compliance ist eine originäre Vorstandsaufgabe im wohlverstandenen Unternehmensinteresse. Auch für Unternehmen außerhalb des Anwendungsbereichs des § 33 WpHG folgt unter Umständen aus der Leitungsaufgabe des Vorstandes und seiner Gesamtverantwortung zur Achtung der gesetzlichen Vorgaben eine Pflicht zur Einrichtung einer Compliancefunktion aus §§ 76, 93 Abs. 1 AktG.41 Diese Verpflichtung gründet sich also auf dem Unternehmensinteresse; Fleischer spricht gar von einer „Kardinalpflicht“ eines Vorstandsmitglieds, sich bei seiner Amtsführung nicht nur gesetzestreu zu verhalten, sondern auch für Legalitätskontrolle zu sorgen.42 Andere sprechen auch gerne davon, dass Compliance „Chefsache“ sei.43 Dass die Verpflichtung zur Errichtung einer Compliancefunktion im Ergebnis auch die Allgemeinheit und bei Wertpapierdienstleitungsunternehmen obendrein auch noch den Kunden schützt, ist ein Regelungsreflex, 38 Casper, Der Compliancebeauftragte – unternehmensinternes Aktienamt, Unternehmensbeauftragter oder einfacher Angestellter?, FS Karsten Schmidt, 2009, S. 199 ff. 39 Veil, WM 2008, 1093, 1097 f. 40 Ebenso Lösler, WM 2008, 1098, 1103 ff.; im Ergebn. auch Röh, BB 2008, 398, 403. 41 Ausführlich dazu etwa Bachmann (oben Fn. 21), S. 72 ff. 42 Fleischer, CCZ 2008, 1; vgl. ferner dens., Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 7 Rn. 4 ff. sowie Goette, FS 50 Jahre BGB, 2000, 123, 131 ff. 43 U. H. Schneider, ZIP 2003, 645, 647; Lösler, WM 2007, 676, 679 f.; Spindler, WM 2008, 905, 909; ebenso Fleischer, CCZ 2008, 1, 3.
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nicht aber das primäre Ziel. Der Vorstand wird mit anderen Worten durch § 12 Abs. 4 WpDVerOV nur gezwungen, seine Aufgabe zur Überwachung der Einhaltung von gesetzlichen Vorgaben auf eine nachgelagerte Ebene im Unternehmen zu delegieren, da er bei größeren Gesellschaften regelmäßig mit der alleinigen Durchführung dieser Aufgabe überfordert wäre. Die Leitungskompetenz des aktienrechtlichen Vorstandes wird durch die Einrichtung eines Compliancebeauftragten also nicht beschränkt. Die Entscheidung, welche Struktur der Complianceabteilung zu geben ist, bzw. wie mit aufgedeckten Gesetzesverstößen umzugehen ist und die Frage, mit welchen präventiven Maßnahmen Gesetzesverstöße künftig verhindert werden können, unterliegt weiterhin der Leitungsaufgabe des Vorstandes. c) Weisungsgebundenheit gegenüber dem Vorstand, fehlende Unabhängigkeit Anders als z.B. der Datenschutzbeauftragte (§ 4f Abs. 3 BDSG) ist der Compliancebeauftragte gegenüber dem Vorstand weisungsgebunden.44 Weisungen des Vorstandes, die eine Verstrickung einzelner Vorstandsmitglieder vertuschen sollen, sind rechtswidrig und dem Vorstandsvorsitzenden und dem Aufsichtsrat zur Kenntnis zu bringen. Wie sich aus einem Vergleich mit anderen Unternehmensbeauftragten, namentlich dem Datenschutzbeauftragten und dem Betriebsbeauftragten für Immissionsschutz, ergibt, hat der Gesetzgeber in § 12 WpDVerOV auf die Normierung einer Unabhängigkeit verzichtet. Denn anders als bei diesen Vorschriften im BDSG oder im BImSchG fehlt ein ausdrücklicher Hinweis auf die Unabhängigkeit. Vielmehr sind entsprechende Vorschläge zur ausdrücklichen Verankerung einer Unabhängigkeit im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens des Art. 6 MiFID-DurchführungsRL fallen gelassen worden.45 In dem ersten vom European Securities Committee vorgelegten Fassung hieß es noch: „An investment firm shall maintain a permanent, independent and effective compliance function“.46 Gerade an der Verwendung des Begriffs „independent“ wurde wegen einer möglichen Missverständlichkeit im Sinne einer völligen Unabhängigkeit 44 Ausführlicher Begründung bei Casper (oben Fn. 38); differenzierend jetzt Harm (oben Fn. 23) S. 105 ff. 45 Vgl. näher dazu Harm (oben Fn. 23) S. 108 f. 46 Working Document ESC/17/2005 on implementation of Articles 13 and 18 of Directive 2004/39/EC, zitiert nach Harm (oben Fn. 23) S. 109 mit Fn. 375 f.
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Anstoß genommen, so dass die Formulierung fallen gelassen wurde. Für die Annahme einer überschießenden Umsetzung in § 33 Abs. 1 WpHG besteht kein Anlass, da sich der deutsche Gesetzgeber zur 1:1-Umsetzung bekannt hat.47 Die Aufnahme des Begriffs der Unabhängigkeit in die Beschreibung der Compliancefunktion in § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 WpHG spricht ebenfalls nicht zwingend dafür, dass auch der in § 12 Abs. 4 WpDVerOV geregelte Compliancebeauftragte gegenüber dem Vorstand unabhängig ist, da dort der Begriff der Unabhängigkeit gerade nicht erneut aufgegriffen wird. Außerdem ordnet Nr. 4.1. der früheren, norminterpretierenden Compliance-Richtlinie der BaFin,48 die mit Verabschiedung des FRUG ersatzlos entfallen ist, an: „Die Compliance-Stelle ist unmittelbar der Geschäftsleitung verantwortlich und im Übrigen im Rahmen ihrer Aufgabenerfüllung weisungsunabhängig“. Damit sprechen neben dem Wortlaut des § 12 WpDVerOV auch eine historische Auslegung und ein systematischer Vergleich mit anderen Beauftragten gegen eine unabhängige Stellung des Compliancebeauftragten. Der Compliancebeauftragte ist am ehesten mit dem Geldwäschebeauftragten (§ 14 Abs. 2 Nr. 1 GwG) vergleichbar, für den explizit ebenfalls keine Unabhängigkeit angeordnet worden ist. Eine Unabhängigkeit bzw. Weisungsfreiheit des Compliancebeauftragten würde auch im Widerspruch zur weiten aktienrechtlichen Leitungsbefugnis des Vorstandes gemäß § 77 AktG stehen und bedürfte somit zumindest einer ausdrücklichen Legitimation in der WpDVerOV. Andererseits sind vertuschende Weisungen unzulässig, die verhindern sollen, dem Unternehmen unangenehme Gesetzesverstöße aufzudecken.49 Sie sind dem Aufsichtsrat zur Kenntnis zu bringen, damit dieser den Vorstand entsprechend abmahnen kann. Folglich steht dem Compliancebeauftragten auch kein Kündigungsschutz zu, da es an einer § 55 Abs. 2 S. 2 BImSchG bzw. § 4f Abs. 3 S. 3 BDSG vergleichbaren Regelung für Immissionsschutz- bzw. Datenschutzbeauftragte fehlt. Eine außerordentliche oder ordentliche Kündigung, die damit begründet 47 RegE FRUG, BT-Drucks. 16/4028, S. 52 (li. Sp.); im Ergebnis auch Spindler, WM 2008, 905, 910; kritisch dazu Veil, WM 2008, 1093, 1095. 48 RL gem. § 35 Abs. 6 WpHG zur Konkretisierung der Organisationspflichten von Wertpapierdienstleistungsunternehmen gem. § 33 Abs. 1 WpHG v. 25.10.1999, BAnz. Nr. 210 v. 6.11.1999, S. 18453, abgedruckt bei Assmann/ Schneider/Koller, WpHG, Anh. VI zu § 35 WpHG. 49 Details bei Casper (oben Fn. 38).
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wird, dass der Compliancebeauftragte dem Vorstand unangenehme Gesetzesverstöße im Unternehmen aufdeckt, ist freilich unwirksam. d) Folgerungen für die Berichtspflichten, Verhältnis zum Aufsichtsrat Nach § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 WpHG berichtet der Compliancebeauftragte neben dem Vorstand in regelmäßigen Abständen auch dem Aufsichtsrat. Seine Kontrollfunktion zur Einhaltung zwingend gesetzlicher Vorgaben deckt sich nicht mit der viel umfassenderen Kontrollfunktion des Aufsichtsrats. Im konkretisierenden Zugriff obliegt dem Aufsichtsrat nach § 111 AktG auch, im Rahmen seiner allgemeinen Überwachungsaufgabe zu kontrollieren, ob der Vorstand eine wirksame Compliancefunktion geschaffen hat.50 Auch hierzu dient die in § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 WpHG verankerte Berichtspflicht. Diese ist aber grundsätzlich dahin beschränkt, dass der Compliancebeauftragte dem Vorstand und dem Aufsichtsrat berichtet. Der Compliancebeauftragte kann also nicht unmittelbar auf den Aufsichtsrat durchgreifen51 oder gar direkt an die BaFin melden. Die in §§ 10 WpHG, 11 GwG vorgesehenen externen Berichtspflichten sind abschließend.52 Auch für das vereinzelt vorgeschlagene Anzeigerecht bei schwerwiegenden Gesetzesverstößen als einem Ausfluss des Nothilferechts ist kein Raum.53 Damit zeigt sich abermals, dass der Compliancebeauftragte dem Vorstand nachgeordnet ist. Allein für den Fall, dass nicht einzelne Vorstandsmitglieder 50 Ausführlich zum Verhältnis von Complianceabteilung und Aufsichtsrat auch Harm (oben Fn. 23) S. 121 ff. 51 Zu umgekehrten Verhältnis ebenso Spindler, WM 2008, 905, 913 f.; vgl. ferner auch Harm (oben Fn. 23) S.121 ff. 52 Dies anerkennend auch Veil, WM 2008, 1093, 1098. Lediglich für den Strahlenschutzverantwortlichen (§ 32 Abs. 2 S. 2 StrlSchVO) ist eine Meldepflicht an die Aufsichtsbehörde für den Fall anerkannt, dass eine vom Unternehmensbeauftragten angeregte Maßnahme nicht aufgegriffen wird, vgl. dazu etwa Rehbinder, ZGR 1989, 305, 321 f., der insoweit von einem interventionistischen Unternehmensbeauftragten spricht. Ausführlicher zum Ganzen auf Basis der alten Rechts vgl. vor allem Lösler, WM 2007, 676, 677 ff. 53 Ebenso Dreher, FS Claussen, 1997, S. 69, 84 f., 88.; Haouache, Unternehmensbeauftragte und Gesellschaftsrecht der AG und GmbH, 2003, S. 121. Demgegenüber plädiert Harm (oben Fn. 23) S. 146 dafür, dass der Compliancebeauftragte ausnahmsweise die BaFin unterrichten darf, wenn nach der Eskalation für die Zukunft keine Abhilfe geschaffen wird. Zur parallelen Fragen im Kartellordnungswidrigkeitenrecht vgl. Pampel, BB 2007, 1636 ff.
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in Gesetzesverstöße verstrickt sind,54 hat der Compliancebeauftragte das Recht wie die Pflicht, unmittelbar dem Aufsichtsrat zu berichten.55 Aber auch in diesem Durchgriffsrecht kommt kein öffentlicher Charakter seines Amtes zu Ausdruck, sondern vielmehr ein Handeln im wohlverstandenen Unternehmensinteresse. e) Einordnung als Unternehmensbeauftragter? Hat man diese Funktion des Compliancebeauftragten erkannt, fällt die Einordnung in den schillernden Begriff des Unternehmensbeauftragten leichter. Ein gesetzlich klar umrissener Begriff des Unternehmensbeauftragten existiert nicht. Will man den Begriff des Unternehmensbeauftragten nicht zu einer konturlosen Figur degenerieren, so kann man im Anschluss an Vorarbeiten von Rehbinder,56 Haouache57 und Lösler58 drei typusbildende Merkmale für einen Unternehmensbeauftragten aufstellen. Erstens muss eine gesetzliche Anordnung vorliegen, einen Beauftragten zu bestellen, und nicht nur – wie es § 12 Abs. 4 S. 1 WpDVerOV formuliert – zu benennen.59 Zweitens muss das Gesetz dem Unternehmensbeauftragten klar umrissene Kompetenzen zuweisen, die schließlich drittens dem Schutz von Allgemeininteressen dienen, die der unternehmerischen Selbstverantwortung entzogen sind. Nach den bisherigen Überlegungen zeigt sich deutlich, dass dies gerade bei Compliance nicht der Fall ist, da die Verhinderung von Gesetzesverstößen bereits dem wohlverstandenen Unternehmensinteresse und zumindest nicht primär dem öffentlichen Interesse dient.60 Allein die gesetzliche Vorgabe, die 54 In diesem Fall hat der Compliancebeauftragte allein dem Vorstandsvorsitzenden zu berichten, der dann mit dem Aufsichtsrat Rücksprache halten wird, um gegen das gesetzesuntreue Vorstandsmitglied disziplinarisch vorzugehen und dieses ggf. abzuberufen. 55 Ähnlich Harm (oben Fn. 23) S. 136 ff. 56 Rehbinder, ZHR 165 (2001), 1, 8 ff.; ders., ZGR 1989, 305, 314 ff.; vgl. ferner Dreher, FS Claussen, 1997, S. 69 ff. 57 Haouache (oben Fn. 53) S. 24 ff. 58 Lösler, WM 2008, 1098, 1100. 59 Dieses semantische Argument dürfte für sich allein wohl noch nicht genügen, den Compliancebeauftragten aus dem bunten Reigen der Unternehmensbeauftragten zu verbannen. 60 Ausführlichere Begründung bei Casper (oben Fn. 38); aA Harm (oben Fn. 23) S. 67 ff., 86 ff.
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Complianceaufgabe organisatorisch zu verselbständigen, reicht nicht für die Subsumtion unter den Begriff des Unternehmensbeauftragten, sofern man diesen nicht der Beliebigkeit preisgeben will. f) Personalunion mit weiteren Ämtern eines Unternehmensbeauftragten Damit lässt sich auch die Frage nach der Personalunion mit anderen Ämtern beantworten. Da der Compliancebeauftragte allein dem Unternehmensinteresse unterworfen ist und gegenüber dem Vorstand weisungsgebunden ist, kommen nur solche Ämter in Betracht, die seiner Stellung vergleichbar sind. Demgegenüber sind solche Aufgaben, in denen das Gesetz dem Unternehmensbeauftragten eine gewisse Unabhängigkeit zuerkennt, nicht mit der Position eines Compliancebeauftragten vereinbar. Im konkretisierenden Zugriff bedeutet dies, dass der Compliancebeauftragte zugleich Geldwäschebeauftragter sein kann, da auch diesem – wie gezeigt – keine unabhängige Stellung gegenüber dem Vorstand zukommt. Erst recht unproblematisch ist es, wenn der Compliancebeauftragte bzw. seine Mitarbeiter zugleich die Aufgaben einer zentralen Rechtsabteilung mit übernehmen.61 Nicht abschließend ist eine Personalunion mit der Controllingabteilung. Im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung wird man dies unter Rückgriff auf Erwägungsgrund 15 der MiFID-DurchführungsRL nur bei kleinen Unternehmen iSd. § 12 Abs. 5 WpDVerOV zulassen können.62 Demgegenüber kann der Compliancebeauftragte nicht auch zugleich das Amt des Datenschutzbeauftragten übernehmen, da dieses mit einer Unabhängigkeit gegenüber dem Vorstand verbunden ist. Die Kollision mit anderen Ämtern eines Unternehmensbeauftragten wie einem Betriebsbeauftragten für den Strahlenschutz oder einem Emissionsschutzbeauftragten, dürften sich in der Praxis bei Finanzdienstleistungsunternehmen kaum stellen; eine Personalunion wäre aber auch insoweit nicht möglich.
61 Aus betriebswirtschaftlicher Sicht wird sich dies freilich nur in kleineren Unternehmen anbieten. 62 Ebenso Spindler, WM 2008, 905, 912.
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4. Aufgaben und Befugnisse Fragt man nach Aufgaben und Befugnissen des Compliancebeauftragten und seiner Abteilung,63 so lassen sich zwei Ebenen sondieren. Zum einen geht es um die Frage, welche Kompetenzen der Compliancebeauftragte hat, um Gesetzesverstöße aufzuspüren, wobei es zum einen um konkrete Verdachtsund zum anderen um präventive Zufallskontrollen geht (sub a). Weiterhin ist in den Mittelpunkt zu rücken, was der Compliancebeauftragte unternehmen kann, wenn er Gesetzesverstöße aufgedeckt hat (sub b). Die sich zu diesen beiden Aufgaben gesellende Beratungsfunktion kann an dieser Stelle nicht vertieft werden.64 a) Ermittlungsebene Die Frage nach Befugnissen des Compliancebeauftragten steht pars pro toto für das Wirksamkeitserfordernis in § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 WpHG. § 12 Abs. 4 S. 2 WpDVerOV führt zunächst nur sehr allgemein ins Feld, dass der Compliancefunktion die zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Mittel und Kompetenzen zu gewähren sind. Dies wird im letzten Teilsatz immerhin dahingehend konkretisiert, dass die Complianceabteilung Zugang zu allen für ihre Tätigkeit relevanten Informationen erhalten muss. Diese gesetzliche Vorgabe ist dahin zu präzisieren, dass der Compliancefunktion der unmittelbare Zugriff auf Daten anderer Abteilungen sowie auf zentrale Register – wie dem Insiderregister – und Kommunikationsmedien (wie z.B. Reuters, Bloomberg) zu gewährleisten ist.65 Dabei ist entgegen dem Compliance-Leitfaden des BdB66 darauf zu achten, dass der Datenzugriff ohne vorherige Genehmigung durch den jeweiligen Leiter der Fachabteilung erfolgen kann. Dies folgt nicht nur aus dem Wirksamkeitserfordernis, sondern auch aus der Tatsache, dass die Complianceabteilung dem Vorstand unmittelbar nachgela63 Kritisch zur geringen Regelungsdichte Veil, WM 2008, 1093, 1095. 64 Allg. zur Beratungsfunktion der Complianceabteilung vgl. etwa Eisele (oben Fn. 28) § 109 Rn. 161 ff.; Held (oben Fn. 35) Rn. 444; speziell zur Bewältigung von Krisen und als Kommunikationsorgan im Unternehmen vgl. Rodewald/ Unger, BB 2007, 1629 ff. 65 Statt aller Lösler, WM 2008, 1098, 1102. 66 Bundesverband deutscher Banken, Best-Practice-Leitfaden für WertpapierCompliance vom 20. Juni 2008, S. 8, abrufbar unter .
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gert ist67 und aus dessen abgeleitetem Recht handeln darf, im Einzelfall aber auch muss. Soweit der Datenzugriff von der Zustimmung des jeweiligen Abteilungsleiters abhängig gemacht würde, bestände die Gefahr, dass die Daten zunächst gefiltert oder manipuliert würden. Weiterhin hat die Complianceabteilung Auskunfts- und Fragerechte gegenüber den Fachabteilungen. Neben der hier nicht weiter zu vertiefenden Beratungsebene68 bei der Gestaltung neuer Produkte oder Vertriebsmethoden muss die Complianceabteilung repressiv wie präventiv tätig werden. Zum einen obliegt ihr also die Pflicht, bei einem Verdacht konkrete Untersuchungen zur Aufdeckung von Gesetzesverstößen durchzuführen.69 Soweit sie die Daten oder die auf einen Verstoß hindeutenden Tatsachen nicht selbst auswerten kann, ist sie berechtigt, zur Aufklärung externe Sachverständige wie Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Techniker oder Juristen heranzuziehen.70 Diese Dritten bekommen jedoch keine eigenen Befugnisse, sondern werden nur für die Complianceabteilung tätig, da ein Outsourcing der Compliance nicht mit den Vorgaben des WpHG vereinbar ist.71 In den Bereich der repressiven Tätigkeit fällt zum anderen aber auch die Verpflichtung, Stichproben nach dem Zufallsprinzip durchzuführen. Im Bereich der präventiven Tätigkeit ist neben der Beratung zur Ausgestaltung gesetzeskonformer Produkte, man denke etwa an den Bereich des kaum noch überschaubaren Zertifikatemarkts, vor allem auch die Pflicht zur Etablierung von Maßnahmen zu denken, die dazu beitragen, künftige Gesetzesverstöße zu vermeiden. b) Eskalation nach der Aufdeckung von Gesetzesverstößen, Weisungsrechte Hat die Complianceabteilung Verstöße gegen Gesetz oder gegen die Satzung aufgedeckt, so stellt sich die Frage, wie sie hiermit umzugehen hat. Zur Debatte stehen eine umfassende Verfolgungspflicht als Ausprägung eines strengen Legalitätsprinzips auf der einen Seite und ein die Einzelfallumstände
67 Vgl. oben III. 1. a). 68 Vgl. bereits Fn. 64. 69 Ausführlicher hierzu z.B. Eisele (oben Fn. 28) Rn. 166 ff.; vgl. ferner etwa Spindler, WM 2008, 905, 911. 70 So im Ergebnis auch Spindler, WM 2008, 905, 911 f. 71 Zu großzügig Spindler, WM 2008, 905, 912 f.
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abwägendes Opportunitätsprinzip auf der anderen Seite.72 Weiterhin ist die Frage zu stellen, wem gegenüber die Complianceabteilung aufgedeckte Gesetzesverstöße anzuzeigen hat. Hinsichtlich des vermeintlichen Gegensatzes zwischen dem Legalitätsund dem Opportunitätsprinzip soll hier eine differenzierende Sichtweise vorgeschlagen werden. Auch wenn aus der Leitungspflicht des Vorstandes und seiner Verantwortlichkeit gemäß § 93 AktG sowie aus § 130 OWiG im Einzelfall bei jedem Unternehmen eine Pflicht zur Einrichtung einer Complianceabteilung folgt,73 zeigt dies doch andererseits, dass jenseits von Spezialvorschriften kein unbegrenztes Legalitätsprinzip existiert. Bewegt man sich hingegen im Anwendungsbereich des § 33 WpHG, so streitet dessen gesetzliche Wertung und das dort verankerte Wirksamkeitsgebot74 für ein unbegrenztes Legalitätsprinzip. Insoweit muss es mit dem Opportunitätsprinzip auf der strafrechtlichen Ebene bzw. im Bereich der Ordnungswidrigkeiten sein Bewenden haben. Damit sind wir bei der Frage angelangt, gegenüber wem die Complianceabteilung bei Aufdeckung von Gesetzesvorstößen berichtspflichtig ist. Theoretisch stehen drei Modelle zur Auswahl. Denkbar wäre, dass ein Gesetzesverstoß stante pedes der Aufsichtsbehörde, also der BaFin bzw. den Strafverfolgungsbehörden zu melden ist. Weiterhin erscheint es vertretbar, dass die Complianceabteilung unmittelbar dem Vorstand von entdeckten Unzulänglichkeiten Bericht erstatten muss. Die mildeste Auslegungsvariante beinhaltet schließlich die Ansicht, dass der Compliancebeauftragte über die jeweilige Hierarchieebene im Unternehmen eskalieren muss.75 Nur die zuletzt genannte Auffassung kann überzeugen. Dass jenseits der §§ 10 WpHG, 11 GwG keine allgemeine Pflicht besteht, Gesetzesverstöße nach außen zu denunzieren, wurde bereits oben im Zusammenhang mit der Rechtsstellung des Compliancebeauftragten gezeigt.76 Aber auch eine sofor72 Vgl. ausführlich dazu Bachmann (oben Fn. 21) S. 76 ff. 73 Dafür vor allem U. H. Schneider, ZIP 2003, 645 ff.; grds. auch Bachmann (oben Fn. 21) S. 68 ff.: Fleischer, CCZ 2008, 1 f.; aA Hauschka, Corporate Compliance, 2007, § 1 Rn. 23. 74 Vgl. oben II. 1. a). 75 Dafür vor allem auch Lösler, WM 2008, 1098, 1104; ders., WM 2007, 677, 679; Eisele (oben Fn. 28) § 109 Rn. 105. 76 Vgl. oben II. 3. d).
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tige Anzeige beim Vorstand ist – gerade bei größeren Unternehmen – nicht veranlasst. Es lässt sich also keine Pauschallösung entwickeln, sondern der Praxis nur folgende Handreichung mit auf den Weg geben. Je nach Größe des Unternehmens und der Schwere des Verstoßes, hat der Compliancebeauftragte das interne Berichtssystem in Gang zu setzen, damit für die Zukunft Abhilfe geschaffen wird und im konkreten Fall gegebenenfalls interne disziplinarrechtliche Maßnahmen ergriffen werden. Die Complianceabteilung hat es aber nicht bei der einmaligen Mitteilung zu belassen, sondern muss vielmehr überprüfen, ob auch entsprechende, wirksame Maßnahmen ergriffen werden. Dies ergibt sich unmittelbar aus § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 WpHG, der verlangt, dass die Compliancefunktion prüfen muss, „ob zur Behebung von Verstößen … geeignete Maßnahmen ergriffen werden“. Ist dies nicht der Fall, so muss der Compliancebeauftragte den Sachverhalt bis zur nächsten Führungsebene eskalieren. Eine sofortige Meldung an den Vorstand wäre nicht nur unverhältnismäßig und in großen Unternehmen auch kaum praktikabel, sondern ist auch rechtlich nicht veranlasst. Schließlich ist die Compliancefunktion eine besondere Stabsabteilung des Vorstandes, auf den dieser seine Verantwortung für Compliance teilweise delegiert hat, damit es zu einer Selbstreinigung im Unternehmen kommt. Ob bei schwerwiegenden Gesetzesverstößen eine Anzeige gegenüber den Strafverfolgungsbehörden zu erfolgen hat, ist vom Vorstand zu entscheiden, sofern der diese Entscheidungsbefugnis nicht auf nachgelagerte Führungsebenen delegiert hat. Während die Eskalationspflicht also in erster Line die repressive Funktion der Complianceabteilung verdeutlicht, stellt sich auf der präventiven Seite die Frage, ob der Compliancebeauftragte gegenüber den Fachabteilungen dahingehend weisungsbefugt ist, wie diese mit der Abstellung bzw. Vermeidung von Gesetzesverstößen in Zukunft umzugehen haben.77 Demgegenüber könnte § 12 Abs. 4 S. 2 WpDVerOV auf den ersten Blick für ein Weisungsrecht streiten, wenn er formuliert, dass die Compliancefunktion auch die zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Kompetenzen haben muss. Hiergegen spricht jedoch eine systematische Auslegung des § 12 Abs. 3 WpDVerOV, der lediglich anordnet, dass die Complianceabteilung die zur Behebung von Missständen getroffenen Maßnahmen überwachen muss, nicht aber selbst vornehmen kann. Begreift man Compliance in erster Linie als Mechanismus 77 Dafür etwa Veil, WM 2008, 1093, 1098.
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zur Auslösung von Selbstheilungskräften im Unternehmen, hat es auch insoweit zunächst mit einer Eskalationspflicht bei Untätigkeit der jeweiligen Fachabteilung sein Bewenden. Indes ist es dem Vorstand nicht nur möglich, sondern in der Praxis zumindest bei gravierenden Verstößen durchaus auch anzuraten, sein Weisungsrecht hinsichtlich der organisatorischen Vorkehrungen für ein sauberes Unternehmen im Einzelfall auf die Complianceabteilung zu delegieren, so dass diese dann aus abgeleitetem Recht fachliche Weisungen erteilen kann. Damit der Vorstand nicht in jedem Einzelfall eingeschaltet werden muss, ist es weiterhin denkbar und empfehlenswert, diese Delegation der Geschäftsführungsbefugnis antizipiert im Vorwege vorzunehmen. Entsprechendes gilt mutatis mutandis für das Untersagungsrecht einzelner, gefahrenträchtiger Transaktionen. Ohne ein derartiges Weisungsund Untersagungsrecht bleibt es hingegen bei der Eskalationspflicht. Hiervon scheint auch der Complianceleitfaden des BdB auszugehen, wenn er formuliert, dass die Complianceabteilung den Geschäftsbereichen nur Maßnahmen zur Beseitigung von Defiziten vorschlägt und nur – soweit erforderlich – die Geschäftsleitung über Defizite informiert.78 5. Folgt aus § 33 Abs. 1 die Pflicht, ein anonymes Whistle-Blowing-System einzurichten? Wenig bis gar nicht ist die Frage diskutiert, ob aus dem in § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 WpHG verankerten Wirksamkeitserfordernis auch eine Pflicht und nicht nur die – unstreitig bestehende – Befugnis zur Einrichtung eines anonymen Whistle-Blowing-Systems folgt, wie es in sec. 802 i.V.m. sec. 301 Sarbanes-Oxley-Act 200279 in den USA zumindest für den Bereich der Rechnungslegung im Ansatz verwirklicht ist. Unter Whistle-Blowing versteht man die Möglichkeit der Mitarbeiter, bei einer zentralen Stelle im Betrieb Gesetzesverstöße von Kollegen oder gerade auch von Vorgesetzten anzuzeigen, ohne dass die Identität des Anzeigers dem Verdächtigten offen gelegt wird. Der Vorteil eines anonymen Whistle-Blowing-Systems besteht in der größeren Bereitschaft des gesetzestreuen Angestellten, Gesetzesverstöße aufzudecken, da er keine Repressalien seiner Vorgesetzten bzw. die sprichwörtliche Klassenkeile seiner Kollegen befürchten muss. Die Nachteile sind ande78 BdB (oben Fn. 66) S. 11. 79 Verfügbar unter .
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rerseits ebenfalls mit Händen zu greifen. Ein anonymes System leistet dem Denunziantentum Vorschub.80 Der Beschuldigte kann sich oftmals nicht sinnvoll verteidigen, sofern er nicht die weiß, von wem und aufgrund welcher konkreten Vorfälle die Vorwürfe erhoben werden. Würden andererseits alle Umstände offen gelegt, ließe sich der Anzeiger in aller Regel, gerade in kleineren Einheiten, leicht enttarnen. Für die Frage, ob § 33 WpHG eine Pflicht zur Einrichtung eines anonymen Whistle-Blowing-Systems beinhaltet, sind dessen Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Dabei wird man den Schutz des Verdächtigten und dessen Anspruch auf rechtliches Gehör in der Regel höher zu bewerten haben als einen möglichen, empirisch noch nicht nachgewiesenen, Effizienzgewinn aus einem anonymisierten Petitionssystem. Das in § 612a BGB derzeit enthaltene Maßregelungsverbot sowie die Pflicht zur Einrichtung einer Complianceabteilung dürften einstweilen genügen. Für einen generellen Zwang zum Aufbau eines derartigen Systems besteht deshalb kein Anlass. Vorläufig sollte es mit zwei milderen Mitteln sein Bewenden haben. Nur soweit die Complianceabteilung im Einzelfall den Verdacht hegt, dass in einer Abteilung systematisch gegen gesetzliche Vorgaben verstoßen worden ist und eine Aufklärung ohne ein anonymes Whistle-Blowing-System nicht möglich erscheint, ist sie zu einer temporären Einrichtung verpflichtet. Darüber hinaus steht es im pflichtgemäßen Ermessen, der Complianceabteilung, ob sie bei ihr unter Verletzung des Dienstweges eingehende Anzeigen zumindest temporär vertraulich behandelt, soweit ihr dies im Einzelfall erforderlich scheint. Gegen eine generelle Verpflichtung zur Einrichtung eines anonymen Whistle-Blowing-Systems spricht auch die geplante Neufassung des § 612a BGB.81 Die Neuregelung soll in Reaktion auf die „Gammelfleischskandale“ anordnen, dass ein Arbeitnehmer, der auf Grund konkreter Anhaltspunkte der Auffassung ist, dass in seinem Betrieb gesetzliche Pflich80 Prägnant dazu Deiseroth/Derleder, Whistleblower und Denunziatoren, ZRP 2008, 248, 250 mit einer insgesamt differenzierten Beurteilung. Zu arbeits- und datenschutzrechtlichen Grenzen vgl. auch Mengel/Hagemeister, BB 2007, 1386, 1389. 81 Gemeinsamer Vorschlag zur Regelung des Informantenschutzes für Arbeitnehmer im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Änderung des Lebensmittel- u. Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften des BMAS, BMELV und des BMJ v. 30.4.2008 sowie die dazu erfolgte Anhörung im Deutschen Bundestag am 4.6.2008.
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ten verletzt werden, sich an den Arbeitgeber oder eine zur innerbetrieblichen Klärung zuständige Stelle wenden und Abhilfe verlangen kann. Soweit der Arbeitgeber dem Verlangen nach Abhilfe nicht nachkommt, hat der Arbeitnehmer das Recht, sich an eine zuständige außerbetriebliche Stelle zu wenden (§ 612a Abs. 1 S. 1 + 2 BGB-E).82 Auch dieses innerbetriebliche Petitionsrecht soll nicht zwingend, sondern nur fakultativ gelten. Die insoweit vorgesehene Eskalationsbefugnis des Arbeitnehmers gegenüber einer außerbetrieblichen Stelle für den Fall, dass der Arbeitgeber keine Abhilfe schafft, passt nicht zu dem auf die Aktivierung der internen Selbstheilungskräfte setzenden § 33 WpHG. Sollte dieser Vorschlag zur Novellierung des § 612a BGB in absehbarer Zeit Gesetz werden, könnten sich in Extremfällen, wenn auch die Complianceabteilung versagt, auch Mitarbeiter von Wertpapierdienstleistungsunternehmen an die BaFin wenden. Die nach § 612a Abs. 1 S. 1 BGB-E vorgesehene interne Stelle wäre dann sinnvollerweise die Complianceabteilung. 6. Rechtsfolgen von Verstößen gegen die Pflichten aus § 33 Abs. 1 WpHG a) Haftung des Vorstands Vorbehaltlich der allgemeinen Vorschrift in § 130 OWiG stellt ein Verstoß gegen die Vorgaben des § 33 WpHG zur Errichtung eines wirkungsvollen Compliancesystems keine Ordnungswidrigkeit dar. Auf eine entsprechende Anpassung des § 39 WpHG wurde entgegen anders lautender Vorschläge im RefE zum Finanzmarktrichtlinie-Umsetzungsgesetz (FRUG)83 letztlich verzichtet. Es hat also mit der allgemeinen Aufsichts- und Anordnungsbefugnis der BaFin nach § 4 Abs. 1 S. 1 WpHG sein Bewenden. Die zivilrechtlichen Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 33 WpHG sollen an dieser Stelle aus Raumgründen nur angedeutet werden. Auch wenn die Einrichtung einer Compliancefunktion mittelbar dem Schutz der Inte82 Vgl. dazu näher etwa Grimm/Windeln, „Whistleblowing“ – Zum Vorschlag für eine gesetzliche Regelung des Informantenschutzes für Arbeitnehmer, ArbRB 2009, 21 ff.; Deiseroth/Derleder, ZRP 2008, 248, 251. 83 RefE FRUG vom 14.09.2006, S. 45, verfügbar unter .
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ressen des Kunden dient, begründet § 33 WpHG keinen Individualschutz, er dient allein dem kapitalmarktrechtlichen Funktionenschutz.84 Er ist mit anderen Worten kein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, da der vermittelte Kundenschutz nur ein Regelungsreflex ist.85 § 33 WpHG zielt wie gezeigt primär auf die Selbstheilungskräfte im Finanzdienstleistungsunternehmen. Von dieser Außenhaftung ist die Binnenhaftung des Vorstandes zu sondern, wenn dieser keine Compliancefunktion einrichtet oder diese mangelhaft ausstattet bzw. die Compliancepolitik und -grundsätze im Unternehmen fehlerhaft ausgestaltet. Führt dies dazu, dass Gesetzesverstöße nicht verhindert oder nicht rechtzeitig aufgedeckt werden und dem Unternehmen daraus ein Schaden entsteht, kommt eine Binnenhaftung in Betracht. Da die Complianceaufgabe bereits weiter oben86 als Ausfluss der Leitungsaufgabe des Vorstandes qualifiziert worden ist, lässt sich ein derartiges Verhalten zwanglos unter die Vorstandshaftung nach § 93 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 AktG subsumieren. Diese hat zur Folge, dass der Vorstand nur unter den seltenen Voraussetzungen des § 93 Abs. 5 AktG auch nach außen gegenüber den Gläubigern der Gesellschaft haftet. Weniger Aufmerksamkeit ist bisher der Frage zugewendet worden, ob sich der Vorstand auch auf die Business Jugdement Rule in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG berufen kann, wenn sich die Strukturentscheidung bei der konkreten Ausgestaltung der Compliancefunktion ex post als falsch herausgestellt hat.87 Diese Frage wird man zu bejahen haben, wenn man mit der hier vertretenen Auffassung die Pflicht zur Errichtung einer Complianceabteilung bereits der allgemeinen Leitungspflicht des
84 Zu § 33 Abs. 1 a.F. WpHG vgl. nur BGHZ 147, 343, 352 f.; Hopt, ZHR 159 (1995), 135, 161; KK-WpHG/Meyer/Paetzel, 2007, § 33 Rn. 120; Assmann/ Schneider/Koller (oben Fn. 48) § 33 Rn. 1; KMRK/Schwark, 3. Aufl. 2004, § 33 Rn. 4; aA allein Ebenroth/Boujong/Grundmann, HGB Bd. 2, 2001, Bankrecht VI Rn. 266. 85 Vgl. die vorstehend Genannten, explizit zu § 33 nF. WpHG ebenso KK-WpHG/ Meyer/Paetzel, § 33 Rn. 121; Kumpan/Hellgardt DB 2006, 1714, 1716. 86 Vgl. oben III 3b. 87 Davon abzugrenzen ist die Frage, ob ein „nützlicher“ Gesetzesverstoß von § 93 Abs. 2 S. 2 gedeckt ist; dies zu Recht verneinend Sieg/Zeidler, in: Hauschka, Corporate Governance, § 3 Rn. 18; Ihrig, WM 2004, 2098, 2104; Hauschka in diesem Band S. 103 ff.
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Vorstandes zuordnet.88 Bei der konkreten Ausgestaltung der Compliancefunktion handelt es sich um eine unternehmerische Entscheidung. Bedenken könnte man nur insoweit hegen, als die Umsetzung einer gesetzlichen Verpflichtung nicht von dem durch § 93 Abs. 1 S. 2 AktG geschützten unternehmerischen Ermessen umfasst sein kann. Aber auch dieser Einwand verkennt, dass § 33 Abs. 1 WpHG nur das Ob der Einrichtung einer Compliancefunktion der Dispositionsbefugnis des Vorstandes entzieht, nicht aber das Wie der konkreten Ausgestaltung der Compliancepolitik im Unternehmen. Insoweit verbleibt es trotz der gesetzlichen Vorgabe bei einer unternehmerischen Entscheidung. Selbstredend wird erst recht nicht die Frage, ob eventuellen Verstößen gegen das Gesetz im Unternehmen nachgespürt werden muss, von der Haftungsprivilegierung in § 93 Abs. 1. S. 2 AktG erfasst. Ebenso wenig wird das bloße Errichten einer Complianceabteilung dem Regelungsauftrag genügen, eine wirksame Compliancefunktion zu schaffen.89 Die Frage, inwieweit sich der Vorstand hinsichtlich konkreter Gesetzesverstöße im Unternehmen mit Hinweis auf die Einrichtung einer an sich tauglichen Complianceabteilung exkulpieren kann, soll an dieser Stelle aus Raumgründen nicht vertieft werden.90 b) Haftung des Compliancebeauftragten Damit bleibt abschließend die Frage zu beantworten, nach welchen Vorschriften der Compliancebeauftragte bei einer mangelhaften Amtsführung haftet und ob er sich ebenfalls auf die Segnungen der Business Judgement Rule in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG berufen kann. Dieser gelegentlich, insbesondere von meinem Vorredner gemachte Vorschlag,91 ist aus zwei Gründen zu verwerfen. Zum einen ist der Compliancebeauftragte, wie gezeigt92, kein Organ, sodass § 93 AktG auf ihn bereits prima vista nicht anwendbar ist. Vielmehr haftet er wie jeder einfache Angestellte auch aus der Verletzung des mit ihm geschlossenen Dienstvertrages gegenüber seinem Arbeitgeber
88 Spindler, WM 2008, 909, 915; Bürkle, BB 2007, 1797, 1798 f.; in diesem Sinne wohl auch Fleischer, CCZ 2008, 1, 3. 89 Spindler, WM 2008, 905, 915. 90 Vgl. dazu ausführlich Harm (oben Fn. 23) S. 148 ff. 91 Vgl. Hauschka in diesem Band S. 103 ff. 92 Vgl. oben II 3a mit Fn. 37.
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sowie unter Umständen aus Delikt.93 Eine (analoge) Anwendung des § 93 Abs. 1 S. 2 ist aber auch sachlich nicht veranlasst. Anders als der Vorstand bei Ausgestaltung der Compliancefunktion und -politik nimmt der Compliancebeauftragte keine unternehmerischen Entscheidungen, sondern, wie jeder andere Angestellte auch, die ihm vom Vorstand übertragenen Aufgaben wahr. Damit droht nicht die Lähmung unternehmerischer Initiative, die § 93 Abs. 1 S. 2 AktG vor Augen hat. Eventuellen Überforderungen bei der Aufdeckung oder Verhinderung von Gesetzesverstößen ist auf der Ebene des Verschuldens nach § 280 BGB Rechnung zu tragen.
III. Interessenkonflikte (§ 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 WpHG, § 13 WpDVerOV) 1. Der normative Dreiklang in § 13 WpDVerOV, Fragestellungen Die Vermeidung von Interessenkonflikten ist in jüngerer Zeit zu einem zentralen Anliegen des Kapitalmarktrechts geworden.94 Diese Diskussion kann hier nicht nachgezeichnet werden. Vielmehr beschränkt sich der nachfolgende Überblick auf einige ausgewählten Aspekte der Frage, wie Compliance als Organisationsrecht dazu beitragen kann, Interessenkonflikte zu vermeiden. Dazu normiert § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 WpHG iVm § 13 WpDVerOV einen gesetzlichen Dreiklang, der sich an Art. 21 bis 23 der MiFiD Durchführungsrichtlinie orientiert und materielle wie formelle Anforderung an die Compliance aufstellt. Erstens fordert § 13 Abs. 1 WpDVerOV, dass Mechanismen geschaffen werden, die helfen, Interessenkonflikte zu erkennen. Diese sog. need to know-Prinzip95 erfordert ein Monitoringsystem. Zweitens muss ein Interessenkonfliktmanagement aufgebaut werden, dass anhand von vorab erstellten Grundsätzen zum Umgang mit Interessenkonflikten (der sog. Con93 Zutreffend und mit ausführlicher Begründung ebenso Harm (oben Fn. 23) S. 160 ff. 94 Vgl. nur Kumpan/Leyens, ECFR (European Company and Financial Law Review) 5 (2008), 72 ff.; informativer Überblick aus dem deutschsprachigen Schrifttum auch bei Göres, in: Böhlen/Kann, MiFID-Konpendium, 2008, S. 301 ff., Marbeiter, in: Brinkmann/Hauswald et all (Hrsg.), Compliance – Konsequenzen aus der MiFID, 2007, Rn. 65 ff., beide jew. auch zur Neuregelung durch das FRUG. 95 Eisele (oben Fn. 28) § 109 Rn 141; Göres (oben Fn. 94), S. 301, 312 f.
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flicts of Interest Policy) der Bewältigung von erkannten potentiellen oder konkreten Interessenkonflikte dient (§ 13 Abs. 2 WpDVerOV).96 Soweit auch dieses Management zur Bewältigung von Interessenkonflikten nicht dazu beitragen kann, dass im Einzelfall gleichwohl ein Interessenkonflikt auftritt, ist dieser nach § 13 Abs. 4 WpDVerOV dem Kunden offen zulegen. Damit wird deutlich, dass die früher teilweise vorherrschende Vorstellung, Interessenkonflikte seien durch schlichte Offenlegung zu bewältigen,97 nicht mehr genügt. Vielmehr liegt der Schwerpunkt gerade im Bereich der Compliance, die zu überwachen und sicherzustellen hat, dass es gar nicht erst zu Interessenkonflikten kommt. Diese Vorgabe zum Aufbau eines Interessenkonfliktmanagement wird in § 13 Abs. 3 WpDVerOV konkretisiert. Diese Vorschrift beinhaltet zunächst in Satz 1 die Verpflichtung zur Unabhängigkeit des Mitarbeiters, der Kundenaufträge wahrnimmt und bei dem somit Interessenkonflikte auftreten können. Zur Präzisierung stellt § 13 Abs. 3 S. 2 WpDVerOV sodann fünf Regelbeispiele auf, die zur Gewährleistung der erforderlichen Unabhängigkeit typischerweise erforderlich sind. Diese enthalten gegenüber den bis November 2007 geltenden Compliancegrundsätzen der BaFin98 Neues wie Altbekanntes. Zwei dieser fünf Regelbeispiele seien im Folgenden kurz thematisiert. Für erheblichen Zündstoff und Neuerungen hat das in § 13 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 und S. 3 WpDVerOV statuierte Gebot der unabhängigen Vergütung gesorgt (dazu sogleich sub 2.). Eher Altbewährtes enthält die Verpflichtung in § 13 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 WpDVerOV, Vertraulichkeitsbereiche (Chinese Walls) zu schaffen (dazu sodann sub 3.). 2. Unabhängige Vergütung Für Wirbel hat das Gebot der unabhängigen Vergütung in § 13 Abs. 3 WpDVerOV gesorgt,99 wonach nicht nur die Unabhängigkeit der Entlohnung des Vertriebsmitarbeiters von der Vergütung anderer Mitarbeiter (§ 13 Abs. 3 96 Dazu ausführlich und überzeugend Göres (oben Fn. 94), S. 301, 312 ff. 97 Zur Rechtslage vor dem Inkrafttreten des FRUG vgl. statt aller KMRK/Schwark (oben Fn. 84) § 33 Rn. 10 ff. 98 RL gem. § 35 Abs. 6 WpHG zur Konkretisierung der Organisationspflichten von Wertpapierdienstleistungsunternehmen gem. § 33 Abs. 1 WpHG v. 25.10.1999, BAnz. Nr. 210 v. 6.11.1999, S. 18453, abgedruckt bei Assmann/ Schneider/Koller, WpHG, Anh. VI zu § 35 WpHG. 99 Vgl. etwa Röh, BB 2008, 398, 405 ff.
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S. 2 Nr. 2 WpDVerOV) gefordert ist, sondern auch Absatzprovisionen verboten sein könnten, die den Mitarbeiter dazu verleiten, (hauseigene) Produkte ohne Rücksicht auf das individuelle Interesse des jeweiligen Kunden anzubieten. Das könnte sich vor allem aus der Auffangregelung in § 13 Abs. 3 S. 3 WpDVerOV ergeben.100 Gemeint sind also nicht die klassischen Kick-Backs, die der Bundesgerichtshof beanstandet hat101 und die nunmehr durch § 31d WpHG im Grundsatz verboten sind. Soweit es nicht ausnahmsweise um Kick-Backs von Dritten geht, die direkt an die Mitarbeiter fließen, liegt das eigentliche Problem also auf der Ebene interner Vergütungssysteme, die mit leistungsbezogenen Vergütungsmechanismen nur oder vor allem den Absatz gerade der eigenen Produkte befördern sollen. Exemplarisch wurde schon der sudden death der tradierten und tarifvertraglich verankerten Sparkassensonderzahlungen problematisiert.102 Es ist meines Erachtens aber kein pauschales Verbot von internen leistungsorientierten Vergütungssystemen für hauseigene oder konzerneigene Produkte veranlasst.103 Die Auffangregelung in § 13 Abs. 3 S. 3 WpDVerOV nimmt ihrem Wortlaut nach nur auf die in Satz 2 ausdrücklich genannten Regelbeispiele Bezug. § 13 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 WpDVerOV hat vor allem die Koppelung an die Vergütung anderer Mitarbeiter vor Augen. Andererseits ist es nicht zweifelsfrei, ob man bei dieser engen Auslegung stehen bleiben kann. Soweit man jegliche absatzorientierten Vergütungssysteme für eigene Produkte erfassen will, wird man jedoch unter Rückgriff auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kein pauschales Verbot aller Absatzprovisionen ableiten können. Vielmehr wird man in erster Linie fordern müssen, dass der Mitarbeiter zugleich dazu verpflichtet wird, primär das Kundeninteresse zu wahren, wozu dieser nach § 31 WpHG ohnehin schon verpflichtet ist. Eine Absatzprovision ist mit anderen Worten nur dann zulässig, wenn der Kunde aus vergleichbaren, gleichgut geeigneten Produkten das hauseigene angeboten bekommt bzw. dieses aufgrund eines Alleinstellungsmerkmals seinen Bedürfnissen am besten entspricht. Diese Erfordernisse sind allerdings in den Grundsätzen für ein Interessenkonfliktmanagement besonders zu adressieren. Weiterhin ist ihre Einhaltung durch 100 So wohl Röh, BB 2008, 398, 406. 101 BGHZ 170, 226, 233 ff., vgl. dazu nur die besonders lesenswerten Beiträge von Assmann, ZBB 2008, 21 ff. und Mülbert ZHR 172 (2008), 170, 186 ff. 102 Dazu etwa Röh, BB 2008, 398, 406. 103 Im Ergebnis ebenso Göres (oben Fn. 94), S. 301, 313.
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die Complianceabteilung ex post gesondert zu überwachen. Was die Eignung des jeweiligen Produkts für die konkrete Risikostruktur des einzelnen Kunden anbelangt, wird man auf die im, nach § 31 Abs. 5 WpHG erforderlichen, Erhebungsbogen gemachten Angaben zurückgreifen können. 3. Vertraulichkeitsbereiche (Chinese Walls) Die in § 13 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 WpDVerOV als Regelbeispiel geforderte Einrichtung von Vertraulichkeitsbereichen bringt materiell wenig Neuerungen gegenüber den in der bisherigen Compliancerichtlinie der BaFin niedergelegten Grundsätzen.104 Sofern man statt des Begriffs Vertraulichkeitsbereich den im Szenejargon weiterhin verbreiteten Terminus „Chinese Walls“ verwendet, dem allerdings in den USA „linguistic discrimination“ vorgeworfen wird,105 kann man insoweit frei nach Erich Maria Remarque vermelden: „Im Osten nichts Neues“.106 Aus Sicht einer effizienten Compliancefunktion sind neben organisatorischen Vorkehrungen zur Trennung vor allem auch Verfahren für ein im betrieblichen Einzelfall unvermeidliche gleichwohl notwendige Kommunikation über die Vertraulichkeitsbereiche hinweg zu schaffen, also ein sog. Wallcrossing unter engen Voraussetzungen zu gestatten. Die Compliancegrundsätze haben also Rechtsregeln für einen Checkpoint Charlie zwischen Eigen- und Kundenhandel aufzustellen, dabei kann die Complianceabteilung auch unmittelbar als Grenzübergangsstelle für den unverzichtbaren bereichsübergreifenden Informationsfluss eingebunden werden.107
IV. Besonderheiten einer konzernweiten Compliance Die meisten Finanzdienstleistungsunternehmen sind heute in Konzernbeziehungen eingebunden. Damit ist die Frage nach den Besonderheiten bei einer 104 Vgl. dazu etwa Eisele (oben Fn. 28) § 109 Rn. 135 ff.; KMRK/Schwark (oben Fn. 84) § 33 Rn. 14 ff.; KK-WpHG/Meyer/Paetzel, 2007, § 33 Rn. 69 ff. 105 Peat, Marwick, Mitchell v. Superior Court, 200 Cal. App. 3d 272, 293 f = Cal.Rptr. 873, 887-888 (1988). 106 Überblick aus Sicht der Praxis zum neuen Recht bei Marbeiter (oben Fn. 94) Rn. 73 ff. 107 Weitere Details hierzu bei Schlicht, BKR 2006, 469, 472.
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konzernweiten Compliance aufgeworfen, die zahlreiche offene Fragen aufwirft. Zum einen stellt sich die Frage, ob das herrschende Unternehmen verpflichtet ist, für eine konzernweit tätige Compliancefunktion Sorge zu tragen. Soweit dies zu bejahen ist, gilt es zu klären, ob das abhängige Unternehmen von der Pflicht zur Einrichtung einer Complianceabteilung nach § 33 WpHG befreit ist (dazu sub 1.). Neben diesen eher organisationsrechtlichen Fragestellungen, sind konzernrechtliche Grenzen für ein konzernweites Compliancesystem auf das Tapet zu bringen. Dabei geht es insbesondere um die Zulässigkeit möglicherweise nachteiliger Weisungen durch die Groupcompliance der Mutter (sub 2.). 1. Pflicht zur Einrichtung einer konzernweiten Compliancefunktion? Adressat der in § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 WpHG statuierten Pflicht ist allein das jeweilige Wertpapierdienstleistungsunternehmen. Die Erstreckung auf nachgelagerte Tochtergesellschaften ist im WpHG nicht geregelt. Dafür könnte vor allem § 25a Abs. 1a KWG sprechen, der von § 33 Abs. 1 S. 1 WpHG jedoch ausdrücklich nicht in Bezug genommen wird.108 Einen weiteren Fingerzeig in Richtung konzerneinheitlicher Compliance scheint Nr. 4.1.3. des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) zu geben.109 Danach hat der Vorstand einer börsennotierten AG für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen im eigenen Unternehmen zu sorgen und zugleich auf die Beachtung durch die Konzernunternehmen hinzuwirken. Allerdings beinhaltet diese Regelung bekannter Weise keine Bindungswirkung, wie sich aus § 161 AktG ergibt. Gleichwohl ist eine Pflicht zur Errichtung einer konzernweiten Compliancefunktion (Groupcompliance) in den durch das Konzernrecht vorgegebenen Grenzen zu bejahen. Hierfür streitet die sog. Konzernleitungspflicht. Dafür bedarf es jedoch nicht einer Stellungnahme zu dem tradierten und in den 1980er Jahren begründeten Streit um eine Konzernleitungspflicht im Interesse der beherrschten Gesellschaft.110 Vielmehr resultiert 108 Spindler, WM 2008, 905, 917. 109 Ausführlich zu Nr. 4.1.3. DGCK siehe vor allem Kort, NZG 2008, 81, 83 ff. 110 Vgl. dazu grundlegend weiterhin Hommelhoff, Konzernleitungspflicht, 1982, S. 43 ff., 165 ff., 184 ff.; aus heutiger Sicht zusammenfassend etwa Emmerich/ Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 5. Aufl. 2008, § 311 Rn. 11; Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 76 Rn. 77; Spindler, WM 2008, 905, 915.
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die Pflicht zur Errichtung einer konzerneinheitlichen Compliancefunktion aus dem Eigeninteresse des herrschenden Unternehmens (§§ 76, 93 Abs. 1 AktG).111 Die Begründung ist also im Interesse der herrschenden Gesellschaft, vor Schäden durch gesetzesuntreues Verhalten in den konzernverbundenen Unternehmen geschützt zu werden, zu suchen.112 Ein Ansatz für ein konzernweites Risikokontrollmanagement ergibt sich auch aus § 91 Abs. 2 AktG. Auch wenn diese Vorschrift nicht unmittelbar ein Compliancesystem vor Augen hatte, spricht die Wertung dieser Vorschrift doch für eine konzernweite Pflicht zur Etablierung eines Systems, das Gesetzesverstöße verhindern hilft. Das Weisungsrecht aus § 308 AktG kann sich im Einzellfall zu einer Weisungspflicht verdichten.113 Weisungsrechte bestehen jedoch nur in den Grenzen der §§ 308, 311 ff. AktG, weshalb bei den sogleich unter b) darzustellenden Grenzen einer konzerneinheitlichen Compliance zwischen einer vertraglichen und einer faktischen Konzernierung zu unterscheiden sein wird. Mittelbar ergibt sich auch aus § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 WpHG und aus § 13 Abs. 2 S. 2 und 3 WpDVerOV, die von einer konzernweiten Pflicht zur Erkennung von Interessenkonflikten sprechen, eine Verpflichtung, eine konzernweite Compliancefunktion einzurichten.114 Umgekehrt stellt sich die Frage, ob die abhängige Gesellschaft durch die Pflicht der Mutter zur Errichtung einer konzernweiten Compliancefunktion ihrerseits von der Pflicht nach § 33 Abs. 1 WpHG suspendiert wird. Diese Frage ist zu verneinen. Dies folgt zum einen aus der auch im Konzern verbleibenden rechtlichen Selbständigkeit eines jeden Konzernunternehmens. Andererseits zeigt § 33 Abs. 1 WpHG, dass er gerade nicht danach differenziert, ob ein Finanzdienstleistungsunternehmen konzernverbunden ist oder nicht. Das bedeutet als Zwischenfazit, dass jedes konzernverbundene Unternehmen eine eigene Compliancefunktion vorhalten muss und vor allem einen eigenen Compliancebeauftragten iSd. § 12 Abs. 4 WpDVerOV ernennen muss. Es findet also keine Substitution statt. Weitgehende Doppelungen lassen sich in der Praxis gleichwohl vermeiden. Soweit die Mutter eine umfangreiche konzernweit tätige Compliance111 Fleischer, CCZ 2008, 1, 3 f. 112 Spindler, WM 2008, 905, 916. 113 Ähnlich Spindler, WM 2008, 905, 915; allg. zur § 308 AktG vgl. etwa Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, § 308 Rn. 34. 114 Fleischer, CCZ 2008, 1, 4; Spindler, WM 2008, 905, 917.
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funktion geschaffen hat, braucht in der Tochtergesellschaft nicht ihrerseits eine hochgerüstete Complianceabteilung vorhanden sein, die nach der in Praxis üblichen Faustformel ein Prozent der Mitarbeiter mit Compliance betraut.115 Vielmehr ist die Tochtergesellschaft im Vertrauen auf eine schlagkräftige Konzerncompliance berechtigt, ihre eigene Compliancefunktion entsprechend klein auszugestalten. Unter Rückgriff auf die zu § 12 Abs. 5 WpDVerOV entwickelten Grundsätze ist es der Tochtergesellschaft im Zweifel gestattet, die eigene Complianceabteilung auf wenige Personen zu begrenzen. Ob es allerdings genügt, allein einen Mitarbeiter der Konzerncomplianceabteilung zum alleinigen Compliancebeauftragten bei der Tochtergesellschaft zu ernennen,116 scheint zumindest für Tochtergesellschaften mit einem nennenswerten Geschäftsumsatz zweifelhaft. Zusammenfassend bleibt damit festzuhalten, dass Konzerncompliance also in erster Linie eine Pflicht zur Vernetzung der einzelnen Complianceabteilungen darstellt.117 2. Konzernrechtliche Grenzen Damit bleibt die Frage zu beantworten, ob das Konzernrecht der aus § 25a Abs. 1a KWG bzw. aus § 33 Abs. 1 WpHG folgenden Pflicht zur Errichtung einer konzernweiten Complianceabteilung Grenzen zieht. Anhaltspunkte für einen Vorrang des Kapitalmarktrechts vor den allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Grenzen verbotener Einflussnahme ergeben sich nicht.118 Zwar sieht § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 WpHG und § 13 Abs. 2 S. 2 und 3 WpDVerOV eine konzernweite Pflicht zur Erkennung von Interessenkonflikten vor.119 Andererseits beinhalten diese Vorschriften ebenso wenig wie § 25a Abs. 1a KWG gesellschaftsrechtliche Kompetenzen, die die Aushebelung der konzernrechtlichen Grenzen rechtfertigen würde.120 Damit gilt es zu klären, ob nachteilige Weisungen der Konzerncomplianceabteilung zulasten der Tochter 115 116 117 118
Vgl. dazu Gößmann in diesem Band S. 179 ff. In diesem Sinne etwa Spindler, WM 2008, 905, 913. Ähnlich Fleischer, CCZ 2008, 1, 5. Veil, WM 2008, 1093, 1096; So zur allg. gesellschaftsrechtlichen Pflicht, eine Complianceabteilung im Konzern zu errichten, auch Spindler, WM 2008, 905, 916. 119 Spindler, WM 2008, 905, 917. 120 Ähnlich Spindler, WM 2008, 905, 917.
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zulässig sind. Zu denken ist an Weisungen, die zwar künftige Verstöße gegen die Vorgaben des Wertpapierhandelsgesetzes zu vermeiden helfen, für die Tochtergesellschaft aber wirtschaftlich nachteilig sind. Ebenfalls kaum geklärt ist bisher die Frage, ob Mitarbeiter der Tochtergesellschaft unmittelbar in das Disziplinarsystem der Muttergesellschaft eingebunden werden können, die Mutter Betriebsstrafen unmittelbar gegenüber dem Angestellten der Tochter exekutieren kann oder insoweit die Geschäftsleitung der Mutter anweisen muss, eine entsprechende Sanktion zu verhängen.121 Zur Enträtselung dieser Gemengelage zwischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht ist zwischen Vertrags- bzw. Eingliederungskonzern und einer faktischen Konzernierung zu unterscheiden. Im Vertragskonzern sind nachteilige Weisungen zulässig.122 Hinsichtlich einer detaillierten Begründung ist auf das konzernrechtliche Schrifttum zu verweisen.123 Die Weisungen sind jedoch dem jeweiligen Vorstand der Tochter und nicht unmittelbar den einzelnen Mitarbeitern der Tochter zu erteilen, es sei denn, der Tochtervorstand hat seine eigene Weisungsbefugnis insoweit auf die Konzerncomplianceabteilung der Mutter delegiert.124 Entsprechend wird man wohl auch die Frage nach der Einbeziehung von Mitarbeitern der Tochter in das interne Disziplinarsystem der Mutter zu beantworten haben. Der Tochtervorstand muss vorab sein arbeitsrechtliches Weisungsrecht insoweit auf die Mutter bzw. deren Complianceabteilung delegiert haben. Schwieriger sind die Fragen im faktischen Konzern zu beantworten.125 Hier sind Weisungen bekanntlich nur in den Grenzen des § 311 AktG zulässig, nachteilige Weisungen scheiden aus. Damit rückt die Frage in den Mittelpunkt, wann eine Maßnahme nachteilig ist. Nimmt man abermals das soeben skizzierte Beispiel in den Blick, in dem die Mutter die Tochter anweist, ein potentiell gesetzeswidriges Verhalten abzustellen, dass sich für die Tochter aber wirtschaftlich vorteilhaft auswirkt, stellt sich die Frage, ob der Nach121 Allg. zu arbeitsrechtlichen Implikationen bei der Implementierung von Compliance Mengel/Hagemeister, BB 2006, 2466 ff., BB 2007, 1386 ff. 122 Vgl. statt aller Emmerich/Habersack (oben Fn. 113) § 308 Rn. 45 ff. m. zahlreichen weit. Nachw. 123 Vgl. die in Fn. 122 Genannten. 124 Fleischer, CCZ 2008, 1, 6; wohl auch Gebauer, in: Hauschka (Hrsg.), Corporate Compliance, 2007, § 31 Rn. 63. 125 Ebenso Veil, WM 2008, 1093, 1096.
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teilsbegriff in § 311 AktG rein wirtschaftlich oder normativ zu bestimmen ist. Mit der überwiegenden Auffassung im Konzernrecht ist von einem normativen Nachteilsbegriff auszugehen.126 Folglich fallen Weisungen zur Abstellung oder Vermeidung von Gesetzesverstößen, die zwar wirtschaftlich, aber nicht rechtlich nachteilig sind, nicht unter das Nachteilsverbot des § 311 Abs. 1 AktG, da sie auch ein Geschäftsleiter in einer konzernfreien Gesellschaft hätte unterlassen müssen.
V. Fazit und Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse in Thesen Am Anfang dieses Beitrags stand der Begriff des Zauberworts, zu dem sich Compliance in weiten Bereichen der Finanzwirtschaft, aber auch darüber hinaus entwickelt hat. Der Verfasser dieses Beitrages will nicht verhehlen, dass Compliance aufgrund seiner inzwischen vielfältigen technischen Details aus der Warte des Wissenschaftlers ein wenig von seinem Zauber zu verlieren droht. Auf der anderen Seite stellen sich zahlreiche rechtlich interessante wie praktisch bedeutsame Fragestellungen, die im Folgenden in 19 Thesen zusammengefasst werden sollen. 1. § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 WpHG erfordert regelmäßig die Einrichtung einer organisatorisch selbstständigen, vom operativen Geschäft getrennten Complianceabteilung. Mehrere Abteilungen sind denkbar, sofern eine übergreifende Abteilung oder der Compliancebeauftragte (CCO) die Letztverantwortung trägt und die Aufgaben koordiniert. 2. Vorbehaltlich der Ausnahme in § 12 Abs. 5 WpDVerOV dürfen die Mitglieder der Complianceabteilung keine operative Tätigkeit ausüben. Dies schließt nicht die Beratung bei allgemeinen Fragen, insbesondere der Produkterstellung, aus. Gemeint ist nur, dass Compliancemitarbeiter nicht unmittelbar am Vertrieb beteiligt oder in letzter Instanz für die Erstellung eines Produktes verantwortlich sein dürfen. Für kleine Unternehmen iSd. § 12 Abs. 5 WpDVerOV werden hiervon Ausnahmen anerkannt. Insoweit genügt ein – ggf. auch nebenamtlicher – Compliancebeauftragter, der auch Verantwortung für das operative Geschäft tragen darf. 126 Vgl. statt aller Emmerich/Habersack (oben Fn. 110) § 311 Rn. 40 m. weit. Nachw. in Fußn. 114.
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3. Das in § 12 Abs. 4 S. 3 aE WpDVerOV normierte Verbot einer erfolgsabhängigen Vergütung bezieht sich nicht nur auf den CCO, sondern auf alle Mitarbeiter in der Complianceabteilung. Langfristige, am Erfolg des gesamten Unternehmens ausgerichtete variable Vergütungsprogramme fallen jedoch nicht hierunter. Auch jährliche Bonuszahlungen sind akzeptabel. Demgegenüber sind Aktienoptionen stets mit kurzfristigen Anreizen verbunden und somit unzulässig. 4. Der Compliancebeauftragte (§ 12 Abs. 4 WpDVerOV) ist weder Organ noch Unternehmensbeauftragter. Ihm ist die Leitung der Complianceabteilung zu übertragen. Anders als z.B. der Datenschutzbeauftragte (§ 4f Abs. 3 BDSG) ist er gegenüber dem Vorstand weisungsgebunden. Weisungen des Vorstandes, die eine Verstrickung einzelner Vorstandsmitglieder oder Mitarbeiter vertuschen sollen, sind rechtswidrig und dem Vorstandsvorsitzenden und dem Aufsichtsrat zur Kenntnis zu bringen. Weisungsbefugnisse anderer Mitarbeiter unterhalb des Vorstandes gegenüber dem Compliancebeauftragten bzw. seinen Mitarbeitern sind hingegen per se unzulässig. 5. Die umfassende Leitungsbefugnis des Vorstandes (§ 77 AktG) wird durch die Pflicht zur Ernennung eines Compliancebeauftragten nicht eingeschränkt. Dieser ist allein dem Unternehmensinteresse verpflichtet und nicht zugleich ein kleines, unternehmensinternes Aktienamt im öffentlichen Interesse. 6. Der Compliancebeauftragte berichtet allein dem Vorstand und Aufsichtsrat; soweit der Vorstand in Gesetzesverstöße involviert ist, allein dem Aufsichtsrat. Eine unmittelbare Meldung von Unredlichkeiten an die BaFin ist nicht veranlasst. §§ 10 WpHG, 11 GwG sind abschließend. 7. Der Compliancebeauftragte bzw. seine Mitarbeiter müssen unmittelbaren Zugang zu den Daten anderer Abteilungen und Kommunikationsmedien erhalten, d.h. ohne Umweg über die jeweiligen Abteilungsleiter. 8. Der CCO ist nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, neben Verdachtsprüfungen auch Zufallsuntersuchungen durchzuführen. Er kann bei Bedarf sachverständige Dritte hinzuziehen. Stellt der CCO Verstöße gegen Gesetz oder Satzung fest, so steht ihm grundsätzlich nur ein Eskalationsrecht zu, das mit der entsprechenden Berichtspflicht an den Vorstand (These 6) korrespondiert. Weisungs- oder Untersagungsrechte stehen dem CCO nur aus einem vom Vorstand abgeleiteten Recht zu, wobei der Vorstand dieses Recht dem CCO aber antizipiert, beispielsweise im Rahmen einer Compliance Policy, übertragen kann.
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9. Es besteht zwar ein Recht, nicht aber auch die Pflicht, ein internes System für anonymes Whistle-Blowing einzurichten. Nur ganz ausnahmsweise kann die Aufklärung schwerwiegender Gesetzesverstöße die temporäre Einrichtung eines solchen anonymen Systems erfordern, wenn andere Mittel zur Aufklärung versagen. Es steht im pflichtgemäßen Ermessen der Complianceabteilung, Anzeigen die sie unter Verletzung des Dienstweges erreichen, bei der Gefahr von Repressalien für den Anzeiger vertraulich zu behandeln. 10. Verstöße gegen § 33 Abs. 1 WpHG stellen keine Ordnungswidrigkeiten nach § 39 WpHG dar, es besteht nur die allgemeine Aufsichts- und Anordnungsbefugnis sowie die Möglichkeit, nach § 130 OWiG vorzugehen. Als Sanktion kommt deshalb vor allem eine Haftung des Vorstandes nach § 93 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 AktG in Betracht, wenn dieser gegen die Pflicht verstößt, eine ordnungsgemäße Compliancefunktion einzurichten. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG ist insoweit hinsichtlich des Wie der Ausgestaltung der Compliancefunktion anwendbar. Den Pflichten nach § 33 Abs. 1 WpHG kommt jedoch kein individualschützender Charakter zu, sie dienen allein dem kapitalmarktrechtlichen Funktionenschutz. 11. Der CCO haftet, sofern er nicht ausnahmsweise zugleich Vorstand ist, allein nach allgemeinen Grundsätzen (Verletzung des Dienstvertrages, Delikt). Auf ihn ist § 93 Abs. 1 S. 2 AktG nicht anwendbar. 12. Das in § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 WpHG aufgestellte und in § 13 WpDVerOV zu einem Dreiklang ausgebaute Gebot zur Vermeidung von Interessenkonflikten ist Bestandteil der materiellen wie formellen Compliance und fordert ein effizientes Interessenkonfliktmanagement, dessen Einhaltung der Complianceabteilung obliegt. 13. Erheblichen Zündstoff bietet hingegen das Gebot der unabhängigen Vergütung in § 13 Abs. 3 S. 2 Nr. 2, S. 3 WpDVerOV. Danach wird nicht nur die Unabhängigkeit der Entlohnung des Vertriebsmitarbeiters von der Vergütung anderer Mitarbeiter gefordert, sondern es können auch Absatzprovisionen verboten sein, die den Mitarbeiter dazu verleiten, hauseigene Produkte ohne Rücksicht auf das individuelle Interesse des jeweiligen Kunden anzubieten. Unter Rückgriff auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird man jedoch aus § 13 Abs. 3 WpDVerOV kein pauschales Verbot aller Absatzprovisionen ableiten können, sondern fordern müssen, dass der Mitarbeiter zugleich dazu verpflichtet wird, primär das Kundeninteresse zu wahren.
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14. Die in These 13 aufgestellten Erfordernisse sind allerdings in den Grundsätzen für ein Interessenkonfliktmanagement besonders zu adressieren und ihre Einhaltung ist durch die Complianceabteilung gesondert zu überwachen, beispielsweise durch die Kontrolle der empfohlenen Finanzinstrumente unter Berücksichtigung der vom Kunden gemachten Angaben im Wertpapiererhebungsbogen. 15. Die in § 13 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 WpDVerOV als Regelbeispiel geforderte Einrichtung von Vertraulichkeitsbereichen bringt materiell wenig Neuerungen gegenüber den in der bisherigen Compliancerichtlinie der BaFin niedergelegten Grundsätzen. 16. Im Konzern besteht für die herrschende Gesellschaft die Pflicht, eine konzernweite Compliancefunktion in den durch das Konzernrecht vorgegebenen Grenzen zu schaffen. Grundlage ist eine Konzernleitungspflicht der herrschenden Gesellschaft in deren eigenem Interesse, nicht jedoch im Interesse der beherrschten Gesellschaften. Das Weisungsrecht aus § 308 AktG kann sich im Einzellfall zu einer Weisungspflicht verdichten. Weisungsrechte bestehen nur in den Grenzen der §§ 308, 311 ff. AktG, weshalb zwischen einer vertraglichen und einer faktischen Konzernierung zu unterscheiden ist (Thesen 18, 19). 17. Die in These 16 skizzierte Pflicht der Mutter befreit die einzelnen Konzernunternehmen jedoch nicht von ihrer eigenen Pflicht aus § 33 WpHG. Konzerncompliance ist in erster Linie eine Pflicht zur Vernetzung der einzelnen konzernweiten Complianceabteilungen. 18. Im Vertragskonzern sind nachteilige Weisungen zulässig. Die Weisungen sind jedoch dem jeweiligen Vorstand der Tochter und nicht unmittelbar den einzelnen Mitarbeitern der Tochter zu erteilen, es sei denn, der Tochtervorstand hat seine eigene Weisungsbefugnis insoweit auf die Mutter antizipiert delegiert. 19. Im faktischen Konzern sind nachteilige Weisungen unzulässig. Weisungen zur Abstellung oder Vermeidung von Gesetzesverstößen, die zwar wirtschaftlich, aber nicht rechtlich nachteilig sind, fallen grundsätzlich nicht unter das Nachteilsverbot des § 311 Abs. 1 AktG. Damit ist auch im faktischen Konzern eine konzernweite Compliancefunktion gewährleistet.
Die Stellung von Compliance im Aufsichtsrecht und im Bankrecht unter besonderer Berücksichtigung der persönlichen Verantwortung des Vorstandes Dr. Wolfgang Gößmann Leiter Unternehmensbereich Recht und Group Compliance, HSH Nordbank AG, Hamburg
I.
Der Nucleus des Compliance .........................................................................181
II.
Überblick über die Rechtsgrundlagen ............................................................183
III.
Allgemeines Compliance ...............................................................................184 1. Überblick über die Rechtsentwicklung....................................................184 2. Konkretisierung der Pflichten..................................................................186 3. Core Principles for Effective Banking Supervision.................................187 4. Einzelheiten zur Umsetzung der Core Principles ....................................188 5. Instrumente zur Risikosteuerung.............................................................189
IV. Deutscher Corporate Governance Kodex.......................................................195 V.
Besonderes Compliance: Geldwäschebekämpfungsergänzungsgesetz ..........197 1. Einführung...............................................................................................197 2. Anwendungsbereich ................................................................................199 3. Risiko der Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung ...........................200 a) Erhöhtes Risiko.................................................................................201 b) Geringes Risiko ................................................................................201 4. Sorgfaltspflichten ....................................................................................201 a) Allgemeine Sorgfaltspflichten ..........................................................202 b) Verstärkte Sorgfaltspflichten ............................................................204 c) Vereinfachte Sorgfaltspflichten ........................................................205 5. Bewertung der Gesetzesänderung ...........................................................205 6. Auswirkungen auf den einzelnen Mitarbeiter der Kreditinstitute............206 7. Risikomanagement der Kreditinstitute ....................................................209 8. Ausblick ..................................................................................................210
VI. Mechanismen zur Rechtsdurchsetzung ..........................................................211 1. Wirtschaftsprüferkontrolle ......................................................................211 2. BaFin-Aufsicht und Entgrenzung............................................................215
180
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VII. Verantwortung/Verantwortlichkeit des Vorstandes .......................................217 1. Allgemeines Compliance als Vorstandsaufgabe .....................................217 2. Regelung im AktG...................................................................................219 3. § 130 OWiG ............................................................................................221 4. Untreue. strafrechtliche Ausgangslage ....................................................224 VIII. Zusammenfassung..........................................................................................227
Compliance hat in den letzten Jahren einen rasanten Bedeutungswandel erlebt.1 Dies ist auf Entwicklungen in den USA zurückzuführen, namentlich auf den Sarbanes Oxley Act („SOX“); beigetragen haben aber auch europäische Entwicklungen, so vor allem die MiFID, die in Deutschland durch das FRUG umgesetzt worden ist,2 und die Dritte Geldwäscherichtlinie, die seit dem 21. August als KWG-Ergänzung und als neues Geldwäschegesetz in Deutschland gilt.3 Ein weiterer Treiber sind die Embargovorschriften und die Finanzsanktionen, welche sowohl die Kundenbeziehungen als auch die Geschäftsabläufe nachhaltig verändern. Auch die Vorstellungen der Politik über die aufsichtsrechtliche Bewältigung der Finanzmarktkrise werden zu einer erhöhten Regelungsdichte führen und, wie man bereits jetzt an § 5 Abs. 2 FMStV sieht, tief in die Dispositionsfreiheit des Managements eingreifen.4 Die Complianceregeln sind inzwischen so ausdifferenziert, dass sie als Organisationsgebote über § 130 OWiG oder als haftungsbegründende Handlungspflichten über § 91 AktG im täglichen operativen Geschäft Einfluss auf aufbau- und ablauforganisatorische Entscheidungen nehmen. Damit dem Druck 1 2 3
4
Eisele, WM 1993, 1021, hat diesen Bedeutungswandel vorhergesagt. Hense/Renz, CCZ 2008, 181, 183. „Der Rechtsrahmen … hat sich signifikant erweitert“. Im Grunde gehört auch die Marktmissbrauchsrichtlinie 2000 hierher. Sie hatte den Schwerpunkt in der Bekämpfung von Insiderstraftaten und Marktmanipulation. In Deutschland umgesetzt im Rahmen des Anlegerschutzverbesserungsgesetzes; sie änderte aber auch das WpHG und mündete in zahlreiche Verordnungen. Finanzmarktstabilisierungsfonds-Verordnung vom 20. Oktober 2008 (eBAnz AT 123 2008 V1). § 5 ist eine Auflagenermächtigung. Die Anstalt (SoFFin: „Fonds“) darf Einfluss auf die Geschäftspolitik nehmen, die Kreditvergaberichtlinien darauf hin überprüfen, ob eine ausreichende Versorgung von KMU sichergestellt ist, welche Anreize das Vergütungssystem schafft (und ob sie aus der Sicht des Fonds die richtigen sind).
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dieser Vorschriften nicht ausgewichen werden kann, sichern z.B. das BilModG, ISA 240 und PS 210 die Einhaltung der Pflichten über eine entsprechende Prüfung durch den Abschlussprüfer ab.5 Hinzu tritt eine konzentrierte Aufsichtspraxis der BaFin, die durch verstärkte Reportingpflichten der Institute besseren und tieferen Einblick erhält. So sieht das FRUG jährliche Berichtspflichten von Compliance an die Geschäftsleitung und Aufsichtsorganen vor, ob es Defizite bei der Einhaltung der Vorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes gab, sowie Beschreibung der Maßnahmen, die zur Abhilfe und Vermeidung von Wiederholungen getroffen wurden. Für Geldwäsche gilt Gleiches. Compliance ist damit zu einem zentralen Faktor in der Führung eines Kreditinstituts geworden, das vom Vorstand ausgehend in alle Bereiche und auf alle Arbeitsplätze einwirkt.6
I.
Der Nucleus des Compliance
Basel II, genau: Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, ist, wie könnte es anders sein, der Nucleus der neuen Regeln für das allgemeine Compliance. Das Papier „Compliance and the Compliance Function in Banks“ („Papier“) vom April 2005 lässt sich als das Vademecum des europäischen und des nationalen Gesetzgebers sowie der Aufsichtsbehörden ansehen.7 Gerade der letzte Aspekt zeigt nicht nur die Bedeutung des Compliance, sondern macht deutlich, dass Compliance kein freischwebendes Prinzip, kein apersonaler Legitimitätsappell, keine fernliegende Vision ist, sondern Teil des Aufsichtsrechts und Teil der Aufsichtspraxis der Behörden. Neben die überkommene (quantitative) Zahlen- und Kreditrisikoaufsicht tritt (jetzt) als genuiner Bestandteil des Pflichtenkanons eine effektive Complianceorganisation, also die Aufgabe, die nicht quantifizierbaren Risiken zu managen,8 und die Präambel des Papiers lässt keinen Zweifel an der zu erwartenden Härte der Aufsichts-
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Geiß u.a. (Arbeitsgruppe „8. EU-Richtlinie“ innerhalb IIR), ZIR 2007, 238. Bachmann, Der Schweizer Treuhänder, 2007, 93, zu den Compliance Anforderungen außerhalb der Finanzindustrie. Der Vollständigkeit halber muss man noch das Papier von 2003 zu den operationellen Risiken erwähnen; dort sind Rechtsrisiken erfasst, reine Reputationsrisiken jedoch nicht ausdrücklich. Alles abrufbar unter . „Qualitatives Risikomanagement“ Hense/Renz, CCZ 2008, 181, 185.
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behörden.9 Ebenso liefert das Papier eine Definition des Begriffs „Compliance-Risiko“ auf dem andere Vorschriften, so die neuen Regeln des KWG, aber auch der Prüfungsstandard 210 („PS 210“) aufbauen.10 Das Papier definiert Compliance Risiken als das Risiko rechtlicher oder aufsichtsrechtlicher Sanktionen, bedeutsamer finanzieller Verluste oder von Reputationsverlusten, die eine Bank als Folge ihres Unvermögens erleidet, Gesetze, Verordnungen, aufsichtsrechtliche Vorschriften, allgemeine Standards, Usancen oder den (eigenen) Code of Conduct einzuhalten. Damit hat Compliance seine Herkunft aus dem Wertpapierbereich endgültig verlassen.11 Compliance ist heute dank Basel II eine Querschnittsaufgabe durch das Unternehmen, durch alle Bereiche. Zurück zum Papier: Das Papier enthält materielle und organisatorische Aussagen. In Principle 1 ist z.B. die Verantwortlichkeit des Vorstands für die Compliance Kultur und für die Einhaltung der entsprechenden Rechtsvorschriften enthalten;12 dies trifft den Vorstand kollektiv, aber auch jedes Vorstandmitglied individuell als Teil seiner Pflichten aus dem Dienstverhältnis. Zunächst ist dies ein Wertemanagement, weil es um den Rahmen geht („policies“), in dem die Bank ihre Geschäfte tätigt: Der Vorstand hat die Compliancerisiken zu überwachen und mittels policies zu steuern.13 Dieser Gedanke wird in § 25a KWG aufgegriffen und als Gebot für die Geschäftsleitung formuliert, denn diese hat eine Geschäfts- und Risikostrategie zu formulieren, die auch Compliancerisiken umfassen muss.14 Damit ist der Handlungsrahmen für das Institut gesetzt. Individuell, bezogen auf das einzelne Geschäftsleitungsmitglied bedeutet dies: Die Compliancepflichten sind bzw. werden spätestens dann zum Bestandteil des (individuellen) Dienstvertrages eines Vorstandsmitglieds, wenn das Institut sich dem Corporate Governance 9 Introduction Nr. 1 Satz 2: Banking supervisors must be satisfied that effective compliance policies and procedures are followed and that management takes appropriate corrective action when compliance failures are identified. 10 Verabschiedet vom Hauptfachausschuss des IDW am 6. Sept. 2006. Vgl. auch ISA 240, abrufbar unter . 11 Wendel, CCZ 2008, 41; Drohmann, CCZ 2008, 60. 12 „…for overseeing the management of the bank’s compliance risk“ (Principle 1, Satz 1). 13 Hense/Renz, CCZ, 2008, 181. 14 Braun, in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler, Kreditwesengesetz, 3. Aufl., München 2008 („BFS“), § 25a KWG Rdn. 102.
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Kodex unterwirft, und zwar insoweit, als dort individuelle Pflichten und Anforderungen enthalten sind. Auf diese Weise beeinflusst Compliance, wie unten gezeigt wird, die zivilrechtliche und strafrechtliche Haftung des einzelnen Vorstandsmitglieds. Es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeit, um deutlich mehr Haftungsprozesse gegen Vorstandsmitglieder vorherzusagen. Mindestens einmal im Jahr soll daher die Wirksamkeit des Compliance System in einem Bericht untersucht und vorgestellt werden, denn das Papier unterstellt, dass nur nachhaltige Konzentration auf Compliance den gewünschten Effekt erzielt. Folgerichtig fordert Principle 3 des Papiers, dass jeder Bereich einmal jährlich das jeweilige Compliancerisiko screent und darüber berichtet.
II. Überblick über die Rechtsgrundlagen Seit Compliance 1993 mit dem Geldwäschegesetz in die deutsche Rechtsordnung Eingang gefunden hat, haben sich drei Säulen herausgebildet, auf denen Compliance steht: − Vorschriften zur Bekämpfung von Geldwäsche und unsauberen Finanztransaktionen bzw. Terrorismusfinanzierung (letzterer Aspekt wird häufig nicht wahrgenommen); − Vorschriften zum Wertpapiercompliance, die dank MiFID/FRUG inzwischen weit über die anfänglichen MA-Leitsätze hinausgehen und bei denen man, wenngleich nicht ganz trennscharf zwischen wertpapiergeschäftsbezogenen und börsennotierungsbezogenen Regeln unterscheiden kann; − Allgemeine Compliance-Vorschriften aus § 25a ff. KWG, die allerdings teilweise ihre geldwäscherechtliche Herkunft nicht verleugnen können. Es lässt sich feststellen, dass sich ein Netz von Vorschriften, Regeln und Regularien gebildet hat, das Ausstrahlwirkung auf andere Bereiche hat, namentlich auf das Gesellschaftsrecht, das zunehmend complianceorientierte Vorschriften aufnimmt oder sich bei seiner Auslegung an complianceorientierten Vorschriften orientieren muss.15 Das sieht auch das Papier so, indem 15 Eine Parallelentwicklung ist im VAG zu verzeichnen. Im neuen § 64a VAG (Gesetz vom 23.12.2007, BGBl. I S. 3248) werden bezüglich des Risiko-
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es auf die zahlreichen Rechtsquellen für Compliance verweist.16 Von einer Systematik ist man allerdings noch weit entfernt, zumal es noch reichlich Compliance-Inseln und Spezialgesetze gibt. Geklammert werden die Rechtsvorschriften über § 266 StGB und § 130 OWiG, weil sich, wie unten noch darzulegen sein wird, Standards und Benchmarks zur Organisation und Management herausgebildet haben. Die Zeiten jedenfalls, in denen man Compliance als amerikanische Modeerscheinung abtun konnte, sind vorbei. Ebenfalls vorbei sind die Zeiten, in denen Compliance mit einem stirnrunzelnden Hinweis auf das Legalitätsprinzip hinterfragt werden konnte: Über Compliance wird klar, dass und wie die eigene Rechtstreue und die Kontrolle nachgeordneter Personen darzustellen ist. Dies ist zugleich ein Beitrag zur Schärfung der Befreiungswirkung einer (strafrechtlich zulässigen) Delegation.17 Deshalb kann die Gesetzesbegründung zum neuen KWG auch mit Fug und Recht von einer Zusammenführung bisher zersplitterter (geldwäscherelevanter) Vorschriften sprechen. Diese so gewonnene Übersichtlichkeit verdeutlicht dem Rechtsanwender die neue, gestiegene Bedeutung von Compliance und die neuen, gestiegenen Aufgaben, die auf das Management zukommen.
III. Allgemeines Compliance 1. Überblick über die Rechtsentwicklung Das Allgemeine Compliance nimmt seinen Ausgang in § 25a Abs. 1 Nr. 1 KWG. Diese Vorschrift erlegt dem Kreditinstitut besondere organisatorische managements bestimmte Anforderungen an das Versicherungsunternehmen formuliert, die dem Risikomanagement eines Versicherungsunternehmens eine ähnlich hervorragende Rolle zuweisen wie § 25a ff. KWG dies für Kreditinstitute tun. Dies war, wie aus der Gesetzesbegründung deutlich wird, die erklärte Absicht des Gesetzgebers. 16 Introduction, Nr. 5: „Compliance laws, rules and standards have various sources, including primary legislation, rules and standards issued by legislators and supervisors, market conventions, codes of practice … and internal codes of conduct“. 17 Lies auch Principle 17 der Core Principle for Effective Banking Supervision (Basel II; Oktober 2006): „… should include clear arrangements for delegating authority and responsibility …“.
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Pflichten zur Ermittlung, Steuerung und letztlich Minimierung von Risiken auf. Der Anknüpfungspunkt § 25a KWG ist ganz natürlich, denn Compliance ist ein zentraler Teil der (Rechts-)Risikosteuerung. In der Zusammenschau mit den Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) ergibt sich eine funktionale Aufgabenzuordnung zur Rechtsabteilung,18 die von jeher in einer Doppelrolle, nämlich in einer Beraterrolle und einer Risikomanagerrolle war. Dieser Dualismus verstärkt sich zwar, doch lassen sich beide Aufgaben (organisatorisch) nicht trennen. Es ist schlecht vorstellbar, dass ein hausinterner Jurist ohne Rücksicht auf zwingende aufsichtsrechtliche/compliancerechtliche Vorschriften berät; vielmehr muss die Beratungspraxis – und dies gilt auch für externe Beratung – die Anforderungen aus dem Compliance abbilden und in die Lösung einarbeiten.19 Satz 3 von § 25a Abs. 1 KWG verdeutlicht, was das Gesetz sich unter einem „angemessenen und wirksamen Risikomanagement“ vorstellt. Compliance ist Teil des Internen Kontrollsystems (IKS),20 und zwar auch und gerade als Sicherungssystem gegen betrügerische Handlungen. Den Schutz vor betrügerischen Handlungen verstärkt § 25c KWG – neu – und diese Vorschrift macht durch ihre Wortwahl zugleich deutlich, dass es nicht nur um den klassischen Betrug im Sinne von § 263 StGB geht, sondern allgemein um den Schutz vor unsauberen Machenschaften, die mit der Ordnungsmäßigkeit des Bankgeschäfts nicht in Einklang stehen (aus diesem Grund ist ausnahmsweise der englische Begriff fraud und fraud prevention angebrachter als Betrugsprävention). Darunter fallen „klassische“ Vermögensschädigungen, Eingriffe in Prozessabläufe, namentlich in Zahlungsströme, Manipulation von Entscheidungen und Berichterstattungen, Korruption/Bestechung oder Kartellabsprachen. Insgesamt besteht die Besonderheit des allgemeinen Compliance, und hier namentlich der fraud prevention, in einer sehr viel stärkeren Orientierung auf Verhaltensrisiken. 18 Vielleicht keine wissenschaftliche Quelle, so doch aber trotzdem erhellend: FAZ vom 9. Juni 2007 (Nr. 131; Beruf und Chance, C1) − Herr der Richtlinien: Auf den ersten Blick finden vor allem Juristen Jobs in diesem neuen Aufgabengebiet. Sie überblicken nicht nur die aktuelle Rechtslage, sondern könnten zusätzlich die unternehmenseigenen „Gesetze“ formulieren. 19 Kindt, NJW 2006, 3399. 20 Braun (oben Fn. 14) § 25a KWG Rdn. 116. Dort eine aussagekräftige Übersicht unter Bezug auf IdW Prüfungsstandard 261.
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186 2. Konkretisierung der Pflichten
§ 25c KWG neu (und natürlich die folgenden Paragraphen bis § 25g) konkretisiert die früher in der alten Fassung von § 25a Abs. 1 Nr. 1 KWG relativ allgemein gehaltenen Pflichten zur Risikosteuerung und Risikominimierung.21 Nach Abs. 1 hat jedes Institut seine Geschäftsorganisation risikofest zu machen und Vorkehrungen zu treffen, um sich gegen betrügerische Handlungen zu wappnen; mit „Geschäftsorganisation“ sind dabei sowohl Aufbau- als auch Ablauforganisation gemeint, wie aus dem Wortlaut von Abs. 1 („angemessenes Risikomanagement“) deutlich wird. Dies geht weit über das Maß dessen hinaus, das die Kreditinstitute bisher zu leisten hatten. Da das Gesetz und die BaFin nunmehr einen principle based Ansatz verfolgen, der den Instituten ein Ziel vorgibt, nämlich ein funktionierendes und benchmarkfähiges System der Vorbeugung zu schaffen und zu unterhalten, anstatt ihnen mehr oder weniger enge Handlungsmaximen zu geben, hat jedes Institut nunmehr zunächst eine Gefährdungsanalyse zu erstellen.22 Diese Analyse stellt sozusagen eine Risikolandkarte dar, die sich aus Kunden/ Kundengruppen, Produkten und ihren Besonderheiten, Marktsegmenten, Ländern und deren Spezifika, aber auch aus Mitarbeitern und deren Qualifikation und den über die Revision oder anderen Erkenntnisquellen gewonnenen Erfahrungen zusammensetzt.23 Der risikobasierte Ansatz soll eine zielgenaue und effiziente Ausgestaltung der Maßnahmen zur Bekämpfung der 21 Braun (oben Fn. 14) § 25a KWG Rdn. 74. 22 Bei der Anfertigung der institutsinternen Gefährdungsanalyse sind folgende Schritte notwendig: die vollständige Bestandsaufnahme der institutsspezifischen Situation; die Erfassung und Identifizierung der kunden-, produkt- und transaktionsbezogenen Risiken; die Kategorisierung, d.h. Einteilung in Risikogruppen, und ggf. zusätzliche Gewichtung, d.h. Bewertung der identifizierten Risiken; die Entwicklung geeigneter Parameter für die erforderlichen ResearchMaßnahmen aufgrund des Ergebnisses der institutsinternen Risikoanalyse; die Überprüfung. 23 Der Leitfaden der BaFin nennt: Umfeld der Geschäftstätigkeit (geographisches und infrastrukturelles Umfeld, allgemeine Wirtschaftsstruktur, allgemeine Kriminalitätslage im Geschäftsgebiet), Geschäftstätigkeit des Instituts (Aufgaben, Unternehmensgegenstand, Dienstleistungen, Unternehmensaufbau und Outsourcing, Korrespondenzbankenbeziehungen), Vertriebs-, Produkt bzw. Transaktions- und Kundenstruktur, Mitarbeiter, Informationsmanagement, Organisation, Präventionsmaßnahmen.
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Geldwäsche- und Betrugsgefahren erlauben24 – und damit auch einer Entbürokratisierung den Weg weisen. Anhand der Risikolandkarte hat jedes Institut sodann zu prüfen, welche Instrumente in welcher Ausprägung passend und geeignet sind. Dies mündet in eine Gefährdungsanalyse, für welche die BaFin einen eigenen Leitfaden herausgegeben hat. Dieser Leitfaden ist somit die offizielle Auslegung des § 25c KWG durch die BaFin und gleichzeitig allgemeine Handreichung für die Institute. Die Sicherungssysteme haben sich dabei an der Größe, Organisation und Gefährdungssituation des einzelnen Institutes, insbesondere dessen Geschäftskundenstruktur auszurichten. Was angemessen ist, beurteilt das Institut selbst auf der Grundlage der eigenen Gefährdungsanalyse. 3. Core Principles for Effective Banking Supervision Erneut stellt sich die Frage, welches die Gründe für die Aufnahme solcher Pflichten (gerade) in das KWG sind, sagt doch die Gesetzesbegründung, dass es um interne Sicherungsmaßnahmen geht, die in § 9 GwG-neu bestimmt sind.25 Die Begründung verweist hierbei auf die Core Principles for Effective Banking Supervision,26 um den Sprung von einem Spezialgesetz mit engem Anwendungsbereich hin zu zum Grundgesetz für die Kreditwirtschaft zu erklären. Diese (25) Core Principles sind ein Kodex für alle Aufsichtsbehörden, wie mit Risiken umzugehen ist und welche Anforderungen das jeweilige Aufsichtsrecht zu stellen hat. Die Core Principles erwähnen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung nur als ein Aufgabenfeld von vielen und erweitern die Pflichten auf die Vorbeugung gegen betrügerische Handlungen. Das Ganze wird in die Forderung nach einem funktionierenden und engmaschigen Internen Kontrollsystem eingebunden.27 Sämtliches betrügerisches Handeln zu Lasten der Bank in allen Geschäftssparten soll durch den Einsatz angemessener organisatorischer, personeller und technischer Vorkehrungen und Systeme verhindert werden. Damit verlässt das Compliance end24 Salvenmoser/Kruse, Die Bank 2006, 78. 25 Und es geht um die Umsetzung der Vorgaben des Artikels 34 Abs. 1 der Dritten Geldwäscherichtlinie. 26 Basel II, ursprünglich verabschiedet 1997, überarbeitete und veröffentlichte Fassung von Oktober 2006. Hillen, in: BFS, § 26 Rdn. 2. 27 Principle 17: „…that banks have in place internal controls that are adequate for the size and complexity of their business“.
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gültig seine Wertpapier- und Geldwäsche-Nische und wird in Übereinstimmung mit Nr. 8 Satz 1 des Core Principles Papiers zu einem allgemein gültigen Prinzip der aufsichtsrechtlichen Überwachung. Dies spiegelt sich in der Aufwertung durch Aufnahme ins KWG wider. 4. Einzelheiten zur Umsetzung der Core Principles Der Basler Ausschuss zählt interne und externe betrügerische Handlungen, unredliche Geschäftspraktiken28 und eine Missachtung des Know your employee-Grundsatzes zu den Hauptursachen großer operationeller Verluste.29 Abs. 2 schreibt daher ergänzend und unter Übernahme des Regelungsinhalts von § 25a Abs. 1 Satz 6 Nr. 3 KWG alt vor, dass angemessene Datenverarbeitungssysteme zu betreiben und zu aktualisieren sind, mit denen Kundentransaktionen des Zahlungsverkehrs auf Geldwäsche und Terrorismusverdacht30 zu untersuchen sind. Von Bedeutung ist, dass § 25c Abs. 2 die Kontrollrichtung auf „betrügerische Handlungen“ erweitert und der Bank materielle Prüfungspflichten auferlegt, und darin liegt die eigentliche Neuerung der Novellierung. Anders als früher, als die Bank sich streng im Rahmen des ihr erteilten Auftrags zu halten hatte,31 muss sie jetzt Transaktionen und Geschäftsvorfälle aufspüren, die vor dem Hintergrund der Geldwäscheverhinderung, der Terrorismusfinanzierung und betrügerischer Handlungen als „zweifelhaft“ oder „ungewöhnlich“ anzusehen sind (§ 25c Abs. 2 Satz 1 KWG). Haben die Systeme der Bank eine auffällige Transaktion identifiziert, so hat die Bank die Hintergründe dieser Transaktion zu ermitteln und zu entscheiden, ob ein meldepflichtiger Verdachtsfall vorliegt oder nicht. Die Aufsichtsbehörden haben den Begriff des Finanzbetruges entwickelt, der Geldwäsche, unsaubere Finanztransaktionen, Finanzbetrug, Terrorismusfinanzierung und Vorbereitungshandlungen dazu umfasst. Hintergrund dessen ist die partielle Untauglichkeit der herkömmlichen strafrechtlichen Be-
28 z.B.: Missbrauch vertraulicher Kundeninformation, unsaubere, weil z.B. durch Eigeninteressen getriebene Handels- oder Vertriebspraktiken, Verletzung von Treuhänderpflichten. 29 Braun (oben Fn. 14) § 25a Rdn. 235. 30 Die „Terrorismusfinanzierung“ fehlte in der Vorgängerfassung. 31 Prinzip der formalisierten Auftragstrenge.
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griffe, insbesondere des Betruges und des Kapitalanlagebetruges32, die für die Bewältigung der Risiken aus dem Missbrauch des Bankensystems ungeeignet sind. Richtig ist zwar, dass der Finanzbetrug an strafrechtlich sanktioniertes Verhalten anknüpft, an den klassischen Betrug und an Betrugsformen, die sich entwickelt haben.33 Die Notwendigkeit eines neuen Begriffes hängt aber sowohl damit zusammen, dass die strafrechtlichen Vorschriften einen anderen, nämlich den Täter, als Normadressaten haben, als auch damit, dass die aufsichtsrechtlichen Regularien auf die Instrumente (nämlich das System der Kreditwirtschaft insgesamt) abzielen, die für Finanzbetrügereien unbrauchbar gemacht werden sollen. Dem Täter soll der Boden entzogen werden. Da es also nicht um individuelle Bestrafung geht, bestehen hiergegen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, ganz im Gegenteil: Die Regelungen zu Finanzbetrug bzw. zur Vorbeugung sind ein Beitrag, die Pflichten des Vorstands und der handelnden Personen klarer und transparenter zu sehen. 5. Instrumente zur Risikosteuerung Nach dem Leitfaden der Financial Action Task Force zum risikoorientierten Ansatz zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung von Juni 2007 gibt es keine allgemeingültige Methode, Art und Umfang eines risikoorientierten Ansatzes zu bestimmen.34 Eine Risikoanalyse (nach den Vorgaben der BaFin) kann helfen, die Risiken zu erkennen. Dafür müssen die Risiken identifiziert, kategorisiert und angemessene Kontrollen vorgehalten werden.35 Bei den Risikokategorien des Länder- Regional-, Kunden-, Produkt- oder Dienstleistungsrisikos kann eine Gewichtung vorgenommen werden, die den später anzuwendenden Sorgfaltsmaßstab bestimmt.36 Der Umfang der Maßnahmen richtet sich zum einen nach den wahrgenommenen Risiken, zum anderen müssen die Maßnahmen auch den Ressourcen des
32 Im Leitfaden zur Erstellung der Gefährdungsanalyse zu § 25c KWG wird dies deutlich (S. 9). 33 Bauer/Bergmann, ZBB 2007, 113, 122. 34 FATF-Leitfaden, Rdn. 1.12. 35 FATF-Leitfaden, Rdn. 1.12. 36 FATF-Leitfaden, Rdn. 3.2.
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jeweiligen Kreditinstituts Rechnung tragen.37 Durch die Gesetzesänderung wird den Kreditinstituten ein Ermessensspielraum eingeräumt, wie sie die bankinternen Schutzmaßnahmen ausgestalten.38 Welche Instrumente die Bank konkret einsetzen muss, sagt das Gesetz also nicht oder nur überschriftsmäßig. Es haben sich allerdings allgemein und auch von der BaFin anerkannte Instrumente herausgebildet, die jede Bank installieren sollte, um wirklich compliant zu sein. CCD; Customer Due Diligence39: CCD stützt sich auf Grundsatz 18 der Core Principles: Banken müssen (u.a.) über gut dokumentierte Geschäftsgrundsätze und Verfahrensweisen zur Feststellung der Kundenidentität verfügen. Die früher als Know Your Customer Grundsatz40 bekannte Aufgabe heißt nicht mehr und nicht weniger, dass sich die Bank nicht mehr mit den nackten Angaben zufrieden geben darf, die § 154 AO und der hierzu erlassene AEAO sowie das alte GwG fordern.41 Die Bank muss vielmehr recherchieren, ob ihr Kunde auf einer Terrorismus-/Embargo-Liste verzeichnet ist.42 Das Know your customer-Prinzip verlangt von den Instituten nicht nur, sich über die Identität des Kunden Klarheit zu verschaffen. Hierzu gehört auch, den wirtschaftlichen Hintergrund und die geschäftlichen Aktivitäten des Kunden, die in der Kontobeziehung ihren Niederschlag finden und dort abgebildet werden, zu verstehen und auftretenden Zweifeln im Rahmen des Zumutbaren nachzugehen. Daher müssen auch Zahlungsströme und Finanztransaktionen darauf hin untersucht werden, ob sie einen kriminellen Hintergrund haben.43 Bleiben Zweifel, hat die Bank weitere Nachforschungen anzustellen. Das mag eine Internetrecherche ebenso einschließen wie eine aussagefähige Selbstauskunft des (neuen) Kunden, die die Bank bei Hereinnahme auf Plausibilität zu prüfen hat. Allerdings ist unklar, wie weit die 37 FATF-Leitfaden, Rdn. 3.12. Sowohl die Gesetzesbegründung als auch die Core Principle akzeptieren ausdrücklich die Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. 38 Kaetzler, CCZ, 175. 39 Nr. 4.2.1 des Leitfadens. 40 Braun (oben Fn. 14) § 25a KWG Rdn. 514. 41 Gößmann, in: Schimansky/Bitter, Bankrechtshandbuch, 3. Aufl. 2007, § 27 Rdn. 14. 42 z.B. Die Listen von world check. Auch die Schufa soll an einem System „Fraud Prevention Network“ arbeiten. 43 Braun (oben Fn. 14) § 25a KWG Rdn. 513.
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Nachforschungspflicht bei der Kontoeröffnung geht; hier lässt das Gesetz die Banken alleine, und es bleiben rechtsstaatliche Bedenken. Monitoringsysteme44, ebenfalls in Principle 18 niedergelegt: Banken müssen über ausreichende Kontrolleinrichtungen und Systeme verfügen, die geeignet sind, einen möglichen Missbrauch von Finanzdienstleistungen zu verhindern, zu erkennen und anzuzeigen: Das Gesetz und seine Begründung verwenden daher viel Aufmerksamkeit auf Monitoringsysteme, mit denen der Zahlungsverkehr überwacht werden soll. Kreditinstitute, so sagt es die Gesetzesbegründung, sind bereits aufgrund ihrer Funktion als Kapitalsammelstellen und im Rahmen des nationalen und internationalen Zahlungsverkehrs besonderen Risiken ausgesetzt; damit sind die Risiken gemeint, zur Geldwäsche und zur Terrorismusfinanzierung missbraucht zu werden. Daher setzt das Gesetz auf Monitoringsysteme, mit denen der Zahlungsverkehr lückenlos überwacht werden kann. Dies hat die Qualität einer Rasterfahndung45, denn die Gesetzesbegründung hält eine anlassbezogene Prüfung, also erst dann, wenn ein Geldwäscheverdacht vorliegt, für zu spät. Die Kriterien für die Prüfung der Monitoringsysteme sind ebenfalls recht allgemein formuliert und sind „Risikogruppen und Auffälligkeiten“, die nach dem national und international vorhandenen Erfahrungswissen über die Geldwäsche auf diese hinweisen, Man wird allerdings sagen müssen, dass das Gesetz nicht konkreter sein kann, wenn es seinen principle based Ansatz ernst nimmt. Hinweisgebersystem/whistle-blowing46: Das whistle-blowing hat sich, obwohl anfänglich sehr misstrauisch besehen, zu einem tauglichen Instrument der Aufdeckung entwickelt. Ein Institut beauftragt einen außenstehenden Dritten mit der Entgegennahme von Hinweisen; Aufgabe des Dritten („Vertrauensperson“) ist es, im Gespräch mit dem Hinweisgeber den Hinweis zu plausibilisieren und so zu konkretisieren, dass das IKS des Instituts der Angelegenheit nachgehen kann. Die Schwierigkeit dabei ist, echte von anschwärzenden Hinweisen zu trennen und den Hinweisgeber, der in der Regel nur einen Verdacht, aber keine Beweise hat, zu schützen. Die Erfahrungen, die mit dem Hinweisgebersystem gemacht worden sind, lassen erwarten, dass es zu einem erfolgreichen Instrument auch im Hinblick auf Generalprä-
44 Nr. 4.2.2 des Leitfadens. 45 …auch wenn die Gesetzesbegründung diesen Begriff ausdrücklich vermeidet. 46 Nr. 4.3.5 des Leitfadens.
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vention wird, das dem IKS wertvolle Hinweise liefert.47 Das Hinweisgebersystem soll im Gesetz (§ 612a BGB neu „Anzeigerecht“) verankert werden, um Rechtsunsicherheiten, die aus der BAG-Rechtsprechung48 kommen zu beseitigen. Das BAG hat das Recht zur außerbetrieblichen Anzeige ohne vorhergehenden Versuch einer innerbetrieblichen Abhilfe nur bei schwerwiegenden und mit erheblichen Gefahren verbundenen Rechtsverletzungen durch den Arbeitgeber oder dessen Organe erlaubt. Deshalb hat das BAG den Arbeitnehmer im Regelfall dazu angehalten, sich erst einmal innerbetrieblich um Abhilfe zu bemühen. Bislang ist die Rechtslage unsicher, und jeder Arbeitnehmer, der sich in einem Loyalitätskonflikt befand, musste darauf achten, dass er stichfeste Beweise vorlegen konnte, widrigenfalls ein Hinweis als Anschwärzung oder als Bruch von Verschwiegenheitsverletzungen angesehen werden konnte. Die Folge davon kann eine außerordentliche Kündigung sein. Das sieht auch die Gesetzesbegründung so: § 612a BGB neu sieht daher das Recht eines jeden Arbeitnehmers vor, sich natürlich zuerst an eine innerbetriebliche Stelle, bei Unzumutbarkeit aber auch direkt an eine Stelle außerhalb zu wenden, um auf Missstände hinzuweisen. Von Bedeutung für die Unzumutbarkeitsschwelle ist § 612a BGB neu Abs. 2 Nr. 4, denn das Recht, nach draußen zu gehen, ist schon dann gegeben, wenn eine innerbetriebliche Abhilfe nicht oder nicht ausreichend erfolgen wird.49 Wie im Einzelfall die Beurteilung ausfällt, mag hier offen bleiben, ein wesentlichen Abwägungskriterium für den Arbeitnehmer ist jedoch das Wertesystem des Unternehmens und das Funktionieren von Compliance. Ein besserer Informantenschutz ermutigt jeden Arbeitnehmer, einen eigenen Beitrag zum Funktionieren der Rechtsordnung zu leisten und den Verantwortlichen Dinge und Umstände zur Kenntnis zu bringen, die bislang aus Furcht verschwiegen worden sind.50 Diese generalpräventive Wirkung wird auch das Compliancesystem stärken. Mitarbeiterschulung: Von besonderer Bedeutung für die BaFin sind Mitarbeiterschulung und Mitarbeiterbewusstsein. Compliance starts at the top, sagen die Baseler Prinzipien, darf aber dort nicht stecken bleiben. Eine Bank 47 Vgl. hierzu den Entwurf zu § 612a BGB. 48 BAG NZA 2004, 427. 49 Diese Hürde hält der Anwaltverein für viel zu niedrig. Vgl. dessen kritische Stellungnahme Nr. 31/2008, abrufbar unter . 50 Vgl. auch: BVerfG NJW 1987, 1929; NJW 2001, 3474.
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wird nur dann die Compliancerisiken beherrschen können, wenn jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter ein entsprechendes Bewusstsein hat. Investigation: Compliance-Regeln sind nur dauerhaft effektiv (und werden dauerhaft ernst genommen), wenn Verstöße nicht folgenlos bleiben. Ein System zur Aufdeckung betrügerischer Handlungen ist daher unvollständig ohne eine Aufklärung von Sachverhalten, bei denen sich Anhaltspunkte für Fehlverhalten ergeben; deswegen verpflichtet § 91 Abs. 2 den Vorstand einer AG im Rahmen von Früherkennungssystemen auch zur Einrichtung eines Überwachungssystems – ergänzt um die Überwachungspflicht des Aufsichtsrates aus § 111 AktG.51 Deswegen hat jedes Institut dafür Sorge zu tragen, dass im Rahmen einer Investigation Policy Verdachtsmomente mit der nötigen Konzentration und unter Einsatz angemessener Mittel aufgeklärt werden.52 Dem risikobasierten Ansatz folgend, hat jedes Institut zu entscheiden, wie ausdifferenziert die Investigation Policy sein muss.53 Manchmal mag ein einfacher Auftrag an die Revision genügen, bei Hochrisiko-Geschäftsmodellen kommt die Einrichtung einer eigenen Einheit unter Beschäftigung von ehemaligen Staatsanwälten oder Kriminalbeamten in Betracht. Das geschäftsleitende Organ hat aufgrund der Gefährdungsanalyse zu entscheiden, in welchem Ausmaß die Investigation Policy umgesetzt wird; eine Entscheidungsfreiheit, in bezug auf das Ob hat das Organ indes nicht mehr, denn inzwischen gehören zu einer ordnungsgemäßen Organisation Instrumente zur Aufdeckung von Unregelmäßigkeiten und Straftaten. Wirksamkeitserfordernis ist nicht nur die Besetzung der Investigationseinheit mit angemessen erfahrenen Mitarbeitern, die über die nötigen Kompetenzen (und damit über die nötige Durchsetzungsfähigkeit verfügen), sondern auch die richtige rechtliche Absicherung, da sich ein Unternehmen nicht einfach in die Rolle einer Staatsanwaltschaft mit den Befugnissen der StPO versetzen kann. Deswegen hat der Arbeitgeber das grundgesetzlich geschützte Persönlichkeitsrecht zu respektieren, das den Arbeitgeber zu einer Abwägung der widerstreitenden
51 Hehn/Hartung, DB 2006. 1909; Pahlke, NJW 2002, 1680. 52 Immerhin sind 31% der Täter eigene Mitarbeiter. Rund 14% der Täter stammen aus dem Top-Management, so die PwC Studie „Wirtschaftskriminalität bei Banken und Versicherungen“ aus dem Jahr 2006. 53 Hauschka/Greeve, BB 2007, 165, die sich mit den unterschiedlichen Anforderungen je nach Unternehmensgröße befassen.
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Interessen im Einzelfall zwingt.54 Der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers mag gerechtfertigt sein, wenn sich der Arbeitgeber in einer notwehrähnlichen Situation befindet, die dann vorliegt, wenn der Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer anderen schweren Verfehlung besteht, der Arbeitgeber aber alle anderen in Betracht kommenden Möglichkeiten, etwa die der klassischen Revision ausgeschöpft hat.55 Eine weitere Beschränkung des Arbeitgebers bei der Investigation Policy ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip, denn offen erkennbare Ermittlungsmaßnahmen sollen den Vorrang vor heimlichen Maßnahmen haben.56 Besonders sind die arbeitsrechtlichen Aspekte sowie der Datenschutz zu bedenken.57 Hat sich ein Unternehmen einen Code of Conduct gegeben, so kann ein Hinweis auf arbeitsrechtliche Konsequenzen bei Verstößen als vorweggenommene Abmahnung angesehen werden, und zwar dann, wenn die befürchtete Pflichtverletzung des Arbeitnehmers hinreichend konkret bezeichnet ist.58 Sicher ist nur, dass nur besonders schwerwiegende Verstöße eine außerordentliche Kündigung ohne Abmahnung erlauben, so etwa Bestechung, Insiderhandel oder Untreue; daher empfiehlt es sich, im Rahmen des Code of Conduct die Anforderungen an das Verhalten der Arbeitnehmer klar zu definieren, so dass im Arbeitsgerichtsprozess nicht auf allgemeine Nebenpflichten zurückgegriffen werden muss. Der Code of Conduct als Grundlage für eine Investigation Policy wirkt aber auch zugunsten des Arbeitnehmers, denn er schafft Rechtssicherheit, indem Grenzen gezogen werden. Dies betrifft insbesondere die Geschenkeregelung: Der Arbeitnehmer hat Anspruch darauf, die Grenze der Erlaubten so deutlich aufgezeigt zu bekommen, dass er sich im Kundenverkehr sicher bewegen kann und weiß, wie er sich bei der Annahme von Geschenken oder dem Angebot von Vergünstigungen verhalten muss.
54 55 56 57 58
stRSpr seit BGH NJW 1958, 1344. BVerfG, AP Nr. 34 zu § 611; BGH NJW 1982, 277. Maschmann, NZA 2002, 13. Hehn/Hartung, DB 2006, 1909. Die Androhung von Konsequenzen ist zulässig: Schuster/Darsow, NZA 2005, 273. Zum Konkretisierungsgrad: BAG, AP Nr. 32 zu § 99 BetrVG 1972.
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IV. Deutscher Corporate Governance Kodex Auch der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK in der Fassung vom 6. Juni 2008) enthält allgemeine Compliance Regelungen, wobei man von „Vorschriften“ in diesem Zusammenhang nicht sprechen mag; deshalb verwendet der DCGK in seiner Präambel die Vokabel, dass der DCGK der Selbstregulierung der deutschen Unternehmensverfassung dient. Vielmehr ist jedes (börsennotierte) Unternehmen gehalten, den DCGK für sich anzuwenden, und hat die Anwendung in einer Entsprechenserklärung offenzulegen bzw. zu erklären, warum es den DCGK nicht oder nur mit Änderungen anwendet. Der DCGK, auch wenn er nur Verhaltensstandards enthält, definiert doch die Aufgabe der Unternehmensführung in einem stark risikoorientierten Sinn. Damit wird der DCGK nicht nur zum Wettbewerbsfaktor,59 sondern schärft auch die Anforderungen an die individuelle Ausübung der Managementtätigkeit, so dass Begriffe wie beispielsweise die Vermögensbetreuungspflicht in § 266 StGB sichtbare Konturen bekommen. Nach 4.1.3 des DCGK hat der Vorstand für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und er unternehmensinternen Richtlinien zu sorgen und wirkt auf deren Beachtung durch die Konzernunternehmen hin (Compliance). Nr. 4.1.3. ist deklaratorisch,60 weil Nr. 4.1.3 die ohnehin bestehende Verpflichtung des Vorstands nur wiederholt; daher hat Nr. 4.1.3. eher den Charakter eines Programmsatzes. Auch wenn Nr. 4.1.3 die Pflichten des Vorstands nicht konkretisiert, weder Empfehlungen noch Anregungen gibt,61 auch wenn jedes Unternehmen im Rahmen des DCGK individuell entscheiden kann und soll, welche Ausprägung das individuelle Compliancesystem haben soll, so wird doch eines klar: Der Vorstand, jeder Vorstand, hat die kollektive und individuelle Verpflichtung, ein Regelwerk und ein System zu schaffen, angemessen auszustatten und nachhaltig zu betreiben. Andernfalls setzt sich jeder Vorstand dem Vorwurf aus, er habe seine Organisationspflichten und seine Aufsichtspflichten verletzt.
59 Pampel/Glage, Corporate Compliance, München 2007, 5.13. 60 v. Weder/Ringleb in: Ringleb/Kremer/Lutter/von Werder, DCGK, 3. Aufl. München 2008, Rdn. 615. 61 Ringleb, DCGK (vorige Fn.) Rdn. 617. Vgl unten die Ausführungen zum BilModG und zum PS 210.
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Nach Nr. 5.3.2 DCGK soll ein Prüfungsausschuss eingerichtet werden,62 der sich insbesondere mit den Fragen der Rechnungslegung, des Risikomanagements und des Compliance befassen soll. Diese Soll-Vorschrift ist für börsennotierte Gesellschaften durch Art. 41 Abschlussprüferrichtlinie zu einer echten gesetzlichen Verpflichtung aufgewertet worden. Normzweck ist die Stärkung des Internen Kontrollsystems (IKS), und zwar dadurch, dass überhaupt ein Prüfungsausschuss eingerichtet wird. Nach § 117 AktG gehört die Abschlussprüfung i.w.S. zu den Befugnissen des Gesamtaufsichtsrates, der seine Tätigkeit allerdings nach § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG auf einen Ausschuss delegieren darf. Sowohl DCGK als auch BilModG stärken nunmehr die Aufsichtsfunktion, indem der Prüfungssausschuss jetzt (quasi) obligatorisch wird und daneben auch gesagt wird, mit welchen Befugnissen und welcher Fachkompetenz der Prüfungsausschuss auszustatten ist. Besonderen Wert legen die Vorschriften auf die Unabhängigkeit, weil Situationen vermieden werden sollen, in denen Kontrolleure eigenes früheres Tun kontrollieren sollen,63 und auf die fachliche Qualifikation der Ausschussmitglieder, namentlich des Ausschussvorsitzenden. Vom Vorsitzenden wird erwartet, dass er alle Aufgaben des Ausschusses kraft eigener Erfahrung und Kompetenz und ohne dass ihm von Dritter Seite souffliert wird, beurteilen kann. In Anlehnung an den Sarbanes-Oxley-Act wird man fordern müssen, dass der Ausschussvorsitzende ein financial expert ist,64 der als Finanzvorstand, Leiter des Rechnungswesens oder der Revision gearbeitet hat oder als Wirtschaftsprüfer tätig war. Man wird sicherlich nicht so weit gehen müssen, den Vorsitzenden, auch unter Rücksichtnahme auf das Gebot der Unabhängigkeit stets von außen in das Unternehmen zu holen, aber die Zeiten der reinen Ehrenämter und Sinekuren ist vorbei. Nr. 3.4, insbesondere der zweite Absatz, fordert regelmäßige, zeitnahe und umfassende Information des Aufsichtsrates auch und gerade über Compliancethemen. Angesichts der umfassenden Regelung der Berichtspflichten in §§ 90 ff. AktG kommt Nr. 3.4 DCGK materiell keine wirklich eigenständige Bedeutung zu.65 Man wird aber sagen können, dass der DCGK vom 62 Audit Committee freilich nicht mit dem angloamerikanischen AC zu verwechseln, v. Weder/Ringleb, DCGK, München 2008, Rdn. 991. 63 Satz 2 in Nr. 5.3.2; Kremer, DCGK (oben Fn. 60) Rdn. 995. 64 Kremer, DCGK (oben Fn. 60) Rdn. 1005. 65 Lutter, DCGK (oben Fn. 60) Rdn. 381.
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Konzept einer ganzheitlichen Unternehmensüberwachung ausgeht und daher auch Auswirkungen auf die Organisation hat.66 Insgesamt verdeutlicht Nr. 3.4 DCGK die überragende Bedeutung der Information und legt es dem Aufsichtsrat daher nahe, den Informationsfluss in einer schriftlich fixierten Ordnung zu strukturieren.
V. Besonderes Compliance: Geldwäschebekämpfungsergänzungsgesetz 1. Einführung Am 21. August 2008 ist das Gesetz zur Ergänzung der Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung (Geldwäschebekämpfungsergänzungsgesetz – GwBekErgG, auch „GwG n.F.“) vom 13. August 2008 in Kraft getreten. Das Gesetz dient der nationalen Umsetzung der Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2005 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusbekämpfung,67 die zuletzt durch die Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 geändert worden ist. Weiterhin dient es der Umsetzung der Richtlinie 2006/70/EG der Kommission vom 1. August 2006 mit den Durchführungsbestimmungen der zuvor genannten Richtlinie hinsichtlich der Begriffsbestimmung von „politisch exponierten Personen“ und der Festlegung der technischen Kriterien für vereinfachte Sorgfaltspflichten sowie für die Befreiung in den Fällen, in denen nur gelegentlich oder in sehr eingeschränktem Umfang Finanzgeschäfte getätigt werden. Die Richtlinien ihrerseits setzen die Vorgaben der Financial Action Task Force on Money Laundering (FATF) in europäisches Recht um, so dass das GwG n.F. Teil einer weltweiten Initiative zur Bekämpfung der Geldwäsche, der Terrorismusfinanzierung und von unsauberen Finanztransaktionen ist. Das GwG n.F. reformiert das Geldwäsche- und Compliancerecht gründlich und vollständig und erweitert auch den Begriff Geldwäsche selbst. So wird nicht nur das GwG komplett neu gefasst, sondern auch das KWG um 66 Obermayr in: Hauschka, Corporate Compliance, München 2007, § 16 Rdn. 10. 67 Höche, WM 2005, 8.
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sechs Paragraphen ergänzt, die den Bereich der Geldwäsche verlassen und eher dem allgemeinen Compliance zuzurechnen sind. Um das Netz dicht zu machen, hat sich der Gesetzgeber auch des VAG angenommen. Inhaltlich fasst das Gesetz insbesondere die Sorgfaltspflichten der Kreditinstitute neu, und zwar im Sinne eines risikoorientierten Ansatzes. Der risikoorientierte Ansatz, der zu den zentralen Neuregelungen gehört und eine wesentliche Abkehr von der bisherigen Systematik darstellt, berücksichtigt, dass es unterschiedliche Gefahrensituationen für eine Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung bei Transaktionen oder Geschäften gibt. Er soll eine institutsspezifische zielgenaue und effiziente Ausgestaltung der Maßnahmen zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung erlauben, und soll, so der ausdrückliche Wunsch des Gesetzgebers, unnötigen organisatorischen und bearbeitungsmäßigen Aufwand vermeiden. Allerdings bürdet der Gesetzgeber den Instituten nunmehr die Pflicht auf, auch die Transaktionen aus neuen und bestehenden Kundenverbindungen zu prüfen, mithin also sich um das Grundgeschäft zu kümmern, das für die Banken bislang tabu war, mit welchem bemerkenswert qualitativen Sprung natürlich ein erheblicher Überwachungsaufwand verbunden ist. Den hohen Kostenaufwand, der trotz der entgegengesetzten Beteuerungen des Gesetzgebers durch die Umsetzung der Gesetzesänderung entsteht, haben allein die Verpflichteten, also die Kreditwirtschaft, zu tragen. In der 843. Sitzung des Bundesrates führt er in seiner Stellungnahme aus, dass die Bürokratiekosten der deutschen Kreditwirtschaft für die Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung € 775 Millionen betragen sollen. Die Verpflichteten übernehmen mit der Beachtung des GwG n.F. nicht mehr und nicht weniger einen staatlichen Schutzauftrag indem sie, wie schon in der Diskussion um § 24c KWG beklagt worden ist, quasi-staatsanwaltliche Aufgaben zu erfüllen haben, welche Rolle vom Gesetzgeber ohne entsprechende Entlastung oder Entschädigung an die Kreditwirtschaft weitergereicht wird. Für die Inanspruchnahme bei der Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung wäre es wünschenswert, wenn die bereits vorhandenen Mittel ausreichend ausgeschöpft würden und eine entsprechende Entlastung oder Ausgleich für die Umsetzung der Neuerungen für die Verpflichteten geschaffen würde. Das Bundesministerium der Finanzen und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht haben hinsichtlich der Aufsichts- und Prüfungspraxis einen Übergangszeitraum von neun Monaten bis zum 21. Mai 2009 zur Implementierung der Gesetzesänderung eingeräumt, so dass bis dahin noch
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ein zeitlicher Spielraum für die Umsetzung der umfassenden Maßnahmen bei den Verpflichteten des GwG n.F. verbleibt. Dies ist auch erforderlich, da die Kreditwirtschaft praxisgerechte Auslegungs- und Anwendungshinweise erarbeiten muss und die internen Prozesse und Datenverarbeitungssysteme an die Neuerungen angepasst werden müssen. Dies wird auch erforderlich sein, denn die Gesetzessystematik des GwG n.F. ist für den mit dem Geldwäschegesetz nicht vertrauten Leser wenig glücklich aufgebaut. Es werden zahlreiche Regeln, Ausnahmen, Rückausnahmen, Verweisungen und unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet, die es wegen der möglichen Sanktionen für den Verpflichteten erschweren, eine für den Geschäftsverkehr notwendige schnelle und dazu sichere Entscheidung leicht treffen zu können. Ein erhöhtes Risiko besteht bei den sogenannten „politisch exponierten Personen“ (PEP).68 Weiterhin werden die Identifizierungspflichten für juristische Personen, Personengesellschaften und sonstige Rechtsgestaltungen auf den wirtschaftlich Berechtigten ausgedehnt. Die Feststellungen der Beherrschungs- und Kontrollfunktionen beim Vertragspartner und die Feststellung des Veranlassers hinter einer Transaktion oder einem Geschäft sollen eine rechtswidrige Nutzung durch den Geldwäscher oder Terrorismusfinanzierer verhindern.69 Mit den Änderungen soll eine größere Transparenz geschaffen werden, die den Missbrauch der Transaktionen zu Zwecken der Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung verhindert.70 2. Anwendungsbereich Das Geldwäschegesetz (GwG n.F.) richtet sich an die Kreditinstitute, die Finanzdienstleistungsinstitute, die Finanz- und die Versicherungsunternehmen, die Versicherungsvermittler, die Investmentaktiengesellschaften, die Rechtsanwälte, die Kammerrechtsbeistände, die Wirtschaftsprüfer, die Treuhänder, die Immobilienmakler, die Spielbanken und an die Personen, die gewerblich mit Gütern handeln. Selbstverständlich gilt es auch für Notare, die sich, wenn das von ihnen favorisierte „beteiligtenorientierte Anderkonto“71 68 Höche, WM 2005, 8. 69 Lorenz, WM 2008, 663, 664. 70 Gesetzesbegründung der Bundesregierung, unter B. Besonderer Teil, Zu Artikel 2 § 3 Abs. 1 Nr. 1, S. 27. 71 Zimmermann, BNotZ 2008, 91.
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kommt, in den Niederungen des Geldverkehrs wiederfinden werden. Bei allen Verpflichteten gilt, dass sie für die Anwendbarkeit des GwG n.F. in Ausübung ihres Geschäfts oder beruflichen Tätigkeit handeln müssen. Für die nach § 2 des GwG n.F. benannten Verpflichteten gibt es wiederum Ausnahmen, die deren Adressatenkreis einschränken. Eine Befreiung von den Pflichten des GwG n.F. ist nach § 2 Abs. 2 GwG n.F. sogar möglich, wenn die Finanztätigkeit nur gelegentlich, in einem sehr begrenztem Umfang ausgeübt wird. Eine weitere Befreiung ist vorgesehen, wenn nur ein geringes Risiko der Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung besteht. 3. Risiko der Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung Die Sorgfaltspflichten der Verpflichteten richten sich danach, ob ein geringes oder erhöhtes Risiko bzw. Gefahr der Geldwäsche oder der Terrorismusfinanzierung besteht. Das GwG n.F. nennt einige Fälle für ein geringes oder erhöhtes Risiko, welche aber durch die Ermächtigung der Ministerien zur Benennung weiterer Fälle nicht abschließend sind. Das führt dazu, dass die Verpflichteten stets zur Beachtung der aktuellen Rechtsverordnungen verpflichtet und rechtzeitig über die neuen Fallgruppen unterrichtet sein müssen. Weiterhin könnte es in den EU-Staaten zu unterschiedlichen Fallbildungen kommen, die eine Vereinheitlichung und Erleichterung des Wirtschaftskreislaufes erschweren kann, wenn nicht eine internationale Abstimmung auf allgemeinverbindliche internationale Standards erfolgt. Am bedeutsamsten ist der Wechsel hin zum risikobasierten Ansatz, der die Entscheidung, welche konkreten Maßnahmen zu ergreifen sind, dem jeweiligen Institut überlässt. Die zentrale Regelung dazu ist § 3 Abs. 4 GwG n.F. Der konkrete Umfang der Maßnahmen hat sich am Risiko aus der Person des Vertragspartners, der Transaktion oder allgemein der Geschäftsbeziehung auszurichten. Daher hat die Bank anhand einer Gefährdungsanalyse zu entscheiden, wie das eigene Risikoprofil aussieht und welche Maßnahmen zur Abwehr zu ergreifen sind. Einen Teil der Entscheidung nimmt das Gesetz dem Institut indessen ab, denn das Gesetz selbst definiert Sachverhalte, die per se risikoarm oder risikobehaftet sind. Bei risikoarmen Sachverhalten ist unter engen Voraussetzungen ein Verzicht auf Prüfungs- und Vorsorgehandlungen erlaubt. Beispielsweise können im Hinblick auf Kreditinstitute aus EU Ländern, gleichwertige aufsichtsrechtliche Regelungen unterstellt, oder bei börsennotierten Unternehmen bestimmte Kundensorgfaltspflichten, darunter
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auch Identifizierung oder Feststellung des wirtschaftlich Berechtigten, entfallen. Einzelheiten sind aber noch unklar. a) Erhöhtes Risiko Die Verpflichteten müssen bei der Einhaltung des GwG n.F. zunächst prüfen, ob ein erhöhtes Risiko der Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung bei einer Geschäftsbeziehung oder Transaktion besteht. § 6 Abs. 2 GwG n.F. nennt Maßnahmen bei einer Geschäftsbeziehung mit politisch exponierte Personen (PEP) und deren nahen Angehörigen. Wegen der besonderen Maßnahmen für solche Personengruppen ist eine solche Geschäftsbeziehung ein erhöhtes Risiko; dies löst verstärkte Sorgfaltspflichten aus. b) Geringes Risiko Ein geringes Risiko besteht nach § 5 Abs. 2 GwG n.F. bei einer Transaktion oder Geschäftsbeziehung mit einem anderen Verpflichteten, wenn dieser einem vergleichbaren Schutz gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung unterliegt. Dabei kommt es für die Verpflichteten des GwG n.F. darauf an, dass die Transaktion oder der Geschäftspartner vergleichbare Anforderungen erfüllt, einer gleichwertigen Aufsicht unterliegt und die Transparenzund Dokumentationsverpflichtungen erfüllt. Das stellt den Verpflichteten vor die Herausforderung mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen, welche Staaten einen vergleichbaren Schutz durch die Einhaltung eines internationalen Standards vorhalten und ob dieser auch wirksam in seiner Geschäftsbeziehung eingehalten wird. Der Übergang von einem geringen Risiko zu einem erhöhten Risiko erfolgt aber schon dann, wenn Informationen vorliegen, die das Risiko der Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung als nicht gering erscheinen lassen. Der Verpflichtete des GwG n.F. ist daher stets zur Beachtung der ihm vorliegenden, zugänglichen und einholbaren Informationen angehalten. 4. Sorgfaltspflichten Als wesentliche Neuerung des Anti-Geldwäsche-Instrumentariums ist die „Schaffung interner Organisationsanweisungen“ zu nennen, „die unter Berücksichtigung der Größe, Organisation und Gefährdungssituation des einzelnen Kreditinstituts, insbesondere dessen Geschäfts- und Kundenstruktur
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gewährleisten sollen, dass diejenigen Transaktionen mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt werden, die bereits in der Vergangenheit unter Geldwäschegesichtspunkten auffällig geworden sind“ (so genannte „Aufklärungspflicht“ oder „Research“). Hiermit verfolgt die BaFin die Zielsetzung, im Zuge einer institutsspezifischen Gefährdungsanalyse risikoträchtige Konstellationen im Geschäftsverkehr der Institute zu identifizieren. Je nachdem, ob ein geringes oder erhöhtes Risiko der Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung besteht, entstehen entweder vereinfachte oder verstärkte Sorgfaltspflichten für die Verpflichteten bei einer Transaktion oder im Geschäftsverkehr. Die Anforderungen an den Sorgfaltsmaßstab werden durch den Risikogehalt in einer Geschäftsbeziehung oder Transaktion bestimmt. Diese Maßnahmen dienen aus der Sicht der BaFin der Einhaltung des Know your customer-Prinzips. Das Know your customer-Prinzip verlangt von den Instituten nicht nur, sich über die Identität des Kunden Klarheit zu verschaffen. Hierzu gehört auch, den wirtschaftlichen Hintergrund und die geschäftlichen Aktivitäten des Kunden, die in der Kontobeziehung ihren Niederschlag finden und dort abgebildet werden, zu verstehen und auftretende Risiken zu erkennen. a) Allgemeine Sorgfaltspflichten Nach dem durch eine institutsinterne Risikoanalyse ermittelten Risikogehalt, der in einer Geschäftsbeziehung oder einer Transaktion für Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung bestehen kann, bestimmt sich der konkrete Umfang der Maßnahmen, die von dem Verpflichteten dagegen zu ergreifen ist. Der Umfang der Maßnahmen muss dem Risikogehalt angemessen sein. Die Angemessenheit richtet sich nach der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zum Risiko in der jeweiligen Geschäftsbeziehung, zum Vertragspartner oder der Transaktion. Sobald der Verpflichtete die Maßnahme nicht ergreifen kann, darf die Geschäftsbeziehung nicht begründet, fortgesetzt oder die Transaktion durchgeführt werden. Damit hat das GwG die Qualität eines lex contractus, denn es wirkt unmittelbar auf die Geschäftsbeziehung der Bank zum Kunden ein. Dazu zählt die Identifizierungspflicht des Vertragspartners, die Einholung von Informationen über den Zweck und die angestrebte Art der Geschäftsbeziehung, die Abklärung, ob der Vertragspartner für einen wirtschaftlich Berechtigten handelt und dessen Identifizierung oder die kontinuierliche
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Überwachung der Geschäftsbeziehung mit den durchgeführten Transaktionen. Die Kernpflichten sind völlig neu strukturiert und auch materiell in Richtung Grundgeschäft erweitert. Im Vergleich zur bisherigen Regelung ist die Abklärung des Geschäftszwecks mit der Informationseinholung über Zweck, Art und Hintergrund der Geschäftsbeziehung erforderlich; so sagt es § 3 Abs. 1 Nr. 2 GwG. Die Informationen sollen die Einschätzung erleichtern, welches Vertragspartnerrisiko die Bank eingeht. Da allerdings der deutsche Gesetzgeber auch stets das Wohl des Fiskus im Auge hat, bleibt § 154 AO unangetastet. Bei der Eröffnung von Konten und Depots ist daher nach wie vor der Name des Verfügungsberechtigten zu erheben und nach Maßgabe des AEAO und des § 24c KWG abrufbereit zu halten. Ein praktisches Problem entsteht bei einem berechtigten Interesse des Geschäftspartners, Betriebsgeheimnisse nicht zu offenbaren. Die Preisgabe von Informationen kann gleichzeitig die Gefahr von Wettbewerbsnachteilen durch eine Datenoffenbarung begründen. Dieser Gefahr kann nur durch eine absolut vertrauliche Behandlung der anvertrauten Informationen gewährleistet werden; dabei steht allerdings zu befürchten, dass der Umgang mit den GwG-Pflichten sich zu einem Wettbewerbsfaktor auswachsen kann: Je nach der Anwendungskonsequenz mag sich der eine oder andere Kunde einem Institut zuwenden, das mit den Pflichten etwas großzügiger umgeht. Neu ist auch, dass der wirtschaftliche Berechtigte nicht mehr die natürliche oder juristische Person ist, für deren Rechnung unmittelbar gehandelt wird. Wirtschaftlicher Berechtigter ist derjenige, der den Vertragspartner auch nur mittelbar kontrolliert, auf dessen Veranlassung der Vertragspartner tätig wird oder der hauptsächlich Begünstigter einer fremdnützigen Gestaltung ist. Auch hier wird ein Einblick in die Geschäftsgeheimnisse für nicht öffentliche zugängliche Bereiche verlangt, die ein hohes Maß an Sicherheit für den vertraulichen Umgang mit diesen Informationen abverlangt. Der Aufwand, der mit der Sicherstellung dieser vertraulichen Informationen erforderlich ist, wird stetig steigen. Ein weiteres praktisches Problem wird sein, dass viele Informationen auch nur schwer zu bekommen sind, wenn sie nicht freiwillig preisgegeben werden.72 Allein für die kontinuierliche Überwachung der Geschäftsbeziehung ist das Anlegen eines Kundenprofils, die Sammlung von Informationen über den 72 Köhling/Lambert, WM 2007, 1780, 1783.
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Kunden und eine jeweilige Analyse erforderlich, die das einzelne Geschäft auf ihre Vereinbarkeit mit der bisherigen Tätigkeit überprüft. Dafür werden eine große Menge an Informationen und persönliche Daten benötigt. Es werden nicht nur mehr Daten über die wirtschaftlichen Verhältnisse erhoben und gespeichert, sondern auch Einblicke in die Persönlichkeit des Kunden und die Bewertung seines Verhaltens abverlangt. Dies verlangt eine hohe Verantwortung für den vertraulichen Umgang mit den so erlangten Daten und einen hohen Grad an Professionalität und Erfahrung zur richtigen Bewertung einer Transaktion und eines Geschäftsvorfalles. b) Verstärkte Sorgfaltspflichten Bei einem erhöhten Risiko der Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung haben die Verpflichteten dem erhöhten Risiko angemessene verstärkte Sorgfaltspflichten zu erfüllen. Zu diesen verstärkten Maßnahmen zählen die Zustimmungspflicht des Vorgesetzten bei der Begründung einer Geschäftsbeziehung, die Ermittlung der Herkunft des Vermögens und die verstärkte und kontinuierliche Überwachung der Geschäftsbeziehung. Weiterhin ist der Vertragspartner zu verpflichten, die erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen und Änderungen anzuzeigen. Der verstärkte Umfang der Maßnahmen zur Verhinderung der Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung betrifft nach § 6 Abs. 2 GwG n.F. nicht im Inland ansässige natürliche Personen, die ein wichtiges öffentliches Amt ausüben oder ausgeübt haben (PEP). Als ein solches wichtiges öffentliches Amt ist die Funktion als Staats- und Regierungschef, als Minister und stellvertretender Minister, als Staatssekretär, als Parlamentsmitglied, als Mitglied oberster Gerichte oder Justizbehörden, als Botschafter, als Geschäftsträger, als hochrangiger Offizier der Streitkräfte oder als Mitglied der Leitungs-, Verwaltungs- und Aufsichtsgremien staatlicher Unternehmen anzusehen.73 Zu den PEPs zählen auch die unmittelbaren Familienmitglieder der Personen in diesen zuvor genannten Funktionen und auch die der PEP bekanntermaßen nahe stehenden Personen, wenn dies öffentlich bekannt ist oder ein Anhaltspunkt dafür besteht, ohne dass dafür eine Nachforschungspflicht besteht. Die öffentlichen Ämter müssen auf nationaler Ebene ausgeübt worden sein oder
73 Groß/Ganguli, in Anlage 1 der VÖB Online, M 347/08 vom 28.8.08, S. 8.
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werden. Andere Ämter fallen nur darunter, wenn sie mit diesen hohen Ämtern vergleichbar sind. Die Verpflichteten müssen daher die schon einschlägig bekannten politischen Personen ermitteln, im Datensatz einpflegen und mit ihrem bisherigen Bestand abgleichen. Dabei müssen sich die Verpflichteten der allgemeinen Medien bedienen oder auf veröffentlichte Listen über solche Personengruppen zurückgreifen. Weiterhin muss bei dem Geschäftsabschluss die Frage nach der Ausübung eines öffentlichen Amtes erfolgen. Wenn die Person weder in den bezeichneten Dateien geführt wird oder auch selbst keine positive Auskunft erteilt, muss die verstärkte Sorgfaltspflicht als erfüllt gelten, wenn keine Zweifel oder sonstige Tatsachen vorhanden sind, die eine andere Schlussfolgerung zulassen. c) Vereinfachte Sorgfaltspflichten Diese hohe Verantwortung, die entscheidende Fallgruppe zu erkennen, wird auch nicht durch die vereinfachten Sorgfaltspflichten entlastet. Denn eine vereinfachte Sorgfaltspflicht kann nur bestehen, wenn kein Fall der verstärkten Sorgfaltspflicht vorliegt. Erst bei einem negativen Ergebnis der zuvor erfolgten Prüfung eines erhöhten Risikos kann bei einem geringen Risiko der Geldwäsche oder der Terrorismusfinanzierung von den Maßnahmen nach dem allgemeinen Sorgfaltsmaßstab abgesehen werden. Diese Befreiungsvorschrift gilt nicht, wenn den Verpflichteten Informationen vorliegen, die darauf schließen lassen, dass das Risiko der Geldwäsche oder der Terrorismusfinanzierung nicht gering ist. 5. Bewertung der Gesetzesänderung Die Verpflichteten werden weiterhin den Gesetzesauftrag wie eine Ermittlungsbehörde wahrnehmen müssen, der die Geschäftsbeziehung belastet. Es sind kostenintensive Maßnahmen erforderlich, um die gesetzlichen Anforderungen zu erfüllen. Von den Verpflichteten wird eine hohe Professionalität, Erfahrung und analytische Befähigung verlangt, die Gefahrenlagen richtig einzuschätzen, um den Risikogehalt richtig zu bewerten, um daraufhin den richtigen Sorgfaltsmaßstab anzuwenden. Die Informationsbeschaffung, Pflege und Bewertung kann dazu beitragen, Risiken zu minimieren und Gefahren zu begegnen. Aber hinter allen Maßnahmen steht der einzelne Verpflichtete, der die richtige Einschätzung der Situation selbst treffen muss, um
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den Gesetzesanspruch zu erfüllen. Es ist bezeichnend, dass der Verpflichtete bereits bei Zweifeln über die ihm vorliegenden Informationen verpflichtet ist, die allgemeinen Sorgfaltspflichten zu erfüllen. Die Erleichterungen greifen schon dann nicht mehr, wenn sich der Verdacht einer fehlerhaften Angabe ergibt. 6. Auswirkungen auf den einzelnen Mitarbeiter der Kreditinstitute Verpflichtete der Gesetzesänderung sind nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 GwG n.F. u.a. die Kreditinstitute. Der einzelne Bankangestellte ist arbeitsrechtlich durch das arbeitsvertragliche Gestaltungsrecht zur Einhaltung der Sorgfaltspflichten verpflichtet.74 Die Nichtbeachtung der Pflichten ist nach § 17 GwG n.F. eine Ordnungswidrigkeit, die für den einzelnen Mitarbeiter nach § 9 Abs. 2 Nr. 2 OWiG bei seiner ausdrücklichen Beauftragung geahndet werden kann. Eine ausdrückliche Beauftragung liegt in der Regel nur vor, wenn der Angestellte bei der Wahrnehmung seiner Pflichten eine Leitungsfunktion wie z.B. als Geldwäschebeauftragter innehat.75 Der unterhalb dieser Position im unmittelbaren Kundenkontakt stehende Bankangestellte kann aber bei Vorliegen besonderer Entscheidungsbefugnisse und Verantwortlichkeit eine Ordnungswidrigkeit begehen.76 Weiterhin kann der Bankangestellte auch selber den Tatbestand einer Geldwäschestrafhandlung nach § 261 StGB erfüllen, wenn er auch vorsätzlich handelte.77 Mit dolus eventualis muss er mindestens billigend in Kauf nehmen, dass er z.B. eine Transaktion durchführt, bei der das verfügte Geld nicht mehr sichergestellt werden kann.78 Weiterhin muss er für eine Strafbarkeit nach § 261 StGB mindestens die kriminelle Herkunft des Geldes billigend in Kauf nehmen.79 Nach § 261 Abs. 5 StGB reicht für die Annahme strafbaren Verhaltens wegen Geldwäsche aus, dass der Angestellte die kriminelle Herkunft eines Gegenstandes leichtfertig nicht erkennt. Dies birgt für den Bankangestellten im Kundenkontakt ein hohes Risiko, sich wegen Geldwäsche strafbar zu 74 Flatten, Zur Strafbarkeit von Bankangestellten bei der Geldwäsche, Diss. Heidelberg 1996, S. 106. 75 Flatten (oben Fn. 74) 106, 107. 76 Flatten (oben Fn. 74) 107. 77 Flatten (oben Fn. 74) 107. 78 Flatten (oben Fn. 74) 108. 79 Flatten (oben Fn. 74) 109.
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machen.80 Aus Sicht des Bankangestellten konnten aufgrund der Kundenangaben noch keine Anhaltspunkte für die illegale Herkunft des Geldes vorgelegen haben. Allerdings kann aus der ex post Sicht der Verfolgungsbehörde bei Betrachtung des gesamten Umfangs und bei einer umfassenden Würdigung des Sachverhalts der Verdacht einer Geldwäschehandlung vorliegen.81 Die Abgrenzung zwischen einer noch erlaubten Handlung und dem strafbaren Unrecht ist schwer vorzunehmen. Das Tatbestandsmerkmal der Leichtfertigkeit kann daher gegen das Schuldprinzip verstoßen.82 Der Sorgfaltsmaßstab zur Beurteilung eines erlaubten und unerlaubten Risikos muss nach den persönlichen Verhältnissen des Mitarbeiters z.B. nach seiner Bildung oder Berufserfahrung erfolgen.83 Die Sorgfaltspflicht des Mitarbeiters muss seinen persönlichen Verhältnissen entsprechen und soweit er überfordert ist, hat er das Geschäft abzulehnen.84 Es geht darum, den Vortäter und den inkriminierten Gegenstand gegenüber dem legalen Wirtschaftskreislauf zu isolieren.85 Der Mitarbeiter als mittelbar Verpflichteter wird zum Hilfsorgan der Strafverfolgungsbehörde,86 denn um seine eigene Strafbarkeit oder Ordnungswidrigkeit zu vermeiden, hat er nach § 11 GwG n.F. eine Verdachtsanzeige abzugeben. Diese muss erfolgen, wenn Tatsachen festgestellt werden, die darauf schließen lassen, dass eine Tat nach § 261 StGB oder eine Terrorismusfinanzierung begangen oder versucht wird. Der Geldwäschever-
80 Flatten (oben Fn. 74) 113. 81 Flatten (oben Fn. 74) 113. 82 Kaufmann, Die Bedeutung der Einbeziehung von Bankmitarbeitern in die strafrechtliche Bekämpfung der Geldwäsche, Diss. Bremen, 2000, S. 65; Bottermann, Untersuchung zu den grundlegenden Problematiken des Geldwäschetatbestandes, auch in seinen Bezügen zum Geldwäschegesetz, Diss. Bochum, S. 137. 83 Grüninger, Die Strafbarkeit der Verletzung von Sorgfaltspflichten bei Finanzgeschäften, Art. 305ter Abs. 1 StGB, Diss. Zürich, 2005, S. 73; Schimansky/ Bunte/Lwowski-Bruchner/Fischbeck, Bankrechts- Handbuch Band I, 3. Aufl., München 2007, § 42 Rdn. 235. 84 Grüninger (vorige Fn.) 73. 85 Spiske, Pecunia olet? Der neue Geldwäschetatbestand § 261 StGB im Verhältnis zu den §§ 257, 258, 259 StGB insbesondere zur straflosen Ersatzhehlerei, Diss. Bochum, 1998, S. 153. 86 Kaufmann (oben Fn 82) 65; Körner/Dach, Geldwäsche, Ein Leitfaden zum geltenden Recht, München 1994, S. 23.
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dacht ist identisch mit dem Anfangsverdacht des § 152 Abs. 2 StPO.87 Dabei werden die Angestellten zum Zweck der staatlichen Strafverfolgung zu Lasten des Bankgeheimnisses und des Persönlichkeitsrechts aufgefordert, tätig zu werden.88 Nach dem Bankgeheimnis haben die Kreditinstitute die Pflicht, die Vermögensverhältnisse ihrer Kunden gegenüber Dritten geheim zu halten, und das Recht, entsprechende Auskünfte über die Kunden zu verweigern.89 Dieses Vertrauensverhältnis ist durch die Verpflichtung des Instituts und durch das Risiko der einseitigen Beendigung des Vertragsverhältnisses des Kunden belastet.90 Die von den Verpflichteten einzusetzenden Maßnahmen, wie z.B. das Monitoring, bei dem ein Kundenprofil erstellt wird und mit dem zu untersuchenden Verhalten abgeglichen wird, stößt an die geschützten Rechtspositionen des Bürgers nach Art. 8 MRK und Art. 1 Abs. 1, 2 GG.91 Dieser Eingriff ist durch die Verpflichtungen des § 3 GwG n.F. gerechtfertigt, wenn nicht nur bloße Vermutungen, Gerüchte oder Antipathien gegen eine bestimmte Person vorliegen, sondern konkrete Anhaltspunkte für eine Geldwäschehandlung oder Terrorismusfinanzierung gegeben sind.92 Praktisch stellen die Verpflichtungen an den Mitarbeiter hohe Anforderungen, die oftmals schwer erkennbaren besonderen Umstände der Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung zu erkennen. Es müssen besondere Umstände vorliegen, um einen Verdachtsfall annehmen zu können.93 Die Anhaltspunkte für eine Geldwäschehandlung, die von dem Bundeskriminalamt herausgegeben werden, können der Sensibilisierung der Mitarbeiter dienen. Allerdings kann die fehlende kriminalistische Erfahrung und die zahlreichen und vielschichtigen Erscheinungsformen der Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung die praktische Umsetzung des GwG n.F. erschweren. Die Bankmitarbeiter müssen daher sehr sorgfältig mit den Anhaltspunkten für
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Kaufmann (oben Fn 82) 120. Kaufmann (oben Fn 82) 135. Knorz, Der Unrechtsgehalt des § 261 StGB, Diss. Trier, 1996, S. 205. Knorz (vorige Fn.) 205. Kaufmann (oben Fn 82) 159; Schimansky/Bunte/Lwowski-Bruchner/Fischbeck (oben Fn. 83) § 42 Rdn. 307. 92 Körner (oben Fn. 86) S. 55. 93 Fülbier/Aepfelbach/Langweg, Kommentar zum Geldwäschegesetz, 5. Auflage, Köln 2006, § 6 Rdn. 8.
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einen Verdacht umgehen, damit nicht Kunden ungerechtfertigt in Verdacht genommen werden.94 7. Risikomanagement der Kreditinstitute Nach § 3 Abs. 4 GwG n.F. haben die Verpflichteten den konkreten Umfang ihrer Maßnahmen festzulegen, die dem Risikogehalt einer Geschäftsbeziehung oder zu einem Vertragspartner für eine Geldwäschehandlung oder Terrorismusfinanzierung entspricht. Damit wird den Verpflichteten mehr Spielraum durch eine Selbstregulierung eingeräumt.95 Die Verpflichteten können ihr Kundensegment nach zugeschnittenen Risikogruppen einstufen. Sobald ein Kunde aus einem sensiblen Segment stammt, sind die Maßnahmen entsprechend dem Risikopotential zu erhöhen.96 Dabei kann die Auswertung bestimmter Merkmale wie Herkunfts- oder Persönlichkeitsfaktoren, Branchenzugehörigkeit, geographische und sektorielle Faktoren oder produktspezifische Risiken besonders berücksichtigt werden. Es sind Regelungen erforderlich, wie mit diesen Erkenntnissen umzugehen ist, wenn eine bestimmte Risikostufe erreicht wird, und wann eine Meldung zu erfolgen hat. Diese Sicherungssysteme sind Bestandteile des Risikomanagement der Kreditinstitute.97 Für die Wirksamkeit der Sicherungsmaßnahmen kommt es entscheidend auf die bereitstehenden Informationen an. Diese können zum einen von dem Kunden selbst oder auf andere Weise erlangt werden. Nach § 4 Abs. 6 oder § 6 Abs. 2 GwG n.F. hat der Vertragspartner die notwendigen Informationen zur Verfügung zu stellen. Das Institut kann dann auf die Angaben des Kunden vertrauen, ohne dass eine Nachforschungspflicht besteht.98 Dieses Vertrauen endet dort, wo Zweifel entstehen, dass die Angaben nicht richtig sind, wie z.B. hinsichtlich des wirtschaftlich Berechtigten.99 Bei Zweifeln sind weitere Maßnahmen wie das Nachfragen beim Kunden und das Abverlangen 94 Fülbier u.a. (vorige Note) § 6 Rdn. 17. 95 vgl. Herzog/Mülhausen-Pieth, Geldwäschebekämpfung und Gewinnabschöpfung, Handbuch der straf- und wirtschaftsrechtlichen Regelungen, § 6 Rdn. 10 ff. 96 vgl. Herzog-Pieth (oben Fn. 95) § 6 Rdn. 13. 97 Herzog-Mülhausen (oben Fn. 95) § 39 Rdn. 25. 98 Herzog-Mülhausen (oben Fn. 95) § 41 Rdn. 282. 99 Herzog-Mülhausen (oben Fn. 95) § 41 Rdn. 283.
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eines Nachweises erforderlich.100 Denn dann gilt die Vermutungswirkung der Richtigkeit der Kundenangabe nicht mehr.101 So bestimmt § 4 Abs. 5 Satz 2 GwG n.F., dass der Verpflichtete risikoangemessene Maßnahmen zu ergreifen hat, um festzustellen, dass die Angaben über den wirtschaftlich Berechtigten zutreffend sind. Eine routinemäßige Nachforschung kann aber wegen der Vielzahl von Fällen an die Grenze des Machbaren stoßen.102 8. Ausblick Die Entwicklung der Gesetzgebung zur Geldwäsche beruht auf der Erkenntnis, dass die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität eine internationale Aufgabe ist.103 Das neue Änderungsgesetz soll den Schutz vor der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung verbessern. Es ist davon auszugehen, dass diese Änderung nicht der Schlusspunkt der Geldwäscheprävention ist.104 Trotz der Kritik über die Reglementierungen der Wirtschaft gibt es keine vernünftige Alternative.105 Bei der Kritik wird oftmals der Erfolg einer Geldwäscheanzeige übersehen, da die Täterbestrafung oftmals schon wegen der Vortat erfolgt.106 Die neuen Aufgaben an die Verpflichteten werden komplexer. Durch die Einführung eines risikobasierten Ansatzes bei der Geldwäscheprävention ist die Möglichkeit eröffnet, dass effiziente und flexible Gestaltungsräume genutzt werden, um die erheblichen Herausforderungen bewältigen zu können.107 Die neuen Regelungen gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung werden Teilbestandteil des unternehmerischen Risikomanagements.108 100 Herzog-Mülhausen (oben Fn. 95) § 41 Rdn. 284, 309 ff.; Schimansky/Bunte/ Lwowski-Bruchner/Fischbeck (oben Fn. 83) § 42 Rdn. 178 ff. 101 Carl/Klos, Regelungen zur Bekämpfung der Geldwäsche und ihre Anwendung in der Praxis, Bielefeld, 1994, S. 202. 102 Carl/Klos (vorige Fn.) S. 203. 103 Remmers, Die Entwicklung der Gesetzgebung zur Geldwäsche, Diss. Göttingen, 1998, S. 28. 104 Kaetzler (oben Fn. 38) 180. 105 Diergarten, Der Geldwäscheverdacht, gezielt erkennen − angemessen reagieren, Diss. Heidelberg 1996, S. 43. 106 Diergarten (vorige Fn.) S. 43. 107 So auch zu lesen in der Stellungnahme des Zentralen Kreditausschusses vom 22. Mai 2008, S. 2. 108 Gesetzesbegründung zum GwBekErgG der Bundesregierung, S. 2.
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Es bleibt zu hoffen, dass das zentrale Gesetzesanliegen mit der Ausgestaltung und Ausbalancierung von allgemeinen, vereinfachten und verstärkten Sorgfaltspflichten durch risikoadäquadate und praxisgerechte Maßnahmen mit einem vernünftigen Aufwand zu bewältigen sind. Aber schon der bürokratische Aufwand für die Pflege der Risikogruppen, wie z.B. für die PEPs, kann die positive Absicht einer Entlastung ins Gegenteil verkehren.109 Das kann dazu führen, dass diesen Personengruppen ein Zugang zum Bankenverkehr erschwert wird.110 Die verpflichteten Kreditinstitute sind jedenfalls willens, die an sie gestellten Anforderungen zu erfüllen, denn die Schäden, die bei der Entdeckung von Geldwäscheaktivitäten einer Bank entstehen, können existenzgefährdend sein.111 Daher werden die Institute ihre Pflichten durch wirksame Maßnahmen sehr gewissenhaft umsetzen und die Voraussetzungen für eine wirksame Bekämpfung der Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung schaffen. Denn 80 % aller Verdachtsanzeigen nach dem GwG werden von den Kreditinstituten erstattet.112 Daraus lässt sich ableiten, dass die Kreditinstitute weiterhin eine große Verantwortung bei der Bekämpfung der Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung übernehmen.
VI. Mechanismen zur Rechtsdurchsetzung 1. Wirtschaftsprüferkontrolle Ein bedeutsames Instrument zur Rechtsdurchsetzung von Compliance ist in der Abschlussprüferrichtlinie enthalten (Richtlinie 2006/43/EG vom 17. Mai 2006, ABl. L 157/87):113 Die Richtlinie stärkt die Rolle des Abschlussprüfers ebenso wie das Interne Kontrollsystem (IKS), und aus der Empfehlung des DCGK in Nr. 5.3.2 ist nunmehr für bestimmte Gesellschaften114 eine gesetz109 Höche, WM 2005, S. 12. 110 Insam-Kaetzler, Verdacht auf Geldwäsche, Im Kreuzfeuer internationaler Sorgfaltspflichten, S. 218 f. 111 Woywadt, Geldwäschebekämpfung, Neue Waffe gegen die organisierte Kriminalität, Mobilität und Normenwandel, Band 15, Bochum 1995, Seite 68 ff., 90. 112 BKA Jahresbericht 2007, S. 9. 113 Allgemein und zur Unabhängigkeit der Abschlussprüfer: Inwinkl/Kortebusch/ Schneider, Der Konzern 2008, 215. 114 So auch für GmbH, oHG und Kreditgeber ohne persönlich haftenden Gesellschafter, § 264a HGB.
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liche Pflicht geworden (vgl. auch Nr 3.4 und 4.1.3 DCGK). So fordert beispielsweise Erwägungsgrund 24 der Richtlinie, dass über einen Prüfungsausschuss mit entsprechenden Kompetenzen und das ausgebaute IKS das „Risiko von Verfahrensverstößen auf ein Mindestmaß“ begrenzt wird. Art. 41 der Richtlinie konkretisiert die Aufgaben und Pflichten des Prüfungsausschusses („PA“), wobei hier Abs. 2 Buchst. b von Bedeutung ist. Diese Vorschrift weist dem PA115 die Aufgabe zu, die Wirksamkeit des IKS, des internen Revisionssystems und des Risikomanagements zu überwachen. Das Verständnis der Richtlinie vom Begriff „Risiko“ ist weit; gemeint sind nicht nur die klassischen wirtschaftlichen Risiken, sondern auch die typischen Compliancerisiken. (Gesetzesbegründung zu § 107 AktG n.F., Wortlaut Art. 41 Abs. 2 Buchst. d). Der PA ist, anders als in der Welt von SarbanesOxley („SOX“) bewusst nicht auf den reinen Rechnungslegungsprozess beschränkt, sondern hat einen umfassenden Auftrag, und seine Besetzung erfordert entsprechende (Fach-)Kompetenz (§§ 107 Abs. 4 i.V.m. 100 Abs. 5 AktG).116 § 324 HGB i.d.F. des BilModG setzt die Richtlinie um, für Aktiengesellschaften ergänzt um § 107 Abs. 3 Satz 2 n.F. Jedes Unternehmen von öffentlichem Interesse hat einen Prüfungssausschuss zu bilden. Dem PA kann der Aufsichtsrat einen Katalog von Aufgaben übertragen, zu denen die Überwachung des Rechnungslegungsprozesses, die Wirksamkeit des Internen Kontrollsystems, des internen Risikomanagementsystems, der Revision und der Abschlussberichterstattung gehören.117 Aufgabe ist aber nur die Überwachung der Wirksamkeit118, nicht die operative Steuerung. Die Einrichtung eines PA ist daher von dem Gedanken getragen, dass ein solches Gremium, wenn es denn, was das Gesetz ebenfalls durch Inkompatibilitäts- und Fach115 Prüfungsausschüsse haben ihren Ursprung in der angelsächsischen Praxis (Gesellschaften mit Verwaltungsrat); dort ist das Audit Committee ein ständiger Ausschuss des Boards: Leuering/Rubel, NJW 2008, 559. Alle DAX Gesellschaften haben einen PA. 116 Habersack, AG 2008, 98, weist ergänzend darauf hin, dass die Mitgliedsstaaten nach Art. 39 der Richtlinie einen (kleinen) Ermessenspielraum haben. 117 Leuering/Rubel, NJW 2008, 559; Inwinkl/Kortebusch/Schneider, Der Konzern 2008, 215, Habersack, AG 2008, 98; Luttermann, ZIP 2008, 1605. Ergänzend: Niehus, DStR 2008, 1451 und Ernst/Seidler, BB 2007, 2557. 118 Nicht nur, ob überhaupt irgendwelche Anweisungen oder Handbücher vorhanden sind: Preußner, NZG 2008, 574.
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kompentenzvorschriften sicherstellt, ohne Interessenkollision arbeiten kann, konzentriert und professionell die Risiken steuert; ein Mitglied des PA muss unabhängig sein und über Sachverstand in Rechnungslegung oder Abschlussprüfung verfügen.119 Eine Definition, was „unabhängig“ bedeutet, enthält das Gesetz nicht.120 Man wird aber annehmen dürfen, dass „unabhängig“ ist, wer in keinerlei (Ver-)Bindung, gleich ob rechtlicher oder familiärer Natur zum Unternehmen, dessen Mehrheitsgesellschafter oder dessen geschäftsführenden Organen steht.121 Der Gesetzgeber lässt zudem eine deutliche Sympathie für ein kleines Gremium erkennen, weil er glaubt, dass sich die Mitglieder des PA besser und stärker mit den ihnen übertragenen Aufgaben identifizieren (und das Maß der Sorgfalt auch durch die Furcht vor individueller Haftung steigt).122 Anwendbar sind die neuen Vorschriften auf kapitalmarktorientierte Gesellschaften, ein „Unternehmen von öffentlichem Interesse“ im Jargon der Richtlinie. Diese Unternehmen unterliegen daher einer strengeren Aufsicht, welche damit begründet wird, dass sie stärker im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen und natürlich auch bedeutsame Wirtschaftsfaktoren sind.123 Darunter fallen nicht nur börsennotierte Gesellschaften, sondern auch solche, die Wertpapiere ausgeben, die zum geregelten Handel zugelassen sind (Gesetzesbegründung zu § 324 HGB n.F.). SPVs sind allerdings von der Einrichtung eines PA befreit, wie Art. 41 Abs. 6 Richtlinie und § 324 Abs. 1 Satz 2 HGB n.F. regeln. Zwar müssen sie im Anhang zum Jahresbericht darlegen, warum sie sich zur Einrichtung eine PA nicht für verpflichtet halten, aber angesichts der aktuellen Krise auf dem Kapitalmarkt mag man durchaus Sympathien für einen PA haben. Zu berücksichtigen ist auch § 315 HGB neu, dessen Abs. 2 in Nr. 5 vorschreibt, dass im Konzernlagebericht Angaben zu den wesentlichen Merkmalen des IKS (bezogen auf den Gesamtkonzern!) zu machen sind. In der Praxis wird sich im Hinblick auf § 289 Abs. 5 HGB ein einheitlicher Risikobericht herausbilden
119 Kritisch hierzu: Habersack, AG 2008, 98. 120 Gruber, NZG 2008, 12. 121 Siehe hierzu: Empfehlung der EU-Kommission vom 15. Februar 2005, ABl EG L 52 S. 51. 122 Zu den Rechtsfolgen, wenn das Gremium fehlt: Gruber, NZG 2008, 12. 123 Inwinkl/Kortebusch/Schneider, Der Konzern 2008, 215.
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Unterfüttert werden Abschlussprüferrichtlinie und BilModG von zwei Prüfungsstandards, nämlich ISA 140 und PS 210 der deutschen Wirtschaftsprüfer (PS 210 verabschiedet vom HFA am 6. Sept. 2006).124 Die Durchführung von Abschlussprüfungen folgt nach Art. 26 Abschlussprüferrichtlinie den Internationalen Prüfungsstandards (ISA), die übernommen (und durch IdW Prüfüngsstandards ergänzt) werden.125 Der in Deutschland maßgebliche IDW Prüfungsstandard 210 zielt auf die Funktionsfähigkeit des IKS ab126 und legt dem Abschlussprüfer auf, Prüfungshandlungen festzulegen und durchzuführen, um das Risiko der Außerkraftsetzung des IKS durch das Management auszuschließen. Der Wirtschaftsprüfer erlangt durch den PS, um es neudeutsch zu sagen, die Funktion eines Investigators, denn der Prüfer muss sich materiell um die Aufdeckung von Gesetzesverstößen kümmern. Sieht man sich im PS 210 die Definition des Begriffs „Verstoß“ an, wird klar, in welche Richtung der Prüfer zu ermitteln hat. Ein Verstoß liegt vor bei einer bewusst falschen Angabe im Abschluss und/oder im Lagebericht, bei Fälschungen in der Buchführung, bei der Manipulation von Geschäftsvorfällen oder der bewusst falschen Anwendung der Rechnungslegungsgrundsätze. Damit wird auch die Kausalkette zum Vorstand klar: Die Verantwortung für die Vermeidung und Aufdeckung von Unregelmäßigkeiten liegt beim geschäftsführenden Organ, das nicht nur das Legalitätsprinzip zu beachten hat, sondern auch für ein funktionierendes IKS verantwortlich zeichnet. Die Verantwortung liegt aber auch beim Aufsichtsorgan, das als natürlicher Gegner des geschäftsführenden Organs dieses dergestalt zu überwachen hat, dass im Rahmen des IKS getroffene Maßnahmen zur Verhinderung und zur Aufdeckung von Verstößen auch wirksam sind. Darauf ist die Abschlussprüfung anzulegen (PS 210, Tz 12). Der PS ist dabei von erfreulich gesundem Menschenverstand gekennzeichnet. Als Risikofaktoren und Ursachen von Täuschungen und Vermögensschäden werden beispielhaft interne Ziel124 WP-Handbuch, 11. Aufl. 2006 Kap. P Rz 43 ff. Dort auch eine Definition des IKS: es umfasst sowohl den Organisationsplan als auch sämtliche aufeinander abgestimmte Methoden und Maßnahmen in einem Unternehmen, die dazu dienen, sein Vermögen zu sichern, die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Abrechnungsdaten zu gewährleisten und die Einhaltung der vorgeschriebenen Geschäftspolitik zu unterstützen. 125 Inwinkl/Kortebusch/Schneider, Der Konzern 2008, 215; Inwinkl, WPg 2007, 289. 126 Hierzu: Wiedemann, WPg 1993, 13.
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vorgaben oder falsch gesetzte Incentives genannt, welche als Faktoren in der augenblicklichen Finanzmarktkrise eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Bewertet man aus der Sicht des Compliance die Neuregelungen des BilModG und des PS 210, so zeigt sich auch hier wieder, dass diese Vorschriften die Organisationspflichten des Vorstands konkretisieren, denn das Schwergewicht der Prüfungshandlungen liegt in Aufbau- und Funktionsprüfungen. Dabei kann der Abschlussprüfer anhand von Quervergleichen die Qualität des jeweiligen IKS durchaus zutreffend beurteilen. Für die Haftung des geschäftsführenden Organs spielt die Benchmarkfähigkeit des eigenen IKS eine entscheidende Rolle, denn diese ist haftungsbefreiend. Es geht um ein funktionierendes IKS,127 und auch der PS akzeptiert, dass einzelne Verstöße nie ausgeschlossen werden können. 2. BaFin-Aufsicht und Entgrenzung Durch die Rundschreiben der BaFin werden gesetzliche Anforderungen an die Banken konkretisiert und präzisiert.128 Nach Umstellung auf den risikobasierten Ansatz wird es allerdings nicht mehr viele Rundschreiben zu Compliance und Geldwäsche geben,129 denn das Wie der Umsetzung bestimmt jedes Institut selbst.130 Das (zentrale) Rundschreiben 8/2005131 gibt den Instituten auf, angemessene geschäfts- und kundenbezogene Sicherungssysteme und Kontrollen zur Verhinderung der Geldwäsche, der Terrorismusfinanzierung sowie des Betrugs zu Lasten der Institute zu schaffen. Die Überprüfungen, ob das Institut die Spielregeln einhält, ist einfach: Die BaFin hat nicht nur das Recht, in Gremiensitzungen anwesend zu sein;132 sie kann auch 127 WP-Handbuch, 11. Aufl., Düsseldorf 2006, Kap. P Rz 72 ff und 139 ff. 128 Braun (oben Fn. 14) § 25a Rdn. 489. 129 Früher in Umsetzung von Rule Based: Maßnahmen der Kreditinstitute zur Bekämpfung und Verhinderung der Geldwäsche, Verlautbarung vom 30.3.1998. Übersicht: . 130 Aus der Begründung zum 4. FMFG, BT Drucks. 14/8017: „Was angemessen ist, beurteilt sich …. auf der Grundlage der eigenen Gefährdungsanalyse des Instituts bezüglich der Risikostruktur der vom Institut angebotenen Dienstleistungen. Die Systeme sind laufend neuen Erkenntnissen und Gefährdungen anzupassen“. 131 Abrufbar unter . 132 § 44 Abs. 4 KWG: Teilnehme- und Rederecht; Braun (oben Fn. 14) § 44 Rdn. 68.
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nach § 44 KWG nicht-anlassbezogene (und von den regelmäßigen Aufsichtsgesprächen unabhängige) Prüfungen anordnen („Sachverhaltsermittlungsrecht“). Im Rahmen von § 44 darf die BaFin die Herausgabe von Unterlagen fordern, mit Mitarbeitern reden, so dass die BaFin insgesamt sehr weitreichende Befugnisse hat. Von Bedeutung ist die Entgrenzung, die durch § 25g KWG neu augenfällig wird, denn die Aufsicht der BaFin ist national nicht mehr begrenzt. Mit § 25g KWG neu werden die (geldwäscherechtlichen) Sorgfaltspflichten gruppenweit eingeführt (und damit werden Art. 31 Abs. 1 und Art. 34 Abs. 2 der 3. EU-Geldwäscherichtlinie umgesetzt). Man muss sich allerdings auch hier vergegenwärtigen, dass § 25g KWG zwar einen geldwäscherechtlichen Hintergrund hat, die BaFin in dieser Vorschrift aber eine allgemeine compliancebezogene Ermächtigungsgrundlage sehen dürfte. Der Normzweck von § 25g KWG ist recht einfach: Es soll vermieden werden, dass innerhalb eines Instituts oder einer Gruppe unterschiedliche Standards zur Anwendung kommen. Eine gruppenweit einheitliche Anwendung soll verhindern, dass Geldwäscher auf Stellen mit niedrigerem Präventionsniveau ausweichen. Folglich hat die Mutter ihre Regelungen und Vorschriften zu Compliance für alle Stellen, unbeachtlich, wo auf diesem Globus sie sind, und mehrheitlich in Besitz befindlichen Töchter in Kraft zu setzen und durch Einrichtung entsprechender Verfahren sicherzustellen, dass die hauseigenen Standards überall gelten.133 Diese Entwicklung hat bereits mit dem 4. FMFG begonnen134, als § 25a KWG – nicht von allen bemerkt – gruppenweite Pflichten festgelegt hat. So schreibt denn auch die BaFin in ihrem RdSchr 8/2005 (GW), dass eine (geldwäscherechtliche) Gefährdungsanalyse gruppenweit anzufertigen ist und auf sich auf alle gruppenangehörigen Unternehmen im In- und Ausland zu erstrecken hat. Man muss freilich einräumen, dass dem Gesetzgeber der Mut für eine klare, unmissverständliche Ansage zur konzernweiten Geltung der Complianceregeln fehlte; daher muss sich der Rechtsanwender mit einer Zusammenschau aller Regelungen behelfen, die freilich zu keinem anderen Ergebnis als der gruppenweiten Geltung kommt.135 133 § 25g Satz 4 nimmt Rücksicht auf örtliche Besonderheiten, die selbstverständlich eingehalten werden müssen. Der BaFin-Standard ist jedoch Mindeststandard, also keine Aufweichungen durch örtliches Recht. 134 Preußner, NZG 2004, 57. 135 Lösler, NZG 2005, 104.
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VII. Verantwortung/Verantwortlichkeit des Vorstandes 1. Allgemeines Compliance als Vorstandsaufgabe Compliance ist Bestandteil der Leitungsaufgabe, und zwar das allgemeine Compliance.136 Die Frage nach einer Verantwortlichkeit von Unternehmensvorständen und Geschäftsführern für Fehlverhalten verzeichnet in den letzten Jahren einen deutlichen Bedeutungsanstieg, insbesondere weil § 25a Abs. 1 Nr. 1 KWG unmissverständlich Organisationspflichten statuiert, welche die unternehmerische Entscheidungsfreiheit aufsichtsrechtlich überlagern. Die Fälle zivil-/gesellschaftsrechtlicher Inanspruchnahme von Vorständen137 werden also durch aufsichtsrechtliche Verstöße erweitert. Doch würde eine reine Betrachtung der zivilrechtlichen Inanspruchnahme mittlerweile zu kurz greifen und sich den Vorwurf der Einseitigkeit gefallen lassen müssen, da sich damit die möglichen Arten der Verantwortlichkeit für persönliches Fehlverhalten nicht erschöpfen. Für das Strafrecht bedeutet dies, dass der recht weit formulierte Tatbestand des § 266 StGB durch das aufsichtsrechtliche Regelungswerk, das das KWG ebenso umfasst wie die Verlautbarungen der BaFin, die MaRisk und andere „Mindestanforderungen“ − und natürlich auch Compliance, inzwischen so transparent geworden ist, dass die Strafbarkeit in rechtsstaatlich einwandfreier Form festgestellt werden kann, und zwar ohne dass sich das angegriffene Vorstandsmitglied auf einen Verbotsirrtum berufen kann: Was an Organisation und Kontrolle von einem Vorstand gefordert wird, liegt klar auf der Hand. Spätestens die MiFiD hat klar gemacht, dass Compliance eine Aufgabe des Gesamtvorstands ist.138 Damit wiederholt die MiFiD allerdings nur Principle 1 des Papiers139, das das geschäftsleitende Organ für die Steuerung des bankweiten Compliancerisikos verantwortlich macht. § 12 der Organisations-
136 Lösler, NZG 2005, 104; Spindler, WM 2008, 905. 137 Hier sind besonders die Fälle bei der Mannesmann AG „Vorteilsnahme“, der WestLB, der VW AG „Lustreisen“, der Siemens AG „Schwarze Kassen“ zu nennen. 138 Hense/Renz, CCZ 2008, 181. 139 Principle 1: The bank’s board of directors is responsible for overseeing the management of the bank’s compliance risk (Satz 1).
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VO („WpDVerOV“)140 i.V.m. § 33 Abs. 1 WpHG i.d.F. des FRUG schreibt vor, dass eine Compliance-Funktion einzurichten ist und dass ein Compliance-Beauftragter zu benennen ist. Dadurch wandelt sich die Funktion des Compliance: Stand früher die Kontrolltätigkeit, also eine revisionsähnliche Tätigkeit, im Vordergrund, fordert § 12 WpDVerOV jetzt eine stärker auf Beratung fokussierte Herangehensweise. Die Kontrolltätigkeiten werden natürlich nicht beseitigt; vielmehr verbleiben sie bei der Compliancestelle. Das Gesetz erkennt aber an, dass Compliance nur funktioniert, wenn das Institut ein Wertesystem hat, das für das Unternehmen selbst und für seine Mitarbeiter Handlungsmaximen aufstellt. Der erste Schritt ist daher die Beratung über das richtige Verhalten in einem (auch) von Compliance aufgesetzten System. Adressat für die Pflichten aus Compliance ist daher das geschäftsleitende Organ,141 weil Compliance Teil der Unternehmenssteuerung ist,142 und natürlich ist sie auch Teil der Unternehmenskontrolle. Dieser Funktion darf sich der Vorstand nicht entäußern. Die Zuordnung der Compliancefunktion zum geschäftsleitenden Organ folgt aus dem Wortlaut des § 33 Abs. 1 Satz 2 WpHG und aus § 25a KWG.143 Das Unternehmen hat eine dauerhafte und wirksame Compliancefunktion einzurichten. Das hier ausgesprochene gesetzliche Gebot ist ein „Grundprinzip“ der Unternehmensführung.144 Aus diesem Grunde ist der Compliancebeauftragte auch kein unabhängiger Beauftragter wie es der Geldwäsche- oder Datenschutzbeauftragte ist, sondern, und dies lässt sich aus dem Wortlaut „benennen“ in § 12 Abs. 4 WpDVerOV schließen, es handelt sich um einen Fall der Delegation. Anders kann es auch nicht dargestellt werden, denn eine Beauftragtenstellung würde dem Vorstand die Möglichkeit der Steuerung und Kontrolle nehmen:145 Dem Compliancebeauftragten fehlt, obgleich sie durchaus Allgemeinwohlinteressen wahrnehmen,146 die disparate Interessenausrichtung, die typisch für den Geldwäschebeauftragten ist. Das geschäftsleitende Organ hat 140 Verordnung zur Konkretisierung der Verhaltensregeln und Organisationsanforderungen für wertpapierdienstleistungsunternehmen, WpDVerOV, vom 20. Juli 2007, BGBl. I 2007, S. 1432. 141 Hense/Renz, CCZ 2008, 181. 142 Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, München 2006, § 8 Rdn. 36. 143 Veil, WM 2008, 1093. 144 Begr RegE FRUG zu § 33 WpHG, BT-Drucks. 16/4021, S. 71. 145 Veil, WM 2008, 1093. 146 Lösler, WM 2008, 1098.
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daher in jedem Fall sicherzustellen, dass die Letztentscheidungsbefugnis bei ihm verbleibt,147 und deshalb kann und darf der Vorstand dem Compliancebeauftragten Weisungen erteilen.148 Es wäre allerdings ein Missverständnis, wollte man aus § 33 WpHG schließen, dass die hier beschriebene Verantwortung nur für den Anwendungsbereich des FRUG gilt. Aus dem Bezug auf § 25a KWG folgt, dass die Complianceanforderung institutsweit Geltung beansprucht und eine Compliancefunktion institutsweit aufzusetzen ist – mit entsprechender Auswirkung auf die Verantwortlichkeit des Vorstands.149 2. Regelung im AktG Haften die Vorstandsmitglieder aus § 93 Abs. 2 AktG? Die Vorschrift ist zwar als wenig praxistauglich kritisiert worden,150 weil sie die Gefahr organisatorischen Leerlaufs berge; § 93 Abs. 2 AktG trägt nämlich das Kainszeichen der Unbestimmtheit auf der Stirn, denn diese Norm, die zentral ist für die Haftung des Vorstandsmitglieds gegenüber der Gesellschaft, entzieht sich angesichts ihres amorphen Wortlauts einer sauberen dogmatischen Einordnung.151 § 93 Abs. 2 AktG verweist auf „Pflichtverletzungen“, die zunächst aus der Leitungsaufgabe des Vorstands (§ 76 AktG) entspringen. Geht es um Risikomanagement, enthält das AktG eine Reihe von Vorschriften, die zur Konkretisierung herangezogen werden können. Insbesondere § 91 Abs. 2 AktG schreibt dem Vorstand geeignete Maßnahmen zur Überwachung und Risikofrüherkennung vor. Allerdings zwingt diese Vorschrift nur zur Einrichtung von Früherkennungssystemen, die existenzgefährdende Entwicklungen identifizieren. Da diese Vorschrift weder eine gesetzliche Reglementierung beabsichtigt noch die unternehmerische Tätigkeit bürokratisieren will, sprechen gute Argumente dafür, auch im Rahmen von § 91 Abs. 2 AktG gesunden Menschenverstand walten zu lassen und nach der Angemessenheit 147 Kort, NZG 2008, 81; Schneider/Schneider, ZIP 2007, 2061. 148 Lösler, NZG 2005, 104; Lösler WM 2008 1098. 149 Deshalb kann Lösler, WM 2008, 1098, schreiben, dass es konsequent gewesen wäre, die Pflicht zur Einrichtung einer Compliancefunktion unmittelbar in § 25a KWG zu verankern. So sagt es auch Principle 1 des Papiers. 150 Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 91 Rdn. 6. 151 Hüffer (vorige Fn.) § 93 Rdn. 11, der fragt, ob die Norm eine Organhaftung oder eine Vertragsverletzungshaftung statuiere – oder vielleicht beides.
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von Systemen zu fragen.152 Vor dem Hintergrund des KonTraG153 ist das Verständnis zutreffend, dass ein Überwachungssystem der Struktur, der Größen, dem Geschäftsmodell und den Zielen des Unternehmens gerecht werden müsse, ihre Berechtigung liegt darin, dass sie eine dem individuellen Riskoprofil des Unternehmens angemessene Überwachung fordert. Damit ist auch Compliance gemeint bzw. kann gemeint sein, ohne dass der Gesetzestext dies ausdrücklich sagen würde. Die Vorschrift stellt auf (risikoträchtige) Entwicklungen des Geschäftsbetriebs ab, und Compliancerisiken fallen darunter. Man denke nur an fragwürdige Methoden bei der Auftragsakquise, riskante Produkte, namentlich bei Investmentbanken, bei der Berichterstattung intern, bei der Bilanzierung (und der Frage nach deren Wahrheitsgehalt) – für alles lassen sich in der jüngsten Wirtschaftsgeschichte aussagekräftige Beispiele finden, bis hin zur Insolvenz von weltweit operierenden Konzernen. Aber auch bei § 93 Abs. 2 AktG spielt der Umstand eine Rolle, dass die Compliance-Organisation und das Compliance-Risikosystem aufsichtsrechtlich definiert sind, und zwar dem Grunde nach als auch mittelbar in der jeweiligen Ausprägung. Hier wie bei § 130 OWiG nimmt der (KWG-)Gesetzgeber dem Vorstand einen Teil der Leitungsaufgabe ab und sorgt über die aufsichtsrechtlichen Instrumentarien für hinreichend Gewissheit, ob den Anforderungen Genüge getan worden ist oder nicht.154 Die gesetzlichen Vorschriften zu Compliance können jedenfalls herangezogen werden, um § 91 Abs. 2 AktG zu konkretisieren,155 denn nicht umsonst trägt § 25a KWG die Überschrift Besondere organisatorische Pflichten. Der Wortlaut von § 25a KWG lässt keinen Zweifel daran, dass die dort bestimmten gesetzlichen Pflichten in Bezug auf Organisation Teil der allgemeinen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Geschäftsführung und damit Teil der Leitungsaufgabe eines Vorstandes ist, wenn seine Bank als AG verfasst
152 Von seiten der WP wird unter Hinweis auf PS 340 eine eher strengere Ansicht vertreten: Lück, DB 2000, 1473, Wolf, DStR 2002, 1729; Preußner/Becker, NZG 2002, 846. 153 Begr RegE BT-Drucks. 13/9712, S 27. 154 Kritischer, weil den Beurteilungsspielraum der BaFin bestreitend: Spindler, in: Fleischer, Handbuch Vorstandsrecht, München 2006, § 19 Rdn. 54 (allerdings schon 2006) (zit.: Spindler, VR §/Rdn.); Köndgen, ZBB 1996, 361. 155 LG Berlin AG 2002, 682.
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ist.156 Dies beeinflusst die Anwendung des § 93 Abs. 2 und die Haftung der Vorstände. 3. § 130 OWiG § 130 OWiG, eine häufig übersehene Vorschrift, bewehrt den Verstoß gegen Aufsichtspflichten: Wer als Inhaber eines Betriebes Aufsichtsmaßnahmen unterlässt, um Pflichtverstöße zu verhindern, muss mit einem Bußgeld rechnen, so der vereinfacht wiedergegebene Wortlaut der Vorschrift. Normadressat sind auch Organmitglieder, wie aus § 9 Abs. 2 OWiG hervorgeht.157 Das Ordnungswidrigkeitenrecht verlangt daher nicht anders, als die Einführung und Überwachung einer Compliance-Organisation, deren Ausprägung und Befugnisse sich am KWG und den Rechtsgrundlagen des Compliance allgemein zu orientieren haben.158 Rechtsgrund für die Verantwortung ist zunächst die Garantenstellung, die der Inhaber bzw. das Organ für die das Unternehmen treffenden Pflichten hat;159 das Gesetz geht davon aus, dass sich die Gebote und Verbote in erster Linie an ihn richten, und er, da er eine Betriebsorganisation für sich handeln lässt, dafür Sorge zu tragen hat, dass die Rechtsnormen eingehalten werden. Dieses Argument ist grundsätzlich auch für die Compliance-Organisation tragfähig. Es kommt aber für Kreditinstitute noch das spezifische Aufsichtsrecht hinzu, das, wie dargestellt, den Inhaber bzw. den Vorstand verpflichtet, eine Compliance-Organisation einzurichten und darüber hinaus sagt, wie diese Compliance-Organisation auszusehen hat.160 Tathandlung ist ein Pflichtverstoß des mit der Erledigung einer Aufgabe betrauten Mitarbeiters und ein Unterlassen erforderlicher Überwachungs156 Braun (oben Fn. 14) § 25a KWG Rdn. 2 und 12. 157 Man wird auch überlegen müssen, ob im Hinblick auf § 12 Abs. 4 der Complianceofficer als „Beauftragter“ Normaddressat ist. Der Wortlaut des § 9 Abs. 2 nr. 2 OwiG legt diesen Schluss nahe, weil die Organisation von Compliance eine Vorstands-/Leitungsaufgabe ist, die über § 12 Abs. 4 auf den Complianceofficer, der genau dazu „benannt“ wurde, übertragen wird. 158 Spindler (oben Fn. 154) VR § 15 Rdn. 94; Hauschka, ZIP 2004, 877. 159 Göhler, OwiG, § 130 Rdn. 2; Bohnert, OWiG, § 130 Rdn. 11. 160 Wegen dieses ergänzenden Pflichtenkanons erübrigt sich hier die Auseinandersetzung mit der Rechtfertigung der Garantenstellung, der z.B. Spindler (oben Fn. 154) VR § 15 Rdn. 95 kritisch gegenübersteht (dort m.w.N.).
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maßnahmen, aber auch eine fehlerhafte Auswahl bei der Beauftragung.161 Der Verstoß gegen das Grunddelikt muss kein schuldhafter Verstoß sein, es reicht aus, dass er rechtswidrig ist; aber: es muss ein Verstoß gegen betriebsbezogene Pflichten sein. Im Kontext von Compliance spielen Abgrenzungsfragen, ob betriebsbezogen oder nicht keine Rolle,162 denn die aufsichtsrechtliche Situation lässt keinerlei Raum für Zweifel. Die Aufsichtspflicht wiederum ist im Zusammenhang mit den Grundsätzen zur Delegation zu sehen und hat die Sicherstellung zum Ziel, die betriebsbezogenen Pflichten, also eine aufsichtsrechtlich anerkennungsfähige und funktionierende ComplianceOrganisation, einzuhalten. Im Vordergrund stehen dabei zwei Aspekte: zum einen die Abarbeitung der aufsichtsrechtlichen Vorgaben, also die Erstellung einer Gefährdungsanalyse nach BaFin-Vorstellungen, die Formulierung eines Code of Conduct und seine Umsetzung in einzelne Policies,163 und zwar in der Qualität, die die BaFin erwartet. Da es inzwischen reichlich Erfahrung in der Finanzindustrie gibt, wird unschwer zu ermitteln sein, wo die Benchmarks liegen und welche Anforderungen an das einzelne Institut zu stellen sind. Damit sind dann auch die Organisationspflichten klar. Der zweite Punkt ist die Auswahl der richtigen Mitarbeiter,164 welche die nötigen Kenntnisse und Erfahrungen mitbringen müssen. Da Compliance zwar ein Rechtsrisikothema ist und daher die Beschäftigung von Juristen erfordert, aber auch ein Interessen- und Konfliktmanagementthema, wird eine funktionierende Compliance-Organisation auch (frühere) Mitarbeiter aus Revision, Kapitalmarktbereichen, Zahlungsverkehr, Rechnungswesen, IT benötigen, aber auch Mitarbeiter, die strafrechtliche Kenntnisse mitbringen, um beispielsweise die Investigation/fraud prevention lege artis abdecken zu können oder den Geldwäschebereich zuverlässig bearbeiten zu können. Ein Vorstand erfüllt seine Pflichten, wenn die Zusammensetzung der Mitarbeiter in der ComplianceOrganisation ein Spiegel ihrer Aufgaben ist.165 Deswegen fordert § 12 Abs. 4 Satz 2 WpDVerOV, dass die mit der Compliance-Funktion beauftragten Personen über die erforderlichen Fachkenntnisse verfügen müssen. Allerdings ist 161 Göhler, OWiG, § 130 Rdn. 11. 162 Spindler (oben Fn. 154) VR § 15 Rdn. 100, Bohnert, OWiG, § 130 Rdn. 20. 163 Geschenkeregelung, whistle blowing, Investigation, Finanzsanktionen und Embargen. 164 Spindler (oben Fn. 154) VR § 15 Rdn. 106. 165 Göhler, OWiG, § 130 Rdn. 12; Spindler (oben Fn. 154) VR § 15 Rdn. 108.
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es mit der Auswahl allein nicht getan, denn es gehört noch die regelmäßige und laufende Überwachung der Delegierten dazu.166 Diese Aufgabe mag generell schwer zu profilieren sein; in der Praxis der Finanzwirtschaft ist sie einfach: Es sind die Reportings abzuliefern, die das Gesetz und die BaFin erfordern. Für jeden mit Compliance Vertrauten erschließt sich die Überwachungsdichte unmittelbar aus dem Aufsichtsrecht. Hier sind die Anforderungen durchaus beachtlich, aber andererseits gibt die punktgenaue Erfüllung dieser Anforderungen dem Vorstandsmitglied die Gewissheit, seine Aufsicht in ausreichender Weise erfüllt zu haben. Auch für eine Compliance-Organisation gilt eine Zumutbarkeitsgrenze. Diese wird, als Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht nur in der Begründung zum neuen GwG angesprochen, sondern ist, da das Aufsichtsrecht ein Teil des öffentlichen Rechts ist, immanent.167 Auch § 25a KWG spricht nur von „angemessenen“ Maßnahmen, ebenso verlangt § 33 WpHG „angemessene Grundsätze“. Im Ergebnis wird ein mit tragfähigen Argumenten aus der Gefährdungsanalyse abgeleitetes Compliancesystem, dem die Aufsichtsbehörde nicht widersprochen hat, und das im Übereinstimmung mit den Grundsätzen zur Business Judgement Rule entschieden worden ist, als Erfüllung der Vorstandspflichten angesehen werden müssen. Wenn doch etwas passiert – und Einzelfälle werden immer vorkommen – ist der Vorstand jedenfalls vor dem Vorwurf, einen systemischen Fehler gemacht zu haben, geschützt. Einzelfälle begründen den Vorwurf fehlerhafter Aufsicht nur dann, wenn sie einfach zur Kenntnis genommen werden, ohne dass eine Überprüfung stattfindet, ob aus dem Einzelfall Erkenntnisse und Lehren für das System gezogen werden können.168 Wenn diese Lernprozesse dokumentiert werden, beispielsweise im einer Schadensfalldatenbank im Rahmen des operational risk-Prozesses, hat der Vorstand seinen Pflichten Genüge geleistet. Angesichts der Dichte des Aufsichtsrechts, der Kontrolle durch die Aufsichtsbehörden und der insbesondere durch § 44 KWG sichergestellten Transparenz dürfte § 130 OWiG kein wirklich scharfes Schwert sein, wenngleich der Appell dieser Vorschrift ernst genommen werden sollte.
166 BayObLG NJW 2002, 766. 167 Dreher, ZWeR 2004. 74; Bürkle, BB 2005, 569. 168 Fleischer, AG 2003, 291.
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4. Untreue. strafrechtliche Ausgangslage Der Begriff des Fehlverhaltens durch ein Mitglied eines Unternehmensvorstands oder einen Geschäftsführer wird im Strafrecht durch verschiedene Normen des Strafgesetzbuches ausgefüllt. Zuvorderst ist hier als zentrale Norm der Straftatbestand der Untreue (§ 266 StGB) zu nennen. Diese wird, um weiteren spezifischen Lebenssachverhalten gerecht zu werden, eingerahmt und teilweise ergänzt durch Tatbestände, wie den des Diebstahls (§ 242 StGB), der Unterschlagung (§ 246 StGB), der Bestechung (§ 334 StGB) oder den des Betruges (§ 263 StGB). Im wesentlich geht es aber um § 266 StGB, wenn Schäden eintreten, die mit einer fehlerhaften ComplianceOrganisation in Zusammenhang gebracht werden. Ist schon die Strafandrohung des § 266 StGB abschreckend, so kommt noch das denkbare Berufsverbot nach § 70 StGB (i.V.m. § 76 Abs. 3 AktG) in Betracht und als zivilrechtliche Konsequenz eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB aus dem Gesichtspunkt des Schutzgesetzes, das § 266 StGB ja unzweifelhaft ist. Der Untreuetatbestand schützt mit seinen beiden Tatbestandsvarianten, dem Missbrauchs- und dem Treubruchstatbestand, das dem Täter anvertraute fremde Vermögen. Täter dieses Deliktes können nur all diejenigen Personen sein, die aufgrund eines Gesetzes, durch behördlichen Auftrag oder aufgrund eines Rechtsgeschäftes zur fremdnützigen Vermögensbetreuung verpflichtet sind. Ein AG-Vorstand erfüllt diese Voraussetzungen wegen § 78 AktG unzweifelhaft, denn genau dies, nämlich über fremdes Vermögen zu bestimmen, es zu ändern, zu übertragen, zu belasten, ist die Aufgabe eines Vorstandes, und durch die Bestellung zum Organ ist ihm dieses Vermögen anvertraut.169 Grundsätzlich sieht die Rechtsprechung, bei einem Vorstand oder Geschäftsführer eines Unternehmens welcher Größe und welchen Geschäftsfeldes auch immer, die Voraussetzungen Befugnis über fremdes Vermögen zu verfügen und fremde Vermögensinteressen zu betreuen als gegeben an, da es im besonderen der Tätigkeit dieser Berufsgruppen unterfällt, über das ihnen anvertraute Unternehmen mit samt den dazugehörigen oder dieses bildenden Werten zu wachen. Treubruch kommt in Betracht, wenn der Täter eine Pflicht zur Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen hatte, die ihm, wenn man sich auf den Bankvorstand konzentriert, durch Rechtsgeschäft, nämlich Bestellung und Dienstvertrag, übertragen worden ist. Das sieht auch 169 Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, § 266 StGB Rdn. 8.
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der BGH so.170 In der Anwendung des § 266 ist bei der Missbrauchsvariante die Frage offen, wann die Befugnis bestimmungswidrig ausgeübt wird, und bei der Treubruchvariante die Frage, wie weit die Treuepflichten konkretisiert waren und in welchem Verhältnis der Täter Raum für eigenverantwortliche Entscheidungen hatte.171 Für die hier anzustellende Betrachtung kommt es zunächst nicht auf strafrechtliche Subtilitäten an, denn im Mittelpunkt steht die Ermittlung, ob, wenn ein Schaden eingetreten ist, die Schranken für die Ausübung der Befugnisse überschritten wurden, und damit die Frage, wie genau diese Schranken definiert waren. Die Sachverhalte liegen dabei auf der Hand: Ein von dritter Seite bestochener Mitarbeiter veranlasst einen unvorteilhaften, wirtschaftlich nachteiligen Geschäftsabschluss, der nach Aufdeckung der Bestechung im schlimmsten Fall zudem den Ausschluss von öffentlichen Bieterverfahren oder eine Strafzahlung in nicht unbeträchtlicher Höhe (USA: Federal Sentencing Guidelines!172) zur Folge hat. Ein in Anspruch genommener Vorstand wird sich zunächst damit verteidigen, dass die hausinternen Kompetenzregeln klar, klar kommuniziert, für den betroffenen Mitarbeiter bindend waren und systemisch dem Üblichen entsprachen, welchen Umstand der Abschlussprüfer bestätigt, der seine entsprechenden Prüfungsstandards anwendet. Dieser Gedanke trägt auch für Compliance: Einzelfälle werden sich nicht verhindern lassen, auch hohe Schäden werden sich nicht verhindern lassen. Ein Schaden führt aber dann nicht zu einer Strafbarkeit, wenn die Compliance-Organisation und das Compliance-System angemessen sind und den Anforderungen entsprichen, welche die Aufsicht, gestützt auf § 25a KWG und die anderen Compliancevorschriften, stellt. Da die BaFin regelmäßig überwacht, da das ComplianceSystem durch den Abschlussprüfer geprüft wird (PS 210!) und da es einen Prüfungsausschuss gibt, der sich regelmäßig mit dem Risikomanagement befassen muss, hat jedes Vorstandsmitglied ein aktuelles und zutreffendes Bild über das System. Hieraus lässt sich ableiten, ob Handlungsbedarf besteht oder nicht, und letztlich lässt sich hieraus auch die Strafbarkeit bewerten. 170 BGH NJW 1975, 1234; BGH NJW 1992, 2483; 1991, 990; Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, § 266 StGB Rdn. 23 ff. 171 Spindler (oben Fn. 154) VR § 15 Rdn. 19. 172 Federal Sentencing Guidelines, die für bestimmte Szenarien das Sanktionsregime auch gegen Unternehmen regeln. Wesentlich ist, dass in den USA Unternehmen selbst für strafrechtliche Verstöße haften.
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Eine Erleichterung oder Erschwernis, je nach Sichtweise, ist dabei der risikobasierte Ansatz der BaFin. Die Bafin schreibt nicht mehr vor, welche Maßnahmen im einzelnen anzusetzen sind. Gestützt auf den Wortlaut von § 25a KWG fordert die BaFin ein „angemessenes System“, und jeder Vorstand hat zu entscheiden, wie das System auszusehen hat. Dabei kann der Vorstand auch bei der Gestaltung des Compliance die Business Judgement Rule („BJR“) für sich in Anspruch nehmen. § 91 Abs. 1 AktG stellt den Vorstand von der Haftung frei, wenn das zur Entscheidung aufgerufene Vorstandsmitglied bei seiner (unternehmerischen) Entscheidung vernünftigerweise, d.h. nach Sachverhaltsklärung und aufgrund ausreichender Informationen, annehmen durfte, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln.173 Denn die Vorstandshaftung ist keine erfolgsbezogene Haftung, sondern eine Haftung für sorgfaltswidriges Verhalten.174 Solange Compliance nur die (blinde) Umsetzung von Vorgaben war, spielte die BJR keine Rolle. Geht es aber um eine „angemessene“ Compliance-Organisation, muss der Vorstand Entscheidungsspielräume haben.175 Nur daraus rechtfertigt sich „Angemessenheit“. In diese Richtung geht auch der Corporate Governance Kodex, der nur eine Zielvorgabe gibt. An diese Leitentscheidung des Aufsichtsrechts hat sich auch das Strafrecht zu orientieren.176 Für das Risiko der Strafbarkeit steht fest: Die bestehende Gefahr einer persönlichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit samt der geschilderten erheblichen persönlichen Folgen, wie hohen Geld- oder mitunter auch Haftstrafen, kann nur durch konsequente Implementierung und Anwendung von Corporate Compliance begegnet werden. Dabei gilt es besonders, dass neben einer ordnungsgemäßen Kontrolle des eigenen Verantwortungsbereiches sich zusätzlich eines professionellen Corporate Compliance bedient werden sollte, um individuell unbekannte oder schwierig abzuschätzende Risiken korrekt bewerten und verhindern zu können.
173 174 175 176
Spindler (oben Fn. 154) VR § 15 Rdn. 25. Fleischer (oben Fn. 142) VR § 7 Rdn. 46. Hauschka, GmbHR 2007, 11. Fleischer, FS Immenga, 2004, 575; Schäfer, ZIP 2005, 1253; Schneider, DB 2005. 707.
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VIII. Zusammenfassung Compliance hat inzwischen eine hervorragende Stellung im Aufsichtsrecht und bietet den Aufsichtsbehörden wirksame Eingriffsmöglichkeiten. Diese Aufsicht ist bankweit und beschränkt sich nicht auf das Wertpapiergeschäft. Compliance ist Teil eines konzernweit integrierten Risikomanagements. Der Vorstand als Kollektiv und jedes Vorstandmitglied individuell hat dafür Sorge zu tragen, dass die Bank angemessen organisiert ist, und zwar sowohl was die Aufbauorganisation als auch was die Ablauforganisation anbelangt. Kommt der Vorstand seinen Pflichten nur unzureichend nach, droht nicht nur der Entzug der individuellen Lizenz nach § 33 KWG, sondern es droht auch die Haftung aus Verletzung der Pflichten als Vorstandsmitglied. Das Gleiche gilt für den Aufsichtsrat.
Tagungsbericht* Der Bankrechtstag 2008 der Bankrechtliche Vereinigung − wissenschaftliche Gesellschaft für Bankrecht e.V. (BrV) fand am 20. Juni 2008 in Mainz statt. Die diesjährigen Themen waren „Verbraucherschutz im Kreditgeschäft“ und „Compliance in der Kreditwirtschaft“.
I.
Begrüßung
Professor Dr. Peter O. Mülbert, Direktor des Instituts für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro-und Kreditwesens an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Vorstandsmitglied der BrV, begrüßte die 260 Teilnehmer und merkte an, dass die BrV derzeit 883 Mitglieder und damit den höchsten Stand seit Gründung zähle. Außerdem dankte er dem Kuratoriumsmitglied Dr. Rainer Metz für seine tatkräftige Mithilfe bei der Organisation. Sodann sprach die Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BmELV), Berlin, Ursula Heinen in ihrem Grußwort über „Aktuelle verbraucherpolitische Perspektiven im Bankbereich“. In ihrem Vortrag skizzierte Heinen die derzeit im Gesetzgebungsverfahren befindlichen, den Bankbereich betreffenden Themenkomplexe. Hierzu gehörten insbesondere der Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher beim Verkauf von Immobilienkrediten sowie die Anforderungen an Scoringverfahren im Rahmen der Datenschutznovelle. Des Weiteren sprach Heinen die anstehende Umsetzung der EU-Richtlinien zum Verbraucherschutz1 sowie des Zahlungsverkehrs2 an. [Beitrag Heinen S. 1] *
1
Auszüge aus M. Webler, Verbraucherschutz im Kreditgeschäft Compliance in der Kreditwirtschaft − Bericht über den Bankrechtstag am 20.6.2008 in Mainz –, WM 2008, 1435-1442, M. Lenenbach, Verbraucherschutz im Kreditgeschäft, Compliance in der Kreditwirtschaft – Bericht zum Bankrechtstag 2008 der Bankrechtlichen Vereinigung e. V. am 20. Juni 2008 in Mainz, ZBB 2008, 267-276. Richtlinie 2008/48/EG, Abl. L 133 vom 22.5.2008, S. 66 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (Verbraucherkreditrichtlinie).
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II. Verbraucherschutz im Kreditgeschäft (1. Abteilung) Dr. Rainer Metz, Unterabteilungsleiter BmELV, Berlin, eröffnete die unter seiner Leitung und Moderation stehende erste Abteilung des Bankrechtstages zum Thema „Verbraucherschutz im Kreditgeschäft“. 1. Im ersten Vortrag der ersten Abteilung stellte Frau Barbara Mayen, Richterin des XI. Zivilsenats des BGH, die Grundsätze der auf vier Urteilen von April und Mai 2006 basierenden neuen Rechtsprechung des Bankensenats des BGH zur Haftung der Banken bei finanzierten Immobiliengeschäften3 dar. Durch diese und weitere, auf ihnen aufbauende Urteile sei ein Gesamtkonzept der Rechtsprechung des BGH zum finanzierten Erwerb von Immobilien und zum finanzierten Beitritt zu Immobilienfondsgesellschaften geschaffen worden. So komme es nun in einigen wesentlichen Fällen, wie den nach dem RBerG und die nach §§ 4, 6 VerbrKrG erhobenen Wirksamkeitseinwendungen, für die rechtliche Bewertung nicht mehr darauf an, ob Kreditvertrag und Anlagegeschäft ein verbundenes Geschäft darstellen oder nicht. Demgegenüber komme es für die Rückabwicklung aufgrund wirksamen Widerrufs des Darlehensvertrags nach dem Haustürwiderrufsgesetz sowie wenn sich Verbraucher, die durch arglistige Täuschung zu dem finanzierten Anlagegeschäft bewogen worden sind, von dem Vertrag lösen möchten, entscheidend darauf an, ob Darlehensvertrag und finanziertes Geschäft ein verbundenes Geschäft darstellen. [Beitrag Mayen S. 11 ff.] 2. Daraufhin setzte sich Professor Dr. Thomas Hoeren, Universität Münster, kritisch mit der geplanten Reform des BDSG auseinander, die er sowohl in 2
3
Richtlinie 2007/64/EG, Abl. L 319 vom 5.12.2007, S. 1 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.11.2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinie 97/7/EG, 2002/65/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG (Zahlungsdiensterichtlinie). BGHZ 167, 223 = ZIP 2006, 987 = ZflR 2006, 513 (m. Bespr. Derleder, S. 489), dazu EWiR 2006, 351 (Kindler/Libbertz); BGHZ 167, 239 = ZIP 2006, 1084 = ZflR 2006, 509 (m. Bespr. Derleder, S. 489), dazu EWiR 2006, 477 (Häublein); BGHZ 167, 252 = ZIP 2006, 940 = ZflR 2006, 461 (m. Anm. Ohlrogge), dazu EWiR 2006, 445 (Medicus); BGHZ 168, 1 = ZBB 2006, 365 (m. Bespr. Derleder, S. 375) = ZIP 2006, 1187 = ZflR 2006, 623 (m. Bespr. Häublein, S. 601), dazu EWiR 2006,463 (Rösler).
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ihrer rechtspolitischen Ausrichtung als auch hinsichtlich ihrer Einzelregelungen für verfehlt hielt. Bei der derzeit im Zusammenhang mit der Novelle des BDSG geführten Diskussion über Scoring werde nach Auffassung von Hoeren versucht, unter Verwendung von datenschutzrechtlichen Schutzmechanismen gesellschaftspolitische Probleme zu lösen. Dabei würde Datenschutz mit Verbraucherschutz gleichgesetzt, obwohl beide unterschiedliche Ziele verfolgten. Scoring sei nach dem Entwurf des § 28b BDSG grds. verboten, es sei denn, die in der Norm genannten Bedingungen würden eingehalten. Zu den zu beachtenden Voraussetzungen gehöre u.a. ein Auskunftsanspruch gegen die Bank, der auch eine Erklärung über das beim Scoring verwendete mathematisch-wissenschaftliche Verfahren beinhalte. Hoeren kritisierte, dass schon nach geltender Rechtslage ein hinreichender Rechtsschutz beim Kreditscoring4 bestehe, z.B. in Form von privatrechtlichen Aufklärungspflichten und bei fehlerhaftem Kreditscoring durch Schadensersatzansprüche wegen (vor)vertraglicher Pflichtverletzung. 3. Das dritte und letzte Referat der 1. Abteilung hielt Professor Dr. Curt Wolfgang Hergenröder, Universität Mainz. Er stellte die Ursachen von Privatinsolvenzen, das geltende Verbraucherinsolvenzverfahren sowie die Möglichkeiten dar, sich Verbraucherinsolvenzverfahren im europäischen Ausland, die eine wesentlich kürzere Wohlverhaltensperiode als das deutsche Recht aufweisen, zu nutze zu machen. Daran anschließend stellte er die geplanten Neuerungen des InsO-Regierungsentwurfs von 2007 vor und würdigte die Auswirkungen der privaten Überschuldung auf den gesundheitlichen und psycho-sozialen Zustand des einzelnen sowie deren Wechselwirkungen mit kriminellem Verhalten. Abschließend skizzierte er die notwendigen Rahmenbedingungen für die Bekämpfung der Überschuldung. [Beitrag Hergenröder S. 39] 4. Die Diskussion begann mit einer Frage von Rechtsanwalt Mathias Schatz, Göttingen, nach dem Beweggrund für die vom XI. Zivilsenat vorgenommene Differenzierung zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Täuschung, soweit es um die Aufklärungspflichtverletzung wegen konkreten Wissensvorsprungs ging. Mayen verwies auf die Wertung des § 9 Abs. 2 VerbrKrG. Würde man 4
Scoring, von engl: score: auswerten, erreichen.
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auch bei einer nur fahrlässigen Täuschung der Bank eine Pflichtverletzung vorwerfen, wäre § 9 Abs. 2 VerbrKrG überflüssig, denn die Voraussetzungen für ein institutionalisiertes Zusammenwirken orientierten sich an den Voraussetzungen für das Vorliegen eines verbundenen Geschäfts. Hiernach meldete sich Rechtsanwalt Martin Wolters, Düsseldorf, zu Wort und bat um Erläuterungen zum Themenkomplex des Widerrufs bei Fondsbeteiligungen. Er wies auf die Vorlageentscheidung des II. Zivilsenats zum EuGH hin. Der Gesellschaftsrechtssenat lasse klären, ob Beteiligungen an Immobilienfonds von der Haustürwiderrufsrichtlinie erfasst werden, und, falls der EuGH dies bejahe, ob es europarechtlich geboten sei, dass ein Anleger beim Widerruf seiner Beteiligung den gesamten Kaufpreis zurück erhalte. Wolters wollte von Mayen wissen, welche Auswirkungen die Entscheidung des EuGH auf die Rechtsprechung des Bankrechtssenats habe. Mayen sah die Bedeutung des Vorlagebeschlusses begrenzt auf die im Beschluss des Gesellschaftsrechtssenats gestellten Fragen. Die Entscheidung des EuGH sei daher beschränkt auf den Fall, dass nur die Gesellschaftsbeteiligung widerrufen werde, nicht aber die Darlehensforderung, da über die Widerrufsmöglichkeit in Bezug auf den Darlehensvertrages ordnungsgemäß belehrt worden sei. Rechtsanwältin am BGH Cornelie von Gierke, Karlsruhe, sprach die Auswirkungen der UWG-Novelle, mit welcher die Richtlinie gegen unlauteren Wettbewerb umgesetzt werde, auf die BGH-Rechtsprechung an. Denn im Regierungsentwurf zum UWG sei auch der Fall des Verstoßes gegen berufliche Sorgfaltspflichten angesprochen. Hoeren merkte ergänzend an, die UWG-Novelle betreffe auch laufende Marketingverfahren, und sprach sich für eine richtlinienkonforme Auslegung der Vorschrift aus. Mayen unterstützte den Ansatz zu einer richtlinienkonformen Auslegung, enthielt sich jedoch einer weiteren Stellungsnahme hinsichtlich der UWG-Novelle, da sie sich zu Reformvorhaben des Gesetzgebers nicht äußern wolle. Dr. Rainer Metz, Unterabteilungsleiter im Verbraucherschutzministerium, wandte sich gegen die Kritik, die Hoeren gegen die geplante Datenschutznovelle vorgebracht hatte. Datenschutz sei sehr wohl als Verbraucherschutz zu verstehen und zwar in Gestalt des Kundendatenschutzes. Das neue UWG sei als Instrument gegen die Gefahren des Kreditscoring nicht geeignet, da es kein Transparenzgebot aufstelle. Die bankrechtlichen Regeln, die Scoring betreffen, seien für den Verbraucherschutz unbrauchbar, da zu den Zwecken des KWG nicht der Verbraucherschutz zähle und mithin die BaFin Scoring nicht zum Schutz der Bankkunden überwache. Hoeren stimmte zu, dass eine
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Kontrolle des Scoring durch die BaFin nicht ausreichend sei, doch habe der Verbraucher hinreichende Möglichkeiten nach dem BGB, evtl. sogar nach dem UWG, sich gegen Scoring zur Wehr zu setzen. Des Weiteren entgegnete Hoeren, dass das KWG die Institute verpflichte, Kreditscoring durchzuführen bzw. auf Scoringergebnisse dritter Anbieter zurückzugreifen. Deshalb dürfe mit dem Argument des Verbraucherschutzes Scoring nicht verhindert werden. Es sei zudem gefährlich, Daten- und Verbraucherschutz zu vermengen, denn es gebe dogmatische Unterschiede in der Zielsetzung der Rechtsgebiete. Die verbraucherschutzrechtliche Kernfrage des inhaltlich richtigen Scoring habe im Datenschutzrecht nichts verloren. In Wahrheit, so Hoeren überspitzt, hätten die Alt-68er nichts mehr zu tun und suchten jetzt im Verbraucherschutz eine neue Aufgabe, um die bösen Banken zu ärgern. Was das UWG angehe, fanden sich dort sehr wohl Verbraucherrechte gegen Scoring. Weiterhin wurde die Frage aufgeworfen, ob Datenschutz nicht, ähnlich dem Tierschutz, in den Zielkatalog des Grundgesetzes aufgenommen werden müsse. Metz erklärte daraufhin, dass derartige Bestrebungen zurzeit nicht geplant seien. In Bezug auf das Insolvenzverfahren wurde angemerkt, dass sich Anleger, die sich der Zahlungspflicht aus Beteiligungen entziehen wollten, oft in die Privatinsolvenz flüchteten. Nach der InsO bestehe die Möglichkeit, bei Vermögensverschiebungen die Restschuldschuldbefreiung zu versagen. Da aber Insolvenzverwalter an der Aufdeckung solcher Missbrauchsfälle mangels einer Vergütung für ihre Arbeit kein Interesse hätten, müssten die Gläubiger selbst recherchieren. Hergenröder stimmte dem Befund zu und führte aus, dass die Überleitung der Nachweispflicht auf die Gläubiger in dem derzeitigen System angelegt sei. Eine gerichtliche Versagung der Restschuldbefreiung sei möglich, bedürfe aber eines Gläubigerantrags, der nur selten gestellt werde. Gleiches gelte für die Insolvenzanfechtung von Vermögensverschiebungen. Allerdings spielten Vermögensverschiebungen in der insolvenzgerichtlichen Praxis durchaus eine Rolle. Professor Dr. Dr. Dr. h. c. mult. Klaus J. Hopt, Direktor des Max Planck Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg, wollte wissen, ob Hergenröder zu dem von ihm erwähnten Zusammenhang von Religion und Zahlungsbereitschaft nähere Erkenntnisse habe. Des Weiteren fragte Hopt nach, ob andere Länder, wie die USA oder Großbritannien, mit dem Phänomen Verbraucherinsolvenz besser zu Recht kämen, und ob von der EU ein Vorgehen gegen den Privatinsolvenz-Tourismus zu erwarten sei.
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Hergenröder sah als Möglichkeit für eine europarechtliche Lösung die Aufnahme einer Mindestfrist für die Restschuldbefreiung in die EuInsO. Nach deutschem Recht biete sich an, eine ausländische Restschuldbefreiung als eine i. S. v. § 290 Abs. 1 Nr. 3 InsO Äquivalente anzusehen, was zur Folge hätte, dass ein erneutes Verfahren erst in 10 Jahren möglich wäre. Frankreich habe, nachdem mit der einjährigen Wohlverhaltensperiode in drei Departements gute Erfahrungen gemacht wurden, die kurze Restschuldbefreiungsfrist auf ganz Frankreich ausgedehnt. Rechtspolitisch stehe dahinter die Überlegung, den Verbraucher durch eine schnelle Entschuldung möglichst schnell wieder am Marktgeschehen teilnehmen zu lassen. Was die Wirkungen der Religion auf die Zahlungsmoral angehe, könne er von islamischen Schuldnern berichten, bei denen es aus kulturellen Gründen die gesamte Familie übernehme, die Schulden zu begleichen. Professor Dr. Raimund Bollenberger, Universität Wien, ergänzte zur österreichischen Rechtslage, dass eine Restschuldbefreiung die Zahlung von mindestens 10 % der Schulden voraussetze. Im Normalfall gebe es bei einer Verbraucherinsolvenz keinen Insolvenzverwalter. Dieser könne aber bei Bedarf vom Gericht eingesetzt werden. Professor Dr. Peter O. Mülbert, Universität Mainz, merkte zum Recht auf ein Girokonto für jedermann an, in älteren Urteilen sei ein solches Recht aus der Selbstverpflichtungserklärung des Zentralen Kreditausschusses hergeleitet worden. Auch werde teilweise unter Rekurs auf § 826 BGB in neueren Urteilen mit einem Kontrahierungszwang argumentiert. In einigen Landessparkassengesetzen sei bereits ein Recht auf ein Girokonto auf Guthabenbasis vorgesehen, weshalb Mülbert sich im Ergebnis kritisch gegenüber einer Ausdehnung der Kontrahierungspflicht äußerte. Metz stellte hingegen allgemein fest, dass die Praxis der Selbstverpflichtungen unbefriedigend sei, da die Banken sich daran nicht halten und die Eröffnung von Girokonten verweigern würden.5 Dr. Gerhart Kreft, Vorsitzender Richter am BGH a.D. und Ombudsmann des Bundesverbands deutscher Banken, verwies auf Untersuchungen der EU-Kommission, wonach auch in Ländern, in denen es einen gesetzlichen Anspruch auf ein Girokonto gebe, kontolose Privatpersonen vorkommen würden. Das Problem sei nicht der Anspruch auf ein Konto, sondern die finanzielle Allgemeinbildung. Hergenröder sprach sich für einen 5
Vgl. den Bericht der BReg. zur Umsetzung der Empfehlung des ZKA zum Girokonto für jedermann, BT-Drucks. 16/2265.
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gesetzlichen Anspruch auf ein Girokonto auf Guthabenbasis aus. Ohne ein Konto sei ein Schuldner verloren. Auch den Gläubigern entstünde durch Kontolosigkeit ein Schaden, da ein Arbeitseinkommen des Schuldners unerkannt verschwinde. Den Schlusspunkt zum Girokonto auf Guthabenbasis und zur 1. Abteilung bildete eine Anmerkung von Kreft, der aus der Schlichtungspraxis von fünf Ombudsmännern berichtete, die sich auch bei Verpfändungen für die Eröffnung eines Girokontos ausgesprochen hätten und deren Empfehlungen die Banken bisher stets gefolgt wären.
III. Compliance in der Kreditwirtschaft (2. Abteilung) Nach der Mittagspause spannte Mülbert den Bogen zur letzten Diskussion der vormittäglichen Abteilung und verwies darauf, dass auch die öffentlichrechtlichen Kreditinstitute regionale Ombudsleute beschäftigten. Mülbert übergab sodann das Wort an Dr. Michael Berghaus, Leiter Recht und Compliance bei der WestLB, Düsseldorf, der die zweite Abteilung des diesjährigen Bankrechtstags zum Thema „Compliance in der Kreditwirtschaft“ moderierte. Berghaus umriss in seinen einleitenden Worten die großen Überschneidungsfelder von Recht und Compliance und übergab sodann an Rechtsanwalt Dr. Christoph E. Hauschka, der zur „Stellung von Compliance im Gesellschaftsrecht und die aktuellen Entwicklungen in der Diskussion“ sprach. 1. Hauschka beleuchtete grundsätzliche und aktuelle Fragen der Compliance im Gesellschaftsrecht. Er ging nach einem kurzen historischen Abriss auf die verschiedenen Funktionen der Compliance in Unternehmen ein, wie Reputationsschutz, Schadensprävention, Beratungs- und Informationsfunktion, Überwachungsfunktion, Risikomanagementfunktion und Qualitätssicherungsfunktion. Außerdem grenzte er Compliance von der Corporate Social Responsibility6 ab. Sodann umriss Hauschka die rechtlichen Grundlagen der Compliance-Arbeit und sprach neben dem omnipräsenten Legalitätsprinzip 6 Vgl. hierzu die Definition der CSR: „Ein Konzept, das den Unternehmen als Grundlage dient, auf freiwilliger Basis soziale Belange und Umweltbelange in ihre Unternehmenstätigkeit und in die Wechselbeziehungen mit den Stakeholdern zu integrieren“; Grünbuch Europäische Rahmenbedingungen für die soziale Verantwortung von Unternehmen, KÖM (2001), 366.
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einschließlich der Kontrollpflicht Vorschriften des Rechts der Ordnungswidrigkeiten7, des Aktienrechts8 sowie bank- und versicherungsrechtlicher Spezialgesetze9 an. Sodann erweiterte er den Fokus auf den Corporate Governance Kodex und verschiedene EU-Richtlinien. Des Weiteren erklärte Hauschka die Aufgaben der Compliance für einzelne Unternehmensangehörige und sprach über das Erfordernis einer „Compliance Due Diligence“ sowie das Einrichten von safe harbours. Schließlich nahm er auch noch die Compliance im Konzern in den Blick. [Beitrag Hauschka S. 103] 2. Es schloss sich der Vortrag von Professor Dr. Matthias Casper, Institut für Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, zum Thema „Rechtliche Grundlagen und aktuelle Entwicklungen der Compliance am Beispiel des Kapitalmarkrechts“ an. Casper grenzte sein Referat zunächst auf die in § 33 Abs. l WpHG sowie die §§ 12 und 13 WpDVerOV statuierte formelle Komponente von Compliance ein. Er sprach über die organisatorische Verselbständigung der Compliance, die Beziehung der Complianceabteilung zu anderen Einheiten im Unternehmen und stellte die Aufgaben und Befugnisse des Compliancebeauftragten dar. Außerdem untersuchte er, inwieweit § 33 Abs. 1 WpHG die Grundlage für die Errichtung eines Whistle-Blowing-Systems darstellt und welche Folgen Verstöße gegen § 33 Abs. 1 WpHG nach sich ziehen. Daran anschließend stellte er den sich aus §33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 WpHG iVm. §13 WpDVerOV ergebenden normativen Dreiklang zur Interessenkonfliktvermeidung vor: Die Konflikte müssten erkannt10, es müssten Grundsätze zur Konfliktvermeidung (Conflict Policy) aufgestellt und angewendet und diese Conflict Policy müsse dem Kunden offen gelegt werden. Abschließend referierte Casper über die Besonderheiten der konzernweiten Compliance. [Beitrag Casper S. 139] 7 8 9 10
§§ 30,130 OWiG. § 90 Abs. 2 AktG, §§ 76, 90 AktG. §§ 33 WpHG, 25a KWG, 64a VAG. So genanntes „need to know principle“.
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3. Schließlich sprach Dr. Wolfgang Gößmann, Leiter Recht und Group Compliance der HSH Nordbank AG, Hamburg, zum Thema „Die Stellung von Compliance im Aufsichtsrecht und im Bankrecht unter besonderer Berücksichtigung der persönlichen Verantwortlichkeit des Vorstandes“. Nach einem Überblick über allgemeines Compliance widmete sich Gößmann der besonderen Compliance vor dem Hintergrund des Geldwäschebekämpfungsgesetzes und dessen Neuerungen. Dabei ging er insbesondere auf die Sorgfaltspflichten der Kreditinstitute ein und stellte die Auswirkungen auf die einzelnen Mitarbeiter und das Risikomanagement der Kreditinstitute dar. Des Weiteren widmete er sich der Rechtsdurchsetzung, wobei er die Rolle der Wirtschaftsprüfer und der BaFin in den Blick nahm. Abschließend beleuchtete Gößmann die Verantwortung und Verantwortlichkeit des Vorstandes im Rahmen der Compliance. [Beitrag Gößmann S. 179] 4. Dr. Michael Berghaus, Leiter Recht und Compliance der WestLB, Düsseldorf, leitete die Diskussionsrunde mit einem umfassenden Lob an die Referenten ob der beeindruckenden Breite und Vielfalt der Vorträge ein. Hopt richtete an die Referenten der 2. Abteilung die Frage, wie sich der CCO verhalten solle, wenn in Extremfällen der Vorstand und der Aufsichtsrat in Gesetzesverstöße verwickelt seien. Dürfe oder müsse er sich dann unmittelbar an die Hauptversammlung oder an die BaFin wenden? Auch merkte er an, dass ausschließlich eine Gesamtbetrachtung der Compliance-Risiken ein Erkennen der einschlägigen Risiken ermögliche. Insbesondere könnte das Ziel von Compliance nicht die Vermeidung von Interessenskonflikten sein, sondern allenfalls das richtige Management von Interessenskonflikten, um die bestehenden Risiken zu minimieren. Casper schloss sich dieser Sichtweise an und führte ergänzend aus, dass dem CCO schon aus diesem Grunde Weisungsfreiheit zugestanden werden müsse. Rechtswidrige Weisungen eines Vorstandes müssten unberücksichtigt bleiben. Bei einer Verstrickung einzelner Vorstandsmitglieder oder rechtswidriger Weisungen an den CCO plädierte Casper für eine Berichtspflicht an den Vorstandsvorsitzenden. Sei unklar, welches Vorstandsmitglied an den Machenschaften beteiligt sei, habe sich der CCO auch an den Aufsichtsrat zu wenden. Für die Einberufung der Hauptversammlung fehle dem CCO die Berechtigung. Allerdings könnte der Aufsichtsrat verpflichtet werden, vom CCO festgestellte Verstöße zu thema-
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tisieren. Die gleiche Ansicht vertrat Gößmann und ergänzte die Ausführungen mit einem Verweis auf Teilziffer 32 des Basel II-Papiers von 2005, aus der sich die Pflicht des CCO zur Berichterstattung an Vorstand bzw. Aufsichtsrat ergebe. Es bestünde demgegenüber aber keine Verpflichtung des CCO, die Staatsanwaltschaft zu informieren. Berghaus schnitt hiernach das Thema „Whistle Blowing“ an, das er als Sondermode innerhalb von Compliance bezeichnete. Er wollte von den Referenten wissen, wo die Grenze einer Pflicht zur Einrichtung eines WhistleBlowing zu ziehen sei. Aus seiner Sicht müssten die Vor- und Nachteile eines solchen Schritts vorsichtig gegeneinander abgewogen werden. Gößmann erklärte, bei der HSH Nordbank sei eine Whistle-blowing-Stelle mit Erfolg eingerichtet worden. Eine Pflicht zur Einrichtung eines Whistleblowing ergebe sich aus § 25a KWG. Die Gefahr, dass ein betriebliches Denunziationssystem zum Anschwärzen missliebiger Kollegen missbraucht werde, könne durch Schulungen der Personen, welche die Hinweise entgegennehmen, nahezu ausgeschaltet werden. In diesem Zusammenhang ging er auch auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts seit 2003 ein, wonach der Bericht über fehlerhaftes Verhalten ohne stichhaltige Beweise als Anschwärzen und damit Kündigungsgrund gewertet werden könne. Casper erklärte seine grundsätzliche Sympathie für das Whistle-blowing, da es ein effektives Instrument sei, um Rechtsverletzungen aufzudecken. Was eine Pflicht zur Errichtung einer Whistle-blowing-Stelle angehe, schwanke er aber noch. Er neige dazu, eine Verpflichtung, wie im Referat erläutert, nur für Unternehmen mit mehreren Hierarchieebenen anzunehmen. Sofern Unternehmen allerdings in den Vereinigten Staaten von Amerika gelistet seien schreibe der Sarbanes-Oxley Act (SOX) vor, dass die Möglichkeit zum Whistle-Blowing vorgesehen werden müsse. Des Weiteren machte er deutlich, dass bei größeren Unternehmen die unterschiedlichen Hierarchieebenen häufig gegeneinander abgeschottet seien und daher auch notwendige Informationen den Bereich Compliance häufig gar nicht erreichten. Ferner sehe der geplante § 612a BGB eine Absenkung der von Gößmann angeführten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vor und stelle nur noch auf konkrete Hinweise ab. Mülbert vertrat vom Standpunkt des Gesellschaftsrechts aus die Ansicht, dass die Strukturprinzipien des Aktienrechts mit den in Basel II formulierten Thesen nicht vereinbar seien. Auch frage er sich, ob ein Whistle-blowing nicht nur für Banken, sondern für alle Branchen verpflichtend sei. Casper sah
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in § 93 Abs. 2 AktG, § 823 Abs. 2, § 831 BGB eine ausreichende Grundlage, um eine Verpflichtung zur Compliance auch außerhalb der Finanzbranche anzunehmen. Es bestehe aber in diesem nicht speziell regulierten Bereich ein weites Ermessen für die Strukturierung der Compliance-Organisation, also insoweit keine Verpflichtung zur Einrichtung eines Whistle-blowings. Hauschka sprach sich für ein Whistle-blowing aus, da das Unternehmen durch eine schnelle Kenntnis Zeit und damit Handlungsfreiheit gewinne, auf Rechtsverstöße zu reagieren. Das gelte vor allem, wenn das Unternehmen vor der BaFin und der Staatsanwaltschaft Kenntnis erlange. Rechtsanwalt Dr. Christian Fassbender, Frankfurt a.M., sprach Gößmann auf seine Einschätzung des GwG-Änderungsgesetzes an. Durch die intensive Überprüfung von Herkunft und Ziel von Geldflüssen durch die deutsche Bankenaufsicht gerieten deutsche Kreditinstitute mehr und mehr in Kollision mit den ihnen durch den Bankvertrag auferlegten Pflichten zur Durchführung von Überweisungen. Denn sie hätten die vertragliche Pflicht, Überweisungen schnellstmöglich auszuführen, die Überprüfung nach dem GwG koste jedoch Zeit. Gößmann führte aus, dass sein Institut mittels computergestützter Filtersysteme und Durchführung von Stichproben den angesprochenen Interessenskonflikt zu lösen versuchte. Dazu verwende sie eine spezielle Software, World Check, die den Namen des Überweisenden und des Empfangers überprüfe. Das Programm arbeite sehr schnell und zuverlässig, so dass das beschriebene Problem kaum je auftreten werde. Berghaus ergänzte, dass diese Pflichtenkollision nicht frei lösbar sei, sondern an tatsächliche Gegebenheiten gebunden sei, mithin die zeitliche Komponente höchste Priorität genieße und entscheidend zu einer Minimierung des Problems beitragen könne. Casper wies darauf hin, dass es an einer Pflichtenkollision fehle, da das GwG dem Vertragsrecht vorgehe. Die gleiche Ansicht vertrat Mülbert. Hopt richtete an die Praktiker des Podiums die Frage, ob schon Fälle bekannt seien, in denen sich der CCO über den Vorstand hinweg direkt an den Aufsichtsrat gerichtet habe. Gößmann erklärte, dass es in seinem Institut einmal jährlich ein gemeinsames Treffen des Vorstandes mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden und dem CCO gebe, in dem der CCO Bericht erstatte. Berghaus und Hauschka waren übereinstimmend der Ansicht, dass ein Übergehen des Vorstandes in der Praxis nicht vorkomme, da dadurch erhebliches Misstrauen im Unternehmen entstehen würde und das Klima zwischen den Organen empfindlich gestört würde. Dr. Hans-Dirk Krekeler, ehemaliger Chefsyndikus Deutsche Bank AG, wies auf eine gewisse Änderung hin, die
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sich im Hierarchiegefüge von Banken abzeichne. Nunmehr komme es vor, dass Abteilungsleiter direkt an den CCO berichten. Hopt sprach zudem die Gefahr des Kompetenzgerangels zwischen der Compliance- und der Rechtsabteilung an, und wollte wissen, wie dies in den Unternehmen aussehe. Berghaus sah eine vorsichtige Tendenz, dass Compliance-Angelegenheiten in die Rechtsabteilungen zurückkehrten. Im Übrigen sei es in seinem Institut Praxis, dass sich die beteiligten Abteilungen regelmäßig zu Gesprächsrunden treffen. Dagegen konnte Hauschka von einem Kampf beider Abteilungen um Kompetenzen berichten. Casper bewertete die theoretische Abgrenzung von Compliance- und Rechtsabteilung vor allem aber zur Revisions- und Controllingabteilung als schwierig. Krekeler vertrat die Ansicht, dass sich die Abgrenzung in der Praxis nicht als sehr schwierig gestalte. Untersuchungen erfolgten durch die Revision und Compliance, Rechtsberatungen führe die Rechtsabteilung durch. Abschließend dankten Berghaus und Mülbert den Organisatoren des diesjährigen Bankrechtstags sowie den Referenten. Mülbert schloss die Veranstaltung mit einem Hinweis auf den Bankrechtstag 2009, der am letzten Freitag im Juni in Frankfurt a.M. stattfinden werde.
Stichwortverzeichnis Abtretung 3, 15, 52 – Lohnvorausabtretung 42 AGB s. Allgemeine Geschäftsbedingungen Allgemeine Geschäftsbedingungen 3 – Nutzungsbedingungen 6 Anfechtung 25, 29, 32, 37, 77, 78, 233 Anforderungen – Corporate Social Responsibility s. dort – datenschutzrechtliche s. Datenschutz – Organisationsanforderungen (s.a. Verordnung zur Konkretisierung der Verhaltensregeln und Organisationsanforderungen für Wertpapierdienstleistungsunternehmen) 104, 141, 145, 218 – Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) 185, 217 Anlage/Kapitalanlage 13, 17, 35 – Anlagegeschäft 13, 15, 18, 19, 20, 22-30, 33, 34, 36-38, 230 – Anlagemodell 16, 29, 30, 32 – Anlageunterlagen 21, 35 – Anlagevertrag 19, 25 – Anlagevertreiber/Anlagevertreiber 21, 29 – Kapitalanlagebetrug s. Betrug Arbeitsrecht 105, 129, 130, 173, 194, 206 arbeitsrechtlich s. Arbeitsrecht arglistige Täuschung 19, 22, 24, 25, 27-38, 230 Aufklärung 3, 95, 158, 162, 176, – Aufklärungspflicht 32, 36, 38, 202, 231, 232 – Aufklärungsverschulden 13, 25, 33, 37
– Risikoaufklärung 15 Aufsichtsrat 106, 117, 118, 125-127, 130, 135, 141, 143, 152-155, 175, 193, 196, 197, 212, 227, 237, 238-240 BaFin s. Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bankkarte s. Karte Betrug 185-189, 193, 215, 224 – Kapitalanlagebetrug 189 BDSG s. Datenschutz Beweiserleichterungen 32-34, 38 BGH s. Bundesgerichtshof Bonitätsprüfung 4 Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) 129, 130, 141, 149, 153, 154, 159, 163, 167, 169, 175, 177, 181, 186, 187, 189, 190, 192, 198, 202, 215-217, 220, 222, 223, 226, 233, 237, 239 Bundesdatenschutzgesetz s. Datenschutz Bundesgerichtshof 11-38, 41, 109, 120, 122, 164, 168, 194, 225, 230, 323, 235 Business Judgment Rule 120-123, 164, 165, 223, 226 Code of Conduct 182, 194, 222 Corporate Governance 126, 164 – Deutscher Coporate Governance Kodex 117, 118, 121, 132, 170, 182, 195, 226, 236 Corporate Social Responsibility 112, 235 CSR s. Corporate Social Responsibility culpa in contrahendo 25, 26 Datenschutz 3, 162, 194, 231, 232, 233 – Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) 4, 130, 152, 175, 231 – Datenschutzbeauftragter 110, 130, 147, 151, 152, 153, 156, 175, 218 – Datenschutznovelle 4, 229, 231, 232 – Kundendatenschutz 232
242 Deutscher Corporate Governance Kodex s. Corporate Governance Einwendung 13, 14, 17-19, 37, 38, 56 – Einwendungsdurchgriff 13, 14, 15, 24, 27-29, 34 – Wirksamkeitseinwendung 19, 37, 230 EuGH s. Europäischer Gerichtshof Europäischer Gerichtshof (Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, EuGH) 16, 17, 19, 29-32, 67, 68, 232 Europäische Kommission 112 Finanzbetrug s. Betrug Gehalt (s.a. Lohn) 62 Geldwäsche 109, 136, 181, 183, 184, 187, 188, 189, 191, 197-202, 204-206, 207-211, 215, 216, 223 – Geldwäschebeauftragter 110, 131, 147, 151, 153, 156, 206, 218, 219 – Geldwäscherichtlinie 180, 187 – Geldwäschegesetz 133, 134, 180, 183, 197, 199, 237 – Geldwäschehandlung s. Geldwäsche Geschäftsbesorgungsvertrag 13 Geschäftsführung 62, 106, 114, 115, 120, 126, 161, 213-215, 217, 221, 224 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) 232, 233 Grundschuld – Sicherungsgrundschuld 3 Haftung 31, 33, 34, 107 – der Bank 29, 230 – des Geschäftsführers 215 – des Karteninhabers 6 – des Vorstands 176, 219, 221, 226 – Nachhaftung 59, 61, 79 – Rechtsscheinhaftung 15 – Vermögenshaftung 50-53, 98 Haustürgeschäfterichtlinie s. Richtlinie
Stichwortverzeichnis Haustürwiderrufsgesetz s. Widerruf Insolvenz 220, 231, 233, 234 – Verbraucherinsolvenz s. Verbraucher Immobilie 12, 17, 20, 34, 37, 38, 48, 199 – Immobilienfinanzierung/Immobiliengeschäft 34, 48, 49, 230 – Immobilienfonds 12, 18, 20, 28, 29, 30, 33, 37, 230, 232 – Immobilienkredit, Veräußerung von ~en 2, 229 Kapitalanlage, s. Anlage Kartell 123 – Kartellabsprache 109, 185 – Kartellbehörde 134 – Kartellrecht 123, 134 – Kartellverstoß 107 Konsument s. Verbraucher Konzern 107, 108, 117, 146, 168, 195, 214, 216, 220, 227, 236, 237 Kredit – Immobilienkredit s. Immobilie – Kreditpolitik 91 – Kreditscoring s. Scoring – notleidender Kredit 2, 97 – Realkredit 14-18, 20, 28, 30, 33, 34, 37, 38 – Verbraucherkredit s. Verbraucher Kundendaten s. Datenschutz Kündigung – arbeitsrechtliche/Kündigungsschutz 130, 153, 192, 194, 238 – eines Kredits 3, 6, 44, 45 – einer Fondsbeteiligung 24, 26 Lastschrift 6 Lohn (s.a. Gehalt) 167, 176 – Lohn- und Gehaltspfändung 44 – Lohnvorausabtretung 42 – Lohnzahlung 92 MaRisk s. Risikomanagement Mindestanforderungen an das Risikomanagement s. Anforderungen Mindestbetrag 3
Stichwortverzeichnis Nutzungsbedingungen 6 Organisationsanforderungen s. Anforderungen Prävention 87, 90, 91, 95, 98, 107, 109, 110, 116, 117, 124, 186, 235 – Betrugsprävention s. Betrug – Geldwäscheprävention s. Geldwäsche Realkredit s. Kredit Restschuldbefreiung 40, 41, 43, 5054, 56-69, 75-81, 98, 233, 234 Restschuldversicherung 6 Rechtsberatung 240 – Rechtsberatungsgesetz 14 18 Richtlinie – Abschlussprüferrichtlinie 118, 125, 126, 127, 196, 211, 212, 213, 214 – Compliance-Richtlinie 104, 128, 153, 169, 177 – Finanzmarktrichlinie 163 – Geldwäscherichtlinie 180, 197, 216 – Haustürgeschäfterichtlinie 16, 17, 29, 31, 232 – Solvency II 108, 116, 119 – Verbraucherkreditrichtlinie s. Verbraucher – Wertpapierdienstleistungsrichtlinie 104 – Zahlungsdiensterichtlinie 2, 5, 229 Risiko – Risikomanagement 105, 110, 111, 119, 128, 134, 141, 142, 143, 181, 184, 196, 209, 211, 212, 219, 226, 227, 235, 237 - Mindestanforderungen 185 - Risikomanagement-System 118, 126, 212 – Risikoaufklärung s. Aufklärung – Risikominimierung 186 – Risikosteuerung 185, 186, 189 Rückabwicklung 13, 15-17, 19, 22, 23, 24, 29, 30, 37, 38, 230
243 Rückforderungsdurchgriff 15, 26, 27 Sachverständiger 69, 74, 158, 175 Schadensersatz 3, 13, 23-25, 30, 31, 37, 134, 231 Scoring 3-5, 231-233 Sicherungsgrundschuld s. Grundschuld Sorgfalt – Sorgfaltsmaßstab 189, 202, 205-207 – Sorpfaltspflicht 197, 198, 200-207, 211, 216, 232, 237 Täuschung s. arglistige Täuschung Treuhand/Treuhänder 13-19, 42, 57-59, 63, 69, 74, 76-80, 181, 188, 199 Überweisung 6, 239 UWG s. Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb Verbraucher 15-17, 19, 20, 27, 29, 32, 33, 37, 229, 230, 233, 234 – Verbraucherinsolvenzverfahren 40, 42, 43, 45, 46, 49-51, 54-59, 62, 64, 65, 66, 69, 70, 72, 75, 76, 77, 80, 89, 97, 231 – Verbraucherkredit 5, 6, 92 – Verbraucherkreditgesetz 12, 19, 20 – Verbraucherkreditrichtlinie 5, 6 – Verbraucherschutzrichtlinie 229 verbundene Geschäfte 15, 16, 18-30, 32-34, 36-38, 230, 232 Vergütung s. Lohn Verordnung – ~ über Insolvenzverfahren 65-68 – Verordnung zur Konkretisierung der Verhaltensregeln und Organisationsanforderungen für Wertpapierdienstleistungsunternehmen (WpDVerOV) 104, 108, 119, 125129, 141, 143-160, 166-177, 218, 223, 236 Verschulden 3, 49, 50, 166 – Aufklärungsverschulden/~ bei Vertragsschluss 13, 25, 29, 31-33, 37 Vertragspartner 2-4, 199-204, 209 Vollstreckung s. Zwangsvollstreckung Vorfälligkeit 6
244 Vorstand 97, 111, 113-115, 117, 118, 120-122, 125-127, 131-135, 143, 144, 146, 150-157, 159-161, 163-166, 170, 173, 175-177, 180183, 189, 193, 195, 196, 214, 215, 217-221, 223-227, 237-240 vorvertragliches Schuldverhältnis s. culpa in contrahendo Whistle Blowing 161, 162, 176, 191, 222, 236, 238, 239, Widerruf 13, 16, 19, 20, 22, 23, 27, 28, 31, 32, 37, 60
Stichwortverzeichnis – unterbliebene Widerrufserklärung 31 – Haustürwiderrufsgesetz (HWiG) 12, 13, 15, 17, 19, 20, 22, 23, 27, 28, 31, 37 – Widerrufsbelehrung 17, 31 Wirtschaftsprüfer 158, 196, 199, 211, 214, 237 Zahlungsdiensterichtlinie s. Richtlinie Zusammenwirken 21, 31-35, 38, 84, 232 Zwangsvollstreckung 2, 3, 51, 56, 59, 61, 65, 72