Verbindlichkeit: Transzendentale Architektonik und Pragmatistische Methodologie in der Moralphilosophie 9783495826195, 9783495492420


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Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
Forschungsdesign
Hauptteil: Verbindlichkeit in der Moralphilosophie
1. Ausgangspunkt: Die Analytik der Metaethik
1.1 Positionen der klassischen Metaethik
1.2 Die »Neue Welle« der Metaethik im Überblick
Tendenz I: Naturalismus – Non-Naturalismus – Pragmatismus
Tendenz II: Non-Kognitivismus – moderater Naturalismus (realistischer und non-realistischer) – Pragmatismus
Tendenz III: Realismus – Non-Kognitivismus – Konstruktivismus/Konstitutivismus
Tendenz IV: Naturalismus – starker Realismus – Non-Kognitivismus – Konstruktivismus
Tendenz V: Transzendentaler Realismus – Empirischer Realismus – Relativismus – Konstruktivismus/Konstitutivismus
Tendenz VI: Ethik in den Wissenschaften
1.3 Hypothese: Die Überwindung der Metaethik
2. Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie
2.1 Transzendentalphilosophie: Christine Korsgaards »Konstruktivismus«
2.2 Transzendentale Kritik: Immanuel Kants transzendentaler Idealismus
2.3 Transzendentale Synthesis: Zeno Vendlers Konzept der Universalität
2.4 Transzendentale Apperzeption und die Übergänge der vertikalen Achse
2.5 Pragmatischer »Stresstest«: Die Transzendentalphilosophie im Utilitarismus
2.6 Coda: »Diskursethik« und Transzendentalpragmatik
3. Die pragmatistische Methodologie der Moralphilosophie
3.1 Sami Pihlström: »Pragmatism goes transcendental«
3.2 Präferenzen, Normen, Werte und das Rückkopplungs-Apriori
3.3 Genealogie des klassischen Pragmatismus
3.3.1 George Herbert Mead
3.3.2 John Dewey
3.3.3 William James
3.3.4 Charles Sanders Peirce
3.4 Zusammenfassung: Transzendentale Verbindlichkeit im Pragmatismus
4. Die relationale Bewegung der Pragmatik am Beispiel der Moralpsychologie
4.1 Die Forschungsachsen der Moralpsychologie
4.2 Zur Verbindung von erlebter Freiheit und Kontrolle in der Moralpsychologie
4.3 Zusammenfassung: Relationale Philosophie und empirische Forschung
Schlussbetrachtung
Dankeswort
Literaturverzeichnis
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Verbindlichkeit: Transzendentale Architektonik und Pragmatistische Methodologie in der Moralphilosophie
 9783495826195, 9783495492420

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Werner Moskopp

Verbindlichkeit Transzendentale Architektonik und pragmatistische Methodologie in der Moralphilosophie

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495826195

.

B

Werner Moskopp Verbindlichkeit

ALBER PHILOSOPHIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Werner Moskopp

Verbindlichkeit Transzendentale Architektonik und pragmatistische Methodologie in der Moralphilosophie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Werner Moskopp »Verbindlichkeit« Transcendental Architectonics and Pragmatist Methodology in Moral Philosophy The study »Verbindlichkeit« first examines the positions of metaethics and diagnoses a similar situation of this discipline as it prevailed in (old) metaphysics before Kant. It is then shown that the entire field of moral philosophy can be described as a continuum from a formal foundation in the sense of Kant and Korsgaard, across diverse ethical positions as well as empirical moral research, and into concrete application, if the dichotomies and dualisms from metaethical realism are overcome. By means of a genealogy of selected pragmatist concepts, the universal methodology for a relational and pluralistic moral research is traced, as it were, and, using the example of moral psychology, distinguished as connectable for empirical research.

The Author: Werner Moskopp teaches and conducts research as a research associate in the Department of Philosophy of Law and Moral Philosophy at the University of Koblenz-Landau, Campus Koblenz. He first completed his master’s degree in philosophy, Germanistik and psychology, and then earned his doctorate in philosophy at the University of Koblenz. The dissertation thesis deals with transcendental idealism and examines »Structure and Dynamics in Kant’s Critiques«. Further research projects dealt with the topics of »self-empowerment«, »dialogue research«, »methodology« and the binding nature of norms and values. In the latter field, Werner Moskopp habilitated on the topic of »Verbindlichkeit«. In addition to a selection of »classics«, his research focuses on the philosophy of the long 19th century as well as on the topics of pragmatism, anarchism, mysticism and moral philosophy.

https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Werner Moskopp Verbindlichkeit Transzendentale Architektonik und pragmatistische Methodologie in der Moralphilosophie Die Studie »Verbindlichkeit« untersucht zunächst die Positionen der Metaethik und diagnostiziert eine ähnliche Situation dieser Disziplin, wie sie in der (alten) Metaphysik vor Kant herrschte. Es wird anschließend gezeigt, dass der gesamte Bereich der Moralphilosophie von einer formalen Grundlegung im Sinne Kants und Korsgaards über diverse ethische Positionen sowie empirische Moralforschung hinweg bis in die konkrete Anwendung hinein als Kontinuum beschrieben werden kann, wenn die Dichotomien und Dualismen aus dem metaethischen Realismus überwunden werden. Mittels einer Genealogie ausgewählter pragmatistischer Konzepte wird gleichsam die universale Methodologie für eine relationale und pluralistische Moralforschung nach- und am Beispiel der Moralpsychologie als anschlussfähig für die empirische Forschung ausgezeichnet.

Der Autor: Werner Moskopp lehrt und forscht als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Rechts- und Moralphilosophie im Institut für Philosophie der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Er absolvierte zunächst das Magister-Studium der Fächer Philosophie, Germanistik und Psychologie und promovierte anschließend an der Universität Koblenz im Bereich Philosophie. Die Dissertationsschrift beschäftigt sich mit dem transzendentalen Idealismus und untersucht »Struktur und Dynamik in Kants Kritiken«. Weitere Forschungsprojekte setzten sich mit den Themen »Selbstermächtigung«, »Dialogforschung«, »Methodologie« und Verbindlichkeit von Normen und Werten auseinander. Im letztgenannten Feld habilitierte sich Werner Moskopp mit dem Thema »Verbindlichkeit«. Neben einer Auswahl an »Klassikern« liegen die Forschungsschwerpunkte darüber hinaus in der Philosophie des langen 19. Jhs. sowie in den Themenbereichen Pragmatismus, Anarchismus, Mystik sowie Moralphilosophie.

https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Print 978-3-495-49242-0 ISBN E-Book (PDF) 978-3-495-82619-5

https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Forschungsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Hauptteil: Verbindlichkeit in der Moralphilosophie . . . . . . .

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1.

Ausgangspunkt: Die Analytik der Metaethik . . . . . 1.1 Positionen der klassischen Metaethik . . . . . 1.2 Die »Neue Welle« der Metaethik im Überblick 1.3 Hypothese: Die Überwindung der Metaethik .

. . . .

33 37 48 90

2.

Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie . 2.1 Transzendentalphilosophie: Christine Korsgaards »Konstruktivismus« . . . . . 2.2 Transzendentale Kritik: Immanuel Kants transzendentaler Idealismus . . . . 2.3 Transzendentale Synthesis: Zeno Vendlers Konzept der Universalität . . . . . . 2.4 Transzendentale Apperzeption und die Übergänge der vertikalen Achse . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Pragmatischer »Stresstest«: Die Transzendentalphilosophie im Utilitarismus . . 2.6 Coda: »Diskursethik« und Transzendentalpragmatik .

95

Vorwort

. . . .

. . . .

99 112 126 133 147 158

7 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Inhaltsverzeichnis

3.

4.

Die pragmatistische Methodologie der Moralphilosophie . 3.1 Sami Pihlström: »Pragmatism goes transcendental« . 3.2 Präferenzen, Normen, Werte und das Rückkopplungs-Apriori . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Genealogie des klassischen Pragmatismus . . . . . . 3.3.1 George Herbert Mead . . . . . . . . . . . . 3.3.2 John Dewey . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 William James . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Charles Sanders Peirce . . . . . . . . . . . . 3.4 Zusammenfassung: Transzendentale Verbindlichkeit im Pragmatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die relationale Bewegung der Pragmatik am Beispiel der Moralpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Forschungsachsen der Moralpsychologie . . . . 4.2 Zur Verbindung von erlebter Freiheit und Kontrolle in der Moralpsychologie . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Zusammenfassung: Relationale Philosophie und empirische Forschung . . . . . . . . . . . . . . . .

Schlussbetrachtung

173 178 188 199 201 210 226 245 267

277 279 298 304

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Dankeswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

322

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Vertikale Achse der Architektonik . . . . . . . Abbildung 2: Horizontale Achse der Architektonik [Das verkörperte Dasein] . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 3: Überblick über John Stuart Mills qualitativen Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 4: Haidts Modell der SIM (Haidt 2013, S. 287) . . Abbildung 5: Forschungsperspektive für die Moralpsychologie (Fischer & Boer 2016, S. 156) . . . . . . . . . . . . . .

26 27 151 285 307

9 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Abkürzungsverzeichnis

AA AKV CP CRT DLPFC EET EP EW/MW/LW FM fMRT/fMRI FoB GMS GP HTMOIC JGB KpV KrV

= = = = = = = = = = = = = = = = =

KSA KU Log MFT MMDP MPRG MPRL PET PFC R RGV

= = = = = = = = = = =

UD

=

SIM TLP TMS VMPFC

= = = =

Akademie-Ausgabe der Werke Kants Analysis of Knowledge and Valuation (C. I. Lewis) The Collected Papers of Charles S. Peirce Cognitive Reflection Tests Dorsolateraler präfrontaler Cortex Evolutionäre Erkenntnistheorie (Vollmer) The Essential Peirce Early Works/Middle Works/Later Works (John Dewey) Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik (Kant) Funktionelle Magnetresonanztomographie/-imaging The Fixation of Belief (Peirce) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Kant) Die philosophischen Schriften von G. W. Leibniz How to Make Our Ideas Clear (Peirce) Jenseits von Gut und Böse (Nietzsche) Kritik der praktischen Vernunft (Kant) Kritik der reinen Vernunft (KrV A oder B bezeichnet die Auflagen von 1781 oder 1787) (Kant) Kritische Studienausgabe der Werke Nietzsches Kritik der Urteilskraft (Kant) Logik (Vorlesungen zur Logik von Kant) Moral Foundations Theory Minimalist Moral Dual-Process-Models Moral Psychology Research Group Harvard Moral Psychology Research Lab Positronen-Emissionstomographie Präfrontaler Cortex Robin Catalogue (der Texte Peirce’) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Kant) Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (AA 02) (Kant) Social Intuitionist Model (Haidt) Tractatus Logico-Philosophicus (Wittgenstein) Transkranielle Magnetstimulation Ventromedialer präfrontaler Cortex

10 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Abkürzungsverzeichnis W WDO

= Writings of Charles S. Peirce (Chronologische Edition) = Was heißt sich im Denken orientieren? (Kant)

11 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Vorwort

Diesen Text zu schreiben, setzt das Vertrauen in die Gültigkeit des Gegenstands seiner Untersuchung voraus: Er handelt von Verbindlichkeit; von Verbindlichkeit als Begriff, am Rande auch von Verbindlichkeit als psychologischem Moment oder physikalischem Gesetz, aber zentral doch von Verbindlichkeit als moralphilosophischem Phänomen. Es gibt verschiedene Absichten und Zweckvorstellungen, die dieses Unternehmen antreiben und begleiten. Dazu zählt in zweiter Linie der Wunsch, ein Verständnis für die Grundlage und historische Wirkkraft der von Kant entwickelten transzendentalen Kritik zu befördern, in erster Linie aber, die Debatten der Meta-Philosophie, respektive der Metaethik zu sichten und auszuwerten. Diejenigen, die an der Metaethik als Disziplin der Philosophie arbeiten, werden sagen dürfen, dass diese Arbeit selbst zur Metaethik zu zählen ist, und sie haben für ihre Sicht damit auch vollkommen Recht. Ich selbst würde es jedoch bevorzugen, den Gedankengang in der transzendentalen Kritik zu verorten, denn er untersucht die Bedingungen der Möglichkeit einer jeden Moralphilosophie (die jemals als Wissenschaft wird auftreten können), wirbt dabei für eine Kantianische Definition der Moralität und gibt den Staffelstab der Erforschung moralischer Probleme an die Wissenschaften zurück. Es geht also um Grundlagenforschung: Gäbe es keine Probleme in der Bestimmung des Zuständigkeitsbereichs der Ethik, also in der Kategorisierung der moralischen Phänomene, dann gäbe es keine Theorie der Moral. Seit die Theorie der Moral aber in der Philosophie diskutiert wird, haben sich deren Fragen allmählich verselbstständigt und sind zu epistemologischen, ontologischen und sprachphilosophischen Gegenständen avanciert. Im Rahmen dieser neuen Einbindungen weisen die ursprünglich moralischen Topoi, wie die Frage nach dem guten oder gelingenden Leben, plötzlich metaphysische Strukturen auf: Können wir das Gute überhaupt erkennen? Die kritische 13 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Vorwort

Art der Enttarnung solcher Scheinprobleme wird seit Kants »Kritik der reinen Vernunft« von einer transzendentalen Dialektik abgewickelt, in der die Logik und Kategorienzugehörigkeit der Untersuchungsmethoden überprüft wird. Heute können solche Prüfungen mit wesentlich filigraneren Instrumenten vorgenommen werden, wenn man an die Vielfalt qualitativer und quantitativer Verfahren in den Mixed Methods oder in der Grounded Theory denkt. Auf diesem Weg wird aus der kritischen Grundlegung der Moral eine pragmatistisch inspirierte Methodologie, die in ihren formalen Ansprüchen zwar weiterhin »absolut«, in ihren materialen Ansprüchen jedoch perspektivistisch arbeitet. Ich möchte für den Bereich der Moralphilosophie zeigen, dass kritische und pragmatistische Konzepte in der Methodologie keine Gegensätze darstellen, sondern aus demselben wissenschaftsaffinen »Geist« heraus entstanden sind. Es dürften daher m. E. keine größeren Schwierigkeiten entstehen, wenn eine pragmatistische Methodologie auf ihre kritischen Wurzeln zurückgeführt und auf diesem Weg in eine transzendentale Architektonik der Moralphilosophie eingelassen wird. Die kontinuierlichen Übergänge zwischen den unterschiedlichen moralphilosophischen Dimensionen – Metaethik, normative und deskriptive Ethik, Moral Sciences, Angewandte Ethik – werden von der synthetischen Leistung des Bewusstseins gestaltet: Verbindlichkeit im weiteren Sinne ist dem Denken als Geltungsanspruch wesensgemäß eingeschrieben und es tritt in den Wortfeldern »Synthese«, »Universalität«, »Normativität« und »Moralität« als Grundlage zutage. Dass der Verbindlichkeit mit den »Sittenlehren« der sog. Leibniz-Wolffschen Schule sowie der Entwicklung von Thomasius über Crusius et al. zu Kant hin bereits eine eminente Rolle in der deutschsprachigen Erarbeitung moralischer Grundlagen zugesprochen wird (vgl. Beiser 2008, S. 30 ff., vgl. Klemme 2016, S. 27 ff., vgl. Schwaiger 2018, S. 253–268), bestärkt die gesamte auf Freiheit rekurrierende kritische und idealistische Philosophie in ihrem aufklärerischen Impetus. Für den Zweck der vorliegenden Studie ist es eine erste (schwierige) Entscheidung, die Forschungsgegenstände aus philosophiehistorischer Sicht einzugrenzen und bei Kants Konzept rund um eine »Metaphysik der Sitten« zu beginnen. Von hier aus soll bis in die aktuellen Wissenschaftsgebiete hinein nachgezeichnet werden, dass die Synthesis ein entscheidender Motor für interdisziplinäre Forschungsinteressen in Philosophie, Embodiment-Theorie und BioWissenschaften (vgl. Gramelsberger 2013) bleibt. 14 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Einleitung

In der Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts entbrannte eine heiße Debatte über den Geltungsanspruch von ethischen Aussagen: Sind ethische Propositionen wahrheitsfähig und wenn ja, was genau drücken sie dann aus: Sachverhalte der Welt oder Zustände des Subjekts? Das Paradigma der Epistemologie wurde in diesem Zeitraum vom Paradigma der Sprache abgelöst (vgl. Apel 2011, S. 166) und führte zu neuen Perspektiven auf alte Fragen der Philosophie, insbesondere der Moralphilosophie. Überblickt man heute die Ausläufer dieser Theorie der Ethik, der sog. Metaethik, so zeichnet sich folgende Situation ab: Aus der Sprachanalyse hat sich eine Auseinandersetzung entwickelt, die neben der Semantik und Pragmatik moralischer Urteile auch wieder den ontologischen Status von Präferenzen, Werten und Normen untersucht und zu diesem Zweck auf Kognitions- sowie auf Sozial- und Kulturwissenschaften zurückgreift. Im Spektrum der metaethischen Positionen finden sich bezeichnenderweise gängige Argumentationsund Begründungsmuster der »alten« Metaphysik wieder. Da die Philosophie Immanuel Kants bereits diagnostiziert, dass das menschliche Denken die selbstkritischen Fesseln abwirft, wo es nur kann, um sich in ungeahnte, aber auch unüberprüfbare Höhen aufzuschwingen, so liegt der Verdacht nahe, dass einige Strategeme der Metaethik sich bereits in sehr dünner Luft bewegen. Aus dieser Annahme heraus möchte ich im Folgenden untersuchen, ob sich die Metaethik auf ähnliche Weise »therapieren« lässt wie die Metaphysik zu Kants Zeiten. Dazu muss ich zunächst einmal offenlegen, wo ich Defizite und Gefahren in der aktuellen Diskussion feststelle. Dann werde ich erläutern, wie ich die kritische Methode Kants verstehe und wie sie sich für verschiedene Bereiche der Metaethik als anschlussfähig bzw. kompensatorisch erweist. Weder die einzelnen Standpunkte der Wissenschaftler, noch die Inhalte der spezialisierten Forschungsgegenstände werden bei dieser kritischen Überprüfung 15 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Einleitung

angetastet; es soll lediglich genauer bestimmt werden, in welcher Hinsicht die jeweiligen Behauptungen vertreten werden und auf welchen Voraussetzungen sie aufbauen. Die erste Forschungshypothese dieser Untersuchung lautet daher: Durch die Methode der transzendentalen Kritik lässt sich zeigen, dass die Positionen der Metaethik und der Moralphilosophie immer schon Verbindlichkeit voraussetzen müssen. Die Beantwortung der Frage »Was ist Verbindlichkeit?« kann daher nur auf der Basis einer selbsteinholenden Methode angegangen werden. Wenn man Kants kritische Philosophie rein formalistisch deutet, wie es in dieser Arbeit mein Vorschlag sein wird, so ist ihre Leistungsfähigkeit mit der transzendentalen Reflexion auch bereits komplett ausgeschöpft: Sie steckt den Rahmen für jede mögliche Wissenschaft ab, die Moral untersuchen will. Die Phänomene der Moral selbst müssen dann von empirischen Wissenschaften erforscht werden. Nur so wird sich (verbindlich) klären lassen, welche Gestalten die Verbindlichkeit in welchen Situationen und in welchen Gesellschaften zu welcher Zeit eingenommen hat und wie sie also ihre normative Kraft jeweils entfalten konnte. Die zweite Forschungshypothese lässt sich vor diesem Hintergrund folgendermaßen formulieren: Im Wirkungsfeld der konkreten Verbindlichkeitsphänomene werden die einzelwissenschaftlichen Anstrengungen nicht etwa auch »vereinzelt«, sondern sie bleiben stets durch ein strukturelles Moment miteinander verbunden, das ich im Weiteren »Relationalität« – mit einem Bewusstsein verbunden (Mind-Dependency) – nennen möchte und dessen Bedeutung oben bereits durch die methodologische Frage »In welcher Hinsicht wird etwas von jemandem behauptet?« angedeutet wurde. Es gibt eine Reihe von philosophischen Methoden, die darauf abzielen, dieses nach wie vor existierende gemeinsame Band der wissenschaftlichen Anstrengungen zu reflektieren. Ich zähle dazu in erster Linie die Phänomenologie, den Konstruktivismus und den Pragmatismus, die sämtlich – mehr oder weniger unter Anerkennung der Vorarbeiten Kants – auf die Strukturmomente der Verbindlichkeit in konkreten relationalen Manifestationen hinweisen: Die Grundüberzeugung der Relationalität aller menschlichen Erkenntnisse nenne ich mit Kant »transzendentaler Idealismus«. Unter Anerkennung dieser gemeinsamen Basis sind alle weiteren Forschungsprojekte einem empirischen Realismus überantwortet. Um dies noch einmal vorab mit Kant auszudrücken: 16 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Einleitung

Der transscendentale Idealist kann hingegen ein empirischer Realist, mithin, wie man ihn nennt, ein Dualist sein, d. i. die Existenz der Materie einräumen, ohne aus dem bloßen Selbstbewußtsein hinauszugehen und etwas mehr als die Gewißheit der Vorstellungen in mir, mithin das cogito, ergo sum anzunehmen. Denn weil er diese Materie und sogar deren innere Möglichkeit blos für Erscheinung gelten läßt, die, von unserer Sinnlichkeit abgetrennt, nichts ist: so ist sie bei ihm nur eine Art Vorstellungen (Anschauung), welche äußerlich heißen, nicht als ob sie sich auf an sich selbst äußere Gegenstände bezögen, sondern weil sie Wahrnehmungen auf den Raum beziehen, in welchem alles außer einander, er selbst, der Raum, aber in uns ist. (KrV A, AA 04: 232.26–36) 1

Es sollte damit hinreichend deutlich geworden sein, dass die unhintergehbare Form der Relationalität geradezu das Gegenteil eines epistemologischen Relativismus behauptet; immerhin bestätigt sich diese Relationalität in jeder Hinsicht selbst: Alles, auch dieser Satz, ist nämlich immer in einer bestimmten Hinsicht ein Phänomen, und es gibt kein etwas, für das gilt, ein »Ding an sich« zu sein –, während der Relativismus sich als allgemeines Konzept (»Alles ist relativ«) selbst widerlegt. Diese Ausgangsbasis gesetzt, kann heute in der Metaethik eine Dialektik im Umgang mit dieser transzendentalen Struktur beobachtet werden: Philosophen, die als bekennende Idealisten oder Subjektivisten an Phänomene der Moral herantreten, glauben besonders die Erste-Person-Perspektive stärken zu müssen, die von den harten Wissenschaften so »stiefmütterlich« behandelt werde. Empirische Wissenschaftler hingegen meinen, sich vor der Relativität phänomenalistischer Einflüsse schützen zu müssen, um ihre Forschungsdisziplin unabhängig von der Beliebigkeit philosophischer Spekulationen zu halten. Hier will ich unter Zuhilfenahme der pragmatistischen Methodologie belegen, dass es sich bei der Auseinandersetzung der metaethischen Lager um eine »Logik des Scheins« (als »Dialektik«, vgl. Kant KrV A, AA 03: 130 u. 234) handelt. Wenn nämlich die Hinsicht der einzelnen Überzeugungen geklärt wird, zeigt sich durchaus eine Vereinbarkeit der vielen ertragreichen Studien. Ich wähle aus dem genannten Triumvirat der relationalen Ansätze (Phänomenologie, Konstruktivismus, Pragmatismus) das pragmatistische Konzept aus, weil es von den empirischen Wissenschaften Eine allgemeine Anmerkung zur Zitation: Wenn nicht anders gekennzeichnet, wurden die Hervorhebungen in den Zitaten aus dem jeweiligen Original übernommen.

1

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Einleitung

als »anschlussfähig« eingeschätzt wird und daher m. E. am ehesten dazu in der Lage ist, ein Bewusstsein für die Situation der Metaethik zu befördern. Im transzendentalen Idealismus ist strukturell keine Abkopplung von Bereichen der Ersten-, Zweiten- und Dritten-Person-Perspektive vorgesehen. Es gibt kein Innen und Außen, in denen das personale Erleben von den Erfahrungen der weltlichen Sachverhalte getrennt wäre, denn beide Bereiche treten notwendig in Relation zueinander auf und bilden damit einen nahtlos ineinander übergehenden Phänomenbereich. Selbstverständlich kann die empirische Forschung auf dieser Ebene dann »die Welt« weiter untergliedern und auf Gesetzmäßigkeiten hin untersuchen. Als »Zankapfel« bleibt in diesem Projekt einer pragmatistischen Kritik der Metaethik der ontologische Status des Ego – als gleichbleibender Bezugspunkt der Relationen – offen: Wie geht man mit dem Selbst, der Person, dem Charakter oder der Seele am besten um und in welcher Hinsicht kann ich sie hier beschreiben? Im folgenden Text nähere ich mich diesen Fragen lediglich formaliter an, indem ich durch die transzendentalen Ausführungen auf die Rolle der Synthesis als Grundlage für die Gegenstandsbereiche der Moralphilosophie hinweise. Von diesem Punkt aus wende ich die Betrachtung zurück in die empirische Erforschung der Lebenswelt. Das Pronomen »Ich« bedeutet also im Weiteren keinen Referenzgegenstand der erfahrbaren Welt, sondern ist der Ausdruck eines Selbstbewusstseins inmitten einer Gemeinschaft von erstpersonalen Sprechern. Auch für diesen Problembereich hat der Pragmatismus eine plausible Strategie zur Hand: Von Interesse für diese Studien rund um die Architektonik der Moralphilosophie sind auch in Fragen der Meta-Disziplinen ausschließlich diejenigen Überzeugungen, die tatsächlich einen Unterschied im Leben machen. Die Forschungsfrage lautet also: Was ist Verbindlichkeit? Und welchen Unterschied macht ihre (idealistische) Bestimmung in Fragen der Metaethik, der ethischen Konzepte der Moralphilosophie und der Moralpsychologie? In einem Überblick über das »Forschungsdesign« des Projekts erläutere ich zunächst diese Gegenstände mittels einer schematischen Architektonik und illustriere die Bewegungen der Untersuchung in einem methodologischen Modell. Das erste Kapitel gestaltet dann einen Überblick über die Genese der Metaethik und ihrer Positionen. Im Übergang zur aktuellen Debatte in der Metaethik weise ich auf einige Tendenzen hin, die versuchen, die scharfen Grenzen dieser 18 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Einleitung

traditionellen Positionen zu überwinden. Meine Diagnose zum Ende des ersten Kapitels lautet, dass die Tendenzen der Annäherung zwischen denjenigen Konzepten möglich sind, in denen Metaethik im Grunde genommen gar keine Rolle spielen müsste, weil Ethik und Moralwissenschaften (im Folgenden: Moral Sciences) bereits alle relevanten Forschungsfragen abdecken. Auffällig ist dabei, dass der Konstruktivismus aus der Anordnung der metaetischen Positionen herausfällt. Meine Vermutung lautet entsprechend, dass der gesamte Diskurs der Metaethik von den Argumentationsformen eines transzendentalen Realismus ausgeht. Da der Konstruktivismus von Christine Korsgaard tatsächlich aus der Metaethik herauskomplimentiert wird, möchte ich im zweiten Kapitel am Beispiel dieser Kantianischen Variante zeigen, wie man eine Grundlage der Moralphilosophie diskutieren kann, ohne dabei die Dialektik der Metaethik in Kauf nehmen zu müssen. Die Suche nach der »Quelle der Normativität« dient damit als Eingang in die Bewegung der transzendentalen Kritik. Die Konturen der hier zu erstellenden Architektonik zeichnen sich aber noch einmal genauer im ursprünglichen Gedankengang der praktischen Philosophie Kants ab. Am Höhepunkt der transzendentalen Kritik greife ich die Argumentationsfigur des transzendentalen Ego auf und kennzeichne die synthetische Leistung der transzendentalen Apperzeption als die gesuchte Verbindlichkeit sowohl von Relationalität als auch von Moralität. Um zu prüfen, ob der Weg aus diesen abstrakten Sphären der Moralphilosophie zurück in die Anwendung weiterhin offen bleibt, schließe ich mit dem Grundgedanken des Utilitarismus eine Art pragmatischen »Stresstest« an die transzendentale Bewegung des Denkens an. Die durchlässige Dynamik zwischen transzendentaler und pragmatischer Relationalität insgesamt läuft parallel zu dem Programm der »Diskursethik«, was ein kurzer Vergleich als »Coda« des zweiten Kapitels andeuten soll. Über die Korridore dieses moralphilosophischen Gebäudes bewegt sich der Pragmatismus mit der erforderlichen Offenheit, durch die zugleich vielfältige wissenschaftliche Disziplinen an die Grundlagenforschung angebunden werden können – seien dies »religiöse« Phänomene, theologische Konzepte, naturwissenschaftliche Forschungsprogramme etc. Ob der Pragmatismus in der praktischen Philosophie aber genuin mit der transzendentalen Kritik zusammenstimmt und ob der idealistische Zug der Architektonik mit einer pragmatistischen Argumentation vereinbar bleibt, wird in Kapitel 3 19 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Einleitung

mittels einer Genealogie einschlägiger Positionen der pragmatistischen Ethik verdeutlicht. Da ich bis zu diesem Punkt davon ausgehe, dass der Geist der kritischen Philosophie alle relationalen Ansätze der Philosophie verbindet, suche ich im vierten Kapitel nach einem Beweis für diese Annahme. Durch die Gestaltung eines fließenden Übergangs aus der pragmatistischen »Ethik« in die pragmatische Arbeit der Moral Sciences soll die kritische Philosophie auch als Grundlage der empirischen Wissenschaften nachgewiesen werden. Ein kurzer Überblick über Entwicklung und Forschungsstand der Moralpsychologie wird nahelegen, inwiefern diese Anschlussmöglichkeit sowohl vom transzendentalen Idealismus aus als auch vom Pragmatismus und Utilitarismus (Deep Pragmatism) aus möglich und nützlich ist. Bleibt noch, einen Vorschlag zur Einbindung der Ersten-PersonPerspektive in die Forschung einzubringen: Die Theorie der Reaktanz, die selbst auf behavioristische Annahmen zurückgeführt werden kann, bestätigt die Relation vom Erleben der Freiheit im transzendentalen Ego zum konkreten moralischen Selbstkonzept. In der Schlussbetrachtung werden im Zuge einer Zusammenfassung und Evaluation der gesamten vorliegenden Studie zusätzlich die Auswirkungen dieser Systematisierung der Moralphilosophie auf die Angewandte Ethik, insbesondere auf das dort diskutierte Methodenproblem, betrachtet.

20 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Forschungsdesign

Die erste einschlägige Etymologie der Verbindlichkeit als »officium« und »obligatio«, die mir seit dem Beginn meines Studiums der Philosophie lebhaft in Erinnerung geblieben ist, ist die kurze lateinische Wortlehre am Anfang des Nachwortes von Ciceros »De Officiis«, übersetzt, herausgegeben und kommentiert von Heinz Gunermann (1992). Er schreibt hier zunächst, dass »die ältesten Belegstellen des Wortes […] die Bedeutung ›gemäße Handlungsweise‹ [nahelegen], die übergeht in ›bindend auferlegtes Tun, sittliche Verbindlichkeit, Verpflichtung, Schuldigkeit, Dienst‹« (ebd., S. 425). Die Entwicklung sowie die Wirkkraft der »obligatio« von der antiken Pflichtenlehre der Stoa bis in das 20. Jahrhundert hinein kann zuvorderst in der Quellenstudie »Der Begriff der Rechtspflicht« (Schreiber 1966) nachvollzogen werden. In einer ganzen Reihe von Studien zur Verbindlichkeit in der Philosophie des 18. Jahrhunderts arbeitet das IZEA 2 der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg unter Leitung von Heiner Klemme (vgl. dazu auch Klemme 2015) das Phänomen »Verbindlichkeit« auf. Außerdem möchte ich an dieser Stelle auf die Forschungen von Dieter Henrich (bspw. 1965), Dieter Hüning (bspw. 2004, 2018), Joachim Hruschka (z. B. 2015), Werner Schneiders (1974, 1986, 1989), Clemens Schwaiger (2018) und Martin Mulsow (2018) sowie auf die Sammelbände von Bunke et al. (2015) und Gabriel Rivero (2019) verweisen – um hier nur einige ausgewählte »Schwergewichte« zu diesem Thema zu nennen, in denen auch die spätere Übertragung der »obligatio« in die »deutschen« und vor allem dann auch in die deutschsprachigen »Sittlichkeitslehren« nachverfolgt wird. 3 IZEA: Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (vgl. hier für eine erste Definition der Verbindlichkeit: http://www.izea.uni-halle.de/ fr/forschung/a-ideen-praktiken-institutionen/2-das-denken-der-aufklaerung/ verbindlichkeit-und-praktische-vernunf.html; Stand 28. 05. 2016). 3 Für meine Zwecke in dem hier vorliegenden Projekt sprengte die historische Aufarbeitung »über Kant hinaus« bis zum Ende der Habilitation den Zeitrahmen. Heute, 2

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Forschungsdesign

Das weitere Wesen der von mir in den Vordergrund gerückten systematischen Studie zur Methodologie und Architektonik der Moralphilosophie arbeitet zwar weiterhin auch zu einem großen Teil philosophiehistorisch (s. u.), allerdings geschieht dies vor allem aus dem Grund, dass viele Systemkomponenten selbstredend nicht originär von mir stammen, sondern bereits in anderen philosophischen Zusammenhängen vertreten wurden. Es soll daher zunächst eine Art historische »Komparatistik« und später im Bereich des Pragmatismus auch eine Genealogie durchgeführt werden, um diese Topoi aus ihren ursprünglichen Ko- und Kontexten (mit Bedacht) zu extrahieren und in dieses Projekt zu integrieren. Auf diesem Weg wird folglich das reflexive Kernmoment der Verbindlichkeit herausgearbeitet, wie es sich nun einleitend anhand einer Morphemanalyse veranschaulichen lässt: {Ver}{bind}{lich} {keit}. Das Lexem eröffnet ein Wortfeld, das insgesamt auf mannigfaltige Relationen rekurriert: Zusammenhang, Wechselwirkung (körperlich oder kausal bestehend, gedacht, frei assoziiert), Vermittlung usw. Im Vollzug des menschlichen Wahrnehmens, Assoziierens, Denkens, Sprechens und überhaupt des Vorstellens lässt sich etwa artikulieren, dass nichts als nicht verbunden (»ist nicht verbunden mit«) und nichts als nicht verbindlich (»ist (aber) für dich nicht verbindlich«) perzipiert, reflektiert oder artikuliert werden kann. Um das Stammmorphem {bind} setzen mindestens zwei gebundene derivative Morpheme das »Bindende« in eine selbstbezügliche, weil verbindende Geltung (bspw. in »Verbindung«). Neben drei gebundenen Wortbildungsmorphemen (also: 1 � Präfix und 2 � Suffix) tritt das Morphem daher als gebundenes und selbstreflexives Kernmorphem {bind} auf und greift seinerseits auf die Präfigierung {Ver} und Suffigierung {lich} über – etwas zu binden (jemand bindet etwas und etwas wird gebunden) oder etwas mit etwas zu verbinden; die Transitivität des Verbs entfaltet hier ihre Bezugsebenen. In der »Verbindung« der Wortformen »Binden« (Tätigkeit) oder »(Ver)Bindung« (ontologischer oder epistemologischer Zusammenhang) entspringt auf der Bedeutungsebene durch die Transitivität des »Relationierens« ein for-

zur Zeit der Veröffentlichung des Textes, schreibe ich dieses Forschungsdesign mit einer zusätzlichen Perspektive und mit einem Bewusstsein für den Mangel, der aus dieser Vernachlässigung auftreten musste und der im Rahmen der nun erfolgenden Publikation selbstverständlich nicht einfach durch ein paar einleitende Worte kompensiert werden kann.

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maler normativer Anspruch des Adjektivs »(ver)bindlich«, der sich in seiner transitiven Konstitution so interpretieren lässt, dass zwischen zwei Personen in Hinsicht auf eine Tätigkeit (Zu-Leistendes, Pflicht/ Verpflichtung: verbunden werden {lich}) oder eine Sache (z. B. als Symbol für eine Schuldigkeit) ein wechselseitiger Anspruch als Zustand ({keit}) markiert wird. Die vorherrschende Wechselwirkung muss folglich a priori – zumindest »fiktiv« – von beiden Seiten anerkannt worden sein, um in einer konkreten Situation ein manifestes Gefälle von Rechten und Pflichten zu legitimieren. Da in philosophischen Untersuchungen die Definitionen der Gegenstände für gewöhnlich erst am Ende des Gedankengangs feststehen, soll zu Beginn also zumindest die aufgezeigte relationale Struktur des Morphems eine Tendenz in der Erforschung von Verbindlichkeit eröffnen. So wird die Bindung selbst als formale Relation ausgeschrieben und auf ihre normative Wirkkraft für Personen ausgerichtet. Diese mindestens zweiwertige Relationalität des »Bindenden« legt damit zugleich formale Verweisungen und Zusammenhänge frei, deren Untersuchung die zentrale Hypothese generiert: Alles, was miteinander in Verbindung steht, verwirklicht in der jeweiligen konkreten Relation eine formale wechselseitige Verbindlichkeit. Auf der formalen epistemologischen Betrachtungsebene entsprechen alle Verbindlichkeitsweisen damit einer triadischen (kategorialen) Konstellation (Reflexion der Relation von etwas zu etwas). Vielleicht kann ein einfaches Beispiel diese Relationen – in diesem Fall leider unter Ausnahme der universalen Selbstgrundlegung – etwas einleuchtender vorführen: »Dieser Sats hat drey Fehler.« Auf der Satzebene erscheinen nur zwei Fehler, doch die Betrachtungsebene des Lesers nutzt die Bedeutungsebene über das (deiktische) Demonstrativpronomen »Dieser«, um die Bedeutung der Aussage in die Menge der Fehler zu integrieren: Da der Satz falsch ist, ist er richtig. Es gilt also in der Behandlung von logischer Selbstbezüglichkeit dieser Art, exakt die Hinsicht zu beschreiben, in der man die Selbstbezüglichkeit in die Beschreibung des Problems integriert. Die folgende Studie gestaltet in Analogie zu dieser kategorialen Annahme eine Architektonik der Moralphilosophie. Methodisch greift sie dazu auf bereits bestehende »Bausteine« aus Philosophieund Wissenschaftsgeschichte zurück und arbeitet zunächst lexikographisch und analytisch. Eine kritische Auswertung (qualitative Bibliometrie) von einführender Überblicksliteratur und einschlägigen Positionspapieren der Metaethik führt zu einem Vorschlag für eine 23 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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modifizierte Anordnung der Grundlagenforschung, der Arbeitsbereiche und der Methodenwahl der Moralphilosophie. Im Rahmen einer Sichtung der Forschungsmethoden in den empirischen Moralwissenschaften wird sich die Tragfähigkeit dieses Vorschlags bestätigen müssen. Insgesamt ist diese Arbeit folglich in den Bereich der Methodologie einzuordnen: Sie prüft bereits existierende Methoden und Argumentationsmuster auf den verschiedenen Ebenen der Moralphilosophie und ordnet sie so an, dass aktuell bestehende Probleme mit den je angemessenen Methoden behandelt werden können. Es wäre wohl vermessen, davon auszugehen, dass in der Moralphilosophie noch grundlegend neue Erkenntnisse inhaltlicher Art gefunden werden könnten; es lässt sich aber erneut prüfen, inwiefern die Erkenntnisse der (Meta-)Ethik auf die ihnen zugrundeliegenden Fragestellungen antworten. Um nicht den Anschein einer »Kreation« der weiteren Argumentationsgänge zu erwecken, werden die Schlussfolgerungen aus der lexikographischen Analyse an prototypischen Modellen der Moralphilosophie entlang – hermeneutisch, interpretativ (vgl. Strübing 2014, S. 12 f.) – 4 entfaltet. Die Anordnung der hier vorfindlichen Strukturen kann als Aufarbeitung einer transzendentalen Methode gekennzeichnet werden und die Betrachtung der Relationen der distinkten Forschungsansätze versteht sich damit insgesamt als kritische Methodologie. Vor allen Dingen besteht für eine solche Methodologie die Aufgabe, eine Einordnung der moralphilosophischen Programmatiken so zu gestalten, dass die (kontinuierlichen) Übergänge zwischen den einzelnen Konzepten in der Gesamtstruktur (Architektonik) deutlich werden. Um im Feld der Metapher »Architektonik« zu bleiben – hier wären auch einschlägige pflanzliche Metaphern (Baum: Wurzel, Krone, Kultivierung …) naheliegend –, muss die Vereinbarkeit von grundlegenden Voraussetzungen und konkreten Forschungsprojekten quantitativ und qualitativ nachgewiesen werden. Diese Aufgabe wird bereits von einer dafür eingerichteten Disziplin, der Metaethik, in Anspruch genommen. Im besten Fall müsste die MetaDie wissenschaftliche Methodisierung der subjektiven Expertise im Umgang mit Erfahrung, Daten, Nachvollziehbarkeit etc. wird in der Grounded Theory in pragmatistischer Tradition (über das formal-relationale) konstituiert. Kategorien und Konzepte emergieren allerdings nicht aus der Empirie, sondern werden kreativ und interagierend gewonnen (vgl. ebd., S. 58), um letztlich wiederum situativ gebundene Rekonstruktionen zu ermöglichen (vgl. ebd., S. 27).

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ethik daher ebenfalls ein methodologisches Selbstverständnis demonstrieren und ihr eigenes methodisches Vorgehen im Rahmen der Moralphilosophie reflektieren; aus diesem Grund bildet eine kritische Auswertung des metaethischen Diskurses den Anfang des folgenden Hauptteils. Der erste »diagnostische Blick« auf die Metaethik lässt heute eine Situation erahnen, wie sie sich für die Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts hinsichtlich der Metaphysik geboten haben muss: a) Die Disziplin »Metaethik« hat – als Disziplin der Philosophie – lediglich im Lager der non-naturalistischen Realisten eine eigenständige Fundierungsarbeit durchgeführt. Das Selbstverständnis aller übrigen Diskursteilnehmer greift aus deren angestammten Wissenschaftsfeldern auf die Metaethik über, wodurch in diesem scheinbar »neutralen« interdisziplinären Klima weltanschauliche Positionen konfligieren. b) Es gibt eine Reihe tragfähiger Methoden- und Strukturmodelle, die aber in den bisherigen Publikationen nicht aufeinander abgestimmt werden. c) Die vorherrschende Dialektik der Metaethik – ich verstehe hier unter »Dialektik« wiederum Kants Definition einer »Logik des Scheins« (vgl. o.) – lässt sich vor allem daran erkennen, dass sich »die Metaethiker« trotz aller Differenzen weiterhin als Metaethiker bestätigen. Diese Selbstverstärkung ist keineswegs zu erwarten, denn ausschließende Gegensätze (Kontradiktionen) strukturieren die Diskurse, in denen der Grundsatz »tertium non datur« gelten müsste: Realismus vs. Non-Realismus, Kognitivismus vs. Non-Kognitivismus etc. Einige Konzepte wie der Konstruktivismus, Konstitutivismus u. ä. scheinen aber durchaus am Rande der guten Vereinbarkeit mit diesem Modell zu liegen. Die kritische Methodologie prüft deshalb im nächsten Kapitel stichprobenartig und sequentiell prototypische Vertreter bestehender metaethischer »Lager« und unternimmt dabei eine architektonische Neuanordnung im Sinne einer transzendentalen Struktur, bei der die angesprochene Dialektik zugunsten von Überlappungen und kontinuierlichen Übergängen aufgehoben wird. Diese Synthese funktioniert allerdings nicht durch eine nachträgliche Versöhnung der Positionen, sondern durch den Nachweis einer vorausliegenden »Verbindlichkeit«, aus deren Wirkkraft heraus die heute diskutierten Dichotomien in einen ursprünglich vorliegenden Methodenpluralismus transformiert werden können. Diese universale Verbindlichkeit hätte durch eine transzendentale Prüfung (nach dem Beispiel der Kantischen Kritiken) in die Metaethik implementiert werden können, wie 25 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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es unten exemplarisch anhand der Forschungen von Christine Korsgaard – die gängigen (kontradiktorischen) Gegensätze übersteigend – entwickelt wird. Diese kompensatorische transzendentalphilosophische Leistung führt schließlich zu einer alternativen Architektonik der Moralphilosophie, die auf die eigenständige Disziplin »Metaethik« zugunsten einer pragmatistisch ausgerichteten Methodologie verzichtet. Ein Forschungsdesign dieser Methodologie illustriert die Ebenen oder Kontexte (vgl. Abbildung 1), auf bzw. in denen die weiteren Studien durchgeführt werden: Lebenswelt

pragmatisch

transzendental

Reflexion: Phänomene der Moral Ethik: Theorie der Moral Metaethik: Theorie der Ethik Transzendentalphilosophie Reflexion: Transzendentale Kritik »Transzendentale Apperzeption« Lebendige Synthesis (»Intuition«)

Abbildung 1: Vertikale Achse der Architektonik

In diese Darstellung der modellierten Ebenen »Lebenswelt«, »Moral«, »Ethik«, »Moral Sciences«, »Metaethik«, »Transzendentalphilosophie« (Korsgaard und Utilitarismus), transzendentale Kritik (Kant, Vendler, Bergson) sind zwei methodische Bewegungen integriert: 1) die transzendentale und 2) die pragmatische. Die transzendentale Bewegung gilt dabei als abstrahierendes Vorgehen, 5 bei dem die gleichbleibenden Elemente einer sich ständig verändernden Lebenswelt untersucht werden. Diese Strukturmerkmale gehören der Lebenswelt insofern an, als die ihre Umwelt erfahrenden Individuen ihre abstrahierenden Erkenntnisse aus ebendieser Lebenswelt »anhe5

Vgl. dazu bereits Herz 1771, S. 42: »abziehende« Vernunftbegriffe.

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ben« lassen. Die pragmatische Gegenbewegung untersucht entsprechend die Möglichkeit des Rück- und Anwendungsbezugs der Formaspekte auf die ständig auch weiterhin andauernde Lebenswelt. Für den holistischen Blick auf die Lebenswelt ist es dabei kein Problem, diese Forschungsbewegungen als eingelassenes Strukturmoment zu berücksichtigen, denn durch eine aus der Lebenswelt selbst – nicht von »nirgendwo« – hervorgehende Panopsis der Lebenswelt wird ersichtlich, dass es nicht nur diese eine Forschungsachse »transzendental/pragmatisch« gibt, sondern auch eine zweite empirische Forschungsachse »Zentrum/Peripherie« (vgl. Abbildung 2).

Selbstbewusstsein Zweckrationalität Handlungen Personen Umwelt Bewusstsein

Abbildung 2: Horizontale Achse der Architektonik [Das verkörperte Dasein]

Während die je weitere Sphäre eine lebensweltliche Voraussetzung für alle engeren Kreise bietet, konstituieren umgekehrt die engeren Sinnfelder das vermittelnde Denken dieser je weiteren Gegenstandsbereiche: Das verkörperte Dasein als umfassender Begriff für diese Dimensionen der Horizontalen Achse (Abb. 2) ist bspw. die Voraussetzung für ein denkendes Bewusstsein; dass das verkörperte Dasein 27 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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die Voraussetzung für ein denkendes Bewusstsein ist, denkt das Bewusstsein über das verkörperte Dasein in Bezug auf seine eigene denkende Tätigkeit. Die Analytik der kombinierten Bewegungen auf diesen beiden Achsen bildet durch die reflexive bzw. inversive Bewegung eine dritte »Achse«, nämlich die aktuale Betrachterperspektive, die dieses Architektonikmodell aufgrund ihrer transzendentalen Apperzeption eben auch universal – für jeden Betrachter in seiner Hinsicht – »projiziert«. Neben den in der Grounded Theory als »Conditional Matrix« (vgl. Strübing 2014, S. 28) benannten konzentrischen Kreisen (Relationen) eröffnet die vertikale Achse eine Tiefendimension dieser Relationen, die aber insgesamt einem architektonischen Kontinuum angehören. Ein sog. Situationsmapping der konkreten lebensweltlichen Relationen bildet sozusagen den pragmatistischen Gegenpol zur formalen Universalität der transzendentalen Apperzeption am Ende der vertikalen Achse – als konkrete Universalität der vernünftigen und der formellen Partikularität fließen beide in jede einzigartige Entscheidung eines Akteurs ein. Das Forschungsdesign zeigt anhand dieser einleitenden Bemerkungen das Forschungsprojekt als ein in seiner Tiefendimension transzendental-kritisch vorgehendes Denken. Um die dreidimensionale Bewegung auf den Achsenabschnitten nachvollziehen und rechtfertigen zu können, wird für die sich selbst reflektierende Beschreibung der Methodologie ein pragmatistisches Konzept veranschlagt. Damit soll gewährleistet werden, dass sowohl die phänomenale, empirische Dimension (lebensweltliche Realität) als auch die Tiefendimension (transzendentale Idealität) jeweils immer beide Bewegungsrichtungen offenhalten und einen transparenten kontinuierlichen Forschungsprozess entwickeln. Der Anspruch der Methodologie in der Betrachtung der Bewegungen »abstrahierend« und »konkretisierend« darf also nicht »einseitig« ontologisch in die Fülle der empirischen Möglichkeiten hinein erhoben werden, sondern soll die Präsuppositionen für jede anschlussfähige wissenschaftliche Forschung beschreiben. Durch die Verschränkung mit der horizontalen Achse bleibt die Architektonik daher zugleich empirisch offen und arbeitet doch transzendental »universal« – es liegen also weder abstrakte noch konkrete Ebenen in Reinform vor. Pragmatistisch zu forschen, bedeutet daher, die beiden Richtungen der Forschungsbewegungen pro Achse nicht als Gegensätze zu 28 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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verstehen, sondern als die konstituierenden Momente (universalistisch) der Methodik einer jeden Forschung (pluralistisch) anzuerkennen. Transzendental zu argumentieren, heißt entsprechend: Jede tiefer liegende Ebene ist methodologisch betrachtet die Bedingung der Möglichkeit für das Denken aller darüber angesiedelten Ebenen. Tragfähig ist ein solches Urteil dann, wenn es im Moment seiner Anwendung formal und performativ seine eigene Gültigkeit (und seine eigenen Präsuppositionen) bestätigt und damit für den auf diese Weise Forschenden unhintergehbar ist. Es wird dadurch aber nicht behauptet, diese abstrahierenden Ebenen existierten zusätzlich zur Lebenswelt. 6 Um die Stringenz der auf diese Weise entwickelten Architektonik nachzuweisen, soll für die Einfassung der Methodologie gezeigt werden, dass der Pragmatismus a) sowohl anschlussfähig an die Beispielsweise präsentiert Kant in seiner »Preisschrift« aus dem Jahr 1791 (vgl. FM, AA 20) eine prägnante transzendentale Einschätzung des idealen Raumes und der idealen Zeit, zu deren Annahme »Synthesis« erfordert wird (vgl. FM, AA 20: 270 u. 276 f.). Kant begegnet dem Leser dabei als Inferentialist (vgl. FM, AA 20: 277 f.), der in einem Kontinuum der Erscheinungswelt, inklusive Subjekt, arbeitet und auf semiotische Verweisungsstrukturen aufmerksam macht, die dieser Welt durch eine Analyse (ex post) abgerungen werden können (vgl. FM, AA 20: 280). Der transzendentale Idealist kann zugleich auch empirischer Realist und Dualist der Vorstellungen sein, so wie ein transzendentaler Realist zugleich auch empirischer Idealist sein kann. Allein die Zweideutigkeit der Begrifflichkeit »außer mir« ist Auslöser für Verwirrungen, die a) das Ding an sich als von mir unterschieden existierend denken und mit einem empirisch äußeren Ding verwechseln und die b) eine äußere Erscheinung als singuläre Vorstellung in ein transzendentales äußeres Ding projizieren, dessen Ursprung weder Materie noch Geist, sondern eine unbekannte Verursachung in mir wäre (vgl. Lau 2016, S. 5). Da jedoch alles Materielle für Menschen immer schon Wahrnehmung voraussetzt und in Raum und Zeit (als Anschauungsformen a priori) erscheint, handelt es sich zumindest der Analytik (Unterscheidungsmöglichkeit) nach nicht um bloß durch die Einbildungskraft vorstellbare Dinge, sondern um Empfindungen (vgl. FM, AA 20: 234), die »je mich« eine Wirklichkeit in sinnlichen Anschauungen analysieren lassen. Was das denkende Selbst im Rahmen des Wirklichen letztlich ist, wird nicht klarer durch diese Überlegungen. Der kritische Philosoph argumentiert in solchen Fällen bloß destruierend (vgl. FM, AA 20: 243). Weil sich das bloße Dasein im transzendentalen Idealismus der Bestimmung als innere/äußere Erscheinung sowie als Ding an sich entzieht, bleibt für Kant im analogisierenden Hinweis auf das »Dass« des Daseins lediglich ein unbestimmtes Selbst- und Lebensgefühl, das ohne Erkenntnisanspruch den modus ponens des »ich denke, also bin ich« bedient – offensichtlich ist dieser evidente Bezug zum Vollzug des Denkenden nicht mehr kommunikativ gegeben, wie Manfred Franks Hinweise auf Herders Transformation (Frank 2002, S. 14: »ich fühle, also bin ich«) und auf Sartres konkrete Anwendung dieses Konzepts nahelegen.

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transzendentale Kritik als auch an den pragmatischen Gegenstandsbezug und b) sowohl an die offene (moral-)wissenschaftliche Forschung als auch an die gewöhnliche Erfahrung der je konkret gegebenen Umwelt ist. Um dann die in den einzelnen Kapiteln beabsichtigten Arbeitsschritte besser zu veranschaulichen, kennzeichne ich die Vorgänge je auf den beiden Achsen. Im Falle der Genealogie des klassischen Pragmatismus dienen die Verweise auf die Illustrationen dann zusätzlich als Zusammenfassung der zentralen methodischen Topoi. Da die Genealogie, wie sie in diesem Text verwendet wird, ebenfalls als kritische Methode verstanden wird, kann auf diesem Weg das Ineinandergreifen von Architektonik und Methodologie noch einmal vor Augen geführt werden.

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Hauptteil: Verbindlichkeit in der Moralphilosophie

Ein Überblick über die Metaethik bildet den Beginn dieser Untersuchung von Verbindlichkeit in der Moralphilosophie (Kap. 1). Dazu wird die Entwicklung der Metaethik und ihrer Positionen nachgezeichnet; einschlägige Argumentationsmuster werden dabei referiert und ausgewertet. Am Ausgang dieser Analyse werden die zentralen Komponenten des Metaethik-Diskurses in den Rahmen einer Transzendentalphilosophie eingeordnet (Kap. 2.1 f.), um eine alternative Struktur der praktischen Philosophie zu präsentieren, die das Aufgabenfeld der Metaethik komplett kompensiert. Neben einer transzendentalen Begründung der Moralität wird dazu auch die Methodenvielfalt der Moralphilosophie abgebildet werden müssen. Diese Aufgabe übernimmt ein pragmatistisches Konzept (Kap. 3), das es erlaubt, fließende Übergänge sowohl zur Moral Foundations Theory (MFT) als auch zur empirischen Moralpsychologie (Kap. 4) zu gestalten. Dieser Überblick hat in seiner Auswahl und Zusammenstellung des Anschauungsmaterials nicht das Ziel, erschöpfend zu arbeiten, denn die als Gegenstand der Untersuchung markierten Disziplinen sind inhaltlich zu umfangreich und gleichzeitig zu spezialisiert für eine detaillierte Abbildung im Rahmen dieser Arbeit. Vielmehr kann in weiten Teilen mit Hilfe einer »Bibliometrie« auf einschlägige Vorarbeiten und Sammlungen zurückgegriffen werden, die bereits eine Architektonik und eine Methodologie der Metaethik erkennen lassen. 31 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Hauptteil: Verbindlichkeit in der Moralphilosophie

Die leitende Frage für diese Auswertung lautet: Welche gleichbleibenden Merkmale lassen sich im Verbindlichkeitsanspruch der metaethischen Theorien erkennen und welche Verbindlichkeit sprechen die Theorien ihrerseits den von ihnen katalogisierten Moralphänomenen zu? Ausgehend von dieser Analyse sollen die Möglichkeiten der genannten Kompensation der Meatethik durchgespielt und Vorschläge zu einer erweiterten Architektonik sowie zu entsprechenden Übergängen in eine abstrahierende und eine pragmatische Dynamik innerhalb der Moralphilosophie unterbreitet werden. Mit Ausnahme der »Positiven Psychologen« streben weder die Metaethiker noch die Moralpsychologen danach, die Welt besser zu machen. Es geht ihnen vielmehr darum, Modelle der Welt, respektive der Ethik zu erstellen, die Gesetzmäßigkeiten des moralischen Erlebens, Handelns und Urteilens sowie Strukturen, Anlagen und Herkunft der Moralität wissenschaftlich beschreiben. Eine Untersuchung der bei diesen Beschreibungen genutzten Präsuppositionen, Argumentationsmuster und Methoden legt in Abschnitt 1.3 einen formalen Verbindlichkeitsanspruch frei, auf dessen Basis eine universale Bedingung der Möglichkeit von moralischen Phänomenen formuliert werden kann. Der Hinweis auf die notwendige Voraussetzung von Verbindlichkeit für alle theoretischen und praktischen Disziplinen menschlicher Philosophie und Wissenschaft bildet den Übergang in eine transzendentale Argumentation, die einige bestechende Vorteile gegenüber der aktuellen Metaethik bietet.

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1. Ausgangspunkt: Die Analytik der Metaethik

Während die Verwendung der Begriffe »Ethik« und »Moral« gemeinhin alles andere als eindeutig und einheitlich ist, gilt Ethik in der Metaethik als die Disziplin der praktischen Philosophie, die eine Theorie der Moral erstellt und deren Gegenstände sich entsprechend zusammensetzen aus moralischen Phänomenen. Die Moral bezeichnet dabei einen Gegenstandsbereich, der u. a. Werte, Normen (Forderungen, Verbote, Erlaubnisse), Maximen, Präferenzen (Bedürfnisse, Interessen und Wünsche), Prinzipien unterschiedlicher Reichweite und Gesetze umfasst. Zur normativen Ethik zählen neben verschiedenen Ausprägungen der Prinzipienethik auch Tugendethik, Individualethik, Situationsethik, Sozialethik und Politische Ethik. Schließlich beziehen entsprechende Positionen in der Angewandten Ethik und Personalistischen Ethik die theoretisch ausgearbeiteten Modelle auf situative Einzelfälle, in denen ein Akteur konkrete ethische Entscheidungen treffen muss. 7 Die deskriptive Ethik hingegen konzentriert sich auf die bloße Beschreibung dieser Aspekte und Phänomene der Moral; sie stellt sich neutral und kartographiert – wissenschaftlich – die Grundzüge der Moralen in ihrer je spezifischen historischen, kulturanthropologischen, moralpsychologischen, (moral-)soziologischen Einbettung. 8 Dieter Birnbacher (1990, S. 27 u. 2003, S. 64 f.) nennt Wie Zangwill (2006, Bd. 3, S. 115) bestätigt, ist die Konsistenz der Argumentation von der Meta-Theorie bis hin zur Anwendbarkeit entscheidend für die Seriosität eines metaethischen Ansatzes denn die markierten natürlichen Eigenschaften aus der Metaethik können als »Verantwortlichmacher« oder als »Erlauber« für Umsetzungen gelesen werden (vgl. ebd.). 8 Vgl. dazu Schlick (1984, S. 67 ff.). Dass die Aufarbeitung der normativen Ethik scheinbar deskriptiv geführt wird, verdeckt den typischen Abstraktionsanspruch westlicher Ethik: Abstrakte Normenformulierungen entfalten auch moralische und rechtliche Zugehörigkeit und bilden je nach Allgemeinheitsanspruch »Schichten« (vgl. Held 2010: »multi-layered systems«) vom (Sitten-)Gesetz über das Prinzip, die Faustregel (prima facie Regeln), Maxime und Entscheidung bis hin zur Charakterbil7

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Ausgangspunkt: Die Analytik der Metaethik

eine phänomenologische Bestandsaufnahme geltender Moralen nach Arthur Schopenhauer daher »rekonstruktiv« (konkrete, undogmatische, empirische praktische Philosophie), während der »fundierende« Zweig der Ethik den Anspruch hat, moralische Prinzipien zu begründen. Um das Verhältnis der Metaethik 9 zur normativen Ethik zu illustrieren, gestaltet Elizabeth Anscombe (2010, S. 88 f.) eine Analogie, die Nick Zangwill prägnant zusammenfasst: »Anscombe’s example is of a husband who goes shopping with a shopping list. A detective follows him, making a list of the husband’s purchases. The detective’s list is a record of what happens in the world. But the husband’s list is a guide to what he is to do in the world […].« (Zangwill 2011, S. 466) Die entsprechende Forschungs-»Liste« der Metaethik kann mit Nico Scarano (2002) übersichtlich in vier Sachbereiche eingeteilt werden, die untereinander einen wechselseitigen Einfluss ausüben: Es ergeben sich Studienfelder der Sprachphilosophie, der Erkenntnistheorie, der Ontologie und der Philosophie des Geistes. 10 In der Verschränkung dieser Themengebiete kann demnach die wahrheitsfunktionale Semantik von Wörtern, Sätzen und Texten zusammen mit Untersuchungen zur linguistischen Pragmatik moralischer Sprechakte hinein in die Forschungsfelder der Seins- und Wirkweisen von Sachverhalten in der Welt getragen werden. Was geschieht etwa, wenn sich – verkürzt dargestellt – in der Artikulation moralischer Urteile Gefühlszustände eines Individuums Bahn brechen (Emotivismus)? Drückt der Akteur dann sein in Einstellungen und präkognitiven Zuständen verkörpertes Wollen aus (Expressivismus) oder dung. Die Gesetzmäßigkeit, die diese Ebenen durchzieht, ist der Anteil des rationalen Denkens an der Gestaltung von Geltungsansprüchen. Auf die Moralitätsbemessung im Handlungsfall hin besehen, reichen die veranschlagten Kriterien dabei von intuitiven Quellen (Gewissen, Eingebung, Instinkt, Beseelung, direkte Wahrnehmung) über Charaktereigenschaften (Tugend, Gewohnheit, Haltung, Einstellung) und negative Bestimmungen (Pflicht gegen die Neigung, Deliberation gegenüber den konkreten vorliegenden Umständen) bis hin zur Erhebung von absehbaren Handlungsfolgen (Nutzen, Glück, Seligkeit) oder Pflichtbefolgung. 9 M. E. liegt diese Auffassung der Metaethik allerdings sehr nah an der Aufgabe der deskriptiven Ethik. 10 Alexander Miller (2003, S. 2) nennt ähnliche Aspekte für die Definition der Metaethik in der englischsprachigen Forschergemeinschaft: Meaning, Metaphysics, Epistemology/Justification, Moral Psychology, Objectivity. Systematisch geschieht dies in direkter Nähe zu den Vorschlägen von Friedrich Kaulbach (1974), Henry John McCloskey (1969) u. a.

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Ausgangspunkt: Die Analytik der Metaethik

schreibt er anderen vor, was sie vor dem Hintergrund seiner Präferenzen zu tun haben (Präskriptivismus)? Mit der Beschreibung des Seinsstatus moralischer Gegenstände und der epistemologischen Aufbereitung der handlungstheoretischen und motivationspsychologischen Reaktionen eines (selbst-)bewussten Organismus auf die Sachverhalte der Welt können weiterhin auch Ontologie und Philosophie des Geistes, Evolutionsbiologie und Wahrheitstheorie miteinander kombiniert werden, um die subjektiven, intersubjektiven und objektiven Bedingungen von Werten, Normen und Präferenzen zu erörtern (vgl. Horster 2012, S. 23 f.). 11 Metaethische Forschung ist demzufolge auf das Engste verknüpft mit den »traditionellen« Diskursen und Methoden der Philosophie, aber sie unternimmt es gleichzeitig auch, normative und deskriptive Geltungsansprüche moralischer Urteile im Rahmen aktueller kognitionswissenschaftlicher, sozialwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Untersuchungen in ihr Repertoire zu integrieren. Der Facettenreichtum dieser (Meta-)Interdisziplinarität der Interdisziplinaritäten täuscht allerdings leicht darüber hinweg, dass die

Es gibt allerdings Fragestellungen, die über alle Positionen hinweg betrachtet werden müssen, bevor die Einzelaspekte wissenschaftlich und philosophisch geklärt werden können: Gibt es überhaupt universelle oder vielmehr nur kulturabhängige Urteile; gibt es objektive, intersubjektive oder nur subjektive Tatsachen in der Moral (vgl. Horster 2012, S. 23)? Nico Scarano (2002, S. 25 ff.) etwa sieht in Anbetracht der komplexen Kategorisierungslage die Aufgabe der Metaethik darin, kompatible Antworten der wissenschaftlichen Teilbereiche zu finden und die Erforschung der Moral durch empirische Untersuchungen im Anschluss an die philosophische Debatte zu ermöglichen. Neben Horster und Scarano führt auch Titus Stahl (2013) in die Disziplin ein und gesteht zu, es lasse sich durchaus rechtfertigen, moralische Urteile als objektiv wahr oder falsch zu bezeichnen, richtige oder falsche konkrete Handlungen auszumachen (ebd., S. 19 ff.). Stahl baut allerdings die Systematik der Metaethik auch gezielt über die Differenzierung von Kognitivismus (A) stark = a) moralischer Realismus: naturalistisch, non-naturalistisch [er nennt nicht den supernaturalistischen Bereich], b) moralischer Subjektivismus als Psychologismus, c) Irrtumstheorie oder B) schwach: zweite Natur, Betrachtungen von sekundären Qualitäten) und Non-Kognitivismus auf; er nennt hier exemplarisch Emotivismus und Expressivismus. Stahl steht trotz geringerer Abweichungen (die Verortung von Irrtumstheorie und Psychologie sowie die Kennzeichnung der Philosophie des Geistes) sehr nah an dem Ergebnis von Scarano und plädiert zusätzlich wie Horster für eine Zusatzdifferenzierung zwischen realistischen oder anti-realistischen Grundlagen. Die beispielhafte Einigkeit der Metaethiker im systematischen Aufriss ihrer Disziplin wird auch durch die ausführlicheren Überblicke von Horacio Mario Spector (1993), Tatjana Tarkian (2009) und Jean-Claude Wolf & Peter Schaber (1998) bestätigt.

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Ausgangspunkt: Die Analytik der Metaethik

Fragestellungen der intentio recta der Metaethik nicht auf den Stand der Metaethik selbst angewendet werden. Immerhin macht es in der Katalogisierung von Geboten, Verboten und Erlaubnissen, von Dimensionen der Legalität und Legitimität oder von Beziehungsrelationen der Betroffenheit und der Anerkennung einen deutlichen Unterschied, welche weltanschauliche Überzeugung der jeweilige Wissenschaftler in die metaethische Argumentation einfließen lässt. Ist deren Legitimation, ist deren normative Ausrichtung denn noch einmal auf Konsistenz, Nachvollziehbarkeit und vor allem auf (überflüssige) Voraussetzungen überprüft worden? Oder gezielter formuliert: 1. Ist »Metaethik« eine eigenständige Disziplin der Philosophie oder lediglich ein Etikett für beliebige Überlappungen wissenschaftlicher Interessengruppierungen im Bereich der Moral? 2. Welcher Jargons bedienen sich die verschiedenen metaethischen Lager und welche Aussagekraft entfalten sie dabei? 3. Lässt sich die Überprüfung der ethischen Grundlagen und normativen Geltungsansprüche auch auf die Meta-Ebene selbst übertragen? Treten hier die schlimmsten Befürchtungen der Kritischen Rationalisten ein: Unendlicher Begründungsregress – dogmatische Setzung von Axiomen – Zirkelschlüsse/self-defeat? Aus dem Anlass dieser Fragen und Befürchtungen heraus wird im Anschluss an die folgende Darstellung »der« Metaethik eine transzendentale Analyse der ethischen Grundlagen – intentio obliqua – durchgeführt, durch die sowohl die relevanten Ansätze der Metaethik als auch (rückgekoppelt) die Analyse selbst in einer alternativen Struktur der Moralphilosophie berücksichtigt werden. 12 Ich zeichne zu diesem Zweck zunächst die Entwicklung der »klassischen« Metaethik anhand ihrer zentralen Gegenstände im 20. Jahrhundert nach (Kapitel 1.1) und gestalte anschließend einen Überblick über die aktuelle Situation der metaethischen Debatte (Kapitel 1.2).

Transzendentale Kritik umfasst daher immer schon die metatheoretischen und metaethischen Ebenen.

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Positionen der klassischen Metaethik

1.1 Positionen der klassischen Metaethik Ein Problem der Selbsteinholung ist bereits im Ausgangspunkt der Metaethik bei George Edward Moore (1970 [1903]) in den zentralen Topoi der sog. offenen Frage 13 und dem naturalistischen (oder besser: definitorischen) »Fehlschluss« (eigentlich: fallacy) angelegt: An irgendeiner Stelle einer philosophischen Theorie müssen grundlegende Zugeständnisse gemacht werden, aus denen sich das Kriterium der jeweiligen Betrachtung ablesen lässt. Für Moore resultiert aus dieser Überzeugung das Erfordernis einer intuitionistischen (»anschaulichen«) Elementarlehre der ethischen Wahrnehmung. Die Existenzannahme von eigenständigen moralischen Tatsachen führt seiner Meinung nach zur strikten Zurückweisung der Reduktion moralischer Urteile auf die Beschreibung natürlicher Tatsachen; und so wurde im sog. Non-Naturalismus der Stein des Anstoßes für einen folgenreichen Diskurs errichtet. Zusammen mit einem supernaturalistischen Ansatz bilden Moores Intuitionismus (Non-Naturalismus) und der Naturalismus schon sehr früh das hybride Lager der moralischen Realisten. Gemeinsame Merkmale dieser realistischen Position sind die Annahme einer Erkenntnisfähigkeit für die moralischen Fakten, einer Bestimmbarkeit dieser Tatsachen durch wahrheitsfähige Propositionen und einer Verständigungsmöglichkeit über diese »objektiven« Phänomene. Uneins sind die Realisten sich allerdings darin, ob diese Möglichkeiten von Menschen tatsächlich genutzt werden können, ob man also über die Ethik »an sich« sprechen oder ob man sie erst gar nicht artikulieren könne (Quietisten). Die realistischen Grundmerkmale der Moralität werden nicht von allen Metaethikern anerkannt. Metaethische Non-Realisten ersetzen den Umgang mit harten Fakten der Moral durch vorsichtigere Erwartungen: So behaupten – wie oben bereits angedeutet – ethische Non-Deskriptivisten lediglich, dass sich moralische Urteile zusätzlich Moores »open question argument« schlussfolgert, dass solange »gut« nicht selbst definiert werden kann – er selbst geht davon aus, dass »gut« als elementare Moralempfindung ähnlich wie bei elementaren Farbempfindungen nicht weiter analysierbar ist –, die Gleichsetzung von Moralfaktoren mit gut, bspw.: »Freude ist gut« und »Schmerz ist schlecht«, entweder analytisch (und nach Moore damit falsch, da Freude die Bedeutung von »gut« nicht umfassend bestimmen kann) oder synthetisch und wegen der fehlenden Definition damit für die Bestimmung von »gut« nichtssagend ist (Freude ist ein Gefühl und gleichzeitig gut).

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Ausgangspunkt: Die Analytik der Metaethik

zu ihrem deskriptiven Gehalt in moralischer Hinsicht speziell durch Komponenten auszeichnen, die präskriptiv, emotiv, expressiv oder suggestiv/motivational ausgerichtet sind. Diese moralischen Aspekte wären dann nicht im eigentlichen Sinne objektiv oder wahrheitsfähig, sondern Ausdruck eines persönlichen Wollens. Sie müssen dabei nicht notwendig irrational sein, nur weil sie nicht faktisch und deskriptiv fundiert sind. Im Gegenteil folgen auch diese emotionalen und voluntativen Expressionen des moralischen Urteils rationalen Regeln, die zu einer intersubjektiven Verständigung führen können. Richard M. Hare (1995b, S. 37 f.) weist daher zu Recht darauf hin, dass die Begriffe »subjektiv« und »objektiv« sowie »deskriptiv« und »normativ« bei den Differenzierungen der Metaethik lange Zeit unsauber und verwirrend eingesetzt wurden. 14 Die Reduktion der Metaethik auf rein sprachanalytische Probleme ist eine verfängliche Unterschätzung des Forschungsgegenstands. Bereits Charles Leslie Stevensons »emotivistische« Konzeption in »Ethics and Language« (1961 [1944]) versucht, die Trennung der Konstituenten einer moralischen Aussage zu vermeiden und die Bedeutung eines jeden moralischen Urteils als propositional und zugleich als emotiv besetzt zu begreifen. Jeder Sprachnutzer weiß um die emotive Bedeutung von Begriffen und gebraucht diese, um andere Menschen zu beeinflussen, zu motivieren, zu lenken oder um seine Gefühlslage auszudrücken. Was bei der Kontrastierung von metaethischen Realisten und Non-Realisten übersehen wird, ist also der schon früh auftretende pragmatistische Impuls, künstlichen begrifflichen Trennungen entgegenzuwirken. Auch für die Non-Realisten können moralische Auseinandersetzungen also auf sachlichen KonHares Spektrum zwischen »deskriptivistischen« und »non-deskriptivistischen« Theorien legt hingegen einen größeren Wert auf die Aussagekraft und Selbstbestätigung der Kontradiktion, denn er berücksichtigt, dass die deskriptivistischen Paradigmen zu eng gefasst sind und dass über den Deskriptivismus hinaus andere Komponenten zur Betrachtung der Normativität herangezogen werden müssten. Für Hare fallen daher unter die Non-Deskriptivisten all diejenigen Personen, die behaupten, dass der Deskriptivismus nicht zur Bestimmung moralischer Urteile ausreicht (vgl. Hare 1995a). Hares Ansatz wirkt selbst wie eine Kopernikanische Wende innerhalb des Utilitarismus, da er den moralischen Wert der absehbaren Folgen einer Handlung mit dem Erleben (Präferenzen) in Relation setzt. Vgl. dazu Ullrich (2008, S. 149): »Beide Theorien [sc. Deskriptivismus und Non-Deskriptivismus] sind […] phänomenologisch unbefriedigend.« Mit Bagnoli teilt Ullrich in dieser Hinsicht die »Überlegenheit des Konstruktivismus gegenüber Kognitivismus und Nonkognitivismus« (ebd., FN 6).

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troversen beruhen – eine solche sachbezogene Auseinandersetzung ist dann ganz einfach durch einen Informationsaustausch zu befrieden. Stimmen hingegen die persönlichen Einstellungen und Vorlieben nicht überein, so muss die Überzeugungsarbeit eben auch »persuasiv« angegangen werden, notfalls mit Gewalt. 15 Damit antwortet Stevenson auf Moritz Schlicks »Fragen der Ethik« (1984 [1930]), in denen konstatiert wird, die Ethik setze als Wissenschaft keine Werte, sondern sie suche lediglich nach den tatsächlichen Verwendungen von Werturteilen und Normen in einer Psychologie des (moralischen) Handelns (vgl. ebd., S. 69–74). Um diese auszuwerten, zu katalogisieren, zu verallgemeinern, müsse eine klare Definition der Ethik vorliegen, für die am besten von einem praktischen Nihilismus ausgegangen werde. Die einseitige Betrachtung des sprachlichen Paradigmas führt also, wie man z. B. Stephen Satris’ Studie »Austrian Werttheorie and the German Wertphilosophie« entnehmen kann, zu der vorschnellen und fatalen Annahme, die ursprüngliche Verbindung von Normativität und Deskriptivität, Ausdruck und Aussage, Fakt und Wert könne aufgelöst und die Elemente getrennt analysiert werden (vgl. Satris 1987, S. 19). 16 Die Neuaufbereitung der Metaethik seit Willard V. O. Quines Kritik an der reinen Sprachanalyse (vgl. Beckermann 2004, S. 4 f.) führte zur postanalytischen Wende des Diskurses. Wie auch immer Quines Kritik letztlich zu interpretieren ist, sie regte ungefähr mit der Veröffentlichung von Gilbert Harmans »Das Wesen der Moral« (1981 [1977]) zur Entwicklung einer bunten Diskurslandschaft mit quasi-realistischen, transzendental-pragmatischen, quasi-expressionistischen etc. Ansätzen an. Auch die wissenschaftsaffine Neuausrichtung der Ethik, etwa im Sinne der Praxeologie, hat seit den 90er Jahren zu Vermischungen der vorher deutlicher unterscheidbaren Lager der Metaethiker geführt, die plötzlich aber reflexiv-intuitionistisch, 17 neo-pragmatistisch-dekonstruktivistisch oder sogar postZum Kriterium der Anordnung von Intuitionismus, Emotivismus, Naturalismus, Präskriptivismus in der Metaethik arbeitet Satris (1987, S. 2, S. 18 f. u. S. 128 f.). 16 Vgl. auch Stevenson (1961 [1944]) und Field (1932, hier nach Satris 1987). Satris zeichnet die verschiedenen Stadien des Emotivismus vor dem Hintergrund der Werttheorie und der Herausforderungen von »Toulmin, Foot and the neo-naturalists« (ebd., S. 2) nach. Er hebt diesbzgl. besonders die Vorarbeiten von Urmson (1968) hervor. 17 Vgl. Stratton-Lake (1990), Audi (2004), Shafer-Landau (2006), FitzPatrick (2006, Bd. 3) u. v. m. 15

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Ausgangspunkt: Die Analytik der Metaethik

modern und anti-ethisch arbeiten. Selbst der Intuitionismus tritt bei aller Unklarheit des Begriffs »Intuition« auch über Moore, Harold A. Prichard oder William D. Ross hinaus in einem Neo-Intuitionismus auf: Das Eigenschaftswort »gut« wird hier wie bei Moore als ein Element verwendet, das nicht mehr analysierbar und deshalb nicht definierbar sei. Zu dem, was die Eigenschaft »gut« nun aber bedeute, bestehe ein intuitiver Zugang: 18 Nach Jonathan Dancy (2006) z. B. wissen Menschen um die real existierenden Gründe, die ihnen schon aufgrund dieses bloßen Bestehens sagen, was sie tun sollen, d. i. ein externalistischer Anti-Psychologismus der Motivation und der Gründe. 19 Diese intuitionistische Hypothese, es gebe einen Zugang sui generis zu moralischen Tatsachen, muss sich allerdings mit dem Einwand auseinandersetzen, die scharfe Unterscheidung zwischen Metaethik, normativer Ethik, deskriptiver Ethik und Angewandter Ethik lasse sich unter dieser Voraussetzung nicht durchhalten, denn es gelte dann letztlich, zu Fragen der Ethik zu schweigen; tatsächlich lehnt die »Postmoderne Ethik« im Sinne Zygmunt Baumans (2009) – und in Anlehnung an das Dialogische Prinzip Martin Bubers, an das »Antlitz« Emmanuel Levinas’, an die Care- und Tugendethik sowie an die Kommunitarismusdebatte – ebenfalls die »Fetische« der modernen Geschichte, nämlich Vernunft und Abstraktion (vgl. Bauman 2009, S. 62 ff.: »Die schwindende Universalität«, u. S. 116 f.: »Die unbegründete Begründung«), ganz einfach ab. 20 An dieser Stelle besteht die »offene Frage« aber nicht mehr in Hinsicht auf ein Kriterium in der Bestimmung von »gut«, sondern hinsichtlich der Bestimmung einer Möglichkeit von Ethik überhaupt. Dass in diesem Zusammenhang künstliche Antinomien hergestellt werden, zeigt bereits William Frankenas Diagnostik (1974 [1939]) des sog. naturalistischen Fehlschlusses, der a) eigentlich ein definitorischer »Fehlschluss« sei und b) für Naturalisten niemals als Fehlschluss auftreten könne: Der Naturalist begeht aus seiner Sicht nämlich eben keinen Fehlschluss, wenn er gegen »Humes Law« verstößt und aus dem Sein ein Sollen ableitet, denn für ihn ist per Definition alles Sollen auf Seinsaussagen zurückführbar. 19 Vgl. zu dem Problem von Dancy in Fragen der Verbindlichkeit auch Schroth (2001, S. 66 ff. u. S. 74 FN 92). 20 Unter solchen »Fetischen« verstehen die Gegner von Prinzipienethik und Kontraktualismus auch die liberalistischen »Horrorszenarien« des Naturzustands und der Wolfsmetapher (»homo homini lupus«). Ausrichtungen der sog. Post-Ethik setzen hingegen auf situationistische, dezisionistische, posthumanistische, singularistische und postanarchistische Momente. 18

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Den dadurch bestärkten spekulativen Einflüssen der Metaethik versucht die sog. Irrtumstheorie von John L. Mackie (1995) Einhalt zu gebieten. Sie macht es sich zum Ziel, die künstlich evozierten Probleme der Metaethik durch eine klare Struktur ein und für alle Mal zu entscheiden. Mackie differenziert dabei zwischen Betrachtungen der Ethik erster und zweiter Ordnung. 21 Er selbst strebt eine Untersuchung zweiter Ordnung an, sodass sein »ethischer Skeptizismus« zwar eine Untersuchung über den Status des sittlichen Werts und des moralischen Wertens anstelle, aber selbst kein ethischer Standpunkt (erster Ordnung) sei. Im Zuge dessen will Mackie moralische Bewertungen wegen ihres intrinsischen Geltungsanspruchs nicht bloß als subjektive Geschmacksurteile einstufen; 22 wie könnten moralische Urteile nämlich dann objektiv verbindlich bzw. wahr oder falsch sein? Wie könnte man überhaupt über sie sprechen und sie wiederum beurteilen? 23 Ich halte also zunächst fest: Ethische Subjektivisten sind immer auch ethische Skeptizisten, aber nicht alle ethischen Skeptizisten sind zugleich auch immer ethische Subjektivisten. 24 Der Skeptizismus vertritt nämlich hier die (negierende) Behauptung, dass etwas nicht ist, statt dass etwas für jeden Betrachter ein anderes ist: Für Mackie gibt es eben keine objektiven Werte, Normen und Pflichten. Doch für diesen Fall muss eine Erklärung dafür gesucht werden, warum einige Menschen trotzdem glauben, dass diese Werte etc. (ggf. sogar non-naturalistisch) als eigenständige Entitäten existieren. Dieser Glaube ist nach Mackie ein folgenreicher Irrtum.

Nach Mackie (1995, S. 13) ist der Einwand nicht korrekt, dass er Moral nicht beachte, entweder weil »je meine« Moral gelte (Subjektivismus) oder weil gar keine Geltung festgestellt werden könne (Nihilismus) oder etwa eine Vermischung aus beidem vertreten würde. Dieses erste Missverständnis sei selbst ein Vorwurf erster Ordnung, also der eines moralischen Standpunkts (vgl. ebd.). Man kann aber nach Mackie entweder ethischer Skeptiker erster Ordnung sein oder auch ausschließlich Skeptiker zweiter Ordnung. 22 Diese Einschränkung wird von vielen Autoren kritisch eingeschätzt (vgl. dazu Tarkian 2009, S. 175). 23 Dass der Ethische Skeptizismus diese Phänomene in die Sphäre des Subjektiven verbannen will, ist also nachweislich nicht der Fall (vgl. Hampton 1996, S. 110). 24 Für gewöhnlich liegen hier folgende Einschätzungen vor: In der ersten Ordnung wird als normativer Standpunkt beschrieben, dass jeder tun soll, was er/sie für richtig oder falsch hält. In der zweiten Ordnung aber entspricht jedes normativ gefällte moralische Urteil über »richtig« und »falsch« einem evaluativen Ausdruck wie: »ich billige diese Handlung«, was der Einschätzung des Emotivismus entsprechen würde (vgl. Mackie 1995, S. 16). 21

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Die These von der Existenz objektiver Werte steht damit in einem direkten Spannungsverhältnis zum Deskriptivismus (vgl. ebd., S. 22), denn eine Beschreibung von objektiven Werten ist ihrerseits eben nicht mehr objektiv. Im besten Fall lassen sich aus dem Austausch der Beschreibungen intersubjektive Konzepte der Sachverhalte erstellen. 25 Es liegt daher auf der Hand, dass alle Werte, die einen objektiven Seinsstatus beanspruchen, deshalb auch von allen Menschen in gleicher Weise akzeptiert und vertreten werden müssten. 26 Anhand der Überzeugung des Metaethikers hinsichtlich des ontologischen Wesens moralischer Werte und Normen können folglich die Auswirkungen der persönlichen Haltung in Fragen der Metaphysik, der philosophischen Psychologie und auch der Moralphilosophie abgelesen werden. Wenn man nämlich davon ausgeht, es gäbe objektive Werte oder gottgegebene Gebote, dann ist man auch unmittelbar dazu verpflichtet, diese Werte, Gebote und Normen anzuerkennen: Die Erkenntnis der Objektivität moralischer Werte (zweite Ordnung) führt aber auf der Ebene erster Ordnung zu der Annahme, dass es keine Freiheit, keine Deliberation, keine Ethik mehr geben kann. Die Untersuchung des Sprachgebrauchs beinhaltet überall dort eine Irrtumsgefahr, wo Kategorienfehler im Untersuchungsgegenstand auftreten (vgl. Mackie 1995, S. 18). Erfahrungen von sekundären Qualitäten, die man als erste Qualitäten versteht, werden zu metaphysischen Hypostasierungen. 26 Vgl. Mackie (1995, S. 24 f.). Zur Universalisierung lässt sich hinzufügen: Nach Mackie erheben moralische Urteile einen Anspruch auf Objektivität. Sie begründen diesen gerne über eine Logik der Formulierung und des Sprachgebrauchs, nämlich über die Universalisierung der Aussagen. Diese sei in drei Stufen möglich (die seltsamerweise den Stufen Jean Piagets und Lawrence Kohlbergs entsprechen). Die Objektivität sei durchsetzt von einem subjektiven Entschluss, nämlich das Spiel der moralischen Sprache und ihrer intrinsischen Logik auf dem jeweiligen Universalitätsgrad mitspielen zu wollen. Sieht man von numerischen Unterschieden ab, so setze man die Verwendung von Eigennamen in Maximen aus, um diese verallgemeinern zu können (1. Stufe, vgl. ebd., S. 106). Es ist aber nach Mackie unklar, ob die moralische Geltung aus der Logik ableitbar ist oder ob es sich um die Setzung eines praktischen Grundprinzips handelt, nach dem ein formaler Aspekt (vgl. ebd., S. 108) auf alle ähnlichen Situationen/Handlungen übertragen werden kann. Auf Stufe 2 hingegen versetze sich der Akteur in die Rolle des anderen und betrachte die Welt (als er selbst) durch dessen Augen, mache sich also zum Betroffenen (selbst hier können noch starre Prinzipien (etwa im Nazi-Beispiel Hares) über das eigene Interesse dominieren (Bsp.: Auch wenn ich selbst irgendwann einmal mein Geld vergesse, soll niemandem – auch mir nicht – Geld geliehen werden …). Auf Stufe 3 werde ein solches Ideal durch das Hineinversetzen in den anderen als anderen gebeugt: Alle tatsächlichen Interessen (Begierden, Wünsche …) werden nun in gleicher Weise berücksichtigt (Unparteilichkeit). 25

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Um diese metaphysischen Vorurteile von der tatsächlichen menschlichen Praxis abzulösen, verschärft Mackie zwei metaethische Argumentationsfiguren (ebd., S. 40–49, in Anlehnung an Hare): das Argument der Relativität und das Argument der Absonderlichkeit. Die Beschreibung moralischer Urteile und Systeme, die in spezifischen Gesellschaften und Kulturkreisen beobachtet werden können, führt zu variierenden und relativistischen Modellen der deskriptiven Ethik. Bei diesen Darstellungen handelt es sich nach Mackie noch nicht um eine ethische Auffassung, weder um eine der ersten noch um eine der zweiten Ordnung (vgl. ebd., S. 40), sondern lediglich um moralsoziologisch beschreibbare Sachverhalte – keine moralische Verbindlichkeit. 27 Das Argument der Absonderlichkeit hat seinerseits eine metaphysische und eine erkenntnistheoretische Komponente. Da intuitionistische Positionen nur schwer anzugreifen sind, können sie dem Anspruch einer fallibilistischen wissenschaftlichen Theorie nicht genügen und ihre Überzeugungskraft für Außenstehende ist äußerst gering. Jeder Wertobjektivismus muss jedoch auf die Thesen dieses Intuitionismus zurückgreifen, denn hier wird von unmittelbaren Einsichten in die Verbindlichkeit von Werten gesprochen. Seltsamerweise sind diese »Intuitionen« aber nicht für alle Menschen gleichermaßen zugänglich; müsste man hier von moralischen Beeinträchtigungen ausgehen? Das Absonderliche am Intuitionismus ist also die damit einhergehende Tatsache, dass moralische Aussagen als solche nicht verifizierbar sind. Und wären sie es doch, so würden sie Freiheit und Moralität durch ihren objektiven Geltungsanspruch aufheben – und wieder: keine moralische Verbindlichkeit. 28 Moralische Aussagen dürfen im Gegenzug jedoch vom non-naturalistischen Realisten auch nicht als falsifizierbar klassifiziert werden, denn damit würde ihre unmittelbare intuitive Quelle versiegen. Kurz: Mackie kann ganz geMeinungsverschiedenheiten und kulturelle Abweichungen allerdings zeigen noch nicht, dass es keine objektiven Sachverhalte gibt (vgl. Mackie 1995, S. 42 f.). 28 Gäbe es aber in der Moralphilosophie objektive Werte und ließen sich Prinzipien für richtig und falsch erklären, dann wäre jede Handlung von sich aus schon unterlassenswert oder ausführenswert, und man wäre der eigentlichen (moralischen) Entscheidung enthoben. Worin könnte die Verbindung zwischen natürlichen Tatsachen und moralischen Tatsachen dann noch liegen, sodass die Handlung, die aus den Umständen resultiert, falsch oder richtig sein kann? (Vgl. ebd., S. 47) Miller (2002, S. 98) kann z. B. gegenüber Crispin Wright eine »moderate Irrtumstheorie« kennzeichnen und zusätzlich eine »radikale Irrtumstheorie« entwickeln, in die der Irrtumstheoretiker erst durch die Entgegnung Wrights hineingetrieben werde (vgl. ebd., S. 102). 27

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trost auf den empirischen Nachweis für die Behauptung der Intuitionisten warten. Die Annahme der direkten Wertwahrnehmungen als sekundäre Qualitäten besonderer Art (mit besonderer sinnlicher Ausstattung) ist also nicht bedeutungslos, sondern – bis auf Weiteres – falsch. Die Frage nach dem Verbindlichkeitsanspruch von moralischen Urteilen in der Lebenswelt (erster Ordnung), deren ontologischer Anspruch bereits verneint wurde (zweiter Ordnung), kann einzig in konstruktivistischen Variationen des Realismus beantwortet werden. Während Mackie m. E. naturalistischer Realist ist, der aber Behauptungen über die Existenz von moralischen Entitäten mit transzendentalen Argumenten verneint, berufen sich Konstruktivisten ex positivo darauf, dass keine Werte, Normen etc. an sich existieren müssen, um eine soziale Wirkkraft der praktischen Vernunft zu etablieren. Die negativen Ergebnisse von Mackie, verbunden mit einer positiven konstruktivistischen Perspektive, bilden im zweiten Kapitel daher den Kern meiner weiteren Argumentation. Sowohl in der normativen Ethik als auch in der Metaethik lassen sich durch die von Mackie angewandte kritische Methode die verschiedenen Behauptungen über das Konstituens der Moralität überprüfen. Die Nachvollziehbarkeit der Kritik wird dabei durch die Nachvollziehbarkeit des Argumentationsgangs gewährleistet. Und damit rückt schließlich die Vernunft als Vermögen des Schlussfolgerns und als Ausdruck der synthetischen Leistung des personalen Bewusstseins (vgl. u.: die Diskussion zum »transcendental I« bei Mackie, Hare und Vendler) in den Mittelpunkt einer Kritik der Moralität. Die Vernunft führt auch nach Friedrich Kaulbach sowohl in die Logik des Dialogs hinein als auch in ein anerkennendes soziales Miteinander. »Das Allgemeine und sein Verbindlichkeitsanspruch, den der Sprachanalytiker zu Unrecht allein in den faktischen Standards der Gesellschaft sucht, [setzt sich] in der Form einer vorgängigen, fundamentalen ›praktischen Vernunft‹ durch.« (Kaulbach 1974, S. X) Kaulbach beanstandet deshalb die bloß »oberflächliche« empirische Forschung einer (pseudo-)neutralen Metaethik 29 und bindet das Apriorische wieder in die ethischen Betrachtungen zweiter Ordnung Die sog. Neutralitätsthese (vgl. Link 2010, S. 108) behauptet die Unparteilichkeit der metaethischen Forschung gegenüber der Positionierung in Fragen der normativen Ethik.

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(eben: Meta-Ethik) ein: In einer »vertikalen« Tiefendimension (vgl. ebd., S. XII) wird die Rolle der praktischen Vernunft als Fundament für alles praktische Denken und Sprechen betont (vgl. ebd., S. 1). Die Bedingung der Möglichkeit für praktische »Erlebnisse« insgesamt (vgl. ebd., S. 10) kann auf diese Weise mit den formalen Strukturen des menschlichen »Begehrungsvermögens« (vgl. ebd., S. 15) verknüpft werden. Die metaethischen Parameter rational/irrational oder kognitivistisch/non-kognitivistisch für Aussagen der Ethik lassen hingegen eine Bindung an die konkreten Standpunkte des Wollens vermissen und provozieren damit erst die Dichotomie zwischen Wollen und Erkennen. 30 Obwohl also jede moralische Entscheidung eingelassen sei in einen historisch gewordenen, distinkten Weltkontext (vgl. ebd., S. 140), analysiere die frühe Metaethik aus Sicht der Vernunft- bzw. Konstitutionshypothese weder bloße Strukturen des Denkens oder Wollens noch materiale Entscheidungssituationen; sie zergliedere schlichtweg einige sprachliche Chimären als »materiale Abstraktheiten«, wie bspw. »das Gute an sich«. Ganz im Gegensatz zu dieser Abstraktheit sei jedoch in der Lebenswelt simultan alles Handlung und alles Theorie (vgl. ebd., S. 19: Verkörperung freien »Stand-Nehmens«). Das strukturelle Problem des Metaethikers ist also für Kaulbach, dass jener zu den Alternativen wissenschaftlicher Rationalität (deskriptiv und kognitiv) und »Irrationalität des wertenden und entscheidenden Ausdrucks […] nicht die für die praktische Rationalität maßgebende dritte Möglichkeit [sieht], der gemäß Standnehmen und praktisches Begründen zusammengehören« (ebd., S. 43). Metaethik würde nach Kaulbach besser als »Metamoral« bezeichnet, um den Indifferentismus oder die Neutralität bewahren zu können (vgl. ebd., S. 46). Bereits in den 60er- und 70er-Jahren sieht man vor diesem kritischen Hintergrund, dass die konkrete »materiale« Erforschung der Vgl. zur Unklarheit in der Differenzierung von Non-Kognitivismus und Kognitivismus: Pietrek (2011 [2001], S. 16) und die (ebd.) zitierten Definitionsansätze nach Dancy: »Beliefs, which are the paradigm examples of a cognitive state, have one direction of fit; desires, which are the paradigm examples of a noncognitive state, have the other. A belief that is, has to fit the world; the world is given as it were, and it is the belief’s job to fit that world, to get it right. A desire is not like that; the desire’s job, if anything, is to get the world to fit it, to make things be the way it wants them to be. Crucially a desire is not at fault if things are not as it wants them to be; a belief is at fault if things are not as it takes them to be.«

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Moral an die Psychologie und Soziologie abgegeben werden könnte, die formale Untersuchung aber von einer transzendentalen Philosophie geleistet werden müsste. Dass der Anspruch der Metaethik auf moralische Neutralität nämlich ganz direkt bezweifelt werden kann, zeigt auch Alan Gewirths Frage nach dem (normativen) Geltungsanspruch einer solchen Haltung: The strikingly novel character of this claim that metaethics must be morally neutral has not, I think, received sufficient recognition. For if we define ›metaethics‹ as dealing with categorial logical questions of the meaning of first-order moral terms and the methods of justifying first-order moral judgments, then metaethics is as old as moral philosophy, even though the idea of ›levels‹ of discourse, or of discourse about discourse, may not always have been explicitly emphasized. (Gewirth 1968, S. 215, Sp. 1) 31

Jede Position zweiter Ordnung (Metaethik) muss demnach eingelassen sein in eine Überzeugung erster Ordnung (normative Ethik). Doch es lässt sich mit Gewirth stichhaltig argumentieren, dass entweder keine moralische Neutralität der Metaethik vorliegt oder eben der Definition gemäß keine spezifische metaethische Dimension in der Moralphilosophie vorgefunden werden kann; Metaethik wäre dann tatsächlich – wie die Analogie Anscombes oben vermuten ließ und worauf Kaulbach mit dem Begriff »Metamoral« hinweisen wollte – lediglich eine neue Bezeichnung für die deskriptive Ethik. Würde die Metaethik aber zur Begründung der normativen Ethik verwendet, so wäre sie als Disziplin so alt wie die Ethik selbst und benötigte keine eigene Aufmerksamkeit als ein neuer, losgelöster Diskurs. Sie wäre dann ein Name für die Reflexion des Ethikers auf seine Grundlagen. Nun tritt Normativität aber tatsächlich in den Voraussetzungen der begründenden metaethischen Hypothesen auf (vgl. ebd., S. 215 ff.) und müsste daher entweder selbst erneut durch eine weitere MetaEbene begründet (usf.) oder in der Ethik als Theorie der Moral selbst reflektiert werden. 32

Bereits in der Frühphase der Metaethik wurde kritisiert, dass eine bloß auf die Analyse der Sprache gerichtete Disziplin zu einer unendlichen Fortsetzung in die Meta-Ebenen hinein führen könnte. Die Bestimmung der Metaethik als reine Disziplin zweiter Ordnung veranlasst doch gerade (vgl. Gewirth 1968), den Hinweis zu verfolgen, ob nicht auch z. B. Aristoteles, die Utilitaristen, Dewey usw. bereits Fragestellungen dieser Ordnung behandelten. 32 Die sog. metametaethische Frage Gewirths (1968, S. 216) nimmt bereits die meisten regressiven Wort- und Denkspiele der heutigen Einschätzungen vorweg. 31

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Positionen der klassischen Metaethik

Die Probleme für die frühe Phase der Metaethik, die aus diesen Einschätzungen Mackies, Kaulbachs und Gewirths resultieren, sind offensichtlich: Um den Stellenwert der Metaethik umfassend erörtern zu können, ist entweder ein sicherer Stand außerhalb der Metaethik nötig (Meta-Metaethik) oder ein sicherer, transzendentaler Nachweis dafür, dass Metaethik als Zusatz zur traditionellen Ethik einen Unterschied macht und folglich kein überflüssiges Konstrukt darstellt. Als Zwischenbilanz kann also festgehalten werden, dass der Anspruch der Metaethik, Grundlagen und Grundfragen der Ethik zu untersuchen, sich weder mit einer Selbstverortung der Metaethik als Teildisziplin der theoretischen Philosophie noch als Ethik (rein) zweiter Ordnung vereinbaren lässt. Es scheint so, als wichen »die Metaethiker« bei jeder Konfrontation auf immer neue, noch »unverdächtige« Gebiete aus, anstatt eine klärende Grundlagendebatte in Betracht zu ziehen, die zur Legitimation von allen zusätzlichen (Meta-)Disziplinen vorausgesetzt werden muss. 33 Die »neueste Welle« der Metaethik sucht – vermutlich aus diesem latenten Streben nach einer gemeinsamen Grundlage heraus – verstärkt die Anbindung an die Grundlagenforschung der Moral Sciences, denn durch die hier bevorzugten empirischen Methoden können realistische Positionen sich auch weiterhin ausdrücklich gegen die Annahme wehren, dass Moral und Entscheidungsfindung ausschließlich Ausdruck von erstpersonalen Stimmungen und Meinungen seien. Der deskriptive Zugang zu drittpersonal erforschbaren Zuständen des Organismus in seiner ebenfalls empirisch beschreibbaren sozialen Einbettung bildet »objektive« Bedingungen für moralische Urteile ab. In diesem Zusammenhang sind auch die psychologisch – über Erlebensberichte, Introspektion … – erhebbaren Zustände der Ersten-Person-Perspektive offenkundig »real«; doch wie steht es bei dieser Realität um die Unmittelbarkeit des Wahrnehmens oder Erlebens? Wie steht es um die intrinsischen moralischen Werte der externen moralischen Sachverhalte? Für Realisten wie Non-Realisten lassen sich in der neuesten Metaethik interessante Varianten hervorheben, die moderate (nichtLassen sich hier möglicherweise moralpsychologische Untersuchungen anschließen, um durch empirische Erhebungen sowohl die Phänomene des moralischen Erlebens als auch die Theorien der zweiten Ordnung an die Moralphilosophie zurückzubinden?

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reduktive) naturalistische Forschungsfelder bedienen und auf einen wissenschaftlichen Diskurs pochen. Zwar werden diese naturwissenschaftlichen Studien der »Natur« realer Werte und Normen häufig durch phänomenologische Studien ergänzt, aber auch diese können (und sollten) nur (induktiv) generalisiert werden, um wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. Ich vermute aus den bisher zusammengestellten Überlegungen für diese ersten Phasen der Metaethik, dass die einzige gemeinsame Basis, die für den metaethischen Diskurs akzeptiert wird, der Glaube an die Relevanz der Metaethik selbst ist. Diese Relevanz der Metaethik als zusätzliche Disziplin oder als eigenständiges Forschungsfeld der Moralphilosophie möchte ich, angelehnt an Mackies Argumentation, allerdings bestreiten, da die »Dialektik« der metaethischen Vernunft m. E. weder Auswirkungen auf den Phänomenbereich der ersten Ordnung vorweisen kann, noch einen eigenständigen Beitrag zur wissenschaftlichen Arbeit leistet.

1.2 Die »Neue Welle« der Metaethik im Überblick Aus diesem ersten Überblick über die Entwicklung der Metaethik und ihrer Fragestellungen kann das Selbstverständnis »der Metaethik« in der heutigen Forschung hergeleitet werden: »Sie muß 1. der Präskriptivität normativer Urteile und 2. dem in Moralurteilen implizit enthaltenen ›Element der Allgemeinheit‹ gerecht werden. Sie muß 3. die verschiedenen Bezugnahmen und Geltungsmodi moralischer Urteile klären und 4. ›die Möglichkeit rationaler Argumentation berücksichtigen können‹ (Albert).« (Ott 2006, S. 54) In den Studien zur neueren und neuesten Metaethik konnte ich vor diesem Hintergrund eine (m. E. »pragmatistische«) Tendenz ausmachen, die auf eine Überbrückung der o. g. traditionellen Dichotomien drängt. Wie bspw. Joshua Gert (2006, Bd. 2, S. 80 ff.) 34 die Debatte überblickt, sollten besser keine strikten Gegensätze auf dieser Meta-Ebene vertreten werden, da in der Metaethik ähnlich wie in der Malerei eigentlich mit einer (Farb-)Palette gearbeitet werde, die zur Abbildung des einen oder anderen »Motivs« – in der ein oder anderen Hinsicht also – jeweils besser geeignete Mischungen bevorzuge: KoIm Folgenden zitiere ich die Aufsätze aus der Reihe »Oxford Studies in Metaethics« zur besseren Identifizierung unter dem Erscheinungsjahr des ersten Bandes (2006) und gebe danach den Band der Reihe an.

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gnitivistische Lösungsansätze seien für einige Probleme vielversprechender, während für andere der expressivistische Ansatz Vorteile aufweise (vgl. ebd.). Erneut ist die vollständige Ausarbeitung der aktuellen metaethischen Positionen über die Hauptströmungen hinaus – Naturalismus, Non-Naturalismus, Konstruktivismus und (Neo-)Expressivismus (vgl. Chrisman 2011, S. 104) – im Rahmen dieses Abschnitts nicht vorgesehen. 35 Stattdessen möchte ich stichprobenartig die Mechanismen des Diskurses analysieren, die das Denken, Argumentieren und Forschen ausgewählter Metaethiker strukturieren. 36 Vor allem interessiert mich dabei der angesprochene Impuls, die scharfen Grenzen der klassischen Positionen zu überwinden, um Annäherungen der positionsübergreifenden Argumentationsfiguren zu ermöglichen. Ich vermute, dass im Rahmen der angestrebten Synthesen folgende Phänomene zu beobachten sein werden: 1) Es werden sich dieser versöhnlichen (Auflösungs-)Tendenz ausschließlich diejenigen Positionen entziehen, die der Kategorie »transzendentaler Realismus« (Non-Naturalismus und Supernaturalismus) zugeordnet werden müssen. 2) Alle anderen Positionen stimmen zumindest in der (offenen) Suche nach einer universalen Grundlage der Moral sowie in der Befürwortung einer offenen wissenschaftlichen Erforschung der moralischen Phänomene überein. Um diese Hypothesen zu überprüfen, interpretiere ich (hermeneutisch) die formalen Verbindlichkeitsstrukturen (Moralität) in einschlägigen Texten der aktuellen metaethischen Debatten. Sollten sich die Annahmen bestätigen lassen, wären damit folgende Schlussfolgerungen verknüpft: Die Verteidigung des metaphysischen Realismus ist seit Beginn der Metaethik die einzige »Bastion«, die den Status einer eigenständigen Disziplin »Metaethik« sichert; ohne die »starke robuste« Annahme von Werten und Normen an sich würde die MetaEin vielversprechender Vorschlag zur Sammlung und Ordnung der Positionen wurde in einer Notiz zu James S. Fishkins Methodologie in der Metaethik (1984) untersucht. Sieben ethische Positionen werden nach einem politikwissenschaftlichen Konzept von Robert Lane aufgelistet, das Fishkin als Antwort auf subjektivistische Philosophen in die Moralphilosophie überträgt (vgl. Fishkin 1984, S. 466 ff. u. S. 474). 36 Für Darstellungen in der Überblicksliteratur verweise ich neben den oben bereits verwendeten Scarano (2002), Stahl (2013) und Horster (2012) auch besonders auf Tarkian (2009), Wolf & Schaber (1998), Meyer (2011), Cuneo (2010) und selbstverständlich auf die herausragenden Sammlungen von Brady (2011) und Shafer-Landau (ab 2006), aus denen hier gezielt vereinzelte Charakteristika entnommen werden können. 35

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ethik belanglos. Die Insuffizienz der Metaethik als Disziplin liegt darin, trotz eindeutig wiederkehrender relationaler Argumentationsmuster (vgl. etwa Searle (2001), Nagel (2012) 37 etc.) keine eigene transzendentale Argumentationsbasis entwickelt, also – um die Metaphorik von oben aufzugreifen – keine Begründung für die Art, Breite und Akzentuierung der verwendeten Farbpalette geliefert zu haben. Vielmehr setzen die Autoren über die Grenzen der einzelnen Positionen hinweg kommunikative, logische, normative Argumentationsfiguren ungeprüft voraus und konzentrieren sich in ihren Auseinandersetzungen auf die sekundären Merkmale, wie sie oben bereits als Gegenstände wissenschaftlicher Projekte vorgestellt wurden: Ontologische Muster, sprachliche Gestaltung, Gründe, soziale Werte, Absichten, Motivationen etc. Kurz: Eine moralphilosophische Architektonik mit dem Umfang »Ethik plus Wissenschaft« kann die einschlägigen Aufgaben der Metaethik vollständig kompensieren, wenn die Übergänge zwischen den verschiedenen Ebenen und Perspektiven fluide gestaltet werden. In knappen Federstrichen zeichne ich nun die Entwicklung der vorgestellten Frühphase der Metaethik in die aktuelle Debatte hinein nach, um dort nach den beschriebenen Synthesen zu fahnden. Im Zentrum der Analyse stehen hier sukzessive die folgenden Transitzonen zwischen den Positionen (je von der erstgenannten in die folgenden hinein), die ich als (Verbindungs-)»Tendenzen« bezeichne: Tendenz I: Naturalismus – Non-Naturalismus – Pragmatismus Tendenz II: Non-Kognitivismus – moderater Naturalismus (realistischer und non-realistischer) – Pragmatismus Tendenz III: Realismus – Non-Kognitivismus – Konstruktivismus/ Konstitutivismus Tendenz IV: Naturalismus – starker Realismus – Non-Kognitivismus – Konstruktivismus Tendenz V: Transzendentaler Realismus – Empirischer Realismus – Relativismus – Konstruktivismus/Konstitutivismus Tendenz VI: Ethik in den Wissenschaften

Vgl. außerdem Nagel (1998 und 1999). Vgl. dazu aber auch Drew Khlentzos: »I argue that Thomas Nagel’s persuasive case for moral realism founded on the priority of the first-order moral valuations over second-order reflection is not conclusive […].« (2008, S. 17).

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Tendenz I: Naturalismus – Non-Naturalismus – Pragmatismus Bereits in den 80er Jahren 38 wird mit (z. T. einseitigen) Vorurteilen gegenüber Cartesianischen »Insight-Modellen« und intuitiver Introspektion auf die Idee hingearbeitet, »[that] moral properties are known empirically and that the link between moral and natural properties is an empirically knowable metaphysical necessity. So moral kinds are natural kinds rather than non-natural kinds« (Zangwill 2005, S. 125, Sp. 1). Der bekennende Kognitivist Zangwill (vgl. Zangwill 2011, S. 465) 39 weist allerdings auf einige Vorteile des Intuitionismus im Stile Moores hin, die den Naturalismus sowohl in seiner realistischen als auch in seiner non-realistischen Variante (als NonKognitivismus) an moralischer Aussagekraft entscheidend übersteigen. Zangwill argumentiert (vgl. ebd., S. 467), dass wir nicht in allen normativen Urteilen non-kognitivistisch argumentieren könnten; einige Annahmen müssten kognitivistisch sein, wenn wir überhaupt konsistent argumentieren wollten. Außerdem schwäche der Realist seine Argumentation, wenn er die Moral – im Zuge einer Disanalogie – grundsätzlich auf die Natur reduziere, und der Kognitivist verliere an Glaubwürdigkeit, wenn er die Konsistenz seiner ethischen Urteile durch eine szientistische Erklärung von kausalen Verarbeitungen elementarer Sinnesdaten stütze. Zangwill spricht Moores Metaethik daher die zusätzlichen »Ressourcen« zu, »to show how ethics is fundamentally different from science and why moral properties are not natural kinds« (ebd., S. 128, Sp. 1). 40

So etwa in Aufsätzen von Hilary Putnam (1997, 2002), Nicholas Sturgeon (1988), Richard Boyd (1988) und David O. Brink (1986). Vgl. zu einer Übersicht zum sog. Cornell Realism auch Wedgwood (2010, S. 5); s. auch Lutz/Lenman (2018): Moral Naturalism. 39 In der Verteidigung von Moores Ansatz zeigt Zangwill, dass zwei grundsätzliche Disanalogien im Vergleich zwischen Moralität und naturalistischen Sichtweisen – eine metaphysische, eine epistemologische – bestehen (vgl. ebd., S. 128, Sp. 1): »In metaphysical respects, the moral-natural relation is weaker than the natural kindmolecular structure case. And in epistemological respects, the moral-natural relation is stronger than the natural kind-molecular structure case.« (ebd., S. 128, Sp. 2). 40 Es gilt folglich in diesen neueren Debatten vor allem, die Frage zu untersuchen, wie das Moralische zum (scheinbar) Nichtmoralischen in Beziehung steht und wie etwa Supervenienzphänomene von Inter-Dependenzen zu unterscheiden sind. Caj Strandberg (2004) arbeitet dazu an traditionellen Konzepten der Supervenienz (Dependenzmodelle), um Angriffe von Zangwill und z. B. Dancy zu prüfen. 38

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In dieser diffusen Gemengelage von ontologischen und epistemologischen Fragestellungen der Metaethik wird die Debatte um den Status des »Gegebenen« erneut aufgegriffen. 41 Es geht dabei um den epistemologischen Status des materialen Anteils sinnlicher Erfahrung und dessen ontologische Adaptionen im Rahmen der Handlungstheorie: Ist die sinnliche Erfahrung eine direkte oder eine indirekte Wahrnehmung der realen Welt? Steht das Gegebene im Gefüge der inneren Verstandeswelt oder ruht vielmehr der Wahrnehmende eingebettet in eine Umwelt natürlicher Gegebenheiten? Bereits im direkten Umfeld der von Quine – als Vertreter eines methodologischen Naturalismus – und Donald Davidson geführten Diskussion über tragfähige Erklärungsmuster in den Naturwissenschaften werden bunt gemischte Einwände gegen mehr oder weniger verdeckte metaphysische Schlüsse im radikalen Naturalismus erhoben (vgl. Kemp 2012). Stuft man Quine und Davidson beide als »logische Pragmatisten« ein (vgl. Glock 2003), so wird die Beweispflicht im Streit zwischen dem metaethischen Kognitivismus und dem metaethischen Non-Kognitivismus eigens betont: »It is the opponents of pragmatism, the metaphysical realists, who find it important to talk of the receptivity and representation, of qualities in the world that merit the application of the term, or who think of more or less static rules governing its application, in place of the fluid and contested realities which historians chart.« (Blackburn 2010, S. 260) Die Gegner der Pragmatisten machten die Erkenntnis von Normativität vom Zugang zu externen oder internen Gründen an sich abhängig, wodurch die Metaethik möglicherweise in die falsche – nämlich: metaphysische – Richtung geführt worden sei (vgl. ebd., S. 283). Naturalistische Pragmatisten hingegen können den Axiomen der metaphysischen Realisten holistische und vor allem fluide relationale Modelle entgegensetzen, in denen ein besonderer Wert auf fundamentalkomplexe, evolutionäre und emergentistische Bewegungen gelegt wird und in denen folglich der repräsentationalistische Grundsatz – sozusagen der Übergang zwischen einem Außen der realen

Vgl. Sellars (1968, S. 154): »In the second place, the connection of theoretical entities and processes with perceptible phenomena, like that of mental episodes with behavior, is clearly a conceptual one, though not a priori in any Cartesian or Kantian sense.« Heute gibt Pekka Väyrynen (2011, S. 185) diese gesamte Unterscheidung von »Raum der Ursachen« und »logischem Raum der Gründe« als einen möglicherweise »wrong turn to reasons« noch einmal neu zu bedenken.

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Welt und dem Innen der wahrgenommenen Welt – durch eine holistische lebensweltliche Auffassung abgelöst wird. Die an diese realistischen Diskurse anknüpfenden Aufsätze in der Metaethik fechten aber in den 90er Jahren weder, wie man nach diesen einleitenden Worten noch vermuten könnte, Grabenkämpfe aus, noch gehen die Autoren mit offenem Visier in direkte Auseinandersetzungen. 42 Vielmehr lassen sich die beiden Motivationen erkennen, a) Probleme in den philosophischen Argumentationen ausfindig zu machen, die zur Aufhebung diverser Positionen im Sinne der wissenschaftlichen »Parsimonität« führen könnten, oder b) die Erklärungsmächtigkeit der Konzepte moralpsychologisch absichern zu lassen. Erstaunlicherweise präsentieren sich die empirischen Forschungsprojekte passgenau auf diese Absichten zugeschnitten und es entsteht der harmonische Eindruck eines spielerischen »puzzle-solvings« unter den metaethischen »players«. 43 Die Strategien orientieren sich einzig und allein an der »Aufstellung« der Argumente und nicht, wie es bei moralphilosophischen Problemen zu erwarten wäre, an der Rolle der Moral in zwischenmenschlichen Interaktionen. Sprachspielanalysen und Regeltheorien werden wechselseitig auf die je »anderen« Theorien angewandt, um ihre argumentativen Stärken und Schwächen zu untersuchen. Umgekehrt finden sich freilich für jede noch so abwegige Behauptung entweder empirische oder metaphysische Verteidigungen; und selbstverständlich werden je nach Weltanschauung des Forschers – und es macht im Folgenden den Anschein: auch je nach philosophischem »Trend« – Untersuchungs-

Ullrich (2008, S. 2) verweist auf die Frage, ob in der Metaethik überhaupt noch ein Fortschritt zu erwarten sei, wie sie schon bei Smith (1994) und Couture & Nielsen (1996) gestellt wurde. Vgl. auch Pietrek (2001, S. 8), der auf Frankenas Überlegungen zurückverweist. Möglicherweise gingen die Wortgefechte aus dem eigentlichen Gegenstand der »großen metaethischen Auseinandersetzungen« (ebd., S. 29) hervor, nämlich aus der von Couture & Nielsen markierten Werte-Fakten-Differenz. 43 Die Sprachwahl und einige mit einem gewissen Stolz vorgebrachte »Winkelzüge« lassen intensive strategische Überlegungen erkennen, die sich im Rahmen einer Art »Schachpartiewohlfühlatmosphäre« selbst zu tragen scheinen, wie bspw. anhand der Texte von FitzPatrick (2016) – »The reason why Parfit’s move might have seemed legitimate […]« –, oder in der aktuellen Meta-Debatte um den (Neuen) Realismus gezeigt werden kann: »Hält man sich an diese Strategie, so geht der Schachzug, mit dem man die Partie eröffnet, in einem bestimmten Sinn auf Kant zurück.« (Dreyfus & Taylor 2016, S. 58; vgl. auch S. 38: »Pattsituation«, S. 68: »fundierendem Schachzug«). 42

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schwerpunkte gesetzt und Bedenken gegenüber den widerstreitenden Prämissen geäußert. Während in der frühen Phase der Metaethik die »Metaphysische Ethik« und der Supernaturalismus im Austausch sowohl mit dem ethischen Naturalismus 44 als auch mit dem ethischen Non-Naturalismus standen, werden heute nur die beiden Letztgenannten ernsthaft diskutiert – und das obwohl eine ganze Reihe von Studien der Moralpsychologie von moraltheologischen Instituten betrieben werden. 45 Im sog. Goldenen Zeitalter der analytischen Metaethik (vgl. Couture & Nielson 1996, S. 6) entstand aus dem Non-Kognitivismus, respektive Non-Deskriptivismus ein (natur-)wissenschaftliches Verständnis der Ethik, das die Möglichkeit einer ernstzunehmenden Beschreibung der moralischen Phänomene über soziologische und psychologische Studien hinaus verneint. Diese in Hinsicht auf die Sachverhalte der Welt naturalistisch ausgerichtete Position versteht – unter direktem Verweis auf Wittgensteins »Tractatus logico-philosophicus« – moralische Urteile als eine Art »transzendenter« Expressionen im Sinne von Geschmacksurteilen. Viele Metaethiker sehen darin einen Angriff auf die Souveränität moralphilosophischer Forschung. Genau genommen werden in dieser Herangehensweise die Relationen Sprache-Welt, Sprache-Erleben und Erleben-Welt unterschieden und mit unterschiedlichen Geltungsansprüchen versehen: Ausschließlich der Bereich Sprache-Welt gilt als Domäne wissenschaftlicher Expertise, da hier eine von jedem Sprachnutzer nachvollziehbare sprachliche Formulierung von »objektiven« Propositionen stattfindet. Demgegenüber bildet die Relation Sprache-Erleben ein metaphysisches, nicht nachvollziehbares Gegenstandsfeld und die Konstellation Erleben-Welt drückt sich im Verhalten der Personen aus (»zeigt sich«), ist also lediglich im Medium der sprachlichweltlichen Artikulation und auch nur nachträglich reflektierbar und damit eben in Hinsicht auf die empirische Wissenschaftlichkeit »transzendent«. Der non-realistische Naturalismus, darunter Expressivismus Wobei kosmologische Naturalisten durchaus ethische Non-Naturalisten sein können, wie Moore selbst. 45 Vgl. dazu exemplarisch für die Forschung in Deutschland die einschlägigen Arbeiten (2015 a-d, 2017a ab) und Herausgebertätigkeiten (2015e & 2017c) von Jochen Sautermeister. Welchen Kritiken sich die Supernaturalisten ausgesetzt finden, untersucht etwa Morriston (2009) in »What if God commanded something terrible? A worry für divine-command meta-ethics«. 44

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und Emotivismus mit ihren naturwissenschaftlichen Beschreibungen der Sachverhalte der Welt, wertet jedoch mit der Einordnung der Moralität in den Non-Kognitivismus nicht gleichzeitig auch das moralische Erleben des Individuums ab. Wer diesen Schluss tätigt, gibt vielmehr im Zuge dieser Expression den (»self-defeating«) Stellenwert zu erkennen, dass die Wissenschaftlichkeit für ihn selbst als absoluter Maßstab für die Beschreibung der Sachverhalte der Welt und des Erlebens zu gelten habe. Diese wissenschaftliche Arbeit der NonRealisten entwickelt eine Kombination von kosmologischem Naturalismus und ethischem Non-Realismus, in der die nachvollziehbaren Sachverhalte der äußeren (natürlichen) Welt mit den subjektiven Äußerungen des Erlebens, Wollens oder Wünschens abgeglichen werden. Ethische Urteile beschreiben für diese Theoretiker daher eben keine Entitäten, sondern sie sind ein Ausdruck (daher: Expressivismus) von entweder Emotionen (Emotivismus) oder Vorschriften (Präskriptivismus) – es »zeigt sich« etwas im Verhalten der Personen, dessen Ursache nicht selbst als dinghafte Tatsache der Welt ausgemacht werden kann. Im Vergleich der Zwecksetzungen in realistischen und non-realistischen Konzepten wird schnell deutlich, dass beide Seiten auf je ihre Weise Freiheit und Moral verteidigen wollen. Möglicherweise sind die (ungenannt) geteilten Voraussetzungen der Grund dafür, dass die unterschiedlichen Strategien sich wechselseitig als metaethische Parteien stützen. In pragmatistischen Betrachtungen, die mit einer ähnlichen Vermutung an die Metaethik herantreten, findet man schon früh Hinweise auf Überlappungen, Adaptionen und Anknüpfungsmöglichkeiten in den metaethischen Präsuppositionen: Die »kontextualistisch« ausgerichteten Arbeiten von Philip Blair Rice und Henry David Aiken (vgl. Hahn 2001, S. xii u. S. 9), beide Teilnehmer am Symposion zu John Deweys Fragen aus »Some Questions about Value« (1944), machen darauf aufmerksam, dass verschiedene Expressivismus-»Varieties« vertreten werden, die sich zu Kombinationen mit kognitivistischen Ansätzen, insbesondere mit dem Naturalismus 46 eignen. 47 Vgl. die Betrachtung der Auseinandersetzung zwischen Realismus und Konstruktivismus von Boyd (1992); vgl. dazu auch die Übersicht von Lumer (1999), der z. B. die Variante eines adoptiv-non-kognitivistischen Kontraktualismus benennt. 47 Für meinen Gedankengang ist die ursprünglich angelegte Verbindung von Stevenson und Dewey (vgl. ebd. 1963, S. 10), d. h. zwischen Expressivismus und moderatem Naturalismus besonders bedeutsam. Vgl. dazu auch Deweys Teilnahme am UNESCO46

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Entscheidend bleibt also auch hier die Hinsicht, in der die jeweiligen Autoren »ihren« Naturalismus definieren. Robert B. Scott (1980) kann allein fünf Typen des ethischen Naturalismus unterscheiden, die jeweils in die Metaethik eingebracht werden: Es zeigen sich analytische (ethische Prinzipien sind analytisch zu verstehen), reduktionistische (moralische und faktische Entitäten sind identisch, nämlich natürliche Fakten), methodologische (ethische Prinzipien arbeiten wie wissenschaftliche Hypothesen), kontingente (einige moralische Prinzipien, die den ethischen Bereich mit dem natürlichen verbinden, sind zumindest in einem minimalen Sinne wahr oder falsch) und eliminative (es gibt keine moralischen Entitäten) Züge des ethischen Naturalismus (vgl. ebd., S. 261 f.). Sind aber diese Kombinationsmöglichkeiten erschöpfend oder gibt es über die Kategorien »Realismus vs. Non-Realismus« und »Kognitivismus vs. Non-Kognitivismus« hinaus noch weitere Positionen? Nach Couture & Nielsen (1996, ab S. 11) führt der von Wittgenstein ausgehende »neo-Aristotelean ethical naturalism (Foot, Anscombe and Geach)« (ebd., S. 23) zu ganz neuen (transzendenten) Perspektiven auf die traditionellen Topoi des Fakt-Wert-Dualismus sowie auf ethische Vermögen und Eigenschaften in ihrem ontologischen und psychologischen Kontext (vgl. ebd., S. 24 f.). 48 Diese Vielfalt der Positionen, die sich rund um ausgewählte konstruierte Forschungsgegenstände sammeln, lassen Couture & Nielsen schon sehr früh in einer noch vorsichtigen Parenthese vermuten: »Perhaps De-

Symposion: http://unesdoc.unesco.org/images/0013/001335/133513eo.pdf. (Stand: 30. 05. 2021) Vgl. außerdem Frankena (1979) und Cornelius (1972). Die angedeutete Verbindungsmöglichkeit könnte auch auf Peter Railton, Richard Boyd oder Alexander Miller übertragen werden. 48 Hieraus entstanden auch die Kategorien »thick« und »thin« (vgl. ebd., S. 25 u. S. 27). Vgl. auch Ullrich (2008, S. 85), der Railtons Hinweis akzentuiert, Erklärungsziele, Methoden und Bedeutungen in Relation zu betrachten. Lumer (1999, S. 695– 699) setzt hier auf den »adoptiven« (Non-)Kognitivismus: »Eine neutrale Definition ist vielmehr: Adoptiver (Non-)Kognitivismus ist: die These oder eine Theorie, die die These enthält: Die wesentliche Art der Akzeptanz moralischer Sätze und Urteile ist (nicht) rein kognitiv zu erreichen. Metaethische Nonkognitivisten sind ihrer Intention nach immer auch adoptive Nonkognitivisten; die Umkehrung gilt nicht. Einen adoptiven Nonkognitivismus vertreten z. B.: Brandt, Gauthier, Gibbard, Hare, Hume, Lumer, Trapp, Tugendhat, Schopenhauer; einen adoptiven Kognitivismus vertreten z. B. Kant und Ethiker in der Kantischen Tradition (wie Apel, Darwall, Habermas, Kuhlmann), der Wertobjektivismus oder der ethische Intuitionismus (z. B. v. Kutschera, Rawls).« (Ebd.)

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wey’s talk of fact-values is not as silly as many of us took it to be?« (ebd., S. 27)

Tendenz II: Non-Kognitivismus – moderater Naturalismus (realistischer und non-realistischer) – Pragmatismus Wenn all die genannten Bedingungen schließlich in der Wahl eines metaethischen Lagers einen entsprechenden »Ausdruck« erhalten, dann ist mittlerweile klar, dass die Auffassung der Ethik, die eigentlich Gegenstand der Metaethik sein soll, bereits implizit in den weltanschaulichen Präsuppositionen der einzelnen Philosophen und Wissenschaftler vorliegen muss. Mit einer ganz ähnlichen Vermutung setzen Terry Horgan & Mark Timmons, die der Metaethik viele interessante Aufgaben und Diskussionen beschert haben, schon 1993 in ihrem »accomodation program« (ebd., S. 182) auf eine versöhnende Strategie. In dieses ursprünglich non-kognitivistische Programm werden die gemeinschaftlichen Forschungsinteressen und methodologischen Voraussetzungen aller moderaten naturwissenschaftlichen Forschung integriert; ausgenommen sind jedoch reduktionistische Ansätze wie der »metaphysische« Naturalismus (Physikalismus), dessen »naturalist outlook in philosophy […] at bottom a metaphysical view about the nature of what exists« (ebd.) sei. In ihrer weiteren Forschung konzentrieren sie sich daher auf die Theorien, die versuchen, philosophische Diskurse zu verbinden und dabei gemeinsame Grundlagen und Präsuppositionen der »offenen« Forschungsprojekte zu erörtern. Dieses Vorhaben dokumentiert, dass in der Mitte der 90er Jahre eine ganz neue Welle von Beiträgen in der Metaethik entsteht, deren Gegenstandsbereich das oben angedeutete »moral reasoning«, aber simultan auch die Grundlage des moralischen Diskurses (»the nature of moral discourse«, Couture & Nielsen 1995, S. 1) umfasst. Es wird demnach eine neue Kategorie der Metaethik erkennbar (vgl. ebd., S. 3), in der eine non-kognitivistische Auffassung der Moralen noch einmal nachdrücklich durch ein naturwissenschaftliches (naturalistisches oder szientistisches) Programm zur Beschreibung der Welt ergänzt wird. Die »spekulativen«, nicht empirisch überprüfbaren Aussagen werden zwar aus der Wissenschaft ausgeschlossen, sind aber deshalb nicht unbedingt wert- oder sinnlos (sondern bloß »unsinnig«). Damit handeln sich die naturwissenschaftlichen Studien jedoch auch einige Vorwürfe bzw. Missverständ57 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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nisse ein, wenn bspw. ihre szientistische Reduktion der Weltanschauungen auf natürliche Entitäten kritisiert oder ein relativistisches Forschungsparadigma bemängelt werden. Es gibt auch sicherlich weiterhin reduktionistische Konzepte, doch für die Vertreter des offenen Forschungsprogramms ist klar, dass jede reduktionistische Tendenz auch ihre eigenen Geltungsansprüche und normativen Forschungskonzepte aufheben würde (vgl. Ernst 2011, S. 177). Diese Vorwürfe lassen sich leicht vermeiden, wenn das naturalistische Selbstverständnis »moderat« bleibt und an die »gewöhnlichen Erfahrungen« der alltäglichen Lebenswelt im Sinne eines minimalen Kognitivismus oder moderaten Non-Kognitivismus angebunden bleibt. 49 In einer Fremd- und Selbstanwendung zeigen Horgan & Timmons, dass wohl die »Angst« vor dem Expressivismus einen moralischen Abwehrreflex ausgelöst habe: »One possibility is that the critic is raising a moral objection: ›If expressivism were true, then what moral reason is there for taking moral thought and discourse seriously?‹ Now a moral question deserves a moral answer, and an expressivist, being invited to engage in moral disputation, can certainly oblige.« (ebd., S. 96) Expressivisten können also durchaus koMit einer ähnlichen Strategie wehren Horgan & Timmons auch eine ganze Reihe von Relativismus-Einwänden gegen den Non-Kognitivismus von Seiten der starken Realisten ab: »We agree with Stevenson (and Gibbard and Blackburn) about the legitimacy of a minimalist use of the truth predicate in ethics, but we have a way of developing this minimalist theme in connection with moral thought and discourse that helps make clear why an expressivist is not committed to moral relativism. Our view involves four thesis. (1) The concepts of truth and falsity are governed by implicit, contextually variable semantic parameters which allow that judgments employing these concepts (and the terms that express them) may themselves vary from one context to another. (2) In morally engaged contexts, the truth predicate is used to categorically affirm the first order moral judgment of which it is predicated; this (disquotational) usage is not relativistic at all. (3) In morally detached contexts, the truth predicate may be properly used in either a nonrelativistic manner or in an explicitly relativized manner; but the latter usage does not commit one to the idea that morally engaged, categorical, truth (and falsity) ascriptions to moral judgments are implicitly relativistic. (4) Finally, the morally engaged, categorical usage of ›true‹ and ›false‹ is semantically primary; the morally detached usage is secondary.« (Ebd. 2006, Bd. 1, S. 86). Unter Eingeständnis des Non-Objektivismus und Non-Nonarbitrarismus gestalten die vordergründigen »Makel« (vgl. ebd., S. 95) also gerade den Hauptvorteil des Expressivismus gegenüber den kognitivistischen Anklägern, dass sie in Tradition Stevensons (vgl. ebd., S. 78 f., vgl. o.) die dynamische Relationalität zum jeweiligen Diskurs berücksichtigen können, ohne dabei in einen generellen Relativismus – weder in einen Alltagsrelativismus noch in einen methodologischen Relativismus – verfallen zu müssen (vgl. ebd.).

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Die »Neue Welle« der Metaethik im Überblick

gnitivistisch argumentieren (vgl. Horgan & Timmons 1992, S. 221 ff.) und sie unterliegen keineswegs den ihnen vorgeworfenen »non-kognitivistischen« Einschränkungen. Diese Strukturmomente sind schon deshalb für jede Theorie erforderlich, da es auf jeden Fall zu vermeiden gilt, die geführten Auseinandersetzungen auf endlos ausufernde Meta-Ebenen, wie in der Meta-Linguistik-»Conflation« (vgl. ebd., S. 230), zu verschieben. Während kognitivistische Realisten geflissentlich dazu neigen, diese Verschiebungen durch eine dogmatische Setzung von moralischen Fakten zu vermeiden, müssen Expressivisten zu subtileren Argumentationen greifen. Ich vermute daher auch hier wieder, dass dieser kategoriale Rechtfertigungsdruck von den Wertkriterien der intuitionistischen oder supernaturalistischen Weltanschauung ausgeht. 50, 51

So unterscheiden Horgan & Timmons drei relevante Betrachtungsebenen für das Problem von bivalenten Wertungen wie wahr/falsch, richtig/falsch oder gut/schlecht. Erstens zeigt die sog. dependence thesis, dass die Wahrheit einer einzelnen Aussage immer auf dem Grundstock eines vorher gesetzten Bewertungsstandards aufbaut. Das hier eingesetzte »pragmatistische« Argumentationsmuster arbeitet also mit der einzelnen Aussage als »token« und der Subsumtion unter einen bereits bestehenden Bewertungsstandard (type). Ebenso verhält es sich zweitens bei der sog. constitution thesis dieser Standard-Sets, wenn sie durch eine Reihe von Einstellungen (attitudes) der Individuen oder ihrer Gruppen (vgl. ebd., S. 81) konstituiert werden. Da es keinen gruppenübergreifenden Maßstab, keine wertstiftende Meta-Ebene für die Bewertung dieser Bewertungen gibt und sich somit ein Pluralismus moralischer Phänomene herauskristallisiert, müssen die moralischen Urteile drittens auch jeweils im partikularen Kontext gelesen werden (»variation thesis«); sie sind nicht kontextneutral und damit auch nicht aus den lebensweltlichen Zusammenhängen zu lösen. Gegen diese Form des Relativismus wurde schon frühzeitig ein Einwand von Philippa Foot erhoben, den Horgan & Timmons (vgl. ebd., S. 85 f.) in der allgemeinen Form präsentieren, wie er ihrer Meinung nach noch immer von Paul Bloomfield und Shafer-Landau eingesetzt wird. Da aber der Expressivismus von Horgan & Timmons aus diesem Grund eine leichte Abweichung der Wahrheitstheorie in der Grundkonzeption des Non-Kognitivismus vorschlägt, wird der Einwand Foots zumindest für deren Expressivismus abgewehrt. 51 Um den »traditionellen« Expressivismus gegen die typischen Wertmaßstäbe der Realisten zu immunisieren, werden weiterhin sog. ökumenische Varianten vorgestellt (der sog. Simple/Plain Vanilla Ecumenical Expressivism und der sog. Ideal Advisor Ecumenical Expressivism, die beide von einer Art »common sense« ausgehen und in der zweiten »idealen« Variante dann ein (an die Haresche Figur des Erzengels erinnerndes) regulatives Prinzip einsetzen). Zur weiteren Definition und Erläuterung entwickelt Ridge (2006, Bd. 2, S. 56) einen alltagstauglichen, konventionellen Ausdruck von (non-repräsentationalistischen) praktischen Einstellungen, Überzeugungen (beliefs) und Wünschen (desires). 50

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Die Verteidigungsstrategien des Expressivismus zielen – kurz gefasst – darauf ab, keine zusätzlichen, abstrakteren Erklärungsebenen des Normativen zu kreieren, sondern in Anlehnung an David Hume und Adam Smith 52 empirisch in die partikulare Situation der Betroffenen hineinzuschauen. Doch wie arrangieren es die Expressivisten und Emotivisten überhaupt, von einer moralischen Einstellung sprechen zu können; gibt es etwa doch eine kognitive Kontrollinstanz, die den Charakter bildet und Geltungen rational konstituiert? Es gelingt einigen expressivistischen Autoren jedoch durchaus, die Betroffenheit der an einer moralischen Situation beteiligten Personen in die Theorie zu integrieren, indem die Moralaussagen als Ausdruck von natürlicherweise charakterisierbaren Einstellungen der Moral (»hot«) oder von »neutralen« Beobachtern (»cold«) interpretiert werden. Freilich gilt es dann, die Kriterien neu zu bestimmen, wenn diese Einstellungen intrinsisch moralisch und zugleich naturalistisch beschreibbar sein sollen: 53 In sum, it seems that the fact that not all moral judgments are made as a result of sentimentalist impartial sympathy does not undermine a historical sentimentalist account of moral attitudes. I have here presented an expressivist-friendly version of such an account, but it is worth noting that it needs only be slightly modified to arrive at a version of cognitivism, according to which moral judgment consists in belief in the appropriateness of sentiments. (Kauppinen 2006, Bd. 5, S. 254)

Bezeichnenderweise legt Kauppinen für diesen Schauplatz der metaethischen Debatte den beteiligten Forschern daher nahe, die Auseinandersetzungen zwischen Expressivisten und Kognitivisten doch auf psychologischer Ebene auszutragen (vgl. ebd.). Als Prototyp für diese Entwicklung der Metaethik arbeitet Simon Blackburn seinen quasi-realistischen Ansatz stetig weiter aus und diskutiert, zuletzt in der Aufsatzsammlung »Practical Tortoise Rising« (2010), einige sozialphilosophische und emotionstheoretische Annahmen (vgl. etwa ebd., S. 96) bzgl. der moralischen Phänomene »trust« und »reliance« sowie der (quasi-)kontraktualistischen BeGegen dieses bspw. von Miller et al. postulierte »moral attitude problem« des Expressivismus richtet Antti Kauppinen eine weitere Verteidigungsstrategie des Expressivismus ein (vgl. Kauppinen 2006, Bd. 5, S. 226), die er als »Historical sentimentalist account of moral attitudes« (vgl. ebd., S. 254) bezeichnet. 53 Kauppinen (2006, Bd. 5) arbeitet ganz ähnlich wie James Dreier, um dieser modernen Variante des Euthyphron-Arguments nachzugehen. 52

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gründungsversuche von zwischenmenschlichen Kooperationen. Auch Blackburn nutzt mit dem Verhaltensmuster »tit for tat« einen moralpsychologischen Mechanismus, um zu beschreiben, wie gewöhnlich mit Vertrauensvorschuss in gesellschaftliche Interaktionen hineingegangen wird. So sei ein Rückfall in den »Naturzustand« durch eine stille moralische Übereinkunft aller Akteure zu vermeiden (vgl. ebd., S. 108) – nach dem vertrauensvollen Beginn einer Interaktion setzt das aus der Rational Choice Theory stammende »tit for tat« auf die Strategie, Handlungsweisen des Gegenübers zu kopieren: Mein freundlicher Gruß wird (nicht) erwidert, also grüße ich in Zukunft auch (nicht mehr) weiter. Selbstverständlich kann mit Dreier (vgl. 2002, S. 242) 54 darauf hingewiesen werden, dass die Arbeiten der (Neo-)Expressivisten – Dreier (2006, Bd. 1) greift entsprechend emotivistische Untersuchungen von Gibbard auf und versucht – übrigens parallel zu Schroeder (2010) –, das sog, »FregeGeach-Problem« erneut zu bearbeiten. Von hier aus lassen sich die Verbindungsmöglichkeiten gezielt aufgreifen, um die Relationalität der Argumentationswege vom metaethischen Non-Kognitivismus zum (Quasi-)Realismus sowie umgekehrt vom Realismus zum (konstruktivistischen) »Non-Realismus« nachzuzeichnen. Das FregeGeach-Problem ist ein Einwand gegen den Nonkognitivismus, insbesondere gegen den Expressivismus und Askriptivismus gerichtet. Die einschlägige Form des Arguments wird von Peter Geach in den beiden Aufsätzen »Assertion« (1965) und »Ascriptivism« (1960) ausgeführt. Hier verweist er darauf, dass der Fehler der Askriptivisten, eine Zuschreibung von Willensakten, Absichten o. ä. als eine Zuschreibung von Verantwortung statt als Aussage mit Wahrheitswert zu verstehen, leicht hätte vermieden werden können, wenn Freges Unterscheidung von Assertionen und Prädikationen in der »Begriffsschrift« (1994/1879) beachtet worden wäre. »This whole subject is obscured by a centuries-old confusion over predication embodied in such phrases as ›a predicate is asserted of a subject.‹ Frege demonstrated the need to make an absolute distinction between predication and assertion; here as elsewhere people have not learned from his work as much as they should. In order that the use of a sentence in which ›P‹ is predicated of a thing may count as an act of calling the thing ›P,‹ the sentence must be used assertively; and this is something quite distinct from the predication, for, as we have remarked, ›P‹ may still be predicated of the thing even in a sentence used non-assertively as a clause within another sentence. Hence, calling a thing ›P‹ has to be explained in terms of predicating ›P‹ of the thing, not the other way around. For example, condemning a thing by calling it ›bad‹ has to be explained through the more general notion of predicating ›bad‹ of a thing, and such predicating may be done without any condemnation; for example, even if I utter with full conviction the sentence, ›If gambling is bad, inviting people to gamble is bad,‹ I do not thereby condemn either gambling or invitations to gamble, though I do predicate ›bad‹ of these kinds of act. It is therefore hopeless to try to explain the use of the term ›bad‹ in terms of nondescriptive acts of condemnation; and, I maintain, by parity of reasoning it is hopeless to try to explain the use of the terms ›done on purpose‹, ›intentional‹, 54

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also auch Gibbards »norm-expressivism« und Blackburns »quasirealism« – eben wegen dieses Hangs zur psychologistischen Absicherung als archimedische Theorie der Metaethik ungeeignet seien (»[they] are failures as Archimedean theories«, vgl. ebd.). Doch es liegt ja gerade im wissenschaftstheoretischen Geltungsanspruch der Non-Kognitivisten begründet, dass jede Form von metaphysischem Absolutheitsanspruch kritisch hinterfragt werden soll. Leider gelingt es auch den expressivistischen Autoren in ihren (quasi-)synthetischen Projekten nicht immer, alle Voraussetzungen und Hinsichten vollständig transparent zu machen. 55 Um dies an einem letzten Beispiel zu diesem Übergang von Expressivismus, Naturalismus und Moral Sciences zu verdeutlichen, gehe ich auf die jüngeren Arbeiten »Reconciling Our Aims« (2008) und »Meaning and Normativity« (2012) ein, in denen Gibbards aktuelle metaethische Position detailliert entwickelt und kommentiert 56 wird.

or the like, in terms of nondescriptive acts of ascription or imputation. With this I shall dismiss Ascriptivism; I adopt instead the natural view that to ascribe an act to an agent is a causal description of the act. Such statements are indeed paradigm cases of causal statements […].« (Geach 1960, S. 223 f.) Der nicht-deskriptive und non-kognitivistische Erklärungsansatz von wertenden und Verantwortung zuschreibenden Begriffen vernachlässigt vollständig den Sachverhalt, der neben einer – hier unerheblichen – Gefühls- bzw. Meinungsäußerung ausgedrückt wird. 55 Die neueste, »minimale« Form des Projektivismus (Joyce 2008, S. 53) kompensiert in diesem psychologistischen Sinne sogar das übersinnliche externalistische (intrinsische) Moment sowie das »Absonderliche« der non-naturalistischen Moralwahrnehmung: Moralische Akteure erfahren Moralität als einen objektiven Teil der Welt, der aber seinen Ursprung in einer »non-perceptual faculty« (ebd., S. 68) haben solle. »In particular, upon observing certain actions and characters (etc.) we have an affective attitude (e. g., the emotion of disapproval) that brings about the experience described […].« (Ebd.) Es bleibt aber aufgrund der unterschiedlichen Zugänge zum Projektivismus bis heute unklar, »[whether we have, W. M.] three distinct variants of moral projectivism, or whether we have a single projectivism that is neutral among these metaethical options« (ebd., S. 55). Je nachdem, wie weit der Projektivismus gefasst wird, können sowohl kritische Argumente im Stile Mackies als auch realistische Annahmen (vgl. ebd., S. 54 am Beispiel R. Mark Sainsburys) oder der expressivistische Ansatz (als Beispiel wird hier (vgl. ebd.) Blackburns Argumentation genutzt) frei miteinander kombiniert werden. Der moralische Projektivismus kann demnach mindestens vier Formen annehmen: minimaler, metaphysischer, nihilistischer und nonkognitivistischer Projektivismus. Für die Propositionen normativer Urteile greift im Non-Kognitivismus dieselbe expressivistische Argumentationsfolge, nach der affektive Artikulationen auf Aussagen über die Welt projiziert werden. 56 Barry Stroud (Einleitung), Michael Bratman, John Broome und Frances M. Kamm antworten auf Gibbards Vorschläge.

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In Gibbards Ausführungen werden Menschen zwar als Teil der Natur verstanden, aber die Sicht auf moralische Fragen, die sich als soziale, interaktionale Phänomene (soziale Kontextualität, moralische Emotionen wie Schuld etc., Deliberation und Artikulationen zur normativen Fragestellung: Was soll ich tun?) manifestieren, ist deshalb noch lange nicht reduzierbar auf »natürliche« Fakten (Gene, Hirnströme …). Trotzdem zähle die Untersuchung dieser Phänomene zum (natur)wissenschaftlichen Aufgabenbereich (vgl. Gibbard 2008, S. 14 f.), der sich gleichzeitig (»Harsanyi-like«, ebd., S. 85) mit einem (präferenz-)utilitaristischen Prinzip verbinden lasse: »The result I appeal to is rather this: In abiding by the ideal social contract, each person acts always to produce prospects that are maximal on the ideal goal-scale. Or at least this is so under certain conditions, which I will sketch. This is an application of the theorem originally about utilitarianism.« (Ebd.) Auf diese Weise können Prinzipien der Ethik direkt und reziprok mit wissenschaftlichen Projekten verknüpft werden. Doch durch diese Kooperation wird die Metaethik noch lange nicht suspendiert, denn die kognitivistische Auffassung moralischer Urteile wird ebenfalls häufig »intuitiv« 57 an die bevorzugten wissenschaftlichen Methoden angepasst (statt umgekehrt). Eine explanatorische Theorie müsste hinsichtlich der moralischen Urteile folglich psychologisch arbeiten, um Einstellungen, Wertemuster usw. festzustellen; doch woher stammt dann das Kriterium für die Beurteilung der Einstellungen? (Vgl. Brandt 1992, S. 59) 58 Wenn die Grundlage für die moralischen Entscheidungen einer wohlinformierten rationalen Person in der Gesellschaft gesucht wird, durch die der Person bestimmte Wertmaßstäbe anerzogen wurden, so muss doch die Akzeptanz des moralischen Kodex durch die Einzelperson selbst noch einmal sozialpsychologisch hinterfragt werden: Wür-

Vgl. etwa Brandt (1992, S. 57). Dorit Bar-On & Matthew Chrisman (2006, Bd. 4) richten zur stärkeren Konturierung der möglichen semantischen Übergänge zwischen ethischen und non-ethischen Schlüssen ihren »Neo-Expressivismus« daher auf eine Verbindung zweier Grundzüge aus: »(a) Ethical claims understood as products are semantically continuous with ordinary descriptive claims in being truth-evaluable, embeddable in conditionals, negation, logical inferences, etc. […] (b) Ethical claims understood as acts are different from ordinary descriptive claims […]. This – rather than any semantic feature of the propositions speakers communicate when making ethical claims – is what allows us to explain the ›internal‹ connection between making an ethical claim and being motivated to act in accordance with it« (ebd., S. 141).

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den solche rationalen Personen den sozial vorgegebenen Moralkodex auch allen anderen möglichen Kodizes bevorzugen? Die Akzeptanz von Moralsystemen liegt nach utilitaristischen Erklärungsansätzen (vgl. ebd.) nicht im intrinsischen Wert von sittlichen Regeln, Sympathie, informellen Sanktionen oder Anerkennung, sondern im absehbaren Nutzen solcher Strukturen für den Akteur. Dies wurde nach Brandt von der Psychologie für die Entwicklung moralischer Fähigkeiten bei Kindern »belegt« (vgl. ebd., S. 60). Moralische Erziehung und Entwicklung seien demnach auf der Basis einer regelutilitaristischen Überzeugung auf die Wohlfahrt aller Menschen ausgelegt und könnten am besten »induktiv« kultiviert werden ((welfarist) conscience-utilitarian view). Obwohl die in diesem kurzen Überblick formulierten ethischen Geltungsansprüche nach wie vor auch subjektive motivationale Zustände ausdrücken, werden doch die Parameter zunehmend in die soziale Umgebung der moralischen Akteure eingelassen. So können moralische Phänomene in der jeweiligen Hinsicht als personale Pläne in Fragen der (In-)Konsistenz des menschlichen Lebens und als Gegenstände wissenschaftlicher Studien betrachtet werden: »Moral questions are planning questions of particular kind, questions of how to feel about things, where the feelings in question are the moral sentiments.« (ebd., S. 17) Die Konzepte der Neo-Expressivisten ermöglichen es damit insgesamt – gegen den sog. Neo-Subjektivismus 59 – ein nicht-reduktionistisches Erklärungsangebot durch die Argumente von Emotivisten, Sentimentalisten, Deskriptivisten oder Präskriptivisten zu präsentieren. Gibbard (2012) lässt sich dementsprechend so interpretieren, dass er sogar einen Versuch unternimmt, die relevanten Annahmen von non-naturalistischen Realisten in die neo-expressivistischen Positionen einzubinden, da nach dieser Integration auf der Ebene der Ethik dann alle scheinbaren Vorteile der Metaethik auch weiterhin abgedeckt wären, ohne aber den metaphysischen Setzungen der Non-Naturalisten begegnen zu müssen.

In der konventionalistischen Variante findet sich dieser Anatz etwa bei Copp et al., s. u., oder in einer konversationellen Variante bei Finlay (2006, Bd. 4, S. 152).

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Tendenz III: Realismus – Non-Kognitivismus – Konstruktivismus/Konstitutivismus Zum Vergleich der eben erstellten Tendenz einer Aussöhnung des Non-Kognitivismus mit dem non-metaphysischen Angebot des metaethischen Realismus schaue ich in dieser dritten Tendenz zusätzlich auf eine Entwicklung, die in umgekehrter Richtung agiert. Im Folgenden wird nämlich eine Annäherung des Realismus an den NonKognitivismus beschrieben, die ganz ähnliche Berührungspunkte vorschlägt wie das »accomodation program« oder der Projektivismus. In einer Aufsatzsammlung besteht David Copps (2007) Verbindungsstrategie von moralischen Prinzipien darin, komparative und rückgekoppelte (Schluss-)Mechanismen in der Moralphilosophie auszuwerten: i. e. »a mechanism that involves a feedback between the dominant moral perspective or perspectives of a culture and the corresponding society’s ability to meet its needs« (ebd., S. 85). Damit importiert er also zusätzliche Mechanismen aus sozialpsychologischen Studien in die metaethische Debatte und schafft zunächst einen Adapter zwischen den expressivistischen und naturalistisch-realistischen Positionen, deren Weltzugänge – wie oben skizziert – naturwissenschaftlich bestimmt sind. 60, 61 Ein Realismus mit der Behauptung einer Stance-Independency von moralischen Werten und Normen entzieht sich aber per definitionem jeder wissenschaftlichen Überprüfbarkeit und fällt aus der angestrebten Synthese heraus. Copp weist in seinem Vorgehen auf die Nähe zu Railton (s. ebd., FN 43) und Scanlon (vgl. ebd., S. 60 FN 4) hin, thematisiert aber nicht die offensichtliche Parallele zu den klassischen Pragmatisten. Daher kann er auch eine relativistische Theorie ablehnen, obwohl er die unterschiedlichen Trainings- und Erziehungsmethoden etc. anerkennt (da ist die Nähe zu einem »ideal-code«, wie etwa Brady ihn fast eine Generation später vertritt (nicht genannt von Copp) erkennbar (vgl. ebd., S. 89 u. S. 91)). 61 Die Integrationskraft dieses Ansatzes ist so hoch, dass selbst Robert Audi und Shafer-Landau, die als Intuitionisten und Non-Naturalisten gelten, sich in diesem revidierten Naturalismus wiederfinden könnten (vgl. ebd., S. 99 ff.), wenn die von ihnen vorausgesetzten, selbstevidenten Propositionen und synthetischen Wahrheiten »schwach« – d. h. unter Ausschluss der Tragfähigkeit der gegebenen Alternativen – begründet würden. Doch für die erforderliche Differenzierung dieses »Apriori« in eine starke und eine schwache Ausprägung müssten noch weitere Zugeständnisse an die Non-Naturalisten gemacht werden. In der Form eines »rationalen Intuitionismus«, wie John Rawls solche Argumentationen nannte, löst sich das Apriori nämlich vom sozial-konstruktivistischen Konzept und behauptet seine Herkunft aus dem substantiellen, transzendentalen Realismus, der wiederum nur in einer »starken« Version, etwa durch die Setzung von intellektuellen Anschauungen, auftreten kann. 60

65 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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Um diesem Problem zu begegnen, greift Copp (2015, S. 108 ff.) auf relationale Strukturen zurück, die die künstlich generierte Kontradiktion in den metaethischen Kategorien »Realismus« und »NonRealismus« sowie »Kognitivismus« und »Non-Kognitivismus« insgesamt anzweifeln lassen und die eine konstruktivistische Alternative der Moralbetrachtung zur Verfügung stellen. »If I am correct, then even if the common sense principles are self-evident, if they are synthetic, they might well be empirically defeasible. It appears, then, that their being self-evident is compatible with moral naturalism.« (Copp 2007, S. 105) Und ganz in diesem Sinne schließt Copp weiter, es gebe keine tragfähige reine Selbstevidenz der moralischen Eigenschaften an sich (vgl. ebd., S. 109), sondern die wissenschaftliche Grundlage sei lediglich in den Erkenntnisgegenständen des jeweiligen moralischen Akteurs zu finden. Die ontologische Kontradiktion von Realismus und Non-Realismus reicht also möglicherweise gar nicht dafür aus, um das gesamte Spektrum der Metaethik abzudecken; nicht, weil der logische Schluss ausgesetzt werden soll, sondern weil die realistische Präsupposition meist mit einer Mind-Independency der Existenz- und Geltungsweise der Normen und Werte gleichgesetzt wird. Es muss also im weiteren Verlauf meines Projekts zusätzlich eine Grundlage des Relationalismus formuliert werden, die diese Probleme umgehen kann. 62 Die Grundlage des relationalen Gedankens sei wegen ihres zentralen Stellenwerts für die weitere Argumentation an dieser Stelle noch einmal kurz zusammengefasst: Heute wird der Konstruktivismus meist (vgl. Bagnoli 2015, S. 1) 63 unter Bezugnahme auf Kant, Rawls und jüngst auf Onora O’Neill, Barbara Herman sowie Christine Korsgaard so dargestellt, dass moralische Werte und Normen nicht entdeckt oder offenbart oder kreiert, sondern von Menschen (sozial) Konstitutivismus (Michael Smith), Konzeptueller Idealismus (Nicholas Rescher), Kontraktualismus (prozeduraler, fiktiver …), Enkulturalismus (Merlin Donald) und viele weitere hybride Ansätze verbinden dazu konstruktivistische Sichtweisen mit einem »basic«-Realismus (hier setze ich unten den Pragmatismus ein) oder Non-Realismus (etwa im subjektivistischen, relativistischen Lager) und heben die sicher geglaubte logische Kontradiktion der metaethischen Positionen aus ihren Angeln. Vor allem aber weisen sie deren nicht reflektierte Voraussetzungen ontologischer und normativer Art nach, wodurch zumindest der non-naturalistische Realismus an Boden verliert. 63 Was sich Rawls vom Konstruktivismus verspricht, insbesondere in Hinsicht auf die Kantianische Denkweise von Freiheit und Gleichheit, wird kritisch diskutiert in Guyer (2013, S. 176 ff.). 62

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gestaltet werden; »Konstruktion« dient also dabei als Metapher (vs. Kreation, vs. Entdeckung). Die Kantianische Ausrichtung des Konstruktivismus setzt auf die Autonomie vernünftiger Wesen und bindet Moralität vornehmlich an die Integrität des Akteurs zurück (vgl. ebd., S. 10). 64 Selbstverständlich gehen mit den dazu notwendigen Präsuppositionen auch die gängen Einwände gegen Kantianische Begründungen einher: Vermögensanthropologie, Idealismus, Apriorizität etc. werden dabei gerne kritisch hinterfragt. Vor dem Hintergrund meiner Forschungshypothese lässt sich zeigen, dass sich einige dieser Vorwürfe ganz leicht aufklären lassen. So werfen etwa Nadeem Hussain & Nishi Shah (vgl. ebd., S. 12) der Moralphilosophie Korsgaards vor, es handele sich gar nicht um eine metaethische Theorie (vgl. ebd., S. 12) – diese Einschätzung entspricht dabei exakt meiner o. g. Vermutung: Die meisten Konstruktivisten lehnen es ab, komplexe Entitäten auf non-moralische Elemente zu reduzieren (vgl. ebd., S. 13). Aus diesem Grund will Korsgaard explizit »beyond Metaethics« (ebd.) gehen und eben aus diesem Anlass nutze ich ihr Kantianisches Denken im nächsten Kapitel, um die behauptete Differenz zwischen Metaethik und normativer Ethik sowie zwischen Kognitivismus und Non-Kognitivismus noch einmal detailliert zu hinterfragen. Damit versuche ich also a fortiori, das vorgestellte Projekt eines »societybased« Konstruktivismus nach Copp zu bestätigen, das simultan als objektiver, realistischer und naturalistischer Ansatz auftritt. Für Copp gilt es, sich auf das Wesentliche, die Frage nach der Natur von Normativität zu konzentrieren, vor deren Hintergrund der Gegensatz zwischen Konstruktivismus und Realismus verschwinde (vgl. Copp 2015, S. 132). Konstruktivismus und Mind-Related Naturalism seien nahtlos ineinander übergreifend (vgl. ebd., S. 110), freilich im Rahmen dieser Tendenz bei Copp unter expliziter Ausgrenzung der antirealistischen Anklänge im Konstruktivismus. 65

Doch die Varianten der Konzepte sind zahlreich und erstrecken sich über Kombinationen diverser Kantischer Aspekte, über kontraktualistische Momente bis hin zu strikt non-Kantianischen Strategien. 65 Copp rekonstruiert zunächst vier Argumentationslinien des Konstruktivismus (Rawls, Gauthier, Korsgaard und Street), um die Gemeinsamkeiten hervorzuheben (vgl. Copp 2015, S. 114), und er nimmt anschließend die Kritik von Darwall, Gibbard, Railton und Shafer-Landau (vgl. ebd., S. 114) ins Visier, nach deren Dafürhalten Konstruktivisten als hypothetische Prozeduralisten mit unklarem Prozedurbegriff auftreten, die die sog. stance-independence thesis von Shafer-Landau zurückweisen. 64

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Die Einwände gegen die Kantianischen Versionen des Konstruktivismus richten sich hauptsächlich gegen die Annahme von »Vermögen« oder gegen die Funktion des Konstruierens: Ist das Vermögen bzw. die Funktion denn selbst real? Ist es/sie selbst klar beschreibbar? Copp weist darauf hin, dass diese Fragen gegen alle Mind-Dependent Theories gerichtet seien; aber nicht alle Mind-Dependent Theories seien auch konstruktivistisch – geschweige denn idealistisch – ausgerichtet (vgl. ebd., S. 115). Wohin auch immer dieses Argument führen soll, es demonstriert zumindest, dass auch realistische Positionen konzeptuell mit diesen Einwänden gegen die Relationalität zu kämpfen haben. Erstaunlicherweise lässt sich damit aber festhalten, dass sowohl Shafer-Landau und andere Gegner der Mind-Dependency auf der einen als auch Street, Korsgaard und andere Befürworter der Relationalität auf der anderen Seite den Konstruktivismus am Realismus messen (vgl. ebd., S. 120). Diese bloß negative oder konträre Darstellung des Konstruktivismus, sozusagen als kognitivistischer Antirealismus, treffe aber bzgl. der Merkmale des »basic« Realismus gar nicht zu, da diese durchaus auch im Konstruktivismus zu finden seien (vgl. ebd.); ausschließlich non-naturalistische »Spezialannahmen« gäben Anlass zu den Distanzierungen vom Konstruktivismus: It will be useful to distinguish between »basic realism« and »stance-independent realism,« which I define to be a kind of basic realism. I stipulate that basic realism accepts the following five doctrines. First, there are moral properties. The actions that are wrong are similar, of course, in that they are all wrong; that is, they have in common the property of being wrong. […] She needs to insist merely, second, that moral properties have the same basic metaphysical nature as any other properties, including familiar nonnormative properties, whatever that might be. Third, some moral properties are instantiated. Some kinds of action are wrong and some traits of character are virtues. That is, there are moral facts. Fourth, moral predicates are used to ascribe moral properties. […] Fifth, moral assertions express ordinary beliefs that have the same basic nature as other beliefs. Stance-independent realism [(nach Shafer-Landau), W. M.] adds the sixth thesis that at least certain moral facts are »stance-independent« and »mind-independent.« (Copp 2015, S. 120 f.)

Die Annahmen des Basic Realism können von den Konstruktivisten geteilt werden (müssen es aber nicht!), aber nicht die darüber hinausgehenden Zusätze eines Substantial Realism. So gesehen lassen sich die Gedanken von Korsgaard et al. also ohne Weiteres (und notfalls 68 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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auch gegen deren Willen) mit einem moralischen Naturalismus verbinden. Copp demonstriert zu diesem Zweck, dass zu nahezu jeder konstruktivistischen Theorie eine non-konstruktivistische Schwestertheorie existiert, die durch die Elimination bestimmter relationaler Voraussetzungen entsteht (vgl. ebd.). Die Verteidigung des relationalen Aspekts widerlegt jedoch eindeutig die beiden Annahmen, a) dass ein Beweis für bewusstseinsunabhängige Wahrheitsbedingungen geführt werden könnte und b) dass alle bewusstseinsabhängigen (»mind-dependent«) Theorien auch subjektivistisch sein müssten (vgl. ebd., S. 131). 66 Diese Verteidigung wird gezielt gegen Argumente des »robusten« Non-Naturalismus im Stile FitzPatricks eingesetzt, die Korsgaards »neo-kantian constructivism/constitutivism« angreifen, weil dessen Ablehnung von Realität, Wahrheit, Fakten in der Moral nicht hinnehmbar sei (vgl. FitzPatrick 2015, S. 42). Es gibt aber selbst hier, bspw. in der Ablehnung eines bloßen Instrumentalismus der Moral, noch einige Überlappungen zwischen Non-Naturalisten und Konstitutivisten (vgl. Sensen ebd., S. 63), z. B. im »sensible realism« (vgl. ebd., S. 46). 67 So werden also letztlich die psychologisch erforschbaren Zustände des Akteurs in einem gegebenen Kontext zu adaptionsfähigen Eigenschaften für den (realistischen) moralischen Naturalismus, wenn die Apriorizität schwach und die Evidenz von Moralität relational und damit »dicht« (thick) betrachtet wird. Um beantworten zu können, was von den Bezügen der (erstpersonal ausgerichteten) Relation Erleben-Welt in einem solch »verständigen« Naturalismus übrig bleibt, Diese Argumentation werde ich unten mit dem transzendentalen Idealismus ausführen. Selbstverständlich kann man den Kantianern eine Lücke im Übergang von der Theorie zur tatsächlichen Praxis vorwerfen, wenn man Kant als Rationalisten oder als transzendentalen Realisten interpretiert. So setzen Baldwin (vgl. ebd., S. 19) oder Festl (2015) ihre Kritik an. Schon Kagan (1998) setzt auf ein Kontinuum zwischen Metaethik und normativer Ethik, also zwischen erster und zweiter Ordnung der Moralphilosophie. Bei subjektivistischen Vertretern des Konstruktivismus wird eine relativistische, kulturbezogene Stellung meist vorausgesetzt und der strukturalistische und/oder rationalistische Ansatz Kants zurückgewiesen. Wedgwood und Timmons sehen das Euthyphron-Problem bei den Konstruktivisten anwendbar (vgl. ebd., S. 14) und behaupten, dass die moralischen Voraussetzungen im Konstruktivismus nie geklärt werden können. 67 Sensen nutzt diese Verbindung, um Korsgaard weder zum Realismus im Allgemeinen noch zum Non-Naturalismus im Besonderen auf Distanz setzen zu müssen (vgl. ebd., S. 51 u. S. 59); auch hier ist also die Hinsicht der Anbindung und Differenzierung tonangebend. 66

69 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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müsse diese Form des Naturalismus wohl zu einem »realistischen Expressivismus« umgestaltet werden, wie Copp vorschlägt, um den moralischen Realismus mit dem moralischen Expressivismus zu kombinieren (vgl. Copp 2007, S. 153 ff.). 68 Copp liefert also cum grano salis eine sozial-konstruktivistische Variante der Metaethik und kann Relationalität, soziale Kontextualität und empirische Forschung zu einer Society Centered Theory (vgl. ebd., S. 89) synthetisieren. 69 Ob die Motivation bei der Einsicht in diese Gründe eine moralische Relevanz besitzt, muss wegen der Präsupposition einer Mind-Dependency selbstverständlich weiterhin psychologisch untersucht werden. Wird im Realismus nämlich bisher meist eine »Epoché« der Subjektkorrelation eingesetzt, die nicht weiter beleuchtet wird, so bleibt für den Konstruktivisten nach wie vor eine lückenlose Darstellung des Kriteriums der Verbindlichkeit erforderlich (vgl. Joyce 2009, S. 67). 70 Gerade in diesem Anspruch liegt dann auch die größte Herausforderung der Moral Sciences, denn die Erste-PersonPerspektive »unterminiert« den radikalen Naturalismus scheinbar durch empirisch nicht zugängliche qualitative Momente (vgl. Copp 2007, S. 56). 71 Dieser Ansatz darf selbstverständlich nicht verwechselt werden mit einem strikten Internalismus und auch nicht mit einem deflationistischen Antirealismus (die Differenz zwischen antirealistischem und realistischem Expressivismus folgt dazu: vgl. ebd., S. 157 ff.). Die Semantik führt hier moralische Aussagen auf natürliche, deskriptive Bedingungen zurück. Hauptunterschied dieses Kompromissangebots zu Blackburn et al. bleibt aber der externalistische Hang des realistischen Expressivismus, weswegen noch einmal die Differenzen in der Auffassung von dichten und dünnen Konzepten spezifiziert werden müssen (vgl. ebd., S. 197), um schließlich die Anforderungen für eine kontinuierliche Metaethik ohne Dichotomien zu erfüllen. Von pragmatistischer Seite aus würde dies mit den Intentionen Copps übereinstimmen, dass eine Einbindung der emotiven Momente, für die der Realist kein moralisches Schema bereithält, durchaus möglich ist. Psychologische Theorien des Selbstkonzepts verbinden die beiden Seiten ohne Weiteres und erklären sämtliche Grade der Moralität aus naturalistischen Argumenten heraus (vgl. ebd., S. 282). 69 So kann durch psychologische Argumente der sog. Euthyphron-Angriff abgewehrt werden: Für einen Realisten wie Shafer-Landau, der von der eigenständigen Existenz moralischer Werte ausgeht, die allerdings nicht-natürliche Eigenschaften sind, muss im Euthyphron-Vergleich die Ansicht zutreffen, dass etwas gut ist, das Gott uns befiehlt, weil Gott befiehlt, was gut ist, und nicht, weil es gut ist durch den Gottesbefehl (weil er eben von Gott kommt). 70 Auch hier finden sich deutliche Hinweise auf pragmatistische Anbindungs- und Lösungsstrategien (vgl. Noggle 1997, S. 67 u. S. 108). 71 Diese und andere Herausforderungen für den Naturalismus beschreibt Copp (ebd.) näher. Seit dem Beginn der Metaethik als Disziplin mussten sich Szientismus und 68

70 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Die »Neue Welle« der Metaethik im Überblick

Wie Joyce im »minimalen Projektivismus« und Copp im »realistischen Expressivismus« demonstrieren, besteht trotz der Argumentationen der reduktionistischen Metaethiker durchaus die Möglichkeit, alle erforderlichen Voraussetzungen einer Reflexion der ethischen Kriterien in der ihnen angemessenen Hinsicht zu berücksichtigen. 72 Es ist nach den dargelegten Kombinationen nicht erstaunlich, dass (realistische und non-realistische) »Naturalisten« wie selbstverständlich auch weiterhin mit dem Stempel »Expressivisten« gebrandmarkt werden, sobald auf die experimentelle Psychologie zurückgegriffen wird, um die »natürlichen Entitäten« des menschlichen Verhaltens zu erforschen. Für die non-realistischen Naturalisten besteht allerdings der nicht hoch genug bewertbare Vorteil, den moralischen Phänomenen auch über die Sphäre der Sachverhalte der »äußeren« Welt eine eigene internalistische Geltung zuschreiben zu können. Es wäre für die realistischen Naturalisten keine zufriedenstellende Lösung, den starken Realismus der Non-Naturalisten, noch weniger aber den der Supernaturalisten zu übernehmen, denn mit Mackie scheint es ja eben »absonderlich« zu sein, einigen Menschen Offenbarungserlebnisse oder ein moralisches Erkenntnsivermögen zuzusprechen, das andere nicht haben, und dann darauf eine allgemeine Moral aufbauen zu wollen. Es gibt eben bislang keine psychologischen Befunde, die solche übernatürlichen oder zusatznatürlichen Annahmen stützen. 73

Naturalismus mit der »open question« auseinandersetzen (vgl. etwa Kurtz 1955, S. 113 f. und Chrisman 2011, S. 103). 72 Die Übergänge des Projektivismus zu psychologischen Studien der »non-perceptual faculties« (Joyce 2009, S. 56) lassen unter dieser Voraussetzung für die Verbindlichkeitsfrage eine einfache, aber keineswegs reduktionistische (szientistische) Überleitung zu naturalistischen Forschungsprojekten erkennen. Selbst der neurowissenschaftliche Ansatz geht in seinen Grundannahmen entweder auf konstruktivistische oder auf soziobiologische Grundlagen zurück, auf deren Basis dann selbstverständlich offen naturalistisch argumentiert werden darf. 73 Copp möchte in die naturalistischen Definitionen der Moral drei »Grade« von Normativität integrieren: generische, motivationale und autoritative (vgl. ebd., S. 256). Er versucht diese Grade am Vorbild der Kantischen Imperative zu gestalten.

71 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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Tendenz IV: Naturalismus – starker Realismus – Non-Kognitivismus – Konstruktivismus Die beschriebene Bündelung der metaethischen Kräfte in hybriden Positionen des Non-Realismus und Non-Kognitivismus wird freilich von den Non-Naturalisten nicht gerne geduldet: William FitzPatrick (2006, Bd. 1) antwortet auf diese synthetischen Vorschläge, indem er den Expressivisten – nach den oben entwickelten Argumenten – einen Relativismus nachzuweisen glaubt, den die Autoren selbst in der Untersuchung der Normativität moralischer Urteile nicht gutheißen könnten. 74 Es ergeben sich in FitzPatricks Aufsätzen erneut mehrere Überschneidungen mit den referierten Absicherungen des (Neo-) Expressivismus und des Konstruktivismus. Es scheint nämlich – wie vermutet – ganz so, als bezögen sich FitzPatrick, Shafer-Landau et al. als Non-Naturalisten und Gibbard et al. als Expressivisten auf das nichtsagbare Gegebene der Ethik. Dieses zeigt sich schließlich im Fall der moderaten Non-Kognitivisten in Ausdruck und Verhalten und wird zumindest quasi-realistisch – wie in einem gemeinsamen fiktionalen Spiel – von allen Beteiligten (in stiller Übereinkunft, vgl. o. bei Blackburn) akzeptiert, »als ob« es sich um reale Eigenschaften handeln würde. 75 Und im non-naturalistischen Fall greift das Ethische tatsächlich auf reale, aber eben nicht auf natürliche Sachverhalte der Moral an sich zurück. Wer muss nun die Beweislast tragen? Oder wie David Brink (vgl. ebd. 2006, Bd. 3, S. 61) (suggestiv) fragt: Sind Menschen nicht natürliche Kognitivisten und Realisten in der Ethik? 76 Aus meiner Sicht müsste diese Fragestellung eine transzendentale Vgl. dazu auch FitzPatrick (2006, Bd. 3): Er vertritt einen starken (»robusten«) Non-Naturalismus und er plädiert dafür, einigen naturalistischen szientistischen »Versuchungen« der Vereinfachung moralischer Phänomene zu widerstehen. 75 Auf der Meta-Ebene bietet sich zur Versöhnung des projektivistischen Ansatzes mit realistischen Positionen eine Form des Quasi-Realismus an, die all diese expressivistischen Aspekte in sozialphilosophische Realitätspostulate übertragen kann. Das »Quasi« soll aber nicht den Anschein erwecken (vgl. Blackburn 2010), als handele es sich hierbei um die Art von Fiktionalität (»als ob«), wie sie von Vaihinger eingeführt wurde, um seinerseits pragmatistische, realistische und transzendentalistische Motive zu verbinden. Vgl. auch van Roojen (2015, S. 178) zum »Hermeneutischen Fiktionalismus« und zur Ähnlichkeit mit dem Konstruktivismus nach Street (vgl. ebd., S. 286 ff.). 76 Vgl. Brink (2006, Bd. 3, S. 55): Er setzt diese Argumente gegen eine Reihe von desiderativen Konzepten für praktische Gründe und persönliche »Wohlfahrt« (welfare) ein. 74

72 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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Kritik der Moralphilosophie eröffnen, in der die Voraussetzungen für alle moralischen Akteure untersucht werden. Wie aber geht der Realismus auf diese Anforderungen ein? In der Definition »des« Realismus beziehe ich mich mit Ralph Wedgwood zunächst auf folgende Merkmale: »[…] I shall suppose that a realist about the normative is a theorist who says that there are normative facts or truths – such as the fact that certain things ought to be the case, or that it is not the case that certain things ought to be the case – and at least some of these normative facts are part of reality itself.« (Wedgwood 2010, S. 1) 77, 78 Dieser Umstand macht aber m. E. deutlich, dass die derzeitige Architektonik der Metaethik nach wie vor auf der ungeprüften bzw. unüberprüfbaren Annahme eines starken (transzendentalen) Realismus aufbaut und die wesentlich plausibleren Forschungshypothesen der (unhintergehbar) relationalen Positionen von diesen Annahmen aus als kontradiktorisch ausgrenzt; deshalb generiert die realistische Nomenklatur folglich parteiische und vorurteilsbehaftete Kategorisierungen wie den »NonRealismus«, den »Non-Kognitivismus« etc. Nur in einem speziellen Fall ist diese Kontrajunktion allerdings auf den Kopf gestellt: 79 Für Naturalisten ist es äußerst schwierig, auf Einwände der Non-Natura-

Wedgwood bezieht sich damit auf eine Definition, die ursprünglich von Kit Fine (2001) stammt. 78 Unter den Spielarten des Realismus befinden sich dann aber trotzdem sowohl eine »platonistisch« anmutende, intuitionistische (auch als »intentionalistisch« bezeichnete, vgl. ebd., S. 161 ff.) Variante des »Universalienrealismus« als auch der szientistisch ausgerichtete »Cornell Realismus« – ein reduktionistischer und damit selbst »metaphysischer« Naturalismus mit identitätstheoretischer Aufassung von moralischen und natürlichen Eigenschaften – oder sogar die sog. Quietistischen Realisten, als eine an Wittgensteins Auffassung im »Vortrag über Ethik« von 1930 (1989) angelehnte Form des Realismus, die man z. B. bei Derek Parfit erkennen kann. Vgl. van Roojen (2015, S. 14) zum »minimal realism« und zur Übersicht über die Formen des Internalismus (ebd., S. 58). Van Roojen setzt sich (ebd., ab S. 154) auch mit sog. hybriden Theorien auseinander und zeigt (ebd., S. 158), welcher Naturalismus zu welcher non-kognitivistischen Strategie passt. 79 Diese Ausnahme »Non-Naturalismus« lässt sich dadurch erklären, dass es sich hierbei um eine einfache Negation der inhaltlichen Grundsätze des Naturalismus innerhalb der Kategorie »Realismus« handelt, während die übrigen Gegensätze einen limitierenden Charakter aufweisen (und damit das Zentrum markieren): Zum NonRealismus zählen alle Positionen, die keine realistische Grundannahme (Zentrum) teilen; zum Non-Kognitivismus gehören alle Ansätze, die das Wahrheitskriterium moralischer Urteile ablehnen usw. 77

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listen 80 zu reagieren, dass – »from the self-evidence thesis, together with the implicit claim that there are synthetic moral truths that are self-evident, to the untenability of moral naturalism« (Copp 2007, S. 95) – in der Moralphilosophie auf apriorische Erkenntnisse zu setzen sei. Diese Non-Naturalisten liefern zwar schärfer formulierte Kriterien für die Moral als die Naturalisten, sie können aber in den derzeitigen Versionen kein überprüfbares Kriterium für ihren eigenen Geltungsanspruch angeben: Selbst wenn nämlich in der Moral synthetische Urteile a priori möglich wären, müsste doch die psychologische Prüfung herangezogen werden, um den moralischen Phänomenen überhaupt einen kontextuell anwendbaren Inhalt zuschreiben zu können. Nur auf diesem Weg würden dann »Innen und Außen« des phänomenologischen Horizonts eines moralischen Akteurs für philosophische und wissenschaftliche Studien zugänglich, die sich auf den perspektivischen Anteil der Deskription besinnen. Und tatsächlich lässt sich die Kluft zwischen Realisten wie Michael Smith und Christine Korsgaard zu den Quasi-Realisten und/oder Quasi-Expressivisten auf diese Weise überbrücken. 81, 82 Während ich oben nach den Vorbildern von Timmons & Horgan sowie von Copp et al. die Verbindung von naturalistischem Realismus und Non-Realismus in einem konstruktivistischen Realismus von beiden Seiten aus für möglich halte, erscheint mir die non-naturalistische Konzeption in den derzeitigen Ausgestaltungen nicht für einen tragfähigen Übergang geeignet zu sein, wie die Vorwürfe von Shafer-Landau gegenüber den Konstruktivisten lebhaft demonstrieren, die er wegen des Fehlens von »stance-independent« moralischen Wahrheiten als kognitivistische Anti-Realisten einstuft (vgl. Copp 2015, S. 120) und eben anfällig für das Euthyphron-Argument hält (vgl. ebd., S. 129). Damit ist die Frage verbunden, was Konstruktivisten so unterschiedlicher Auffassung wie Scanlon, Hill, O’Neill, Korsgaard, Tiberius, Schapiro, Street, James über die epistemologischen, politischen, ethischen Konzeptionen hinweg überhaupt zusammenhält. Möglicherweise, dass sie auf zusätzliche metaphysische Annahmen verzichten (vgl. Lenman 2012, S. 2): »Constructivism differs from rational intuitionism in its metaphysical modesty. […] Constructivism’s relation with expressivism is a rather delicate matter.« (ebd., S. 4) Die ausdrückliche Erwähnung der Kontextualität im Sinne einer sozialen und umweltlichen Einbettung in die (gewöhnliche) Lebenswelt und Verkörperung der Gewohnheiten, Denk- und Verhaltensweisen (Embodiment) eröffnen zusammen mit einer Überwindung der »Gaps« und »Flaws« eine neue (vierte) »Welle« der Metaethik. Blackburn greift daher z. B. die von Bernard Williams eingeführte Unterscheidung von »absolutem Konzept« und »Perspektivität« bereitwillig auf, mit der er der Differenzierung der primären und sekundären Qualitäten bei McDowell et al. zu begegnen versucht (vgl. Blackburn 2010, S. 246). 81 Eine dritte Komposition neben Copp und Blackburn erstellt David Enoch (2006, Bd. 1), indem er die non-naturalistische Position für die Debatte anschlussfähig 80

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Wie auch immer diese Spekulationen innerhalb der Metaethik also fortgeführt werden, zeichnet sich der ethische Naturalismus im Realismus doch immer gerade dadurch aus, dass er eine realistische und kognitivistische Auffassung vertritt, durch die moralische Eigenschaften als natürliche Eigenschaften immer auch empirisch zugänglich sind. Wissenschaftliche Studien sind für diese Vertreter einer naturalisierten Epistemologie (Psychologie, Kognitionswissenschaften) den unbegründeten Dogmen eines Intuitionismus oder einer sog. Folk Psychology unbedingt vorzuziehen. 83 Diese Konstellation bestätigt m. E. noch einmal nachdrücklich, dass es ausreichen würde, eine transzendentale Kritik an der Stelle der ontologischen Metaethik einzufügen, um die Architektonik der Moralphilosophie kohärent zu gestalten (vgl. dazu Kap. 2). Tatsächlich weisen Autoren wie Gibbard et al. im Zuge der Überbrückung der vom starken Realismus gesetzten kontradiktorischen Gegensätze darauf hin, dass moralische Eigenschaften durch natürliche Eigenschaften konstituiert würden und »Moral« also grosso modo in der Welt der Sachverhalte vorkomme und auch körperliche Voraussetzungen habe.

macht: Es gibt nicht-natürliche, irreduzible normative Wahrheiten, die objektiv und universal sind und zugleich »deliberatively indispensable«. Die von Enoch provozierte »Shmagency-Debatte« gibt daher auch einige Hinweise auf die Zusammensetzung des gesamten Diskurses (vgl. Enoch 2011, S. 209 zum Konstitutivismus und vgl. Tannsjö 2010, S. 3 f.). 82 Dass aber diese moralischen Eigenschaften sich weiter in epistemologischen Konzepten (»recognitional concepts«) ausformulieren lassen und schließlich zu »plans for life« führen (vgl. Hawthorne 2002, S. 172 f.), verweist damit in moralischer Hinsicht über die aktuell gegebenen Sachverhalte der Welt hinaus und entwickelt dadurch einen normativen Anspruch. 83 Die naturalistische Epistemologie räumt mit den Hauptproblemen des ethischen Naturalismus im Vorfeld auf (vgl. Copp 2015, S. 58 ff.). Nach Dean Pettit und Joshua Knobe (2010, S. 22 f.) ist die Beziehung zwischen Alltagspsychologie (Folk Psychology) und moralischen Urteilen aber ohnehin nicht eindeutig an Einzelfällen feststellbar und benötigt eine generelle theoretische Stütze. So versuchen Chan et al. (2008) noch ausdrücklich, Philosophen in Forschungsfeldern der Moralpsychologie und Psychologen in Untersuchungen philosophischer Themen durch Kooperationen, insbesondere durch methodologischen Austausch, zur Zusammenarbeit zu bewegen (vgl. ebd., S. 2).

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Tendenz V: Transzendentaler Realismus – Empirischer Realismus – Relativismus – Konstruktivismus/Konstitutivismus Nach der bisherigen Auswertung bleibt als ureigener Diskussionsgegenstand der Metaethik nur ein einziger ernstzunehmender Aspekt übrig: die Annahme von moralischen Entitäten an sich. Diese Spielart des transzendentalen Realismus verheißt zwar durch den Glauben an die eigenständige Existenz moralischer Entitäten einen metaphysischen Ausweg aus der metaethischen Dialektik, doch wie sollen die Forschungshypothesen dieses Realismus jemals überprüft werden? Jeder Nachweis über die Existenz oder die Beschaffenheit von Werten an sich wäre durch eine Relation erbracht worden; jede Intuition ist die Intuition eines bewussten Akteurs und damit eine Bestätigung der Mind-Dependency; jede Behauptung der Unsagbarkeit der Moralität wäre zwar eine klare Absage an die empirischen Wissenschaften, aber zugleich auch eine Selbstaufhebung der Metaethik. Kurz: Aussagen über die Beschaffenheit moralischer Entitäten, die sich der Erkenntnisfähigkeit, Perspektive, Einstellung eines Beobachters entziehen, heben sich auf und Aussagen über die Existenz moralischer Entitäten, die unabhängig von unserer wie auch immer gearteten Wahrnehmung in der Welt der Dinge an sich vorkommen, sind nicht falsifizierbar oder entscheidbar. 84 Von diesem Problem bleiben ausschließlich Realisten verschont, die wie Wedgwood (2010) relationale, pragmatistische Herangehensweisen an das konzeptuelle Apriori oder an Supervenienztheorien anbinden (vgl. ebd., S. 250 f.). Noch ganz im Gegensatz zum Expressivismus setzen auch die konzeptualistischen Varianten des Realismus, wie Michel Smith sie heute als »Konstitutivismus« (2011, S. 17 u. S. 20) vertritt, auf ein Postulat objektiver Werte, das aber nicht auf die Kategorienfehler des substantiellen Realismus hinausläuft. Um die Flexibilität dieser realistischen Argumentation zu veranschaulichen, lässt sich bereits an der ursprünglichen Position von Smith (1994) nachweisen, dass an die realistische Haltung zugleich auch eine Verteidigung des Expressionismus 85 angefügt werden könnte: 86 So formuliert Cueno (2006, Bd. 1, S. 40) sein »core«-Argument gegen die Expressivisten, an das Street (2006, Bd. 6) anknüpft: Die Expressivisten hätten in ihren neueren Varianten alles aufgegeben, was ihre Position eigentlich so anziehend gemacht habe. 85 Hier: gegen Vorwürfe von Frank Jackson und Philip Pettit. 86 Wie auch Ira M. Schnall (2004, S. 588 f.) zusätzlich ausführt. 84

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Sobald der Realismus seine transzendental-realistischen Grundannahmen aufgibt und zu einem transzendental-idealistischen Modell übergeht, können Kombinationen aus explanatorischen, motivationalen und rechtfertigenden Gründen gestaltet werden, in die sich problemlos auch psychologische und partikularistische Konzepte integrieren lassen. Auf diese Weise entstehen ganzheitliche moralphilosophische Studien, die es in philosophischen Analysen vermeiden, »die beiden Fragen, warum ein Akteur etwas tut und warum er etwas tun sollte, auseinander[zu]reißen« (Iorio 2011, S. 487). 87 Der »non-relativistische internalistische naturalistische moralische Realismus« (Smith 2004, S. 181, S. 191 u. S. 202), den Smith entwickelt, beharrt also nicht auf dem übersinnlichen Verständnis von »intuitionistisch«, das auf der Existenz von Werten oder Wohlfahrtsidealen an sich beruht. Nach Smith konstituieren sich Werte für einen Handelnden dadurch, dass die moralische Modalität begründet, weshalb der jeweiligen Person eine bestimmte Verpflichtung zu einer bestimmten Handlung obliegt. Eine solche Position lässt sich auch relationalistisch stringent ausgestalten, wie ich stellvertretend durch eine Argumentation Christoph Halbigs (2007) andeuten möchte: Der moralische Realismus von Halbig geht – ebenfalls in einer pragmatistisch anmutenden Prämisse – davon aus, dass moralische Urteile faktisch wahrheitsfähig sind. Diese Fakten des Moralischen gelten den meisten Realisten aber als objektive Sachverhalte, da sie nach deren Meinung unabhängig von unserer Einstellung auftreten könnten (was allerdings nach Mackies Einwänden nur schwer zu beweisen sein wird). Die Anerkennung eines moralischen Urteils entspricht nach Halbig aber weniger einem transzendentalen moralischen Realismus als vielmehr der Anerkennung eines guten Grundes für eine bestimmte Handlung. Die Handlung verkörpert sozusagen »realistisch« sowohl die Normativität des Urteils als auch die motivationale Dimension des Akteurs. Die ontologischen Implikationen dieses moralischen Realismus scheinen für einige Kritiker allerdings inkonsistent zu sein, denn sobald sie über das relativistische und konstruktivistische Modell hinausschauen müssen, vermuten sie, es gebe keine evaluativen Tatsachen. Halbig entwickelt drei Strategien für die Vermeidung folgender Problemfelder: Ein ontologisches Missverständnis gegenüber dem moralischen Realismus laute erstens, entweder sei unsere gängige 87

Vgl. dazu auch Gert (2011, S. 52).

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moralische Alltagspraxis aufzugeben oder es sei insgesamt ein neues Fundament der Moralität zu suchen oder aber unser System müsse zwar beibehalten werden, allerdings unter der Auflage, das bisher gültige Moralverständnis als eine Philosophie des Als-ob (Fiktionalismus) zu betrachten. Kurz: Man wäre verpflichtet, so zu tun, als wären moralische Tatsachen objektive praktische Sachverhalte, obwohl sie es nicht sein könnten. Zweitens könnte man versucht sein, die Annahmen noch einmal neu zu prüfen und zu hinterfragen, ob moralische Tatsachen wirklich unabhängig vom Subjekt auftreten und die Basis für normative Geltung darstellen bzw. ob sie selbst motivierend sein könnten (pro tanto). Drittens werde die »Merkwürdigkeit« der ontologischen Annahmen zugestanden, aber trotzdem an den realistischen moralischen Positionen festgehalten, eben durch die Anerkennung der intentionalen Relationen von praktischen (guten) Gründen für (rationales) Handeln, moralischen wahrheitsfähigen Proportionen und realen (nicht nur psychischen) moralischen Werten. Das Ziel der neuen Theorie liegt nach Halbig im Beweisgang, dass für die Dichotomie der Ersten- und Dritten-Person-Perspektive eine Neubegründung der praktischen Gründe vorgenommen werden müsse (im Sinne eines moderaten Externalismus) 88. 89 Dieser wäre dann ein Realismus mit Charakteristika wie in den Konzepten von Radtke (2009) oder Stemmer (2008). Für Halbig ist der komplexe Relativist wie Harman auch Nihilist in Bezug auf den common sense und restituiert andererseits den Realismus, um seine eigene Argumentation semantisch zu decken (vgl. Halbig 2009, S. 113). 89 Wie Meyer (2011) in einer kritischen Auseinandersetzung mit Halbig nachweist, heben sich damit insgesamt drei kategorisierbare Tendenzen voneinander ab: wunschbasierte, vernunftbasierte und wertbasierte Begründungsansätze. Halbigs Ansatz wiederum diskutiert Meyer unter dem Label »wertbasierte moralische Gründe« (vgl. ebd., S. 99, S. 171 u. S. 174 ff.). Halbig kann dabei einige gängige Vorwürfe an den Realismus vermeiden, bleibt aber nach Meyer selbst die Erklärung der Quelle der Normativität schuldig (vgl. ebd., S. 186). Meyer nennt daher alternative Zusätze (vgl. ebd. S. 187 f.) und berachtet McDowell und Wiggings als Kontrastfolie für den wertbasierten Ansatz (vgl. ebd., S. 188). Ob diese Bestimmung der Gründe jedoch hinreichend argumentiert – und d. h. zugleich, ob die Gründe in dieser Weise als Werte erkannt werden können –, um zusätzlich zum rationalen Bewusstsein des Akteurs auch eine Motivation zu dieser Handlung zu »begründen«, ist nach wie vor umstritten. Für Smith sind die Anforderungen an die Gründe ebenfalls durch Wertstrukturen konstituiert, die einerseits zwar für alle rationalen Akteure (»fully rational agents«) gelten, die aber andererseits auch nur in Relation zu konkreten Akteuren wirksam würden (vgl. Smith 2012, S. 11). Dies kann von diesem realistischen Standpunkt aus auch am Beispiel der Theorien von Alfred C. Ewing, Derek Parfit und Dani Rabinowitz nachgewiesen werden. Neben Smith demonstriert auch Torbjörn Tannsjö (2010, 88

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Ob dieser Ansatz aber tatsächlich (wie behauptet wird) noch als »agent neutral« vertreten werden kann oder ob nicht doch auch eine »agent-centered« Perspektive beteiligt sein müsste, entscheidet sich in der internen Debatte des Realismus erneut an der Einschätzung des utilitaristischen Grundkonzepts. Die argumentative Figur, die in dieser Erörterung um den Stellenwert des Utilitarismus in realistischen Positionen bemüht wird, ist bezeichnenderweise eine transzendentale Begründung: Können »non-welfarist values« überhaupt erkannt werden, wenn kein Bezug zum Akteur ohne diese hedonistische Grundlage festgestellt werden kann? Und müsste dann das utilitaristische Prinzip in jeder Moraltheorie vorkommen, um eine allgemeine Grundlage für die Moralität zu gewährleisten (vgl. Smith 2012, S. 12), oder handelt es sich beim Utilitarismus bloß um ein Instrument zur Darstellung von objektiv gegebenen Präferenzen? Nach Smith droht bei einer hedonistischen, respektive einer sozialen utilitaristischen Wohlfahrtstheorie wiederum »das Schreckgespenst« des Relativismus. 90 In der formalen Analyse dieses Diskurses lassen sich zwei Tendenzen unterscheiden: Innerhalb des moderaten Realismus der Metaethik wirkt auf der einen Seite das Prüfen einer universalen Grundlegung der Moral (Moralität), auf der anderen Seite soll die Vielfalt der kontextuellen, lokalen Vorstellungen von »Mores«, Normen, Werten, Nutzen berücksichtigt und wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Diese beiden Aspekte sind (vereinfacht dargestellt) auf folgende Weisen kombinierbar: a) Es gibt nur eine universale Quelle der S. 7), dass ein absolut objektivistischer Ansatz ebenso zurückgewiesen werden müsse wie ein loser Pluralismus (hier: Relativismus). Ein Realismus, der auf eine einzige Quelle der Normativität abziele, müsse immer auch erörtern können, wie ein moralisches Wissen um diesen Urspung möglich sei: »We can reach justified moral belief. When we do, and when our justified beliefs are true, we do possess moral knowledge.« (ebd., S. 55) Tannsjö erschließt diese externalistisch auftretende Hypothese in Anlehnung an Scanlons Überlegung, dass in jeder Situation genau eine Wahrheit existiere über das, was getan werden soll, und alle moralischen Gründe bildeten bessere oder schlechtere Zugänge zu dieser Wahrheit (vgl. ebd., S. 57 ff.). Wer diese Gründe nicht rechtfertigen könne, habe auch keine normative Kraft in seiner (Humean) Argumentation. Die Frage nach der Neutralität der Akteure in handlungsutilitaristischen Entscheidungen stellt auch Douglas W. Portmore; es müsse auch hier eine »agent-relativity« (vgl. Portmore 2002) festgehalten werden. 90 Steinhov (1993, S. 293) zeigt, dass wahre performative Selbstwidersprüche zum Vollzug und zur Selbstbestätigung bzw. Selbstwidersprüchlichkeit in einer Weiterentwicklung von Apel hier genutzt werden können. Kritik am Konstruktivismus wurde jedoch ausgiebig geübt von Boghossian (2013) und Gabriel (2015).

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Moralität und alle tatsächlichen Moralvorstellungen sind privative materiale Manifestationen, die ihren Geltungsanspruch aus diesem universalen Prinzip ableiten. b) Es gibt nur die konkreten Moralvorstellungen und alle universalen Prinzipien sind leere (nominale) Abstraktionen. c) Es gibt eine einheitliche formale Struktur aller »Mores«, die sich als ubiquitäres Prinzip in allen konkreten Moralvorstellungen erforschen lässt. d) Es gibt nur eine konkrete Moralvorstellung mit nachweisbarer Gültigkeit, ohne Alternativen und auch ohne zusätzliche abstrakte Ebene der Moralität, denn die Werte, Normen, Gründe und Güter sind nun einmal an sich wie sie eben sind. e) Moralische Nihilisten lehnen die Geltung von moralischen Werten und Normen grundsätzlich ab. In diesem Spektrum sticht Kombination c) als weiteste Möglichkeit hervor, da hier sämtliche Ebenen der Moralphilosophie zur Geltung kommen. Autoren wie David Velleman, die sich in diesem Sinne selbst als Relativisten betrachten und die trotzdem die formale Ubiquität von Moralität anerkennen, passen in keine herkömmliche Metaethik-Kategorie und müssen sich entsprechend gegen Vorwürfe von Relativisten auf der einen und Universalisten auf der anderen Seite verteidigen (vgl. Velleman 2013, S. 24 f.). Im Grunde genommen übersteigt auch dieser Spagat 91 das Verlangen der Metaethiker nach einer eindeutigen Nomenklatur durch eine Kombination von Universalismus und Pluralismus. 92 Die Vorteile dieser Variante des Realismus treten dabei deutlich zu Tage: Velleman kann auf der formalen Ebene der Moralbegründung idealistisch-universalistisch argumentieren und gleichzeitig auf empirischer Ebene darauf verweisen, dass es die Aufgabe der Wissenschaften sei, die Vielfalt der Moralen zu katalogisieren und zu untersuchen. Um diese Vorteile von Vellemans Ansatz in Verbindung zu einem relationalistischen Konzept nutzen zu können, gehe ich abschließend auf die beiden »Gefahrenherde« ein, die immer wieder mit den Schlagwörtern »Relativismus« und »naturalistischer Szientismus« assoziiert werden. Zunächst will ich also fragen, was den Relativismus denn überhaupt so gefährlich macht; anschließend schaue ich auf die Bereiche der Moral, die als exklusive Forschungsgebiete von den Wissenschaften (Moral Sciences) beansprucht werden. Wie oben im konstruktivistischen Ansatz: Hazlett (2009, S. 148) nennt Vellemans duale Sichtweise »a middle ground between Williams and Kant«. 92 Vgl. außerdem Velleman (2013, S. 3, S. 50 u. S. 60). 91

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Es gibt universale Grundlagen des Relativismus, die in den Topoi Mind-Dependency (zumindest der sekundären Qualitäten), SocietyDependency und Embeddedness einen Ausdruck finden. 93 Eine relativistische Meinung zum Relativismus zu haben, ist allerdings das Markenzeichen (mit Seltenheitswert) von Bernard Williams. Seine Aufsätze zur Moral (vgl. Williams 1978) sowie zum Thema »Internalismus und Externalismus« (Williams 1999, S. 101–114) stören die gemeinhin akzeptierten Kategorien der Moralphilosophie. 94 Die schwierige Einordnung von Williams in die Moralphilosophie kann durch die komplexe Struktur des Relativismus erklärt werden, die er (als Mittelweg) vertritt (vgl. 1978, S. 88 u. S. 93). Unzweifelhaft hingegen ist sein Nachweis der Vorzüge der motivationalen Konzeption interner Gründe gegenüber dem selbstwidersprüchlichen Ansatz externer Gründe (vgl. Williams 1981). Der Relativismus bedient also ebenfalls ontologische, epistemologische und moralische bzw. metaethische Präsuppositionen, wie auch Marie-Luisa Frick ausführt: Sein Methodenskeptizismus führt den metaethischen Relativisten zur ontologischen These der Relativität, der zufolge eine einzig wahre Moral unerkennbar beziehungsweise zweifelhaft (schwache ontologische These der Relativität) oder nicht vorhanden ist (starke ontologische These der Relativität) […]. Der metaethische Relativismus entspricht aufgrund seiner Verschränkung von empirischen (Divergenzthese), erkenntnistheoretischen (Methodenskeptizismus), ontologischen (Verneinung einer einzig wahren Moral) und normativen Annahmen nicht irgendeinem relativistischen Standpunkt, sondern einer holistischen relativistischen Theorie. […] Wie der normative hat auch der metaethische Relativismus zwei Seinsweisen. Da ich ihn später beim Pragmatismus weitestgehend ausspare, möchte ich an dieser Stelle bereits auf Nicholas Reschers »conceptual idealism« hinweisen, der vieles von dem vorwegnimmt, was ich zusammentrage (vgl. dazu etwa die gesammelten Übersichten und Einschätzungen zu Rescher in Sosa (2013)). 94 Auch wenn die Nähe von Williams zu Friedrich Nietzsches Methodik offenkundig ist, sollte der ethische Relativismus nicht mit einem ethischen Nihilismus oder Subjektivismus gleichgesetzt werden (vgl. ebd., S. 46). Vielmehr steht die empirische Forschungsausrichtung im Fokus, die sich z. B. bei Harman auf den Begriff der »Konventionen« konzentriert (vgl. ebd., S. 69) und – aufgeteilt in die Bereiche innerer Urteile des Sollens (Intentionen) im Gefüge von motivationalen Haltungen und äußerer Urteile der Bewertung von Personen (vgl. Smith 2004, S. 326) – Kritik am unreflektierten Kategorisierungszwang der westlichen Wissenschaftslandschaft übt. David Wong geht (in einem Gedankenexperiment) sogar so weit, das Grundprinzip des wissenschaftlichen Fortschritts- und Wettbewerbsdenkens durch eine taoistische Weltanschauung zu variieren (vgl. ebd., S. 126 f.) und die möglichen Veränderungen für die wissenschaftliche Praxis auszuwerten. 93

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Ob ein metaethischer Relativismus ein Relativismus erster oder zweiter Ordnung ist, hängt davon ab, ob es sich bei dem in ihm enthaltenen normativen Relativismus um einen Relativismus erster oder zweiter Ordnung handelt. (Frick 2010, S. 32) 95

Immerhin gibt es nachweislich auch im Relativismus allgemein akzeptierte Einschränkungen (»constraints«), die aber in Abwägungsfragen einzelner Werte zu Lasten von inhaltlichen Inkonsistenzen ignoriert werden (vgl. Halbig 2009, S. 106). Diese Kritik kann m. E. zwar dort aufrechterhalten werden, wo der Anspruch des Relativismus sich ausdrücklich auf die Grundlagenforschung der Moralität bezieht. In den Bereichen hingegen, in denen ausgewählte Hinsichten auf einzelne »Moralen« untersucht werden, ermöglicht die Offenheit des Relativismus erst die empirische Forschung. Da umgekehrt aber die Ausrichtung auf eine pluralistische Bestimmung von empirischen Sachverhalten den Moral Sciences stets Vorwürfe einbringt, muss der normative Anspruch der Wissenschaften ebenfalls wissenschaftstheoretisch untersucht werden (vgl. Ernst 2011, S. 177), statt von einer »reinen« deskriptiven Naturwissenschaft auszugehen. Ich betrachte zu diesem Zweck kurz die (normativen) Forschungskonzepte a) der Moral Sciences und der experimentellen Philosophie und b) der grundlegenden Moralpsychologie und binde auf diesem Weg die wissenschaftlichen Tendenzen der Moralphilosophie in die Untersuchung der Metaethik ein.

Tendenz VI: Ethik in den Wissenschaften In den Studien der experimentellen Philosophie können von den vielfältigen anthropologischen Vorannahmen der abstrakten moralphilosophischen Systeme (wie z. B. die Annahme eines universalen Wohlwollens oder das Streben nach einer »Wohlfahrt« aller Menschen etc.) nur die wenigsten auch empirisch belegt werden (vgl. Grundmann et al. 2014). Anthony Appiah erforscht daher die »prak-

Djavid Salehi (2002) fügt dem hinzu, dass der Status eines Relativismus immer davon abhänge, zu welcher Disziplin sich die jeweiligen Relativisten zählen und gegen wen sie Stellung beziehen (vgl. ebd., S. 30). Harmans Relativismus muss sich jedoch genauso wie Wongs naturalistische Forschungsprojekte in der Moralpsychologie den Vorwurf gefallen lassen, eine (ungeklärte) hybride Semantik moralischer Urteile zu vertreten.

95

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tischen« Gegenstände der Moral Sciences dezidiert durch »bottomup«-Verfahren, bei denen die Entscheidung der Frage nach Wahrheitsfähigkeit und Objektivität des Seins und des Sollens – »wie wir handeln und wie wir fühlen sollen« – zunächst »ungeklärt« bleiben könne (vgl. Appiah 2009, S. 29). 96 Mit der Erforschung der empirischen Kontexte, in denen Normen angewandt werden, ist zugleich der Versuch verbunden, eine Psychologie der Werte und Tugenden (vgl. ebd., S. 35 ff.) zu etablieren und damit einen Wandel von abstrakten Prinzipienethiken zur konkreten Tugendethik (vgl. ebd., S. 36) zu vollziehen. Konkrete und situative Entscheidungsprozesse werden dazu mit der Selbst- und Fremdeinschätzung von in diese Situationen eingebetteten Personen abgeglichen (vgl. ebd., S. 46). Unter der empirischen Forschungsperspektive »Tugendethik« sollen Appiahs Meinung zufolge ausschließlich individuell ausgeprägte Haltungen, Bedürfnisstrukturen (Intuitionen – hier als »Gewohnheiten« 97 zu verstehen), Interessen und Wünsche katalogisiert und ausgewertet werden, um etwa die verkörperten ethischen Überzeugungen sowie die sozial kultivierte Kontextsensibilität in ihrer je gegebenen Reziprozität zur Umwelt greifbar zu machen (vgl. ebd., S. 48). Die von Appiah ausgesprochene Forderung, dass sich die Ethik zuerst mit empirischen Experimenten auseinandersetzen solle, um situationistische Herausforderungen überhaupt wieder angehen zu können (vgl. ebd., S. 51), ist heute in den Moralwissenschaften weithin akzeptiert. Ohne empirische Anbindungen könnten schließlich auch Prinzipienethiker kein relevantes normatives Urteil bilden (vgl. ebd., S. 57), während die Tugenden umgekehrt auch ohne Prinzipien zu funktionieren scheinen. Wo die klassischen metaethischen Lager je separate Aspekte für die Beschreibung oder Herleitung moralischer Geltungsansprüche favorisieren, konzentriert sich die Moral Foundations Theory (MFT) auf die Fragestellung, wie viele irreduzible Basiselemente es ingesamt brauche, um den Bereich der Moral umfassend »projizieren« zu können. Da sich die Wissenschaftler von monistischen Standpunkten klar distanzieren, entstehen die erforderlichen Synergien der MFT aus Appiah (vgl. 2009, S. 169 u. S. 209) versucht hier, durch die Bildung von Moral Sciences zwischen den metaethischen Lagern zu vermitteln. 97 Das Wohnen selbst ist dabei schon eine Verbindung zur altgr. Bedeutung von »Ethos«. 96

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ganz unterschiedlichen Strömungen der Anthropologie und der Kulturtheorie, die in diesem Fall meist konstruktivistisch ausgerichtet sind, sowie aus Prozessen der Evolutionstheorie (vgl. MFT 2012, S. 6 u. S. 13 FN) und der evolutionären Kommunikationsforschung (vgl. Tomasello 2010, 2011). 98 Es sei für die heutige Forschung nämlich so gut wie sicher, attestiert Thomas Nagel entsprechend, dass uns ein »evolutionistisches Selbstverständnis […] abverlagen würde, den moralischen Realismus aufzugeben« (Nagel 2012, S. 47). 99 Doch wie gehen die Moral Sciences mit dem »hard problem« (Chalmers 2010, S. 28), d. h. mit der Rückkopplung eines erlebenden Reflektierens der erlebten moralischen Phänomene um? Reflektiert der Moralsoziologe den normativen Einfluss seiner Forschungshypothesen auf die Beobachtung von Personen? Könnte es nicht durchaus der Fall sein, dass exakt an dieser Schnittstelle von beschreibbaren Sachverhalten der Welt und dem qualitativen Erleben des jeweiligen Akteurs die »Färbung« der Metaethik mit ihren non-naturalistischen Positionen auf der einen und mit den expressivistischen Betrachtungsweisen auf der anderen Seite besonders hervorsticht? Während die Metaethiker in diesen Gegenstandsbereichen häufig die o. g. visuellen Körper- und Farb-Analogien nutzen, um primäre und sekundäre Qualitäten moralischer Phänomene künstlich zu unterscheiden, setzen Psychologen zur Abbildung moralischer Phänomene vermehrt auf Geschmacksanalogien à la Hume und ernten dabei nicht nur Zustimmung: Hier bspw. die »kin-selection« und der »reciprocal altruism«, mit Verweis auf Tomasello, Dawkins, Trivers, de Waal, Ridley, Joyce, Wright, Pinker u. v. m. Auch bei Primaten treten altruistische Verhaltensweisen auf, die keinen direkten oder indirekten Nutzen für den Akteur selbst haben: Hilfeleistungen, Erwartungen, Emotionen, Empathie, Trost etc. lassen sich dabei im Verhalten beobachten, ausgedrückt in Gestik, Mimik, in Warnrufen und sogar in sozialen Normen. Mit ihrer Hilfe regulieren und kontrollieren (selbst-)bewusste Individuen Fairness und Herrschaftsverhältnisse, seien diese eigentums- oder reputationsbedingt. Geht man davon aus, dass nur eine moralische Absicht zu einem moralischen Handeln führt, dann wird folglich die Motivation zum Gegenstand der Untersuchung. Diese moralische Komponente macht uns als moralisches Subjekt gleichzeitig zum Teil einer moralischen Gemeinschaft. Moralische Motive dürfen dabei nicht mit altruistischen Motiven gleichgesetzt werden: Es gibt altruistische Motivationen, die keine moralischen Gründe sind, und egoistische Motive, die als moralische Maximen gelten. Auch auf diesem Feld replizieren sich offensichtlich die metaethischen Kategorien. 99 Nagel lehnt sich dabei an eine Hypothese von Sharon Street (2006 in: Philosophical Studies 127, Nr. 1, S. 109–166) in »A Darwinian Dilemma for Realist Theories of Value« an. 98

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This »distinct cognition« prediction is best explained by the MFT analogy of moral foundations as different »taste receptors« (e. g., purity as »saltiness«), such that each moral concern triggers only one specific receptor, which gives rise to a corresponding distinct moral experience. However, recent evidence casts doubt on claims of distinct cognition, as even harm and purity – often discussed as maximally distinct (Haidt, 2012) – are highly correlated (r = .87; Gray & Keeney, 2015). Moreover, the apparent cognitive differences between these two content areas stem from scenario sampling bias: MFT purity violations are weirder and less severe (e. g., necrophilia) than harm violations (e. g., murder), and it is these general differences that give the illusion of distinct cognition (Gray & Keeney, 2015). (Schein & Gray 2015, S. 1148)

Ganz im Sinne des evolutionären, naturalistischen Wissenschaftsverständnisses (vgl. Vollmer 1981) versucht die MFT, eine optimale Kombination aus Parsimonität und angemessener Erklärungskraft (explanatorischer Adäquatheit) gegenüber solchen Einwänden zu gewährleisten: So wenige Voraussetzungen wie nötig und so starke Explanationen wie möglich sollen gereicht werden, ohne dabei erneut künstliche Dichotomien zu generieren. Aus psychologischer Sicht bedient sich die MFT daher kultur- und sozialpsychologischer Studien »plus x« 100 und sie gestaltet sich auf dieser Basis als nativist, cultural-developmentalist, intuitionist, and pluralist approach to the study of morality. We expect – and welcome – disagreements about our particular list of foundations. But we think that our general approach to the study of morality is well justified and is consistent with recent developments in many fields (e. g., neuroscience and developmental psychology […]). (ebd., S. 14)

Die Liste der ebenfalls an einer Tugendethik ausgerichteten Basiselemente präsentiert (derzeit) fünf – wenn der Aspekt »liberty/oppression« einbezogen wird, sechs – Kriterien, die eine jede MFT, die als Wissenschaft wird arbeiten wollen, zu berücksichtigen hat: 1)

100

Care/harm: This foundation is related to our long evolution as mammals with attachment systems and an ability to feel (and dislike) the pain of others. It underlies virtues of kindness, gentleness, and nurturance.

So etwa von Jesse Graham, Jonathan Haidt et al. (2012) vorgeschlagen.

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2)

3)

4)

5)

Fairness/cheating: This foundation is related to the evolutionary process of reciprocal altruism. It generates ideas of justice, rights, and autonomy. […] Loyalty/betrayal: This foundation is related to our long history as tribal creatures able to form shifting coalitions. It underlies virtues of patriotism and self-sacrifice for the group. It is active anytime people feel that it’s »one for all, and all for one«. Authority/subversion: This foundation was shaped by our long primate history of hierarchical social interactions. It underlies virtues of leadership and followership, including deference to legitimate authority and respect for traditions. Sanctity/degradation: This foundation was shaped by the psychology of disgust and contamination. It underlies religious notions of striving to live in an elevated, less carnal, more noble way. It underlies the widespread idea that the body is a temple which can be desecrated by immoral activities and contaminants (an idea not unique to religious traditions). (http://moralfounda tions.org/, Stand: 30. 05. 2021)

Das offene Konzept der MFT mit den hier dargestellten Tugenden macht aus seiner metaethischen Positionierung keinen Hehl: 101 Moralischer Realismus und Kognitivismus nehmen unter Nutzung einer naturalistischen Methode alle verfügbaren Werkzeuge aus der Soziologie (Herbert Blumers »Symbolischen Interaktionismus«, Grounded Theory), Kulturwissenschaft(en) (Diskursanalyse, Interview), Ethnologie (teilnehmende Beobachtung) und Sozialphilosophie (quantitative und qualitative Methoden) auf. Um die initiierten Studien auch tatsächlich empirisch leisten zu können, greift die MFT – pluralistisch – auf mehrere qualitative und quantitative Methoden zurück: 1. selfreport surveys, 2. implicit measures (Reaktionszeiten von Probanden …) 3. psychophysiologische und neurowissenschaftliche Methoden 102 und 4. Textanalysen (hermeneutisch …). 103 Die oben als tragDirekte Verweise beziehen sich bspw. auf Vorarbeiten von Elliot Turiel, Richard Shweder et al. 102 Markus Christen (2010) untersucht in »Naturalisierung von Moral?« die Grundlegung der Ethik durch die Neurowissenschaften; die Ergebnisse sind dabei abhängig von den moralphilosophischen Definitionen (vgl. auch Schleim 2010, S. 33). Zu den Methoden zählen für Christen neben empirischen Experimenten auch Literaturrecherche und Expertenbefragung, theoretische Grenzbestimmungen durch Wissenschaftstheorie sowie Analysen. Die Definition der »moral agency« (Christen 2010, 101

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fähig herausgestellten Präsuppositionen der Metaethik werden dabei sämtlich in die MFT integriert: (1) In der nativistischen Argumentationslinie werden strukturelle Module als der Erfahrung vorgängige und evolutionär ausgeprägte Dispositionen angenommen. 104 Diese Prozesse können jedoch auch dann als Gesamtapparat verstanden werden, wenn einzelne Bereiche gegeneinander arbeiten, sich etwa

S. 54) wird dabei ebenso wie die Erforschung der Moralphänomene durch den experimentellen Rahmen mitbestimmt: Stimulus, Decision making (intentionale und automatische Anteile), Handlung, Rechtfertigungen im »Raum der Gründe«, das Anlegen von Raum- und Zeitskalen bei der Beobachtung eines Handlungsereignisses, ontogenetische und phylogenetische Relationen usw. Christen bezeichnet nach einem Überblick über die Methoden (ebd., S. 51) die Suche nach den Begriffen der Moral als »unscharf«. »Moral Agency« sei dabei ein zentrales Motiv, bei dessen Analyse Fähigkeiten zugrunde gelegt werden, die in einem bestimmten Kontext zu einer Handlungsmöglichkeit führen. So findet also eine (Rück-)Übertragung der Definitionen und Methoden aus den Neurowissenschaften in die Moralphilosophie statt: Grundlegende Begrifflichkeiten der Anatomie des Gehirns spielen dann eine ebenso starke Rolle wie die Methoden, die angewendet werden, um hier auf die Gegenstände der Untersuchung zuzugreifen. Dazu zählen Instrumente wie die Tomographie (Computertomographie als (Diffusions-Tensor-)Magnetresonanztomographie). Christen überblickt die Probleme in solchen Verfahren und unterteilt sie in vier Phasen: die Phase des Designs mit grundlegenden methodischen Fragen, nämlich Lokalisationen, »Reverse Inference«; die Wahl der Referenzbereiche in der zweiten Phase, Beeinträchtigung der Versuchspersonen; Fehlerquellen in Messprozessen können drittens die Wiederholbarkeit durchaus in Frage stellen. Und schließlich ist die Wirkkraft der Bilder verführerisch, denn durch die digitale Farbwahl und Perspektive kann die Signifikanz der Schemata und folglich auch ihre Interpretation beeinflusst werden. In der Anwendung auf die Untersuchung der »Moral Agency« illustriert Christen nun für all diese Problemfelder beispielhaft die philosophische Auswirkung: Simulationen, Experimentelle Psychologie, Spieltheorie/rational choice Ansatz sollen im Rahmen der Moral Sciences zur Bildung von exakteren Subdisziplinen führen, sodass in der Moralpsychologie die Bereiche der Emotionen, der Kognitionen, der Kognition-Entscheidung-Handlung, Empathieforschung, Psycho-/Soziopathologie usw. als Grundlagen für die entstehende soziale Neurowissenschaft und Neuroökonomie genutzt werden können. Es ist aber auffällig, dass die Studien der Neurowissenschaften mit zunehmender Spezifizierung ihres Gegenstands die Tendenz aufweisen, an Erklärungstiefe abzunehmen und stattdessen zum bloßen Beschreiben überzugehen. Es fehlt in den Spezialfeldern sozusagen der prognostische (synthetische) Anteil der Forschung gegenüber einem sich selbst bestätigenden Technisierungshang der Abbildbarkeit. 103 Vgl. Graham et al. (2011) zum Methodenpluralismus, vgl.: www.moralfoundation. org. (Stand 30. 05. 2021) 104 Dan Sperber (2005, S. 53 ff.) geht sogar von einer Massive Modularity Hypothesis aus, die viele kleine Informationsverarbeitungsprozesse als angeborene Fähigkeiten (»features«) auf modularer Ebene umfasst.

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kontrollieren und regulieren. (2) Auch das kulturelle Leben zeigt für die MFT seinen persönlichkeitsbildenden Einfluss: Als isolierte Individuen wären Menschen bloße Naturwesen und in ihrem moralischen Entwicklungszustand untereinander gleich. Die angeborenen Lerninstinkte (»templates«) helfen aber beim Erlernen von kulturspezifischem Wissen, Verhalten, Gefühlen und bei der Ausprägung der Motorik (vgl. ebd.); sie werden dann ihrerseits durch die sozialen Einflüsse »getriggert« und verstärkt. Die MFT, die grundsätzlich auf diesen Rückkopplungsprozessen aufbaut, liefert folglich keine fertige Moral, sondern sie formuliert zu erforschende Strukturen (»patterns«) in einer individual-, sozial- und kultursensiblen Entwicklung. (3) Die erlernten Verhaltensweisen müssen nicht jeweils reflektiert oder in Einzelüberlegungen abgewogen werden, sondern agieren als »Intuitionen« – hier wird »intuition« allerdings als »custom«, »habit«, »belief« (vgl. ebd., passim) verstanden. Die sog. Automatic Revolution der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts setzt mit diesem Forschungsgegenstand auf die »älteren«, automatisch ablaufenden evolutionären Systeme. Zusätzlich dient Jonathan Haidts Social Intuitionist Model (SIM) explizit als direkte Vorlage der MFT: In other words, the SIM proposed that moral evaluations generally occur rapidly and automatically, products of relatively effortless, associative, heuristic processing that psychologists now refer to as System 1 thinking (Stanovich & West, 2000; Kahneman, 2011. See also Bastick, 1982; Bruner, 1960; & Simon, 1992, for earlier analyses of intuition that influenced the SIM). Moral evaluation, on this view, is more a product of the gut than the head, bearing a closer resemblance to aesthetic judgment than principlebased reasoning. (MFT 2012, S. 11)

Da es aufgrund der vielfältigen Voraussetzungen und (philosophischen) Traditionen eine Reihe von Herausforderungen für diese Theorie gibt, bietet sich als Forschungskonzept (4) ein Pluralismus an, der – an der Soziobiologie orientiert – funktionalistisch und experimentell mit den evolutionären Dispositionen arbeitet. 105 Die eigentliche Aufgabe der MFT ist es also, das Feld moralischer Phänomene möglichst vollständig abzubilden und damit die Konversation mit allen weiterführenden wissenschaftlichen Perspektiven auf diesen Gegenstand aufrechterhalten zu können (vgl. Sparshott 1996, 105 Aus diesem Grund passt etwa Sperbers Modul-Theorie in dieses Forschungsprogramm hinein, weil er die Module in »proper domains« (original triggers) und »actual domains« unterteilt (vgl. Sperber 2005).

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S. 49). Für Philosophen sieht es möglicherweise so aus, als versuchten Haidt et al. die Rolle der Vernunft (Autonomie, Selbstbestimmung, personale Identität …) zugunsten anderer Parameter, etwa einer emotionalen (Fern-)Steuerung, zu schwächen. 106 Um die Anschlussmöglichkeiten dieser philosophischen Komponenten an die MFT zu prüfen, werde ich im vierten Kapitel eine Reihe von moralpsychologischen Modellen (SIM, MFT, Reaktanz-, Neuro- und Evolutionspsychologie) genauer untersuchen. Ich gehe davon aus, dass die sog. Multi-Process-Models der Moralpsychologie historisch und systematisch auf ihre pragmatistischen Wurzeln zurückgeführt und so an die in den Kapiteln 2 und 3 dieser Arbeit entwickelte philosophische Methodologie angebunden werden können. In dieser letzten »Tendenz« konnte also die Gefahr des Relativismus behoben werden, solange dieser sich ausdrücklich auf die »Moralen« bezieht und die jeweiligen Relationen wissenschaftlich transparent gestaltet. Im Gegenzug verhindern relativistische Forschungskonzepte sogar das Auftreten von Dogmen, Dualismen und Autoritätsgläubigkeit. Da auch der szientistische Reduktionismus im Rahmen der pluralistischen Projekte der Moralpsychologie ausgeräumt werden konnte, besteht der einzige ernstzunehmende »Gefahrenherd« für die seriöse wissenschaftliche Erforschung der Moral(en) in den unüberpüfbaren Dogmen derjenigen Philosophen und Theologen, die an einer gesonderten Disziplin »Metaethik« festhalten müssen, um den Stellenwert ihrer non- und supernaturalistischen Postulate in einer philosophischen Nische zu wahren. Könnten also im Rahmen einer neu formulierten Architektonik der Moralphilosophie die Fragestellungen rund um Moral und Ethik durch eine Kombination aus pragmatistischer Methodologie, normativer Ethik und moralwissenschaftlicher Forschung bearbeitet werden, so wäre die Aufrechterhaltung einer zusätzlichen Disziplin »Metaethik« aus kognitivistischen Sachgründen heraus nicht plausibel zu begründen. Alle Bereiche der Moralphilosophie, die sich empirisch untersuchen lassen, werden aber heute bereits in untereinander direkt vernetzten Disziplinen erforscht. Ich sehe daher die Bestandteile für eine solche Architektonik bereits angelegt in den konstruktivistischen und konstitutivistischen Positionen, die ihrerseits keine zusätzliche Vermittlungsleistung oder gar die Etikettierung »Metaethik« 106 Vgl. Kennett & Fine (2009, S. 77 f.): Hier steht die Kontrolle im Vordergrund der Moralitätsdebatte.

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benötigen, um etwa auf der einen Seite universale und auf der anderen Seite partikulare Phänomene untersuchen zu können (vgl. Velleman 2013). Nach einem kurzen Zwischenfazit gehe ich aus diesem Grund dazu über, die Strukturen einer transzendentalen Architektonik sowie einer pragmatistischen Methodologie zu gestalten (Kap. 2 u. 3). Im vierten Kapitel demonstriere ich die fließenden Übergänge aus diesen formalen Voraussetzungen der Moralphilosophie in die Moralwissenschaften am Beispiel der Moralpsychologie.

1.3 Hypothese: Die Überwindung der Metaethik Die Sichtung der Metaethik hat folgende Aufgaben und Problembereiche offengelegt: (1) Metaethik versteht sich als Schaltstelle für die Zubringer des theoretischen Instrumentariums innerhalb der Moralphilosophie (Ontologie, Linguistik, Epistemologie, Kognitionswissenschaften). Sie reflektiert die Arbeit der normativen und deskriptiven Ethik aus einer Beobachtung zweiter Ordnung heraus und systematisiert die ethischen Positionen. Diese zweite Ordnung wird aber nicht erneut reflektiert, bevor die Kategorisierung stattfindet, sodass die Strukturen der Metaethik selbst von der Beobachtung zum Gegenstand changieren. Kurz: Die Metaethik hat keine transzendentale Grundlage geschaffen und könnte – so die Forschungshypothese für das zweite Kapitel – in allen relevanten Aufgabenfeldern durch eine transzendentale Philosophie kompensiert werden (Kaulbach, Gewirth 107). (2) Aus philosophischer Sicht müsste die Moralität anstelle der »Mores« untersucht werden (Velleman). Diese gehören in die Aufgabenbereiche der empirischen Moralforschung, jene aber in den Bereich der Transzendentalphilosophie (Korsgaard). Übergänge zwischen diesen Ebenen sollen markiert und untersucht werden, ohne dass aus der Analyse Lücken, Dichotomien oder spekulative »Sprünge« resultieren; dieser Anforderung soll im dritten Kapitel durch die Genealogie der Leistungsmerkmale einer pragmatistischen Ethik entsprochen werden (sc. eine Kontinuität transzendentaler und pragmatischer Bewegungen in der Methodologie). 107 Mit Habermas (1991a) muss ich allerdings zugestehen, dass Gewirth den transzendentalen Gedanken so aufbereitet, dass der Gedankengang von den Tugendethikern ohne größere Probleme hinterfragt werden konnte.

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(3) Die Relationalität der Ersten- und der Dritten-Person-Perspektive wird als irreduzibel herausgearbeitet. In den Abschnitten 2.2 und 2.3 wird der transzendentale Idealismus für diese Verbindung in drei Varianten (systematisch angeordnet: Korsgaard, Kant, Vendler) herangezogen. (4) Neben sämtlichen abstrakten Planspielen der Metaethik soll die Möglichkeit von Hilfestellungen bei konkreten Problemlösungen auf wissenschaftlichem Niveau nicht verloren gehen. Wenn in Abschnitt 2.5 gezeigt werden kann, dass der Utilitarismus sich mit der relationalen Philosophie verbinden lässt, ist zugleich der Übergang von der Transzendentalphilosophie sowohl in die Angewandte Ethik als auch in die empirische Moralforschung (vgl. Joshua Greene in Abschnitt 4.1) gewährleistet. Auf diese Weise bleiben Methodenvielfalt und Flexibilität gleichursprünglich zur universalen und formalen Absicherung erhalten (MFT). (5) Die referierten metaethischen Tendenzen gehen von einer Reihe vorgegebener Dichotomien (Fakt/Wert, Sein/Sollen, Qualia/ Tatsache, Internalismus/Externalismus, innen/außen, Philosophie/ common sense, primäre/sekundäre Qualitäten) aus, deren Auflösung sie entweder durch eine Reduktion auf die je favorisierte Position oder durch eine nachträgliche Synthese anstreben. 108 Der Übergang von der transzendentalen Kritik zur pragmatistischen Ethik wird zeigen, dass es sich bei der Präsupposition der zu verbindenden Dualismen um Missverständnisse handelt, die durch eine Klärung der Perspektive vermieden werden könnten. Durch die Anbindung des Pragmatismus an Kants transzendentalen Idealismus wird aber die Vereinbarkeit von Expressivismus und Kognitivismus (Blackburn, Gibbard, Copp, Dreier …) ebenso garantiert wie die direkte Anschlussmöglichkeit von Konstruktivismus und Realismus (Korsgaard). Die Analyse der Metaethik ergibt, dass einige non-realistische Autoren versuchen, Annäherungen der einzelnen metaethischen Positionen zu gestalten, und dass sie dabei (implizit oder explizit) pragmatistische Argumentationsmuster nutzen, um Erklärungsstärke und Parsimonitätsanspruch ihres Ausgangspunkts zu wahren. Diese 108 Zu den Auslegungsformen von Internalismus und Externalismus vgl. Smith (2010, S. 64 f.) und Markovits (2011, S. 141 ff.) und zur epistemologischen Interpretation der beiden Positionen auch Timothy Williams (2009, S. 49 ff.). Zu internem und externem »reasoning« und zur »moral grammar«/»moral universals« vgl. Harman (2012, S. 241, S. 273 u. S. 286).

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Vermutung wird im Anschluss an die Entwicklung der Topoi des pragmatistischen Denkens behandelt: Damit wären für die normative Ethik ein pragmatistischer Realismus (moderater Naturalismus) und ein transzendentaler Idealismus (Phänomenalismus, Relationalität, Prozessualität) als unhintergehbare Forschungsachsen veranschlagt, in deren Architektonik sämtliche Hinsichten der Moralphilosophie (auch ohne metaethischen Zusatz) beschrieben werden können. Unter gleichzeitiger Zurückhaltung in Aussagen über Dinge und Werte an sich werden Dichotomien und Scheinfragen zugunsten eines Kontinuums von Inferenzen aufgegeben. Für die Bearbeitung dieser Hypothese werde ich in Abschnitt 2.1 das konstruktivistische Forschungskonzept von Christine Korsgaard als eine Variante der relationalen Philosophie vorstellen und damit die Übergänge von der formalen Begründung (foundation) bis hin zur Moralpsychologie und zur Angewandten Ethik nachzeichnen. Dazu paraphrasiere ich zunächst den hier verwendeten Begründungsakt, um das Kantianische Argumentationsschema einer Transzendentalphilosophie deutlich zu machen. Für die konstitutiven Momente dieses (idealistischen) Ansatzes, d. h. für Vernunft, Universalität, agent-neutral-concepts, Apriorizität, Korrelationen u. dgl., werde ich dann einen phänomenologischen Vorschlag von Zeno Vendler aufgreifen, der durch eine freie Variation der Ersten-Person-Perspektive die Verbindlichkeitsstruktur des »Rollentauschs« für jede normative Ethik herausstellt. Die Konzepte »Konstruktivismus« und »Phänomenologie« unterstützen schließlich die Hypothese der Vereinbarkeit von transzendentaler Kritik und Pragmatismus, sodass im Rahmen der sog. pragmatischen Maxime die kontinuierlichen Transformationen der ethischen Standpunkte »aufgehoben« werden können. Wenn folglich die Hinsicht geklärt wird, in der von Wahrheitsfunktionen moralischer Urteile gesprochen werden kann, bestätigen sich außerdem Mackies transzendentale Argumente 109 gegen den empirischen Idealismus, nicht aber gegen den empirischen Realismus. Außerdem zeigt sich in dieser gemeinsamen Methode, insbesondere in Deweys pragmatistischer Ethik, dass der von Stevenson angeregte Emotivismus eigentlich verbindenden Charakter haben sollte, statt die Moralphilosophie durch die Metaethik nachhaltig zu spalten. Damit werden 109 Er hat seine Argumentation in Entsprechung zu Carnaps früher phänomenaler Phase des Neopositivismus gestaltet.

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Hypothese: Die Überwindung der Metaethik

auch die Wurzeln der Metaethik in die Frage nach der transzendentalen Verbindlichkeit eingelassen. Die Auffassung, dass relationale Konzepte in der Moralphilosophie die künstlichen Antinomien der Metaethik »gütlich« auflösen können, führe ich im weiteren Text folgendermaßen aus: Da Realisten nicht zwingend an naiv-gegenständliche, ontologische Normativitätsbehauptungen gebunden sind, sondern vielmehr auch auf Sachverhalte und relationale Gefüge rekurrieren können, 110 erhalten die angesprochenen konstruktivistischen Konzepte ihren aktuellen metaethischen Reiz in genau dieser Verschmelzung. Der transzendentale Idealismus kann mit einem empirischen Realismus identifiziert werden, sobald die unhintergehbare Relationalität der horizontalen Achse mit der Tiefendimesnion der vertikalen Achse akzeptiert wird. Der Pragmatismus soll bestärken, dass die wissenschaftliche Kommunikation der – im Text nur drittpersonal zugänglichen – Ersten-Person-Perspektiven als realer und zugleich »objektiver« Grund für die Erforschung der Phänomene der menschlichen Welt dienen kann. Normativität wird durch die Verbindlichkeit von Gründen und Rechtfertigungen konstituiert und Gründe ihrerseits werden durch Erwägungen (in theoretischer oder in praktischer Hinsicht) hervorgebracht. Solche Erwägungen können durch eine Deliberation (prozedural/strukturell (Verfahrensgerechtigkeit) oder substantiell (ist es richtig für mich/für uns, dies zu tun?)) der absehbaren materialen Bedingungen ausgearbeitet werden (vgl. o.: Halbig, Smith). Betrachtet man eine solche Deliberation aus der zweiten Ordnung heraus, so schwankt der Grad der Anwendungsnähe zwischen konkret-praktisch 110 Hier herrscht eine ausdifferenzierte »Tatsachen-bezogene Konzeption der Objektivität« vor (vgl. Wallace 2011, S. 39). Naturalistische Positionen zählen daher für R. Jay Wallace – wahrscheinlich unter dem Eindruck des logischen Empirismus – zum Non-Kognitivismus. Dass an dieser Kombination zumindest eine bedingte Skepsis berechtigt ist, hebt Wallace (vgl. ebd., S. 41) anhand einer Unterteilung konstruktivistischer Positionen hervor, bei denen neben dem für die Normativitätsbegründung »unplausiblen« kontraktualistischen Ansatz Scanlons et al. die allgemeine Auffassung bestehe, dass normative Prinzipien den Willen konstituieren (ebd.), wie in den Kantianischen Ansätzen nach Christine Korsgaard (vgl. ebd., S. 43) und den nicht-Kantianischen Ansätzen etwa nach Sharon Street (vgl. ebd., S. 43 FN 14). Anm.: Die Forschung zu Thomas M. Scanlon ist selbstverständlich enorm weitläufig, vgl. etwa die Literatur zum »buck-passing account« bei Heuer (2011, S. 167 f.). Lafont (2004, S. 47) schreibt: »In my opinion, these differences in our use of both notions can only be accounted for by combining the realist and the antirealist elements of Kantian constructivism, instead of reducing one to the other.«

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Ausgangspunkt: Die Analytik der Metaethik

und abstrakt-praktisch (= universell). Je genereller Normen und Prinzipien sind, desto formaler werden die Urteile und entsprechen eher den logischen Strukturen des Denkens als den konkreten Kontexten der Lebenswelt. Das Extrem der reinen Universalität hingegen ist mit dem Höchstmaß an Konkretion identisch, da sie immer nur in einem affirmativen Bewusstseinsakt eines sich selbst bewussten Daseins auftreten kann. Auf diese Weise – so reflektieren wir – generiert Universalität gleichsam Relationalität und Moralität, die deskriptive und die normative Facette der Verbindlichkeit.

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2. Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

Wie wir gesehen haben, sprengen einige Varianten des transzendentalen Idealismus regelrecht die Antinomien der Metaethik, die von den starken robusten Positionen des Realismus aufgebaut wurden. Der Konstruktivismus, wie er am Ende des ersten Kapitels eingeführt wurde, reflektiert zugleich auf die synthetische Kraft der aktuellen pragmatistischen Tendenzen im metaethischen Diskurs und weist auf deren formale Bedingungen hin. Diese Reflexion kann dabei als Erlebensmoment, als Relation bzw. Intentionalität oder auch als Schlussfolgerung dargestellt werden. Für jede dieser Dimensionen gestalten die Spielarten des Idealismus eigene Zugangsweisen und Untersuchungsmethoden: Bezieht sich etwa eine relational ausgerichtete Philosophie derart auf ihre eigenen Voraussetzungen, so bestätigen sich ihre Ausführungen selbstverständlich nur dann, wenn die Relationalität auch zu den Grundlagen des Geltungsanspruchs gezählt werden kann. 111 Wenn eine Philosophie mit dem Anspruch auftritt, transzendental zu arbeiten, so bedeutet dies nicht, dass sie über die Welt hinaus in eine erfahrungstranszendente Sphäre der ideellen Gültigkeit blicken möchte. Ihr Anspruch ist wesentlich geringer: Ein Lebewesen, das sich als vernünftiges Lebewesen versteht, hat dieses Selbstverständnis immer auch mit Hilfe der Vernunft bzw. des Selbstbewusstseins getätigt, usw. Die genannten Selbstbezüge können inhaltlich oder formal analysiert werden. In jedem Akt einer solchen »Zergliederung« lässt sich behaupten, dass die Synthese der Analyse (oft unbemerkt) immer schon vorhergegangen sein muss. Unter der Bezeichnung »Relationale Philosophie« verstehe ich daher Ansätze der Philosophie, die das intentionale Verhältnis von Subjekt und Objekt für jede ihrer eigenen 111 Eine solche Verfahrensweise wird bspw. von Oliver Sensen genutzt, um einen »transzendentalen Konstitutivismus« (Sensen 2015, S. 65) in die Debatte einzubringen.

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Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

Beschreibungen voraussetzen und nicht etwa die Perspektive des je denkenden Philosophen beim Philosophieren vergessen. Selbstverständlich kann unter einem generellen Einverständnis aller relationalen Philosophen der stete Hinweis auf diese Grundlage irgendwann vernachlässigt werden, um die Untersuchungen nicht durch unnötige Feedback-Schleifen – bspw. »übrigens ist auch dieser Satz ein Satz des bewussten Daseins: meines Daseins, wie ich dies schreibe, und deines Daseins, wie du es (ebenfalls als ›ich‹) liest« – »aufzublähen«. 112 Daher ist es sinnvoll, die allgemeinen und notwendigen Prinzipien eines solchen universalen »Korrelationalismus« in einem formalen System festzuhalten, an dem sich das jeweilige Denken orientieren kann, wenn es sich den immer wiederkehrenden Umweg einer umfassenden Prüfung der Grundbedingungen ersparen möchte. Einmal muss aber jedes Bewusstsein diese Bedingungen für sich selbst überprüft haben, damit deutlich wird, dass die Universalität der beschriebenen Bedingungen zugleich einen normativen Charakter für alle sich der relationalen Strukturen bewussten Lebewesen aufweist. Für die folgenden Argumentationsschritte gehe ich vor diesem Hintergrund von folgender Annahme aus: Verbindlichkeit konstituiert die Relationen des bewussten Daseins zu den Phänomenen seiner Erfahrungen. Damit begleitet die synthetische Leistung des Bewusstseins notwendig jede konkrete Relation eines Individuums zu den Gegenständen seiner Lebenswelt und jede konkrete Beziehung zu den Lebewesen seiner sozialen Umwelt. In einer anderen Hinsicht zeigt sich aber auch der ausschließende Charakter einer solchen Erforschung der Grundlagen von Verbindlichkeit: Verbindlichkeit begleitet Emotionen und macht diese damit zu Gegenständen des relationalen Bewusstseins. Emotionen können aber die Verbindlichkeit nicht begründen, weder in ihrem Ausdruck von Bedürfnissen, Interessen und Zweckvorstellungen noch in ihrer Beschreibung dieser intentionalen Zustände des Bewusstseins. 113 Der relationale Charakter, den die Bestandteile einer Die Intentionalität in der Psychologie Franz Brentanos und v. a. in der Phänomenologie Edmund Husserls gilt als Prototyp dieses Konzepts. 113 Ein Beispiel: In der Analyse des Begriffs »guter Wille« isoliert Kant bereits die Vorstellung der materialen Intentionalität des Willens, der Bestimmbarkeit des Willens, der Handlungsfähigkeit des Willens etc. Dass ausschließlich der reine Wille, der also nichts will, auch uneingeschränkt gut sein kann, setzt bereits die Quelle des absolut Guten voraus. Alles andere ist nur in Abhängigkeit von dieser Quelle Teil des Moralischen und in Hinsicht auf etwas »gut« (relational). 112

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Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

Handlung jeweils aufweisen, führt am Beispiel der Metaethik folglich auch zu einer Aufhebung der scharfen Grenzen zwischen denjenigen Konzepten, die davon ausgehen, Emotionen seien bloße Fakten, und denen, die Emotionen als motivationale Gründe für Handlungen beschreiben. 114 Es kommt bei einer »Kritik«, wie die Prüfung dieser rein formalen Präsuppositionen spätestens seit Kant genannt wird, also nicht darauf an, objektive oder ewig gültige Strukturen des Bewusstseins zutage zu fördern, sondern die Bedingung der Möglichkeit des eigenen Erkennens zu erfassen. Prüfen vernünftige Lebewesen die Werkzeuge des Erkennens und behaupten dann, Erkenntnisse über ihre Erkenntnisstrukturen formulieren zu können, so müssen diese Formulierungen mit den Inhalten ihrer eigenen Behauptungen übereinstimmen; ansonsten heben die Behauptungen sich im Zuge ihrer Formulierung selbst auf. Auch wenn sich die Bedingungen also im Verlauf der Evolution verändert hätten, bliebe die kritische Reflexion des jeweiligen Individuums auf seine eigenen Voraussetzungen der Relation nach erhalten: Es bestätigt im Akt des Prüfens die für es selbst unhintergehbaren Erkenntnisstrukturen. Wenn ich diese Voraussetzungen als Prüfmechanismen für die Strukturen der Moralphilosophie nutzbar machen möchte, muss ich eine relationale Fragestellung an die jeweiligen ethischen Argumentationsmuster herantragen: »Wer behauptet dies gerade in welcher Hinsicht?« Diese Grundlage führt zu einer Reihe von Ausschlusskriterien für (meta-)ethische Positionen: 1. Behauptet jemand, ein Ding bzw. Sachverhalt sei »an sich« existent (gelegentlich lässt sich sogar der Zusatz finden: ein Ding sei an sich existent und weise bestimmte Merkmale auf oder nicht auf), dann übersteigt derjenige damit die Möglichkeiten, die seiner Beschreibung zugrundeliegen, nämlich, je aus seiner Sicht auf die Dinge über diese zu urteilen. [Argument gegen den transzendentalen Realismus] 2. Behauptet jemand, etwas sei rein gefühlsmäßig und ohne rationale Bestandteile wirksam, so vergisst er den formalen normati-

114 Mit der Symmetry Thesis geht Korsgaard auf die Frage ein, ob tatsächlich ein Zusammenhang besteht zwischen den Tatsachen, die erklären, warum jemand eine bestimmte Handlung tun soll(te), und der Tendenz von Menschen mit guter Absicht, genau diese gute Handlung auch zu tun. Ich führe diesen Ansatz unten ausführlicher aus.

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Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

ven Bestandteil seines Denkens in eben dieser Beschreibung der relevanten Gefühle und damit im Vollzug der Darstellung. [Argument gegen den transzendentalen Emotivismus] 3. Weist jemand darauf hin, dass das Denken/Bewusstsein/… nicht existiere, wäre es fatal, wenn ich nach der Lektüre des Satzes aufspränge und riefe: »Er hat Recht, ich denke gar nicht.« Gleiches gilt für performative Widersprüche wie »Sei doch einmal spontan!«, »Nutze Deinen eigenen Verstand!«, »Mit Dir rede ich erst gar nicht!« o. ä. [Argument für die transzendentale Kritik] 4. Formuliert jemand die Überzeugung, »alles ist relativ«, so widerlegt derjenige mit seiner Behauptung den universalen Relativismus eben durch seinen (relativen) Universalismus. [Argument gegen den radikalen Relativismus und gegen den Skeptizismus] 5. Es ist allerdings selbstbestätigend, wenn jemand die Behauptung äußert: »Ich spreche gerade« oder »ich denke« und zwar für jedes Lebewesen, das sich mit »ich« oder Pronomen in vergleichbaren sprachlichen Äußerungen auf sich selbst bezieht. [Argument für die transzendentale Apperzeption] Das Erkennen des Erkennens sowie des Geltungsanspruchs dieses Erkennens wird also sozusagen »on the fly« bestätigt, indem die Struktur der eigenen Tätigkeit sich in der Reflexion bzw. der Beschreibung der Tätigigkeit als Proposition wiederfindet. Im Zuge der transzendentalen Kritik der Moralphilosophie werden einige nicht eigens »sichtbare« formale Präsuppositionen herausgestellt, die als notwendige Bedingung für den Geltungsanspruch philosophischer und wissenschaftlicher Konzepte gelten müssen. Zu den Voraussetzungen, die dabei bereits von Transzendentalphilosophen als Grundlagen für Erkenntnisbildung postuliert wurden, gehören z. B. das Leibesapriori, das Kommunikationsapriori, das soziale Wesen des Menschen, bis hin zum Dasein als notwendige Voraussetzung für das eigene Denken. Da die Debatte um diese (sekundären) Formen der Apriorizität meine Forschungsfrage in diesem Kapitel nicht direkt betreffen, gehe ich lediglich in einem kurzen Anhang (Coda in Abschnitt 2.6) auf die Diskurstheorie von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas ein. Die Konstitution der Normativität überlasse ich stattdessen Christine Korsgaards »Kantianischem Konstruktivismus«, den ich oben bereits für die Kompensationen der Metaethik einsetzen konnte.

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Transzendentalphilosophie: Christine Korsgaards »Konstruktivismus«

Die Auswirkungen dieser relationalen Kritik des theoretischen Denkens sind für die praktische Philosophie nicht minder wirkmächtig. Ich werde die Architektonik der Moralphilosophie nach den transzendentalphilosophischen Gedanken von Christine Korsgaard daher zunächst in die reine transzendental-kritische Methode Immanuel Kants zurücknehmen. Die strittige Frage, ob die transzendentale Apperzeption als Ursprung der Verbindlichkeit gesetzt werden könne, werde ich dann durch ein phänomenologisches Gedankenexperiment Zeno Vendlers näher erörtern und durch einige Plausibilitätsgründe gegen die Annahme einer Substanz des transzendentalen Ego in die pragmatistische Ethik übertragen. The link between transcendental arguments and points of view (perspectives) has long been appreciated. The suggestion here is that it is not that our point of view is tainted by a particular cognitive structure that we bring with us, but that it is the notion of situated thought, the mere notion of experience as being from a point of view, that itself imposes the relevant structure. (Sacks 2005, S. 455)

2.1 Transzendentalphilosophie: Christine Korsgaards »Konstruktivismus« 115 In den Aufsatzsammlungen »Creating the Kingdom of Ends« (1996b), »The Constitution of Agency« (2008) und »Self-Constitution« (2009) vertieft Christine Korsgaard die Anbindung ihrer Ethik an die praktische Philosophie Kants, wie sie seit »The Sources of Normativity« (1996a) aufgebaut wurde. Von diesem Standpunkt aus generiert sie auch die Übergänge der Moralphilosophie in die Arbeitsgebiete der Moral Sciences. Das Konzept einer reinen Verbindlichkeit ist in Korsgaards Texten damit bereits in eine Lebenswelt eingelassen und kann daher einen fundierenden Beitrag sowohl für die Architektonik der Moralphilosophie als auch für die Anwendungsbereiche der normativen Ethik, Angewandten Ethik und Moralpsychologie leisten. Da Korsgaard sich hauptsächlich auf die Arbeiten Kants in der GMS stützt, entwickelt sie eine philosophische Untersuchung, die durch eine Reflexion der Zusammenhänge von Sprache, Denken und Welt 115 Mit herzlichem Dank an Marcus Willaschek für den Austausch über Korsgaard und v. a. für die Hinweise zur Einbindung ihres Konzepts in die Systematik des Forschungsprojekts.

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Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

zum Phänomenfeld des Moralischen vordringt. 116 Dass die Wissenschaften diesem Unternehmen einiges an Material und Methoden beisteuern können, ist leicht einzusehen. Aber sie partizipieren ihrerseits auch an den Errungenschaften der Philosophie, denn der Anspruch der Wissenschaft auf Geltung kann ebenfalls auf die Quelle der Normativität zurückgeführt werden. 117 Diese Art von »Konstitutionismus« (Ferrero 2006, Bd. 4, S. 304) 118 leitet sowohl Rationalität als auch Moralität aus der synthetischen Leistung des Vernunftvermögens her und kann daher auch unabhängig von konkreten Wünschen, Interessen und Begierden formale Verbindlichkeitsstrukturen für alle möglichen Mittel-Zweck-Relationen erschließen. Für Korsgaard ist die scharfe Trennung der verschiedenen Richtungen innerhalb der Moralphilosophie daher illegitim, denn jede »umfassende« praktische Philosophie hat ihrer Meinung nach auch alle ernstzunehmenden Kriterien der Ethik zu berücksichtigen (vgl. Korsgaard 2000, S. 45). So wird z. B. die Erste-Person-Perspektive von Handlungen häufig aus naturalistischen Ansätzen verbannt, während sie hingegen in Korsgaards Argumentation – im Sinne der persönlichen Rechtfertigung der Lebensführung – das Konstituens der Moral auszeichnet. Nach Korsgaard fallen aber nicht diejenigen Ansätze aus der seriösen Moralphilosophie heraus, die von der personalen Vernunft anheben, sondern im Gegenteil vernachlässigen die einseitigen Erklärungen der Dritten-Person-Perspektive wesentliche Komponenten der Mora116 Die »GMS-Lastigkeit« kann zu Problemen führen, wenn – wie Bernd Ludwig (2012, S. 171 ff. u. S. 175 FN 22 mit Hinweis auf KrV, AA 04: 391) anmerkt – zwischen 1781 und 1787 ein Wandel in den Paralogismen der KrV selbstverständlich auch die GMS-Frage nach der Freiheit in der Selbstbestimmung berühren müsste. Ludwig geht davon aus, dass Kant die erste Version verwerfen »musste« (ebd., S. 157), um eine kritische Freiheitslehre zu ermöglichen. 117 Wenn man sich also vorstellt, die Verbindlichkeit unserer Handlungen, die man aus der Vernunft gewinnt, könnte für einen Moment betrachtet werden als Naturgesetz, dann erhält man (wieder analytisch) eine zentrale Einsicht: Wäre das Vernunftgesetz ein Naturgesetz, gäbe es keine Moral, sondern ausschließlich naturnotwendige Abläufe. Da Kant in der theoretischen Kritik (KrV) die Gesetzmäßigkeit der Natur aus unseren Vermögen hervorgehen lässt, liegt es nahe, dass die Naturgesetzform auch in der Moralität dem Vernunfteinsatz in der Willensbestimmung entspricht – bloß kann sie nicht als generalisierend (induktiv) befunden werden, sondern erhält ihre reine Form der Allgemeinheit aus der formalen Universalität der Apperzeption eines jeden bewussten Lebewesens (vgl. KpV, AA 05: 75). Theoretische und praktische Philosophie werden in der »Kritik der Urteilskraft« verbunden. 118 Vgl. ebd. FN 2 für die Einordnung von Railton, Millgram, Velleman, Rosati in die Reihe der Verteidiger der »constitutivist views«.

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Transzendentalphilosophie: Christine Korsgaards »Konstruktivismus«

lität, wie dies aus ihrer Sicht in genuin konsequentialistischen Systemen beobachtet werden kann (vgl. ebd., S. 47). 119 In Korsgaards Studien steht also die »Self-Constitution« (2009) im Zentrum des Interesses. Korsgaard eliminiert sofort den Anschein, als wäre die Konstitution ein Herstellen (»craftsmanship«) von etwas (vgl. ebd., S. 42 f.) und setzt für die Grundlagenforschung auf die autopoietische Figur: »The picture here is of the self-constitutive process that is the essence of life. The paradox of self-constitution, in this context, is no paradox at all.« (ebd.) 120 Den aus dem lebendigen Bewusstsein selbst entspringenden Gedanken eines Inklusionssystems der Normativität – von der Grundlegung der Moralität bis zur konkreten Anwendung – möchte ich für die weitere Untersuchung der Verbindlichkeit als tragende transzendentale Säule der Moralphilosophie ausarbeiten. Ausgehend von den Studien zu den »Quellen der Normativität« macht Korsgaard (1996) dabei eine eigene Grundlegung der Moral (aus den Tanner Lectures) geltend, die beide Perspektiven (Ersteund Dritte-Person-Perspektive) und ihre Geltungsansprüche auf die Bindungskraft der Autonomie zurückführt. Verbindlichkeit entspringt demzufolge aus der praktischen Vernunft und greift durch die Grundlegung normativer Geltungsansprüche auf die Paradigmen der (theoretischen) Wissenschaftsbereiche über. Korsgaard steckt das Feld normativer Gründe unter diesem integrativen Primat der praktischen Vernunft in vier Bereiche ab – »den ›Voluntarismus‹, den ›Realismus‹, die ›reflective endorsement‹-Methode sowie den ›appeal to autonomy‹« (Meyer 2011, S. 45) –, die sie dann systematisch auf die Frage hin analysiert: »What justifies the claims that morality makes on us?« (Korsgaard 1996, S. 9 f.) Angelehnt an den metaethischen Konstruktivismus muss selbstverständlich auch hier die Frage nach der moralphilosophischen Relevanz gestellt werden: Wie kann eine solche Position im Ausgang von Kants kritischer Philosophie als umfassende Moralphilosophie aufgebaut werden, wenn es sich doch lediglich um einen rein formalen Gedankengang handelt? Findet Die Begriffsbildung »Konsequentialismus« wird Elisabeth Anscombe zugeschrieben (s. u.: FN 108). Vgl. Alvarez & Ridley (2007) zur Betrachtung von Anscombe und Korsgaard im Vergleich. 120 Um dies für die Anbindungen an den Pragmatismus vorwegzustellen: Matthias Jung (2009, S. 238) kommt in der Betrachtung der Konzeption George Herbert Meads zu demselben Hinweis. Der Unterschied zu Korsgaard besteht allerdings in einer an Lew Wygotsky, Michael Tomasello (joint-attention) und Merlin Donald angelehnten Outside-in-flow-Direction (vgl. ebd., S. 241). 119

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Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

denn tatsächlich eine substantielle Konstitution von Handlungswerten statt oder vertritt Korsgaard nicht vielmehr einen konstruktivistischen Naturalismus? Um die starke Hypothese zu begründen, dass die Konstitution der Moral aus der Vernunft stamme, wird der Topos »Reason« von Korsgaard zunächst in drei Dimensionen entfaltet, um so a) die Rede vom »Vermögen«, b) die Bildung vernünftiger Prinzipien und c) die Ausführung vernunftmäßiger Handlungen unterscheiden zu können (vgl. Korsgaard 2009, S. 2). 121 Vom menschlichen Vernunftvermögen ausgehend entwickelt Korsgaard dann ein formales Inklusionssystem der Prinzipien wissenschaftlicher und ethischer Art. Auch die lebensweltliche Orientierung wird durch den von der Vernunft bestimmten Willen mit der Funktion des (guten) Grundes als Rechtfertigung von Handlungsstrategien erweitert (vgl. Korsgaard 2000, S. 53). Korsgaards Ausgangspunkt befindet sich also – ganz dem »kritischen« Unternehmen gemäß – in der gemeinsamen Mitte von empiristischen und rationalistischen Begründungsmustern der Moralität und kann sich zur Lösung von konkreten Problemen je nach Hinsicht aus dem »Werkzeugkasten« sowohl der skeptischen als auch der dogmatischen (vgl. Korsgaard 1997, S. 297 f.) Tradition sowie der Kantischen Tugendethik bedienen. Die Vorteile, die aus dieser Mittelstellung entspringen, sind insbesondere für die Moralbegründung einschlägig: Zwar argumentiert 121 Wie oben bereits angedeutet, bestreiten Hussain & Shah (2006, Bd. 1) a) die Zugehörigkeit dieser Argumentationen zur Metaethik, b) die korrekte Aufarbeitung des Realismus (»She fails to distinguish […]«, S. 289) und c) den Zugewinn für die Debatte. Dass Larmore (2012) zu der erstaunlichen Hypothese kommt, Vernunft könne unter diesen zweifelhaften Umständen nicht alleine das Vermögen der Prinzipien genannt werden – auch, dass Vernunft im Zuge der Reflexion das kritische Element als Vermögensprinzip annehme – und bedürfe zusätzlich eines normativen Vermögens, das es uns ermöglicht zu urteilen (vgl. ebd., S. 22), setzt zugleich ungenannt voraus, dass er selbst »Vernunft« bereits aus ihren theoretischen und praktischen Arbeitsfeldern zusammensetzt. Korsgaard erarbeitet jedoch gegen beide Einwände m. E. äußerst filigran, wie sie die Normativität in den intentionalen, zwecksetzenden Bereich hineinnimmt. Bei Larmore baut die Möglichkeit einer Art »Denkakttheorie« auf der Tätigkeit des Schließens auf (vgl. ebd.) und er spricht der Vernunft ein rezeptives Moment zur Aufnahme der Materie zu (vgl. ebd., S. 23). Wenn Larmore nun die Selbstgesetzgebung als rein formale und neutrale Struktur beibehält, vernachlässigt er es an dieser Stelle, den Schluss auf die Rezeptivität des Schließens seinerseits als transzendentale Folgerung auszuzeichnen. In eben dieser Reflexion liegt daher die besondere Leistung Korsgaards, die damit tatsächlich aus den Parametern »Metaethik« und »Metaethischer Realismus« herausfällt.

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Transzendentalphilosophie: Christine Korsgaards »Konstruktivismus«

Korsgaard tatsächlich »konstitutionistisch«, denn sie nutzt ganz ausdrücklich die Erklärungskraft des Vernunftansatzes (positiv) und konstatiert damit eine synthetisierende Kraft des Selbstbewusstseins, um den Regress von Begründungen in einer höchsten Evidenz aufgehen zu lassen. Man kann ihr aber trotzdem nicht vorwerfen, sie arbeite mit metaphysischen Dichotomien (Leib-Seele, Vernunft-Neigung usw.), denn sie setzt die kritische Methode ein, um (negativ) die Vermeidungsleistungen der Kritik gegenüber unplausiblen Annahmen und Antagonismen zu nutzen. Die Bestimmung einer vollständigen Konstitution der Moralität, wie sie m. E. von Korsgaard angestrebt wird, bedeutet also nicht, dass zugleich auch eine Substanzannahme (Seele, Selbst, Ego …) als Ausgangspunkt gesetzt werden müsste. Eben weil Korsgaard diese metaphysisch-realistische Fundierung ausspart, lässt sich ihre Position in den formal-konstruktivistischen Teil der praktischen Philosophie einordnen. 122 Damit kann die Vernunft sich selbst als Vermögen erschließen, ohne eine substantielle Seinsweise bestimmen zu müssen. Der Beleg der Autonomie eines vernünftigen Denkens kann also nicht aus Beliebigkeit einer dogmatischen Setzung heraus geführt werden, sondern bestätigt sich auf dem »Umweg« einer transzendentalen Kritik: Wenn Vernunft als das Vermögen der Kritik (des Prüfens und des Schließens) 122 Für die Moralpsychologie Korsgaards gibt diese Rückführung auf »Vermögen« des Bewusstseins auch Aufschluss darüber, wie der Akteur einer moralischen Handlung zu verstehen ist: Überspitzt dargestellt wird die rationale Leistung von den Kritikern meist auf eine Selbst-Substanz zurückgeführt, eine Art »Homunkulus« im Inneren des Akteurs. Doch die kritische Philosophie steht den wissenschaftlichen Forschungsprogrammen wesentlich näher, als dies bislang vermutet wurde, denn sie arbeitet zwar mit einer »agent centered moral« (vgl. Korsgaard 1997, S. 316), nicht aber mit einer personalen Substanz des Selbst. Um das Erleben des Bewusstseins als Ego mit den fachwissenschaftlichen Gegenständen in Einklang zu bringen, nutzt Korsgaard eine Parallele zur analytischen Philosophie, nämlich den Rückgriff auf Ludwig Wittgensteins »Philosophische Untersuchungen« (vgl. Pauer-Studer (2000, S. 42) und zur Interpretation von »Korsgaard’s Private-Reason Argument« Gert (2002, S. 306)). Das »universal law« kann dabei aus der Vernunft-Autonomie abgeleitet werden (vgl. Korsgaard 2008, S. 66). In einer neuen Version werden allerdings zwei Aspekte dieser Ansicht revidiert: »First, the instrumental principle is not a principle of practical reason that is separable from the categorical imperative: rather, it picks out an aspect of the categorical imperative: the fact that the laws of our will must be practical laws, laws that constitute us as agents by rendering us efficacious. Second, the categorical imperative is not a principle of practical reason that tells us to have certain ends, and that is separable from the principle that tells us to take the means to those ends.« (ebd., S. 68).

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Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

definiert wird, kann der diese Aussage Prüfende nicht sinnvoll leugnen, ein vernünftiges Wesen zu sein (»Faktum der Vernunft«). 123 Die Selbstsetzung der Vernunft berücksichtigt sowohl die Perspektive des Erlebens als auch die nachträgliche (erlebende) Reflexion derselben. In dem daraus hergeleiteten konstruktivistischen Konzept setzt Korsgaard folgerichtig auf die interne handlungskonstituierende Selbstkontrolle, die – im Gegensatz zu externen wertstiftenden Kriterien eines substantiellen Realismus – 124 auf einer selbstbestätigenden Begründungsfigur aufbaut. Dabei werden der Form nach beide Pole der Relationalität (Subjekt und Objekt) von der Vernunft »gebildet«: In dieser Reflexion denkt Vernunft über Vernunft nach, und im bewussten Erleben »bin« stets »ich« es, der gerade dem Denken nachdenkt. 125 Korsgaard schreibt den hieraus entstehenden verbindlichen Standards eine Zweiwertigkeit (»double nature«) zu, die simultan deskriptive (theoretisierende) und normative (erlebende) Elemente rechtfertigen kann. Auf diese Weise erhalten alle Prinzipien einen solchen doppelten Status, sobald sie ihre formale Kontrollfunktion über die Welt- und Wertkonzepte ausüben. Auch die Begründung der Übergangsmöglichkeiten von deskriptiver und normativer Ethik speist sich daher aus der Einheit der Vernunft. Im Rahmen der Verbindlichkeit qua Synthesis können folglich auch konkrete Wertvorstellungen und moralische Entscheidungen ausschließlich durch die Vernunft generiert und verglichen werden (vgl. Korsgaard 1996b, S. IX: »rational choice«). 126 Im Vergleich zur Passivität der menschlichen Natur in realistischen oder empiristischen Systematisierungen 123 Er kann nur leugnen, dass es ein materielles oder biologisches Vermögen »Vernunft« gibt. Neuere radikal-(neuro-)konstruktivistische Anläufe, einen objektiv-phänomenologischen Zugang zum Erleben aufzubauen, unterliegen demnach dem von Gilbert Ryle (2009) so vehement angeklagten Kategorienfehler, und Korsgaard schätzt entsprechend die Leistungen der Moralpsychologie ein (vgl. Korsgaard 2008, S. 77). Für einen einschlägigen Überblick über solche Vergleiche vgl. Tewes (2007). 124 Zur Debatte um Internalismus vs. Externalismus, vgl. Korsgaard (2008, S. 27 FN 1) mit Anmerkungen zu ihrer Einschätzung von Bernard Williams’ Argumenten; vgl. auch Korsgaard (1996b, S. 43 f.). 125 Auf diesem Weg weist Korsgaard einige Kritikpunkte aus der angelsächsischen Philosophie unter Bezugnahme auf eine blinde Akzeptanz von »Hume’s dilemma« zurück (vgl. Korsgaard 1996b, S. 67). 126 Dieses konstituierende Vermögen führt in Korsgaards gesamtem Konzept die Funktion der Selbstkontrolle aus, indem es sich selbst als Ausgangspunkt der Prinzipienbildung bestimmt.

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Transzendentalphilosophie: Christine Korsgaards »Konstruktivismus«

wird von Kantianern also die aktive Rolle der »Humanity« akzentuiert (vgl. ebd., S. 363 f.). Anders allerdings als Paul Guyer et al. setzt Korsgaard die »absoluten« Werte der Humanity nicht über die Vernunft, sondern deduziert sie ebenfalls aus dem Vermögen der Prinzipien. 127 Werte, Normen und Präferenzen sind nach Korsgaard als relationale Zwecksetzungen des vernünftigen Denkens zu verstehen und lassen sich in Analogie zu den Hypothetischen Imperativen Kants in der GMS auslegen: Die Analyse des Konstituierungsvorgangs greift dazu den formalen Anteil der genannten Zweckbildungen auf. Das menschliche Wollen der Zwecke ist in gleicher Weise empfänglich für Bestimmungen durch die Vernunft wie auch durch die anderen »Vermögen« (Einbildungskraft, Gefühl …). Der Wille übersetzt die Resultante der unterschiedlichen Willensimpulse in eine kausale (Ein-)Wirkung auf die Sachverhalte der Welt (Handlung). Die tatsächliche Wirkung des Willens hängt also entscheidend von den Zuständen der Eingabeparameter ab und eine moralische Bewertung derselben liegt einzig und allein in der Regulierung der Gründe des Wollenden. Im intentionalen Wollen bleibt die formale Struktur der Mittel-Zweck-Setzungen konstant. 128 In direkter AnleVgl. dazu Ludwig (2012, S. 162). Zur Definition des Konstitutiven (vgl. Korsgaard 2009, S. 69): Ich denke, dass die Leistung der Synthese eine zweifache Wirkkraft der Vernunft erkennen lässt: a) Die Erkenntnis der Synthese ist selbst eine Synthese (Faktum der Vernunft), b) aber die Geltung der Synthese als Forderung macht aus der epistemologischen Verbindung (Synthese) zugleich auch eine normative Verbindlichkeit im Sinne einer universalen Nachvollziehbarkeit von Urteilen. Susan Neiman (1997, S. 135) erwidert, dass keine Erkenntnis aus der praktischen Vernunft abgeleitet werden könne. Ich behaupte hingegen, dass die Moral in GMS und KpV eine Anwendung eben der Kategorien des Verstandes und der Schlussformen der Vernunft erfährt. Praktische Vernunft ist m. E. eine Anwendung der theoretischen Vernunft auf ein anderes Vermögen – ist dieses rein (der reine Wille), dürfte darin nur eine Widerspiegelung des bestimmenden Organs (Vernunft) erkannt werden. Am Ende muss die Frage beantwortet sein, ob dieser Gedankengang transzendentale Beweiskraft besitzt oder nicht (vgl. ebd., S. 139); in FN 55 pflichtet Neiman Korsgaard aber bei: Die KpV bilde keine ontologischen Schlüsse, aber Korsgaard lasse offen, warum praktische Vernunft (»practical reason«) überhaupt als »reason« angesehen werden sollte. »Without an account of the regulative nature of theoretical reason, the self-supporting, coherentist justification of reason as a whole is lost, leaving practical reason on shakier, more isolated ground than is necessary.« (Ebd., S. 143 FN 55) Neiman weist auf einen wichtigen Gedanken hin: Die Untersuchung der praktischen Vernunft wird kritisch, und d. h. theoretisch, durchgeführt. Doch was Neiman (zumindest an dieser Stelle) unterschlägt, sind das Primat der praktischen Vernunft, die Grenzen der spekulativen Vernunft und die normativen Geltungsansprüche der Schlüsse der Vernunft insgesamt. 127 128

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hung an Kant unterteilt Korsgaard die Hypothetischen Imperative in zwei Gruppen von Zweckbeschreibungen: in »Regeln der Geschicklichkeit« und in »Ratschläge der Klugheit«. 129 Die Zwecksetzungen erfolgen dementsprechend nach bestimmten kombinatorischen Mustern: Die Vorstellung einer möglichen Handlungsfolge, die absehbar aus der Verursachung (Tat) 130 des Willens resultieren wird, führt zur Verbindung des Gefühls mit der Vorstellung des – in der Vorstellung – zu erreichenden Zwecks. 131 Ob und inwiefern eine Handlung dabei verbindlich ist, entspricht laut Korsgaard (in Anlehung an Scanlon) der Frage, inwiefern eine Handlung durch Gründe zu rechtfertigen sei. Auch der »Raum der Gründe« findet also bei Korsgaard einen Platz, indem er den öffentlichen Charakter der Absicht bildet, die man »moralisch« zur bloßen Tätigkeit (zur Ausführung der Handlung) hinzufügen kann. Rechtfertigungen sind gut, wenn andere sie nicht »vernünftig« zurückweisen können. Korsgaard diskutiert diesen Raum der Gründe als »agent neutral aspect« (Korsgaard 1996a, S. 222) unter Vermeidung eines Bruchs zwischen »privaten« und »öffentlichen« moralischen Argumenten: Je größer der kognitive Anteil an der Regulierung einer Handlung ist, desto besser kann die ErstePerson-Perspektive von anderen Personen nachvollzogen werden 129 Diese Kantinterpretation wird mehrfach von Korsgaard bemüht: Insbesondere die Ratschläge der Klugheit als »formale« pragmatische Imperative werden daher auch für meine Ausdehnung der Argumentation auf den Utilitarismus und Pragmatismus eine entscheidende Rolle spielen. 130 Durch eine leichte Abänderung von Korsgaards Unterscheidung zwischen »act« und »action« (vgl. Korsgaard 2009) kann über ihre Deutung der Funktionsweise des Kategorischen Imperativs und Sittengesetzes hinausgegangen werden: Aus dem Status von Prinzipien (subjektiv oder objektiv, vgl. ebd., S. 73) kann für die Handlung – oder die Zuschreibung der Möglichkeit einer Handlung in Zukunft – ein konstitutiver Akt erschlossen werden, der aus der Selbstbestimmung die Möglichkeit einer Willensbestimmung eröffnet (vgl. ebd., S. 79: act). Im Interview mit Herlinde Pauer-Studer differenziert Korsgaard (vgl. Korsgaard 2000, S. 41 f.) entsprechend zwischen Handlungsweise (action) und Handlung (act), während es aus dem Kantischen Sprachgebrauch hervorgehend auch möglich wäre, »Handlung« für »action« und »Tat« für »act« zu assoziieren (vgl. RGV: erste und zweite Tat). 131 Ein Zweck ist schon bei Kant, spätestens aber bei Hegel zweiwertig, nämlich in der Verbindung der beiden »Enden«: der Handlungsabsicht und der Zielvorstellung. Ich konzentriere mich also zunächst auf die positiven Anschlussmöglichkeiten für die Handlungstheorie: Es entsteht durch diese Grade an Normativitätsstiftung ein großes Interesse an Korsgaards Differenzierung von Handlungstypen: Je nachdem, wie groß der Einfluss der Vernunftprinzipien auf die Handlung ist, desto »genuiner« ist sie als menschliche und personale Handlung überhaupt erst zu verstehen (vgl. Korsgaard 2000, S. 45).

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(Unparteilichkeit). 132 Wodurch kann aber eine moralische Entscheidung überhaupt als solche nachvollzogen werden? Die Verbindlichkeit qua Moralität muss nach Korsgaard in den bei allen vernünftigen Wesen konstanten Bestandteilen einer Handlungsweise vorausgesetzt werden, während die konkrete Intention der Handlung je nach Kontextualität variiert. Da der situative Anteil eines Willensimpulses für den Akteur einzigartig ist, muss also die Form der Normativität auf ihre Gültigkeit hin untersucht werden. 133 Folglich gehören auch in dieser Variante des Kantianismus die Auswertungen von partikularen Ausgestaltungen und Ausgestaltungsmöglichkeiten der Normen in die Soziologie oder (wie Korsgaard eigens betont) in die Moralpsychologie. 134, 135 Korsgaard argumentiert insgesamt gegen jede Art der sog. Fassadentheorie, nach der die Moral nur eine dünne Haut über einer ansonsten amoralischen und eigennützigen menschlichen Natur darstelle (vgl. Korsgaard 2008, S. 116). 136 132 Bspw. Strawson (1962) präsupponiert Wohlwollen als Grundsituation und ergänzt eine angemessene Reaktion gegenüber (gezielten) Übertritten anderer (je mehr Kenntnis der Täter hatte, desto größer wird unsere »Emotion« bzgl. der Unschicklichkeit der Handlung). 133 Korsgaard nutzt die Universalisierung zunächst im Sinne einer »Generalisierung« (als Verallgemeinerung im Verhältnis zur Universalität, vgl. Korsgaard 2009, S. 73 f.) und diskutiert anschließend drei Auslegungsmöglichkeiten des Denk- und des Wollenswiderspruchs bei Kant (vgl. ebd., S. 78). Dass Korsgaard den praktischen Widerspruch für die Moral bevorzugt, ist nicht notwendig auch die wirkmächtigste Interpretation für den Fall, den ich unten annehme, dass sich in der GMS alles um die Erkenntnis der Bedingungen der Möglichkeit von Moralität dreht. Der Vorteil, den ich aus Korsgaards Sichtweise übernehmen möchte, ist die Integration der materialen Ebene von Kants Argumentation in die Moralpsychologie (vgl. ebd., S. 46 ff.). 134 Schaut man auf den moralischen Anspruch einer Handlung, so sind die Einschätzungen zuerst noch abweichend von moralpsychologischen Erhebungen: »I argue that reasons have an essentially reflexive structure not captured by either of these accounts. The person who acts for a reason must be motivated by certain facts about the action, but he must at the same time be motivated by the awareness that these facts constitute a reason.« (Korsgaard 2008, S. 20) Achtung tritt daher als Triebfeder auf, die durch die Vorstellung des Gesetzes statt eines materialen Zwecks notwendig (vgl. dritter Satz zur Bestimmung der Pflicht, GMS 04: 400 f.) wirkt. Der Wille ist in diesem Fall durch Gesetz und Gefühl für die Vorstellung des Gesetzes vollständig bestimmt. 135 Melioristische Konzepte hingegen fordern eine strenge Arbeit an der Charakterbildung und machen die Verbindlichkeit zur Voraussetzung von Pädagogik und Politik. Diesen Zusatz entgegnet Korsgaard etwa den Vorwürfen von Bernard Williams (1981, S. 27). 136 Dieses Argument befindet sich explizit in einem Sammelband zur Erörterung von Frans de Waals Hypothesen über die Entwicklung der Moral des Menschen. Das Prin-

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Für Korsgaard steht fest: Moral (Verbindlichkeit) ist das Zentrum des menschlichen Wesens. Das Faktum des Ersten-PersonBewusstseins aller selbstbewusst handelnden Lebewesen bildet eine stabile und unhintergehbare Voraussetzung für die Moral. Dabei zip des Egoismus wird vielfach als rationales Konzept des Internalismus aufgefasst, doch sehen sowohl die Utilitaristen als auch Kant darin ein rivalisierendes Prinzip der moralischen Normativität – dies wird von Korsgaard für verschiedene Formen des Egoismus (instrumenteller, psychologischer Egoismus …) richtiggestellt (vgl. ebd., S. 71 ff.). Während z. B. Henry Sidgwick ohne abschließende Lösung bei einem Dualismus von rationalem Egoismus und rationalem Wohlwollen (benevolence) verbleibt, was bekanntlich von Elizabeth Anscombe als Beginn des »Konsequentialismus« gehandelt wird, geht Korsgaard zur Hierarchisierung der moralischen Dimensionen auf die Klugheitsprinzipien ein (vgl. ebd., S. 78; Ratschläge der Klugheit). Durch Kants Argumentation in GMS lässt sich dieses Vorgehen rechtfertigen: Das Prinzip, aus Selbstsucht zu handeln, ist zwar stets leicht zu rechtfertigen, bildet aber nach Kant keinen moralischen Imperativ, denn ein solcher ist aus pflichtmäßigem Handeln subtrahiert, bei dem Neigungen oder andere Vorstellungen vom Zielzustand der Handlung vorliegen können; anders ausgedrückt: das Beispiel des Krämers in GMS zeigt einen pflichtmäßigen Handlungsablauf und kann doch als mittelbares Prinzip enttarnt werden, bei dem weder eine unmittelbare Neigung oder Manipulation vorliegt, noch aus Pflicht gehandelt wird, sondern eine strategische Abwägung stattfindet, die auf lange Sicht hin dem eigenen Vorteil des Krämers dient. Diese Konstellation hat offensichtlich nichts mit Moralität zu tun; die Hypothetischen Imperative stellen nach Kant also den konstituierenden Anteil eines pflichtmäßigen Handelns dar. Auch Korsgaard geht dem Hypothetischen Imperativ in seiner Geltung nach, freilich aber, um dem Vorurteil entgegenzuwirken, der Egoismus könne ein instrumentales Prinzip der Moral sein (vgl. ebd., S. 88), wo es sich lediglich um einen dogmatischen rationalen Zug handele, der nach subjektivem Dafürhalten (also auch nicht aus einem Bedürfnis heraus) nur zufällig die Normativität der Vernunft treffen könne (vgl. ebd., S. 86 u. S. 91). Instrumentalismus verpflichtet in moralischen Fragen durch die MittelZweck-Relation (das Wollen) also auch »den Egoisten« zur Unparteilichkeit, da eine (rationale) Wahl von Vorstellungen als Zwecksetzungen vorausgesetzt werden muss, um etwas zu wollen (Interesse). Dass Korsgaard die Ausprägung der Interessen zu Präferenzen ablehnt (ebd., S. 75), liegt entsprechend an der komparativen Konnotation des Begriffs (etwas einem anderen vorziehen/präferieren), der die Zwecksetzung erst nach der Deliberation anzunehmen scheint. Das Normative ist also in jeder Moralphilosophie streng vom Apodiktischen zu trennen; wenn wir (kausal oder logisch) determiniert wären, gäbe es im Sachverhalt keine Normativität, keinen Imperativ und keinen Ratschlag der Klugheit – Vernunft hätte keine Wirkkraft (vgl. ebd., S. 100 zum sog. Combat Model Humes, dem sie das »Constitutional Model« entgegensetzt). In Korsgaards transzendentalem Gedankengang mündet die Begründung der Quellen der Normativität in einer Selbstbestimmung (vgl. Korsgaard 1996a, S. 26): Weil wir als Menschen handeln müssen, sind die Prinzipen der praktischen Vernunft normativ für uns. Diese Überzeugung führt selbstverständlich erneut zur Zurückweisung des o. g. »Fassadenansatzes« (vgl. Korsgaard 2008, S. 117 – dort findet sich auch eine Stellungnahme zur naturalistischen Ethik, respektive der evolutionären Psychologie).

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nehmen nach Korsgaard menschliche Personen durch die Selbstbestimmung 137 einen herausragenden Status ein, der sie aber gleichsam auch zur Autonomie verpflichtet. 138 Dass der Kategorische Imperativ der Sittlichkeit per definitionem (kategorisch = unbedingt) seine Verbindlichkeit nicht aus der Vorstellung eines konkreten Zwecks erhalten kann, sondern umgekehrt zur moralischen Wertsetzung der Zwecke befähigt, wird in der transzendentalen Argumentation performativ belegt. Die Vernunft leitet den Imperativ aus dem Verhältnis von Moralität und Freiheit, im legendär gewordenen Wechselspiel von ratio essendi und ratio cognoscendi (KpV, AA 05: 4.7–10 FN), ab: Obwohl ich keine Erkenntnis über die Freiheit hervorbringen kann, muss ich mich selbst als freies Wesen verstehen, wenn ich mich denn als moralisches Wesen begreife. Freiheit ist damit die notwendige Voraussetzung für Moralität, Moralität ein hinreichendes Kriterium für die Freiheit. Es ist diese Besinnung auf die universale Struktur der formalen Moralität, die in den Aufgabenbereich der Philosophie fällt. Korsgaard gestaltet mit dieser »Architektonik« eine Synthese von gemeinhin konkurrierenden Moralkonzepten und stärkt auf diesem Weg die Vernunft als Grundlage der Moral. In GMS konnte Kant bereits deutlich machen, dass für die »sympathy« und den Rollentausch ein Prinzip der Einbildungskraft (nicht eines der Vernunft) auf die Zwecksetzung der Glückseligkeit anderer Menschen abzielt. 137 Vgl. ebd., S. 130: Die Quelle der Vernunft ist die Form des Selbstbewusstseins (mit Differenz zur Intelligenz), die ein Bewusstsein von den Gründen der eigenen Überzeugung und Handlungen ermöglicht. Der Maßstab der Moralität, wenn man ihre Form als strukturelle, universale Verbindlichkeit verstehen will – und was bleibt mir als Vernunftwesen anderes übrig? –, kann daher auf allen moralphilosophischen Ebenen nur die formgebende Komponente der Normativität sein. Im konkreten Fall liegt also eine material verwässerte, subjektive Maxime vor, wo auf universaler Ebene von der Vernunft und dem Willen als Vermögen die Rede ist. Im Resultat der vollständigen Willensbestimmung liegt aber stets ein Gemenge an Impulsen vor: ein Sollen (Nötigung der Vernunft über Gebote, deren Formeln als Imperative sprachlich ausgedrückt werden können), pragmatische und technische Zwecksetzungen, Temperamente und andere Triebfedern wie Neigungen, Affekte, Leidenschaften etc. 138 Vgl. ebd., S. 122 u. S. 127 gegen eine eingleisige Entwicklung der (evolutionären) Phylogenese: Gefühle und Neigungen können im Alltag selbstverständlich nie aus der Willensbildung ausgeschlossen werden, aber sie können (vernünftig) kultiviert werden. Wollte man also die Grade von Impulsivität an Handlungen untersuchen, müsste man sich auf den evolutionsbiologischen Bereich konzentrieren (vgl. Korsgaard 2009, S. 18). Das »Ich tue« und das »Ich denke« wirken funktional (vgl. ebd., S. 28) je auf der Ebene der konkreten Partikularität, wodurch Korsgaard einige (von Hegel inspirierte?) Einwände entkräften kann.

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Durch diese Unterscheidung von Moralität und Empathie kann Korsgaard aber nun Bezüge zu den moralphilosophischen Ansätzen von Hume und Smith aufbauen, ohne die transzendentale Argumentation zu schwächen. Besonders eindrucksvoll verteidigt sie mit Hinweis auf das Function Argument der Nikomachischen Ethik die Nähe der Platonischen, Aristotelischen und Kantischen Vermögens- und Formbegriffe (vgl. Korsgaard 2009, S. 15 f., S. 60 FN 53 u. S. 117 ff.), da die Entfaltung der typisch menschlichen Dispositionen zur Bedingung der Möglichkeit von Glückseligkeit erhoben wird. 139 Die Parallele vor allem zwischen Kant und Aristoteles besteht für Korsgaard also offensichtlich in der dem Menschen eigenen Funktion des Denkens, das in seiner höchsten Form als Nous, in seiner materialen Manifestation aber zugleich als Phronesis (Klugheit) und langfristig als Gestaltungsorgan der Hexeis im Sinne einer Tugendethik herangezogen wird (vgl. Korsgaard 2008, S. 17). Vernunft kann sich folglich praktisch niederschlagen (vgl. ebd., S. 174) und sie macht auf diesem Weg einen Unterschied in den Einstellungen, den Haltungen und der Lebensführung. Rückwirkend kann über die Wirklichkeit von Tugenden also entsprechend auf die Selbstbestimmung eines Individuums geschlossen werden. Die auf diesem Weg gestaltete Anschlussfähigkeit an den von Aristoteles geprägten Begriff der »zweiten Natur« des Menschen versetzt Korsgaard in eine zentrale verbindende Rolle für die aktuellen Diskurse der Moralphilosophie insgesamt: »The implication for rational beings is that the development of rationality requires the acquisition of a second nature – a set of emotional responses and an accompanying normative view of the world that conforms the demands of reason.« (Korsgaard 2008, S. 19) Der gesamte Organismus bildet sich und dabei seine (soziale) Umwelt im Prozess der Selbstkultivierung durch Leitprinzipien. 140 Diese Dynamik im Wechselspiel des Individuums mit den externen Bedingungen gefährdet also keineswegs die formale Seite der kritischen Philosophie, vielmehr bestätigt sie nach Korsgaard sogar die formale Moralkonzeption auf der Ebene des Selbstverständnisses vernünftiger Wesen. Die Form der Vernunft strukturiert eine jede Willensbestimmung als ein »Wol139 Vgl. dazu Schmidt & Tarkian (2011, S. 8). Vgl. außerdem Barandalla & Ridge (2011, S. 377 u. S. 379) mit Analysen zu Korsgaards Antwort. 140 Vgl. Ginsborg (1998, S. 6) zur Diskussion des »non-moralischen« Teils in Korsgaards »The Sources of Normativity«.

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len von etwas« und kombiniert dadurch die Grundvermögen der Gefühle und der Vernunft im Begehrungsvermögen. First of all, we must establish that the domain over which the universal law ranges must be rational being as such: that is to say, when you will your maxim as a universal law, you must will it as a law for every rational being. And second, we must establish that the reasons embodied in universal maxims must be understood as public, or shareable reasons: reasons that have normative force for all rational beings. (Korsgaard 2008, S. 80)

Korsgaard passt Kants praktische Philosophie an neue Herausforderungen an und deutet damit die Reichweite der Transzendentalphilosophie für die Beschreibung der lebensweltlichen Handlungsweisen an. Kant either didn’t see that these points still need to be established, or he didn’t see that he needed to make it clear that they already have been established, and that is why Kant thought that his argument proved more than it does—or than it obviously does. But it also proves more than he thought. For if I have interpreted it correctly, Kant’s conclusion should not just be about what we must do insofar as we have free wills. The argument identifies the categorial imperative as a constitutive principle of volition, so it is about what we must do insofar as we act at all. (ebd.)

Wie ich im ersten Kapitel zeigen konnte, verschwimmen die Konturen der Metaethik in den Synergien der Fachwissenschaften Psychologie, Kognitionswissenschaften und Linguistik. Diese wissenschaftlichen Leistungen sind für das »konstruktivistische« Konzept direkt anschlussfähig (vgl. Korsgaard 2008, Kap. 1.3). Umgekehrt wahrt Korsgaard die moralphilosophische Reflexion, indem sie entscheidende Fragen formuliert: Können die wissenschaftlichen Experimente nach den Strukturen der Normativität suchen, ohne zuvor ihre eigene normative Basis geklärt zu haben? Kann sich der Forscher als Beobachter aus den perspektivischen Beschreibungen selbst eliminieren, um plausible Hypothesen für die Moralpsychologie zu gewinnen? Die transzendentale Forschung beginnt ihre Untersuchung: »When we think of the subject this way, we will not be inclined to think that there is a difference between doing ›meta-ethics‹ and doing ›normative‹ or practical ethics. The attempt to specify the meaning and reference of an ethical concept will point fairly directly to practical ramification.« (Korsgaard 2008, S. 322 FN 44) Wie Guyer (2013, S. 179) betont, erkaufe aber auch Korsgaard diesen konstruktivistischen Schritt über Rawls hinaus mit einem schwerwiegenden Ver111 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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lust: Die Bezugnahme auf die formale Methode des transzendentalen Idealismus, nämlich auf die transzendentale Kritik, trete leider hinter das System der Transzendentalphilosophie zurück. 141 Aus meiner Sicht schafft es Korsgaard durchaus, die zentrale Stellung der Autonomie in der Moralphilosophie erneut zu betonen; und daran anknüpfend entwickelt sie auch eine Systematik der Vermögen und moralischen Prinzipien, die von der Moralbegründung bis in die Angewandte Ethik sowie in die deskriptive Ethik hinein wirksam sind. Was ich an diesem Konzept in den folgenden beiden Abschnitten jedoch noch klarer herausarbeiten möchte, ist die eminente Bedeutung des performativen kritischen Denkens und seine Rückwirkung sowohl auf die Bestimmung der transzendentalen Apperzeption als auch auf die »pragmatische« Bewegung der Moralphilosophie (vgl. o.: Abb. 1, S. 12).

2.2 Transzendentale Kritik: Immanuel Kants transzendentaler Idealismus Die Moralphilosophie von Christine Korsgaard bietet ein komplettes transzendentalphilosophisches System an, das trotz seines enormen Abstraktionsgrades anschlussfähig für empirische wissenschaftliche Forschungsprojekte in Moralpsychologie und -soziologie sowie für Übergänge in die Tugendethik und in lebensweltliche Entscheidungen einer Angewandten Ethik bleiben möchte. Ich denke, dass Korsgaard damit die entscheidenden Hinweise zur Öffnung der Transzendentalphilosophie für die aktuellen Probleme der Moralphilosophie gegeben hat. Sie konnte dabei auf Wege zurückgreifen, die in Kants kritischer und anthropologischer Theorie möglicherweise schon angelegt waren. »If we wish to translate Kant’s pure moral philosophy into something more practical, that is, if we wish to do moral psychology of the Kantian sort or apply his pure moral philosophy, we should pay heed to what Kant says about character and therefore also to his lectures on anthropology.« (Kuehn 2013, S. 25) Die Form des Denkens, die alle Bereiche der Kantischen Philosophie durchzieht und sozusagen ein Kontinuum des Kantischen Werks ab 1781 bildet, ist die (transzendentale) Kritik. Ich möchte diese me141 Dies stimmt allerdings nicht mehr mit der Interpretation Guyers (ebd., S. 188 u. S. 197) überein.

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thodische Grundlage nutzen, um die Anordnung der Systemmomente Korsgaards ein wenig zu variieren und somit unten auch kurz auf den Stellenwert der transzendentalen Apperzeption zu sprechen zu kommen: Wenn die Vernunft bei Korsgaard das umfassende (inkludierende) und in Handlungen verkörperte Systemmoment der Moralität ausmacht, so möchte ich eine »inversive« Interpretation des kritischen Denkens vorschlagen, die den Bezugspunkt des Lebensgefühls und des Daseins als abstrahierende Tiefendimension im Rahmen der transzendentalen Bewegung der Moralphilosophie erscheinen lässt. Diese minimale Verschiebung im Übergang von Kants Daseinsbeschreibung zur Rolle des Kategorischen Imperativs hat m. E. mindestens zwei Auswirkungen auf die praktische Transzendentalphilosophie: 1. Das »Dasein« wird den Diskussionen um Substanz und Essenz des Selbst noch einmal ausdrücklicher entzogen. Ich verspreche mir davon eine nähere Anbindung an die analytische Philosophie, respektive einen kontinuierlichen Übergang zwischen Transzendentalphilosophie, Daseinsanalytik und phänomenologischer Variation des transzendentalen Ego. 2. Korsgaards Absage an den ethischen »Konsequentialismus« kann vielleicht noch einmal revidiert werden: Möglicherweise lässt sich der Utilitarismus doch noch mit Kants MdS in Einklang bringen. Für die langfristige Perspektive in dieser Arbeit wird damit ein tragender Gedankengang eröffnet: Wenn der Utilitarismus (als Transzendentalphilosophie) mit Kants transzendentaler Methode vereinbar ist und wenn weiterhin die Einschätzung einiger Moralpsychologen korrekt ist, der Utilitarismus könne genauso gut als Deep Pragmatism beschrieben werden (vgl. Greene 2013), dann müssten der Pragmatismus und Kants Moralphilosophie in der Ethik ebenfalls gemeinsame Argumentationsmuster aufweisen. Die Dialektik der metaethischen Positionen lässt sich dementsprechend vermeiden, 142 wenn durch die transzendentale und die pragmatische Bewegung im Rahmen einer kontinuierlichen pragmatistischen Methodologie exakt angezeigt werden kann, in welcher Hinsicht eine moralphilosophische Aussage getätigt wird. Die transzendentale Kri142 Damit setze ich wie Ullrich (2008, S. 8) auf eine saubere Methodologie, die den »Scheinproblemen« (ebd., S. 77 u. S. 153: »Es liegt kein echter Widerspruch vor […].«) der – den Gesamtkonzepten geschuldeten –Doppeldeutigkeit einiger Grundbegriffe nachgeht (bspw. »deskriptive« und »normative« Moral, vgl. ebd., S. 10 u. S. 83 mit dem Hinweis auf Korsgaards Kritik an der »Voraussetzung eines ›tertium non datur‹«).

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tik Kants stiftet als Nachweis dieser Anzeigefunktion eine epistemologische Grundlage für alle philosophischen Fragen, die im Kern mit der bewussten Leistungsfähigkeit der individuellen Vernunft in Relation stehen. Obwohl dieses konstituierende Moment des Selbstbewusstseins einen transzendentalen Idealismus (eine unhintergehbare Relationalität) als Arbeitsfläche entfaltet, wird der empirische Realismus als einzige pragmatische Möglichkeit für wissenschaftliche Erkenntnisbildung (synthetische Urteile a posteriori) stets beibehalten. 143 Zusätzlich werden bei Kant folgende Erkenntnisurteile in der Architektonik der (Moral-)Philosophie zugelassen: Eine das bisherige Wissen erweiternde Erkenntnis – im Vergleich zu bloßen Begrifflichkeitserläuterungen (analytische Urteile des Denkens) – gilt als synthetisches Urteil und wird nach erfahrungsbasierenden (aposteriorischen) und selbstbezüglichen (apriorischen, von der Erfahrung unbedingten, aber nicht völlig unabhängigen) Urteilen unterschieden. Um die Einbindung des Menschen in Natur und Sozietät verorten zu können, ordnet Kant sowohl die Bereiche der Selbsterkenntnis als auch die Reichweiten ihrer praktischen Implikationen im Sinne einer triadischen Vermögensanthropologie an, die durch eine kritische (prüfende) Selbsterforschung entsteht. Kant untersucht unter Rückgriff auf Johannes Nikolaus Tetens’ Nomenklatur, Georg Friedrich Meiers analytische Struktur und Alexander Gottlieb Baumgartens »Vermögenslehre« – freilich in klarer methodologischer Abgrenzung zur psychologischen (Selbst-)Beobachtung – den triadischen Aufbau des Erkenntnis-, des Begehrungs- und des Gefühlsvermögens. 144 Der Vollzug der Untersuchung findet unter ausdrücklicher Nutzung des oberen Erkenntnisvermögens statt, um die transzendentalen Prinzipien einer jeden möglichen Erkenntnis, eines jeden möglichen voluntativen Akts und eines jeden möglichen Gefühls für die Urteilsbildung epistemologisch – für Philosophie wie 143 Aus der transzendentalen Kritik ergeben sich deutliche Grenzen für den Bereich der Erkenntnisbildung, die Erfahrungserkenntnis, analytische Erkenntnis und Erkenntnis eben dieser Erkenntnismöglichkeiten umfasst, zu denen simultan auch die Ausgrenzung (Limitation) des nicht zu ihnen Gehörenden (reines Denken, reines Anschauen, bloßes Fühlen …) zählt. 144 Vgl. Klemme (2016, S. 7 f. u. S. 18 f.) zu einem Überblick der Wolffschen Einflüsse, auch über Martin Knutzen, auf Kants »Philosophie des Subjekts« (ebd., S. 100 passim) und die Strukturen der Metaphysik (vgl. ebd., S. 16–24) etc. Reinhard Brandt (2008, S. 57) sieht in Kants Systematik sogar eine »vierstufige« Struktur angelegt.

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auch für wissenschaftliche Theorien – zu strukturieren. 145 Jedes urteilende vernünftige Wesen kann diese Strukturen in jedem Urteil als dessen Bedingungen der Möglichkeit überhaupt wiederfinden. 146 Brisant wird daher vor allem die Anwendung der Untersuchung auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis selbst. Mit jedem Urteil, das die kritische Philosophie über das Erkenntnisvermögen äußert, müssten die behaupteten Formen direkt bestätigt werden; wo dies nicht der Fall ist, können die Behauptungen der Kritik nicht korrekt sein. Diese Vorgehensweise wird als transzendentale Kritik bezeichnet und müsste in ihrem selbstbestätigenden Anspruch von jedem Lebewesen, das sich selbst diese Vermögen zuspricht, nachvollzogen werden können. Von welchen Vermögensstrukturen geht Kant also aus und lässt sich diese apriorische Annahme wirklich mit utilitaristischen und pragmatistischen Methoden vereinbaren? 147 Das Erkenntnisvermögen besteht – seiner eigenen Darstellung nach – aus den Teilbereichen Sinnlichkeit (äußere und innere Empfindung) 148, Einbildungskraft und Verstand. Der Verstand als Vermögen des Denkens wiederum unterteilt sich in die Produktion von Begriffen, von Urteilen und von Schlüssen. 149 Die jeweilig höhere 145 Die Wissenschaften sind dabei nicht von vornherein mit konkreten Ergebnissen versehen, sondern mit begrenzenden und limitierenden Möglichkeiten der Erfahrungsauswertung. Die Ideen der Vernunft schaffen folglich (lediglich) regulative Vorstellungen, die in der praktischen Anleitung besonders relevant sind, in wissenschaftlichen Arbeiten aber einen steten Fortschritt des menschlichen Forschens erhoffen lassen – »in the long run«, wie Peirce später in Aussicht stellen wird. 146 Frierson (2010) schafft es hervorragend, die moralischen Fragestellungen und ihre Grundlagen bei Kant (Freiheit und Autonomie) mit einer falliblen Anthropologie Kants zu verknüpfen (vgl. ebd., S. 165 f.). Er stellt sich dabei m. E. zu Recht gegen Robert Loudens These des »saved by impurity« (vgl. ebd.). 147 Natterer (2010) arbeitet die Forschungsliteratur zur Evolutionstheorie und in diesem Rahmen auch der Kantforschung anhand einer Sichtung des Sammelbandes von Lütterfelds (1987) auf. Nach Natterer kann das Apriori im Sinne der evolutionären Erkenntnistheorie in eine Weiterentwicklung der Vermögen (in einer kognitiven Nische, vgl. ebd., S. 18) integriert werden. Immerhin beschreibt Kant (vgl. KU, AA 05: 391 ff.) die Möglichkeiten der Evolutionstheorie transzendental (s. transzendentale Evolutionsheorie) und nimmt damit auch die Möglichkeit der Darwinschen Theorie vorweg. 148 Vgl. Moskopp (2014). 149 Auch der Verstand wird einer triadischen Form gemäß untergliedert in Verstand, Urteilskraft und Vernunft – mit den drei vorgezeichneten Produkten »Begriffe«, »Urteile« und »Schlüsse« –, auf die ich unter Selbstanwendung der Formen schließe. Im zeitlich ablaufenden Denken lassen sich nacheinander erkennen: 4 � 3 reine Denkfunktionen (Kategorien) – jede dieser Triaden ist in jedem Urteil angewandt: also gibt

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Stufe wird durch die Synthese der Produkte der niedrigeren Stufe aufgebaut: Aus einer Synthese von Begriffen wird ein Urteil gebildet und die Zusammenstellung von Urteilen führt zu einer (syllogistischen) Schlussfigur. Kant stellt an diesem Punkt die Behauptung auf, die seither als »Kopernikanische Wende« in der Epistemologie bezeichnet wird: Raum und Zeit sind demnach – in der theoretischen Reflexion – Ordnungsvorstellungen der Rezeptionsleistung der Sinnlichkeit und keine Anteile einer »Welt an sich«. Diese gewagte Hypothese glaubt Kant durch die Möglichkeit von theoretischer Mathematik und Physik belegen zu können, die zwar frei von Erfahrungsmaterial sind, trotzdem aber in ihren erweiternden Erkenntnissen ein Nacheinander (Zeit als Bedingung des »Zählens« in der Arithmetik) und ein Nebeneinander (Raum als Bedingung der Ausdehnung in der Geometrie) präsentieren. Nach diesem bahnbrechenden Schritt geht Kant dazu über, den in unserem Denken abstrahierbaren Funktionen (Kategorien) ebenfalls weltkonstituierende Bedeutung zuzumessen: Quantität, Qualität, Relationen und Modalitäten generieren als Ordnungsstrukturen die mögliche Welt der Erscheinungen. Die Erkenntnis einer kausalen Abfolge z. B. liegt der strukturalen Möglichkeit nach auch ohne konkrete Erfahrung vor: Eine zeitlich und räumlich angeordnete Wirkung findet bspw. in einer unumkehrbaren Richtung (Ursache und Wirkung) statt. Für die Erforschung dieser kategorialen Formen des Erkennens wird der zeitlich erste Erkenntnisakt ex post allerdings notwendig so vorgestellt werden müssen, dass ein ursprünglicher Anstoß des Erkenntnisvermögens durch die Sinnesreize der ersten Erfahrung erfolgte. Daher macht Kant auch keine Angaben zu angeborenen Strukturen, sondern nur zu den Formen, die die Erkenntnis durch die Selbsterkenntnis erkennt. Auch die Äußerungen über mein eigenes Wesen beschreiben mich demnach so, wie ich mir erscheine, und nicht etwa so, wie ich »an sich« bin. Meine wissenschaftlichen Schlüsse über die Welt und über mich selbst sind immer dann empirische Erkenntnisse, wenn sie aus der Synthese des Erfahrungsmaterials (aus Sinnlichkeitsdaten und Eines 3 hoch 4 Möglichkeiten von Urteilsformen, selbst wenn man einbezieht, dass je die dritten Funktionen aus den ersten beiden resultieren. Ein Bsp.: »Ein Ding an sich kann nicht beschrieben werden.« (Allheit, Limitation, Inhärenz und Subsistenz, Möglichkeit) oder »Alle Tische hier sind weiß.« (Einheit, Realität, Inhärenz, Dasein).

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bildungskraft und Verstand) stammen. 150 Die Synthese von Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstand ist also nach Kant die Bedingung der Möglichkeit dafür, von »Erkenntnissen« sprechen zu können. Aber welchen Status haben dann die Erkenntnisse über die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis? Sind sie selbst aus der inneren Erfahrung gewonnen (Introspektion, Intuition o. ä.) oder sind sie bloß gedacht und damit eigentlich der Definition gemäß keine erweiternde Erkenntnis? Die epistemologische Prüfung des Erkenntnisvermögens legt genau dann transzendentale Strukturen des Erkenntnisvermögens frei, wenn Strukturen betroffen sind, die keine Erkenntnis nicht aufweisen kann. Da also die Transzendentalphilosophie gemeinhin zu Recht als System von »reinen«, d. h. nur formalen Prinzipien bezeichnet wird, müssen sowohl die Grundlegung als auch das kritische Denken als Arbeitsprozesse von der Transzendentalphilosophie als fertiger Katalogisierung der Prinzipien unterschieden werden. Die Betonung des kritischen Arbeitsprozesses ist gleichsam meine Variation der Korsgaardschen Lesart der praktischen Philosophie Kants, die – wie oben beschrieben – einen Unterschied für die Begründung der Moralphilosophie macht: Es spielt keine Rolle, ob irgendwo auf der Welt ein konstruktivistisches System der Moralphilosophie existiert, wenn ich es nicht selbst »erfunden« habe. Nur dann kann ich die »Sittlichkeit« der Werte, Normen und Präferenzen 150 Noch einmal die Strukturen in Kürze: Kant nutzt die o. g. Vermögen, um die Fähigkeiten des menschlichen Wesens zu strukturieren: Gefühl der Lust und Unlust, Begehrungsvermögen und Erkenntnisvermögen. Das Erkenntnisvermögen umfasst die oben beschriebenen drei Bereiche: Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstand. Synthetische Urteile stammen aus der Verbindung dieser drei Bereiche (formal oder material) und bringen erweiternde Erkenntnisse hervor; analytische Urteile bleiben bloße Begriffserläuterungen, oft mit übertriebener Aussagekraft versehen. Dass die Untersuchung der Erkenntnismöglichkeiten synthetische Urteile a priori preisgibt, sprengt durch den reinen Sinnlichkeitsanteil den Rahmen der bis dahin geführten Debatte zwischen sog. Rationalisten und Empiristen. Es entsteht folgende Gliederung des reinen Denkens: a) Tradierte metaphysische Gedanken bleiben auf bloße Begriffe beschränkt, b) transzendental-kritische Gedanken bilden den Schluss auf die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt als Selbstbestätigung der synthetischen Urteile a priori, c) transzendentalphilosophische Gedanken bilden eine neue Metaphysik: Synthetische Urteile a priori bilden die Grundlagen der Wissenschaften. Alle Arten des wissenschaftlichen Denkens, das auf äußeren oder inneren Empfindungen der Sinnlichkeit beruht, wie etwa Psychologie, Anthropologie etc., setzen sich aus synthetischen Urteilen a posteriori zusammen; hier darf man aber keine notwendigen und allgemeinen Erkenntnisse erwarten, sondern eine fortschreitende Entwicklung der empirischen Forschung.

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der sozialen Lebenswelt, in die ich eingelassen bin, vollständig akzeptieren, wenn sie sozusagen durch die Kraft meiner Autonomie gesetzt wurden. Wenn also Recht, Moralen, Regeln etc. nicht vernünftig begründbar sind, so bin ich aufgefordert, die Missstände anzusprechen und mit anderen gemeinsam zu prüfen und derart ggf. einen Fortschritt zu initiieren. Am Beispiel der GMS lässt sich diese Bewegung auch entsprechend illustrieren, denn Kant geht mit analytischen Mitteln von der common-sense-philosophy des gegebenen sozialen Miteinanders aus, um nach der Möglichkeit der immer schon präsupponierten Orientierungsmöglichkeiten in der Sittlichkeit zu fragen. Diese Frage ist also gleichbedeutend mit der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Geltung in der Moral. Das Problem in dieser Interpretation ist die Beschreibung des in die Umwelt eingebetteten »Daseins« im Vollzug seiner bindenden Leistung. Da »Moralität« analytisch als »Bedingung der Verbindlichkeit« bestimmt wird, 151 kann ich Korsgaard noch einmal entschieden zustimmen, dass von der Ebene der (theoretisierten) inhaltlichen moralischen Prinzipien zu einem Punkt fortgeschritten werden muss, der die Bedingung der Möglichkeit (den Grund) von formaler Verbindlichkeit garantiert. Dieser allgemeine und notwendige Geltungsanspruch kann jedoch nicht von einem zu verallgemeinernden Sachverhalt aus erreicht werden, weil die Generalisierung dann dem Induktionsproblem unterliegt. Stattdessen etablieren Kant und Korsgaard gleichermaßen eine strengere Form der »allgemeinen« Verbindlichkeit: Universalität. Korsgaards Differenzierung von Generalisierung, absoluter und provisionaler Universalität (vgl. Korsgaard 2008, S. 121) 152, lässt sich nach der bisher getätigten theo151 Vgl. GMS, AA 04: 389.12–13: »[…] wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Nothwendigkeit bei sich führen müsse.«; s. auch GMS, AA 04: 439 und später MdS, AA 06: 225. 152 »Now there are two things to notice here. First of all, the question is not, whether we can will a new maxim for each new occasion. […] The argument here is not supposed to show that reasons are general. It is supposed to show us that reasons are universal, and universality is quite compatible – indeed it requires a high degree of specificity. The second point is that it will be enough for the argument if the principle that is willed be willed, as I will call it, as provisionally universal. To explain what I mean by that I will use a pair of contrasts. There are three different ways in which we can take our principles to range over a variety of cases […]. We treat a principle as general when we think it applies to a wide range of similar cases. We treat a principle as universal, or, as I will sometimes say, absolutely universal, when we think it applies to absolutely every case of a certain sort, but all these cases must be exactly of that

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retischen Vorarbeit noch um einen Schritt erweitern: 153 Die Synthesis als Verbindung in ihrem ursprünglichsten transzendentalen Zugang entspringt in der »Kritik der reinen Vernunft« (KrV B) der reinen Apperzeption und wird von mir damit a) als die reine Form des transzendentalen Idealismus und b) als die reine Form von »allgemeinem Selbstbewusstsein« aufgegriffen: 154 Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt als: die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein. Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung. Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine nothwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subject, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird. Diese Vorstellung aber ist ein Actus der Spontaneität, d. i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die reine Apperception, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperception, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, in dem es die Vorstellung: Ich denke, hervorbringt, die alle andere muß begleiten können und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann. Ich nenne auch die Einheit derselben die transscendentale Einheit des Selbstbewußtseins, um die Möglichkeit der Erkenntniß a priori aus ihr zu bezeichnen. […] Aus dieser ursprünglichen Verbindung läßt sich vieles folgern. Nämlich diese durchgängige Identität der Apperception eines sort. We treat a principle as provisionally universal when we think it applies to every case of a certain sort, unless there is some good reason why not.« (ebd.). 153 Absolute Universalität ist daher die formale Universalität des Kategorischen Imperativs. 154 Zunächst zitiere ich zur Bestimmung der transzendentalen Untersuchung der Synthesis selbst die entsprechende Definition und Methodik Kants in KrV B: »Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzuthun und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntniß zu begreifen. Eine solche Synthesis ist rein, wenn das Mannigfaltige nicht empirisch, sondern a priori gegeben ist (wie das im Raum und der Zeit). […] Die Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Function der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntniß haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind. Allein diese Synthesis auf Begriffe zu bringen, das ist eine Function, die dem Verstande zukommt, und wodurch er uns allererst die Erkenntniß in eigentlicher Bedeutung verschafft. Die reine Synthesis, allgemein vorgestellt, giebt nun den reinen Verstandesbegriff. Ich verstehe aber unter dieser Synthesis diejenige, welche auf einem Grunde der synthetischen Einheit a priori beruht […]. Aber nicht die Vorstellungen, sondern die reine Synthesis der Vorstellungen auf Begriffe zu bringen, lehrt die transsc. Logik.« (KrV B 03: 91.14–92.25).

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in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen enthält eine Synthesis der Vorstellungen und ist nur durch das Bewußtsein dieser Synthesis möglich. […] Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle, d. i. die analytische Einheit der Apperception ist nur unter der Voraussetzung irgend einer synthetischen möglich. (KrV B 03: 108.19–109.25; und in KrV B 03: 108.25 FN »[…] Und so ist die synthetische Einheit der Apperception der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik und nach ihr die Transscendental=Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst.«)

Die verbindende Leistung des Bewusstseins – die Synthesis – nämlich, die ich bisher in allen kritischen Gedanken vorausgesetzt habe, kann zwar als Form eines jeden empirischen oder formalen Gegenstands erschlossen werden, liegt aber selbst nie als empirischer Gegenstand vor. 155 Obwohl ich mich der Erkenntnis des eigenen Daseins deskriptiv nur so weit annähern kann, wie auch die innere Empirie reicht (meine Persönlichkeit, mein Charakter, mein Leib, mein Körper), kann ich mir keine Erkenntnis vorstellen, die ohne eine Verbindung zum eigenen Dasein hervorgebracht würde; und dieses letzte Erkenntnisurteil ist keine empirische Erkenntnis, sondern eine unhintergehbare und unbeweisbare Struktur des Daseins. Das damit einhergehende Faktum, dass ich mich selbst in diesem lebendigen Dasein als unbestimmbar bestimme, ist in der Denknotwendigkeit zugleich als Verbindung und als Grund der Verbindlichkeit – sprich: als »Machendes« der Vernunft – angelegt. 156 Dass die Strukturen des Denkens auch in Anwendung auf die Moral »kategorisierend« wirken, bestätigen die Ausführungen der GMS, indem sie die Denkmuster der KrV auch in der praktischen Philosophie anwenden. So kommt es, dass die Einheit der Vernunft in ihrer formalen Synthetizität universal gedacht werden muss, weil sie jedem Selbstbewusstsein in glei155 Die Zweifel an einer Zwei-Welten-Lehre, wie sie etwa von Ludwig, Brandhorst et al. (2013) diskutiert werden – Jochen Bojanowski und Heiner Klemme treffen diesen Vorschlag bereits –, könnten auf eine Rede von »zwei Hinsichten« ausweichen, um auf Doppeldeutigkeiten zu verzichten. 156 Das »Als-ob« der Freiheit durch die eigene Moralität ist in der Vernünftigkeit angelegt: Dass ich mich, unter Vernachlässigung aller anderen Komponenten als (vernünftig) denkendes Wesen bestimmen und bestätigen muss, ist der jedem einzelnen (für sich) zugängliche Punkt, der nicht mehr generalisierbar ist, auch nicht »allgemein« vorliegt, sondern in seiner Einzigartigkeit für alle denkenden Wesen in gleicher Weise gilt (Ubiquität).

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cher Weise zugrunde liegt. 157 Das bedeutet zugleich, dass unabhängig von der Situation, dem Temperament, den Gefühlen, den subjektiven Prinzipien (Maximen) etc. der bloße Wille als Form der gerichteten Aktivität in die Welt eingelassen ist. Ich folge nun noch einmal ein Stück weit der Korsgaardschen Argumentation, um schließlich auf Kants kritischen »Clou« zu stoßen. Man sieht in der Bestimmung des Willens, dass dieser immer »etwas« will: Durch die Vorstellung eines Sachverhalts der Erscheinungswelt wird eine Neigung in mir ausgelöst, in der sich das Gefühl der Lust oder Unlust im Sinne einer (un)angenehmen Auswirkung der (Zweck-)Vorstellung niederschlägt. Ersetze ich in einem Gedankenexperiment auch noch diesen materialen Anteil der Willensbildung durch die Vorstellung des Vernunftgesetzes und seiner kontrollierenden Wirkung in der Handlung, so bestimmt die Vernunft durch das reine Vernunftprinzip den Willen und erzeugt sozusagen eine »reine Neigung« – es ist keine konkrete Vorstellung eines Zwecks vorhanden – zu ihrem eigenen Gesetz (Achtung): Verbindlichkeit spielt durch die vernünftige Willensbestimmung aus dem Vernunftvermögen in den Willen hinein. Dies lässt sich dadurch feststellen, dass die Bestimmung der Vernunftgebote im Willen nach den Modi der Kategorie »Relation« systematisierbar ist, wie ich es oben bei Korsgaard bereits angedeutet habe. Der Hypothetische Imperativ der Geschicklichkeit (technische Regeln der Geschicklichkeit) fragt: Wie erreiche ich am besten einen bestimmten Zweck (problematische Prinzipien)? Der Hypothetische Imperativ der Glückseligkeit (pragmatische Ratschläge der Klugheit) trägt zum natürlichen Streben nach Glückseligkeit bei (assertorische Prinzipien), und der Kategorische Imperativ (moralisches Gebot der Sittlichkeit) lässt sich nur noch per Analogie zu anderen apodiktischen Prinzipien ausdrücken in der Naturgesetzformel (Allgemeinheit), Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wornach Wirkungen geschehen, dasjenige ausmacht, was eigentlich Natur im allgemeinsten Verstande (der Form nach), d. i. das Dasein der Dinge, heißt, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, so könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Wil157 Vielleicht kann hier die Definition der Moral nach Habermas (2007, S. 127 f.) weiteren Aufschluss verschaffen, denn universalistisch, formalistisch, deontologisch tritt demnach die Moral als Grundlage dem partikularen Ethos gegenüber.

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len zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte. (GMS, AA 04: 421.14– 20)

in der Zweck-in-sich-Formel (Besonderheit) So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objectives Princip, woraus als einem obersten praktischen Grunde alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können. Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. Wir wollen sehen, ob sich dieses bewerkstelligen lasse. (GMS, AA 04: 429.05–13)

und in der Selbstgesetzgebung (Einheit), »[…] hieraus folgt nun das dritte praktische Princip des Willens, als oberste Bedingung der Zusammenstimmung desselben mit der allgemeinen praktischen Vernunft, die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens.« (GMS, AA 04: 431.14–18) 158 Die Naturgesetzformel des Kategorischen Imperativs offenbart durch ihre Anwendung der Kategorien des Denkens auf die Beschreibung des sie spiegelnden Willens eine universale Bedingung der Möglichkeit von Moralität: a) Die Naturgesetzformel baut entweder auf dem Satz des Widerspruchs im Denken und Wollen (unnachlässliche Pflichten) auf – als wäre dieser Widerspruch durch ein selbst gesetztes vernünftiges Naturprinzip bestimmt – oder auf dem Satz des Widerspruchs nur im Wollen (verdienstliche Pflichten). Der Satz des Widerspruchs verweist damit in beiden Fällen auf die logischen Formen des Denkens und belegt das einende Prinzip der Vernunft in diesen Verbindungen. Ich kann bspw. nicht denken, dass die Lüge als allgemeines Naturgesetz die Kommunikation konstituiert; ich kann nicht wollen, dass die Pflicht zur Wahrhaftigkeit nur als ein beliebiges Moment der Kommunikation gilt. b) Woher aber die Einflussnahme der Vernunft auf die logischen Prinzipien des Wollens und damit auf die Maximen (als subjektive Prinzipien) entspringt, wird durch den Satz der Identität des Einzelwesens (denknotwendig) bestätigt: In der Menschheitsformel, die aus dem lebendigen Dasein als formales Bewusstsein eines jeden Vernunftwesens vorgefunden wird, wird die

158 Vgl. GMS, AA 04: 428 f. Vgl. zur Differenzierung von »universalitas« und »generalitas« außerdem GMS, AA 04: 424.

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Selbstgesetzgebung als synthetisches Moment von Vernunft und Willen erschlossen. 159 Um diesen letzten Schritt noch einmal in einem logisch-cartesianischen Duktus auszudrücken: Die Implikation »Ich denke, also bin ich« bildet einen gültigen Schluss für den logischen Raum, in dem der Schluss nur dann falsch sein kann, wenn ein Wesen behauptet zu denken, ohne sich dabei selbst ein bewusstes Dasein zusprechen zu wollen. Als transzendentales Argument wird diese Aussage auf den Vollzug bzw. ein Besinnungsmoment hin ausgedehnt: Dass ich denke, kann durch die Selbstbestätigung (in actu) nicht bezweifelt werden. Die Erörterung, unter welchen Bedingungen ich erkennen kann, ist daher die eigentliche Aufgabe der kritischen Philosophie. Selbst das Bedenken, dass die Vernunft sich nicht »unparteiisch« selbst (»an sich«) erschließen könne, bestätigt dabei die Tat-Sache (das Schließen), dass sie da ist. Da das Pronomen »Ich« in »Ich denke dies gerade« immer auch mit meinen Schlussfolgerungen als verbindlich und »wahr« abgeglichen werden kann, ist die Möglichkeit der Wahrheit und »Gutheit« im relationalen Bewusstsein universal angelegt. Die Annahme, dass jedes andere selbstbewusste/vernünftige Lebewesen dieses »Ich« durch seinen eigenen relationalen Ich-Pol des Denkprozesses in Verbindung bringt, lässt auch nach wie vor keinen direkten weltlichen Zugang zum Bewusstein des Anderen entstehen. Der Zugang verläuft vielmehr »inversiv«, nämlich durch ein Besinnungsmoment auf die universale Verbindlichkeit im Bewusstsein des reinen Daseins/Lebensgefühls selbst. Die Anwendungsstrukturen für die pragmatische Bewegung werden daher sein: 1. Alles Einzelne hängt für uns mit allem anderen Einzelnen zusammen, weil es ausschließlich mit dem Prinzip der Synthesis »als etwas« gedacht werden kann (transzendentaler Idea159 Vgl. dazu Jörg Schroths Universalitäts-Formen (Schroth 2001): Er referiert die Hauptfragen der Universalisierungsdebatte im Anschluss an Kant, Sidgwick, Hare, Marcus G. Singer (vgl. ebd., S. 11) und zeigt, wo die Argumente und Verständnisse der Universalisierung auseinandergehen. Ich sehe aber nicht die Differenz zwischen dem Kategorischen Imperativ und Universalisierung (vgl. ebd., S. 17), nach der der Kategorische Imperativ auf ein Wollen-Können (dass die Maxime ein allgemeines Gesetz wird) rekurriert und damit zum Entscheidungskriterium (richtig/falsch) wird. M. E. geht das Kriterium »moralisch richtig/falsch« umgekehrt erst aus dem Kategorischen Imperativ hervor und wird nicht durch den Kategorischen Imperativ entschieden. Schroths Kategorisierung der einzelnen Universalisierungsansprüche macht dennoch die Anwendungsbereiche der Thesen von Hare (vgl. ebd., S. 61), die Probleme von Dancy (vgl. ebd., S. 68) und der Partikularisten (vgl. ebd., S. 74) deutlich.

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lismus). 2. Der Zugang zu den Sachverhalten ist nur sukzessive (zeitlich) und in einem Nebeneinander der Entitäten (räumlich) möglich (empirischer Realismus). 3. Diese Erklärungen analysieren im Nachhinein, was wir in der Lebenswelt immer schon unreflektiert verwoben vorfinden (die Verbindung aus 1. und 2. bildet sozuagen eine »Phänomenologie der Lebenswelt«). 4. Der Ethik selbst eignet eine geradezu »mantische« Aufgabe, wenn man in die möglichen Folgen der Handlungsoptionen vorausblickt: Das sich seiner selbst bewusste Individuum stellt sich Ergebnisse und Folgen seiner Handlungen vor und kultiviert entsprechende Einstellungen und auf lange Sicht auch Handlungsgewohnheiten. In viele weltliche Bedingungen findet man sich schlicht »hineingeboren«: Phänotypus, Familie, Milieu, Temperament, Instinkte, Sittlichkeit; doch erst wenn man einmal aus diesen Gepflogenheiten herausfällt und sich die Frage »Was soll ich tun?« in ihrer ganzen »Offenheit« stellt, beginnt die Suche nach einem moralischen Orientierungspunkt. Was ist denn dann überhaupt das Kriterium für die Bewertung der Vorstellungen von Handlungsbewegungen, Zwischenergebnissen und nahen sowie fernen Folgen für alle Beteiligten einer Handlung? Zwei Hinsichten setzen die Person in ein Verhältnis zu ihrer Betrachtung der Welt: a) das Bedingungsgefüge von Freiheit und Moralität und b) die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen der natürlichen Welt. Beide Hinsichten werden konstituiert durch die Verbindlichkeitsmomente des bewussten lebendigen Daseins. Universalität liegt damit in der bloßen Form der Verbindlichkeit begründet und bildet selbst die Bedingung der Möglichkeit von Verallgemeinerungen (Generalisierungen), vom »im Allgemeinen« (dem Gängigen) und vor allem von der nominalistischen Variante der Allgemeinheit (Abstraktheit als unbedingte Allgemeinheit aus der reinen Denkleistung der Vernunft selbst (Ideen)). Die Universalität des bloßen Daseins besteht also in der Zwecksetzung (für mich), die es sich selbst ohne einen anderen Zweck gibt – damit liegt der »objektive« Zweck in der gesetzgebenden Form der subjektiven Denkakte. So, wie sich dieser Wert für mich als bloßes Dasein denken lässt, ergibt er sich gleichsam auch notwendig für alle Vernunftwesen (je für mich). Und es ist diese Form der Verbindlichkeit, die sich in der Bestimmung des reinen Willens durch die Vernunft widerspiegelt. Kant vollzieht die »Kopernikanische Wende« also nicht nur in der Erkenntnistheorie, sondern auch in der Konstitution der Moralität. Wird vordergründig auch die Objektivität der moralischen Welt 124 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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an sich zugunsten einer Welt der moralischen Phänomene aufgegeben, so richtet Kant doch eine formale objektive Erkenntnisbasis der Vernunftwesen ein, die damit bei aller Subjektivität des perspektivischen Erlebens gezielt auf gleichbleibende Muster empirischer wissenschaftlicher Gegenstände zugreifen können. Für die Erkenntnisbildung schien die Vernunft als Vermögen des Schließens lediglich Urteile in der Form von Syllogismen anzuordnen und – wenn keine Sinnlichkeitsanteile gegeben waren – lediglich bloße Ideen zu produzieren. Aus diesem Faktum lassen sich nun aber verschiedene Denknotwendigkeiten in Hinsicht auf das Schließen vom Erkenntnis- auf das Begehrungsvermögen ableiten: Vernunftwesen erkennen nicht sicher, ob sie frei sind oder ob sie unfrei sind – Freiheit an sich ist für verkörperte Vernunftwesen unbegreiflich; ich begreife aber, dass ich mich im Bewusstsein des Daseins der Vernunft (Faktum, Tat-Sache) ausschließlich als freies Wesen denken kann (vgl. KpV, AA 05: 31.24 u. 32.2 ff.). 160 Der Satz etwa: »Ich habe eine Möglichkeit ausgemacht, wie ich handeln soll. Ich kann dies aber grundsätzlich nicht tun, weil ich unfrei bin«, hebt sich für ein vernünftiges Wesen dadurch auf, dass das Faktum der Vernunft bereits implizit als Voraussetzung des Schließens anerkannt worden sein musste. Es gründet die gesamte Verbindlichkeit aller Urteile eines menschlichen Individuums und selbstverständlich auch der Wirkungsbereich der praktischen Vernunft also zusammenfassend in der transzendentalen Denkbewegung: Bestimmt die Vernunft den ansonsten reinen Willen, so zeigt sich, a) dass (allein!) der reine Wille gut, weil allgemeingültig, ist, b) dass die Vernunft im Erschließen des Willens ihre eigene Regelmäßigkeit widerspiegelt und c) dass die Vernunft ihren normativen Charakter in einer Setzung/Gesetzgebung des Willens findet. 161 Hinter all diesen Strukturen verbirgt sich also die »reine Verbindlichkeit« – eine synthetische Leistung, deren Ursprung und Wesen nicht näher erschlossen werden können. Sie kon160 Diese Lesart wird auch von Willaschek (1992) und von Rauscher (2010, S. 206) als »validation of reason« in Abgrenzung zu den Ansätzen von Schönecker, Henrich, Ameriks, Allison vertreten (vgl. ebd. S. 204 f.). Dazu lässt sich die gesamte inkompatibilistische Untersuchung zur »cognitive phenomenology of freedom« von Galen Strawson (2010) anschließen. Vgl. dazu auch Bojanowski (2012) und Rauscher (2015, S. 241 ff.) zu Kants »naturalist moral idealism«. 161 Vgl. zur Kritik an einer solchen Deutung des Zusammenhangs von Normativität und praktischen Gründen die Frage von Greenspan (2006, Bd. 2), ob Verpflichtungen tatsächlich »kategorische« Gründe für Handeln liefern könnten.

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stituiert die Vermögen, die Kategorien, die Relationalität der Welterfahrung und die Moralität im Miteinander der Lebewesen.

2.3 Transzendentale Synthesis: Zeno Vendlers Konzept der Universalität Die primordiale synthetische Leistung des lebendigen Daseins konstituiert die Vermögen von Lebewesen und durchzieht jede ihrer Tätigkeiten. Zum Gegenstand wird sie immer erst für eine nachträgliche Analyse, für die sie dann als Faktum bzw. Tat-Sache vorliegt. Das Faktum der Vernunft drückt die Verbindlichkeit in jeder ästhetischen, moralischen oder logischen Schlussfolgerung aus. Die eigentliche Quelle dieser synthetischen Leistung und mit ihr die Freiheit des vernünftigen Lebewesens bleiben ungegenständlich und können lediglich per Implikation (Moral � Freiheit) aus der Synthesis selbst heraus erschlossen werden. Die damit einhergehende »Limitation« in der Erkennbarkeit und der sprachlichen Einholbarkeit des transzendentalen Selbst vermittelt den Anschein, als gäbe es außerhalb des Erkennbaren einen Bereich der Dinge »an sich«, also der Dinge unabhängig von je meiner Erkenntnis von ihnen. Durch die Arbeit der analytischen Philosophie kann jedoch zur Bewältigung dieses spekulativen Kategorienfehlers beigetragen werden. Zeno Vendler kombiniert die transzendentale Kritik 162 mit sprachanalytischer Sorgfalt und einer phänomenologischen Methodik. Eine eidetische Variation des Ego gibt einen direkten Blick auf die Leistung der oben entwickelten Verbindlichkeit frei und spielt zugleich mit den von Ludwig Wittgenstein eröffneten »mystischen« Momenten des Erlebens. In »The Matter of Minds« (1984) geht Vendler davon aus, dass jedes Individuum in eine (es umgebende) Lebenswelt eingelassen ist. Derart »verankert« (»hooked«, vgl. ebd., S. 41) wird jede Weltbeschreibung aus einer »subjektiven« Perspektive gestiftet. Das heißt aber nicht, dass die Urteile des Individuums auch immer nur einen subjektiven Geltungsanspruch erheben. Es besteht nämlich durchaus die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Beschreibung der Sachverhalte der Welt, in der man sich (per Einbildungskraft) mit seiner Perspektive in eine objektiv bestehende 162 Vgl. Vendler (1984, S. 11 u. S. 13). Er verweist explizit auf KrV A347/B405, später auch auf KpV 99, um Hare in dieser Hinsicht zu radikalisieren.

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Transzendentale Synthesis: Zeno Vendlers Konzept der Universalität

Weltordnung und/oder in andere Weltperspektiven hineinversetzt. Ich kann also über Raum und Zeit hinweg versuchen, Ihre Perspektive auf diesen Text einzunehmen; ob Sie in der Bibliothek sitzen und dieses Buch in der Hand halten oder während einer Busfahrt im eBook »Verbindlichkeit« scrollen. Dies kann ich, wie Mackie in »The Transcendental ›I‹« (1985, S. 15–27) zeigt, mindestens auf zwei Weisen tun: a) mit einem »Link« auf meine derzeitige Position in der Welt, in der ich denke, Sie zu sein. Dabei könnte ich auch als Beobachter mit Ihnen zusammen in Ihrer Welt vorkommen; b) mittels einer universalen Perspektivität, die jedes Lebewesen in seine tatsächliche lebenweltliche Situation einlässt. Alles, was ich mir dabei vorstellen kann, ist grundsätzlich auch (ontologisch) möglich (nämlich zumindest als reale Vorstellung); was nicht möglich ist, ist auch nicht vorstellbar. 163 In der Vielfalt der Vorstellungsmöglichkeiten kann ich dann eine gleichbleibende Relationalität ausmachen, aus deren Universalität ich sowohl einen Vergleich der eigenen Erfahrungen als auch die Möglichkeit der Perspektiven und Erfahrungen anderer selbstbewusster Individuen variieren kann. 164 Interessant für die Diskussion der Verbindlichkeit moralischer Präferenzen, Normen und Werte ist also Vendlers formaler Umgang mit den möglichen »Qualia« (subjektiven Erlebensweisen) 165 in der Perspektivität des jeweiligen lebendigen Daseins. Was ich nun einen phänomenologischen Zug in Vendlers Überlegung nennen möchte, ist sein Hinweis auf die Möglichkeit, sich überhaupt vorstellen zu können, der andere zu sein. In dieser Transferenz zeigt sich – sozusagen als transzendentale Struktur der Moralität – die Bedingung der Möglichkeit von Sympathie (»sympathy«) und von intra- sowie interpersonalem Rollentausch. Auch im Erleben der anderen kann ich mir als transzendentales Ego alle möglichen Zustände vorstellen und – gemessen an meinem formalen Vorstellungs- und Erlebenshorizont – in Beschreibungen und Bewertungen einbeziehen. Obwohl »ich« wie beschrieben in eine bestimmte Stelle des Raum-Zeit-Sozialität-Kontinuums eingelassen bin, verändert das Hineinversetzen in eine andere Person nicht das Geringste an der zu-

163 Was aber nicht bedeutet, dass alles, was transzendental-real als möglich gedacht würde, auch vorstellbar wäre. 164 Die Kopernikanische Wende greift hier erneut auf die »Transferenz« zu und besetzt damit das Idiom der »besten aller möglichen Welten« (vgl. ebd., S. 88). 165 Vgl. zu diesem Verständnis der »Qualia« die Begriffsbildung bei C. I. Lewis (s. u.).

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sätzlichen Vorstellung des »restlichen« Gesamtuniversums. 166 Die Behauptung eines Bewusstseins, »mein« Bewusstsein zu sein, markiert folglich einen privilegierten »Access« auf einen Erfahrungsstrom »Welt«, der von Vendler durch verschiedene Beispiele, Analogien und Metaphern illustriert wird. »Hence, since I can imagine being Napoleon, it follows that I could have been born as Napoleon … or R.R., or you. […] All these things are impossible for Z.V., but possible for me.« Ganz im Sinne des transzendentalen Idealismus argumentiert Vendler also, dass die Existenz des Daseins und die Aktualität des Bewusstseins nicht als Prädikate oder Attributionen (Eigenschaften) eines Weltgegenstands – innerhalb der Sachverhalte – verstanden werden dürfen, sondern je für mich die Bedingung der Möglichkeit von aktueller Relationalität (»Ich-Sachverhalt«) konstituieren. »The transcendental ›I‹ is not Z.V., not you, and not Napoleon. Yet I become conscious of myself as Z.V., you as you, and Napoleon as Napoleon. That is to say, the transcendental ›I‹ can appear as various ›empirical‹ selves.« (ebd., S. 113) Auch das Fremdbewusstsein erhält durch die Vorstellungen meiner Einbildungskraft eine Aktualität des Selbstbewusstseins (vgl. ebd., S. 15) und »mein« Körper bildet das Bezugssystem der Welt, bei dem die Welterfahrung mit den persönlichen Empfindungen (Leiblichkeit) sowie den Vorstellungen von Welt (innen und außen, erfahren oder fiktional) übereinstimmt. Diese Voraussetzung – die »Haeccaeitas« – bleibt als Dreh- und Angelpunkt für meine Kontinuität der Erfahrung und des Erlebens auch für Erinnerungen und Zukunftsvorstellungen bestehen. Die Formalität des »Ich denke« jedoch ermöglicht es zusätzlich zu diesem Inertialsystem des Körpers, die Perspektiven auch über die räumlich-zeitliche Bezugsgröße hinaus vollständig zu variieren. Damit ist ein Zugang zur Geltungsentfaltung der Universalität im Sinne eines Epiphänomenalismus gewährt (vgl. ebd., S. 29 FN 2). Ist die Vorstellung, jemand anders zu sein (Transferenz), bei all ihrer Unschärfe im Rahmen einer transzendentalen Argumentation zulässig? 167 Vendler bricht mit dem herkömmlichen »Sich-in-andere166 Sc. eine Paraphrase, die gegen David Lewis’ mögliche Welten aufgebaut wird (vgl. ebd., S. 15) und stattdessen auf mögliche Perspektiven rekurriert. 167 Vendler zeigt, dass die schottischen Aufklärer, allen voran David Hume, in dieser Hinsicht vollständig durch Kants Denken absorbiert wurden (vgl. ebd., S. 32). Das solipsistische Argument (vgl. ebd., S. 32) entspricht damit exakt Tugendhats Begründung der Moralität aus dem Ich-Sager heraus (Tugendhat 2003). Die gemeinsame

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Transzendentale Synthesis: Zeno Vendlers Konzept der Universalität

Versetzen« dort, wo (Ap-)Präsentationen kausal an die vorgestellten Personen selbst angekoppelt werden, und er möchte nun »der Vernunft das Wort überlassen« (vgl. ebd., S. 40). Stelle ich mir nämlich mich (Werner Moskopp) in der Rolle von Napoleon vor, so sind die materialen Übertragungsprobleme der Einbildungskraft unüberwindbar; man würde mir eine Rasur anraten und der Zweispitz würde mangels einer stabilisierenden Haarpracht verrutschen (Anm.: W. M. trägt Bart statt Haupthaar.). Stelle ich mir jedoch mich als Napoleon selbst vor (»ohne Du’s und Ich’s«, vgl. ebd., S. 41), so schafft es die reine Einbildungskraft, das Ich und seine Fähigkeit der Vorstellung (vgl. ebd., S. 42) formal in eine andere Erlebensaktualität zu setzen. Dieser Jemand, den ich mir zu sein vorstelle, bin ich auch. Als Alleinstellungsmerkmal in der Diskussion um den Stellenwert der »I-statements« (vgl. ebd., S. 88 FN 1) 168 darf Vendlers transzenentales Anliegen gelten, »with the epistemological, or rather transcendental, grounds for such statements, which express one’s location in a ›centreless‹ world-representation, rather than with their mere logical form« (ebd.). Das »now« in der objektiven Welt und Zeiteinordnung wird nur durch meine Augenblicklichkeit des Daseins mit Bedeutung erfüllt. Die Formalität des reinen Ich trägt gleichsam in sich die Aktualität des Daseins in jedem als »Ich« Agierenden. Die spezifischen Zustände, die es dann ausmachen, dass ich Werner Moskopp bin, bestehen aus konkreten Relationen und betten mich sozusagen in Ereignisse und Situationen ein. Auf diese Weise löst das transzendentale Ego die Probleme in der Bestimmung des »Subjekts« durch den Hinweis auf die Universalität des Daseinsmoments. Die Aussage »Ich bin X. Y.« hat daher drei mögliche Funktionen: 1. Meinen Namen als Information zu präsentieren, die einen kontingenten Fakt ausdrückt und nicht etwa eine Identität von mir und »W. M.« behauptet (Ich bin/Er ist getauft auf den Namen »W. M.«). 2. Wenn mein Name einer anderen Person zwar bekannt ist, aber bisher nicht deutlich wurde, dass ich zu diesem Namen gehöre, dann werde ich schließlich mit dem Namen identifiziert: Werner Moskopp? Das bin ich! (W. M., am 27. 10. 2015 der Dozent des Seminars »Moralpsychologie«: eingelassen in die Indizes der historischen Quelle von Vendler und Tugendhat ist hierbei Wittgensteins Tractatus (vgl. Vendler 1984, S. 105 u. S. 109 FN 3). 168 Vendler nennt hier Castañeda, Anscombe, Perry, Lewis und Chisholm.

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Weltsituation.) 3. Wenn die Platzierung in der Welt als bloßes »being there« durchgeführt wird, findet keine Identifizierung statt, sondern eine Formbestimmung: Es gilt für alle relationalen Lebewesen, dass ihnen zugesprochen werden muss, ein Ich-Bewusstsein zu haben (vgl. ebd., S. 106). Wenn alles, was vorstellbar ist, auch möglich ist und wenn ich mir vorstellen kann, jemand anders zu sein, dann besteht die Variation der Ich-Zustände in Wirklichkeit in einer Transformation der Relationen, die durch das formale Schema des Subjekts konstituiert werden. Vendler sieht im unbestimmbaren Dasein gerade die Kraft des immer vorfindbaren Lebensgefühls (als mein Fühlen, meine »Stimmung«) entfaltet. In eine Handlungstheorie überführt, lässt sich dieses Dasein als der Kulminationspunkt des phänomenalen Erlebens (Das tut mir weh. Wer sagt das? W. M., ich) und der kausalen Welterfahrung bestimmen (W. M. wird von einem Kommilitonen gezwickt). 169 Spricht man demnach von freien Handlungen, so hat man es mit zwei Welthorizonten zu tun: mit den Bedingungen der Welt und mit den Bedingungen des Daseins. Zwischen äußerer und innerer Welt sowie zwischen dem Dasein und den beiden Welthorizonten bestehen aber ebenfalls Relationen, die im Erlebensmodus und im Kausalitätsmodus beschrieben werden können. Ihre Relationalität entspringt je aus dem formalen Daseinsbezug und wird zu einem Erfahrungsstrom gerechnet, der die Vorstellung von zwei Welten (Personen und Sachen, Denken und Materie) aus einem transzendental-idealistischen Kontinuum relational ermöglicht. Deshalb können meine eigenen Handlungen von mir in der (empirischen) Realität als meine Handlungen erfahren werden. Die Welt erscheint dabei als determiniert, obwohl die Erfahrung lehrt, dass der (freie) Wille in sie hineinwirken kann. Im Moment eines Handlungsentschlusses ist meine Vorstellung der Welt also offen und nicht statisch bzw. geschlossen. In der Vorstellung der Handlungsalternativen wird der Vorgang meines Vorstellens nicht eigens repräsentiert, wodurch der Anschein einer zweiten Welt entsteht. 170 Vendler illustriert 171 seine Ansichten zur Differenzierung zwischen dem VerurSo die von Vendler konstituierte Theorie der »Agency« (vgl. ebd., S. 118). Der Wille ist nach Vendler also nicht selbst ein Kausalitätsphänomen (vgl. ebd., S. 128). 171 Zwei Analogien und ein Beispiel verdeutlichen dies: Das sind Autorsein und Gott169 170

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sacher und dem Initiator einer Aktion, der selbst außerhalb des zeitlichen Gefüges steht: »In raising my arm on set purpose, I do not cause my arm to go up: it goes up because some muscles contracted, and this because some neurons fired, and this because … etc. But I am the one who writes this little incident into my life’s book; I am the one who makes the causes cause in service of my designs.« (ebd., S. 119) Der gelebte Augenblick ist nach Vendler »zeitlich« nicht einheitlich bestimmbar. Er ist seinerseits die Präsupposition zum zeitlichen Vollzug des Erlebens und der Dauer. Zugleich bildet das transzendentale Ich einen privilegierten Zugang zum raumzeitlich eingebundenen Leib. Eine Handlung wird daher nicht durch etwas verursacht, sondern aus Gründen heraus intentional gewirkt. 172 Auch wenn viele Verhaltensweisen der Gewohnheit entspringen und der konkreten Bedürfnisbefriedigung dienen, wird hier deutlich, dass die Ausführung (exercise) einer bewussten Handlung nicht auf die Abläufe in der Erfahrungswelt reduziert werden darf. Auf der anderen Seite ist der Einflussbereich des Subjekts auf den Körper aber auch nicht absolut frei oder völlig spontan darin, eine »neue« Kausalitätslinie in der Welt zu initiieren, sondern er ist durch Vorstellungen und Gründe auf den Raum der realen Möglichkeiten eingeschränkt. 173 Betrachtet man eine andere Person, so lassen sich deren leibliche Bedürfnisse, Interessen und Wünsche zunächst nur über die Interpretation des anderen Körpers unter Berücksichtigung der situativen Bedingungen erschließen. Die Zweckvorstellungen der Person treten aber nicht als Sachverhalte in der Welt zutage; sie werden dem »Inneren« des Gegenübers zugeschrieben, wodurch sich die Annahme der »Persönlichkeit« ergibt. Innen und Außen sind als Ordnungsvorsein sowie das Heben des Arms, vgl. ebd., S. 119: »Think of a writer seeking to ›eliminate‹ one of his characters in the novel he is composing. […] In doing so, however, he cannot just create, say, fire ex nihilo: he has to sketch, or at least allow for, the antecedents (e. g. how the house caught fire), and weave the whole sequence into the fabric of his story. Did he, the writer, cause the fire? Not at all, the heater’s explosion caused it. Yet it was up to him whether there be a fire at all. His determination, moreover, that there be a fire at some time at the story, remains outside the temporal framework of the novel […].« (ebd.) Dieses Beispiel erweitert Vendler (vgl. ebd.) auf die in einem Gedankenexperiment vorgestellte Einflussnahme Gottes auf die Welt, bei der seine »Werke« in der Zeit, aber seine Aktivität – die Kausalität zu initiieren – nicht in der Zeit lägen (mit Ausnahme von Wundern). 172 Dies wird in Anlehnung an Sellars entwickelt (vgl. ebd., S. 120). Vgl. dabei auch den Begriff der »Präferenz« bei Vendler (ebd., S. 123). 173 Vgl. dazu auch die Relation von Intention und Leib (vgl. ebd., S. 122).

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stellungen allerdings Relationen, die scheinbar nur »je für mich« nachvollziehbar sind. Vendler unterscheidet – zur Klärung dieser Relationen durch eine Übertragung (Analogie) auf die Beschreibung anderer Lebewesen – zwischen einer Aktion und einem Ereignis, wobei die Aktion als Vollzug (nicht-kausales »doing« von innen nach außen) und das Ereignis als Kausalität (nur außen) aufgefasst wird. Der Vollzug resultiert aus Gründen und beweist damit den Zugang des Akteurs auf seinen kausal in der Welt wirkenden Körper. 174 Vendler bestätigt mit seinem Gedankenexperiment die Annahme einer primordialen Relationalität, die sich in verschiedenen lebensweltlichen »Verankerungen« vorstellen lässt. Unbedingt von der je gegebenen Kontextualität befindet sich das transzendentale Ego im Zentrum (hier und jetzt) dieser Relationen. Die Verbindlichkeit von Urteilen (Normativität) kann zwischen zwei oder mehreren Akteuren erst dann entstehen, wenn ein Akteur auch von jedem anderen Akteur annimmt, dass dieser sich – wie er selbst – auf sein eigenes Inertialsystem qua Ordnungsvorstellungen beruft. Spreche ich hingegen einer Entität kein lebendiges Dasein zu, entfallen sämtliche kognitiven wie moralischen Anforderungen (Selbstkontrolle, Nachvollziehbarkeit …). Phänomene, die von Durkeim als »Kollektivbewusstsein« (Durkheim 2012, S. 128) bezeichnet wurden, 175 haben ihren Ursprung nach Vendlers Ausführungen in der Universalität dieses formalen Zentrums eines jeden Subjekts. Erst auf der Grundlage eines transzendentalen Idealismus, in dem es für das individuelle Bewusstsein kein »Außerhalb des Bewusstseins«, kein »An-sich« geben kann, werden die relationalen Hinweise von Innen und Außen konstituiert. In der sozialen Lebenswelt ist jeder Akteur mit einer Pluralität von Normen und Werten konfrontiert, ohne dass deren ursprüngliche Verankerung noch erkennbar wäre. Vendler gestaltet daher den Übergang aus der transzendentalen Argumentation in den Phänomenbereich der Hand174 Gründe sind nicht notwendig auch folgenträchtig, so wenig wie Umstände als hinreichende Bedingung für die Bildung distinkter Absichten bezeichnet werden können. 175 Vgl. dazu Durkheim (2011, S. 106): »Wir finden also besondere Arten des Handelns, Denkens, Fühlens, deren wesentliche Eigentümlichkeit darin besteht, daß sie außerhalb des individuellen Bewußtseins existieren. Diese Typen des Verhaltens und des Denkens stehen nicht nur außerhalb des Individuums, sie sind auch mit einer gebieterischen Macht ausgestattet, kraft deren sie sich einem jeden aufdrängen, er mag wollen oder nicht.«

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lungstheorie über die abstrakte Grundvoraussetzung des Handelns: Die universale Daseins-Relationalität ermöglicht das formale Prozedere eines intrapersonalen Rollentauschs (ich stelle mir vor, wie ich mich als der andere verhalte oder wie der andere sich als ich verhält), der enorme Vorteile gegenüber dem interpersonalen Rollentausch (ich stelle mir vor, als X. Y. zu denken) und der Empathie aufweist. 176 Vendler kann also durch eine phänomenologische Variation des transzendentalen Ego eine formale relationale und eine universale Verbindlichkeit isolieren, die sich als konstituierend für die konkreten Moralvorstellungen im Alltag erweisen. Beziehungen, Sitten und Bräuche sowie Achtung und Anerkennung werden auf diese Weise als Phänomene der Moral bestätigt.

2.4 Transzendentale Apperzeption und die Übergänge der vertikalen Achse Das Ergebnis aus dem ersten Kapitel dieser Arbeit lautet: Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass die Metaethik als Disziplin der Moralphilosophie aus dem Bedürfnis der (non-naturalistischen) Realisten heraus entstand, einen geeigneten argumentativen Rahmen für ihre ontologischen Wert- und Normauffassungen zu kreieren. Relationalistische Theorien gehören daher zu den »Non«-Kategorien des Schemas der traditionellen Metaethik. Die konstruktivistischen Ansätze fallen komplett aus den Strukturen der Metaethik heraus, weil sie eben keinen realistischen »Meta-Diskurs« bedienen. Das kritische Denken zeigt also einen destruktiven Hang, wenn es sich prüfend auf abstrakte Meta-Diskurse bezieht. Die abstrahierende Denkbewegung selbst, die diese lebensweltlichen Phänomene (in der Lebenswelt) reflektiert, sondiert, separiert und analysiert, wird durch die Kritik »eingegrenzt«. Der Punkt höchster Abstraktion verweist für die Moralphilosophie dabei auf eine notwendige Bedingung im Lebensgefühl und im Erleben des Angenehmen, Schönen und Guten und insgesamt für das relational gebildete Wertempfinden. 176 Vgl. dazu die Korrespondenz zwischen Vendler und Hare (in Seanor & Fotion 1990): Bei Hare dienen die Figuren des »Erzengels« und des »Proleten« (s. u.) als Limites der Universalität (allwissender Erzengel) und der Gewohnheit (»intuitive« Handlungsabläufe des Proleten).

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Die Leistung der Synthesis für den Erlebenshorizont und die Reflexionsfähigkeit der gelebten und verkörpterten Alltagserfahrungen hat damit keine Letztbegründung im Text oder in der Welt erfahren. Unbedingt durch einen konkreten Ort, eine konkrete Zeit und einen konkreten Kontext ist das »Ich denke dies« Ausdruck eines universalen relationalen Bewusstseins. Alles, was man über die Grundlage dieses Ausdrucks weiß, wurde aus der Erfahrung gewonnen: Aus Introspektion und Beobachtung (Befragung, Interaktionen …) stammen die empirischen Kenntnisse von genereller Perspektivität und Normativität. Aus der Analyse all dieser Daten lassen sich dann zusätzlich Rückschlüsse auf die Strukturmerkmale von perspektivischen und normativen Lebensweisen ziehen, die auf die grundlegenden Bewusstseinsformen Relationalität und Moralität verweisen. Die Dynamik dieser formalen Bewusstseinsmomente ist deshalb als universal zu bezeichnen, weil sie bei jedem bewussten Lebewesen immer und überall an ein Lebensmomentum gebunden ist, das je ganz konkret »meines« sein muss. Nun möchte ich mit dieser Annahme weder behaupten, dass Werner Moskopp (oder René Descartes oder Zeno Vendler) den Kern allen Bewusstseins in der Welt bildet, noch möchte ich die Vielfalt der personalen Bewusstseinsphänomene »intrigieren«. Da mir außerdem nicht an einer Letztbegründung der Verbindlichkeit im eigentlichen Sinne des Wortes gelegen ist, möchte ich lediglich mit Plausibilitätsargumenten arbeiten, die das kritische Denken aufsuchen und überprüfen kann: Von Kant bis zur Neuro-Phänomenologie fühlen sich die transzendentalen Idealisten stets dem kritischen Denken verpflichtet und beschreiten daher nur selten essentialistische (Aus-) Wege für die nähere Bestimmung des Erlebens. 177 Ganz im Gegenteil zeichnen sich kritische Philosophen meist dadurch aus, dass sie auf die Schwierigkeiten – sog. Paralogismen – aufmerksam machen, die aus den Hypostasierungen von metaphysischen Gegenständen (Seele, Freiheit, Gott) entstehen. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Bezeichnung »Metaphysik« von Henri Bergson dann allerdings explizit für die Beschreibung der »Intuition« als dem »lebenden Gedanken« (Bergson 1964, S. 37), dem »einfachen Akt« oder als die »lebendige [Metaphysik] der Philosophen« (ebd., S. 40 f.) genutzt, da diese 177 Wie Thomas Nagel bekennt, macht ihn die Auffassung, dass die »Naturordnung im Kern rationale Intelligibilität aufweist […] zu einem [objektiven] Idealisten im weitesten Sinne« (Nagel 2012, S. 32).

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verbindende Leistung eben nicht als Sachverhalt der Physis analysiert werden könne. 178 Das Ausbleiben einer weltlichen Referenz für das Pronomen »Ich« und folglich die Absage an die Existenz eines substantiellen Selbst haben das Interesse an der verbindenden Kraft des Bewusstseins aber keineswegs geschmälert, wie der exemplarische Auszug aus Jean-Paul Sartres »Das Sein und das Nichts« vor Augen führen kann: Der ontologische Irrtum des kartesianischen Rationalismus besteht darin, nicht gesehen zu haben, daß, wenn sich das Absolute durch den Primat der Existenz vor der Essenz definiert, es nicht als eine Substanz erfaßt werden kann. Das Bewusstsein hat nichts Substantielles, es ist eine reine »Erscheinung«, insofern es nur in dem Maß existiert, wie es sich erscheint. Aber gerade weil es reine Erscheinung ist, weil es eine völlige Leere ist (da die ganze Welt außerhalb seiner ist), wegen dieser Identität von Erscheinung und Existenz an ihm kann es als das Absolute betrachtet werden. (Sartre 2014, S. 27)

Das »spekulative Moment« des Denkens erhält in der idealistischen Philosophie einen absoluten Wert, eben weil man ihm als »leerem« Dreh- und Angelpunkt der Weltbezüge selbst keine weltliche Essenz zuschreiben kann; das Bewusstsein ist relational, auch für sich. Wie in der Metaethik ergänzen sich die »non-realistischen« und die moderat naturalistischen Positionen in einem moderaten Kognitivismus bzgl. der Konstitution der Moralität durch die Verbindlichkeit. 179 Dieses 178 Zum Austausch zwischen Bergson und den Pragmatisten (v. a. James) vgl. Richardson (2007, S. 426 f.). Der Umgang mit dem Selbst, Ego, Ich-Bewusstsein wurde unter den von mir als »Idealisten« bezeichneten Philosophen selbstverständlich vielfach variiert, wie Manfred Frank in seinen umfangreichen Studien nachweist. Für ihn zeigt sich die Sprache als »individuelles Allgemeines« (1989, S. 29) und er nimmt dabei die Rehabilitierung des Individuums ernst, das neben Person (sittliche, gesellschaftliche Strukturen) und Subjekt (allgemeine Strukturen) in seiner leiblichen Manifestation konkret in die Zusammenhänge der Umwelt eintritt (1991, S. 7, S. 10, S. 43 f. u. S. 63). Strawsons »Individuals« und Tugendhats analytische Untersuchungen werden hier unter der semantischen Diskussion zusammengefasst (vgl. ebd., S. 20; ausgeführt auf S. 32 ff.), die ebenso wie die hermeneutische Debatte diese differenzierten Zugangsweisen zu Person, Subjekt und Individuum vernachlässige (vgl. ebd.). Insgesamt setzt Frank auf die triadische Vereinbarkeit von Allgemeinheit und Partikularem in der konkreten Verleiblichung des Individuums (vgl. 1989, S. 476 f.). Selbigkeit in dem oben ausgeführten Sinn würde also auf dieser Ebene keine direkten Erfolge versprechen (vgl. Frank 1989, S. 503 f.). 179 Es muss selbstverständlich dabei beachtet werden, dass diese an ein Idiom Wittgensteins angelehnte Haltung einige Einwände und ggf. auch Missverständnisse so-

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relationale Konzept ist eine Gemeinsamkeit des transzendentalen Idealismus und der Analytischen Philosophie, wie ich anhand einiger Ausführungen von Ernst Tugendhat – trotz oder gerade wegen seiner Auseinandersetzungen mit Dieter Henrich – nachweisen möchte. Durch diese ›veritative Symmetrie‹ meinte ich aber nicht das Phänomen des Selbstbewusstseins zu klären, sondern nur sicherzustellen, dass eine Person, wenn sie sich in solchen Sätzen auf sich selbst bezieht, sich erstens zwar nicht identifiziert, aber doch weiß, dass sie ein Wesen in der Welt ist, für andere als ›sie‹ und ›diese Person‹ identifizierbar, und zweitens dass die ϕ-Prädikate [sc. nicht-kognitive, expressive Prädikate, W. M.] von solcher Art sind, dass sie dieser Person auch von anderen zugesprochen werden können, während sie selbst sich diese Zustände zuschreibt, ohne sich zu beobachten, weil sie sie hat. (Tugendhat 2005, S. 248)

Für gewöhnlich grenzen die Vertreter der analytischen Philosophie die Aussagen über das Selbst, das Ich usw. aus den sinnvollen Aussagen der Philosophie aus. Dieses Kriterium des »Sinns« – egal ob in metaphysischen Sinnfragen oder in Hinsicht auf sinnvolle qua nachvollziehbare Aussagen – entspringt gewissermaßen aus der Apperzeption des transzendentalen Ego. In »Egozentrizität und Mystik« (2004) bezeichnet Ernst Tugendhat in einer anthropologischen Voraussetzung die Menschen als rationale und deliberative »Ich-Sager«. In einer Art mystischer »Sammlung« (besser wieder: Besinnung) – mit Bezug auf das ›Wie‹ des Lebens – tendieren sie dazu, ihre Egozentrizität zu transzendieren bzw. den Egoismus zu relativieren, um propositionale Probleme der Selbstkonzepte zu lösen. Wie bei Verwendungsregeln für deiktische Zeichen üblich, so umfassen diverse prädikative Perspektiven den Selbstbezug von ›Ich‹ und die damit implizierte Unterscheidungskompetenz von ›Ich‹ und ›Nicht-Ich‹ mit einem scheinbar direkten bzw. unmittelbaren Bezug zum Gegenstand. Diese ›Unmittelbarkeit‹ beschwört dabei keine wundersame innere Wahrnehmung, sondern verweist auf einen je mir bewussten Daseinszustand: ›Ich‹ referiert im Gegensatz zu allen anderen Ausdrücken auf den Sprecher, ohne dass ich mich für mich oder für andere damit direkt identifizieren könnte. Es wird aber trotzdem mit ›Ich‹ auf »etwas« referiert, nämlich auf eine negative Markierung des ›lowohl aus Richtung der transzendentalen Idealisten – z. B. der »Heidelberger Schule« rund um Dieter Henrich – als auch aus der Richtung der Analytischen Philosophie provoziert hat. Dieser Diskurs rund um das Selbst/Selbstbewusstsein wird von Sebastian Rödl (2011) aufbereitet.

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Transzendentale Apperzeption und die Übergänge der vertikalen Achse

cus of responsibility‹ in Relation zu allen anderen Gegenständen und ›Ich‹-Sagern in der Welt. In einem Rückblick auf Wittgensteins »Vortrag über Ethik« sieht Tugendhat (2004, S. 155) daher eine Parallele zwischen der Unsagbarkeit des Ethischen und dem Grund der Verbindlichkeit (Moralität). Doch ist dies eine Absage an die Ethik wegen ihrer sinnstiftenden Urteile oder ist es eine Befreiung der Moralphilosophie von ihrem wissenschaftlichen Korsett? Bereits im »Tractatus logico-philosophicus« (vgl. TLP 5.632) rückt Wittgenstein das vollziehende Subjekt als Grenze in die Ineffabilität der Weltsicht; in TLP 5.631 stellt er in Abrede, dass es »das denkende, vorstellende, Subjekt« überhaupt gebe. Dass Wittgenstein – ebenso wie Strawson, Shoemaker, Rorty et al. – neben mystischen Argumentationsfiguren auch zu Kantischen Schlussfolgerungen neigt, 180 legt Jonathan Bennett durch seine Definition nahe: 181 »I take a ›transcendental‹ argument to be one which aims to rebut some form of scepticism by proving something about the necessary conditions for self-knowledge, self-consciousness, or the like.« (Bennett 1979, S. 50) Im transzendentalen Gedanken kann Verbindlichkeit daher als die »Univozität« des moralischen Phänomenbereichs insgesamt gelten. 182 Wittgenstein kommt folglich die-

180 Im Dunstkreis solipsistischer Interpretationen des TLP lässt sich wohl ohne Weiteres ein mystischer Hang auch in Wittgensteins Texten vermuten, so wie jüngst Rauh (2014) sogar das Unsagbare als die Grundlage für das Sagbare in Wittgensteins Philosophie ausmacht. Gutmütig gelesen ließe sich also Verbindlichkeit auch in einer säkular-mystischen Bewegung gründen, wozu zudem auch Vendler mit seinen Anspielungen auf Wittgenstein anregen könnte. Der – versuchshalber – einmal in ein formal-mystisches Licht gesetzte transzendentale Weg bringt Kant in »Der Streit der Fakultäten« sogar zum Abdruck eines überraschenden Urteils über die Mystiker: »Mit einem Worte, diese Leute würden (verzeihen sie mir den Ausdruck!) wahre Kantianer sein, wenn sie Philosophen wären.« (SF, AA 07: 69) Diesen Brief von Karl Arnold Wilmans will Kant zwar nicht bestätigen, aber weshalb druckt er ihn an dieser Stelle ab? Wittgenstein wäre demnach nicht mehr oder weniger Kantianer als jeder phänomenalistische Skeptiker und nicht mehr oder weniger Mystiker als jeder transzendentale Kritiker. 181 Körner lehnt dies als einen »Separatism« (ebd., S. 65) ab, weil Bennett die Verwendung des Begriffs »transzendental« in einer ganz engen Bedeutung aufgreift, nämlich lediglich für die Anwendung auf rückbezügliche Bewusstseinskonzepte (vgl. ebd., S. 52). 182 Ich lehne dieses Argument lose an die Ausführungen von Johannes Duns Scotus in »Die Univozität des Seienden« an (2002, S. 55 u. S. 61: Die Erkennbarkeit Gottes, Lectura I distinctio 3 pars 1 q. 1–2), in denen es ebenfalls um ein Ersterkanntes des Intellekts geht, das für alles Seiende »univok« ist.

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sem Bedürfnis nach einer Limitation der Beziehung von Sprache und Welt (als dem Bereich der Wissenschaften) nach, indem er sie von der Beziehung zwischen Sprache und dem nicht in Sachverhalten darstellbaren Erleben und Denken unterscheidet: Man konnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen. Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müßten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht denken läßt). (Wittgenstein 1984, Vorwort; vgl. weiter TLP 4.12, 5.556, 5.62 f. u. 6.36111)

Der Kraftpunkt der Synthesis – sozusagen die »Monade« der Apperzeption – lässt sich nicht durch Erfahrung und Worte »dinghaft« einholen, weil er nicht zu den Sachverhalten gehört, auf die sich die (wissenschaftliche) Sprache bezieht; er ist aber in jedem Moralischen enthalten. Folglich ist er in jedem sprachlichen Ausdruck auch »intuitiv« – im Sinne Bergsons und nach dem Inertialsystem Vendlers – mit »artikuliert«: Er »zeigt sich« in jedem selbst kontrollierten Handeln und in charakteristischen Zügen des alltäglichen Verhaltens. Wenn »die Sprache« nun einen empirischen wissenschaftlichen Anspruch an Ästhetik, Ethik und Metaphysik transportieren soll, so findet ein sprachlicher Kategorienfehler statt. Trägt hingegen etwa ein religiöser Fanatiker sein Erleben an die Welt heran, dann findet ein ontologischer Kategorienfehler statt. Dies ist zugleich der Anlass, durch den Wittgenstein sich genötigt sieht, die Ethik nach einer Art »Prototypensemantik« zu charakterisieren (vgl. Wittgenstein 1989, S. 10: am Beispiel der »Kollektivphotographie«), statt (aussichtslos) in der Merkmalssemantik nach Eigenschaften oder nach dem Wesen des Moralischen zu fahnden: »Alle relativen Werturteile sind zwar, wie sich zeigen läßt, bloße Aussagen über Faktisches, doch keine Faktenaussage kann je ein absolutes Werturteil abgeben oder implizieren.« (ebd., S. 12) Es wäre weit gefehlt, deshalb zu vermuten, dass die absoluten Werturteile ohne Relation zum Wertenden aufträten. 183 183 Genauer ausgeführt: Im »Vortrag über Ethik« wird deutlich, dass ethische Urteile nach Wittgenstein entweder auf selbst gesetzte/anerkannte Maßstäbe bezogene relative Werturteile sind (Mittel-Zweck-Relationen (der Geschicklichkeit?)), die aber eben nicht eigentlich »ethische« (absolute) Urteile sind, oder dass sie Versuche sind, das Absolute des Ethischen durch Gleichnisse oder metaphysische Begriffe (Wunder)

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Transzendentale Apperzeption und die Übergänge der vertikalen Achse

Die Universalität der Verbindlichkeit greift damit sozusagen aus der Textebene heraus und thematisiert – auf einer dritten Achse – die lebendige Relationalität (»Intuition«). Das Denken des Lesers wird damit – phänomenologisch formuliert – zu einer »Besinnung« auf die Quelle des Verbindenden in seiner Subjektivität geführt: Die Phänomenologie kommt zu ihrer Eidetik so, daß sie Welt als ihren transzendentalen Leitfaden frei variiert, und korrelativ variiert sich dann das weltkonstituierende Bewußtseinsleben. [FN Husserls, W. M.: Aber welcher Welt? Nicht der Lebenswelt. Ist Unendlichkeit nicht schon idealisierende Konstruktion?] Es ist also ein Korrelationsapriori aufgewiesen, die Welt hat ihr weltliches Apriori und hat ihr korrelatives, und beide in eins sind das Apriori der transzendental vollen Subjektivität. (Husserl 1989, Husserliana XXVII, S. 235)

Neben allen Entbehrlichkeiten dieser Sichtweise schließt Husserl: »Aber ich bin notwendig da […].« (ebd.) Husserls »universales Korrelationsapriori« (vgl. Henrich 2011, S. 44) eröffnet damit einen durchaus »wissenschaftlichen« Ausdruck des Erlebens, den die französische Philosophie häufig zur Veranschaulichung des an Bergson angelehnten Intuitionsbegriffs verwendet. 184 Wie bei Vendler bereits angedeutet, bleibt der sprachliche Ausdruck für die Trennung von Innen- und Außensphäre (des Bewusstseins) problematisch. Chong-Fuk Lau – hier für die Kantianische Tradition sprechend – konstatiert diesbezüglich, der transzendentale Idealismus arbeite in diesem Sinne ohnehin »metaontologisch« und »metatheoretisch« (vgl. Lau 2016, S. 9). Der wissenschaftliche Weg zum Ich und zu den Zuständen des Erlebens sei daher genauso empirisch wie der zu den Gegenständen (vgl. ebd., S. 11). Die Möglichkeit dieser empirischen Relationalität setze jedoch die transzendentale sprachlich zu kompensieren und damit Unsinn fabrizieren (was nicht heißt, dass sie »schlecht« sind – vgl. bei Kant die Ratschläge der Klugheit). Das persönliche Erleben des Ethischen lässt sich also nicht in Sprache fassen, weil es keine Tatsache der Welt ist. Aus diesem Grund gibt es beim Ethischen auch keine »Hinsicht«, etwa in der Liebe oder der Freundschaft. Und obwohl man also behaupten könnte, dass also doch »klare« Begriffe für solche Phänomene existieren, denn man erkennt ja (manchmal), wenn zwei Personen sich lieben, so sind diese Begriffe doch »undeutlich«, denn man kann keine Merkmale oder Relationen angeben, die zu einem besseren Verständnis führen. 184 Bei Michel Henry (2016) wird bspw. diese »Innenseite« sogar – ein wenig pathetisch – als cartesianische radikal-subjektive Selbsterfahrung oder das Lebenswissen im Vergleich zum »heute« dominierenden biologischen Wissenschaftsparadigma (vgl. ebd., S. 24) inszeniert.

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Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

Apperzeption voraus, die ihrerseits wiederum als universaler Denkgegenstand auftrete; freilich ohne den Stellenwert einer weltlichen Substanz, Eigenschaft, Existenz o. ä. zu beanspruchen. Es handelt sich nicht um eine Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten von existierenden Entitäten, sondern um zwei verschiedene Weisen, existierende Entitäten zu betrachten. Anders ausgedrückt geht es nicht um eine faktische Unterscheidung, sondern um eine normative, begriffliche Unterscheidung, die zu den Bedingungen für die Möglichkeit der objektiven Erkenntnisse gehört. (ebd., S. 10)

Dementsprechend seien die Begriffe »außer uns« und »objektiv« selbst zweideutig, während der Begriff »an sich« (ohne Relation zu irgendetwas) eindeutig, aber nicht mit Existenz verknüpfbar sei (vgl. ebd., S. 7). 185 Diese Erkenntnis gilt selbstverständlich für die praktische Philosophie in gleicher Weise, wie Allen W. Wood für die Universalität des Kategorischen Imperativs im Verhältnis zu den Zwecken in der Vorstellung nachweist: For with FUL [sc. The Formula of Universal Law, W. M.] it begins with the unity of form possessed by all morally permissible maxims, proceeds from there to the plurality of ends in themselves (or rational beings), and then (by combining these two, as the concepts of unity and plurality are combined in the concept of totality) culminates in the idea of the rational will as self-legislative and the idea of the totality of moral laws in the system of legislation that proceeds from the ideal will. (Wood 2010, S. 303)

Es sind damit abschließend für die Konstitution der vertikalen Achse innerhalb der transzendentalen Architektonik der Moralphilosophie drei Konstituenten festzuhalten: 1. ein Besinnungsmoment, das auf das lebendige Dasein und seine synthetische Leistung zusteuert, ab einem bestimmten Abstraktionsgrad aber nicht weiter analysiert werden kann (also: ohne Letztbegründungsanspruch), 2. die transzendentale Argumentation, die mit diesem Faktum der Apperzeption arbeitet und 3. die pragmatische Bewegung, die auf die Herkunft des abstrahierenden Denkens hinweist und die Strukturmomente zurück zur Anwendung führt, wo sie sich zu beweisen haben (dies wird in Abschnitt 2.5 durchgeführt). Transzendentale Argumente setzen – wie bei Korsgaard, Kant und Vendler – auf die konsistente Denkbarkeit von Gedanken, An185 Auch Graham Bird (2010, S. 132) analysiert die Strukturen der transzendentalen Argumentation ganz ähnlich.

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Transzendentale Apperzeption und die Übergänge der vertikalen Achse

sichten und Überzeugungen. Etwas vorauszusetzen, das der gedachte und/oder ausgesprochene Gedanke verneint, stellt den Sinn des Urteils in Frage und führt schließlich zu einem »self-defeat« (vgl. Aikin 2014). Transzendentale Argumente können also positiv oder negativ eingesetzt werden: In der kritischen Analyse einer Argumentation gilt die positive Variante transzendentaler Argumentationsmuster als Hinweis auf eine selbstbestätigende Aussagekraft; negative Argumentationen hingegen werden als »selbstaufhebend« gekennzeichnet und beziehen sich auf einen performativen Akt des Widersprechens. Konstituierend arbeiten transzendentale Kritiker dann, wenn Sie die »Bedingungen der Möglichkeit« von Erkenntnisurteilen untersuchen. Sie stellen dabei Fragen der folgenden Art: Welche Voraussetzungen müssen immer schon erfüllt sein, wenn eine bestimmte epistemologische Aussage über die Erkenntnisbedingungen gültig sein soll? Ohne hier eine konkrete Antwort auf diese Frage liefern zu wollen, nennt Aikin die formale Struktur dieses Untersuchungsimpulses eine reflexive Rechtfertigung (»reflexive justification«). Es soll durch diese Reflexion keineswegs angedeutet werden, dass jemals die horizontale Ebene der lebensweltlichen Einbettung verlassen würde. Trotzdem formalisiert das transzendentale Denken die Phänomene (tatsächlich), um aus dem Mannigfaltigen der Erfahrung auf konstante Strukturen zu schließen. Der Geltungsanspruch dieser Schlüsse ist per definitionem als notwendig und allgemein (strikt universal) ausgezeichnet. Partikulare Annahmen sind mit dieser Reichweite nicht vereinbar. Aikin versucht aus diesem Grund nachzuweisen, dass die logische Form eines jeden transzendentalen Arguments auf eine basale Form eines »modal modus ponens« zurückgeführt werden kann. Woher erhalten die Implikationen der Argumente aber jeweils die Notwendigkeit ihrer ersten Prämisse? In der idealistischen Tradition müssen die transzendentalen Voraussetzungen offenbar mit einem Menschenbild (Vermögen, Fähigkeiten, Tätigkeiten) oder mit der besinnlichen Präsenz des Daseins (»Ich denke«, transzendentale Apperzeption, Tathandlung, Perfomance) übereinstimmen, sodass nach dem o. g. Muster jede Aussage über die vorausgesetzten Vermögen sich durch die Aussage selbst bestätigt, indem das Vermögen seine Leistung verwirklicht. Jede Aufhebung der Aussage unter Beibehaltung des Menschenbilds führt dann zu einem Widerspruch, bspw.: »Ich bin aber gar nicht frei darin, zu entscheiden.« Die Rückbezüglichkeit der Aussagen auf die Funktion der Vermögen kann (s. o. die Morphemanalyse im Forschungsdesign) im Medium 141 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

der Sprache gestaltet werden oder im Denken selbst (Logik) symbolisch nachgezeichnet werden. Die Gewissheit des transzendentalen Schlusses stammt aber deshalb nicht aus der Sprache oder aus dem Denken; sie entspringt aus der nicht eigens greifbaren synthetischen Leistung der Apperzeption, die von einigen »Rationalisten« eben auf die stark verkürzte Formel »Ich denke« (Ich denke, also bin ich; Ich denke. Ich bin.) gebracht wurde. Es geht um den Vollzug des Schlussfolgerns, der hier die Existenz der Vernunft durch ihre andauernde Tätigkeit beweist. In dieser Kombination des Besinnungsmoments mit einer transzendentalen Argumentation tritt selbstverständlich das Problem auf, dass die Annahme der höchsten Voraussetzung ohne die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Überprüfung schlicht »gesetzt« wird – immerhin ist das bewusste Lebensgefühl des Daseins selbst nicht adäquat ausdrückbar bzw. im Falle des bloßen Erlebens sogar etwas »Unsagbares«. Existiert in der transzendentalen Kritik also ein Kriterium für eine »sichere« Argumentation? Im Eingangsbeispiel »Dieser Sats hat drey Fehler.« wurde ein Zugang zur Relationalität des Satzes eröffnet, mit dem Rückkopplungsprozesse und eine gewisse hermeneutische Redlichkeit verbunden werden können. Die logische Struktur transzendentaler Argumente wird durch eine einschlägige Analyse von Boris Rähme (2015, S. 260 und 280) vertieft. Rähme unterscheidet zwischen »ambitious« und »modest transcendental arguments« und beschreibt die grundlegenden Muster der transzendentalen Argumentation: »What, then, is a transcendental argument? […] I will here favor generality over informativeness and count any argument that makes use of a premise which either is or entails a transcendental claim as a transcendental argument. A transcendental claim is a claim of the form ›x is necessary condition for the possibility of y.‹« (ebd., S. 260) Das oben eingeführte Besinnungselement Husserls könnte durchaus als ein von Rähme beschriebenes modest transcendental argument kategorisiert werden. Diese Argumentation bestätigt vor allem die Abgrenzung der Transzendentalität zur Transzendenz (Gott, Seele, Welt als dogmatische Setzungen) und zu immer weiter ansteigenden Meta-Ebenen (regressus ad infinitum oder regressus ad indefinitum). Auch die Letztbegründung in der Transzendentalpragmatik wird damit auf den Prüfstand gestellt: Perfomative inconsistency is not reducible to logical inconsistency. The former is a characteristic of some speech-acts, or rather speech-act attempts.

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Transzendentale Apperzeption und die Übergänge der vertikalen Achse

The latter is a property of some sets of propositions. As no speech-act attempt is reducible to a set of propositions, no performative inconsistency is reducible to a logical inconsistency. (ebd., S. 261)

Aber ist diese Achse vom textgewordenen Denken zum aktualen Denken noch mit den Sachverhalten der Lebenswelt verbunden? Kann von der abstrahierten transzendentalen Bewegung wieder zurück in die empirische Wissenschaft und vor allem in die Anwendung der ethischen Prinzipien übergegangen werden? Neben Michelle Grier (2001) versuchen insbesondere Joel Smith & Peter Sullivan in »Transcendental Philosophy and Naturalism« (2011) eine »Rehabilitierung« des Kantianischen Projekts für die aktuelle Forschung zu fördern (vgl. ebd., S. 3), indem sie dem transzendentalen Idealisten zumindest zwei Achsen zur Verfügung stellen: die empirische und die transzendentale – empirisch real sei das Äußere und empirisch ideal das Innere der jeweiligen Perspektive des Forschers. Möglicherweise könnte also in der transzendentalen Kritik die Nichteinholbarkeit des lebendigen Daseins gerade der Vorteil sein, den auch das naturwissenschaftliche Forschen immer schon für sich nutzt, wenn es auf seine Neutralität und Objektivität verweist. Das Problem der Verbindlichkeit von wissenschaftlichem und philosophisch-ethischem Geltungsanspruch trifft damit erneut ins Herz der metaethischen Problematik: Das Ringen der Non-Naturalisten um die Unmittelbarkeit des Werterlebens lässt sich nicht als anschauliche Relation zwischen Wert und Ego begreifen, weil es als nachmetaphysische Kompensation der Metaphysik auftritt. Ebenso wie Habermas, auf den ich unten kurz zu sprechen komme, steuert auch David Carr (1999) einem »postmodernen« Impuls entgegen, der die Rolle des Subjekts als (leere) Metaphysik aus der philosophischen Diskussion ausklammern möchte. 186 Im Zentrum der Argumentation platziert Carr die Aufhebung des Dualismus zwischen empirischem und transzendentalem Zugang zum Subjekt/ Selbst, die über eine Reinterpretation der transzendentalen Apperzeption bei Kant und dem transzendentalen Ego bei Husserl geleistet wird. Das Selbstbewusstsein kann seinen Ausführungen gemäß als »voll« und »leer« beschrieben werden, und es entsteht daher leicht der Eindruck, der empirische Zugang sei substantiell und inhalts186 Carr attestiert jeder philosophischen Untersuchung, zugleich für die Tradition der Philosophie zu stehen, in der die jeweilige Problemstellung als Problem überhaupt erst entfaltet wurde.

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Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

reich, der formale hingegen eine bloße Wortspielerei. Nimmt man allerdings nicht die inhaltliche Scheidung der beiden Sichtweisen in Kauf, sondern sieht in ihnen zwei Akzentuierungen ein und desselben Vorgangs, dann lässt sich nach Carr schon bei Kant eine Vermeidung der Dichotomie »Inhalt vs. Form« erkennen. In thinking of myself as thinking, I am of course attributing to myself what thinking is, namely the spontaneous activity of combining. I construe myself strictly in terms of the activity of thinking […]. Thus transcendental apperception involves no characterization of me except that I am having these thoughts or making these judgments; beyond this there is no psychological description, no personal history, no grasp of the self as an object having these or these properties, and so forth. (ebd., S. 43)

In der reinen Apperzeption werden nach Carr ausschließlich intentionale Relationen zu möglichen Gegenständen des Bewusstseins aufgezeigt, zu denen auch »ich selbst« gehöre. Soweit stimmt diese Nuancierung der transzendentalen Kritik folglich sowohl mit den einschlägigen Vertretern des transzendenalen Idealismus als auch mit einer ganzen Reihe der Analytischen Philosophen und v. a – wie ich weiter unten zeigen werde – mit den klassischen Pragmatisten überein. Wie Vendler zuvor, so konstatiert auch Carr, die Formalität im Denken bedeute keine Ablösung des Selbst von der Welt. Ganz im Gegenteil würden die konkreten Bezüge zur Umwelt durch die formale Untersuchung erst entschieden herausgestellt (vgl. ebd., S. 45). 187 Ich knüpfe also in dieser Hinsicht an Carr an, dass keine zwei Subjekte, etwa das der Innen- und das der Außensicht, existieren. Eine kontinuierliche Perspektivität durchdringt die Empfindungen der Welt und die Empfindungen in mir. 188 Der empirische Realismus erfüllt demnach die gesamte Oberfläche des transzendentalen Idealismus mit allen erdenklichen materialen Gegenständen; jedoch spiegelt 187 Um »Intuitionen« nicht als »intellektuelle Anschauungen« interpretieren zu müssen, relativiert Carr (1999, S. 50) die empiristische Tradition, in der er die transzendentale Phänomenologie verortet. Mit Makkreel kann Carr die Evidenz des unbeschreiblichen Daseins also eben nicht in einem kognitiven Konzept begreifen (vgl. ebd., S. 51), sondern er leitet aus der KU eine Gefühlspräsenz als das Faktum des Daseins ab. Auch Carr bezieht sich also auf KrV 03: 325, § 25 und wendet sich damit gegen die Hypostasierungen von Fichte und Hegel. 188 Transzendentale Kritik ist also für Carr (1999, S. 63 ff.) keine Metaphysik, sondern eine Methode der Grundlegung, wie etwa Kant und Husserl sie etablieren wollten (vgl. ebd., S. 108).

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Transzendentale Apperzeption und die Übergänge der vertikalen Achse

sie in all ihren Facetten eine Tätigkeit wider, die in den steten Strömen der vielfältigen Erfahrungen und des Denkens als synthetische Leistung reflektiert werden kann. Die Synthesis selbst als Bedingung der Möglichkeit der Schlussfolgerungen kann also möglicherweise als ein allgemeiner Obersatz in jedem erdenklichen Syllogismus bedeutet werden. In »Kant’s Thinker« (2011) bezieht sich Patricia Kitcher exakt auf dieses Zentrum der transzendentalen Deduktion (KrV B), in der das »Ich denke« und davon ausgehend die Probleme der Paralogismen untersucht werden. Kitcher stellt ihr Projekt als Fortführung der von Carl Ameriks begonnenen Neujustierung des »Synthesemoments« und diverser Zustandsbeschreibungen einer Person in Raum und Zeit dar. Sie will das Vermögen (»faculty«) oder die Kraft (»power«) hinter dem Verbindenden erforschen. Die hier attestierte »Konfusion« Kants im Umgang mit der rationalen und transzendentalen Psychologie wird durch die »Duisburger Fragmente« erhellt, die Kants Absicht zwischen der A- und der B-Deduktion der KrV genauer zu fassen geben (vgl. ebd., S. 82 f.) und die Apperzeption schärfer konturieren (vgl. ebd., S. 161). Die transzendentale Apperzeption wird von Kitcher dabei als ein Grundvermögen (»root faculty«) bezeichnet, in dem sie alle anderen Vermögen (Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstand) zusammenfasst und durch dessen fundierende Leistung (»fundamental power«) (ebd., S. 164) sie selbst Zeit und Raum konstituiert sieht. Wenn auch diese letzten Schritte bereits leicht über das kritische Denken Kants hinaus verweisen, so ist es also zumindest nicht abwegig, den transzendentalen Idealismus erstens als »phänomenologisches« Programm zu begreifen und zweitens als einen moderaten Naturalismus und empirischen Realismus in Hinsicht auf die wissenschaftlichen Aufgaben des kritischen Denkens zu definieren. Wurde die (meatethische) Verbindungsmöglichkeit zwischen Naturalismus und Transzendentalphilosophie von John Skorupski noch streng zurückgewiesen (vgl. Smith & Sullivan 2011, S. 15 FN 30), so besteht unter den hier herangezogenen Interpretationen zumindest die Möglichkeit, dass der transzendentale Idealismus sämtliche Bedingungen erfüllt, die für die Methoden des naturwissenschaftlichen Erforschens der Welt als Voraussetzung erfordert werden. Es bleibt letzthin fraglich, ob entweder die naturalistische Interpretation Kant oder die Kantische Grundlage den Naturalismus entscheidend schwächt: Der Naturalist muss schließlich kein Empirizist im strengen Sinne sein, denn keine der o. g. Formen des Naturalismus 145 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

(oder »basic realism«) muss zurückweisen, was doch »ernsthafte« Kognitionswissenschaft immer bereits annimmt, nämlich »the existence of tacit knowledge operative in experience and the making of empirical judgement« (ebd., S. 17). Der Naturalist kann folglich die Apriorizität transzendentaler Schlüsse zurückweisen und auch weiterhin vollkommen empirisch arbeiten. Er kann sogar weiterhin auf den transzendentalen Idealismus zurückgreifen, um inhärente Probleme des Naturalismus (wie Synthese, Normativität etc.) zu lösen (vgl. ebd., S. 18). Hingegen könnte Kant nicht auf die empirische Seite seiner Philosophie verzichten, da von ihr jede gedankliche Bewegung »anhebt«. Ich werde diese Anbindung von kritischer Philosophie und empirischer Naturwissenschaft im vierten Kapitel unter Zuhilfenahme des Pragmatismus noch genauer fassen. Als Zwischenergebnis der transzendentalen Passagen dieser Arbeit lässt sich bis zu diesem Punkt festhalten, dass die Verbindlichkeit als die universale Synthesis der transzendentalen Apperzeption 189 auftritt. Daher ist die Erfahrung von Erscheinungen alles, was ein Subjekt vom »Selbst« und von der Welt haben kann. Diese empirischen und personalen Selbstbewusstseinskonzepte stehen »parasitär« zu Kants Kritik, da sie in ihren Formen bereits auf dem transzendentalen Selbstbewusstsein aufbauen müssen (vgl. Keller 1998, S. 2). So generiert jedes Urteil durch die Zugehörigkeit zum lebendigen und selbstbewussten Dasein eine »Normativität« (ebd., S. 7). Personales Selbstbewusstsein und impersonales Selbstbewusstsein treten in der theoretischen Betrachtung auseinander, sind aber im aktualen »Ich denke« stets verbunden. 190 Die Universalität des Erlebens ist damit zugleich Grundlage des bewussten Fühlens und auch des bewussten Daseins. Der Mensch ist nach der langwierigen Entwicklung des Fühlens an dieses Gefühl »gebunden«, das er als Prinzip seines Wertens und Wertschätzens von Angenehmem und Unangenehmem reflek189 Hier ließe sich noch eine Reihe von Nominatoren anführen, die versuchen, auf das aktuale lebendige Momentum des Denkens und Erlebens zu verweisen. Verbindlichkeit qua Moralität wird also nicht auf der Ebene der weltlichen Wechselwirkungen generiert, sondern in der Selbigkeit dieses formalen Punktes in allen möglichen Perpektiven auf die Sachverhalte der Welt. Jedes transzendentale Argument ist ein Beleg für diese Annahme. 190 Pierre Keller führt dies auf die ursprünglich synthetische Leistung der Apperzeption zurück, die wir mit Carr, Makkreel et al. (vgl. o.) als das atmosphärische Dasein oder als Entwicklung aus dem Grundgefühl (Befindlichkeit, sensus communis) bestimmen können.

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Pragmatischer »Stresstest«: Die Transzendentalphilosophie im Utilitarismus

tiert. Somit ist für die Philosophie, aber auch für die Lebensgestaltung überhaupt, die Synthese eine notwendige und primordiale Voraussetzung. Sollte diese Annahme korrekt sein, müsste anhand der transzendentalen Dynamik des Denkens auch die stete Möglichkeit zur Wende bzw. zur Rückkehr in die personale und kontextuale Lebenswelt demonstriert werden können. Diese Art des »Stresstests« für die Architektonik der Moralphilosophie möchte ich anhand einer Betrachtung des utilitaristischen Konzepts bewältigen: Da der Utilitarismus für gewöhnlich der praktischen Philosophie Kants gegenübergestellt wird, beide sozusagen als Prototypen des künstlich generierten Gegensatzes »deontologische Ethik vs. konsequentialistische Ethik«, müsste sich zeigen lassen, dass diese Positionen auf der vertikalen Achse ineinanderspielen und auf der horizontalen Achse sogar wechselseitige Ergänzungen darstellen.

2.5 Pragmatischer »Stresstest«: Die Transzendentalphilosophie im Utilitarismus Sollte das bislang erarbeitete Konzept der transzendentalen Verbindlichkeit tatsächlich einen universalen Geltungsanspruch erheben dürfen, dann müsste jede beliebige Form der Ethik auf diese »Quelle der Normativität« zurückgeführt werden können – sie müsste allerdings auch anwendbar sein und die pragmatischen Anforderungen der Ethik erfüllen. Die in der Moralphilosophie des 20. Jahrhunderts künstlich generierte Dialektik von (evangelikaler) Gesinnungs- und Verantwortungsethik (vgl. Weber 1992, S. 69 f.), deontologischer und teleologischer Ethik (vgl. Broad 1930) 191 oder Moral vs. Non-Moral (vgl. Bradley 1970) 192 hat durch Korsgaard insofern bereits eine Ab191 »I would first divide ethical theories into two classes, which I will call respectively deontological and teleological. Deontological theories hold that there are ethical propositions of the form: ›Such and such a kind of action would always be right (or wrong) in such and such circumstances, no matter what its consequences might be.‹ […] Teleological theories hold that the rightness or wrongness of an action is always determined by its tendency to produce certain consequences which are intrinsically good or bad.« (Broad 1930, S. 206). 192 Vgl. auch hier die Differenzierung in der Bedeutung von Moral, ob sie dem NonMoralischen (der Natur-Welt), dem Immoralischen (innerhalb der Moral-Welt dem unmoralisch Handelnden) oder im Bereich der Moral-Welt das Persönliche und die Institutionen konstituiert: »[Here] it stands for the inner relation of this or that will to

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Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

sage erhalten, als jede ernstgemeinte Ethik auch das gesamte Spektrum an ethisch relevanten Aspekten zu berücksichtigen habe. 193 Der klassische Utilitarismus wird bis heute gemeinhin als konsequentialistische Variante der Moralphilosophie kategorisiert, während Kantianer nach wie vor mit einer Akzentuierung der Absicht des Handelnden in Verbindung gebracht werden. Es ist jedoch offensichtlich, dass weder eine gute Absicht (als konkrete Zweckvorstellung) ohne die Motivation, diese auch in eine Handlung umzusetzen, noch eine bereits vorliegende Handlungsfolge als solche irgendeinen moralischen Wert aufweisen würde. Entsprechend findet sich auch tatsächlich in nahezu jeder Ausprägung des Utilitarismus 194 ein Hinweis darauf, dass es bei moralischen Entscheidungen um die Abwägung der »absehbaren« Tendenzen von Handlungen geht; und zwar bevor die Handlung ausgeführt wird. Da der Utilitarismus durch diese Interpretation mit »lebendigen« Optionen und offenen Handlungsprozessen umgeht, wird der Übergang zum Pragmatismus (s. u.) zunehmend deutlich. Der klassische Utilitarismus zeichnet sich dabei vor allem durch seine empiristische Grundhaltung aus. Es geht stets darum, die absehbaren Befindlichkeiten der von einer Handlung betroffenen Personen (Intensität, Dauer, Gewissheit, Nähe) zu erheben. Dazu müsthe universal, not to the whole, outer and inner, realization of morality.« (Bradley 1970, S. 58). 193 Ausgearbeitet finden sich die Auflösungen der Dialektik des Scheins in der Ethik bei Jörg Schroth in »Der voreilige Schluß auf den Nonkonsequentialismus in der Nelson- und Kant-Interpretation« (2003) http://www.joergschroth.de/texte/voreil. html (Stand: 30. 05. 2021) zur Folge einer Überdehnung in der Kantinterpretation (Deontologie als Gesinnungsethik) und in ZfphF (mit einer differenzierteren Einteilung von deontologischen und konsequentialistischen Formen ethischer Argumentation). Korsgaard beurteilt den Utilitarismus als substantielles Prinzip, das (im Vergleich zu Kants formalem Prinzip) aber nicht als Grundlegung der Moral dienen kann (vgl. Korsgaard 2009, S. 48 f.). Jens Timmermann weist auf mindestens drei Versuche hin, bei denen die gezielt gesuchte Anlehnung an Kant von Utilitaristen unternommen wurde (Timmermann 2007, S. 161 FN 1). Kantianismus steht also nicht intuitiv für oder gegen irgendeine Position im Möglichkeitsraum von (Quasi)Realismus oder Non-Realismus, doch die konsequente Auslegung der GMS führt eine Reihe von Philosophen zu der Annahme, mit Kant müsse man vom »Substantive Moral Realism« Abstand wahren, vor allem vor seinen value-view-Vertretern (vgl. Johnson 2006, Bd. 2, S. 136, S. 139 f. u. S. 147). 194 Dies trifft m. E. zumindest auf alle 16 von David Lyons (vgl. 1965) systematisierten Ausformungen zu (zur Kritik an Lyons’ Hypothese vgl. dann aber Goldman (1974, S. 72 ff.)).

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Pragmatischer »Stresstest«: Die Transzendentalphilosophie im Utilitarismus

sen die Interessen dieser Personen erfragt, die Handlungen in ihrer Reinheit und Folgenträchtigkeit anhand einschlägiger Erfahrungen eingeschätzt sowie die Reichweite bzw. das Ausmaß unter den Gesellschaftsmitgliedern summarisch beurteilt werden. Jeremy Bentham arbeitet in »The Principles of Morals and Legislation« (1988, Kapitel I) aber zusätzlich zu diesen empirischen Methoden mit einer anthropologischen Grundannahme, die – als Prinzip formuliert – einen allgemeinen und notwendigen Geltungsanspruch vertritt: Freude (pleasure) und Leid (pain) geben in gleicher Weise zu erkennen, was Menschen tun werden und was sie tun sollen. Das größte Glück der größten Zahl ist dabei das Telos (in view), das für alle unparteiischen moralischen Entscheidungen als Kriterium gewählt werden kann. Glück ist definiert als Nützlichkeit und als die bestmögliche Bilanz von Freude und dem Freisein von Leiden unter den sieben genannten Bedingungen (Intensität, Dauer …). Da Menschen immer danach streben, die größte für sie absehbare Nützlichkeit zu erzielen, kommt es einzig und allein darauf an, einen möglichst hohen Informationsstand über die Handlungsbedingungen zu erreichen. Kein Mensch kann nun dieses Prinzip der Nützlichkeit widerlegen, ohne es selbst anzuwenden; niemand kann das Prinzip der Nützlichkeit beweisen, ohne es selbst anzuwenden (vgl. ebd., Absatz XIII) – das Streben nach Nützlichkeit »beweist« sich ganz einfach in den Handlungen selbst. Die Moralität allerdings liegt eindeutig im Bewusstsein des Prinzips und dem Umgang mit der utilitaristischen Abwägungsmethode. Die Annahme der Naturanlage von Lustempfindungen und Schmerzempfindungen als Kriterium für die moralischen Überlegungen ist selbst also ein Vernunftprinzip, wie Bentham nicht müde wird zu betonen (vgl. ebd., Absatz II). Das Prinzip der Nützlichkeit ist auch in seiner eigenen Zweckbestimmung selbstbestätigend und d. h., es ist allgemein und unter den je vorgefundenen Prämissen notwendig vorauszusetzen, wenn man überhaupt auf eine moralische Entscheidung abzielt. The creed which accepts as the foundation of morals, Utility, or the Greatest Happiness Principle, holds that actions are right in proportion as they tend to promote happiness, wrong as they tend to produce the reverse of happiness. By happiness is intended pleasure, and the absence of pain; by unhappiness, pain, and the privation of pleasure. (Mill 2006, S. 22)

Da John Stuart Mill aus den genannten Gründen zwischen einem induktiven und einem deduktiven Vorgehen in den Erwägungen des 149 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

utilitaristischen Grundprinzips schwankt, ist seine Distanzierung zu Kants »Apriorismus« zunächst verständlich. 195 Betrachtet man jedoch den Pflichtbegriff im dritten Kapitel von »Utilitarianism« näher (vgl. ebd., S. 85), so zeigen sich auch einige erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen Kant und den klassischen Utilitaristen: Während Kant Moralität definiert als Verbindlichkeit, führt Mill das Moralische zurück auf ein Gefühl. Durch die systematische Anordnung der Geltungsansprüche von Prinzip, Pflicht und Gefühl wird allerdings deutlich, dass Benthams Prinzip für die Moralphilosophie grundlegender ist als die von Mill eingeführte moralische »Gefühlsschranke« (das Gewissen), da auch dieses Gefühl bei Mill zweifelsohne als Prinzip formuliert (und nicht nur gefühlt) wird. Andererseits hat Mill sicherlich Recht damit, im Stile David Humes auf die ursprüngliche »Motivation« für Handlungen zurückzuverweisen. Der Ursprung einer solchen Motivation entscheidet seiner Ansicht nach nämlich über die Qualität einer moralischen Entscheidung: Aus welchem Vermögen stammt die Motivation und vor allem, stammt sie aus einem mehr oder einem weniger kultivierten Vermögen? 196 Es ist die spezifische Form des menschlichen Bewusstseins, die dazu beitragen kann, die natürlichen anthropologischen Anlagen zu entfalten und satisfaction, contentment, happiness (qualitativ) zu kultivieren (vgl. Abbildung 3). Nach wie vor wird im Einzelfall jede Entscheidung zu einer Handlung material, d. h. vielfach auch situativ, dezisionistisch, unabhängig von Normen, Prinzipien, Gesetzen, Regeln, Faustregeln, Werten, getroffen; oftmals kommt die Reflexion also gar nicht so weit, abschließend in die Motivationen eingreifen zu können. Will man sich aber moralisch orientieren, dann sieht man das Zusammenspiel von Reflexion, Formalität und Geltungsanspruch, Übung des Charakters, Handlungsgewohnheiten und Bildung. Und hier gilt die 195 Mill verweist in den »General Remarks« von »Utilitarianism« (ebd., S. 14) allerdings auf einen vom Kantischen Original abweichenden Titel (Metaphysics of Ethics) und verwendet ein »ungenaues« Zitat bzw. unterschätzt den Stellenwert des Kategorischen Imperativs. 196 Schmidt-Petri (2003, S. 102) führt zum Verhältnis von qualitativem und quantitativem Utilitarismus bei Mill aus: »A well known paragraph in Mill’s ›Utilitarianism‹ has standardly been misread. Mill does not claim that if some pleasure is of ›higher quality‹, then it will be (or ought to be) chosen over the pleasure of lower quality regardless of their respective quantities. Instead he says that if some pleasure will be chosen over another available in larger quantity, then we are justified in saying that the pleasure so chosen is of higher quality than the other. This assertion is unproblematic.«

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Pragmatischer »Stresstest«: Die Transzendentalphilosophie im Utilitarismus

Handlung

Handelnder Gefühl entdecken

Fähigkeit zum Genuß

entdecken

„Unbefriedigung“ (= „edle Befriedigung“: Gefühl, alles Glück der Welt: unvollkommen)



Befriedigung (gar kein Bild von Vollkommenheit)

Gemeinschaftsgefühl

Egoismus

Gewissen (fundamentale Sanktion der Sittlichkeit)

Selbstsucht (Wertverlust aller Dinge mit Näherkommend es Todes)

nach

Nutzen

Bildung (à Würde: nicht absinken wollen in Stufen, die als niedriger angesehen werden)

Bedürfnisse niedere

Handlung

Fähigkeit zur Wertunterscheidung

Kultivierung

höhere

Bewertung

Wissen

Interessen höhere



Unzufriedenheit (aufgrund unerschöpflicher Interessensgegenstände)

Wahl nach Qualität

Lust

niedere

Zufriedenheit (Gleichgültigkeit)

Gemeinschaftsinteresse

Gerechtigkeit (Basis: Wunsch nach Sicherheit)

immer dabei: äußere Einflüsse (Gesetze, Not, Hunger…)

Aufstellen äußerer Sanktionen

höhere



quantitatives Glück aller Beteiligten

niedere

Quantitatives Glück des Einzelnen

Die beste Handlung ist in qualitativer und quantitativer Hinsicht so reich wie möglich an Lust.

Abbildung 3: Überblick über John Stuart Mills qualitativen Utilitarismus

höhere Qualität der Quelle einer Freude (pleasure) als Kriterium, das eine beliebige Quantität niederer Freuden ausstechen kann, wenn der Akteur von dieser Qualität überzeugt ist – Charakterschwächen werden ausgeblendet (vgl. Mill 2006, S. 32). 197 Nimmt man die Bilanz eines Lebens als »wünschenswertes« Ideal an, das in quantitativer und in qualitativer Hinsicht »so reich wie möglich an Lust ist«, dann bleibt nur noch ein Einwand gegen den Utilitarismus übrig: seine Formalität. Mill verstand es jedoch bereits sehr gut, mit dem Problem der formalen Handlungsvorschriften (Regeln) umzugehen: It is not the fault of any creed, but of the complicated nature of human affairs, that rules of conduct cannot be so framed as to require no exceptions, and that hardly any kind of action can safely be laid down as either always 197 Dieter Birnbacher unterscheidet in seiner Übersetzung leider nicht nach den Ebenen »satisfied«, »content« und »happy«, die von Mill zur Differenzierung genutzt werden, sondern setzt vor allem »zufrieden« als Übersetzungsvorschlag.

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Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

obligatory or always condemnable. […] There exists no moral system under which there do not arise unequivocal cases of conflicting obligation. These are the real difficulties, the knotty points both in the theory of ethics, and in the conscientious guidance of personal conduct. They are overcome practically, with greater or with less success, according to the intellect and virtue of the individual. (ebd., S. 74 ff.)

Da es Ausnahmefälle zu jeder Regel geben müsse, betrachtet Mill ethische Prinzipien schließlich auch nur als Mittel zum letzten Zweck, nämlich der Glückseligkeit. Die Norm des Utilitarismus ist und bleibt (auch im qualitativen Utilitarismus) daher das größte Glück insgesamt (der Summe nach), nicht nur das des Handelnden (vgl. ebd., S. 37 und s. dazu meine Illustration dieses Zusammenhangs in Abb. 3). Die Wahl einer Handlung durch das Individuum kann jedoch erst aus dessen mehr oder weniger kultivierten Interessen (Grade der Zufriedenheit: contentment), Bedürfnissen (Grade der Befriedigung: satisfaction) und dem Wunsch nach Glückseligkeit (desirable happiness) resultieren. Diese Wertung, die einem »gesinnungsethischen« Ansatz schon sehr nahekommt, leitet eine Qualitätseinstufung der vorgestellten Lust ein, die sich aus Selbst- und Fremdbeobachtung, also aus der Erfahrung des Handelnden zusammensetzt. Aus alledem ergibt sich »die Norm der Moral. Diese kann also definiert werden als die Gesamtheit der Handlungsregeln und Handlungsvorschriften, durch deren Befolgung ein Leben angegebener Art für die gesamte Menschheit im größtmöglichen Umfange erreichbar ist« (ebd., S. 39). »Verbesserungsvorschläge«, der klassische Utilitarismus – im Sinne eines bloßen Handlungsutilitarismus, der in jeder Situation neu kalkulieren müsse, was zu tun sei – benötige formale Regeln, die er mit Inhalten füllen könne (vgl. Patzig 1983), erscheinen nach dieser Analyse des Millschen Konzepts schon im Ansatz als unberechtigt. Beanstandet Patzig also einen Mangel an Prinzipien, so werfen andere Autoren Mill vor, er entziehe sich bereits vollkommen den Grundlagen des Handlungsutilitarismus (vgl. Wolf 1996, S. 194, Anm. 1). Aber beide Seiten vernachlässigen einige von Mill bewusst angelegte Nuancen: Der Regelutilitarismus müsste nämlich nach Mill immer auch den qualitativen Bereich des je Einzelnen ausfüllen. Dass letzten Endes allerdings auch bei Mill die Bewertung der konkreten Handlung im Vordergrund steht, wird m. E. zu oft ignoriert. Weder der Regelutilitarismus noch die sog. Gesinnungsethik schafft es, eine gesamte Handlung und ihre Folgen mit in die moralphilosophischen 152 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Pragmatischer »Stresstest«: Die Transzendentalphilosophie im Utilitarismus

Untersuchungen einzubeziehen. Um wie Mill behaupten zu können, eine Handlung sei unter bestimmten Umständen moralisch richtig, müsste doch zumindest ein belastbarer Maßstab der Bewertung gegeben sein. Die »Tendenz […], Glück zu befördern« (Mill 2006, S. 23), kann folglich als Absicht bzw. rationales Erwägen und ebenso gut auf die Folgen der Handlung hin gelesen werden. Regeln, wie die »prima-facie-Einschränkung«, und eine positive Regelformulierung (für die Regelverwaltung) bestehen im Rahmen von Mills ursprünglichem Utilitarismus bereits in ausreichendem Maße. Wie zu sehen war, prägen beide »Utilitaristen«, Bentham und Mill, in gleicher Weise moralphilosophische Übergänge von der Anwendung zur Abstraktion und vice versa aus. Vor allem Mill entfaltet das ursprünglich »transzendentale« Prinzip des Utilitarismus in anthropologische, empirische und insbesondere psychologische Studien hinein. 198 In dieser Tradition gelingt es Richard M. Hare schließlich, sogar die Aristotelische Vermögenslehre (ethische und dianoetische Ebene der Lebensführung) in sein »Zwei-Ebenen-Modell« einzubinden, das ich nun als den Prototypen für eine Synthese aus Kants Moralphilosophie und dem Utilitarismus vorstellen möchte: »Intuitionen« bestimmen nach Hare (in Anlehnung an Sidgwick) die alltägliche Moral einer Gesellschaft, sozusagen als geronnene Erfahrung der Individuen. Mit einer Reminiszenz an die Regelutilitaristen spricht Hare dieser »intuitiven Ebene« zu, durch diverse Gewohnheiten, anerzogene Gepflogenheiten und Faustregeln einen Korpus für Entscheidungen des Alltags zu kultivieren. Die hieraus hervorgehenden Entscheidungsprozesse sind deshalb mehr oder weniger intuitiv, weil sie sich bewährt haben und auf bestimmte wiederkehrende Reize hin ohne großen Aufwand erneut ausgeübt bzw. abgerufen werden können. 199 198 Gesang (2003 u. 2004) spricht diesem Aufbau der Moraltheorie neben einer Reihe vorteilhafter »Instrumente« zumindest zwei tragfähige Grundlagenmomente zu: »1. Einbezug aller rationalen externen Präferenzen; 2. Nutzenabwägung mit struktureller Rationalität.« (ebd.) Die Kritik von Julian Nida-Rümelin in »Kritik des Konsequentialismus«, konsequentialistische Theorien krankten per se an Kooperationsproblemen, wird von Gesang entkräftet. 199 Vgl. Parfit (2006, Bd. 1, S. 329) zur Bewertung subjektiver und objektiver Werte nach Hare, McNaughton, Railton, Mackie, Wittgenstein, Korsgaard (vgl. ebd., S. 337 ff.): Parfit spielt eine Reihe von metaethischen Positionen durch und variiert dabei die Ebenen der Linguistik, Ontologie, Epistemologie, Psychologie (Motivationalität). Er kommt zum Ausschluss einiger Behauptungen: Der non-reduktive Realist könne eine Antwort auf die Fragen der Non-Kognitivisten geben, was denn eine nor-

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Treten jedoch für eine Person zwischen den gewohnten Haltungen, Regelungen und Überzeugungen Konflikte bzw. Krisen auf oder bietet eine neue Situation keine Anschlussfähigkeit an die bisher ausgebildete Persönlichkeit, dann gilt es, eigenständig abzuwägen, welche der absehbaren Handlungsalternativen vor allen anderen bevorzugt werden soll. Für Hare wird in dieser Abwägung das Kriterium der (moralischen) Universalität 200 relevant und konstituiert einen präskriptiven Charakter: Eine bestimmte Person wählt ihren persönlichen Zwecken gemäß diejenige Handlungsweise, die ihr als die beste für die vorgestellten Zwecke erscheint. Will ich aber moralisch handeln, strebe ich nach dem größten Glück der größten Zahl (aller Betroffenen) – und zwar nach Vorgabe der »unparteiisch« kalkulierten absehbaren Handlungsfolgen. Wären in einer bestimmten Situation alle Bedingungen, alle Folgen und alle Zustände dieser Welt für die entscheidende Person transparent, dann würde sich aus dieser Kenntnis genau eine Handlungsoption anbieten, die dem Prinzip des größten Glücks am besten entspräche. Jede andere Person in eben dieser Situation müsste notwendig zu demselben Ergebnis kommen, wenn sie dasselbe Prinzip veranschlagte. Das Prinzip fordert also formal gesehen diese Universalität und generiert danach den normativen Zug der Moral. Dieses Konzept vereint Kants Moralverständnis mit einem an Vendlers Vorschlägen geschulten utilitaristischen Ansatz und bildet gleichzeitig den Prototypen für die Dual-Process-Models der aktuellen Moralpsychologie (s. u.).

mative Wahrheit sei und wie wir davon wissen können. Die Non-Kognitivisten könnten hingegen nichts über einen moralischen Maßstab und die Erklärbarkeit von Normativität zur Debatte hinzufügen. Normativität wird in zwei Beispielen untersucht: »Suffering is bad« und dem Sprung aus einem brennenden Haus (vgl. ebd., S. 331 f.). Vor allem die offene Rolle der Normativität selbst, deren Bindungskraft durch das »Selbst-lose« Verdienst Parfits (1986, Kap. 4) zwischen »shall« und »ought« differenziert (vgl. Parfit 2006, Bd. 1, S. 355), legt nahe, dass in der Metaethik nicht sauber getrennt wird zwischen »justification« und »explantation« (ebd., S. 343), zwischen theoretischer und praktischer Vernunft (ebd., S. 346 u. S. 351), zwischen Motivation und Leitlinie, Wahrmachern und Ausdrucksdenken etc. 200 Es ist ein entscheidender Hinweis Tugendhats (1986, S. 99), dass nach Hare in »Freedom and Reason« (1963, § 3) »zwischen dem universellen und dem generellen Charakter einer moralischen Regel« unterschieden werden muss. Nach Tugendhat müssen auch die unparteiischen Urteile falsifizierbar sein, da sonst ein moralischer Lernprozess in Parallele zum wissenschaftlichen Lernprozess unmöglich wäre (vgl. Tugendhat 1986, S. 102).

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Mache ich mir in einer Entscheidungssituation also klar, dass ich nun moralisch handeln will, dann erhält vor dem Hintergrund der (präskriptiven) Universalitätsforderung das Pronomen »Ich« bereits einen normativen (und unparteiischen) Anspruch (vgl. Hare 1981, S. 96 ff.): für jedes Ich in dieser Situation den besten Weg zu finden und der ist mit der Universalität meiner Entscheidung automatisch erreicht. So [given full knowledge of the preferences of others, W. M.] we have in effect not an interpersonal conflict of preferences or prescriptions, but an intrapersonal one; both the conflicting preferences are mine. […] Note that [in the two examples given, W. M.], although the situations are different, they differ only in what indivduals occupy the two roles; their universal properties are all the same. We see here in miniature how the requirement to universalize our prescriptions generates utilitarianism. (ebd., S. 110 f.) 201

Im Idealfall bedeutet die Universalität, dass ein Individuum eine moralisch abzuwägende Situation so entscheidet, dass dieselbe Entscheidung von jedem anderen »Ich« in derselben Situation genauso entschieden werden müsste. Ein »Erzengel« als das von Hare gewählte Sinnbild für ein vollkommen vernünftiges (heiliges) Wesen kennt auf der Ebene dieser kritischen Abwägung alle Bedingungen, alle Auswirkungen und alle Folgen der Handlung und nimmt aus diesem Gesamtgefüge die beste aller möglichen Handlungsszenarien heraus; jede Heiligkeit mit diesen Kenntnissen hätte dieselbe Wahl getroffen. Diesem vernünftigen Limes der menschlichen Moralität ist zum Vergleich auf der intuitiven Ebene der »Prolet« gegenübergestellt, der nur so handelt, wie es üblich ist, ohne wechselnde Bedingungen zu berücksichtigen oder Weitsicht oder Mitgefühl an den Tag zu legen. Irgendwo zwischen diesen beiden Extremen bewegt sich das »normale« Individuum und wendet folglich sowohl regel- als auch handlungsutilitaristische Prozeduren unter den jeweils gegebenen Bedingungen (gewohntes oder kritisches Denken) an. Die Verbindlichkeit von moralischen Urteilen liegt demnach auch hier in der Form der Universalität einer Entscheidung. Da Menschen in konkreten Situationen aber eben keine Erzengel sind, muss ein Kriterium für den nächst schwächeren materialen Entscheidungsfall, den menschenmöglichen Abwägeprozess, getroffen werden, um die Kraft der moralischen Präskriptivität zu fundieren. Dazu wählt 201 Vgl. dazu auch Birnbachers Argument (2011, S. 67 ff.) gegen die Annahme eines apriorischen Vernunftwissens.

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Hare die Präferenzen (Interessen, Wünsche, Bedürfnisse) der an einer Situation beteiligten Individuen. Die Geltungsansprüche lassen sich gleichsam sprachlich codieren und anhand ihrer Reichweite als moralisch einstufen, wenn sie universalisiert werden. 202 Und das ist es doch eben, was zu beweisen war: Die Dynamik der vertikalen Achse ist in dieser Interpretation des Utilitarismus sowohl in die transzendentale als auch in die pragmatische Richtung vollkommen durchlässig. Die Verbindlichkeit einer konkreten Entscheidung in einer moralischen Krise wirkt aus der utilitaristischen Erhebung der qualitativen Stärke der Präferenzen heraus (vgl. Fehige & Wessels 1998, xx–xli). Um diese Parameter in ein ethisches Kalkül einbeziehen zu können, muss man sich in die beteiligten Personen hineinversetzen – doch ist die sich in andere hineinversetzende Person deshalb simultan auch diese oder jene oder alle Personen? Im Kern des ansonsten quantitativen Utilitarismus steht hier der qualitative Zusatz, dass wir uns vorstellen, in der Haut des anderen zu stecken und seine Präferenzintensität zu erleben (vgl. ebd., S. 121 u. S. 280–287): Das Pronomen ›Ich‹ erhält damit selbst normativen Charakter und wird (non-realistisch) auch zur Bedingung der Möglichkeit von Wertkonzepten (vgl. Hare 1992, S. 179 ff. u. S. 183). Wie schon bei Vendler zuvor, stellt sich selbstversändlich auch bei Hares Abwägung die Frage, woher ich die Präferenzen der anderen überhaupt kenne. Hare verdeutlicht an einfachen Beispielen, wie der Prozess des Hineinversetzens, des Aneignens von Präferenzen und der Abwägung konkret vonstattengehen kann (vgl. ebd.). Es sollte also nicht verwundern, dass dies der Punkt ist, an dem Vendler durch den Aufsatz »Changing Places?« mit Hare in die Diskussion getreten ist (vgl. Vendler in Seanor & Fotion 1990, S. 171–183 und »Comments« von Hare vgl. ebd., S. 280–287), denn wo es scheint, als wäre die Kenntnis der relationalen Weltbedingungen für die Genese der Verbindlichkeit erforderlich, da kann im Sinne der transzendentalen Kritik gerade die Universalität der Vernunft Moralität stiften. Mit dieser Wende wird deutlich, warum ich nicht wie Hare behaupten möchte, Kant sei Utilitarist gewesen, sondern davon aus-

202 Vgl. auch die Unterscheidungen Skorupskis (2010) zur »Allgemeinheit«: 1. Universalisierung (ebd., S. 68–71), 2. Konzepte des Apriori: a) Intuitionen, b) Form ohne Inhalt und c) normative Urteile (»cognitivist but irrealist«). Es gibt für c) kein Vermögen für die Aufnahme von moralischen Wahrnehmungen und die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori (vgl. ebd., S. 138 ff.).

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Pragmatischer »Stresstest«: Die Transzendentalphilosophie im Utilitarismus

gehe, dass die klassischen Utilitaristen zumindest in der Erarbeitung des Prinzips ihrer Moralphilosophie transzendentale Idealisten waren. 203 Die Feinheiten in diesen »Kategorisierungen« und die Missverständnisse, die aus ihnen entstehen können, haben ganz direkte Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Pervertierte Ideale und »Ideologien« (Bsp.: Faschismus) führen vor Augen, welche verheerenden Folgen die Verwechslung der Universalität (»jedes Ich würde unter perfekten Bedingungen so entscheiden wie ich«) mit einer »Universalisierung« bzw. Generalisierung von Überzeugungen (»alle anderen sollten so denken wie W. M.«) in menschlichen Gesellschaften hervorbringen kann (vgl. Hare 1983a, S. 134). Aber auch aus diesen negativen Episoden können Menschen lernen; deshalb generiert Hare für den Utilitarismus die formale Ebene der Moralität, auf der unterschieden wird zwischen Verallgemeinerungen, der Universalität einer konkreten Überlegung und der Allgemeinheit eines Urteils. Die genaue Kenntnis der konkreten Bedingungen einer moralisch zu entscheidenden Situation gilt als Voraussetzung für eine unparteiische und nachvollziehbare Abwägung der Präferenzen sämtlicher betroffener Lebewesen. Dieses Zwei-Ebenen-Modell bestimmt bis heute die Moralpsychologie und wird als Deep Pragmatism zur Verknüpfung von deontologischen, deliberativen und konsequentialistischen Prozessen verwendet. Ich versuche daher im vierten Kapitel, am Beispiel ausgewählter moralpsychologischer Forschungsprojekte plausibel nachzuweisen, dass die formalen Systemkomponenten Kantianischer und utilitaristischer Konzepte zur Gestaltung von vielfältigen empirischen Moralwissenschaften beitragen können, insofern in dieser transzendentalen Architektonik zusätzlich eine variable Methodologie installiert wird. Um durch das universale Strukturmoment nicht die Perspektivität moralischer Überzeugungen aus den Augen zu verlieren, wird eine einheitliche pragmatistische Methodologie diesen pluralistischen Anspruch der Empirie bewahren und die genannten Kombinationen von Philosophie und Moral Sciences am Beispiel der Moralpsychologie näher ausführen. Bevor ich dazu im dritten Kapitel eine genealogische Studie des Pragmatismus folgen lasse, um die Herkunft des empirischen moralischen Realismus bis in die transzendental-kritischen Wurzeln hinein nachzuverfolgen, möchte ich einen 203 Ich denke, dass sich diese Behauptung auch ohne Weiteres durch die Erkenntnistheorie Mills bestätigen ließe.

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Umweg über die Interpretation der moralphilosophischen Ebenen und formalen Begründungsleistungen in der Transzendentalpragmatik und der Diskurstheorie beschreiten, die sich beide auf ausgewählte pragmatistische Argumente berufen.

2.6 Coda: »Diskursethik« und Transzendentalpragmatik Es hätte sicherlich viele Möglichkeiten gegeben, um die transzendentale Architektonik als Kompensation der Metaethik zu konkretisieren. Zur Auswahl standen neben Korsgaards Transzendentalphilosophie auch andere »Kantianische« Systeme, die reflektiert kognitivistisch arbeiten, ohne dabei einem moralischen Realismus auf der einen oder einem subjektivistischen Expressivismus oder Präskriptivismus auf der anderen Seite zu verfallen. Vor allem in Hinsicht auf die noch ausstehende Anbindung des kritischen Denkens an eine pragmatistische Methodologie hätten ohne Weiteres die Transzendentalpragmatik oder die Diskurstheorie den Exodus aus der Metaethik anleiten können. Daher möchte ich in einem kurzen Anhang zu diesem transzendental-kritischen Kapitel auf die für die Funktionalität meiner Systemkomponenten auffällige Nähe zu den Gedanken von Apel und Habermas hinweisen. 204

204 Es ist, wie ich im vorigen Abschnitt auf direktem Weg gezeigt habe, offensichtlich möglich, eine Melange aus dem guten Willen als »Juwel« der Moralität und dem Fundamentalprinzip für die Verpflichtung zum größten Glück der größten Zahl zu generieren. Die Verbindung der beiden Prinzipien lässt sich auch über einen Umweg erreichen, der nach Vittorio Hösle an Hegels Anordnung von Recht, Moralität und Sittlichkeit entlangführt: »Man kann Hegels ›Rechtsphilosophie‹ so interpretieren, daß sie eine Synthese von Kantianismus und Utilitarismus darstellt […].« (Hösle 1997, S. 162 FN 77) Diese nachträgliche Synthese schafft es, eine Einbindung von Moralität und Sittlichkeit in den Bereich der »bürgerlichen Gesellschaft« sowie den Staat zu gestalten und die partikularen Wertgemeinschaften in eine hervorgehobene Rolle zu versetzen. Tugendethische und kommunitaristische Modelle – beide sind, wie Alasdair MacIntyre (vgl. Habermas 1991, S. 209 ff.) eigens betont, nicht miteinander zu identifizieren – greifen diese Bindung von Werten an konkrete Gemeinschaften mit ihren Gepflogenheiten, Narrativen und ihrem historischen Selbstverständnis bereitwillig auf. Sie positionieren sich auf diesem Weg gegen die »wirkungslosen« Abstraktionen der Prinzipienethiken. Während die Tugenden in theoretischen Konzepten meist über eine Aristotelische Tradition gerechtfertigt werden, weist Habermas in den »Erläuterungen zur Diskursethik« darauf hin, dass auch ein genuin Kantianischer Zugang zu diesen Tugenden möglich ist.

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Coda: »Diskursethik« und Transzendentalpragmatik

Habermas versucht in seinem dezidiert aufklärerischen Projekt, die strukturellen Probleme der Kantischen Philosophie zu überwinden. Er geht dabei allerdings über einige Systemkomponenten des transzendentalen Idealismus hinaus, um die von mir als »pragmatisch« bezeichnete Bewegung der Moralität zu akzentuieren. In diesem Rahmen nannte Habermas seinen eigenen Ansatz »Diskurstheorie der Moral«, wohl wissend, dass der damals inzwischen bekanntere Name »Diskursethik« nicht einfach abzuschütteln sein würde. So spricht er seither gezielt von der Moral als dem normativen Bereich des »Gerechten« im Vergleich zum ethischen Feld des Guten und – so lese ich auch den Plural »Moralen« (vgl. Habermas 1991, S. 16) – den vielfältigen Realisationen von universalen Prinzipien des Rechts und der Moral in unterschiedlichen Gemeinschaften. Die Diskurstheorie gibt sich als ein eklektizistischer Entwurf, der mit den Vorteilen der Vorgänger (vor allem Rawls und Mead) gerne und wiederholt arbeitet, während die Nachteile durch bessere Strukturmomente ersetzt werden. Mit vier zentralen Überlegungen konturiert Habermas seinen Diskurs: Deshalb stützt sich die rationale Akzeptabilität einer Aussage letztlich auf Gründe in Verbindung mit bestimmten Eigenschaften des Argumentationsprozesses selber. […] (a) niemand, der einen relevanten Beitrag machen könnte, darf von der Teilnahme ausgeschlossen werden; (b) allen wird die gleiche Chance gegeben, Beiträge zu leisten; (c) die Teilnehmer müssen meinen, was sie sagen; (d) die Kommunikation muß derart von äußeren und inneren Zwängen frei sein, daß die Ja/Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsansprüchen allein durch die Überzeugungskraft besserer Gründe motiviert sind. (Habermas 2009a, S. 357)

Er lenkt dabei die prominenten Einwände gegen das Kantianische Denken sowie gegen die idealisierte Praxis des Rollentauschs nach Mead (vgl. Habermas 1991a, S. 14 u. S. 154) weg vom atomistischliberalistischen Modell und in die Sphäre der Öffentlichkeit hinein; so gräbt er dem Kommunitarismus und dessen »dichtem« Wertekonzept den Alleinanspruch auf den Zugriff zu Hegelschen Gedankengängen ab. Wenn nun jeder, der sich auf eine Argumentation einläßt, mindestens diese pragmatischen Voraussetzungen machen muß, können in praktischen Diskursen, (a) wegen der Öffentlichkeit und Inklusion aller Betroffenen und (b) wegen der kommunikativen Gleichberechtigung der Teilnehmer, nur Gründe zum Zuge kommen, die die Interessen und Wertorientierungen

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Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

eines jeden gleichmäßig berücksichtigen; und wegen der Abwesenheit von (c) Täuschung und (d) Zwang können nur Gründe für die Zustimmung zu einer strittigen Norm den Ausschlag geben. (Habermas 2009, S. 357)

Eine prozedurale Rationalität erfüllt die Kriterien dieser »unterstellten Verständigungsorientierung« (ebd.) der Diskursteilnehmer sowohl des praktischen Vernunftgebrauchs im Einzelnen als auch der rechtlichen Institutionen und der Sittlichkeit im Allgemeinen. Habermas schafft es auf diese Weise, die »Zwei-Reiche«- oder »Zwei-Welten«-Lehren Kantischer Prägung in einer an Gadamer geschulten, hermeneutischen Vermittlung der Ersten- und Dritten-Person-Perspektive aufzuheben (vgl. ebd., S. 42 f.). Als Zwecksetzung der Moral – und damit macht Habermas seine Orientierung am Pragmatismus (insbes. an Peirce, vgl. ebd., S. 118) publik – ist dabei ganz klar die Lösung von Problemen vorgegeben, die sich in einer pragmatischen, einer ethischen und einer moralischen Dimension ergeben. Für Habermas ist die Maxime eine »Schnittstelle« (ebd., S. 106) von Ethik (Wie soll ich leben?) und Moral (Was soll man tun?) (vgl. ebd., S. 108). Praktische Vernunft zielt also auf technische und strategische Handlungsweisen ab, die der pragmatischen Anwendung entsprechen und in einigen Fällen direkt mit der Erfahrungswelt zusammenfallen. Sog. klinische Ratschläge bilden daher bei Habermas eher ein Angebot der ethischen Überlegungen in einer pluralistischen Landschaft von Lebensformen und Wertüberzeugungen. Zusätzlich kennzeichnen dann die abstrakten moralischen Urteile eine kritische Reflexion der ethischen Überzeugungen. Bis zu diesem Punkt laufen meine Überlegungen also eigentlich – bis auf die Definitionen »Moral« und »Ethik« – parallel zu Habermas’ Systematik. Allerdings wird an einem entscheidenden Punkt der »Erläuterungen« deutlich, dass die von mir als Quelle der Verbindlichkeit ausgemachte Einheit der Vernunft bei Habermas als ein »blinder Fleck« (ebd., S. 118) bezeichnet wird. Von diesem Standpunkt aus kann man sagen, dass zwar viele der Definitionen und Interpetationen in Habermas’ Diskurstheorie mit der oben entwickelten Interpretation der kritischen Philosophie übereinstimmen; jedoch gibt die Einschätzung der Verallgemeinerungsleistung der Moral einen entscheidenden Hinweis darauf, dass Habermas Kant nicht in der formalen Schwebe halten möchte, sondern mittels der Hypothetischen Imperative in die konkrete Problemlösung vorstoßen will. 160 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Coda: »Diskursethik« und Transzendentalpragmatik

Das diskurstheoretische Begründungsprogramm (vgl. ebd., S. 133) setzt zwar auch weiterhin auf die transzendentale Überzeugungskraft der Argumente und mithin auf die Klärung der idealisierten Voraussetzungen eines jeden Diskursteilnehmers, doch muss für Habermas die formale Ebene direkt mit materialen rationalen Entscheidungen und motivierenden Begründungsmustern verknüpft werden, um das Moralprinzip auch als zweckmäßig zu erweisen. Dabei wird diese Formalität aber – zum Beispiel wegen der Möglichkeit der Willensschwäche (»akrasia«) (vgl. ebd.) – zu einem Verfahrensund Kommunikationsprinzip degradiert: »Dem ›normativen‹ Gehalt von Argumentationsvoraussetzungen, die wir nicht ohne performativen Selbstwiderspruch bestreiten können, und dem darauf gestützten Moralprinzip darf […] keine unmittelbar handlungsregulierende Kraft außerhalb der Argumentationssituation zugeschrieben werden.« (ebd., S. 135) In dieser Argumentation vermute ich eine Umkehr des formalen Zusammenhangs zwischen Moralprinzip und argumentativem Geltungsanspruch (Selbstwiderspruch etc.): Das Sprechen insgesamt benötigt bereits die bindende Kraft der Synthesis, die sich in alle Bereiche des Denkens, Handelns und Unterredens erstreckt. Habermas hingegen hält sich nicht bis zur letzten Konsequenz an die transzendentale Dynamik, sondern kippt bereits auf der Ebene der Transzendentalphilosophie in die pragmatische Argumentation: Wir sprechen nicht zufällig von ›moralischen Wahrheiten‹, um dem Kategorischen der Sollgeltung Rechnung zu tragen; aber mit diesem Geltungsanspruch affiziert die Vernunft einen Willen, dessen Kontingenz darin besteht, auch anders entscheiden zu können. Autonom ist der Wille, der sich durch moralische Einsichten binden läßt, obwohl er anders entscheiden könnte. Kant hat dieses Moment fälschlich gleichgesetzt mit dem Akt der Loslösung von allen empirischen Motiven. (ebd., S. 136)

Es ist daher nicht überraschend, dass Habermas im Vorwort zum dritten Band der Studienausgabe »Diskursethik« (2009b) auf seine Abkehr von der Letztbegründungsmöglichkeit durch transzendentale Argumente eingeht. Wenn er nämlich bei der Bestimmung des Selbstwiderspruchs und der Selbstbestätigung von »einigen« performativen Sprechakten bleibt, wird die Quelle der Moralität (als die geforderte Verbindlichkeit) selbst gar nicht in die idealisierenden Voraussetzungen eines vernünftigen Diskurses aufgenommen. Hätte Habermas dieses Ideal berücksichtigt, wäre die Reichweite – und da161 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

mit der Gricesche Zungenschlag – seiner Präsuppositions- wie auch seiner Reparaturleistungen m. E. noch deutlicher hervorgetreten. Den letzten Schritt zur Unhintergehbarkeit und Omnipräsenz von Verbindlichkeit auf allen Ebenen und in allen Formalitätsgraden der praktischen Philosophie setzt Habermas folglich ganz bewusst aus. Nach dem bisher vorgestellten Argumentationsaufbau zur Rolle der Verbindlichkeit in der Moralphilosophie stellt sich aber doch die Frage, ob die Letztbegründung nicht impliziter Teil des je erfolgenden Diskurses bleiben muss, um die immer schon getätigten Präsuppositionen einer rationalen Kommunikationsgemeinschaft methodologisch 205 zu reflektieren. Habermas greift auf formale pragmatistische Voraussetzungen zurück, wie die gegenseitige Unterstellung der Rationalität aller Kommunikationsteilnehmer (etwa als ein an Donald Davidson angelehntes »principle of charity«) und die Annahme einer gemeinsamen realen Welt mit vielfältigen Zugangsmöglichkeiten (vgl. Habermas 2001). 206 Diese »Transformation« der reinen in eine situierte Vernunft ist bekannt als »Detranszendentalisierung«, bei der eine Historisierung und eine Kontextualisierung die Kraft der Vernunft mit einer kommunikativ verkörperten Daseinsweise versehen. Konkrete Handlungszusammenhänge und die regulative Idee der Vernunft werden auf diese Weise »anti-dualistisch« zusammengeführt. Habermas verzichtet also auf die tiefsten Ebenen des transzendentalen Denkens und grenzt sich damit bewusst von Apel ab, der eine solche Sichtung der Bedingungsgefüge – bspw. im Referenzsystem von konkreten, expressiven und zugleich beschreibenden Sprechakten – für eine Legitimation der Moralität weiterhin befürwortet. Als »Weggefährten« bleiben Habermas und Apel gemeinsam Verfechter der Rationalitätsansprüche in der Moralphilosophie gegenüber all ihren Verächtern (vgl. Habermas 1991, ab S. 209: zu den Kritikern des Liberalismus). Apels »Letztbegründungsfigur« bleibt für den Nachweis der rationalen Argumentationskraft und existentiellen Verbindlichkeit (vgl. ebd., S. 187) in moralischen, ethischen und pragmatischen Belangen virulent, während Habermas – wie beschrieben – vor dem Fundamentalismus einer nicht-hintergehbaren (neutralen) Supernorm oder primordialen »Tathandlung« zurückschreckt. Habermas formuliert für seine Vorstellung eines rational Vgl. dazu Wellmers (1967) kritische Studie zu Poppers Wissenschaftstheorie. Vgl. zur Kritik an diesen Bezügen etwa Engelhard et al. (2005), darin Tom Rockmore zur Unzulässigkeit von derartigen Ethikbegründungen (vgl. ebd., S. 297). 205 206

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Coda: »Diskursethik« und Transzendentalpragmatik

motivierten Einverständnisses in einer formalistischen Ethik (vgl. ebd., S. 32): (U) Jede gültige Norm muß der Bedingung genügen, daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können. […] (D) Jede gültige Norm müßte die Zustimmung aller Betroffenen, wenn diese nur an einem praktischen Diskurs teilnehmen würden, finden können. (ebd.)

Um Habermas’ »schwache« kognitivistische Ansprüche (vgl. Habermas 2009, S. 305 f.) in seinem argumentativen (universalen?) Universalisierungsgrundsatz »U« (vgl. ebd., S. 60 u. S. 63) und seiner diskurstheoretischen Lesart des Kategorischen Imperativs im Diskursprinzip »D« (vgl. ebd., S. 343) zu bewahren, müssten die Kernkompetenzen des Diskursteilnehmers doch immer vorausgesetzt bleiben: »Die diskursethische Begründungsidee besteht also darin, daß sich der Grundatz ›U‹, in Verbindung mit der in ›D‹ ausgesprochenen Vorstellung von Normenbegründung überhaupt, aus dem impliziten Gehalt allgemeiner Argumentationsvoraussetzungen gewinnen läßt.« (ebd., S. 356) Nun teile ich die Einschätzung der Rolle der Philosophie in Habermas’ Bedenken gegen Letztbegründungen durchaus: Wenn die Philosophie sich zu Metadiskursen aufschwingt und ein »Herrschaftswissen« der Wissenschaften vermittelt oder den einzelnen Disziplinen ihren »Platz anweisen« möchte, übertreibt sie ihren Anspruch auf die eminente Position einer ersten Wissenschaft (vgl. ebd., S. 193 f.). Habermas selbst baut hingegen auf die Kohärenz des Informationsaustauschs zwischen allen an wissenschaftlichen Diskursen Beteiligten und lehnt folglich die Letztbegründung der Ethik als »weder möglich noch nötig« (ebd., S. 195) ab. Während bei Habermas stattdessen das »neutrale« Universalisierungsprinzip zur Unterscheidung der Sphären von Moral, Politik und Recht beiträgt, sieht Apel aber bereits diese Grundlegung als eine Wertung an, die also »ethisch« gar nicht neutral sein kann. Auch die wissenschaftlich kartographierten Disziplinen und ihre spezifischen Anwendungsgebiete lassen nach Apel deutliche Evaluationen erkennen. Um Apels Projekt einer Transformation der Philosophie adäquat berücksichtigen zu können, wäre zumindest der Nachweis einer transzendentalen Argumentation in den Grundsätzen der pragmatistischen Ethik erforderlich. Da aber die meisten Pragmatisten apriori163 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

schen und transzendentalen Argumenten äußerst ablehnend gegenüberstehen, müssten sich diese Begründungsansätze »implizit« oder gar »unreflektiert« in den Texten finden lassen. Apel erkennt diese Dimensionen und auch die Kritik an der Letztbegründung durchaus an, lehnt jedoch Habermas’ Ausweg einer Neutralitätsannahme des unhintergehbaren oder unaussetzbaren Diskursprinzips ab: Mit Recht hat Hans Albert das Friessche Trilemma von infinitem Regreß, petitio principii und Evidenzdogmatisierung als unüberwindbare Aporie solcher, in der Metaphysik überlieferten Letztbegründungsversuche herausgestellt. Ich habe dies von Anfang an anerkannt und insbesondere den logischen Zirkel, der durch den Rückgang der Begründung auf eine Definition der Deduktionsprämisse entsteht, als weitverbreitete Begründungsillusion zurückgewiesen – so z. B. eine Letztbegründung der Diskursethik durch entsprechende Definition des Diskursprinzips. Die Aporie kann hier freilich nicht dadurch vermieden werden, daß man das unhintergehbare Diskursprinzip als noch ›moralisch neutral‹ deklariert und versucht, das Moralprinzip gleichwohl aus der prozeduralen Diskursnorm der Unparteilichkeit herzuleiten. Denn durch strikte transzendentalpragmatische Reflexion auf das unhintergehbare Diskursprinzip zeigt sich, daß dieses Prinzip nicht moralisch neutral ist, sondern eine Bestreitung des moralischen Gehalts seiner prozeduralen Grundnormen (der Anerkennung aller möglichen Diskurspartner als gleichberechtigt und mitverantwortlich und daher als Adressaten einer universalen Konsensverpflichtung) in einen performativen Selbstwiderspruch der Argumentation führt. Dieses Sich-Zeigen der Unbestreitbarkeit von Diskurs-Präsuppositionen durch strikte Reflexion ist ein völlig anderes und ungleich stärkeres Begründungsargument als die überlieferte formallogische Herleitung aus definierten Prämissen; denn es erzwingt die Anerkennung der Letztbegründung durch einen Test, der als Alternative nur die Aufhebung des Sinns der versuchten Gegenargumentation übrigläßt. (Apel 2011, S. 15)

Apel fügt damit dem formallogischen Anspruch der Selbstaufhebung oder der Selbstbestätigung ein »sinnkritisches« (ebd.) Argument der Begründung hinzu, das zwar im Vollzug zu einer Art »Test« erhoben wird, das aber deshalb doch nicht auf empirische Überprüfbarkeit rekurrieren kann, um seine eigenen Geltungsansprüche zu belegen. 207 Diese Form der Sinnkritik geht z. B. in der Sprachpragmatik über die 207 Steinhov (1993) geht vom Grundsatz der Transzendentalpragmatik aus, dass man performative Selbstwidersprüche vermeiden solle – also Behauptungen, die leugnen, das zu tun, was man im Akt der Behauptung tut, oder Behauptungen, die Argumentationsvoraussetzungen überhaupt bestreiten (vgl. ebd., S. 293). Doch Steinhov glaubt, die Gültigkeit dieser Grundlage mit einigen Beispielen aushebeln zu können:

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Wahrheitsansprüche der Epistemologie hinaus (vgl. ebd., S. 16 FN 20). Die Begründungsstrategie, die von Apel im Rahmen der praktischen Philosophie aufgebaut wird, arbeitet also nach wie vor mit der Kantischen Methode einer transzendentalen Kritik. Nachdem diese Argumente aber vielfach als rudimentär betrachtet und weiterentwickelt wurden, 208 beruft sich Apel ausdrücklich auf eine Argumentationsfigur, die er ebenfalls aus der praktischen Philosophie Kants entlehnt: Die notwendige (Seins-)Voraussetzung für das Selbstverständnis eines Individuums als moralisches und autonomes Wesen ist die Freiheit. Diese Voraussetzung kann aber als ultimative Grundlage des vernünftigen Denkens und Handelns nicht »an sich« bewiesen werden, sondern lediglich dadurch, dass jede denkbare Alternative (Selbstzuschreibung der Unfreiheit, Selbstbestimmung als nicht freies Wesen etc.) sich im Moment ihres Erschließens selbst aufhebt. Die »subjektive Unmöglichkeit des Andersseins« (vgl. Husserl 1974, S. 200 u. S. 224) bildet so eine vorläufige Notwendigkeit auf dem unhintergehbaren Stand des Urteilenden. Da der Urteilende – so möchte ich hier anknüpfen – allerdings nicht bemerken könnte, wenn sich diese primordiale Präsupposition verändern würde, ist mit Apels Argumentation bis zu diesem Punkt also nichts empirisch (Be-) Greifbares gewonnen; und trotzdem lässt sich alles, was für die praktische Philosophie überhaupt als Begründung verstanden werden kann, nur auf dieser Basis formulieren. Selbst wenn niemand je auf diese vernünftige Grundlage reflektiert hätte, wäre sie mit dem Auftreten moralischer Diskurse in Geltung gesetzt. 209, 210 »Ich argumentiere nicht« als Urteil des Bleistifts, der den Text schreibt, wäre z. B. sinnlos. 208 So etwa von Matthias Wille in einen transzendentalen Antirealismus überführt (vgl. Wille 2011, S. 4 f. u. S. 593 ff.). 209 Im Zuge dieser »Letztbegründung« wird allerdings durch Hösle (1990, S. 209 u. S. 219) die Frage nach der Intersubjektivität selbst kritisiert und durch eine objektividealistische Variante des Absoluten konterkariert: Wie kommt das reale Kommunikationserlebnis zustande, in dem Apel dem Leser vom »Idealen« berichtet? 210 Marcel Niquet (1991), der die Verwendung transzendentaler Argumente in Strawsons »Individuals«, Hintikkas »Transcendental Arguments« und einschlägigen Texten von Stroud et al. untersucht, plädiert für eine Rekonstruktion des ursprünglichen Konzepts der transzendentalen Beweise in Kants Kritiken. Transzendentale Urteile seien einzigartige synthetische Sätze mit notwendiger, objektiver Gültigkeit, die als deduzierte bewiesene Erkenntnisse auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnisbildung verwiesen, ohne dabei einen dogmatischen Anspruch zu entwickeln (vgl. ebd., S. 99). Entscheidend in dieser Untersuchung Niquets ist schließlich die Ablösung der transzendentalen Argumentation von bestimmten konzeptuellen Vo-

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Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

Die Auseinandersetzung mit den Feinheiten der Kant-Rezeption und Diskurstheorie möchte ich in diesem Anhang nicht weiter vertiefen. Es soll lediglich noch einmal auf die Entwicklung der Diskursethik und die Figur der Letztbegründung eingegangen werden. In raussetzungen: »Transzendentale Beweise sind Argumente sui generis. Ihre Identität läßt sich darüber hinaus ohne Rückgriff auf eine Konzeption transzendentaler Erkenntnis explizieren […].« (ebd., S. 224) Im Zuge der Transformation der Transzendentalphilosophie zur transzendentalen Sinnkritik stellt Niquet den Anspruch an dieses Konzept, dass die lange Reihe nach-Kantischer Transzendentalphilosophen für die Rekonstruktion und Transformation berücksichtigt werden müsste (vgl. ebd., S. 240); erst in einem solch umfassenden Projekt würde die transzendentale Sinnkritik über den Linguistic Turn eine neue Dimension der Reflexion eröffnen: »Die so charakterisierte Idee transzendentaler Sinnkritik muß als radikale Transformation des kantischen Paradigmas transzendentaler Analyse verstanden werden, derart, daß sich das gesamte Verfahren transzendentaler Argumentation zur Form der sinnkritischen Leitfrage verändert.« (ebd., S. 276) In dieser Hinsicht sind eine kategorial-konstruktionistische (Nachweis von Sinn-Apriorizität des Weltbezugs) und eine pragmatischtranszendentale Variante (auf die Suche nach den Bedingungen der Sinnhaftigkeit von Rede ausgerichtet) der Sinnkritik möglich. Apel sei zur zweiten Form zu zählen, da er die klassische Transzendentalphilosophie um die Betrachtung von Dimensionen der Intersubjektivität erweitere (vgl. ebd.). Daher prüft Niquet (1993) die Forderung nach einer Wiedereinführung eines präintersubjektiven transzendentalen Ich anhand einiger Ausführungen von Vendler und Mackie (vgl. ebd., S. 149). Niquet konfrontiert Apel schließlich sogar mit der Diagnose eines transzendentalistischen Fehlschlusses (vgl. dazu Matsumoto 2011, S. 176), während doch ein Primat der Faktizität des Moralischen vor der universalen Prozeduralität erforderlich wäre. Somit prüfe Niquet den »Weg der Detranszendentalisierung« anhand einer Erweiterung der Rezeption und Rekonstruktion der Kritik der praktischen Vernunft (vgl. ebd.). Vgl. zu Niquets Untersuchung der transzendentalen Sinnkritik auch Matsumoto (2011, S. 165 ff.): »Die Habermassche Einsicht des Unterschieds zwischen dem Muss einer transzendentalen Nötigung und dem moralischen Muss verschärft Niquet durch sein eigenes Argument, nämlich durch die Überlegung der Unterscheidung von der universalen und idealen Gültigkeit und der faktischen Befolgungstüchtigkeit für die Moralnormen.« Um Niquets Zitat »Was es realiter heißt, moralisch zu sein, entscheidet sich hier und jetzt!« zu erläutern, führt Matsumoto weiter aus: »Der Ausgangspunkt des moralischen Handelns und der moralischen Beurteilung sind komplexe faktische Kontexte und Verhältnisse, in denen sich der Akteur befindet.« (ebd., S. 174). Der Transzendentalpragmatik attestiert Niquet, dass das transzendentale Subjekt »von vornherein kommunitär« verfasst sei (vgl. Niquet 1993, S. 162) und dass »an die Stelle der transzendental-synthetischen Einheit der Apperzeption […] das Apriori der unbegrenzten Kommunikations- oder Interpretationsgemeinschaft [rückt]« (ebd.). Damit wäre es seiner Meinung nach möglich, objektual (als Pluralität realer Diskurssubjekte mit transzendentalnormativer Identität) und relational (als Gefüge von unhintergehbaren Ansprüchen) auf eine universale Reziprozität der Intersubjekt-Identität realer Diskurssubjekte zurückzugehen (vgl. ebd., S. 166). In Niquets Beiträgen lässt sich eine ernstzunehmende Erweiterung der Debatte um die Letzt-

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Coda: »Diskursethik« und Transzendentalpragmatik

diesem Bestreben ist es Apel zusätzlich möglich, eine Variante des utilitaristischen, respektive des konsequentialistischen Ansatzes in die transzendentale Grundlegung der Ethik zu integrieren. Formal gesehen geht es ihm dabei nach wie vor um eine Letztbegründung, die auf einem Apriori der Kommunikation und einem formalen Gerechtigkeitsbegriff beruhen könnte. In materialer Hinsicht jedoch werden die Ebenen der Verantwortungsethik an diese Präsuppositionen direkt angeschlossen. 211 Damit erhält Apel ein formales prozedurales Prinzip der Konsensbildung, durch das die Nichthintergehbarkeit des argumentativen Diskurses in allen Bereichen der theoretischen und der praktischen Philosophie konstituiert wird. Aus dem Faktum der Vernunft werden daher gleichzeitig die Solidarität, die Mitverantwortung und die Gleichberechtigung aller Vernunftwesen abgeleitet. Hinzu kommen auch hier strategische und zweckorientierte (utilitaristische) Ausrichtungen, die vornehmlich zur Anwendung der ethischen Grundlagen dienen. Durch diese Ausgestaltung der transzendentalen Begründung wird von Apel allerdings eine normative Bedingung der Möglichkeit des schlussfolgernden Denkens eingesetzt und damit als notwendige ethische Präsupposition des Argumentierens postuliert. Nun kann diese Grundlage nicht »vor« einer konkreten Artikulation – durch diese selbst – bewiesen werden. Vielmehr sei es das Apriori »des Logos« als Sprache, durch das für eine immer schon vorausgesetzte Kommunikationsgemeinschaft – und nicht etwa als Privatsprache oder als Einsicht einer Elite – auf die idealen Aspekte des Diskurses insgesamt verwiesen werden kann. Noch gemeinsam mit Habermas werden diese Kriterien des idealen Diskurses zusammengestellt, aus deren allgemeiner Akzeptanz überhaupt erst eine (formale) Rechtfertigung des zu erwartenden Diskurs-Konsenses ermöglicht wird. 212 Reale rechtliche, politische und ethische Bestimmungen unterliegen begründung in der Diskursethik erkennen, die nicht zuletzt aus seiner Rezeption der Aufsätze von Strawson, Mackie, Vendler und Williams zum Thema des »Transcendental ›I‹« resultiert. 211 Habermas würdigt diese Leistungen des Apelschen Denkens mehrfach, vgl. etwa Habermas (2009, S. 878 f.). 212 Dazu zählt im Weiteren auch »ein auf den ersten Blick plausibler Ausweg […], ›Wahrheit‹ durch die Annahme idealer Rechtfertigungsbedingungen von bloßer Akzeptabilität zu unterscheiden: wahr ist, was unter idealen epistemischen Bedingungen (Putnam) oder in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft (Apel) bzw. idealen Sprechersituation (Habermas) als gerechtfertigt akzeptiert würde.« (Habermas 2009, S. 401).

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Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

den partikularen und also den kontingenten Bedingungen der »Lebenswelt« 213. Zur Verbindung der allgemeinen Struktur mit den konkreten Gegebenheiten nutzt Apel seine profunden Kenntnisse der Kategorienlehre und der Zeichentheorie von Charles Sanders Peirce. Damit weist er auf die »Transformation« der Philosophie hin, die im Übergang von der Erkenntnistheorie in das neue Paradigma der Sprachphilosophie, insbesondere der linguistischen Pragmatik (Austin, Searle, Grice et al.) nachgezeichnet werden kann. Man sieht hier sehr deutlich, dass die Kantianische Begründung des Faktums der Vernunft für Apel noch lange nicht ausreicht, um die praktische Philosophie in dieser Transformation zu erhalten. Hegel, die Pragmatisten, die hermeneutischen und geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen Reaktionen auf die Kritiken Kants müssen nach Apel unter Wahrung der wissenschaftstheoretischen Konsistenz in diese Bewegung integriert werden, 214 um der praktischen Philosophie des späten 20. Jahrhunderts gerecht werden zu können. Das »Leibapriori« und die Betrachtung des Individuums in seiner je konkreten sozialen und natürlichen Umgebung wird unter diesen Voraussetzungen in eine universale Ethik hinein transportiert. Annemarie Pieper schätzt diese Einbettung so ein, dass »die Vermittlung von Faktizität und Norm […] somit nicht im Begriff, sondern nur in der Praxis geleistet werden [kann]« (Pieper 1978, S. 323). Diese Praxis werde ihrerseits aber ausschließlich von einer Kommunikationsgemeinschaft ermöglicht, sodass Apel sowohl das solipsistische Charakteristikum der Epistemologie als auch die Definition des Menschen als Gesellschaftswesen erfolgreich in eine pragmatische sprachphilosophische Konzeption transformiere (vgl. ebd.). Aber auch in diesem Zusammenhang gebäre die Transzendentalpragmatik aus der Synthesis der transzendentalen Apperzeption heraus ihren Anspruch auf die Intersubjektivität (vgl. ebd., S. 326), wie sich besonders in der 213 Zur Verwendung des Begriffs »Lebenswelt« bei Habermas vgl. Goldstein (2012, S. 119). 214 Apel wendet die Figur des performativen Widerspruchs auch auf den Fallibilismus an. Hösle vermutet in diesem Geltungsanspruch einer universalen »Minimallogik« (dieser Ausdruck stammt allerdings von Hans Lenk) einige Probleme: Es gebe sehr viele Lücken in den argumentativen Übergängen zwischen den Disziplinen, Positionen etc. Ob eine Anwendung der Diskursethik auf diese Bereiche möglich sei, müsse daher erst noch gezeigt werden. Trotzdem werde aber direkt eine unüberprüfbare Letztbegründung angestrebt, ohne zwischen der Genesis und der Geltung in den theoretischen Behauptungen zu unterscheiden. Ich greife diese Argumente unten in der Kritik Hans Alberts auf.

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praktischen Philosophie nachweisen lasse. Pieper erschließt aus dem gemeinsamen Erkenntnisinteresse Kants und Apels einige Reflexionsstufen für die Ebenen der »Situationsanalyse« (Theorie), der »normativen Geste« (Moralphilosophie), der »Kritik der Faktizität« (Pragmatik) und der »Entscheidung für die beste Alternative« (Praktik), die in der Praxis jedoch »durcheinandergehen« (ebd., S. 329). Weiter sieht Apel die Einwände von Hösle entsprechend als eine »Erquickung« an, da Hösle »soweit ich [sc. Apel] sehen kann, […] der erste Philosoph in Deutschland [ist], der die Pointe der (von Habermas und mir vertretenen) Diskursethik – insbesondere auch die der transzendentalpragmatischen Letztbegründung – erstens verstanden hat und zweitens nicht als zu anspruchsvoll betrachtet, sondern – im Gegenteil – als nicht anspruchsvoll genug« (Apel 1990, S. 104). Wo sie nicht mehr bloß als universale eidetische Variation, sondern als generalisiertes Dogma aufzutreten scheint, wird die Letztbegründungsargumentation aus Sicht der meisten Kritiker jedoch überstrapaziert. Dieser Vorwurf wird bereits bei Hans Albert (2003) erkennbar, der gegen den »verkappten« Rationalismus Apels mit seinen nicht mehr weiter zu erläuternden anthropologischen Voraussetzungen argumentiert. Apel verlasse die konsequente kritische Haltung und strebe eine axiomatische und nicht empirisch überprüfbare Setzung zum Ausgangspunkt der Verbindlichkeit an. Ob hier die Vernunft nicht fehlgehen könne oder der Fallibilismus selbst eine Metaebene benötige? Hermeneutik, linguistische Pragmatik und philosophischen Pragmatismus in die transzendentale Reflexion zu integrieren, sei ein gewagtes und teilweise widersprüchliches Unternehmen (vgl. ebd., S. 76). 215 Anstatt auf die empirische Forschung zu setzen, versuche die Transzendentalpragmatik, sich die Zusammenhänge der Sachverhalte argumentativ zurechtzulegen. Dass Verstehen und Erklären zusammenfallen, ist auch für die kritischen Rationalisten unstrittig, doch 215 Tatsächlich sind die Verweise Apels auf Heidegger, Peirce und Josiah Royce so ausgerichtet, dass die transzendentale Ausgestaltung von apriorischen Strukturen im Bewusstein, im Leib und in der Kommunikation zum Tragen kommen kann. Woher diese »Einsichten« stammen und wie die Kategorien aufeinander verweisen, ist für Albert in den Verschleierungen des transzendentalen Sprachspiels – vor allem bei den willkürlichen Komposita »Transzendentalpragmatik, Transzendentalhermeneutik (vgl. ebd., S. 79) – offensichtlich nicht mehr nachvollziehbar (vgl. ebd., S. 12), auch wenn die Verkörperung und die Sozialisierung des Kantianischen Denkens grundsätzlich in die richtige Richtung weise (vgl. ebd.).

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Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

der Anteil der wertenden Auslegung müsse in der wissenschaftlichen Forschung doch hinter möglichst neutrale Erklärungen zurücktreten. Nun verstehe Apel aber nahezu alles: Voraussetzungen des Denkens, Regeln des Diskurses und »Transzendierungen« des immer schon vorgängigen Austauschs von Wissenschaftlern (vgl. ebd., S. 60); wo wäre der Gewinn einer solchen Kommunikationspraxis und wie hoch wären die »Kosten«? Albert meint, in der Herleitung der notwendigen Präsuppositionen eher einen Sprung statt eine argumentative Leistung zu erkennen (vgl. ebd., S. 75), und er vermutet hinter den gesetzten Argumentationsstrukturen des Kollektivsubjekts (vgl. ebd., S. 128) eine Kompensationsleistung für den Cartesianischen Gott. Auch in der rationalistischen Transzendentalphilosophie sei demnach geheimes Hintergrundwissen erforderlich und auch die Evidenz bzw. Unbezweifelbarkeit der »Tathandlung« seien offensichtlich nur für eine bestimmte Gruppe professioneller Philosophen direkt einsichtig und wissenschaftlich tragfähig. Vor diesem Hintergrund diagnostiziert Albert nun ausgerechnet im eigentlichen Neuerungs- bzw. Lösungsversuch Apels, nämlich im Ausweg aus den transzendentalen Problemstellungen durch die Einbindung des Pragmatismus, die »Sackgasse« der Apelschen Transzendentalpragmatik. Aus dieser Analyse wird also deutlich, dass sich die von mir vorgelegte Architektonik in einer transzendentalpragmat(ist)ischen Tradition befindet: Erfahrungen des Erlebens und erlebendes Erfahren sind jeweils relationale und reziproke Felder. Es wird aber außerdem ersichtlich, dass sich die Zuschreibung der Ebenen sowie die Annahme der konkreten Verbindungen von der Transzendentalpragmatik – trotz oder vielleicht auch gerade wegen der gemeinsamen Bezüge auf Kant und die klassischen Pragmatisten – signifikant unterscheiden. Durch diesen Abriss der Diskurstheorie und Diskursethik sind nämlich folgende Differenzen der »Diskursethik« zum vorliegenden Projekt hervorgetreten: a) Die Konzeption von Habermas lässt m. E. den entscheidenden Schritt zur Grundlegung der Verbindlichkeit aus. b) Die Nähe zu Apels Transzendentalpragmatik bringt offensichtlich ein paar Probleme mit sich, die Albert (1975 u. 2003) zusammenträgt: 1. Inkonsistenzen wegen der transzendental-eklektizistischen Konzeption, 2. ein Abweichen von der »wissenschaftlichen« Ausrichtung der kritischen Philosophie aufgrund der unüberprüfbaren Letzbegründungshypothese, 3. der Anspruch auf Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit wird – über den jeweiligen Autor hinaus – nicht 170 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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eingelöst, 4. im Zusatz der Letztbegründung entsteht ein zusätzlicher »Wert« der Transzendentalpragmatik z. B. gegenüber dem Kritischen Rationalismus, 5. das Sinnkriterium Apels ist eigentlich nur ein Hinweis auf die Unmöglichkeit, an etwas zu zweifeln (vgl. Albert 2003, S. 146), was daraus an Erkenntnissen folgen könnte, ist aber völlig unbestimmt, 6. der fundamentalistische Anspruch räumt nicht plausibel die Vermutung aus, dass es ein anderes System geben könnte, das alternative Problemlösestrategien vorschlägt (vgl. ebd., S. 153), 7. nur weil es dem Transzendentalphilosophen selbst plausibel erscheint, dass er sein eigenes Denken voraussetzt, rechtfertigt dies noch keinen allgemeinen Geltungsanspruch – dies sei bestenfalls eine reflexive Begründung der normativen Ethik durch eine »Dogmatisierung plausibler Regeln« (ebd., S. 158). Da ich ebenfalls den Pragmatismus – freilich in einer leicht von Apel abweichenden Form – an die kritische Philosophie annähern werde, hoffe ich, diese Probleme im Weiteren vermeiden zu können. An Alberts Einwänden 216 wird sich daher auch die fertig entfaltete pragmatistische Methodologie der Moralphilosophie messen lassen müssen. Vorab lässt sich bereits anmerken, dass ich versuchen werde, die genannten Probleme zu vermeiden, indem ich nach der oben dargelegten Ansicht den Gebrauch der Universalität im Sinne Habermas’ als »für jeden Einzelnen gilt« verstehe und die Faktizität Niquets wieder in das bloße Faktum der transzendentalen Apperzeption zurücknehme. Das daran anschließende Methodenmodell ist allerdings auf jeder Ebene der vertikalen und besonders in jeder Hinsicht der horizontalen Achse offen und pluralistisch. Die transzendentale Kritik ist damit eine Methode und kein Selbstzweck, d. h. noch keine systematisch ausgearbeitete Transzendentalphilosophie. Aus diesem Grund bleibt die Kritik im Rahmen der wissenschaftlichen Haltung des Fallibilismus und sogar der Viabilität. Folglich liegt es mir fern, Kants kritisches Denken so zu deuten, als gehe er auf die Ebene einer Metakritik über, um eine Begründung einer »fertigen« Moralität zu leisten. Vielmehr kann ich mit Dreyfus & Taylor (2016) und auch mit Niquet auf eine direkte Performanz im Umgang mit lebensweltlichen Bedingungen hinweisen: »Kant hat […] keine transzendentale Begründung des Kategorischen Imperativs angegeben, also: Zurück zu Kant?« (Niquet 2002, S. 172) Auch Hans Joas sieht in »Praktische Intersubjektivität« (1989) einige Unwägsamkeiten der Diskurstheorie vorliegen und kappt aus 216

Vgl. dazu auch noch einmal Niquets Ergänzungen (vgl. o. S. 118).

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Die transzendentale Architektonik der Moralphilosophie

diesem Grund zunächst deren Verbindungen zu Meads pragmatistischer Philosophie (vgl. Joas 1989, S. XXV). Er kommt allerdings später auf einen integrativen Ansatz zu sprechen, in dem Diskurstheorie und Meads Ethik erneut verbunden werden können. In diesen Passagen führt er aus, einige der Bedenken des Kritischen Rationalismus ließen sich zumindest für die moderaten naturalistischen Diskurstheoretiker (Habermas, Wellmer und Günther) nicht aufrechterhalten. So schließe ich diesen Anhang mit einem Zitat von Habermas und komme damit zu eben diesen pragmatistischen Vorläufern: »Es gibt keine Metadiskurse in dem Sinne, daß ein höherer Diskurs einem untergeordneten Diskurs die Regeln vorschreiben könnte.« (Habermas 1986, S. 350)

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3. Die pragmatistische Methodologie der Moralphilosophie

Ausgehend von der Feinjustierung einer Kantianischen Moralphilosophie bei Korsgaard habe ich zunächst auf eine phänomenologische Variation des transzendentalen Ego abgezielt, um die Verbindlichkeit moralischer Phänomene herauszustellen. Die Auswirkungen der auf diese Weise akzentuierten Komponenten Relationalität und Normativität konnten durch die Transformation der Universalität in Kants Grundlegung der Moralität in das Grundprinzip des Utilitarismus demonstriert werden. Die Übergänge von der »Besinnung« des moralischen Akteurs bis hin zur pragmatischen Anwendung sollen nun auch auf die Anbindung des kritischen Denkens an den Pragmatismus hin überprüft werden. Anhand einer Genealogie des Pragmatismus möchte ich den Einfluss der relationalen Philosophie im empirischen Realismus noch ein wenig stärken und die gemeinsame kritische Genese von transzendentalem Idealismus und pragmatistischer Ethik behaupten. Ich greife diesen Vorschlag einer Synthese von Kants Transzendentalphilosophie und den klassischen Pragmatisten von Sami Pihlström auf, um anschließend bei Hans Joas und Matthias Jung eine aktuelle Werteperspektive und bei James D. Wallace eine aktuelle Normenperspektive je Deweyscher Provenienz anzuführen. Nach einem kurzen Hinweis auf die Möglichkeit einer hypothetischen Apriorizität im Pragmatismus bei Clarence Irving Lewis werden dann die moralphilosophischen Grundlagen der klassischen Pragmatisten anhand ausgewählter Werke von John Dewey, William James und Charles Sanders Peirce untersucht. Die Vereinbarkeit von Kant, Utilitarismus und Pragmatismus soll den integrativen Ansatz von Korsgaard also noch weiter ausbauen, ohne dabei die formalen Grundlagen des Relationalismus zu schwächen. Ob dieses Unternehmen erfolgreich verläuft, kann abschließend daran überprüft werden, inwiefern eine Anwendung der pragmatistischen Vorschläge auf einige aktuelle Probleme der empirischen Moralforschung stattfinden kann. 173 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Die pragmatistische Methodologie der Moralphilosophie

Während in der Metaethik zwischen kognitivistischen und nonkognitivistischen, realistischen und non-realistischen, naturalistischen und non-naturalistischen Präsuppositionen getrennt wird, sind im Pragmatismus konzeptuell keine Brüche zwischen naturalistischen, kognitivistischen oder metaphysischen Forschungsprogrammen vorgesehen; rationale Operatoren gehen onto- wie phylogenetisch aus biophysischen Anlagen hervor und reflektieren die Auswirkungen von Überzeugungen auf das Leben der Individuen. Weder die individuelle Reflexion noch die sprachliche Interaktion sollen aber dabei biologistisch reduziert werden, vielmehr werden sie selbst durch eine reziproke Einbindung in die natürlichen und sozialen Entwicklungen betrachtet. Im Umgang mit der Transzendentalphilosophie geben sich die meisten Pragmatisten jedoch wesentlich reservierter. In der folgenden Genealogie sollen daher wissenschaftliche, philosophische, politische und ästhetische Diskurse im Pragmatismus auf ihre transzendentale Anschlussfähigkeit hin überprüft werden. Da der Pragmatismus keine Doktrin darstellt, sondern »lediglich« eine Methodologie entwickelt, sind bei der Bewegung vom Pragmatismus zur transzendentalen Kritik m. E. keine allzu großen Hürden zu meistern. Insgesamt verspreche ich mir von dieser Verbindung die Möglichkeit, das Feld der Moralität zwischen den Kategorien des Erlebens, der Handlung und der Reflexion generieren und auf transzendentale Weise beschreiben zu können. Um also das pragmatistische Instrumentarium mit der transzendentalen Kritik kombinieren zu können, muss zuvor eine systematische Anbindung der beiden Methoden belegen, dass ein Übergang aus der kritischen Philosophie in den Pragmatismus möglich ist. Da ich wie Apel (1975) davon ausgehe, dass in den Anfängen des Pragmatismus bei Peirce eine Transformation der transzendentalen Kritik in den Pragmatismus stattgefunden hat, kann durch einen entsprechenden Nachweis belegt werden, inwiefern das kritische Denken den Pragmatismus bis heute prägt bzw. dass diese Disposition sich bis in die aktuellen pragmatistischen Positionen vererbt hat. 217 Es handelt sich bei dieser Untersuchung also nicht um

217 Vgl. Fisch (1986, S. 130). Es ist die transzendentale Lesart der Peirceschen »Paper«, die ich in dieser Studie mit Apel teile. Darüber hinaus werde ich wegen der oben angegebenen Parallelen nur in Seitenverweisen auf die Transzendentalpragmatik, Diskursethik oder Diskurstheorie und deren variierenden Begründungsanspruch zu sprechen kommen (vgl. dazu die Diskussionsgrundlage in Schweppenhäuser (2005,

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Die pragmatistische Methodologie der Moralphilosophie

einen »Kaltstart«, sondern um eine lange gehegte Vermutung unter Philosophiehistorikern, dass die Kluft zwischen Pragmatismus und Idealismus (und Analytischer Philosophie) möglicherweise leichter zu überbrücken sei, als dies gemeinhin gemutmaßt wurde. So zeigt etwa Ludwig Nagl (1992, S. 135 f.) für die praktische Philosophie, dass Peirce durch die eminente Rolle der Selbstkontrolle in seiner »Ethik« jede Art von Normativität anschlussfähig zu Kant entwickelt; an diese Position knüpfen heute insbesondere Nicola Erny (2005), Gesche Linde (2013) und Sami Pihlström (s. u.) an. Da ich für die Genealogie der pragmatistischen Ethik eine Auswahl treffen muss, gebe ich zuerst einen Überblick über die Entwicklungslinien a) Pihlström-White/Lewis-James/Peirce, da hier die – allerdings nachträgliche – Verbindung von Pragmatismus und transzendentalem Idealismus angestrebt wird, b) Jung-Dewey-Peirce und Joas-Mead-Peirce sowie Wallace-Dewey-Peirce, um sowohl Werte als auch Normen in den aktuellen Interpretationen der klassischen pragmatistischen Ethik ausfindig zu machen. Über die Zwischenschritte der »Zweiten Generation« des klassischen Pragmatismus (Lewis und Mead) gehe ich dann zur Untersuchung dieser Konzepte bei Dewey, James und Peirce über. Auf das Gesamtprojekt bezogen setze ich diese genealogische Vorgehensweise als Forschungsinstrument deshalb ein, weil sie die Hypothese stärken kann, dass die Universalität des moralischen Prinzips keine abstrakte Regelmäßigkeit (Generalität) für die Pragmatisten bedeutet, sondern ebenfalls auf das aktuale Vollzugsmoment des Daseins verweist, das sich als Relationalität und Normativität der formalen Verbindlichkeit in der Lebenswelt manifestiert. 218 Genauer formuliert ist die Genealogie als Methode für die anstehende Untersuchung durch drei Leistungsmerkmale qualifiziert: a) Werner Stegmaier (1994, S. 64 ff.) beschreibt Nietzsches Genealogie als eine Form der Ahnenforschung, die den Blick des Forschers in die Vergangenheit versenkt und ganz bewusst mit der Auswertung der ihm vorliegenden Dokumente und Quellen in die immer dunkler werdenden Verästelungen der Vorzeit hineinarbeitet. b) Nietzsches eigene Darstellung der Genealogie wird zusätzlich vor allem als eine S. 19) und Wellmer (1986, S. 139) zur (Wieder)Annäherung von Diskursethik und Kant). 218 Vgl. die (oben bereits angesprochene) »speculative« oder »positiv-vernünftige« Seite des Logischen bei Hegel, Enz. § 79 u. § 82 (GW 20, S. 118 ff.).

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»Vivisektion« 219 der aktuell zur Verfügung stehenden historischen Konstruktionen betrachtet, für deren Selbstlegitimation die Nutzung gezielt ausgewählter Quellen eine Art »Machtstreben« dokumentiert. Schicht für Schicht in die Richtung der Ursprünge eines solchen Strebens zu forschen, ist nach Christian Benne weniger eine Genealogie im Sinne der Ahnenforschung als ein methodisches Know-How, das Nietzsche sehr wahrscheinlich aus der Bonner Philologie (»Ritschl-Schule«) übernommen und verfeinert hat: Die genealogische Methode der Ordnung überlieferter Texte in einem stemma codicum geht von der heuristischen Grundannahme aus, dass keine zwei Abschreiber denselben Fehler machen. Die Überlieferung wird bis zu dem Exemplar aufgespaltet, von dem nach allen vorliegenden Erkenntnissen die erste Spaltung ausging. Dieses Exemplar ist der Archetypus, das Ziel aller philologischen Bemühungen. Die Philologie sucht nach den ›Wurzeln‹ des Textes, um durch Vergleich einen Archetypus zu rekonstruieren, der dem Original, also einem mit der Absicht des Autors übereinstimmenden Text, nahe kommt. (Benne 2005, S. 99 f.)

Bei dieser (Re-)Konstruktion des Archetypus einer Quelle gelten hermeneutische Prinzipien und Fallibilismus in gleicher Weise als methodische Grundlagen. In beiden Interpretationen der Genealogie – als Ahnenforschung und als Quellengeschichte – bleibt folgende Bewegung aus a) erhalten: Während die historische Bewegung auf uns zusteuert und uns als »verästeltes« Ergebnis einer Evolution ab ovo präsentiert, versucht die Genealogie, durch die umgekehrte gedankliche Bewegung in das Dunkel der Vergangenheit hinzublicken. Sie verliert sich in den Vernetzungen der Herkünfte und Verwandtschaften, die die vorliegenden Quellen in der Vergangenheit beleuchten. c) In der neuesten Foucault-Forschung wird die Genealogie ausdrücklich als kritische Methode der (Selbst-)Transformation und (Selbst-) Kontrolle eingestuft (vgl. Koopman 2013, S. 217 ff.). Foucault nutzt diese Methode in seinem Spätwerk vor allem, um Brüche und Streu219 Negativ definiert werden Vivisektion und Nietzsches eigene Methode über den Kontrast zu den theoretischen Begründungsversuchen: »Was die Philosophen ›Begründung der Moral‹ nannten und von sich forderten, war, im rechten Lichte gesehn, nur eine gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moral, ein neues Mittel ihres Ausdrucks, also ein Thatbestand selbst innerhalb einer bestimmten Moralität, ja sogar, im letzten Grunde, eine Art Leugnung, dass diese Moral als Problem gefasst werden dürfe: — und jedenfalls das Gegenstück einer Prüfung, Zerlegung, Anzweiflung, Vivisektion eben dieses Glaubens.« (Nietzsche, JGB V 186, KSA 5, S. 106).

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ungen zu untersuchen und damit das Selbstverständnis »des Subjekts« genauer analysieren zu können. Es wird keine lineare Aufbereitung des Gewordenseins nachgezeichnet, sondern eine Auswahl einzigartiger Ereignisse vorgenommen, die ein Geschichtsbild entweder durch Belege legitimieren (vgl. auch Marquard 1980, S. 268) oder durch Brüche kompromittieren können. Nach Foucaults Verständnis dieser Methode geht es also ebenfalls nicht um die Suche nach einem eindeutigen »Ursprung«, weder als normative Begründung noch als historischer Anfang. Es ist vielmehr die Frage nach der Herkunft insgesamt, die eine Suche nach dem heute Wiederkehrenden erlaubt. In dieser Herkunft stoße man oftmals auf Ungereimtheiten und diffuse Kräfteverhältnisse statt auf eindeutige Identitäten (vgl. Foucault 2009, S. 189 ff.). 220 In diesem Umfeld der an Foucault angelehnten Diskursanalyse und im Rahmen der pragmatistischen Methodenkonzepte Grounded Theory und Mixed Methods greife ich die Genealogie als »kritische Methode« auf. 221 Ich blicke auf eine Reihe einschlägiger Dokumente und Forschungsimpulse zum Thema »Pragmatismus« und »Pragmatistische Ethik« und weise – im Rahmen der für das Projekt angemessenen Möglichkeiten – auf Definitionen, Konturen, Topoi und v. a. Traditionslinien hin, die eine philosophiehistorische Tiefe beanspruchen und sich selbst damit als Produkt einer geschichtlichen Genese darstellen. 222 Diesen genetischen Zeitpfeil »auf uns zu« kehre ich mittels der Genealogie um und schaue an der heute konstruierten Entwicklung entlang in die jüngere Philosophiegeschichte zurück. Da die Ahnenforschung sich wie beschrieben »normalerweise« in ihrer eigenen Konstruktion der Vergangenheit verlieren muss, stammt – so meine Vermutung – die pragmatistische Strömung der Philosophie, 220 So lässt sich bei James der Wunsch einer Stärkung der angelsächsischen Tradition der Philosophie als Impuls für die Diskreditierung des Kantischen Erbes lokalisieren, aus dem der Pragmatismus als neuer Forschungsansatz hervorgeht, vgl. u. 221 Nach Clarke (2012, S. 44 u. S. 47) sind »Grounded Theory und Situationsanalyse […] als Theorie-Methoden-Pakete durch ihre Verankerung im Symbolischen Interaktionismus [nach Mead, Park, Blumer et al.; W. M.] in vielerlei Hinsicht immer schon nach dem postmodern turn positioniert«. 222 Diesen Gedanken einer Erforschung der pragmatistischen Wurzeln hatte auch schon Nicolas Rescher in »Pragmatism at the Crossroads« (2005). Er verspricht sich vom Nachweis einiger Abweichungen im Vergleich zum ursprünglichen Konzept des Pragmatismus bei Peirce und James eine Neubewertung der aktuellen Debatte um den sog. Neo-Pragmatismus (Hard- und Softversionen des Pragmatismus, vgl. ebd., S. 359).

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wie ich sie hier prototypisch präsentiere, aus dem weiten Feld der kritischen und idealistischen Philosophie. Die berechtigte Frage nach dem »Mehrwert« einer pragmatistischen Ethik für die aktuelle Forschung der Moralphilosophie im Vergleich zur kritischen Philosophie möchte ich dabei durch die methodologischen Errungenschaften des Pragmatismus beantworten.

3.1 Sami Pihlström: »Pragmatism goes transcendental« Die Dimensionen des Moralischen sind seit Cicero auf das Engste mit dem Begriff der Person verbunden (vgl. Pleger 2014, S. 218), denn Menschsein, körperliche Besonderheit, soziale Rolle, Entfaltungswille entwickeln ein natürliches Streben, das in situativen Konstellationen zum Tragen kommt. Die zentrale Frage, die ich daher von Pihlström aufgreifen möchte, betrifft die Möglichkeit von konkreter Normativität in der Anthropologie. Diese Fragestellung kann zurückgeführt werden auf Konzepte von Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen usw. (vgl. Pihlström 2003, S. 260). In Anlehnung an Heikki Kannisto will Pihlström vier zentrale Typen der philosophischen Anthropologie unterscheiden: Essenzialismus, Naturalismus, Existenzialismus und Kulturalismus, wobei besonders die letztgenannte Variante sich explizit auf ihre Kantianischen Wurzeln besinnt. Der Versuch Pihlströms, aus diesem Fundus eine transzendentale Anthropologie zu erstellen, baut bezeichnenderweise auf einem Vergleich aus der Sprachphilosophie auf: In Relation zu den »Philosophischen Untersuchungen« Wittgensteins betrachtet sind Pragmatisten der Bedeutung ihres Forschungsansatzes gemäß transzendentale Anthropologen, insofern sie die normativen Zugeständnisse untersuchen, die für menschliche Praktiken konstitutiv sind. 223 Tatsächlich ist für Pihlström die Arbeit an der Frage nach dem Standpunkt der Anthropologie gleichzeitig auch selbsteinholend eine Arbeit der Anthropologie an sich selbst (vgl. ebd., S. 277). 224 Für die 223 Auch Wittgenstein kann demzufolge pragmatistisch interpretiert werden, der Pragmatismus seinerseits in direkte Verbindung zur transzendentalen Kritik gesetzt werden (vgl. Pihlström 2005). Pihlström stimmt hierin mit Sabina Lovibond als realistischer Wittgensteinerianerin überein (vgl. 2005, S. 38 f.). Vgl. dazu vor allem aber den Aufsatz von Klemme zum Thema »Wittgenstein und Verbindlichkeit« (2001). 224 Pihlström geht sogar in einem Aufsatz zu Benatar (2009) darauf ein, dass manche Dinge ethisch undenkbar seien, und bestätigt damit leider auch Vorurteile der Gegner

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philosophische Forschung entsteht daher seiner Meinung nach insgesamt die Forderung, dass verschiedene, dem Humanismus nicht zuträgliche oder leere Gedanken auch nicht weiter diskutiert werden sollten. In einigen »dunklen« Episoden der Philosophie z. B. hebe sich das Selbstverständnis des autonomen und freien Menschen regelrecht auf. Diese Standpunkte verfolgten keine melioristischen Ideale, sondern verneinten vielmehr den Sinn des menschlichen (Da-)Seins. Dadurch führen sie unweigerlich auch in eine Aufhebung der Sittlichkeit und legen für Pihlström die Option nahe, die Duldung solcher sich selbst aufhebender anthropologischer Ansätze in jeder Form zurückzuweisen. Insgesamt bedeutet dies für eine transzendentale pragmatistische Philosophie ein praktisches Primat, das Veröffentlichungen, die ethisch nicht toleriert werden können, von einem »MetaLevel« aus rational reguliert. Diese strikte Vorgehensweise führt selbstverständlich zu metaphilosophischen Problemen, die von Pihlström auch erkannt und näher besprochen werden. Wenn nämlich von einem transzendentalen Standpunkt aus gezeigt werden kann, dass Argumente einer »Logik des Scheins« folgen und dabei auch noch zu moralisch fragwürdigen Zielen motivieren, dann sollten diese gekennzeichnet und in eine Art »Quarantäne« verfrachtet (sozusagen »gequined«) werden. Nach Pihlström sollte man also nicht versuchen, die metaphysischen Probleme zunächst zu fundieren, um anschließend erst zu fragen, welche ethische Relevanz sie nach dieser theoretischen Legitimation haben, sondern man hat umgekehrt zuerst zu untersuchen, was sie für das Individuum und das soziale Umfeld in der Folge ihres Bekanntwerdens bedeuten würden. Diese Prüfung von Gegenstand und Normativität wird vor allem dadurch zur eminenten Aufgabe für die Philosophie, dass der Pragmatismus als philosophische Methodenlehre ohnehin jedem Theorem sowohl eine deskriptive als auch eine normative Seite zuspricht. Die Schlussfolgerung lautet also, dass in Anlehnung an pragmatistische Gedanken auch in die Metaphysik notwendig eine (minimale) lebensweltliche und ethische Dimension eingelassen ist; von Grund auf unethische Ansätze sollten danach anders behandelt werden als ernstzunehmende – in Form und Inhalt apriorischer Geltungsansprüche. Der Standpunkt, der von Autoren wie Benatar literarisch aufgebaut wird, nimmt eine Perspektive ein, die von den Pragmatisten eigentlich längst ad acta gelegt wurde – bei aller sonstigen Zustimmung teile ich diese Position Pihlströms im Weiteren keineswegs.

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sowie Norm und Gehalt harmonierende – philosophische Fragestellungen. 225 In »Seeking a via media: a challenge for philosophical reason« (2010) versucht Pihlström daher, einen zwischen den abstrakten metaphysischen Gedanken und den konkreten lebensrelevanten Aspekten vermittelnden Weg für die philosophische Vernunft zu finden, um belanglose Extrempositionen und sich selbst tragende Auseinandersetzungen zwischen künstlichen Dichotomien zu vermeiden. Auf diese Weise hofft er gleichzeitig, den Dialog unter all denen zu stärken, die an der moderaten und pragmatischen Arbeit an philosophischen Problemen interessiert sind. 226 Die (methodologische) Bestimmung der methodischen Optionen für eine solche Aufgabe versteht Pihlström als Teil eines kritischen Denkens, das auf der einen Seite die »Dialektik« in den Meta-Disziplinen der Philosophie durchschauen kann und auf der anderen Seite nach der angemessenen Haltung inmitten dieser antinomischen Positionen fragt. Pihlström listet hierzu eine Reihe solcher Gegenüberstellungen auf (vgl. ebd., S. 21) und entwickelt durch seinen »mittleren Weg« eine Art »Mesotes«-Methodologie, die einen pragmatistischen Umgang mit den rein epistemologischen Bereichen der Philosophie (Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Religionsphilosophie etc.) anstrebt. 227 Im Rahmen dieser kurzen Darstellung deutet sich bereits die Relevanz der selbstkritischen Methodologie Pihlströms für die Argu225 So könne man nach Raimund Gaita (2005) als Philosoph vielleicht nicht immer den besten oder intelligentesten Argumenten folgen, aber zusätzlich zur formal philosophischen Argumentation könne man auch auf die Relevanz im Leben und die ethische Dimension Rücksicht nehmen. 226 Pihlström (2005) stellt die Überwindung der Dichotomien etwa von Fakt und Wert bei Hilary Putnam so dar (ebd., S. 14), dass ethische und epistemische Bereiche »entangled, mixed up, inseparable« (ebd., S. 15) seien. Es ist ein gewinnbringender Hinweis, Iris Murdoch mit ihrem Begriff des Guten als pragmatistische Autorin zu rehabilitieren, um den melioristischen Anspruch im Pragmatismus zu stärken (vgl. ebd., S. 25). Pihlström sieht dabei einen Unterschied seiner metaethischen Ausrichtung im Vergleich zu der von Cheryl Misak eingeschlagenen »Peircean« Richtung (vgl. ebd. S. 30). 227 Hierzu bezieht Pihlström (2009) auch die philosophischen Temperamente von James ein. Es ist allerdings fraglich, ob sich diese Temperamente-Darstellung als Philosophem halten lässt, denn die psychologisierenden Zuschreibungen können durchaus angezweifelt werden. Zu jedem Urteil über ein Temperament könnte auch genau das Gegenteilige behauptet werden, sodass man mit dieser Ansicht von James in das Fahrwasser gerät, das Pihlström doch eigentlich als nicht-entscheidbare und trotzdem gefährliche Kategorisierung diskreditieren möchte.

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mentationsgrundlagen in der Metaethik an. Pihlström sieht in Kants transzendentaler Kritik eine Methode vorgezeichnet, die es ermöglicht, fehlerhafte Hypostasierungen und strukturelle Probleme philosophischer Fragestellungen, z. B. der rationalen Psychologie, Kosmologie und Theologie, zu beheben (vgl. ebd., S. 31). Er bleibt jedoch nicht bei diesem negativen Ergebnis stehen, sondern er erkennt den ursprünglichen Wert der metaphysischen Fragestellungen an und geht wie William James davon aus (vgl. ebd., S. 34), dass man zukunftsorientiert leben solle, auch ohne eine einseitige Lösung der hin- und hertaumelnden metaphysischen Sorgen zu »setzen«. Pihlström orientiert sich im Denken also an einer therapeutischen Maßnahme, wie sie von Kant in folgendem Zitat aus der »Kritik der reinen Vernunft« eben als transzendentale Kritik verstanden wurde: Das ist also die allgemeine Idee der Metaphysik, welche, da man ihr anfänglich mehr zumuthete, als billigerweise verlangt werden kann, und sich eine zeitlang mit angenehmen Erwartungen ergötzte, zuletzt in allgemeine Verachtung gefallen ist, da man sich in seiner Hoffnung betrogen fand. Aus dem ganzen Verlauf unserer Kritik wird man sich hinlänglich überzeugt haben: daß, wenn gleich Metaphysik nicht die Grundfeste der Religion sein kann, so müsse sie doch jederzeit als die Schutzwehr derselben stehen bleiben, und daß die menschliche Vernunft, welche schon durch die Richtung ihrer Natur dialektisch ist, einer solchen Wissenschaft niemals entbehren könne, die sie zügelt, und, durch ein scientifisches und völlig einleuchtendes Selbsterkenntniß die Verwüstungen abhält, welche eine gesetzlose speculative Vernunft sonst ganz unfehlbar in Moral sowohl als Religion anrichten würde. Man kann also sicher sein, so spröde oder geringschätzend auch diejenige thun, die eine Wissenschaft nicht nach ihrer Natur, sondern allein aus ihren zufälligen Wirkungen zu beurteilen wissen, man werde jederzeit zu ihr wie zu einer mit uns entzweiten Geliebten zurückkehren, weil die Vernunft, da es hier wesentliche Zwecke betrifft, rastlos entweder auf gründliche Einsicht oder Zerstörung schon vorhandener guten Einsichten arbeiten muß. Metaphysik also sowohl der Natur, als der Sitten, vornehmlich die Kritik der sich auf eigenen Flügeln wagenden Vernunft, welche vorübend (propädeutisch) vorhergeht, machen eigentlich allein dasjenige aus, was wir im echten Verstande Philosophie nennen können. Diese bezieht alles auf Weisheit, aber durch den Weg der Wissenschaft, den einzigen, der, wenn er einmal gebahnt ist, niemals verwächst und keine Verirrungen verstattet. (KrV B 03: 548.29–549.36)

Die Kritik ist demnach eine Prüfung der Grenzen des Vermögens der Vernunft: Nach innen weist sie auf die Grenzen der Leistungsfähig181 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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keit der Vernunft durch deren »Gesetz« hin und limitiert so nach außen den spekulativen Hang, der in eben dieser Vernunft von Natur aus angelegt ist. Durch diese Abgrenzung bewahrt sie die Hoffnungen der menschlichen Forschungen vor Eigendünkel, Schwärmerei und Geisterseherei. Die Gefahr dieser »Überschwänglichkeit« der Vernunfttätigkeit wird also durch ein subjektives Kriterium (»einleuchtendes Selbsterkenntniß«) gestiftet. 228 Wenn sich dieses transzendentale (hier genannt: metaphysische) Kriterium systematisierend in den Wissenschaften niederschlägt, zeigt sich die regulative Wirkung der Vernunft, nach der auch die Wissenschaften kein Selbstzweck sind, sondern der Metaphysik (als Transzendentalphilosophie) zuarbeiten. 229 Diesem kritischen Ansatz und seinem negativen Gebrauch – Irrtümer abzuhalten – gemäß wird eine Revision der traditionellen »Schulen«-Landschaft innerhalb der Philosophie erforderlich: Es gilt daher nach Pihlström, das Augenmerk auf methodische Übereinstimmungen von Theorien zu legen, statt auf die historische oder biographische Assoziation philosophischer Ansätze einzugehen (Pihlström 2006, S. 382 ff.). 230 Konkret bedeutet dies für die Vertreter des »Pragmatismus«, der »Transzendentalphilosophie« und der »Analytischen Philosophie«, dass sie sich in der philosophischen Diskussion aktuel228 Vgl. dazu auch den Aufsatz Kants »Was heißt, sich im Denken orientieren« (1786) (vgl. WDO, AA 08: 131–148). 229 »Mathematik, Naturwissenschaft, selbst die empirische Kenntniß des Menschen haben einen hohen Werth als Mittel, größtentheils zu zufälligen, am Ende aber doch zu nothwendigen und wesentlichen Zwecken der Menschheit, aber alsdann nur durch Vermittelung einer Vernunfterkenntniß aus bloßen Begriffen, die, man mag sie benennen wie man will, eigentlich nichts als Metaphysik ist. Eben deswegen ist Metaphysik auch die Vollendung aller Cultur der menschlichen Vernunft, die unentbehrlich ist, wenn man gleich ihren Einfluß als Wissenschaft auf gewisse bestimmte Zwecke bei Seite setzt. Denn sie betrachtet die Vernunft nach ihren Elementen und obersten Maximen, die selbst der Möglichkeit einiger Wissenschaften und dem Gebrauche aller zum Grunde liegen müssen. Daß sie als bloße Speculation mehr dazu dient, Irrthümer abzuhalten, als Erkenntniß zu erweitern, thut ihrem Werthe keinen Abbruch, sondern gibt ihr vielmehr Würde und Ansehen durch das Censoramt, welches die allgemeine Ordnung und Eintracht, ja den Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinen Wesens sichert und dessen muthige und fruchtbare Bearbeitungen abhält, sich nicht von dem Hauptzwecke, der allgemeinen Glückseligkeit, zu entfernen.« (ebd.) 230 Dies wird von Pihlström in »Synthesizing traditions« (2006) angeregt. Dort werden ganz im Sinne seines »Moral Realism« (Pihlström 2005) die beiden Ansätze »Pragmatismus« und »transzendentale Kritik« einander angenähert.

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ler Probleme nicht länger auf die inhaltlichen Programmatiken der eigenen orthodoxen Tradition berufen sollten (vgl. ebd., S. 385), da diese im Einzelnen das Entstehen der aktuellen Probleme offensichtlich nicht verhindern konnten. Um den heute bestehenden Herausforderungen der Menschheit begegnen zu können, würden Philosophen vielmehr von einer Kombination der Stärken all ihrer Methoden profitieren. Für seine eigene Forschung und auch für den Fokus des hier vorliegenden Projektes »Verbindlichkeit« entwickelt Pihlström das entscheidende Werkzeug einer transzendentalen und zugleich naturalistischen Methodologie durch die (Wieder-)Annäherung des »Kantianismus« an den Pragmatismus: »Thus, we may say that pragmatism is a reinterpreted form of Kantianism, instead of being an entirely anti-Kantian philosophical framework.« (ebd., S. 379) Die Argumentationschritte, die Pihlström zu dieser Annahme veranlassen, möchte ich – in dem hier angemessenen Rahmen – paraphrasieren. Ein ernstzunehmender Pragmatismus vertritt nach Pihlström seit jeher einen moderaten Naturalismus, bei dem die Subjektivität menschlicher Akteure als natürliche Entwicklung – ohne Sprung und ohne Lücke – aus dem Zusammenspiel mit der natürlichen und sozialen Umgebung hervorgeht. Die Subjektivität menschlicher Akteure muss also entsprechend relational und dynamisch verstanden werden und nicht zuletzt deshalb ist der Pragmatist auf eine Kombination aus einer philosophischen Anthropologie und einer interdisziplinären Philosophie des Geistes angewiesen. Auch wenn in dieser Interdisziplinarität nach einer transzendentalen Vereinbarkeit der Methodik gesucht wird, sollen doch sowohl wissenschaftliche als auch subjektivistische Reduktionen ausdrücklich vermieden werden, sodass das Solipsismusproblem auf der einen und metaphysische Setzungen (Materialismus, Spiritualismus …) auf der anderen Seite durch eine wissenschaftliche Etikette, man könnte auch sagen: ideale Diskursvoraussetzungen (s. o.: »Coda«), kompensiert werden. Für Pihlström geht es also u. a. darum, eine moderat naturalisierte Sicht auf das Ego freizugeben, nach der das »wir« der Forschergemeinschaft die Rolle einer (egozentrischen) Synthesis der transzendentalen Apperzeption übernimmt. Das transzendentale Subjekt wird aber trotzdem immer wieder in der philosophischen Diskussion aufgegriffen (vgl. Pihlström 2009, S. 7), weil es – wie Pihlström belegen möchte – genuin in den quasi-transzendentalen Räumen des Pragmatismus angelegt war: 183 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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There are different versions of meeting this need. Consider, for instance, Kant’s argument that we cannot account for human cognitive experience, or even for its possibility, if we take such fundamental features of experienceable objects as their spatio-temporality or causal relations as properties of those objects as mind-independent ›things in themselves‹. To see how experience and its objects are possible for us, we must, according to Kant, view them as transcendentally dependent on the activities of our subjectivity, more specifically on the transcendental structures of our cognitive capacity, such as the categories. Analogously, Husserlian phenomenology argues that the mere natural attitude is insufficient to account for human experience and consciousness in their world-directedness, i. e., intentionality. The transcendental ego – even if it is in the end (in some sense) naturalized and embodied – is needed to account for, precisely, the very possibility of the world-involvingness and ›aboutness‹ of our experience. And the same is true, though typically without any mention of the transcendental self, of pragmatist conceptions of the self and subjectivity. We cannot really understand our subjectivity and experience as ›world-involving‹ (in the sense sketched above) unless we cease to think of the world as absolutely independent of us and of the self as a mere natural object in the world. Worldinvolvingness arguably entails constitutive activity: a subject cannot really be ›involved‹ in a world that is completely independent of it (otherwise it is not a matter of being involved at all but only of being a part of – that is, being an object rather than a subject). This could be regarded as a pragmatic argument for the relevance of the notion of the transcendental self, which is ipso facto an argument against metaphysical realism. Finally, Wittgenstein offers us his versions of this argument by urging, in his early work, that the solipsistic subject is needed for relations of linguistic representation between propositions and states of affairs to be possible, and by replacing this picture, in his later work, by the idea that it is the socio-pragmatic form of life (rather than a solipsistic individual subject) upon whose constitutive and meaning-bestowing activity the world is dependent on. These are all different but deeply related ways of rejecting metaphysical realism and the picture of the self and subjectivity – ›the mind and its place in nature‹ picture, as we may call it – that seems to be entailed by such realism. (Pihlström 2015, S. 227 f.)

Wo auch immer es möglich ist, soll also die transzendentale »Subjektivität« in naturalistischen Begrifflichkeiten aufgearbeitet werden und somit ihren metaphysischen Anstrich verlieren, wie Pihlströms Wittgenstein-affine Vorgehensweise »Pragmatism goes transcendental« (ebd., S. 8) vorschlägt. Pihlström diagnostiziert jedoch zusätzlich, dass diese Subjekt-Objekt-Spaltung die Philosophie immer schon begleitet und lange Zeit sogar mit einem ethischen Solipsismus aus184 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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gestattet habe (vgl. Pihlström 2011, S. 116). Die hierin angelegten relationalen Gefüge des Kantischen Idealismus bedeuteten nämlich für die praktische Philosophie, dass jeder Wert von »meinen« wertenden Urteilen, Einstellungen und Handlungen abhängt (vgl. ebd., S. 121) 231. »Thus, the special case of subjectivity, pragmatically investigated and rearticulated, enables us to draw a general metaphilosophical moral about the need to reconsider the relations between two central philosophical sub-disciplines, ethics and metaphysics.« (Pihlström 2009, S. 10) Durch diese Synthese von transzendentalem Idealismus und Pragmatismus kann Pihlström in »Toward Pragmatically Naturalized Transcendental Philosophy of Scientific Inquiry And Pragmatic Scientific Realism« (2012) die traditionell angesetzten »Grenzen« zwischen fallibilistischen, verifikationistischen, kritischen, naturalistischen und realistischen Ansprüchen der Wissenschaftstheorie neu untersuchen. Da alle Wissenschaften ohne Zweifel menschliche Wissenschaften sind, müssen – nach der oben entwickelten Synthese – auch die Naturwissenschaften zur Redlichkeit einer expliziten Perspektivität wie auch zur Methodentransparenz verpflichtet werden. Letztlich scheint es Pihlström also darum zu gehen, eine Spielart des »holistischen Pragmatismus« (er arbeitet hier mit Gedanken von Thomas Kuhn, Willard V. O. Quine und Morton White) »hoffähig« zu machen und einen empirischen Realismus zu etablieren, der eben auch in praktischer Hinsicht Auswirkungen hat. 232 Da durch die zuvor geleistete Aufhebung des epistemologischen Fundamentalismus eine Art »Leerstelle« entsteht, gilt es nach Pihlström nun, die naturalistischen Kompensationsversuche nicht durch neue teleologische Hoffnungen oder etwa durch einen Rückfall in referentialistische oder konsensualistische Wahrheitstheorien überzustrapazieren. Die Wahrheit bleibt für ihn als ein Regulativ im wissenschaftlichen Forschungsprozess erhalten, was – in Anlehnung an Peirce (vgl. Cooke 2005, S. 652) – verlangt, dass die Leitprinzipien der Forschung gedeckt sein müssen durch Erfahrung und wissenschaftliche Expertise (vgl. ebd., S. 656). 233 »As Pihlström says […]: ›… since231 Pihlström kann auf diese Weise auch die »mystischen« Anknüpfungspunkte an Wittgenstein berücksichtigen. 232 Die Verbindung von Realismus und Nominalismus, Pragmatismus und Konstruktivismus, Idealismus und Realismus und entsprechend von allen vorstellbaren Spielarten dieser Positionen solle folglich neu überdacht werden (vgl. ebd., S. 89). 233 Ich sehe nicht, wieso Christopher Hookway darin bereits einen Grund findet, den

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re hopes, based on our natural human needs (e. g., needs related to the conduct of inquiry) are practically identifiable with true beliefs […]‹.« (ebd., S. 664) 234 Relationale Konzepte der Philosophie, d. h. transzendentale Pragmatisten, Phänomenologen und auch sog. Konstruktivisten, besetzen damit – wie oben veranschaulicht – durch einen idealistisch fundierten »moral realism« in der Metaethik eine ernstzunehmende »mittlere« Alternative zum metaphysischen Realismus auf der einen und zu relativistischem Relativismus bzw. radikalem Subjektivismus (vgl. Pihlström 2005, S. 24) auf der anderen Seite. »The pragmatic moral realist can hold that moral values and duties are personally real, objective to some extent (that is, not subjective or ›relative‹ in any easy way), though of course not objective in the sense which sticks and stones and electrons are ›objective‹.« Wie in »Toward a Pragmatically Naturalist Metaphysics of the Fact-Value Entanglement« (2010, S. 339–341) näher ausgeführt, versucht Pihlström die Aufhebung der Dichotomien in einem an Peirce angelehnten »Synechismus« zu bewerkstelligen: Dilman [(2002, S. 193 u. S. 218)] is right to point out that mere objective existence in the sense of existence ›independently of the individual‹ is not enough for the reality of moral values qua moral […]. Moral reality is, in this sense, personal and absolute […]. However, entanglement is not identity. If one claims, with Putnam, that ethical evaluation is entangled with or inseparable from (scientific, objective) description of facts, one is not thereby committed to the absurd claim that there is no difference whatsoever between evaluating things morally and describing (scientifically) what is and what is not the case. (ebd., S. 32)

Für Pihlström, wie oben bereits für Korsgaard, gilt es dabei, Werte, Normen und Präferenzen gleichermaßen als empirisch reale Entitäten in eine Konzeption der Moralphilosophie zu integrieren, die Transzendentalismus insgesamt abzulehnen (vgl. ebd.). Differenzierter als Hookway, Joseph Margolis et al. stehen den transzendentalen Argumenten Pihlström und Kenneth Westphal gegenüber: Beide verfolgen zwar unterschiedliche Ansätze, wollen aber – ähnlich wie Habermas (s. o.) – jeweils den Pragmatismus über Hegel zu seinen Kantischen Wurzeln zurückführen (vgl. ebd., S. 658). 234 So kann z. B. mit Atkins’ (2006) »Restructuring the Sciences« am Modell der Peirceschen Kategorien gezeigt werden, dass Raumklassifikationen der Wissenschaften aus dem System der transzendentalen Ordnungsvorstellungen/Kategorien entstanden sind. Aus diesem Grund heraus wende ich mich gegen die Kampflinie, die von einigen Repräsentationalisten gefahren wird, indem sie die Cartesianische »Tradition« der pragmatistischen Methodik gegenüberstellen (vgl. Fodor 2008, S. 10 ff.).

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auf einem Argumentationsmuster des transzendentalen Idealismus beruht. Es ist also auch von dieser Position aus äußerst fragwürdig, ob eine zusätzliche Disziplin »Metaethik« gerechtfertigt werden kann. 235 Für die Kompensation der »Theorie der Theorie der Moral« kann also auch mit Pihlström auf die Verbindungsmöglichkeit von relationalen und transzendentalen Konzepten der Philosophie mit naturalistischen und empirisch arbeitenden Wissenschaften verwiesen werden. In der moralphilosophischen Architektonik lässt sich damit anhand der Konturen an der Oberfläche der Lebenswelt nachvollziehen, wie die konzentrischen Kreise der Tiefendimensionen in einer pragmatistischen Methodologie verwaltet werden können. Sollte Pihlström also mit seiner Annahme richtig liegen, dass die unterschiedlichen Ausprägungen des Pragmatismus zugleich Transformationen des kritischen Denkens darstellen, dann müssten sich bei einer Verdichtung der ursprünglichen Konzepte immer deutlicher auch transzendentale Methodenmerkmale konturieren, die bei James und Peirce sogar als eine »Kantianische« Punktierung am Boden des Denkens zutage treten könnten. Bei Pihlström scheinen sich, zusammengefasst, die Verbindungen der beiden Methodenansätze folgendermaßen zu gestalten: Das transzendentale Subjekt wird direkt an den Horizont der lebensweltlichen Phänomene gekoppelt. Die gemeinschaftliche Ausrichtung der Forscher kompensiert das nicht weiter spezifizierbare Problem der Selbstbestimmung. Ein an Peirce angelehnter »Synechismus« lässt die Ränder der einzelnen Bereiche ineinander übergehen: Wo zuvor Dualismen und Trennungen die Weltund Menschenbilder prägten, kann nun die Verbindung aus transzendentalem Idealismus und moderatem Naturalismus die gesamte Architektonik der Moralphilosophie modellieren. Mit Hilfe eines pluralistischen Methodenkonzepts ist es dabei möglich, der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit der lebensweltlichen Phänomene durch empirische Studien nachzuspüren.

235 Vgl. die Vielfalt des pragmatistischen Denkens in der Übersicht von Pihlström 2010, S. 60: »Kant and Pragmatism« auf www.pragmatismtoday.eu. (Stand 30. 05. 2021)

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3.2 Präferenzen, Normen, Werte und das Rückkopplungs-Apriori Die bisher angedeutete genealogische Tendenz bei Pihlström zeigt, auch wenn dies nicht direkt in Pihlströms Absicht liegt, durch die transzendentalen Strukturen einen Hang zur individualistischen Moralvorstellung. Nirgends wird aber deutlicher, dass Pragmatisten insgesamt auf der Wechselwirkung von Individuum und sozialer Umwelt aufbauen, als dies im Werk von Hans Joas der Fall ist. In einem Vortrag hebt Joas (2006, S. 3) ausdrücklich die (gemeinschafts-)konstituierende Kraft der Werte hervor und fügt dem eine negativ konnotierte Wirkung von Normen als bloß restriktiven Sanktionen von Recht und Moral hinzu. 236 Werte sind als gemeinschaftsbildende Elemente an ein präsupponiertes Freiheitsempfinden der Individuen gebunden, das durch eine Gefühls- und Empörungsgrenze abgesichert wird (dies entspricht dem, was ich unten als »Reaktanz«-Phänomen diskutieren werde). Freiheit ist die Seinsbedingung der Werte, Werte sind die Wiedererkennungsmerkmale der Freiheit. 237 »Nimmt man nun diese beiden Besonderheiten zusammen, dann zeigt sich, wie in pragmatistischer Weise die universalistische Moralkonzeption und die kontingenzbezogene Wertentstehungstheorie zu einem Ganzen zusammengefügt werden können.« (Joas 2001, S. 38) So kann Joas (1999), ausgehend von seinen Studien über die Theorien von Dewey und Mead, die Allgemeingültigkeit der moralischen Prinzipien als eine nachträgliche Abstraktion von den ursprünglicheren konkreten 236 In der starken These des »Sanktionismus« bedeutet dies, dass Akteure den Grund für eine Handlung in der Furcht vor Sanktionen sehen. Die schwache motivationale These des Sanktionismus gesteht allerdings auch einigen Normen zu, ohne Sanktion zu »existieren« (vgl. Buddeberg & Vesper 2013, S. 17). 237 Jung (2011, S. 25) hebt das Dualismen überwindende Gesamtprojekt von Hans Joas und Axel Honneth hervor: Eine anthropologische Selbstreflexion mit Anlehnung an den Pragmatismus (wegen dessen Fokussierung von gewöhnlicher Erfahrung, naturwissenschaftlicher Affinität, der Interaktionseinheit von Organismus und Umwelt, Körperlichkeit, Intentionalität und Intersubjektivität etc., vgl. ebd., S. 26) wird gegen jede Form von Essentialismus und Fundamentalismus aufgeboten. Im Zentrum steht bei Joas daher der Handlungsbegriff bzw. das Handeln, das nach Jung (ebd.) in Parallele zur Embodiment-Theorie formuliert wird. Körperbild und Körperschema würden bei Joas ähnlich wie bei Shaun Gallagher entwickelt (vgl. ebd., S. 34). Der Ausgangspunkt »Körper« dient also als Möglichkeitshorizont für bewusste und auch nichtbewusste Zweckrelationen (Gewohnheiten), mit einer situierten Kreativität des Lebens in den offenen pragmatistischen Meliorismus auslaufend (vgl. ebd., S. 46); »situation« ist dabei ebenfalls ein »hot-term« bei Dewey (vgl. Jung 2010, S. 156).

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Maximenbildungen beschreiben. Diese zeigen, wie eine Entscheidung von Handelnden in deren partikularer (nicht: partikularistischer) Situiertheit und nach bestem Können und Wissen durchgeführt werde. Alles, was eine Person je getan und gedacht und erlebt hat, liegt konkret in ihrer individuellen leiblichen Präsenz vor. Soziale Interaktionen nehmen daher für Joas die erste und die zweite Ordnung der Beobachtung in einen lebensweltlichen Prozess zurück, der implizit auf den »fünf E’s« der Embodiment-Theorie (»emotion«; »embodied«, »embedded«, »enactive« and »extended mind«) aufbaut. 238 Auch Werte setzen sich also zusammen aus Empfindungen, Gewohnheiten und Artikulation in einem sozialen Interaktionsraum, der nach Joas stets holistisch zu verstehen ist. Die Analogie von Qualitäten des Erlebens und von reflektierten Werten ist eine ertragreiche Adaption von Lockes erkenntnistheoretischer Arbeit auf der einen und von Kants Metaphysikkritik auf der anderen Seite und kann so auf die Debatte über das Verhältnis von moralphilosophischen Werten und Normen übertragen werden. Die Prüfung der spekulativen Vernunft legt also bei Joas eine abstrakte Unzulänglichkeit der universalistischen und individualistischen Denkweise frei. Werte hingegen sind für Joas real und kommunizierbar und bleiben an einen wahrnehmenden und daher perspektivischen Standpunkt gebunden, der seinerseits in eine soziale und natürliche Umwelt eingelassen ist. Nach Joas wird die Basis für die Theorie der Wertentstehung und Wertbindung, »das subjektive Gefühl, daß etwas ein Wert sei« (ebd., S. 22), folglich durch eine Phänomenologie der lebensweltlichen Werterfahrung (ebd., S. 24) erfasst, aus der alles anhebt und in die alles auch wieder hineinwirkt. Keine Theorie, kein Ideal, keine Norm 238 Man vergleiche auch Jungs Diskussion (vgl. Jung 2009, S. 32) der Ansätze von Alva Noë (»enactivism«), Michael Tomasello (»joint attention«, »shared experience«), Shaun Gallagher (»body in action«). Jung greift von Gallagher vor allem den Übergang zwischen Körper und Leib auf, um neuerliche Dualismen zu vermeiden. Eine herausragende Figur seiner Argumentation ist eine Art der Formaldistinktion, die Jung immer wieder betont: Unterscheidung und Trennung zu unterscheiden (vgl. ebd., S. 36). Die Verbindung von Gallagher, Joas, Tomasello und der pragmatistischen Kritik an solipsistischen, subjektivistischen, individualistischen und teleologischen Modellen zielt auf die soziale Einbettung der »Vermögen« und des Handelns. Damit positioniert sich Jung gegen Kant (vgl. ebd., S. 49) und auf der Seite von Dewey (vgl. bspw. auch Jung 2010, S. 146). Auch er nutzt aber einen relationalen Aspekt, der je nach Verwendung als Kantischer Dualismus oder als Lösung des Dualismus verstanden werden kann (vgl. ebd., S. 149).

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hat einen Wert, wenn sie nicht irgendeine Bewandtnis für jemanden besitzt. 239 Der Zusammenhang von Präferenzen, Normen und Werten wird trotz dieser Relationalität von Wert und Bewandtnis in einer realistischen Alternative zu Utilitarismus und Systemtheorie entwickelt. Wie Ott (2006, S. 43) es formuliert, sind Werte ontologisch primär zu (restriktiven) Normen (technische, rechtliche und moralische, vgl. ebd., S. 44); diese Beziehung erklärt Joas wiederum ganz im pragmatistischen Sinne: Präferenzen sind konkrete Erlebnisse (Wirkliches), die den Alltag durchdringen, und nicht nur abstrakte Recheneinheiten der »rational choice«-Abwägungen. In der Manifestation aktueller Bedürfnisse, Interessen oder Wünsche geben die Präferenzen jedoch zusätzlich auch den Blick auf das Wünschenswerte (Mögliches) frei, das in einem Akt der Reflexion und Artikulation auf einer Ebene zweiter Ordnung ebenfalls als realer anzustrebender Wert formuliert werden kann. Wertvorstellungen haben also einen konkreten Einfluss auf das Leben der Menschen und sind daher als (empirisch) real zu bezeichnen. Im Vergleich zur abstrakten Norm sind Präferenzen und Werte dabei nicht institutionalisiert und neutral (unparteiisch), sondern hochgradig emotional personalisiert. Das Wünschenswerte gilt gleichermaßen als (soziales) Regulativ einer solchen personalen Charakterbildung. Evolution und Kontinuität sind die pragmatistischen Werkzeuge, die von Joas genutzt werden, um die veranschlagten Begriffe »Selbstbildung« und »Selbsttranszendenz« 240 in einen prozessualen Zusammenhang zu bringen und eine kontinu-

239 Der pragmatistische Einschlag lässt eine Ethik zur Ethik aus Perspektive des Akteurs werden (vgl. ebd., S. 37), ausgestattet mit der universalen Fähigkeit der Rollenübernahme (vgl. ebd., S. 36); Joas betont insgesamt die kreative Leistung des Handelns. Dabei hebt er auch den narrativen Aspekt (Wert?) der Werte (vgl. ebd., S. 45) für die Kommunikationsgemeinschaft hervor. Horster (2009, S. 205 ff.) setzt Joas durch seine anti-dualistische Auffassung von der separierten Betrachtung der universellen Normen, lokalen Werte und formalen Diskursstrukturen von Habermas ab. Unterscheidbarkeit der moralischen Phänomene heiße eben nicht, dass sie getrennt auftreten, sondern dass die affektive, d. i. attraktiv-motivierende Personbindung der Werte, mit der restriktiv-obligatorischen Wirkung der Normen durch die gemeinsame Genese zusammenhängt. Die kulturell eingelassene Reinterpretation der Werte führt so durch gemeinsame Narrative zu stabilen, ja z. T. sogar zu universellen Geltungen von Werten. 240 »Selbsttranszendenz« bei der Bestimmung von Werten zu verwenden, erinnert freilich an Robert Spaemann und an Kant statt an die klassischen Pragmatisten: »Das Gewissen muß beschrieben werden als eine zweifache geistige Bewegung. Die eine führt den Menschen über sich hinaus […].« (Spaemann 2015, Kap. 6, Pos. 928).

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ierliche Überleitung von alltäglichen Erlebnissen bis hin zu Expertendiskursen zu gestalten. Da Organismen und ihre Umwelt nach Jung (2014, S. 116 ff.) ohnehin in einem ursprünglichen Einbettungsverhältnis stehen, in dem die Interaktionen bereits lange vor der ersten bewussten Reflexion situiert sind, verweisen ästhetische und emotionale Urteile sowie Werturteile mindestens ebenso tief in die Naturprozesse hinein, wie die Beschreibungen der »harten« Wissenschaften. Sucht man also nach Objektivität, ist man vielmehr sogar primär auf das ursprüngliche Erleben verwiesen statt auf anonyme wissenschaftliche Konstrukte. Konkrete Werte wirken daher attraktiv und konstitutiv für Gemeinschaften und sie gelten als Maßstäbe für Präferenzen, obwohl sie selbst keine Präferenzen sind. Sie können in einem pluralistischen Konzept Abstrakta wie »das Gute« oder »das Gerechte« ablösen und einen kommunitaristischen Einschlag von Vorstellungen des o. g. Wünschenswerten für die Moralphilosophie eröffnen. Wertbindungen als Verkörperung von (kontextgebundenen) Orientierungsleistungen (vgl. ebd., S. 147) entspringen dem gewöhnlichen Erleben und gestalten sich zu distinkten Wertkonzepten aus, die dann wieder individuell reflektiert und in der Gemeinschaft diskutiert werden können. 241 Werte lassen sich folglich nicht »andemonstrieren« oder »lehren«, sondern es findet ein Priming durch personale Vorbilder statt, an deren prototypischem Verhalten man sich orientieren kann. Die – offensichtlich an Sartres Versuchen zur Moralphilosophie orientierte – Authentizität einer Person löst in Joas und Jungs pragmatistischer Ethik eine bloße Rhetorik der Moralität ab, und der Selbstzweck der abstrakten Ethikdiskurse wird aufgebrochen durch eine demokratische Wertbildung in konkreten Gemeinschaften, die sich insbesondere in gemeinschaftlichen Erlebnissen, Bräuchen und Ritualen niederschlägt. Werte haben also – so vertieft Jung den Ansatz von Joas – 242 mindestens zwei moralphilosophisch relevante Facetten: das qualitative Erleben auf der einen und den artikulierten Ausdruck auf der 241 Normen hingegen arbeiten einschränkend und werden konventionell verabschiedet, um bestimmten Verhaltensweisen per Androhung von Sanktionen (präventiv) entgegenzuwirken. Aber auch Werte haben ein passivisches und kontingentes Moment des Ergriffenseins und der Pluralität von Konzepten, denn die in Wertegemeinschaften eingelassene Ontogenese prägt (rückgekoppelt) die Einschätzungen der spontanen Präferenzen. 242 Jung (2009, S. 209) greift ausdrücklich auf Joas’ Werterfahrungsanalysen zurück.

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anderen Seite. Ausgehend von personalem Erleben und sensomotorischen Erfahrungen bilden sich ganzheitliche Qualitäten, 243 die erst als solche reflektiert und analysiert werden können (vgl. Jung 2009a, S. 219 ff.). Im Konnex eines symbolischen Horizonts, der von körperlichen Relationen getragen wird (vgl. Jung 2009b, S. 186 passim u. 2013, S. 42–50), lassen sich die Kompetenzen und Charaktereigenschaften, Präferenzen und Wertvorstellungen selbstverständlich ex post artikulieren und philosophisch diskutieren. Doch sind Werte dabei im Sinne Jungs eben nicht durch formale Strukturen, Normen oder Autoritätsgläubigkeit kompensierbar, da das Ganze der Erlebnisse und Interaktionsbiographien als einzigartige Totalität wiederum die Ausgangsbasis für neue persönliche Werterfahrung bildet. Gewohnheit spiele daher die Rolle der »Type«-Bildung für wechselnde »Tokens«, denn sie führe zur Stabilisierung der variablen Erlebenssituation durch Rhythmisierung, habituelle Aneignungen, Verhaltensdispositionen, situationsübergreifende Wertegeltung etc. (vgl. Jung 2010, S. 154 f.). Es gibt in diesem Ansatz also weiterhin auch immer schon gewöhnliche Bewertungsmuster in den Interaktionszusammenhängen der alltäglichen sozialen Konstellationen, bevor Experten und MetaExperten – aus welchen Gründen auch immer – sich dieser Themen annehmen. Erst eigentliche Perturbationen führen zur Variation, zur Neubewertung und höherstufigen Evaluation der »gängigen« Schemata. Kurz: Werte sind nach Jung relationale Vorstellungen, die dem verkörperten Erleben entspringen, aber nicht alle Bestandteile der Werte sind nur dieses Erleben. Werte sind vielmehr auch in der Rückwirkung auf die primäre Stufe der alltäglichen Lebenswelt konkret handlungsleitend, ohne die alltäglichen Bewegungen zwanghaft einzuschränken. 244 Soziale (Selbst-)Verständigung findet nämlich notwendig in einem Wertediskurs statt, der im Alltag auf das Prinzip 243 Gekoppelt an Taylors Ausführungen in »Quellen des Selbst« (1996) und »Ein säkulares Zeitalter« (2012) erzählen Menschen ihre biographische Erfahrung oder Gedächtnisgeschichte von Gruppen nach Jung wertrelativ. 244 Immerhin haben sie auch nach Jung ihren Sitz im Leben als konkrete Interaktion zwischen Individuum und Umwelt: Werte sind partikular, motivierend, handlungsleitend, nicht lehrbar, keine universale Norm (vgl. ebd., S. 140). Auf der zweiten Stufe liegen also idealisierende und reflexive Artikulationen über mögliche Deutungsmuster (Kopplung von Attraktion und Artikulation) vor, die als Bewertungsschemata für Präferenzen, Handlungsgewohnheiten und geschichtliche Erfahrung sowie für ethische Diskurse herangezogen werden.

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der wohlwollenden Interpretation, respektive auf die »konversationelle Implikatur« (vgl. Grice 1993) setzt. Zusätzlich wird im Diskurs damit aber eine stete Re-Artikulation der konkreten Werte vorgenommen, die immer auch dort die Gefahr der bloßen Abstraktionsdiskurse in sich trägt, wo die ursprüngliche Anbindung an die gewöhnliche Lebenswelt ignoriert wird, um etwa die Anschlussfähigkeit an die Expertenkulturen zu wahren. Der Wertepluralismus ist – bspw. in einer Forschergemeinschaft – nach Joas und Jung eben wegen seiner offenen Entwicklungsmöglichkeit einer eindimensionalen normativen Generalisierung vorzuziehen. Aus der Beobachtung zweiter Ordnung und dem diskursivreflexiven Generalisierungselement leiten sich aber trotzdem durchaus nützliche Expertendiskurse und Normendebatten ab.245 Solange die lebensweltliche Pluralität der Werte nicht durch eine theoretisierende Distanzierung oder durch eine Ablösung der symbolischen Artikulation von konkreten Interaktionserfahrungen transzendiert wird, ist freilich im Pragmatismus nichts gegen wissenschaftliche und philosophische Theorien einzuwenden. Immerhin lassen sich nur auf diese Weise diachrone Phänomene wie Wertewandel und Verschiebungen in persönlichen Wertungen als auch synchrone Wertphänomene (z. B. Wertgrenzen) analysieren. Erstaunlich ist nun jedoch, dass derselbe argumentative Unterbau, der zentrale Figuren aus Deweys Pragmatismus zu diesem Wertekonzept weiterentwickelt (vgl. u.), auch dann noch verwendet werden kann, wenn man bezweifelt, dass über einen Gebrauchs- (MittelZweck-Kalkül) und einen Tauschwert (Äquivalenz von Gütern) hinaus so etwas wie ein ethischer Wert in der Welt vorgefunden werden kann. James D. Wallace (2009) konzentriert seine neuesten Arbeiten auf die Untersuchung von »practices«, 246 die sich aus einem Korpus an Normen zusammensetzen, wie etwas getan werden soll, um es richtig zu tun (know-how). In einer solchen Auslegung erfährt der Pragmatismus einen »Ruck« in die sozialkonstruktivistische (konstruktionistische) Richtung (vgl. o. Copp 2015), denn es handelt sich bei den fokussierten Praktiken immer um soziale Artefakte (soziale

245 Jung (2015b, S. 112) setzt damit referentielle und kontextuelle Bedeutungsaussagen in Verbindung. 246 »Practices« stehen in direkter Nähe zu Deweys »habits« aus »conduct« (vgl. Wallace 2009, S. 16).

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Techniken), 247 je mit einer eigenen Geschichte und einem ebenfalls offenen Entwicklungsprozess. In der Ethik entfalten diese Praktiken dann »Normencluster« mit verbindlichem Charakter, ohne aber einen Absolutheitsanspruch zu erheben oder einen extremen bzw. strikten Realismus zu generieren. Vielmehr entwickelten die Teilnehmer an einer sozialen Praxis durch ihre Erfahrungen ein Know-how, was in bestimmten Handlungssituationen zu tun ist und wie moralische Probleme zu lösen sind. Diese instrumentalistisch gedeuteten Normen sind entsprechend für eine konkrete Gemeinschaft als Handlungsrichtlinien real, aber nicht unumstößlich: »If a practice is to be vital, it must be possible for participants to disagree; if the practice is to be viable, it must be possible for them to agree. The result, if the practice flourishes, is a moving, changing consensus, often accompanied by considerable noise and some confusion.« (ebd., S. 15) Man ist bei Wallace also durchaus an die konstitutive Rolle der »gewöhnlichen Erfahrung« von Jung erinnert. Es ist daher besonders interessant, genealogisch die gemeinsamen Wurzeln von Wert- und Norm-Ausläufern der Deweyschen Theorie aufzuarbeiten, denn Wallace versucht ja eben nicht, 248 die Präskriptivität bzw. das Sollen der Normen als Kern der Moral deshalb in Stellung zu bringen, um etwa die pragmatistischen Ansätze der Werttheorie/-ethik zu schwächen. Zeigt sich bei Pihlström eine transzendentale Adaption des Pragmatismus, die uns vor allem auf Vorarbeiten von James verweist, so vertreten Joas, Jung und Wallace aktuelle Spielarten der Deweyschen Moralphilosophie. Beide Traditionslinien sind bisher m. E. auch ohne Weiteres mit dem transzendentalen Idealismus und a fortiori mit dem Gedanken der Kultivierung der Person im qualitativen Utilitarismus vereinbar. Dass es sich hierbei nicht etwa um eine zufällige Passgenauigkeit (oder gar um ein Zurechtvernünfteln) der Präsuppositionen handelt, bestätigen die Übergänge von Wert- und Norm-Konzepten nach dem Vorschlag von C. I. Lewis, nämlich »thin« und »thick concepts« der Erkenntnis zu unterscheiden. So liegen mit dem »thin concept« nichts Anderes als Mannigfaltigkeit und mit dem »thick

247 Das ist der Begriff, der von Philip Kitcher für die »moral practices« verwendet wird. Er generiert einen pragmatischen (!) Naturalismus mit einem (recht elitären) Konzept des Guten in einer Menschheit, die als Gesprächsgemeinschaft angesehen wird (vgl. Tarkian 2009, S. 38). 248 Wie z. B. von Kurt Bayertz vorgeschlagen (vgl. ebd. 2011, S. 22)

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concept« nichts Anderes als direkte – »immediate data of sense« – ineffabile Qualia vor. Diese Begrifflichkeiten (»qualia« und »thick and thin concepts«) treten seither, v. a. aber seit dem »Durchbruch« im Jahr 1985 bei Bernard Williams (vgl. Smith 2010), vermehrt auch in der Metaethik auf. Reale Entitäten lassen sich jedoch nicht durch bloße (Meta-)Theorien verändern, wenn sie als qualitative Erlebniszustände in die alltägliche Umwelt eingebettet sind (vgl. u. Deweys Qualitätsbegriff): Während die Metaethik als Expertenspekulation für die pragmatistische Ethik an Bedeutung verliert, gewinnen normative Ethik und phänomenologische Moralphilosophie deutlich an Gewicht. 249 So konnten also Joas und Jung bereits von dieser Weiterentwicklung profitieren. Wie Lauri Järvilehto (2009) in »The Pragmatic A Priori of C. I. Lewis« an mehreren Stellen akzentuiert, sei der elegante Ansatz von Lewis »very close to the Kantian framework« (ebd., S. 3) und pragmatistisch zugleich, da apriorische Strukturen, sozusagen als je und je gegebener Status quo, notwendige Bedingungen für jede Art von erstpersonaler Erfahrung und wissenschaftlicher Forschung verkörpern. 250 Lewis will mit einem »pragmatistischen Apriori« weder on249 Vgl. Hookway (2013, S. 158 f. u. S. 163): Die Vermittlerrolle zwischen Kant und Peirce liegt hier ganz bei C. I. Lewis, der sowohl die Qualia in die Diskussion einführt, als auch das »Gegebene« thematisert, wie es dann von Wilfrid Selllars und John McDowell aufgegriffen wird. Die Verbindung von »Knowledge, action, and evaluation« (ebd., S. 3) bildet den Grundsatz in »Analysis of knowledge and valuation« (AKV) (2007), dem sich die gesamte Arbeit widmet. 250 Er verweist (vgl. ebd.) auf Sandra B. Rosenthals Ausdruck »pragmatic Kantianism« (Rosenthal 2007, S. 36). Järvilehto resümiert, dass Lewis »steers clear of phenomenalism, anti-realism and even transcendentalism. In Lewis’ framework what we know a priori is our own categorial attitudes that direct our attention to the real world.« (ebd., S. 6) Er referiert aus Lewis (1929, S. X) die Kriterien des Apriori und leitet die konzeptuelle Hypothese daraus her: »›(1) A priori truth is definitive in nature and rises exclusively from the analysis of concepts. That reality may be delimited a priori, is due, not to forms of intuition or categories which confine the content of experience, but simply to the fact that whatever is denominated ›real‹ must be something discriminated in experience by criteria which are antecedently determined. (2) While the delineation of concepts is a priori, the application of any particular concept to particular given experience is hypothetical; the choice of conceptual systems for such application is instrumental or pragmatic, and empirical truth is never more than probable. (3) That experience in general is such as to be capable of conceptual interpretation, requires no peculiar and metaphysical assumption about the conformity of experience to the mind or its categories; it could not conceivably be otherwise.‹ […] The a priori knowable conceptual commitments we have in place to make sense of experience must precede experience. Were there no such concepts, our experience

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tologischen noch psychologistischen Ansätzen das Wort reden (vgl. Lewis 1970, S. 232) und er lehnt außerdem jede Art von transzendentalem Dogmatismus ab, da er die Beziehung des Apriori zu einem »absoluten Bewusstsein« und einem »notwendigen Empirischen« nirgends bestätigt findet. Trotzdem spricht er von Konzepten des Denkens, die – soweit wir sie derzeit beschreiben können – erkenntniskonstituierend seien, auch für die Erkenntnis der Phänomene der Moral. Diese Konzepte bleiben seiner Auffassung gemäß dabei stets dynamisch, ohne ins Konventionalistische oder ins Relativistische zu kippen. Apriorische Strukturen selbst als genetische Hypothese (sozusagen eben als Paradigma) und folglich als fallibilistisches Konzept zu interpretieren, löse dieses Problem zwar zunächst, lasse allerdings auch die Stärke der Selbsteinholung als transzendentales Kriterium zugunsten temporal relativistischer Modelle schwinden. Trotzdem bestünde diese Grundlage der Epistemologie und der Ethik laut Lewis »fundamental« (Lewis 1970, S. 237): At the bottom of all science and all knowledge are categories and definitive concepts which represent fundamental habits of thought and deep-lying attitudes which the human mind has taken in the light of its total experience. But a new and wider experience may bring about some alteration of these attitudes, even though by themselves they dictate nothing as to the content of experience, and no experience can conceivably prove them invalid. (ebd., S. 238)

Es gibt daher für Lewis kein absolutes oder universales menschliches Vermögen, sondern eigentümliche (»peculiar«) Produkte zwischenmenschlicher Kooperationen (vgl. ebd., S. 238 f.). White beschreibt den Unterschied zwischen Lewis und Dewey – beide scheiterten seiner Meinung nach an der Ausarbeitung eines an Peirce angelehnten naturalistischen Zugangs (Dewey durch das pragmatistische Prinzip und Lewis durch das »summum bonum«) zur moralischen Verpflichtung (vgl. White 2005, S. 185) – daher eben in diesem Kontext: 251 So far as I can gather, Lewis agrees with Dewey in construing objective values as a potentiality of objects whose realization takes place in immediately experienced satisfactions, but he does not think value is identical with would be an unintelligible jumble. Lewis maintains that a priori is ›prior to experience in almost the same sense that purpose is‹ (Lewis 1929, p. 24).« (ebd.) 251 White hält es für möglich, dass Lewis von Deweys Äußerung in »Chance, Love and Logic« zu Peirce’ »summum bonum« für die Kantianische Generalität moralischer Handlungen ausgeht (vgl. White 2005, S. 185).

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being desirable in any way that confers ›de jure‹ status of judgements of value. However, Dewey does, and it is here that my difficulties with Dewey arise. Dewey is anxious to give an analysis of ›desirable‹ in the ›de jure‹ sense which will result in construing it as an empirical predicate. However, Lewis does not attempt to do this because he holds that judgments of what ought to be, in particular judgments of what ought to be desired, are matters of ethics rather than of value. He says: ›The problem which delimits the field of ethics is not that of empirically good or valuable but that of the right and morally imperative. […]‹ (ebd., S. 163 f.)

Auch wenn Lewis die generellen Konzepte der Moral letztlich wie Joas und Jung aus den Werten herleitet, sieht er doch einen entscheidenden Unterschied in diesen beiden Bereichen von Normen und Werten und er trägt damit verstärkt das Kantische Erbe auch in seine ethischen Texte hinein, 252 nämlich bezeichnenderweise in Form von anthropologischen Grundmerkmalen: Lewis often says that his view of the normative is based on what he took to be human nature. […] (1) [T]hat they [sc. human beings, W. M.] are free and active beings (2) who not only live in time but know that they live in time, and (3) are capable of making deliberate decisions that permit them to govern their own actions. Not only is this a capacity of human beings; (4) it is a necessity for human beings because they are so poorly equipped with instincts that they must decide for themselves, ›What shall I do?‹ Furthermore, like all sentient beings, (5) humans find their experience to be either grievous or gratifying; they seek to avoid the former and obtain the latter. (6) They are impulsive, and seek instant gratification. But because they are aware of time [and rational], they learn (7) that greater gratifications can be had in the future by resisting the impulse to immediate gratification. […] Rationality requires that human beings govern themselves, and (8) that governance is exercised through rules or imperatives. Imperatives therefore are intrinsic to human nature, and no further explanation of their existence is required. But that does not determine which imperatives are valid. (Murphey 2005, S. 358)

Lewis entwickelt die Ethik also sozusagen im Rahmen einer naturalistischen Anthropologie (einer Natur des Menschen) mit evolutionären apriorischen Strukturen, in der eine ganze Reihe der aktuellen moralpsychologischen Hypothesen bereits vorweggenommen wurde. 253 Es hat Lewis bis in die späten ethischen Aufsätze hinein beVgl. auch Murphy (2005, S. 349). Die pragmatistische Auslegung dieses Modells bedeutet für die Handlungstheorie weiter eine Unterscheidung von elementaren und komplexen Handlungen: »Elemen252 253

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schäftigt, wie man ohne Zugang zu den Absichten eines Akteurs die egoistischen und altruistischen Motive einer Handlung in deren moralische Einschätzung einbinden könnte; ein abschließendes Urteil hierzu ist bei ihm nicht zu finden. Allerdings zielt die Form der Moralität bei Lewis ganz deutlich auf Kants praktische Philosophie ab und wie wir sehen werden, bildet diese tatsächlich ein typisch pragmatistisches Moment. Die Konsistenz rationaler Begründungen für eine Handlung (bis in ihre absehbaren Konsequenzen hinein) entfaltet nämlich für die Beobachter ein Feld von Mittel-Zweck-Relationen, deren Strukturen (analytisch) a priori, für alle begründungsfähigen Wesen gültig und beschreibbar sind. »Valuation is always a matter of empirical knowledge. But what is right and what is just, can never be determined by empirical facts.« (Lewis 2007, S. 554) – Lewis hält das höchste Gute für das Ideal des guten erfüllten Lebens. 254 Apriorische tary if ›there is no physical first part of it which can be done without doing the whole of it.‹ Complex acts are composed of a series of elementary acts, even though a single decision may determine the entire series.« (ebd., S. 359) Es ist ein Teil der alltäglichen Erfahrungen, dass Handlungen die ursächlichen Absichten der Handelnden nicht eindeutig widerspiegeln. »Objektiv«, d. h. der Erfahrung preisgegeben, werden nur die Handlung (Bewegung, Ausführung) und die Veränderungen in der Welt. Objektive Richtigkeit und subjektive Richtigkeit sind daher Evaluationsextreme eines Spektrums, zwischen denen eine angemessene Bewertung angesetzt werden kann. 254 Über die Erfahrungen und die analytischen Grundlagen der Ethik hinaus bestätigt Lewis diese reine Funktionalität synthetischer Urteile und Imperative a priori jedoch nicht, denn konstituiert wird das moralisch Gute im interpersonalen Streben nach gemeinsamen »prudential aims« am besten in dezentralisierten Gemeinschaften, in denen der Antagonismus aus Kants »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbügerlicher Absicht« wirkt. Moralität ist nach Lewis der »Kitt« der sozialen und politischen Ordnung; Wissen ist normativ, Entscheidungen sind generell, Handlungen sind habituell (also auch in gewisser Weise über die Situation hinaus verweisend). »Lewis is again following Kant here in holding the imperatives of skill and prudence to be analytic a priori, but whereas Kant regarded the imperative of morality as synthetic a priori, Lewis, having rejected the notion of the synthetic a priori, claims that it, too, is analytic a priori.« (Murphey 2005, S. 364) Murray G. Murphey macht dabei verschiedene Phasen bei Lewis aus, die – Eric Dayton (2006, S. 20) deutet sie sogar in »the development of a single grounding strategy« hinein – durch einen großen Fortschritt 1960 mit einer Bindung der rationalen Imperative an das Gute und nicht mehr nur an das Begehrte enden (vgl. ebd., S. 23). »It is certainly true that Lewis wanted the moral law to flow from the imperatives of practice and could not find a formulation which satisfied his own critical instincts; on his account the Categorical Imperative is empty enough that even the egoist and the emotivist could ›crawl under the Kantian tent‹ – […] It is also clear that the account he gives of the imperatives of practice will not by itself give us the moral law – his account is incomplete without an empirical moral psychology.« (ebd., S. 22 f.).

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Genealogie des klassischen Pragmatismus

Strukturen und offene Prozesse können also im Pragmatismus zusammen gedacht werden, ebenso wie die Übergänge von wechselwirkenden Sachverhalten, Präferenzen, Wünschenswertem, Werten und Normen kontinuierlich aufbereitet werden können. Es müssten demnach also auch Kant und Dewey auf eine gemeinsame Argumentationsbasis hin betrachtet werden können, was auf den ersten Blick sicher nicht durch die Formulierungen Deweys gestützt wird.

3.3 Genealogie des klassischen Pragmatismus Unter der Bezeichnung »klassischer Pragmatismus« erfasse ich hier eine Auswahl an Philosophen, die sich selbst in ihren Texten als Teil des pragmatistischen Denkansatzes der ersten oder der zweiten Generation verstehen. Und obwohl die hier aufgeführten Autoren, sc. Mead, Dewey, James und Peirce, sich ihrer Kantianischen und Hegelianischen Wurzeln durchaus bewusst sind, scheinen sie doch einige Grundprinzipien des Idealismus zu hinterfragen oder in mancherlei Hinsicht sogar offen Stellung gegen den Deutschen Idealismus und amerikanischen Transzendentalismus zu beziehen. Aus diesen Umständen konnte allererst das Vorurteil hervorgehen, »der« Pragmatismus stehe der transzendentalen Kritik Kants ablehend gegenüber. Aus diesem Vorurteil wiederum wurde dann erst das nachträgliche Überbrücken der Traditionen (»Bridging Traditions«) in Pihlströms Texten oder die intra-pragmatistischen Interpretationen bei Jung, Joas und Wallace erforderlich. In den folgenden Abschnitten wird es im Zuge der oben beschriebenen genealogischen Methode darauf ankommen, die transzendental-kritischen Präsuppositionen in den ausgewählten Textbezügen zu filtern. Zu diesen Aspekten zähle ich vor allem die Systemkomponenten, die zur Beschreibung einer konsistenten Architektonik der Moralphilosophie vorgestellt wurden. Ich beginne mit der Sichtung einiger Fragmente und Aufsätze aus der Feder George Herbert Meads, um zu zeigen, dass die transzendentalen Ebenen häufig vernachlässigt werden können, wenn es um die Klärung von moralischen Sachfragen im Sinne eines psychologischen Diskurses geht; trotzdem lassen sich die metaphysischen und auch die transzendentalen Überzeugungen Meads durchaus erahnen. Weiterhin wird Deweys Kritik an der Kopernikanischen Wende nachgezeichnet, um die Ablehnung des Kantischen »Fundamentalismus« nachdrück199 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Die pragmatistische Methodologie der Moralphilosophie

lich zu betonen. Es wird allerdings im Überblick über Deweys Ethik sehr schnell deutlich, dass er selbst eine ganz ähnliche Methodologie vor Augen hatte wie Kant, als er begann, moralwissenschaftliche Phänomene wissenschaftlich zu systematisieren. Und schließlich wird gerne James’ anti-rationalistische Äußerung in einem Vortrag aus dem Jahr 1898 genutzt, um ein Kondensat der pragmatistischen Ablehnung des Kantischen Denkens zu präsentieren. I believe that Kant bequeathes us not one single conception which is both indispensable to philosophy and which philosophy either did not possess before him, or was not destined inevitably to acquire after him through the growth of men’s reflection upon the hypotheses by which science interprets nature. The true line of philosophic progress lies, in short, it seems to me, not so much through Kant as round him to the point where now we stand. (James 1898, S. 27)

Diese Rede vor der »Philosophical Union« in Berkeley beschwört die englische Tradition der Philosophie als ebenso tragfähig wie das Kantische Erbe – der »cash-value« der physischen Wahrnehmung wird hier für die amerikanische Wissenschaft und den »Praktikalismus« nutzbar gemacht, anstatt in einer Schockstarre vor der Person »Immanuel Kant« zu verharren oder seine verwirrenden Wortbildungen zu imitieren (vgl. ebd.). In der Biographie von Richardson wird trotzdem an vielen Stellen deutlich, wie prägend Kants Kritik und seine Unterscheidung der »Phaenomena« und der »Noumena« für William James waren: And in October he turned to confront a book he had been working himself up to for almost a year. He had read Johann Schultz’s Commentary on Kant’s »Critique of Pure Reason« in November 1867. In April 1868 he had read Victor Cousin on Kant. His friend Charles Peirce had read Kant years before […]. With all this preparation and with his new facility in German, James turned at last to the book itself, the mere reading of which felt like a triumph or a culmination. He wrote his father that Kant’s book »strikes me so far as almost the sturdiest and honestest piece of work I ever saw. Whether right or wrong, (and it is pretty clearly wrong in a great many details of its Analytik part – however the rest may be) there it stands like a great snag or mark to which everything metaphysical or psychological must be referred. I wish I had read it earlier.« (Richardson 2007, S. 94)

Die Ablehnung von absoluten Dogmen und fundamentalistischen Apriorizitäten bei James wie auch bei Peirce darf m. E. also nicht so verstanden werden, als wäre sie mit aller Wucht gegen das Hindernis 200 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Genealogie des klassischen Pragmatismus

»Kant« gerichtet, denn als kritischer Denker kann Kant auch bei den Pragmatisten durchaus als »Maßstab« betrachtet werden. Metaphysische Gegenstände wie »das Ganze« oder »das Unveränderliche« werden von den Pragmatisten in die Prozessualität des individuellen menschlichen Erfahrungsstroms hineingezogen. Damit soll der rationalistischen Weltweisheit der Natur sowie der spiritualistischen Naturphilosophie eine Absage erteilt und an deren Stelle eine neue fluide physikalische Weltanschauung platziert werden. Doch gerade in diesem wissenschaftlichen Denken bleibt der radikale Empirismus (bei James) und bleiben kategoriale Annahmen (bei Peirce) dem kritischen Denken Kants als einem zentralen Bestandteil des Philosophierens verpflichtet.

3.3.1 George Herbert Mead Im klassischen Pragmatismus, zumindest in der Form, wie ich ihn also hier eingrenze, bildet die Reflexion des Forschers kein mentales Mysterium eines Forschungsprozesses, sondern sie ist ein Bestandteil komplexer, aber naturwissenschaftlich klar und deutlich beschreibbarer Abläufe. Innerhalb der Architektonik der Wissenschaften spielt daher für Mead die Psychologie eine ausgezeichnete Rolle, denn sie hat zwei Forschungsrichtungen in ihrer Programmatik vereint: Auf der einen Seite gilt es, im Rahmen einer behavioristischen Matrix zu forschen, und das bedeutet, das Verhalten von Individuen zu beobachten und unter Berücksichtigung der herrschenden Umweltbedingungen als Relationen von Sachverhalten zu beschreiben. Auf der anderen Seite hingegen wird das Erleben des beobachteten Individuums als einzigartiges Kompositum von Elementen der »unmittelbaren Gegenwart« (1987, Bd. 1, S. 70 f.) verstanden und unter direktem Verweis auf Bergsons »Intuition« wissenschaftlich nutzbar gemacht (vgl. ebd., S. 72). Damit ist nun unmittelbar die von mir so benannte »vertikale Achse« (vgl. S. 12, Abb. 1) der transzendentalen Architektonik für die pragmatistische Reflexion erschlossen. Dass also auch der Forschungsimpuls des jeweiligen Wissenschaftlers aus dieser »metaphysischen« Konstellation heraus wirkt, leitet sogar den Ursprung des objektiven Anspruchs der Wissenschaften her: Immer schon eingelassen in die natürliche und soziale Umwelt muss die Genese der personalen Identität des »Individuums« ebenfalls unter Voraussetzung dieser Interdependenz betrachtet werden, sodass nicht 201 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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mehr behauptet werden darf, das konkrete Ich-Bewusstsein bilde sich unabhängig von der menschlichen Gemeinschaft. 255 Trotzdem ist die Darstellung, die Mead für diese genetischen Prozesse wählt, bewusst universal formuliert und nimmt ein formales »I« zusätzlich zum konkreten personalen oder materialen »I« in der Selbstbeschreibung der Identität auf. Er gestaltet nämlich ein an James’ Psychologie angelehntes Entwicklungsmodell, das in »I« und »Me« zwei Vektoren – die Bewegungen sind in den Begriffen bereits nachzuempfinden (s. u.) – dieser Relationalität »Selbst und Umwelt« kenntlich macht: Die Wechselwirkung zwischen »je mir« und den anderen Lebewesen wird dabei als Inversionssystem in ein und dieselbe Dimension des Bewusstseins gebracht. Das Ich wirkt mit seiner gesamten Präsenz aktiv und kreativ in die Welt hinein und empfängt dabei sein Rollenverständnis in dieser Welt durch die systematisierte Vorstellung der Rückwirkungen von außen. Dieses komplexe »Spiel« (»game«, vgl. Mead 1978, S. 193) findet demnach vollständig in der Öffentlichkeit (die Kohärenz meiner sprachlich repräsentierten Stellungen in der Gesellschaft) statt und ist gleichzeitig absolut privat (epistemologisch: in meinem Bewusstsein). Doch kann sich das Ich letztlich selbst erkennen oder findet es sich ausschließlich durch andere zutreffend beschrieben? Nach Mead wird sich das Ich durch die Reflexion zu seinem eigenen Gegenstand (Me) und entzieht sich damit der Unmittelbarkeit des bloßen Daseins. Das bewusstseinsinterne Gefüge von Subjekt und Objekt des Erkennens entsteht zwar inhaltlich aus der Interaktion mit der Umwelt, doch es benötigt ebenso eine einheitsbildende Voraussetzung für die aktive Einbindung seines Bewusstseins in diese Umwelt. Die strukturelle Einheit von Individuum, Gemeinschaft und Natur wird gewissermaßen aus sich selbst heraus immer daraufhin reflektiert, in welcher Hinsicht die eigens markierten Phänomene betrachtet und analyisert werden; die Bedingung der Möglichkeit für diese »Reflek255 Es ist ein gesellschaftliches Lebewesen, das hier Naturbeschreibungen vornimmt; es ist ein natürliches Wesen, das seinen gesellschaftlichen Entwicklungsgang untersucht. Schließlich entfaltet sich durch eine solche Selbstbeschreibung dann in einer Art »Naturgeschichte« der Kommunikation (vgl. 1987, Bd. 2, S. 220 ff.) nach und nach ein Austausch durch komplexe »signifikante Symbole«, die aus den rudimentären sozialen Kooperationen der Organismen, d. h. aus Aktion und Reaktion einzelner (signifikanter) Gesten, zu entstammen scheinen. »Es ist wichtig festzuhalten, daß die Ich-Identität sich nicht in den Anderen hineinprojiziert. Die Anderen und die IchIdentität entstehen zusammen im sozialen Handeln.« (ebd., S. 219)

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tion« der Hinsichten wird jedoch das aktive Ich (I) (vgl. Mead 1913, S. 374 f.). Dieses Verständnis und die daran anbindende Verständigungsleistung finden beide als reziproke Wirkungen auf derselben Bewusstseinsebene statt. Es gibt also keine distinkte (ontische) Grenze zwischen dem Innen und dem Außen, die überwunden werden müsste. Der so begründete intersubjektive Geltungsanspruch der alltäglichen Interaktionen wie auch der wissenschaftlichen Aktivitäten schlägt sich selbstverständlich auch im Gegenstandsbereich der Ethik nieder, wenn auch unter einem anderen Vorzeichen: »The fundamental difference between the scientific and moral solution of a problem lies in the fact that the moral problem deals with concrete personal interests, in which the whole self is reconstructed in its relation to the other selves whose relations are essential to its personality.« (Mead 1913, S. 379) Während die Wissenschaft also intersubjektive Prozesse verarbeitet, zielt die Moral auf die persönlichen Interessen eines konkreten »sozialen Individuums« ab. Von einem normativen Grundsatz kann nach Mead also dann gesprochen werden, wenn sich das Sollen eines Urteils (für mich) als allgemeine Verbindlichkeit äußert (vgl. Mead 1978, S. 216). 256 Die Ethik (vgl. Mead 1987, Bd. 1, S. 76) wird dabei als eine Betrachtung der gesamten Verhaltenssphäre eines Individuums verstanden, bei der eine bewusste Kontrolle als das entscheidende Moment des Wollens in die Naturabläufe eingreift und wieder256 Madzia (2013, S. 68) beurteilt das Regelfolgen und v. a. die Normativität bei Mead auf folgende Weise: »At the beginning of this discussion, the issue of normativity was raised. In light of Mead’s philosophy, the normative dimension of action lies outside of individual minds in a realm of objectively articulated social commitments of the individual to the group. We saw that rule-following makes sense only under the circumstances of taking the role of the other in two respects: (a) whether or not an individual has met desirable social ends eventually depends on the decision of a social group; and (b) rule-following requires the existence of mind (for an individual to be able to take the role of the other and reflect upon the social consequences of her [dis-]obeying a rule). In this respect, the normative dimension of language lies in recognizing one’s linguistic and practical commitments to the social group when taking part in diverse social acts. In Mead’s philosophy, normativity of human action is enabled by the specifically human ability to enter into perspectives that others have on ourselves and to act accordingly. It seems that the notion of taking the role of the other is not primarily a technical category for Mead. One may even dare say rather that it is a notion that is ethical in nature but, at the same time, that is constitutive of his theories of mind and language. Arguably, the basis of rule-following, hence of the possibility of language itself, lies in deeply rooted awareness of the social commitments we have towards others.«

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um wissenschaftlich (!) reflektiert wird. Der evolutionäre Naturbegriff und seine Auswirkung auf die Anthropologie, insbesondere auf die Beschreibung der Genese der Ich-Identität, sind daher zentrale Kriterien in der Konstitution von Moralität (Werte und Normen) innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft (vgl. Mead 1987, Bd. 2, S. 216). Kann man also die Transformationsformeln angeben, nach denen ein Wechsel der Beobachterperspektive auf einen Sachverhalt nachvollzogen wird (vgl. ebd., S. 215), so hat man eine wissenschaftliche und zugleich fundamentalkomplexe (relationale) Grundlage der Ethik zur Hand: den sog. Rollentausch oder Perspektivenwechsel. 257 Mead entlehnt die Strukturmerkmale dieser pluralistischen Moralund Naturbeschreibung aus Whiteheads »Theorie der Relativität« (vgl. Mead 1987, Bd. 2., S. 73 u. S. 213) und bedient sich dort sowohl spinozistischer als auch leibnizscher Systemkomponenten: Entscheidend ist hierbei die Annahme der Prozessualität der Natur, die auf der Relativität derjenigen natürlichen Perspektiven aufbaut, die ihrerseits wiederum »die« Natur für ein betrachtendes Lebewesen konstituieren (vgl. Mead 1987, Bd. 2, S. 213–222). Die holistische Annahme einer ursprünglichen Verschränkung von Tatsachen und Werten, die »durch den Begriff ›Pragmatismus‹ vage definiert ist« (Mead 1987, Bd. 1, S. 361), ist dabei eigentlich also gar nicht als zusätzliche Prämisse erforderlich, um die Aufgaben der Ethik zu betrachten und die Konflikte unter den Moralwissenschaftlern zu erörtern. 258 Vielmehr 257 Auch in der Ethik wird also »wissenschaftlich« – per Induktion, Deduktion und Abduktion – geforscht, kategorisiert und reflektiert (vgl. Mead 1987, Bd. 2, S. 223 f.). Insgesamt bestimmt dabei die Reziprozität »Individuum und Umwelt« das pragmatistische Naturverständnis und kann so aus der Evolutionstheorie heraus reflektiert werden. Und auch diese wird von Mead in der Fülle ihrer fundamentalkomplexen Relationalität berücksichtigt: Die Wissenschaft erstellt eine Theorie der Evolution und beschreibt mit Hilfe dieser Konstruktion den Organismus und das Organ, das diese Theorie konstituiert hat. Damit unterliegt die Wissenschaft selbst ebenfalls den Grundlagen der Evolution, da sie ein solches Konstrukt des menschlichen Bewusstseins ist. Die Betrachtung der Natur ist sowohl für die Hypothesen über die vormenschliche Zeit als auch in der Betrachtung der natürlichen und sozialen Umwelt dem Evolutionsprozess unterworfen, wie das in seiner Abhängigkeit stehende und diese Abhängigkeit selbst konstruierende Bewusstsein des Individuums. Prozessuale Selbstanwendung – die Evolution des Begriffs der Evolution durch die Evolution des Bewusstseins, das die Evolutionstheorie konstruiert – bestimmt diesen Gedankengang in jedem seiner Teile und in jeder seiner Anwendungsmöglichkeiten. 258 Mead ist sich nämlich der Tatsache bewusst, dass die metaphysischen Anleihen im Konzept »des« Pragmatismus unter Naturwissenschaftlern selbst sehr kritisch diskutiert werden. Obwohl er sich deshalb bei der Abhandlung der Sachfragen von den

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führen die idealistischen Argumentationsmuster des Perspektivenwechsels und des Rollentauschs über ein abstraktes transzendentales »I« Mead in den Fragen der Moralität immer auf Kants praktische Philosophie zurück. Da Mead den Kategorischen Imperativ als säkulares Verallgemeinerungsprinzip einer wissenschaftlichen Ethik interpretiert und in dessen Formeln also vor allem Generalisierungen des Verstandes zu erkennen glaubt, lassen sich zwei Schlussfolgerungen für eine pragmatistische Ethik nachzeichnen: Mead greift den Kategorischen Imperativ nämlich erstens als eine logische Implikation auf, die das Gesellschaftswesen als notwendige und die Allgemeinheit der Vernunft als hinreichende Bedingung versteht, und zweitens nutzt er den Kategorischen Imperativ als kommunikative Implikation, in der die Vernunft als notwendige Bedingung für die Kommunikationsgesellschaft erkannt wird. Mead geht in den »Fragmenten« (vgl. Mead 1978, ab S. 429) offensichtlich davon aus, dass der Allgemeinheitsanspruch des Kategorischen Imperativs je auch auf die konkrete Vernunft der anderen Lebewesen abzielt und er deutet den Kategorischen Imperativ entsprechend als ein formales, aber anwendungsorientiertes Prinzip.259 Trotzdem gilt der universale Anspruch spekulativen Unwägsamkeiten des Pragmatismus zu distanzieren scheint, stimmt er dem methodologischen Grundkonzept doch zu (vgl. Mead 1987, Bd. 1, S. 361): Die Relationalität bestimmt neben der Betrachterperspektive nämlich selbstverständlich auch die einzelnen Gegenstandsbereiche der Ethik, der Ontologie, der Epistemologie und der Semiotik, für die das große Ganze aber eben durch ihre Spezialisierung verloren zu sein scheine. 259 Als Folge der Mead-spezifischen Interpretation des Kategorischen Imperativs lassen sich daher weitere Annahmen diskutieren: [1.] »Kants Prinzip sagt uns, daß eine Handlung unter bestimmten Voraussetzungen unmoralisch ist, es sagt uns aber nicht, was eine moralische Handlung sei. Kants kategorischer Imperativ nimmt an, daß es nur eine Handlungsmöglichkeit gibt. Wenn das der Fall ist, dann gibt es nur ein Vorgehen, das verallgemeinert werden kann; dann wäre der Respekt vor dem Gesetz das Motiv, so zu handeln. Nimmt man jedoch verschiedene Handlungsalternativen an, so kann man Kants Motiv auch nicht zur Bestimmung von Recht und Unrecht verwenden.« (ebd., S. 432) Man kann in diesen Zitaten die Aspekte der Moralität, die Mead in der Vorbereitung seiner experimentellen Methode der Ethik immer noch – auf ihre universale Geltung hin unbefragt –anwendet, sehr deutlich herausstellen: Respekt vor dem Gesetz, Motiv, Verallgemeinerung, Recht. Da Mead den Kategorischen Imperativ mit dem utilitaristischen Prinzip auf einer Ebene betrachtet, ergänzen sich die beiden Sichtweisen, sind aber beide nicht hinreichend für die Bestimmung von Moralität. Richte sich, so Mead, der Wunsch des Einzelnen auf das Objekt selbst, so könne man dem Gewünschten eine allgemeine Form geben, die das Motiv in derselben Weise als moralisch erscheinen lässt wie den Zweck (vgl. ebd.). Hätte Mead nun seine eigene Begründung als kategorisch beschrieben, die Ebene der Hypothetischen Imperative

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der Vernunft auch bei Mead sozusagen als Bedingung der Möglichkeit einer gesellschaftlichen »Allgemeinheit« und lässt sich damit als eine »universale« Voraussetzung für die Transformation von Perspektiven und damit für die Ethik als wissenschaftliche Disziplin lesen. 260 und des utilitaristischen Kriteriums der »Lust« als komplementäre Bestimmungen der formalen Anwendbarkeit auf die Vorstellungen der Zwecke einer Handlung, dann hätte er nahezu dieselbe Leistung für die Moralphilosophie beschrieben, die ich mit der hier vorliegenden Architektonik anstrebe. Wenn Habermas also auf der einen Seite den »bewusstseinsphilosophischen Standpunkt Kants« kritisiert und ihn durch Meads »universe of discourse« erweitert (vgl. Kenngott 2011, S. 158) und auf der anderen Seite Meads Perspektivenübernahme transformieren möchte (vgl. o.), deutet er m. E. auf die Möglichkeit hin, dass eben die Universalität der Vernunft als Bedingung der Möglichkeit des Rollentauschs bei Mead fungieren könnte. Nimmt man den Kategorischen Imperativ in die Vernunfttätigkeit der Synthese und Einheitsstiftung zurück, werden durch diese Funktion allererst die Fragestellungen Meads ermöglicht. Das wäre tatsächlich ein schlagender Beweis für die konstitutivistische Kant-Interpretation gewesen, wenn Mead und Joas (vgl. 1989, S. XXII u. S. 123 f.) – statt die Frage nach den Pflichtkollisionen bei Kant zu problematisieren – darauf verwiesen hätten, dass in der Konstitution der Moralität keine konkreten Anwendungsbedingungen reflektiert werden (müssen). [2.] »Wir legen die Scheuklappen des Utilitaristen und Kantianers ab, wenn wir erkennen, daß das Verlangen auf das Objekt und nicht auf die Lust gerichtet ist. Sowohl Kant als auch die Utilitaristen sind im Grunde hedonistisch, da sie annehmen, unsere Neigungen seien auf unsere eigenen subjektiven Zustände gerichtet – auf die Lust, die sich aus der Befriedigung ergibt. Wenn das das Ziel ist, dann sind natürlich alle unsere Motive subjektiv. Aus der Sicht Kants sind sie schlecht, aus der des Utilitaristen sind sie für alle Handlungen gleich und somit neutral. Nach der modernen Auffassung ist aber das Motiv wertvoller, wenn das Objekt selbst wertvoller ist. Das Motiv kann durch das Ziel geprüft werden, nämlich in Hinblick darauf, ob das Ziel den Impuls selbst vertieft. […] Alle wertvollen Dinge sind geteilte Erfahrungen.« (ebd., S. 435) Diese Arbeit an der Enttarnung eines hedonistischen Fehlschlusses ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Genau wie Mead sehen Kant und Mill die Relation der Vorstellung eines bestimmten verwirklichten Zwecks zum Zustand des Vorstellenden. Das Begründungsprinzip in beiden Theorien nutzt diese Relation a) in der Formulierung der Hypothetischen Imperative (Kant) und b) in der Beachtung der absehbaren Tendenzen einer Handlung (Mill). Dabei reflektiert Kant aber zusätzlich seine eigene Begründungstätigkeit und die Möglichkeit, diese Begründung mit anderen Vernunftwesen teilen zu können (Bedingung der Möglichkeit von Werten in einer Welt der Personen), während Mead aus dem Teilen der Erfahrungen mit anderen konkrete Werte herleiten möchte. Wenn ich in dieser Weise über die transzendentale Architektonik an Meads Ethik herangehe, fallen die Widersprüche der einzelnen Theoriekonzepte weg und die gemeinsamen Ergänzungsmöglichkeiten in der praktischen Bewegung treten umso deutlicher hervor: [3.] »Nur insoweit man das eigene Motiv und das tatsächlich verfolgte Ziel mit dem Gemeinwohl identifizieren kann, erreicht man ein moralisches Ziel und somit moralisches Glück. Da die menschliche Natur entscheidend gesellschaftlich geprägt ist, müssen moralische Ziele ihrem Wesen nach ebenfalls gesellschaftlich sein.« (ebd., S. 436) Mead

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In einer Analyse der Ethik seiner Zeit sieht Mead drei konfligierende Richtungen am Werk, die seiner Auffassung nach recht einfach charakterisiert werden können: »Diejenige, die in einer bewußten Kontrolle des Handelns nur eine Weiterentwicklung eines Verhaltens sieht, das bereits unbewußt durch Ziele bestimmt wird« (ebd.), »diejenige, die ein Verhalten nur dort sieht, wo ein reflektierendes Denken ein transzendentales Ziel angeben kann« (ebd.), »diejenige, die ein Verhalten nur dort anerkennt, wo ein Individuum und eine Umwelt (oder Situation) sich wechselseitig beeinflussen« (ebd.). In allen drei Varianten der Moralphilosophie sind die unbewussten Faktoren für moralische Handlungen aber nach Mead nur insoweit relevant, wie sie auch vom Bewusstsein erkannt und reflektiert werden können. Dabei kommt es nicht nur auf die Kräfte und Motive im Individuum selbst an, sondern auch auf dessen soziale und natürliche Umwelt. 261 Wenn die bewusste Kontrolle zugunsten unbewusster Kräfte schreibt weiter: »Betrachten wir das Individuum vom Standpunkt seiner Impulse aus, so erkennen wir, daß jene Wünsche gut sind, die sich selbst verstärken oder weiterhin Ausdruck finden und die andere Impulse beleben. Jene wiederum, die sich nicht selbst verstärken, führen zu unerwünschten Ergebnissen. Diejenigen aber, die andere Motive abschwächen, sind in sich selbst schlecht. Wenn wir auf das Ziel der Handlung statt auf den Impuls sehen, anerkennen wir jene Ziele als gut, die zur Verwirklichung der Identität als einem gesellschaftlichen Wesen führen. Unsere Moral entwickelt sich um unser gesellschaftliches Verhalten herum.« (ebd.) Beide Bewertungen, die der ImpulsPerspektive und die der Zweckmäßigkeit, sind m. E. auf Moral im Sinne von »Moralen« ausgerichtet. Trotzdem ist die Darstellungsebene der Unterscheidung allgemein und beansprucht notwendige Geltung bei aller Offenheit für die konkreten Moralvorstellungen, die das Individuum in seiner gesellschaftlichen Umgebung ausprägen wird. 260 Auf dieser Basis nämlich kann die Konstitution des Denkens in Meads sozialem Kommunikationsmodell (anti-repräsentationalistisch) durchaus erklärt werden: »Das, was Mead als ›verallgemeinerter Anderer‹ bezeichnet, ist auf Universalität hin angelegt, tendiert zu einer immer weiteren Verallgemeinerung. Das heißt, im Grenzfall ist die Weltgesellschaft oder die Menschheit der verallgemeinerte Andere.« (Vester 2008, S. 61) Vester fragt weiter, weshalb die Menschen dann aber bei Mead nicht alle gleich seien, und zieht die Unterscheidung zwischen der abstrakten Verallgmeinerung und der konkreten sozialen Position zur Beantwortung heran. Es ist also an dieser Stelle möglich, die Universalität nicht nur als Verallgemeinerung zu lesen, sondern als strikte Allgemeinheit, nach der die Verbindlichkeit aus der universalen Relationalität jedes »Einzelnen« abgeleitet werden könnte. Damit ließe sich die oben von mir ausgeführte Kantinterpretation ohne Weiteres mit Meads Ansatz verbinden. 261 In diesen komplexen Gefügen von Bedingungen bildet die Moral einen für die menschlichen Belange umfassenden Bereich, wenn wir sie als funktionale und normative Darstellung oder als direkte Bewertung menschlicher Handlungen überhaupt einschätzen. Ontogenese und Phylogenese, moralische Zustände und Zweckvorstel-

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suspendiert wird, so entsteht eine äußere moralische Notwendigkeit (Determiniertheit, soziale Dressur), die mit Handlungen im eigentlich moralischen Sinne nichts mehr zu tun habe (vgl. ebd., S. 367). Weiter kann das Individuum zwar nach Mead äußere Ziele anstreben und ihnen einen intrinsischen Wert zusprechen, doch auch diese zweite Variante erhält ihre moralische Färbung erst durch das Zugeständnis einer Reziprozität zwischen dem Individuum und sämtlichen externen Faktoren: Die moralische Notwendigkeit liegt nicht in einem Ziel, das von außen wirkt, und auch nicht im Druck einer Neigung, die von innen wirkt, sondern in dem Verhältnis der Handlungsbedingungen zu den Handlungsantrieben. Das Motiv zu moralischem Handeln ist weder ein rein rationales, äußeres Ziel, noch eine private Neigung, sondern ein Antrieb, der unter dem Aspekt seiner Folgen im Vergleich mit den Folgen anderer Antriebe vorgestellt wird. (ebd., S. 363) 262

Mit der Voraussetzung der Vernunfttätigkeit – sozusagen der Invertierung des sozialen Gefüges in das bewusste Ego – sind die Probleme der Komplexität von Moralphänomenen also möglicherweise ohne

lungen in der Welt, Reflexionen jeder Art und Ordnungsschemata müssten dieser Kategorie »Moral« eingeschrieben werden. 262 Das Reich der Zwecke »in sich« und die hiermit bezeichneten Personen setzen also weder eine Verallgemeinerung noch ein Vermögen der Generalisierung voraus, sie bauen allerdings auf dem lebendigen Moment der Synthesis als vernünftigem Verbinden auf. Diese objektive Vorstellungstätigkeit muss demnach für die Ethik, die Sozialität und den Allgemeinheitsanspruch der Logik als Forderung nach Allgemeinheit vorausgesetzt werden. »Dieses Bild eines Reiches der moralischen Zwecke [nach Kant, W. M.] kann nur schwer von der Lehre Mills unterschieden werden, da in beiden Fällen die Gesellschaft als Endziel eingesetzt wird. Beide müssen zu irgendeinem Ziel kommen, das allgemein ist. Der Utilitarist erreicht es im allgemeinen Gut, im allgemeinen Glück der ganzen Gemeinschaft; Kant findet es in einer Organisation vernunftbegabter menschlicher Wesen, die die Rationalität auf die Form ihrer Handlungen anwenden. Beide können sie das Ziel nicht im Rahmen des vom Einzelnen gewünschten Objekts bestimmen. Was man verallgemeinern muß, ist tatsächlich das Objekt, auf das sich die Wunschvorstellungen richten, das nämlich, dem man Aufmerksamkeit schenken muß, wenn man erfolgreich zu sein wünscht. Man muß nicht nur die Form der Handlung, sondern auch ihren Inhalt verallgemeinern.« (Mead 1978, S. 433) In dieser Darstellung scheint es nun allerdings so, dass Mead zunächst die Verbindlichkeit der eigenen Denktätigkeit wie auch die der Denktätigkeit des Lesers ausblendet, obwohl er seine Aufsätze kohärent unter dieser Selbstanwendungsprämisse behandelt. M. E. arbeitet Mead also trotzdem »transzendental«, wenn er die notwendigen Voraussetzungen eines ethischen Diskurses ausfindig macht und systematisiert.

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metaphysische Zusatzannahmen zu beheben. Meads Definition der ethischen Urteile als »gesellschaftliche Hypothese« suggeriert, dass die beste Hypothese »alle betroffenen Interessen berücksichtigen muß« (ebd., S. 438). Die einzige Regel der Ethik (vgl. ebd., S. 439) entspräche gemäß den oben vorgeschlagenen Verschiebungen in der Interpretation des Kategorischen Imperativs exakt dem »kritischen Denken«, das ebenfalls eine rationale und unparteiische Handlungsabwägung vornimmt. »Die Methode, alle diese Interessen, die einerseits die Gesellschaft und andererseits das Individuum bilden, in Betracht zu ziehen, ist die Methode der Moral.« (ebd., S. 440) Da Mead aber davon ausgeht, dass das spontane und kreative Wirken des Einzelnen (z. B. aus dem Impuls der Wahrung des Selbstrespekts, vgl. ebd.) die Gesellschaft gemäß den eigenen Vorstellungen zu verbessern sucht, möchte ich – die »Uneindeutigkeit« der ethischen Ausführungen Meads (vgl. Joas 1989, S. 129) nutzend – erneut auf die Dimensionen der praktischen und transzendentalen Argumentation in Meads Aufsätzen hinweisen: The »I« therefore never can exist as an object in consciousness, but the very conversational character of our inner experience, the very process of replying to one’s own talk, implies an »I« behind the scenes who answers to the gestures, the symbols, that arise in consciousness. The »I« is the transcendental self of Kant, the soul that James conceived behind the scene holding on to the skirts of an idea to give it an added increment of emphasis. The self-conscious, actual self in social intercourse is the objective »me« or »me’s« with the process of response continually going on and implying a fictitious »I« always out of sight of himself. Inner consciousness is socially organized by the importation of the social organization of the outer world. (Mead 1912, S. 406)

Wenn das Bewusstsein nach Mead also tatsächlich in den Relationen zu seiner Umwelt und dem daraus erfolgenden Verhalten organisiert ist und somit die Umwelt von Mead in die Perspektivität des aktiven, kreativen Bewusstseins zurückgenommen wird, dann lässt sich ebenfalls konstatieren, dass Mead das soziale Bewusstsein in Hinsicht auf die sozialen Gegenstände und Verhaltensweisen der Moralität zu generieren versucht (vgl. Mead 1912, S. 402: »But a man is more than a physical object, and it is this more which constitutes him a social object or self, and it is this self which is related to that peculiar conduct which may be termed social conduct.« u. S. 403 passim: hier als »constructing«). Auch in dieser Beschreibung wird der sog. Sozialbehaviorismus in Meads Studien zwar deutlich, doch lässt sich nicht 209 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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minder auch der transzendentale »Strudel« erkennen, der die Funktionen des transzendentalen »I« mit einem »einkehrenden«, inversiven Moment der personalen Identität ausstattet. Durch die Nähe dieser Forschungsmethoden zu den evolutionstheoretischen, psychologischen und ethischen Studien Deweys zeigt sich verstärkt die Möglichkeit einer Genealogie des qualitativen Erlebens in den relational angelegten pragmatistischen Werken.

3.3.2 John Dewey Pragmatisten zählen aufgrund der relationalen Offenheit ihres Denkens in der Einführungsliteratur meist zu den rekonstruktiven Ethikern und werden in diesen Darstellungen mit einem starken Hang zur Tugendethik nachgezeichnet (vgl. Fesmire 2003, S. 56), 263 wobei der melioristische Aspekt in der Sekundärliteratur (vgl. ebd.) sehr stiefmütterlich behandelt wird. Für eine wissenschaftliche Haltung, die naturalistisch auftreten möchte, ohne dabei reduktionistisch zu sein, ist es sicherlich äußerst schwierig, Inkonsistenzen zwischen Wissenschaft und Phänomenalismus zu vermeiden. 264 In den Anfängen bestimmt auch bei Dewey ein einseitiges »Kontrollmodell« das Konzept der Moralität. Diese Auffassung liegt vor allem in den psychologischen Analysen von moralischen Handlungen (»moral actions«) begründet, in denen sowohl die Absicht als auch die Folgen einer Handlung erst dann in den Verantwortungsbereich des Akteurs eingeblendet werden, wenn sie eben »kontrolliert« werden (vgl. EW, 1.343). Die Bewertungsmodi »moralisch« und »unmoralisch« markieren nach Dewey also diejenigen Handlungen, die »aus Klugheit« 263 »Others, including classical pragmatists such as Dewey and, to a degree, feminist ethicists like Nel Noddings, favor a radically reconstructed conception of ethics that entreats people ›to attend more fully to the concrete elements entering into the situations in which they have to act‹ (TIF, LW 5.288). What is needed, Dewey urged, is to reject the quest for ›a single, fixed and final good‹ and ›transfer the weight and burden of morality to intelligence‹ (RP, MW 12.172–173) with the aim of ameliorating the muddles of moral life.« (ebd.) Und: »Pragmatist ethics turns away from such rigid abstractions and returns to the ordinary life-experiences of inherently social, embodied, and historically situated beings.« (ebd., S. 58). 264 John Deweys Moralphilosophie wendet aus diesem Grund einen moderaten Naturalismus an, der es ihm ermöglicht, die »Angriffe« wie etwa von Julien Benda (LW 15.19–26) zu entkräften. Zur Definition und Anwendung der Bezeichnung »Naturalismus« bei Dewey, vgl. Jung (2013, S. 36) und Sinclair (2011, S. 13 ff.).

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(phronesis) heraus ausgeführt wurden. Diese Grundlage nutzt Dewey in seiner frühen Ethik, um die aristotelische »Entelechie« in eine (transzendentalistische) »Self-Realisation as the Moral Ideal« (EW 4.42–53) zu übersetzen, aus der er zugleich ontogenetische und phylogenetische Momente gewinnen konnte. Diese frühen Aufsätze zur Ethik spiegeln mit ihrer zunehmenden Abwendung vom (USamerikanischen) transzendentalistischen Ansatz der Selbstverwirklichung und mit ihrer Zuwendung zur Moral Science zugleich eine Entwicklung in Deweys theoretischer Philosophie wider (vgl. Welchman 1995, S. 63 ff.). Dewey geht 1891 in seiner frühen Studie zu »Moral Theory and Practice« (EW 3.93) von den Untersuchungen Henry Sidgwicks, Felix Adlers, Bernard Bosanquets und William M. Salters aus, 265 was seine kritische Sicht sowohl auf den Utilitarismus als auch auf den Kantianismus erklärt. Nimmt man die Moralphilosophie als Suche nach einer allgemeinen Grundlegung für »moral activity« (EW 3.94), dann geht eben diese Allgemeinheit scheinbar über die bloß moralische Aktivität hinaus. Doch auch die allgemeine Theorie ist für Dewey stets durch den sie vertretenden Theoretiker aktiv in die Lebenswelt integriert: »What then is moral theory? It is all one with moral insight, and moral insight is the recognition of the relationships in hand.« (EW 3.94 f.) Damit wird die reflektierende Moraltheorie eingelassen in die Sittlichkeit des Alltags, die aus ganz gewöhnlichen Wertungen besteht (Schätzen, Bevorzugen …), statt in einem gehobenen Sinne transzendent oder transzendental fundiert zu sein. Also bildet die Moraltheorie nach Dewey eine »analytic perception of the conditions and relations in hand in a given act,– it is the action in idea« (EW 3.95). Es ist nach Dewey richtig, dass die Vorstellung von abstrakten Handlungsparametern immer auch einem theoretischen Konzept entstammen, mit dem moralische Probleme kategorisiert und beschrieben werden; bloß dürfe man nicht übersehen, dass die Theorie ihrerseits jedoch aus der Erfahrung gewonnen wurde (vgl. EW 3.97). Für die Pragmatisten liegt Moral also keineswegs in einer von der Erfahrungswelt separierten Gedankenwelt oder als Buch mit abstrakten Gesetzen vor, sondern sie manifestiert sich immer in der aktualen Vorstellung eines Handelnden. Wo die Ver265 Koch (2008, S. 28 FN 12) weist darauf hin, dass auch diese Autoren kein »ethical cookbook« erstellt hätten, sondern von Dewey vielmehr adressiert werden, weil sie die Auffassung teilten, moralisches Wissen sei außerhalb menschlicher Aktivitäten möglich.

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bindung von Theorie und Verhalten aufgelöst werde, dort sei theoretische Moralphilosophie ganz einfach bedeutungslos (vgl. EW 3.99). Ein willentlicher Akt zeichnet sich letztlich also durch das »Verhalten« (»conduct«) als moralisch aus. Moralische Normen sind für Dewey lediglich nachgeschaltete »Ideen« im Sinne von kognitiv entwickelten Instrumenten, die dazu dienen, eine ethische Analyse der jeweiligen Situation durchführen zu können (vgl. EW 3.101 f.). Die Normen selbst jedoch sind nicht an sich wertvoll, sondern nur insofern sie helfen, ein Problem (weitsichtig und nachhaltig) zu lösen. Um aber helfen zu können, muss die Moral gewissermaßen selbst lebendig sein (»have life and spirit«) und dem freien Spiel der Intelligenz im Handelnden entspringen. Dewey erteilt damit im Rahmen der moralischen Wertschöpfung der Fremdbestimmung im Speziellen und auch dem externen Realismus im Allgemeinen eine Absage (vgl. EW 3.102 f.); »ideas about moral« sind für Dewey gleichbedeutend mit »moral ideas in the making« (ebd.). Die Verbindung von Theorie und Praxis, die auf diese Weise aufgebaut wird, hebt die künstlichen Unterscheidungen von »is« und »ought«, Fakt und Wert usw. durch die Genese von moralischen Gedanken auf (vgl. EW 3.105), denn moralische Faktoren sind immer partikulare Phänomene von realen Ereignissen, in die ein autonom Handelnder eingelassen ist und die der Handelnde erfährt und beurteilt: »the ›ought‹ is the ›is‹ of action« (EW 3.108–9). Moral kann daher bei Dewey nie aus sich selbst oder aus einer moralischen Spekulation heraus gerechtfertigt werden, sondern nur aus den Bedingungen einer realen Handlungssituation. Allgemein gesprochen haben Menschen keine Verpflichtung, leeren Regeln zu folgen, »his duty is always to respond to the nature of the actual demands which he finds made upon him […]« (EW 3.106). Das praktische Material der moralischen Urteile wird durch den konkreten Kontext für den einzelnen Akteur gebildet (vgl. EW 3.109). In die jeweilige Situation lässt Dewey zusätzlich eine voluntative Zielrichtung (Intention) ein, die dann konkrete Wertvorstellungen in das langfristige Konzept normativer Moralität transformiert, wie es auch oben bereits von Joas und Jung erläutert wurde. Die Diskussion, die Dewey damit aufgreift, ist von der transzendentalen Ebene nur »ein Haar« (vgl. Sacks 2005) weit entfernt: »Dewey’s ›ethical postulate,‹ the postulate that there is a reciprocal relation between the realization of each individual’s interests and the realization of the interests of all, is an induction from the ›facts‹ of the nature of our desire and the conditions of its achievement.« (Welchman 1995, 212 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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S. 82) Die wissenschaftliche Beschreibung von wünschenswerten Idealen wird dabei in Form eines experimental-psychologischen Ansatzes verwirklicht und erhält statt eines starken realistischen Anspruchs die moderate naturalistische Form einer verkörperten kognitiven Leistung (vgl. EW 4.254: »embodied cognition«). Die Selbstkonzepte der Individuen gehen zwar aus der »realen« sozialen Umwelt hervor und gestalten in Interaktionen erneut reziproke Prozesse mit anderen Individuen der Gemeinschaft. 266 Dewey greift aber bereits mit »The Evolutionary Method as Applied to Morality« (MW 2.3– 38) und »Psychological Method in Ethics« (MW 3.310 f.) auf historische, evolutionstheoretische, naturwissenschaftliche und logische Methoden zurück, um die Dynamik und Prozessualität der Moral in Abhängigkeit von der Perspektive des Akteurs wissenschaftlich fassbar zu machen. Die im engeren Sinne »pragmatistische Ethik« (1908) fährt schließlich die Ernte aus diesen frühen Untersuchungen ein und hinterlässt ihre Spuren in weiten Teilen der Wissenschaftslandschaft der Zeit. 267 Noch heute werden die drei Fragestellungen, die Dewey als Motivation für seine Untersuchungen beschreibt, als Eckpunkte für ethische Projekte genutzt. Dewey entwickelt diese drei Fragen in folgenden Bereichen: 268 a) die Frage nach der Objektivität moralischer Wahrheiten zwischen ihrer Supervenienz auf wissenschaftlich erforschbaren Tatsachen und ihrer intrinsischen vernunftbasierenden Normativität, b) die Frage nach der Motivationskraft der Moral sowie c) der Überzeugungskraft moralischer Urteile. In der gemeinsam (neu) aufgelegten »Ethik« 269 von 1932 definieren die beiden Autoren Dewey und Tufts den Gegenstand: 266 In dieser Phase zeigt sich bereits der eigentlich pragmatistische Zug, der sämtliche Aspekte eines moralischen Phänomens vor dem Hintergrund seiner Ganzheit berücksichtigt; auch wenn ich für diese Datierung hinzufügen muss, dass die Forschung eher Welchman zustimmt, der dieses Attest für die Phase um 1894 herum noch strengstens ablehnt und erst nach 1903, nach der Revision des »reflex arc concept in psychology« (1896, EW 5.96–109), zuspricht. 267 Auch heute beeinflusst »Ethics« Ansätze wie Deep Ecology, Deep Pragmatism. Vgl. ebd., S. 153: »The method of construction he adopts is pragmatic.« 268 Gerhardt Ernst (2009, S. 66) behandelt bspw. noch immer diese drei Fragen; zusätzlich nennt er eine vierte »Eigentümlichkeit«: die Bedeutung moralischer Urteile (vgl. Ernst 2009, S. 76). 269 Zwei Drittel der zweiten Auflage wurden neu verfasst (vgl. LW 7.3); Methode und psychologische Ausrichtung – m. E. auch manche Orientierung an Hegels Rechtsphilosophie in den von Dewey verfassten Passagen – bleiben jedoch nach Aufassung von

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Realization that the need for reflective morality and for moral theories grows out of conflict between ends, responsibilities, rights, and duties defines the service which moral theory may render, and also protects the student from false conceptions of his nature. The difference between customary and reflective morality is precisely that definite precepts, rules, definitive injunctions and prohibitions issue from the former, while they cannot proceed from the latter. Confusion ensues when appeal to rational principles is treated as if it were merely a substitute for custom, transferring the authority of moral commands from one source to another. Moral theory can (i) generalize the types of moral conflicts which arise, thus enabling a perplexed and doubtful individual to clarify his own particular problem by placing it in a larger context; it can (ii) state the leading ways in which such problems have been intellectually dealt with by those who have thought upon such matters; it can (iii) render personal reflection more systematic and enlightened, suggesting alternatives that might otherwise be overlooked, and stimulating greater consistency in judgment. But it does not offer a table of commandments in a catechism in which answers are as definite as are the questions which are asked. (LW 7.165 f.)

Kurz: Es ist die Aufgabe der Ethik, einen Rahmen für die Theorie des Guten zu entwickeln, der den Zweck der Wünsche bzw. Präferenzen (»desires«) – ohne einen starren Katalog von Geboten und Verboten – gegenüber den Versuchungen des »scheinbar Guten« aufrechterhalten kann und der zugleich den moralischen Geltungsanspruch durch eine Theorie des Wahren legitimiert. Auf diesem Weg kann die Ethik einen »Doppelaspekt« moralischer Urteile berücksichtigen, in dem die deskriptiven und die normativen Hinsichten gleichermaßen zu einem weitsichtigen und unparteiischen Urteil beitragen, um die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen (vgl. LW 7.191 ff.). Deweys und Tufts »Ethik« beginnt diese Rahmenbildung mit der phylogenetischen und dezidiert anti-kontraktualistischen Hypothese, dass Menschen immer schon in Gruppen lebten, und sie untersucht daher die »primitiven« Vorläufer des Staates in den Strukturen von Clan- und Familienverbänden auf diese Annahme hin. Dewey nennt im Weiteren einige Stadien der Menschheitsmoral und ergänzt eine Vielzahl an Gründen, warum es aufschlussreich sei, diese Bereiche auch in ihrer Genese zu erforschen (vgl. MW 5.9/LW 7.11). Man Edel & Flower (LW 7.ix) gleich. Ich bediene mich im Folgenden tragender Gedanken aus beiden Auflagen und verweise – wenn möglich – auch auf die Konkordanz mit der jeweils anderen Ausgabe.

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könne beim Einfacheren beginnen, um die heutige Komplexität der Moralen sukzessive zu durchdringen, wobei die Entwicklung der jeweiligen Moral bis zum aktuellen Zustand (»survivals«) den ontogenetischen Stufen eines Individuums gleiche. Dieses Verständnis der Komplexität in der Entstehung von Moral und von Ethik helfe als eine Kasuistik der Menscheitsgeschichte bei der Prüfung einer konkreten Entscheidungsoption ebenso wie bei der Ausrichtung einer mittelfristigen Lebensführung. Ethik habe dann einen Wert für mich, wenn ich unter ihrer Anleitung je konkrete Herausforderungen meistern könne (vgl. MW 5.10/LW 7.12). Durch den Abgleich einer Entscheidung mit den generellen Prinzipien des menschlichen Handelns kann der Akteur aus dem Erfahrungsfundus (individuell und aus der Menschheitsgeschichte) heraus einschätzen, was zu tun ist (vgl. die »practices« bei Wallace). 270 Dabei besprechen die Autoren beispielhaft für gemeinschaftliche Werte und Normen zunächst das Strafen als eine in der Verantwortung des Clans bzw. in Verantwortung des »neutralen«, über den Gruppen stehenden Staates liegende Drohung. Sie vergleichen anschließend diese abstrakte restriktive Instanz mit den direkten zwischenmenschlichen Interaktionen, die auf der Basis zwischenmenschlicher Solidarität funktionieren (vgl. LW 7.36) und eher in Analogie zu attraktiven religiösen Identifikationsangeboten als zu denen des Rechts (vgl. LW 7.37) bestehen. 271 Aus Ethos, Mores und Sitte hervorgehend drängen erst später die Spezifizierungen des individuellen moralischen Charakters und des in die Gemeinschaft zurückwirkenden Pflichtbewusstseins in den Vordergrund. Insgesamt treten nach Dewey vielfältige religiöse Impulse, Gemeinschaftsgefühle und politische Impulse (vgl. LW 7.39) als direkte Einflussfaktoren innerhalb der Sphäre der Moralität auf. Die Verbindung zur Gruppe und zur Gesellschaft wird durch diese Einbettungen verstärkt und sozusagen zur Abkürzung der individuellen Deliberation auch in einen externen normativen Kodex transfor270 Deskriptiv gewendet: In einer synchronen »cross section« können dabei die zu einer Zeitebene relevanten Aspekte der Moral kennengelernt und das vorgehaltene Kriterium für die alltäglichen Dimensionen der Handlung ausfindig gemacht werden. Was wird aber wie und warum getan? Dewey untersucht also auch »matter« und »form«, nennt diese aber »was« und »wie«, um die Vorurteile einer reinen Form zu umgehen (vgl. ebd.). 271 Diese »funktionale Rolle« von Normen und Prinzipien im Rahmen einer gelebten, praktischen Moral betont auch Neubert (2004, Abschnitt »Ethik und Moralphilosophie«).

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miert. Erst durch eine erneute Reflexionsleistung dieses Prozesses entsteht wiederum die noch abstraktere Moraltheorie, durch deren Erklärungs- und Ordnungsauftrag nachträglich ein Diffusionsraum von »In-« und »Out-Groups« sowie von Fakten und Werten konstruiert wird. Rückübersetzt in diese theoretischen Zusammenhänge erkennt sich das betroffene Individuum als Mitglied einer bestimmten Gemeinschaft und zugleich als konstitutive Stimme im Wertbildungsverfahren. Solange die »Verwurzelung« das Selbstverständnis bestimmt, haben nach Dewey heteronome Herrschaftsstrukturen auf der Makroebene kein Erfordernis: Dieser biologische »Instinkt« halte Gruppen von innen her zusammen und sei »reinforced by sympathies and sentiments growing out of common life, common work […]. The morality is already implicit, it needs only to become conscious. The standards are embodied in the old men or the gods; the rational good is in the inherited wisdom […].« (MW 5.38 f. 272) Jeder Mensch wächst diesem Modell gemäß immer schon in eine bestehende Gruppe, und das heißt zugleich, in eine bestehende Moral hinein (hier: Sitte), die auf vielfache Weise in kulturellen Symbolen verkörpert ist und sich auf diese Weise auch im Individuum manifestiert, weit bevor es sich im neutralen, kognitiven »Leerlauf« mit ihr beschäftigen kann. 273 So entstehen die Werte nach Dewey als natürliches Engagement des Individuums in seinem sozialen Gefüge, dem sie rückwirkend Zusammenhalt und Entwicklungspotential verleihen (vgl. MW 5.192 f./LW 7.180 f.). 274 Ethik in den verschiedenen theoretischen Varianten ist daher im Grunde gleichbedeutend mit einer moralischen Anleitung im gemeinsamen zwischenmenschlichen Leben, die vor allem durch die Gewohnheiten (»customs«), die Erfahrungen, die Haltung, die Einstellung und die Handlungspotentiale bestimmt werde (vgl. MW 5.7/LW 7.9). Zu den Aspekten der ethi272 Anm.: In Dewey (1908, S. 35) steht »reinforced«. Vgl. die revidierte Formulierung in Dewey (LW 7.37). 273 Im »Charakter« drücken sich bereits die Verbindung zu anderen und die Verbindung zu sich selbst aus (vgl. Deweys Interpretation der Kantischen Theorie, MW 5.312/LW 7.241 f. u. MW 5.326 f. – Anm.: Hier tritt gegenüber 1908, S. 362 eine abweichende Nummerierung der Paragraphen auf.). So bildet der Konflikt zwischen Pflicht und Begierde lediglich eine Erweiterung des wachsenden Selbst in seiner ausgezeichneten Rolle ab (vgl. MW 328), »habits already formed« (ebd.) (vgl. MW 5.332: eine Liste der Macht-Mechanismen mit Bezug zu Nietzsches »super-man«). 274 Dewey spielt hier mit Hypothetischen Imperativen, die aus Wertvorstellungen heraus auch zur Realisierung dieser Werte nötigen sowie die entsprechenden »Vermögen« fördern (»Prudentia«, Geschick …).

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schen Lebensführung zählt Dewey entsprechend die einschlägigen Topoi wie Präferenzen, Normen, Werte und Ideale, die einen Unterschied in der Gestaltung von sozialer und natürlicher Umwelt machen. Der Gegenstand der Ethik ist daher kurz durch die beiden Relationen ausgedrückt: A) »a life of purpose« und B) »relations to nature, and especially to human society« (MW 5.8/LW 7.10). Die ethischen Prinzipien manifestieren sich in fließenden Übergängen zwischen der Innen- und Außenseite des Verhaltens (»conducts«): »Innen« gestalten die subjektiven Vorgänge des Wertens ein Dafürhalten bzw. eine Haltung, während »außen« die normativen Bezüge zu Gesellschaft und Natur gelten. Beide Relationen können demnach durch die ethische Reflexion zur »Regelmäßigkeit« werden und auf absehbare, zukünftige Ereignisse ausgedehnt werden. Eine anthropologische Konstante liegt selbstverständlich in einer Art natürlicher Notwendigkeit (»ananké«), aufgrund derer Menschen als zeitliche Wesen gezwungen sind, auf die eine oder andere Weise entscheiden und handeln zu müssen, um ihr Leben zu erhalten. Daraus lässt sich herleiten, dass auch die Unterlassung oder das Nichtstun Entscheidungsoptionen mit gravierenden (moralischen) Folgen sind. 275 Über mehrere Einzelakte hinweg nimmt die verkörperte Haltung (»attitude«) qua regulative Vorgabe (»ideal«) direkten motivationalen Einfluss auf anstehende Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse einer Handlung. Selbstverständlich bewegen sich die konkreten Inhalte (»was«) in der Beeinflussung einer Entscheidung auf unterschiedlichen moralischen Niveaus, je nachdem ob Begierden und Leidenschaften (individuell) oder religiöse und kulturelle Antriebe (Gruppe) reguliert werden oder ob eine Entscheidung auf der Ebene der Vernunft (universal) ethisch analysiert wird. Egoismus und Altruismus bilden damit zwei unterschiedliche Motive auf ein und derselben moralischen Ebene: Das menschliche Individuum entfaltet sein volles Potential sukzessive auf den höheren Entwicklungsstufen, wenn etwa die begehrlichen Triebe durch kognitive Leitmotive kontrolliert und angemessen kanalisiert werden. 276 »What is needed is that the more rational and social conduct should itself be valued as 275 Vgl. die Ähnlichkeit zu James’ »The Will to Believe« (s. u.): In Bezug auf das eigene Dasein findet man den wertbehafteten Maßstab für gewöhnlich in bipolaren Wertbereichen (gut-schlecht, richtig-falsch, gut-böse …). 276 Dewey zeigt, dass der »Geist« zur Natur gehört, wie auch die Begierden zur Natur des Menschen gehören, und dass Moral eben deshalb ein Wachstumsphänomen ist, bei dem alle niederen Stufen in den höheren Stufen enthalten sind.

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good, and so be chosen and sought; or in terms of control, that the law which society or reason prescribes should be consciously thought of as right, used as standard, and respected as binding.« (MW 5.16) Die Entfaltung eines charakterlichen »Standards« auf der Höhe der gesellschaftlichen Erwartung erhält nun dadurch eine obligatorische Komponente, dass die subjektive Kontrolle auf diese Wertvorstellungen ausgerichtet wird. 277 Diese Grundlagen vorausgesetzt entsteht in Deweys Ethik ein sich stetig »wiederholender« Prozess moralischer Gewohnheitsbildungen, sozusagen eine sukzessive Verkörperung der Leitprinzipien per Kultivierung des Charakters, wie es oben bei Joas und Jung bereits angeklungen ist. 278 Diese Dynamik kann durch das stete Feedback der Reflexion reguliert werden und trotzdem teleologisch offen sein. Es liegt auf der Hand, dass Menschen keine absoluten Moralmechanismen kreieren, die einfach passgenau in neue Situationen kopiert werden könnten. Neue Erfahrungen werden durch die Subsumtion unter Bekanntes zwar rational schematisiert bzw. ritualisiert, doch sie führen auch zu einem ganz konkreten ganzheitlichen Wachstum, das aus der Kultivierung des eigenen Charakters in die geistige und kulturelle (Selbst-)Bildung übergeht. Deweys Synopsis gestaltet freilich einen Oberflächendiskurs der Moral, dessen einzelne Topoi in dieser Klarheit erst dann greifbar werden, wenn Krisen und Konflikte zwischen konkreten Personen, respektive zwischen konkreten Maximen auftreten. Mittel und Zwecke müssen dann dahingehend (utilitaristisch) überprüft werden, welche Alternative in den sozialen Dimensionen (Sitten, Norm, Recht, Politik) auf lange Sicht auch wirklich von Wert ist. Der Abgleich einer individuellen Vorstellung mit einem anleitenden sozialen Zweck (Wert, ends-in-view, wünschenswerte Zwecke) führt beim konkreten Einsatz der Mittel häufig zu desillusionierenden Folgen, z. B. bei einem übertriebenen Aufwand für zu geringe Erfolge oder etwa bei autoritären Einwirkungen auf private Entscheidungen. So kommt es, dass die Vorstellungen, Werte und Zwecke sich vorläufig und rückläufig Der Instinkt wäre kein Kandidat für ein moralisches Leitprinzip, da seine unreflektierten Impulse nicht als eigentliche moralischen Phänomene anerkannt werden können. 278 (Herrschaftliche) Autorität und Dogmen, die über einen Embodied Custom hinausgehen, erwecken nach Dewey lediglich den Anschein eines konsistenten Prinzips und lenken auf diese Weise das Denken der Individuen. Pragmatisten konterkarieren aber grundsätzlich diese heteronomischen und antinomischen metaethischen Reflexionsebenen. 277

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ständig aufs Neue beweisen müssen und dabei neu kalibriert werden, wie Dewey anmerkt: 279 If we sum up the three classes of instances thus far considered, we get the following defining traits of a moral situation, that is, of one which is an appropriate subject of determinations of right and wrong: Moral experience is (1) a matter of conduct, behavior; that is, of activities which are called out by ideas of the worth, the desirablility of results. […] Moral experience is (2) that kind of conduct in which there are ends so discrepant, so incompatible, as to require selection of one and rejection of the other. […] Conduct as moral may thus be defined as activity called forth and directed by ideas of value or worth, where the values concerned are so mutually incompatible as to require consideration and selection before an overt action is entered upon. (MW 5.193 f.) 280

Selbstverständlich respektiert Dewey jede Art von Theorie der »Moralphänomene« (vgl. MW 5.198 ff.), aber er warnt doch dringend davor, von den eigentlichen Problemen so weit abzukommen, dass sich die Theorien nur noch um selbstgeschaffene »Hirngespinste« drehen, anstatt um die eigentlich zu lösenden Probleme der tatsächlichen Lebensführung. 281 Eingelassen in den Phänomenbereich der Sittlichkeit gibt es in Deweys Konzept nämlich kein moralisches Phänomen, das isoliert zu betrachten wäre (vgl. MW 5.199 f.). Im Gefüge einer relationalen Lebenswelt löst sich die Zwei-Welten-Lehre von Sittlichkeit 279 Dies ist das Muster für den heute so einflussreichen »Historischen Experimentalismus« (vgl. Festl 2015). Ab diesem Moment geht durch das Bewusstsein einer Wahlmöglichkeit des Zwecks der »natürlich« Strebende zum Zustand des moralisch Strebenden über, da er sich selbst und seine Zwecke hinterfragt. Positive wie negative Aspekte werden in den Vergleich aufgenommen (wo er nicht schon im Vorhinein entschieden scheint). Nach und nach kristallisiert sich dann im gemeinschaftlichen Diskurs das für alle Teilnehmenden faktisch Erstrebenswerte in einem hochkomplexen Verweisungsgefüge von Wertvorstellungen heraus, um in der Dynamik eines gemeinsamen Beschlusses erneut zur Disposition gestellt zu werden. Dieser Gedanke ist also dem Inhalt nach tatsächlich antikontraktualistisch. 280 Diese »Bildung« geht über Zielsetzungen und Zweckvorstellungen den langen Weg eines sukzessiven Entwicklungsprozesses, der damit eine stete Zunahme von Komplexität erklären kann und reine, abstrakte oder ursprüngliche Gegensätze der Moral vermeidet. Solange man sich eines Wertes nicht zweifelnd bewusst geworden ist, solange sind diese Werte auch in den Überlegungen und Bestrebungen keine moralischen Werte, sondern mehr oder weniger »natürliche«, also gegebene oder normale/gewohnte/gewöhnliche, Vorstellungen, Gefühle und Wünsche. 281 So hat Dewey (MW 5.333) explizit auf den »embodied moral man« hingewiesen. Vgl. auch die Hinweise auf eine verkörperte Vernunft bei Peirce (vgl. Erny 2005, S. 52).

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und Sachverhalten ganz einfach auf. Durch die a posteriori durchgeführte Analyse des ursprünglich »vollen« Feldes moralischer Phänomene lässt sich nach Dewey in Einzelaspekten beschreiben, was man tut und wie man es tut. So löse der Wissenschaftler also jeweils die Handlungen und den »Geist«, der in ihnen liegt (Motivation, Gründe …), aus den Zusammenhängen heraus (vgl. MW 5.212). 282 Dewey entwickelt deshalb einen Vorschlag, wie man die vereinzelten Aspekte auch in der Theorie wieder ohne Reduktionismen ineinander verflechten könne (vgl. ebd., ab MW 5.218/vgl. LW 7.183): Weder das Individuum noch die Gesellschaft oder die Natur bildeten das »Wesen« der Moral ab, sondern im Gesamtzusammenhang dieser Teile bewege sich die Phänomenalität der Moral, die immer erst im Nachhinein zergliedert und neu systematisiert werden könne (vgl. ebd.). Von einer Substanz des Selbst als Schaltzentrale der Moralität sieht Dewey daher ab: We have reached the conclusion that disposition as manifest in endeavor is the seat of moral worth, and that this worth itself consists in a readiness to regard the general happiness even against contrary promptings of personal comfort and gain. This brings us to the problems connected with the nature and functions of the self. We shall, in our search for the moral self, pass in review the conceptions which find morality in (1) Self-Denial or Self-Sacrifice, (2) Self-Assertion, (3) Combination of Regard for Self and for Others, (4) Self-Realization. (MW 5.328)

Der variable Prozess, den die pragmatistische Ethik beschreibt, setze ihr Moralverständnis damit in offene Konkurrenz zur christlichen Moral und zu deren antiken Vorläufern (etwa Kynismus, Stoa, vgl. ebd.). Entstehen durch solche Argumentationen aber nicht neue Dichotomien, etwa ein Anti-Dualismus gegen dogmatische Wertmuster wie »Gut und Böse« oder »Egoismus und Altruismus«? Für einen prozessualen Instrumentalismus stellen solche Fragen kein ernstzunehmendes Problem dar, da der menschliche Körper – wie oben ausgeführt – immer bereits moralisch aufgeladen ist und den Knotenpunkt für Relationen wie Selbstlosigkeit oder sogar »self-denial« (vgl. 282 Eine Übersicht über die kombinatorischen Theorien und ihre Ziele findet sich ebenfalls ab MW 5.212. Um die Übergänge zwischen all diesen Feinheiten zu gestalten, muss der analytische Impetus des Philosophierens an dieser Stelle explizit gemacht werden (wobei mit Jung (2012, S. 480: Leaving it implicit) darauf hingewiesen werden kann, dass »expressive Vollständigkeit […] deshalb zwar eine logische, aber keine anthropologische Möglichkeit« ist).

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MW 5.331) bildet. Wenn es, wie Dewey behauptet, die Grundbedingungen der Kontrollfähigkeit sind, die das partikulare Selbst in einem Spannungsgefüge der Relationen konstituieren, dann muss die Ethik aber auch eigens Ziele entwerfen, die zur Entfaltung (»Fulfillment«) der personalen Dispositionen anleiten. Die Konzeption der sog. ends-in-view basiert auf einer solchen einheitlichen Beschreibung der Gewohnheitsbildung in Erleben, Handeln, Denken: »Thus in practice the two conceptions of self-denial in one region and self-assertion in another mutually support each other.« (MW 5.332) 283 Diese Darstellung legt einerseits die gemeinsamen Wurzeln von Joas, Jung und Wallace in Deweys Ethik frei und verweist andererseits tiefer in die typischen pragmatistischen Argumentationsfiguren hinein, wie sie bis zu HTMOIC (s. u.) verfolgt werden können. Im Weiteren Verlauf der »Ethik« werden Prinzipien, Rechte, Pflichten, Tugendkonzepte und Güter in die ihnen angemessenen dynamischen Relationen eines ganzheitlichen Gefüges »Society and the Individual« gesetzt. Auch auf der Makroebene gestaltet Dewey fließende Übergänge in die Politik, Wirtschaft (und deren moralische Probleme (vgl. MW 5.502 ff.)) etc. bis in den Kosmopolitismus (Menschenrechte, Weltgemeinschaft) hinein. In dieser Kontinuität steckt zugleich die Wiege der Kritik am abstrakten Uni283 Dewey begreift eine Situation als kontextuelles Ganzes (s. u.) und setzt eine wissenschaftliche Untersuchung (»inquiry«) in Anlehnung an Peirce als nachträgliches Forschungsinstrument an (vgl. Thayer 1981, S. 170). Auch durch die Figuren der »Kontinuität« und »Triadik« orientiert er sich ab dem späten »Mittleren Werk« noch gezielter an Peirce (vgl. ebd., S. 172). Die Kontinuität hebt dabei die scheinbaren Gegensätze zwischen Ethik und Logik, Fakt und Wert, Wert und Norm, Gut und Böse, Richtig und Falsch sowie Richtig und Gut auf und zielt auf eine unvoreingenomme Sprache zum Philosophieren jenseits der Gegensätze ab (vgl. ebd., S. 180 f.). Werte stellen bei Dewey einen Ausdruck für »ends-in-view« dar (vgl. Jung 2016, S. 418): Das Wünschenswerte ist eine reflektierte Verfestigung des tatsächlich Gewünschten, etwas, das uns anleitet in unseren Handlungen. Es gibt also keine ultimativen, absoluten Teloi mehr: Unter ganz konkreten Bedingungen entstehen Mittel-Zweck-Relationen immer in Abhängigkeit der Perspektive des Betrachters. Dieser Zwecksetzung müssten auch die ethischen Theorien selbst entsprechen (vgl. Hartmann 2016, S. 427: »pragmatistischer Test« nach Elizabeth Anderson), denn sie sollten sich an unser Leben anbinden und darin verwirklichen lassen. Die Gefahr, dass der Pragmatismus in der Ethik so auf eine bloße Methode reduziert werde (vgl. ebd., S. 428), verstehe ich hingegen als eine bloße Wiederholung des Formalismus-Vorwurfs, wie er schon von Hegel an Kant gerichtet wurde. M. E. liegt die Stärke einer »pragmatistischen Ethik« gerade darin, eben nicht konkret wert- und normbildend aufzutreten, sondern eine offene Methodologie zu stärken.

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versalismus, respektive am liberalistischen Individualismus (auch: der Welfare-Theorien; vgl. MW 4.76 ff.). Für die ethische Reflexion in ihrer oben beschriebenen fundamentalkomplexen Interdependenz von Bedingungen – und durch die vom Beobachter eingebrachte Rekursivität – bedeutet Deweys Forschungsprojekt, dass Moral grundsätzlich nicht mehr »an sich«, umfassend oder abschließend beschreibbar sein kann. Sie kann daher auch nicht in einem beliebigen Vermögen eines beliebigen Individuums geortet werden. Und doch spiegelt sich dieses unfassbare Gesamtgefüge der Phänomene in den konkreten Merkmalen des Bewusstseins, das selbst wiederum in das Gefüge eingelassen ist. Die Wissenschaften untersuchen daher eigens die Relationen der Lebenswelt, in denen Qualitäten des Erlebens sich manifestiert haben: »For scientific inquiry always starts from things of the environment experienced in our everyday life […].« (LW 4.83) Durch die theoretische Rekonstruktion aller erfahrbaren Komponenten können Rückschlüsse auf formale Strukturkomponenten und ihre Verbindlichkeit systematisiert werden. Erst die Inkohärenz und Perturbation der gewohnten Voraussetzungen von Stetigkeit und Ordnung führen zur Konfusion der Beobachter, da die Aufmerksamkeit dann auf viele Einzelteile stößt, die ihren Zusammenhalt nicht (mehr) von selbst preisgeben. »It is unnecessary that knowledge should be concerned with existence as it is directly experienced in its concrete qualities.« (LW 4.84) Um aber die Zusammenhänge der Gegenstandserfahrungen vollständig erfassen zu können, müsste die empirische Wissenschaft auch das qualitative Moment des Erlebens von Beobachtern mit in ihre Studien aufnehmen. Da die Qualia jedoch eine Art »Tabu« oder Leerstelle in der Forschung der empirischen Wissenschaften darstellt, möchte Dewey sich dem Erleben als einem weiteren »Feld« oder »Paradigma« annähern, statt wie bisher bloß von Attributionen der Gegenstandsrelation zu sprechen. »What science is concerned with is the happening of these experienced things. For its purpose, therefore, they are happenings, events. Its aim is to discover the conditions and consequences of their happening. And this discovery can take place only by modifying the given qualities in such ways that relations become manifest.« (ebd.) Das Objekt und den Beobachter gleichermaßen durchdringend schafft diese grundlegende Verbindung nach Dewey zuerst die Möglichkeit der unmittelbaren Qualitätsrelationen (Gefühle, Denken, Vorstellungen), die auch den Naturwissenschaftler in seinen Forschungen relational bestimmen. Das verkörperte Sub222 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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jekt, als ursprüngliches »Hypokeimenon« verstanden, reguliert hier aus Deweys Sicht das Denken, doch dieses Subjekt sei kein aus der jeweiligen Situation abgelöster kontrollierender Bewusstseinsgrund. 284 So hebe das Denken gewöhnlich von einem Objekt an, das selbst eingelassen sei in ein abstraktes, unanalysierbares Ganzes (vgl. LW 5.246). Die Aufgabe des Denkens in diesem Konzept liegt nach Dewey genau darin, die Objekte in einer ungewohnten Situation erst einmal als Probleme verstehen und artikulieren zu können. Akte der Analyse und Prädikation – etwas als etwas (anderes) auszusagen – laufen auch hier immer erst im Feedback-Prozess (nach dem Erleben) an 285 und fügen sich so wieder in den Bedeutungshorizont der Qualität ein. 286 Wörter und besonders Namen könnten gar keine Einzeldinge als reines Gegebenes bezeichnen, 287 sondern seien selbst stets situationsabhängig (vgl. LW 5.255, Bsp.: Baseballspiel), eingelassen in eine Qualität, die mal einfacher und mal komplexer ausfalle (vgl. ebd.). Denken ergibt sich daher für Dewey als Assoziation und als kontrollierte Verbindung von Objekten und Objektelementen, die im Sinne der Scotistischen Formaldistinktion, wenn sie sinnvoll beschrieben werden sollen, unterschieden, aber nicht in ihrer ursprünglichen Einheit getrennt werden können: Assoziation ist nur möglich, wo Nähe bereits besteht. Das Denken, bei all seiner Spontaneität, kann unter solchen Bedingungen selbstverständlich keine neuen Qualitäten erschaffen, aber es ist durchaus dazu in der Lage, neue Kombinationen kreativ zu gestalten. Vielleicht zeigt sich daher an Deweys Weiterentwicklung der theoretischen Philosophie erneut, wie die Ethik (nach Aristotelischem Vorbild) immer auch in die »Politik« im ursprünglichen 284 Jung greift das Konzept der Qualität von Dewey auf und grenzt es von Peirce’ Qualia ab. Quale und Qualität sind aber beide auf den gesamten Horizont der Erlebenssituation bezogen und erweisen sich damit beide als wertkonstituierend: Ohne die Qualität an der Erfahrung für jemanden, handelt es sich nicht um eine Erfahrung; ist die Erfahrung also weiter als das Quale und füllt einen Gesamterfahrungszusammenhang? Hier ist das phänomenale Bewusstsein allumfassend und doch invertiert in ein inneres Moment (vgl. Jung 2009a, S. 204 u. S. 213). Zur Interpretation des qualitativen Erlebens und der Qualität bei Dewey, vgl. auch Jung (2009b, S. 219 u. 2015, S. 309 ff.). 285 Vgl. dazu auch das Dreiecksbeispiel zur Beschreibung von Form und Inhalt einer Sache (vgl. ebd., S. 113). 286 Vgl. dazu Jung (2015b, S. 110). 287 Vgl. dazu auch u. die »pragmati(sti)sche Maxime« bei Peirce.

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Sinne eingelassen ist und das gemeinschaftliche Leben betrifft (vgl. Campbell 1995, S. 115 mit Hinweisen auf LW 7.315–19). Auch die Moral entwickelt sich nach Dewey folglich stets weiter und erschöpft sich, wie wir gesehen haben, nicht in einem Katalog von Regeln, selbst wenn die Regeln der geltenden Moral wissenschaftlich katalogisiert werden können. Moralität als reflexiver Akt eines selbstbewussten Akteurs muss durch die notwendige rekursive Wirkung des Denkens als Teil der phänomenalen Lebenswelt in anhaltender Veränderung sein: Moralische Urteile und vor allem Werte sind nur bis auf Weiteres gültig und verlangen, verwirklicht und damit überprüfbar zu sein und auch überprüft zu werden (vgl. MW 14.28 u. LW 1.297). Da die konkreten politischen Forderungen Deweys in den meisten Fällen aber eben nicht stringent aus dem Pragmatismus selbst heraus entwickelt wurden, sondern auf realen politischen Einschätzungen beruhen, liegen neben einem soliden demokratischen Grundverständnis auch einige lose politische Implikationen in Deweys praktischer Philosophie vor (vgl. Campbell 1995, S. 141). 288 Dieser Vorbehalt schmälert allerdings in keiner Weise die methodologischen Errungenschaften wie etwa den »historischen Experimentalismus« (vgl. Festl 2015), deren Strukturen ich über James und Peirce weiter nachgehe. 289 Um die Grundlagen der pragmatistischen Moralphilosophie bis zu diesem Punkt noch einmal genauer einordnen zu können, muss auf die Kritik Deweys am (transzendentalen) Idealismus hingewiesen werden, die ja außerdem auch gegen die hier vorliegende Genealogie zu sprechen scheint. In »Die Suche nach Gewissheit« (LW 4) bestreitet Dewey immerhin den Vollzug der Kopernikanischen Wende in Kants Werk: Kant vollziehe demnach keine wirkliche Wende im Vergleich zu seinen rationalistischen Vorgängern, sondern mache ledig288 Dem mit diesem situativen und qualitativen Wert-Denken assoziierten sog. Kommunitarismus (vgl. Campbell 1995, S. 185) stehe ich äußerst kritisch gegenüber und ich bezweifle, dass die mögliche Verbindung dieses Modells zu demokratischen Gesellschaftsformen besser zu verwirklichen wäre als syndikalistische (oder georgistische – wie Dewey sie offenbar bevorzugte) Utopien. Ich lasse die daraus folgenden politischen und pädagogischen Impulse daher auf sich beruhen und verweise nur auf die gewaltige Bewegung, die sich aus Deweys Denken im amerikanischen Kommunitarismus ergab, in Deutschland etwa bei Kersten Reich, Axel Honneth und jüngst bei Michael Festl u. v. m. rezipiert. 289 Vgl. Campbell (1995, S. 119, S. 121 u. bes. S. 137) zur Entwicklung des habituellen Selbst durch moralische Rekonstruktion.

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lich eine immer schon vorausgesetzte, aber lange Zeit unausgesprochene Annahme des Rationalismus explizit (vgl. LW 4.229 ff.). Die eigentliche Analogie der Kopernikanischen Wende verfehle daher ihre Absicht vollständig, während erst mit den Pragmatisten, sc. insbesondere mit Dewey selbst, eine wahre Kopernikanische Wende im philosophischen Denken eingeleitet werde (vgl. ebd.). 290 Folgt man diesen Ausführungen Deweys wörtlich, so kann sicherlich nicht direkt an eine Verbindung von transzendentaler Kritik und Deweyschem Instrumentalismus gedacht werden. 291 Wie ist aber dann die weitere Aussage Deweys zu verstehen, »these remarks are not directed particularly against Kant« (LW 4.231)? Es sieht doch sehr stark danach aus, als solle der sog. intellektualistische Fehlschluss (vgl. LW 4.232) 292 ganz gezielt als Vorwurf gegen Kant aufgebaut werden, nach dessen System die Universalität der Erkenntnis der Maßstab der Realität sei (vgl. ebd.). Die anthropologischen Begründungen für diese Glorifizierung der apriorischen und teleologischen Erkenntnis gegenüber der offenen Erfahrung und der Tat beruhen nach Dewey auf der Angst vor der grausamen Veränderung der Natur und dem bedrohlichen Wandel einer vergänglichen Welt gegenüber einer kontrollierten Sicherheit im Reich der Formen, aus der die Existenz der Dinge deduziert werden könne. Auch die Dopplungen von Fakt und Wert, Welt und Geist erfolgten laut Dewey aus diesem einfachen Motiv heraus: Angst. Und das Heilmittel gegen Angst ist in diesem Fall die Wissenschaft. 290 Zum Versuch des »Overhauling« der Kantischen Philosophie mit empirischen Mitteln, vgl. auch Richardson (2007, S. 431). Der von Dewey verwendete Stereotyp der Kantischen Philosophie lässt allerdings zusätzlich auf eine Hegelianische Lesart der Kritiken schließen. 291 Da stehen also nach Dewey die starren, festen, mechanischen, gleichförmigen, ahistorischen, notwendigen und allgemeinen, verborgenen (okkulten) »Ideen« der Rationalisten auf der einen Seite den offenen Prozessen der ernstzunehmenden, empirischen, experimentellen, ggf. auch positivistischen, wissenschaftlichen Forschung auf der anderen Seite gegenüber, wobei nur diese wissenschaftlichen Prinzipien als »Möglichkeiten der Wirklichkeit« (vgl. LW 4.243) hypothetisch, fallibel, offen, öffentlich beobachtbar, wahrscheinlich, »wiederholbar«, nachvollziehbar, auf persönlichen Überzeugungsmöglichkeiten basierend, zeitlich und historisch kontextualisiert, wissenschaftlichen Standards (Operationen) angepasst und damit kontrolliert werden können (vgl. LW 4.230). Die rationalistische Fehlinterpretation dieser Parameter als losgelöste »Reiche« oder eigenständige Substanzen führte laut Dewey erst zu den großen und schadensreichen Dualismen der Geistesgeschichte der Menschheit. 292 LW 4.232: »By this [sc. intellectualist fallacy, W. M.] is meant something which may also be termed the ubiquity of knowledge as a measure of reality.«

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3.3.3 William James Das auf diese Weise bei Dewey so deutlich hervortretende psychologische Momentum im Denken der Pragmatisten wird in der Sekundärliteratur meist in den Vordergrund gehoben, während die holistischen Thesen in den Hintergrund verbannt werden. 293 Wie »tief« und »transzendentalistisch« zeigt sich das sog. ozeanische Gefühl der Alleinheit jedoch bei William James, etwa in seinen »Talks to Students« (1954, S. 15 u. S. 59): Es bezeichnet hier sowohl einen »dreidimensionalen Sinn« des Lebens als auch ein qualitatives Eingelassensein in das Ganze der Natur, wodurch gleichsam die »Mittelstellung« von James zwischen Dewey und Peirce in dieser Arbeit gerechtfertigt werden soll. 294 Der Pragmatismus in all seiner Komplexität nutzt so seine Herkunft und gleichzeitig seine Distanzierung von den metaphysischen Dogmen des amerikanischen Transzendentalismus. 295 Dieses Spiel von Nähe und Distanz zum transzendentalen Denken greift auch in Fragen der Politik und der Religion sowie in Fragen der Mystik, die insbesondere für die Moralität entscheidende kritische Folgerungen bereithalten: There are compensations; and no outward changes of condition in life can keep the nightingale of its eternal meaning from singing in all sorts of different men’s hearts. That is the main fact to remember. […] If the poor and the rich could look at each other in this way, sub specie aeternitates, how gentle would grow their disputes! what tolerance and good humor, what willingness to live and let live, would come into the world! (James 1954, S. 60) 296

293 Wenn es überhaupt angemessene Beachtung findet, so wird es häufig durch Sigmund Freuds berühmt gewordene Floskel vom undifferenzierbaren »ozeanischen Gefühl« diskreditiert. 294 »I want to show that if we take seriously the idea that James’ pragmatism is a variety of epistemological holism or corporatism, we can revise it in a way that makes it more defensible.« (White 2005, S. 248). Und vgl. White (ebd. S. 176) zu einer entsprechenden Einschätzung von Dewey und einem holistischen ethischen Naturalismus als Erweiterung zu Dewey (vgl. ebd., S. 177). Vgl. auch Richardson (2007, S. 242) zu der »one great blooming, buzzing confusion«. 295 Joan Richardson bezeichnet dies als den »›transcendental strain‹ of pragmatism« (Richardson 2014, S. 126), den ich auch bei Mead und Dewey bereits angedeutet habe und der insbesondere die Intuition und das unbeschreibbare transzendentale Ego verarbeitet. 296 Vgl. zu den Relationen die Arbeiten von Stanley Cavell, Vincent Colapietro u. v. m. in Donatelli et al. (2010).

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In methodologischer Hinsicht zeigen William James’ »Pragmatismus«-Vorlesungen, dass auch der Bezug zum Ganzen des Universums vom relationalen Standpunkt des Menschen ausgehen muss. 297 In der Philosophiegeschichte schlägt sich die Positionierung des Individuums in wechselnden epistemologischen Paradigmen nieder, die nach James das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Temperamenten dokumentieren: Die sentimentalen, sanftmütigen Philosophen-Charaktere (»tender-minded«) positionieren sich offensichtlich anders als die hartherzigen (»tough-minded«). Für die »weichen« Gemüter ist es beruhigend, einen Idealismus mit persönlichen Kontrollinstanzen (Intellektualismus/Rationalismus) zu gestalten; diejenigen die »härter gesotten« 298 sind, setzen auf Empirismus, Sensualismus, Materialismus, Pessimismus, Irreligiosität, Fatalismus, Pluralismus, Skeptizismus. »Die« Philosophie eines Autors bildet folglich nicht das komplette reale Leben ab, sondern sie ist entweder rein abstrakt optimistisch und idealistisch auf das Gute ausgerichtet, oder aber sie zeugt – strikt themenbezogen in empirischen Berichten und Studien – von den Abgründen der Lebenswelt. Der Pragmatismus versteht die Aufgabe der Philosophie im Sinne einer Methodologie und kann so entsprechend auf beide Temperamente angemessen reagieren, indem er die konkreten lebensweltlichen Bedingungen berücksichtigt, die sich jeweils in den ebenfalls konkreten Philosophemen manifestieren. Um damit auf den utilitaristischen Zug in James’ Ausführungen zu sprechen zu kommen, lässt sich sowohl im Wahrheitsbegriff als auch in der gesellschaftlichen Vision leicht identifizieren, wo der moralphilosophische Anschluss der »Temperamentenlehre« an Hume, Bentham und Mill geschaltet werden kann. Geltungsansprüche existieren nach James nicht unabhängig von den Lebensentwürfen der sie erhebenden Individuen, sondern entstehen angepasst an partikulare Erfordernisse und Bedürfnisse. 299

Vgl. dazu auch Richardson (2007, S. 185). Das von mir hier zur Übertragung aus dem Englischen gewählte Partizip Perfekt »gesotten« bildet allerdings nicht – wie man hätte erhoffen können – die etymologische Überleitung von Sitte über Gewohnheit zur Charakterologie, sondern entstammt dem »Sieden«. 299 Richard M. Gale (1999) sieht inmitten des für James zentralen »web of belief« (ebd., S. 99) die Moralisierung der Wahrheit (»moralization of truth«) als »most bold and original doctrine« (ebd., S. 94) des Werks. 297 298

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Wird die Hinsicht der philosophischen Frage- und Problemstellungen ernst genommen, wie das »Squirrel«-Beispiel (vgl. James 1998, S. 20) illustriert, 300 so kann die pragmatistische Methodik kritisch die Missverständnisse in metaphysischen Disputen klären: Die Gegenüberstellung von Einheit und Vielheit, Schicksal und Unfreiheit, Materie und Geist wird vom sokratisch agierenden Pragmatisten empirisch auf ihre praktischen Konsequenzen hin überprüft. Der Pragmatist argumentiert demnach auch nach James relational, phänomenalistisch und kritisch zugleich. 301 Es handelt sich dabei um eine nominalistische, partikulare, utilitaristische, positivistische und antiintellektualistisch ausgerichtete Methode der Philosophie: Theorien gelten nachgerade als Instrumente der Orientierung und sind nicht per se Antworten auf intellektuelle »Puzzles«. Diskurse über »die Wahrheit« oder »das Gute« an sich haben keinen Belang. Eine Vorstellung ist wahr, wenn sie dazu beitragen kann, den weiteren Lebensweg in harmonischen Relationen mit den anderen Teilen der Erfahrungen und Erwartungen zu gestalten; kurz: wenn sie »einen Unterschied macht« (»to make a difference«) a) im Vergleich zum Zustand vor der Erfahrung und b) im Vergleich zu allen anderen möglichen Erfahrungen. Es verbietet sich eigentlich bei einem derart offenen Konzept, von »dem« Pragmatismus zu sprechen, doch auf der formalen Ebene der Methodik ist die offene Vielfalt selbst eben das gemeinsame (universale) Programm aller Pragmatisten. Was eine signifikante Verbesserung für die konkrete problematische Lebenssituation bereitstellt, ist gleichzusetzen mit »gut« und die dazu genutzte Leitannahme des Vorgehens gilt als »wahr«. Im alltäglichen Sprachgebrauch haben sich seit der Antike für diese abstrakten Parameter und Wertbegriffe die Annahme von Wirksubstanzen und deren Akzidenzien eingebürgert. Da jedoch immer nur der empirische Zugang zu den Phänomenen (sc. »sekundäre Qualitäten«) möglich ist, kann nach der nominalistischen Über300 In Analogie zu den metaphysischen Fragestellungen gestaltet James eine Erzählung: Ein Wanderer umrundet einen Baumstamm, auf dem sich ein Eichhörnchen befindet. Er hat das Eichhörnchen auf seinem Weg allerdings nicht gesehen, da dieses sich stets auf die gegenüberliegende Seite des Stammes bewegt. Hat der Wanderer auch das Eichhörnchen umrundet? 301 Die Übergänge vom Pragmatismus bei James zur Phänomenologie Husserls sind historisch und systematisch leicht nachzuweisen (vgl. Kertscher 2009, S. 4 f.; Sehgal 2009, S. 10 u S. 14 f.; Rölli 2009, S. 46). Vgl. zur Einschätzung James’ als »Phänomenologen« und »Panpsychisten« auch Richardson (2007, S. 197 u. S. 424).

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zeugung von James die Setzung von »Substanzen« nur aus dem nachträglichen Vergeben von Sammelnamen für Eigenschaftsbündel abgeleitet werden. Die Unterscheidung von Materialismus und Naturalismus gegenüber dem Spiritualismus etc. implementiert also nur eine ästhetische, vielleicht eine hygienische oder therapeutische Frage in die Philosophie. Es macht nämlich nach James keinen Unterschied, was die Substanz des Universums ist, ob es etwa material oder immaterial bestimmt wird; es wird hierüber lediglich ein bloßer Wortstreit genährt, der sich in Gestaltungen von Pseudosubstanzen wie das Eine, Wahre, Gute, Schöne usw. niederschlägt. Wie auch immer also diese Vorstellungen in die Welt kamen, sie drücken lebendige 302 Hoffnungen, Überzeugungen, Glaubensinhalte ihrer Befürworter aus und sind damit nicht nichts. Aber in diesem ideistischen bzw. phänomenalistischen und zugleich expressivistischen Standpunkt muss sichergestellt werden, dass metaphysische Konstrukte sich stets der Moral unterordnen. Die alles entscheidende Frage, die ich folglich auf die Untersuchung der Metaethik übertragen möchte, lautet (vgl. Vorlesung IV) 303 schlicht: Wo liegt der Vorteil etwa in der Debatte der Monisten gegenüber den pluralistischen Vertretern? Die Welt ist für den Pragmatisten eine Verbindung, indem ihre vielen verschiedenen Teile unweigerlich »korrelieren«. Im Pragmatismus wird daher jede Art von Dogmatismus zugunsten eines innerweltlichen relationalen Pluralismus (der Weltbilder und -anschauungen) »abgewertet«. James wendet sich dazu stets gegen beide Seiten der im Dogma angelegten Antinomien: Pragmatisten stehen (absolut) gegen Absoluta. Dieser Zug entspricht dem kritischen Denken und damit auch am ehesten der anthropologischen Ausgangssituation, in der sich das menschliche Wissen grundsätzlich als unabgeschlossen erweist (vgl. Vorlesung V), da es additiv zum jeweiligen Vorwissen und entlang der Interessen und Vorlieben der Individuen anwächst. 304 Es bestehen nach James Relationen zwischen Ge302 Die Unterscheidung einer »genuine option« in James 1979, passim, ist wie folgt aufgebaut: living or dead, forced or avoidable, momentous or trivial. 303 Ich gebe in der folgenden Paraphrasierung zur Orientierung jeweils die römische Zahl der Vorlesung aus »Pragmatismus« (James 1976) an. 304 Eine neue Erfahrung ist demzufolge keine bloß aufgezwungene passive Anreicherung, sondern sie basiert auf dem je verkörperten Erfahrungsstand, in dem die ältesten Ebenen der Erfahrung (des Individuums, der Menschheit und der lebendigen Natur) bis in die Überzeugungen und Erfahrungen der Wirklichkeit hineinwirken (vgl. das Beispiel der Uhr, ebd., S. 94). Die Vermischung von Erfahrungen des Lebens mit

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genständen und Vorstellungen sowie zwischen den Dingen und Ideen auf der phänomenalen Grundlage: Ideen und Dinge sind damit konkrete Fakten oder abstrakte Fakten, aber nicht als Dinge an sich. Sie schließen an etwas an, passen zu etwas, das bereits als wahr anerkannt und besessen wurde. Je meine Realität ist in James’ Konzept schließlich das, worauf sich die Wahrheiten beziehen: der Fluss der Wahrnehmungen, die Relationen zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen im Bewusstsein. Religiöse und metaphysische Annahmen am Rande dieser (wissenschaftlichen) Prozesse können also nicht an sich wahr oder falsch sein, da sie in ein phänomenales Feld der Bewährung von überprüfbaren Hypothesen eingebettet sind (vgl. Vorlesung VIII). Wer überprüft aber die Hypothesen, wenn nicht der je Zweifelnde, sei es durch Lektüre, Forschung oder das Vertrauen in Experten? Die Auswirkungen der persönlichen Überzeugungen in allen Bereichen des Lebens sind für den Akteur emotional direkt spürbar; sind sie deshalb irrational? Für James handelt es sich bei diesen Überzeugungen vielmehr um »living reasons«, von denen kein Phänomen des Erlebens ausgeschlossen werden kann. Sie zeigen sich. Der psychologisch-pragmatistische Zugang zur Universalität und Verbindlichkeit komplettiert also das anthropologische Handwerkszeug, das zur Auflösung der etablierten Meta-Ebenen der Philosophen benötigt wird. Grundsätzlich wendet sich der Pragmatist kritisch gegen jede Form von Fundamentalismus, um die konfliktträchtigen Auswirkungen absoluter Gegensätze, Antinomien und Dogmatismen oder auch um das o. g. belanglose »puzzle-solving« in den letzten Fragen der Philosophie zu vermeiden. Damit bildet die transzendentale Philosophie einen Bereich, der für die Pragmatisten nicht unmittelbar anschlussfähig erscheint, denn die pragmatistische Interpretation liest das transzendentale Selbst häufig als metaphysisches Dogma in Kants »rationalistischer« Methodik. Im Spannungsfeld zwischen transzendentaler Apperzeption und dem qualitativen Erleben werden von Bergson und James bis hin zu dem Denken und Träumen führt zu vielfältigen Ebenen (Dialoge, Beobachtungen …); all diese Impulse gilt es ernst zu nehmen, denn sie könnten viele verschiedene Rückwirkungen auf das kulturelle Leben haben, auch wenn dann der Begriff der Wahrheit relativiert werden muss (VI). Die »alte«, repräsentationalistische Sichtweise auf die Wahrheit geht von einer Korrespondenz von Gedanken und Wirklichkeit aus, während die neue Auffassung von Wahrheit die klassischen Stadien durchläuft und dann hinterfragt: Ideen und Vorstellungen bilden konventionalisierte Manifestationen der Sinnesdaten als eigenständige Phänomene.

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Wittgenstein vielfach die Grenzen der Sprache beschworen. James entwickelt in »Die Vielfalt religiöser Erfahrung« (1997) eine unvoreingenommene psychologische Zugangsweise zu dieser Sphäre der ineffabilen, wertbehafteten religiösen Phänomene, die gleichsam den Zugang zur gesamten praktischen Philosophie idealtypisch vorstellen. Wissenschaftstheoretisch spricht sich James für ein pluralistisches und (feines) »supernaturalistisches« Modell aus, bei dem diverse gleichberechtigte Zugangsweisen zur Welt nebeneinanderstehen dürfen. An ihren Früchten – nicht an den Wurzeln – will James die mystischen Erfahrungen untersuchen, die im Wesen der Religiosität schlummern: Eine mögliche Konsequenz ist die innere Zufriedenheit, durch die man erkennt, welchen Wert eine solche Überzeugung für das eigene Leben haben kann. Um diese Gegenstände »mikroskopieren« zu können, führt hier wie auch im gesamten Horizont der Moralphänomene das psychologische Instrumentarium den Forscher (ggf. durch besonders auffällige Exponate) zum Kern der religiösen Erfahrung. Die einzigen Kriterien, denen man daher die religiösen Meinungen und spirituellen Urteile unterstellen könne, seien »unmittelbares Einleuchten, philosophische Verständlichkeit und moralische Nützlichkeit« (ebd., S. 51). Damit spannt sich der Bogen der mystischen Phänomene bei James von der Moralität bis zur Unsagbarkeit des transzendentalen Daseins. Entgegen der gewöhnlichen wissenschaftlichen Vorgehensweise wird die Beschreibung des zu prüfenden Gegenstands nicht durch eine begriffliche Definition eingeleitet, sondern durch eine Auswahl von Prototypen, subsumiert unter dem Sammelbegriff »Religion«. 305 Moral und Religion werden nach James gewissermaßen in den Narrationen aufgesucht, die eine Beziehung des Erlebenden zum großen Ganzen erkennen lassen. Holistisch ausgerichtete persönliche Religiosität gehe immer mit etwas »Feierliche[m], Ernsthafte[m], Zarte[m]« (ebd., S. 71) einher, und schon die leiseste Unredlichkeit oder »Gestelltheit« würde exakt den Zug der Überzeugung aufheben, der doch eigentlich seine Zugehörigkeit zur Religiosität manifestieren solle. 306 Das Ergriffensein der Person – zusätzlich zum »eigent305 Hier beginnt sozusagen der Siegeszug der Prototypensemantik für das Unsagbare, die oben auch in Wittgensteins »Vortrag über Ethik« (1989) angewandt wurde. 306 Der Zugang zu diesem Bewusstsein (Abstufungen, Ausmaße und Qualitäten) ist allerdings auf verschiedene Weisen möglich, z. B. durch Opfer, Gebete, Askese, Hoffnung (auf Gnade) und alle denkbaren Mischungen, die daraus ableitbar sind; entscheidend ist lediglich, dass diese Wege motivierend, nicht als gebotsmäßige Heteronomie,

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lichen« qualitativen Erleben – gilt James sogar als die »differentia specifica« des Religiösen gegenüber kühlen philosophischen Ausführungen: »Es gibt einen Bewußtseinszustand, den ausschließlich religiöse Menschen kennen, in dem an die Stelle unseres Selbstbestätigungs- und Selbsterhaltungswillens die Bereitschaft tritt, zu verstummen und zu einem Nichts zu werden in den Fluten und Orkanen Gottes.« (ebd., S. 79) Abstraktionen des Religiösen verlieren sich, wie oben angedeutet, im Metaphysischen, im Glauben an eine innere Substanz, an eine höhere unsichtbare Ordnung oder an eine universale Harmonie des Seins. Die Überzeugungen hingegen, die ihrerseits aus dem Ergriffensein hervorgehen, weisen durch ihre spontane Artikulation auf das »Erlebte« zurück. 307 Die Einbildungskraft erhält entsprechend eine zentrale Rolle in der Beziehung von Vorstellung und direkter Auswirkung (Überzeugung, Haltung, Denken, Fühlen und Handlungsweise/Verhaltensdisposition). Die Fülle an Beziehungen wird gemeinhein in einem Punkt der Einheit gebündelt, um eine Harmonie zwischen Gegenständen und Akteuren herzustellen. »But one day Kant undermined the soul and brought in the transcendental ego, and ever since then the bipolar relation has been very much off its balance.« (James 1904, S. 477) 308 Da das transzendentale Selbst bei Kant aufgefasst werden. »So macht Religion leicht und glücklich, was ohnehin notwendig ist […].« (ebd., S. 84). 307 Über die Geschichte der Menschheit hinweg gibt es entsprechend unterschiedliche Manifestationen von – man ist geneigt zu sagen: »archetypischen« – religiösen Erlebnissen, die als solche in der jeweiligen Kultur auch anerkannt wurden, z. B. Träume, Visionen, Halluzinationen, mystische Erlebnisse (vgl. ebd., S. 101), unbestimmte Einheits- und Gegenwartsgefühle (vgl. ebd., S. 96). Stets bezeichnet dieses Erleben für den Psychologen einen realen und effektiven Zustand des Gesamtorganismus im Kontext seiner Umwelt; da der Zugang zur Ersten-Person-Perspektive selbst verwehrt bleibt, zählen die Schilderungen der betroffenen Personen (Narrationen) als kompensatorisches empirisches Material. Auf dieser Ebene nutze ich James’ Ausführungen zur Religiosität also vor allem, um den Weg zur Moralität pragmatistisch nachzuzeichnen. 308 Pihlström (2007, Kap. 8) interpretiert diese Studien als transzendentalen Pragmatismus. Das Rationale ist nicht ausschließlich das, was Überzeugungen hervorbringt. Vielmehr werden typische Haltungen durch das Unbewusste und Nicht-Rationale (durch Freude und Feierlichkeit, durch Angst, Instinkt, Intuition, Furcht, Devotion etc.) wesentlich intensiver hervorgerufen. Je nach Charaktereigenschaften (Temperament) und Empfindungslagen kann also eine Religion von einzelnen Menschen aus geprägt sein, sodass ein direkter Zusammenhang zur Frage nach dem Glücklichsein mit der Religion zum Vorschein kommt. Innere Zufriedenheit scheint mit einem solchen (kosmischen) Gesamtgefühl verbunden zu sein, das Begeisterung und Freude als

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von James als Substanz und Wesenskern interpretiert wird, lehnt er dieses Kantische »Dogma« schlichtweg ab und ersetzt es durch eine leibliche Präsenz des Daseins. In der oben entwickelten Lesart der transzendentalen Apperzeption als universaler Relationalität jedoch könnte James der transzendentalen Kritik sicherlich einiges abgewinnen. Freilich nennt James die Funktion des transzendentalen Ego nicht wie Kant »Synthesis«; doch in »Does the consciousness exist?« (1904) sieht er die Auflösung einer Substanz oder eines inneren Wesens des Ego bei Kant doch angedeutet (vgl. dazu auch Kramer 2007, S. 7). Es ist sogar dieser negative Impuls, der in James’ Forschungen dann zu einer Verschiebung vom Gegenstand des »Bewusstseins« zu einem reinen Erfahrungsstrom und zu einem »stream of sentiency« (Richardson 2007, S. 234) führt, in dem dann sagbare Tatsachen aus Relationen von Phänomenen bestehen. Auch die phänomenologische Variation ist somit dem Bewusstseins- bzw. Erfahrungsstrom immanent und kann mit der Sichtweise auf das Selbst assoziiert werden (vgl. James 1950, S. 291 ff., S. 330 u. S. 400). Während das »Me« bei James alle erfahrungsbasierten Urteile über die eigene Persönlichkeit versammelt, konstituiert sich aus dem Strom der Erfahrungen auch das »I«, das m. E. an die Bestimmung der transzendentalen Apperzeption erinnert: To sum up now […]. The consciousness of Self involves a stream of thought, each part of which as ›I‹ can 1) remember those which went before, and know the things they knew; and 2) emphasize and care paramountly for certain ones among them as ›me‹, and appropriate to these the rest. The nucleus of the ›me‹ is always the bodily existence felt to be present at the time. […] The I which knows them cannot itself be an aggregate, neither for psychological purposes need it be considered to be an unchanging metaphysical entity like the Soul, or a principle like the pure Ego, view as ›out of time.‹ It is a Thought, at each moment different from that of the last moment, but appropriative of the latter. If the passing thought be the directly geistige Gesundung (ob spontan, willentlich oder systematisch herbeigeführt; vgl. James 1997, S. 119) bewirkt. Selbstverständlich argumentieren die rationalistischen Vertreter des Neukantianismus gegen die unsagbaren Formen; sie setzen auf Artikulierbarkeit der Überzeugungen in einer Welt der Gründe – konstituiert durch Angabe der allgemeinen Prinzipien, bestimmter Tatsachen der sinnlichen Wahrnehmung, darauf aufbauender Hypothesen, logischer Schlussfolgerungen (vgl. ebd., S. 105), um einer Beliebigkeit in wissenschaftlichen und philosophischen Systemen vorzubeugen. Das religiöse Erleben kann aber als Gesamtphänomen auf rationalem Weg niemals »ganz« erfasst werden und die Kategorien und Methoden kratzen nur an der Oberfläche des Phänomens.

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verifiable existent which no school has hitherto doubted it to be, then that thought is itself the thinker, and psychology need not look beyond. The only pathway that I can discover for bringing in a more transcendental thinker would be to deny that we have any direct knowledge of the thought as such. The latter’s existence would then be reduced to a postulate, an assertion that there must be a knower correlative to all his known; and the problem who that knower is would have become a metaphysical problem. With the question once stated in these terms, the spiritualist and the transcendentalist solutions must be considered as prima facie on a par with our own psychological one, and discussed impartially. […] (James 1950, S. 400 f.)

Trotz dieser formalen Nähe zur kritischen Philosophie ergänzt – man kann für viele Texte sogar sagen: ersetzt – James in seinen Arbeiten die philosophischen Abstraktionsprozesse immer wieder durch seine psychologischen Beobachtungen. Dadurch ergeben sich in Bezug auf die Ethik im Sinne einer Lebensführung selbstverständlich charaktergebundene Typologien statt universale Muster: Wie etwa in seiner Temperamentenlehre angelegt wird laut James in der Lebensgestaltung unterschieden zwischen optimistischen und pessimistischen Dispositionen – sog. Einmal-Geborenen und Zweimal-Geborenen (ebd., S. 112 f.) –, für die aber beide das Erreichen eines glücklichen Zustands wünschenswert ist. Eine eminente Rolle für den Optimismus spielt selbstverständlich der Glaube daran, dass man etwas bewegen und die Welt besser machen könne (Meliorismus, vgl. ebd., S. 119 f.). Werte entspringen dabei der Perspektive, die eine Geisteshaltung durch psychologische Mechanismen erweckt: »Weil du selbst sie durch dein eigenes Denken böse oder gut machst, erweist sich die Herrschaft über deine Gedanken als deine wichtigste Aufgabe.« (ebd., S. 120) Auch wissenschaftliche Theoreme können dabei zu religiösen Strömungen avancieren, wie James anhand der Evolutionstheorie als neuer fortschrittsgläubiger »Naturreligion« (ebd., S. 123) illustriert, die das gerade erst (mühsam) liberalisierte Christentum aus dem Gedächtnis der neuen Generation verdränge (vgl. ebd.). Entscheidend ist jedoch die Kontrolle des (guten oder bösen) Handelns sowie die Quelle der Moralität als Herrschaft über die eigenen Gedanken und Gefühle. Für die kranke, d. h. kontrolllose Seele hingegen, deren Versagen und Ungenügen zur Verzweiflung an der Widersprüchlichkeit des Lebens – der Kollision von Innen (Fühlen, Begierden, Temperament) und Außen (Handlungen und Engagement) – führt, entsteht laut 234 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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James eine »Traurigkeit«, die in bestimmten Ausprägungen »zum Kern jeder nur positivistischen, agnostischen oder naturalistischen Philosophie« gehöre (ebd., S. 165). Über diese philosophischen Positionen hinaus werden zusätzlich auch verschiedene Arten krankhafter Depressionen unterschieden (vgl. ebd., 168 ff.), in denen »anhedonistische« Erlebenszüge zu empfindlichen und gereizten Charakterzuständen führten und die Erde vor der Eitelkeit alles Daseins als Jammertal empfinden ließen. 309 Aufbauend auf organischen und sensomotorischen Reaktionen sind die (ekstatischen) Qualia das entscheidende Moment für die kontrollierte (Neu-)Gestaltung von Werten und präferierten Lebensweisen. 310 Die Gefühlszustände bei James sind aufgrund der ereignisund umweltbedingten Transformationen nicht immer reine ganzheitliche Erfüllungen, sondern sie können in komplexen Mixturen auftreten, sodass auch die hieraus entstehenden Konflikte verschiedene, charakterspezifische Tendenzen und Intensitäten aufweisen. 311 Die 309 Dabei betont James, dass »emotionale Deutungen« von Sachverhalten nicht logisch aus (als objektiv gesetzten) Sachverhalten der Welt ableitbar seien. Die Komplexität der Welt umfasse sämtliche Perspektiven und Stimmungen, die immer auch zugleich kontext- und emotionsabhängig seien (vgl. ebd., S. 173 f.). Das gespaltene Selbst der kranken Seele – egal ob durch Vererbung, Physiologie oder (Entwicklungs-)Psychologie erklärt – gibt für James Hinweise auf Stereotype eines Lebens der christlichen Heiligen. Inmitten der Wandlung zum Guten bleibt im Religiösen die Zerrissenheit dieser Charaktertypen enthalten und trübt durch das Bekehrungserlebnis hindurch die Teloi der bloßen Glückseligkeit, der reinen Heilsgewissheit usw. Diese Erlebnisse sind nicht das, was man in der Lehre der Theologie findet, doch hat sie als Quelle für die psychologische Untersuchung enorme Vorteile gegenüber der durch statutarische Einflüsse geprägten Texten und Institutionen. So kommt es für James ganz selbstverständlich dazu, dass ein Religionsstifter zunächst als »Irrer« oder als lächerliche Person wahrgenommen wird, plötzlich ist er durch seine Vehemenz dann ein gefährlicher Häretiker, bis er sich als »ansteckend« genug erweist (Idol) und schließlich selbst zur orthodoxen Religion wird, die alle anderen Denkweisen verurteilt; so kann es auch Wissenschaftlern ergehen. 310 Wegen dieses Ursprungs sind die religiösen Bekehrungserlebnisse, die James nachzeichnet, möglicherweise auch revidierbar (»Rückfälle« in die Gewohnheit, vgl. ebd., S. 272). 311 Für die psychologische Untersuchung kommen nach James letzthin Systematisierungen im Type-Token-Stil in Frage, wenn es um eine Übersicht der relevanten Gefühlsmuster in einem größeren Lebenszusammenhang geht. Man findet diese Aspekte über alle Zeiten und quer durch die Kulturen in den Religionen wieder (vgl. ebd., S. 289), wie am Beispiel des sog. kosmischen Gefühls und seinen ethischen Folgen veranschaulicht wird: Optimistische Charaktere nehmen diese Züge aktiv auf; bei den pessimistischen/kranken Typen kann es sein, dass sie selbst die positivsten Aspekte etwa einer Theophanie passiv dulden oder erleiden; die ins Positive gewendeten

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methodische Ausrichtung der von James vorgegebenen Beobachterperspektive muss selbst also fallibilistische Modi adaptieren (vgl. ebd., S. 342), denn James will ja explizit psychologisch mit der echten, direkten religiösen und moralischen Erfahrung (vgl. ebd., S. 346) arbeiten. Die persönlichen religiösen Erlebnisse, die den emotionalen Ausgangspunkt einer jeden Religion bilden, bestehen nach James in ihrem Kern wiederum aus »mystischen Bewusstseinszuständen«. Unter Mystik ist im Verlauf der Studien damit denotativ ein Katalog von vier Kriterien zutage getreten, der eine scharfe Differenzierung zur Konnotation einer mystizistischen Verklärung ermöglicht. Von Mystik im religiösen und außerreligiösen Sinne spricht man mit James, wenn als Minimalkriterien zumindest a) die Limitation einer Unaussprechbarkeit, b) eine noetische Qualität (zusätzlich zu Gefühlen treten auch Einsichten mit epistemischem Anspruch auf: Offenbarung, Erleuchtung, Versenkung …), c) Flüchtigkeit (zeitliche Begrenzung des aktualen Zustands) und d) Passivität (der eigene Wille scheint außer Kraft gesetzt zu sein) aufgetreten sind (vgl. ebd., S. 384 f.). Die Bedingungen, die in Stimmung, Kognition und Umwelt herrschen müssen, um ein solches Phänomen beim Betroffenen hervorzubringen, sind als Gesamt-»Ereignis« situationsabhängig, wodurch die wissenschaftliche Identifizierung der »mystischen Merkmale« (a-d) (vgl. ebd., S. 385) selbstverständlich erschwert wird. Es gibt folglich in diesen religionsphilosophischen Studien von James bis hierher zwei Aspekte, die ich in der Genealogie der pragmatistischen Ethik festhalten möchte: 1. den gemeinsamen Kern von Religion (Ergriffensein) und Moralität (Kontrolle der Wertzuschreibungen) im Erleben des Akteurs, und 2. die strikt methodologische Ausrichtung, die eine separate Architektonik der Moralphilosophie vermeidet und sie stattdessen mit der Perspektivität des Forschenden durchResultate hingegen finden ihre überlieferte Schnittmenge in einer inneren Ruhe und Sammlung der Personen von Augenblick zu Augenblick (vgl. ebd., S. 299), ein Abzielen auf Eigenverantwortung und Reinheit des Lebens. In der Askese können selbst suizidale Tendenzen oder Keuschheit, Gehorsam, Armut (vgl. ebd., S. 320 ff.) auftreten, mit einer Unterscheidung zwischen Menschen, die haben, und Menschen, die sind; Ekstase hingegen und orgiastische Praktiken zeigen auf der anderen Seite, dass im Menschen keine klare Grenze zwischen animalischem Teil und rationalem Teil gezogen werden kann, sondern vielmehr ein fließender Übergang die stete »Wechselwirkung« begünstigt. Anthropologie und Ethik stehen also doch in enger Verbindung zu diesen religiösen Momenten.

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setzt, um Moralität als den normativen Bestandteil eines jeden Forschungsprozesses zu verstehen. 312 Für jede Form von abstrahierender Meta-Disziplin bedeutet dies: Der aus der Emotion entstehende personale »Über-Glaube« (ebd., S. 496) übersteigt die wissenschaftliche Praxis daher auf sinnstiftender, motivationaler und moralischer Ebene durch zusätzliche Hypostasierungen. Theologische und religionsphilosophische Theoreme sind daher »sekundäre Produkte« (ebd., S. 426), die sich aus dem wertenden Erleben entwickeln und in einem genuin rationalistischen Weltbild gar nicht möglich wären. In der Religion haben diese Theoreme trotzdem die entscheidende Aufgabe, den rationalen Ausdruck des Gefühls, des Rituals (vgl. ebd., S. 453), des Sündenbekenntnisses (vgl. ebd.), des Gebets (vgl. ebd., S. 455 ff. in div. Arten) und anderer konstitutiver Praktiken zu strukturieren. Die Genealogie legt für den aktuellen Diskurs also frei, dass die Philosophie, insbesondere die Moralphilosophie, sobald sie ohne Einbettung in den Gesamthorizont des Organismus arbeitet, den Fehler begeht, das »Dunkle« und »Geheimnisvolle« des erstpersonalen Erlebens (vgl. ebd., S. 427) zu ignorieren, nur weil es dem Paradigma kognitivistischer Selbstkonzepte widerspricht. So erst entstehen aus der Dialektik des Denkens lebensferne theologische oder metaphysische Systeme ohne »lebendige Andacht«. 313 Für alle Bereiche des kul312 Vgl. dazu Gava (2015, S. 9): »One relevant example of similarities lying beneath sharp criticism is detectable in James’s justification of religious and moral beliefs. Notwithstanding James’s claims concerning the irrelevance of Kant for pragmatism, it has been observed that the former’s defense of religious and moral beliefs bears many similarities to the latter’s practical justification of the beliefs in freedom, God, and the immortality of the soul.« – die Nähe von Mystikforschung und Moralforschung zueinander sowie die Vergleichbarkeit zu Kants Religionsphilosophie bestätigen auch Sterns Untersuchungen (vgl. ebd., S. 159, S. 165 u. S. 170: »broadly similar strategies«). 313 Konstruiert das Denken den Ausdruck der Gefühle aber relational und kontextuell eingelassen in die übrigen lebensweltlichen Phänomene sowie ausdrücklich auf diesen aufbauend und von ihnen angeleitet (a posteriori), dann zeigt sich die Abstraktionsleistung für die Kommunikation und vielleicht sogar für eine künftige pragmatistisch ausgerichtete Moral-, respektive Religionswissenschaft als nachhaltiger Gewinn. »Ich glaube, wir müssen uns mit der traurigen Wahrheit abfinden, daß der Versuch, auf dem Wege der reinen Vernunft die Echtheit religiöser Befreiungserlebnisse zu demonstrieren, absolut hoffnungslos ist.« (ebd., S. 447) Für die Wissenschaft der Religion bleibt damit ein genetisches Konzept, das mit wenigen plausiblen Hypothesen die Entstehung und den Wert der Religion zu umreißen vermag. Auch wenn Joas (1999, S. 23) auf die strikte Trennung von Moral und Religion bei James hinweist, konnte ich zumindest durch einige Hinweise plausibel machen, dass der religiös an-

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turellen Lebens, für die Religion wie für die Moral und die (Natur-) Wissenschaft gilt daher im Umkehrschluss, dass aufgrund ihrer Relationalität zum Erlebenden nicht sinnvoll von einer absoluten Wahrheit gesprochen werden kann. Das Motiv für einen Wissenschaftler wie James, eine pazifistische, sozialistische und utopistische Gesellschaftsvision zu vertreten, resultiert aus dieser Offenheit des menschlichen Phänomenbereichs heraus. In keinem Aufsatz kommt diese Kombination einer antidogmatischen mit einer kritischen Überzeugung besser zum Ausdruck als in dem 1891 verfassten Vortrag »The moral philosopher and the moral life«. Das Einschwören der Ethik auf eine wissenschaftliche Methodik zielt vordergründig darauf ab, »to find an account of the moral relations that obtain among things, which will weave them into the unity of a stable system, and make of the world what one may call a genuine universe from the ethical point of view« (James 1891, S. 331). Aber der Philosoph, ganz wie dies später im Radikalen Empirismus erneut betont wird, ist im Vergleich zu anderen Menschen eben kein Experte in der konkreten Wahl von Werten und Normen, sondern auch er ist seinen ganz persönlichen Haltungen und Überzeugungen »verbunden«. Es ist zwar möglich, diese Haltungen durch eine philosophische Reflexion auf das Allgemeine und Ideale nachhaltig zu kultivieren; die Gegenstände der Welt selbst geben aber die absoluten moralischen Zustände der reinen Philosophie gar nicht her. Wie jedem wissenschaftlich Forschenden obliegt es schließlich auch den Moralphilosophen, mit vorab motivierenden Hypothesen zu arbeiten, und sollten die Philosophen irgendwann verzweifelt ihre Leitbilder aufgeben und sich mit einem ethischen Skeptizismus zufriedengeben, so ist auch ihr gesamtes Streben nach Weisheit in einen Stillstand geraten und damit als Streben gescheitert. Für James bezieht sich die ethische Forschung auf drei zu unterscheidende Dimensionen, die er m. E. (er selbst hätte dies sicherlich abgestritten) transzendental durchmisst: a) Die psychologische Erforschung des Ursprungs von Moralität setzt auf eine Analyse der vielfältigen, weit auseinanderreichenden Vermutungen, die oftmals eine

mutende Holismus und der Zug einer »inneren Mystik« direkte Auswirkungen auf die Moralphilosophie hat. Eine analoge Diagnose kann möglicherweise zum genetischen Verhältnis von formaler, transzendentaler Ethik und normativer Ethik erstellt werden: Lässt sich das Daseinsgefühl des transzendentalen Ego Kants als die Entsprechung der »Nachtigall« bei James (1954, S. 60, s. o.) interpretieren?

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erklärende Phylo- oder Ontogenese des Ist-Zustands konstruieren: Man beruft sich – je nach Konzept – auf göttliche Intervention oder auf Intuitionen oder auf die Evolution oder auf Reduktionen (auf körperliche Empfindungen und Hirnstrukturen) oder auf Haltungen und Gewohnheiten oder auf den moralischen Status von faktischen Konsequenzen einer Handlung etc. Doch es ist nach James gerade nicht diese Einseitigkeit der jeweiligen Forschung, sondern die Vielfalt der Impulse und die wirkliche Kraft der irreduziblen Ideale, die einen Akteur aus dem Stand heraus dazu in die Lage versetzt, eine Expertise über eine moralische Einschätzung abzugeben, nämlich eine konkrete moralische Entscheidung zu treffen. Die Interpretation der Jamesschen Moralphilosophie als vulgärer (!) Utilitarismus ist also mit Sicherheit nicht zutreffend (vgl. z. B. die Aufbereitung in Roth 1969, S. 7–10), denn James hebt vor allem das in die Zukunft reichende, spontane und kreative Moment der moralischen Ideale hervor. 314 b) Die metaphysische (hier: ontologische) Fragestellung zeigt nach James ohne Weiteres, dass aus einer materialen, rein gegenständlichen Welt keine Moral entstehen würde (alles ist, wie es ist). Erst durch das Hervortreten eines Bewusstseins wird die Bevorzugung von ausgewählten Vorstellungen (dies ist besser als das …) getätigt. Die Moral hat daher ihren Ursprung im »bedürftigen« Erleben dieses Bewusstseins (»sentient being«, vgl. James 1891, S. 335) und behält strukturell bis zuletzt ihren relationalen Charakter zum jeweiligen »Wünschenswerten« bei. Wäre die leitende Funktion der Moral jedoch durch eine höhere Macht oder durch ein inhaltliches oder natürliches Apriori vorgegeben, so würde sich das Kriterium der Moralität aufheben; ebenso wenn sie nur im spontanen Wertschätzen eines einzelnen Lebewesens gültig wäre. Wenn die Philosophen nun aber in ihren Gedankenexperimenten über die metaphysischen Ursprünge der Moral spekulieren, so übersehen sie laut James’ Interpretation, dass jeder Mensch bereits in eine vorgegebene Rangfolge von Werten und Normen hineingeboren wird, sozusagen das soziale Apriori der gesellschaftlichen Moral. Die Moral selbst ist jedoch in einer steten Bewegung und kann also vom Individuum beeinflusst sowie von Wissenschaftlern kontextuell untersucht und katalogisiert werden (dies bildet die Grundlage für c): die kasuistische (»casuistic«) Frage). 314 Vgl. zur genaueren Auseinandersetzung Gale (1999, S. 25 ff.) mit Bezügen zu Bentham, Mill, Thomas H. Green und der Frage nach quantitativen Anteilen und qualitativen Anteilen an James’ desire-satisfaction-Prinzip.

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Es verhält sich nach James mit dem Gegenstand der Moral aber genauso wie mit der Erforschung der Natur durch die Physik: Wissenschaftler verfertigen den Naturablauf nicht, sondern sie beschreiben ihn aus ihrer Sicht heraus. Die Suche nach einem gemeinsamen Kriterium für die vielfältigen egozentrischen Forderungen führt den Philosophen zur empirischen Systematisierung der Moralen. Die Ideale der Moral sind dabei empirisch real, ihre Erfahrungen regen Schlussfolgerungen an und bilden auch moralische Imperative, z. B. als Anleitungen, Kodizes usw. »They [sc. the words good, bad and obligation, W. M.] mean no absolutely natures, independent of personal support. They are objects of feeling and desire, which have no foothold or anchorage in Being, apart from the existence of actually living minds.« (ebd., S. 341) c) Ohne die Autorität einer höheren Macht muss die Frage nach der Macht der Moral in konkreten Entscheidungssituationen (»casuistic«) als Frage des menschlichen Bewusstseins gestellt werden. Der wahre Philosoph strebt nach unparteiischen Deliberationen, der echte Mensch aber zielt auf die Verwirklichung seiner persönlichen Überzeugungen und Ideale, als wären sie bereits das Gute oder die alle moralischen Phänomene verbindende Essenz der Moral. Nach James hat sich eben noch kein philosophischer Maßstab als wirkmächtige allgemeingültige Institution gegen die tatsächlichen Antriebe des Individuums durchsetzen können. A look at another peculiarity of the ethical universe, as we find it, will still farther show us the philosopher’s perplexities. As a purely theoretic problem, namely, the casuistic question would hardly ever come up at all. If the ethical philosopher were only asking after the best imaginable system of goods he would indeed have an easy task. […] But this world of ours is made on an entirely different pattern. (ebd., S. 343 f.)

Was ist aber James’ Argument anderes als ein transzendental-kritischer Beweis für die formale universale Grundlage der Moral? »Better chaos forever than an order based on any closet-philosopher’s rule, even though he were the most enlightened possible member of his tribe. No! if the philosopher is to keep his judicial position, he must never become one of the parties to the fray.« (ebd., S. 346) Und was kann also der Philosoph leisten, außer diese Grundlegung zu versuchen oder sich verzweifelt dem Skeptizismus hinzugeben? James selbst gestaltet m. E. mit diesem Schritt eine formale Grundlage der Moralität, ohne dass er sich weiter mit metaethischen Fragen befassen möchte; auch seine inhaltliche Auffassung des moralischen 240 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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Prinzips entspricht einer präferenzutilitaristischen Konzeption, wie sie oben in dieser Arbeit als transzendentalphilosophischer Grundsatz beschrieben werden konnte. Since every good which is demanded is eo ipso really good, must not the guiding principle for ethical philosophy (since all demands conjointly cannot be satisfied in this poor world) be simply to satisfy at all times as many demands as we can? The act must be the best act, accordingly, which makes for the best whole, in the sense of awakening the least sum of dissatisfactions. In the casuistic scale, therefore, those ideals must be written highest which prevail at the least cost, or by whose realization the least possible number of other ideals are destroyed. (ebd., S. 346)

Damit lässt sich ohne Probleme vereinbaren, dass die veranschlagten Konzepte selbstverständlich »viabel« nach ihrer moralischen Wirkkraft beurteilt werden: The anarchists, nihilists, and free-lovers; the socialists and single tax men; the free-traders and civil service reformers, the prohibitionists and antivivisectionists; the radical Darwinians with their idea of the suppression of the weak,- these and all the conservative sentiments of society arrayed against them, are simply deciding through actual experiment by what sort of conduct the maximum amount of good can be gained and kept in this world. These experiments are to be judged, not à priori, but by actually finding after the fact of their making, how much more outcry or how much appeasement comes about. What closet-solutions can possibly anticipate the result of trials made on such a scale? (ebd., S. 348)

Eine Vielfalt von konkreten Auffassungen und partikularen Idealen tritt hier in einen Wettstreit und erweist sich als mehr oder weniger tragfähig in den gemeinschaftlichen Projekten. Die Kongruenz von James’ Prinzip mit den oben bei Mill, Hare und Mead nachgewiesenen transzendentalphilosophischen Momenten des (Präferenz-)Utilitarismus ist m. E. offensichtlich: Beide Konzepte betten die Moralphilosophie ein in die tatsächlichen Stimmungen, Temperamente und Fähigkeiten der Mitglieder einer menschlichen Gemeinschaft, die gemeinsam danach streben, eine bessere Zukunft zu gestalten. Um herauszufinden, welche Instrumente dazu nützlich sind, muss auch der Philosoph auf die Verwirklichung von moralischen Tatsachen warten, die dann im partikularen Phänomenbereich mit seinen vorgestellten Werten und (»angelesenen«) Idealen abgeglichen werden können. Die Philosophen sind also aufgefordert, ihre abstrakten Gedanken etwa mit konkreten Romanen, Predigten etc. zu verbinden, da sie 241 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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sonst – als reine philosophischen Konstrukte – keinen Einfluss nehmen können. »For James the moral life is a stance toward existence that stresses openness, honesty, and critical reflection about facts and consequences in light of the fundamental values of freedom and unity.« (Roth 1969, S. 17) Es macht einen deutlichen Unterschied, in welcher Hinsicht die Grundlage der Moral und in welcher Hinsicht eine Einzelentscheidung beurteilt wird. Und dieser Unterschied ermöglicht es im Folgenden, die bis hierher ausgewerteten Methoden des Pragmatismus für die Übergänge zwischen den moralphilosophischen Argumentationsebenen (transzendentale Kritik, normative Ethik, Angewandte Ethik, Moral Sciences) zu nutzen und gleichzeitig die Irrelevanz der Metaethik für die praktische Philosophie weiterhin zu behaupten. 315 The philosopher then, quâ philosopher, is no better able to determine the best universe in the concrete emergency than other men. He sees, indeed, somewhat better than most men what the question always is – not a question of this good or that good simply taken, but of the two total universes with which these goods respectively belong. He knows that he must vote always for the richer universe, for the good which seems most organizable, most fit to enter into complex combinations, most apt to be a member of a more inclusive whole. But which particular universe this is, he cannot know for certain in advance, he only knows that if he makes a bad mistake the cries of the wounded will soon inform him of the fact. In all this the philosopher is just like the rest of us non-philosophers, so far as we are just and sympathetic instinctively, and so far as we are open to the voice of complaint. (ebd., S. 350)

Es existiert also in James’ Konzept kein absoluter Maßstab für das, was an Moralvorstellungen in einer Situation vorgehalten wird, sondern im sukzessiven Fortschreiten zu einem vorläufigen Ideal zeigt sich, wie die meisten Forderungen der meisten Menschen möglichst effizient verwirklicht werden können. Die Logik der Moral und das Erschließen von Zielen aus den Erfahrungen heraus führen zu Leitbildern und Maßstäben, vor deren Hintergrund alle folgenden Einzelentscheidungen moralisch bewertet werden können.

315 Wäre es nach dieser Lesart der im Pragmatismus entwickelten Methodologie vermessen, ein Missverständnis in James’ und Deweys Interpretation der Kantischen Apriorizität zu vermuten, das sie sogar dazu veranlasste, einen Weg »round Kant« statt »through him« vorzuschlagen? Könnte vielleicht eine Verwechslung von Kants kritischer Philosophie mit einer supernaturalistischen Position stattgefunden haben?

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Since the outcome of the discussion so far has been to show us that nothing can be good or right, except so far as some consciousness feels it to be good, or thinks it to be right, we perceive on the very threshold that the real superiority and authority which are postulated by the philosopher to reside in some of the opinions and the really inferior character which he supposes must belong to others, cannot be explained by any abstract moral »nature of things« existing antecedently to the concrete thinkers themselves with their ideals. Like the positive attributes good and bad, the comparative ones better and worse, must be realized to be real. (ebd., S. 337)

Nach meinem Verständnis ist diese Sicht weder in sich noch im Vergleich zu den übrigen Texten von James oder gar zu seinem Verständnis des Pragmatismus »inkohärent«. 316 Es braucht für James, wie oben gezeigt, schlichtweg keine weiteren eigenständigen Schriften zur Erforschung »der« Moral, wenn Moralität selbst aus der Bevorzugung von konkreten Sachverhalten heraus entsteht und durch deren Kontrolle konstituiert wird. 317 Wenn einmal festgehalten wurde, dass im Zentrum der Moral das unsagbare aktuell lebende Bewusstsein (»actually living mind«) steht, dann ist diese universale relationale Bindung von diesem Zeitpunkt an notwendig und allgemeingültig in jeder weiteren wissenschaftlichen Arbeit zu berücksichtigen und der Gegenstand »Moralität« selbst ist damit in der Theorie (physiologisch und psychologisch) erschöpfend behandelt. Diese Vorarbeiten zu einer pragmatistischen Ethik scheinen rückblickend mit Kant und dem Utilitarismus sowie vorgreifend auch mit Wittgenstein, den realistischen Quietisten und Korsgaards spezifischer Art des Konstruktivismus vereinbar zu sein. Für die Moralphilosophie lässt sich James’ Position also noch einmal auf den Punkt bringen: Seine Beantwortung der psychologischen Frage nach der Herkunft der Moralität ist gleichbedeutend mit dem Einsetzen einer »pragmatischen Maxime« in die Moralphilosophie. Das Individuum hat unter gewissen Umständen Lust und Schmerz erfahren und Assoziationen dieser Zustände mit den Umweltbedingungen hergestellt. Doch die eigentlich moralischen Vorstellungen sind die in die Zu316 Vgl. zu den Vorwürfen etwa Perrin (2011, S. 10 f.) und Talisse & Aikin (2011, S. 13). Auch Marchetti (2010, S. 132), der die Antworten auf James sammelt und kategorisiert, sieht die Argumente der Moralphilosophie bei James nicht als in sich durchgängig haltbar an. Wie Gale (1999, S. 26) dies jedoch vorschlägt, lässt sich gemeinsam mit Dewey darauf verweisen, dass anstelle einer isolierten ethischen Theorie bei James eine ethische Durchdringung aller Texte nachgewiesen werden kann. 317 Vgl. Gale (1999, S. 26 u. S. 35); vgl. Marchetti (2010, S. 147 FN 48).

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kunft reichenden Ideale, deren Vektoren sich die Umwelt im Zuge ihrer Verwirklichung beugen soll. Die metaphysische Frage wird entsprechend so beantwortet, dass eine moralische Verpflichtung nur dort auftritt, wo ein konkreter Anspruch eines verkörperten Subjekts vorliegt (abstrakte Werte an sich haben keinen Einfluss auf uns). Einen moralischen Wert haben weiterhin nur die Objekte des Fühlens und Handelns in Relation zum Bewusstsein eines denkenden menschlichen Wesens, das seine reflektierten Ansprüche an andere richtet, die sich wiederum mit diesen auseinanderzusetzen haben. Es gibt daher keine moralischen Werte in einer Welt ohne Lebewesen und es bliebe ein moralischer Solipsismus, wenn die Werte nur in der Relation zu diesem einen Bewusstsein bleiben würden. Sobald die Triangulation der Wertansprüche auftritt, wird die moralische Situation allerdings zunehmend komplex – verstärkt durch die Vielfalt der Bedingungen, unter denen diese Ansprüche auftreten. Auf der Suche nach einem unparteiischen Bewertungsmaßstab der vielen Herausforderungen unter diesen Bedingungen versagen die besten Vorschläge der Philosophie bisher; ein universales Prinzip könnte einfach bedeuten: Wesen des Guten ist es, einer Forderung Genüge zu tun (denn der Wert »gut« entspricht einer tatsächlich vorliegenden, ernstgemeinten Forderung). In der besten aller möglichen Welten würde sicherlich auch jede Forderung bedacht; in der jetzigen menschlichen Welt aber gibt es Konflikte zwischen diesen »Werten«. Teile der je eigenen Ideale müssen daher zugunsten eines Abkommens (Normen) zwischen zwei oder mehr konfligierenden Forderungen geopfert werden. Auch der nach einem abstrakten Maßstab der Moral suchende Philosoph wurde in eine Gesellschaft geboren, die bereits eine Fülle von gängigen Idealen einzelner Interessengemeinschaften vorgibt. Zum Glück kann kein Einzelner die Werte aller durch seine Philosophie bestimmen, denn auch der ideale Philosoph könnte keinen Maßstab außerhalb seiner selbst finden. Die prinzipielle Forderung für menschliche Wesen lautet also, so viele Forderungen zu verwirklichen, wie wir können. Damit befindet sich die Moralphilosophie als Wissenschaft in einer Ausgangslage wie die Physik hinsichtlich der Beschreibung der Natur: Sie muss mit vorläufigen Hypothesen arbeiten und ist sich stets bewusst, dass die Situation in den existierenden Gesellschaften für viele Menschen und ihre Ansprüche immer noch besser sein könnte (»Die Notlage ist immer gegeben.« (James 1946, S. 198)). Wer mit einer lebendigen Überzeugung (Energie) Vorschläge 244 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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vertritt, wie die Zustände verbessert werden könnten, ist gleichsam aufgefordert, diese unter dem Risiko des Scheiterns »auszuprobieren«. 318

3.3.4 Charles Sanders Peirce Anhand eines Überblicks über die Arbeitshypothesen von Charles Sanders Peirce, sozusagen am Boden des pragmatistischen Denkens, möchte ich nach der Aufarbeitung dieser Tiefenrelation bei William James einige Plausibilitätsgründe dafür anführen, dass tatsächlich eine gemeinsame Methodologie der pragmatistischen Entwürfe angenommen werden darf und dass Pihlström mit seiner Vermutung richtig liegt, diese Methodologie in direkter Nähe zur transzendentalen Kritik einzuordnen. Zwar hat Peirce kein »opus magnum« verfasst, in dem sämtliche Komponenten seiner Philosophie systematisch entwickelt werden, doch zeigt sich in den Konvoluten der »Collected Papers« (CP) und »The Essential Peirce« (EP) sowie im sog. Robin Catalogue (R), dass eine Reihe von konstanten Strukturmomenten das Werk des »Gründers« des Pragmatismus, respektive des Pragmatizismus durchzieht. Am Ende der hier ausgeführten Genealogie der pragmatistischen Ethik konzentriere ich mich daher auf Peirce’ Untersuchung einer angemessenen Architektonik der (philosophischen) Wissenschaften und auf die damit angeregte Systematisierung universaler Kategorien. Die Rückführung der oben markierten pragmatistischen Instrumente 319 auf die ursprünglichen konzeptuellen Komponenten im Peirceschen Oeuvre soll einerseits belegen, dass sich sämtliche Methodenkriterien des Pragmatismus durch diese Strukturmomente generieren lassen, und andererseits die Herkunft des Pragmatismus aus dem kritischen Denken Kants nahelegen. 320 318 Das Postulat Gottes am Ende von »The Moral Philosopher and the Moral Life« verstehe ich als logische Implikation: Nur dann, wenn Gott existiert (bzw. nur wenn der Philosoph davon überzeugt ist, dass Gott existiert), besteht auch die Möglichkeit einer stabilen moralischen Ordnung. Dies entspricht vollständig der relationalen Auffassung der Wertkonstitution. 319 Sc. des Emergentismus, der Reflexbögen, des moderaten Naturalismus und der phänomenologischen bzw. radikal-empirischen Psychologie mit ihren vielfältigen Gegenständen. 320 Die zentralen Momente der Peirceschen Arbeiten werden bei Fisch (1986, S. 4 f.)

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Es ist bereits deutlich geworden, dass der Pragmatismus zu Unrecht mit reduktionistischen naturalistischen Theorien assoziiert wird. 321 Und tatsächlich sind es die Errungenschaften aus der Arbeit des sog. Metaphysical Club, von denen vor allem eine dynamische Methode charakteristisch für das pragmatistische Philosophieren bleibt: Jede Entwicklung, die wir uns vorstellen können, enthält die von Alexander Bain entworfene Feedbackschleife »belief-doubt-belief« (vgl. CP 5.12). 322 Durch diese Rückkopplungen können fundamentalkomplexe Prozesse beschrieben werden, die bis dahin als linear kausale und logische Vorgänge verstanden wurden. Spätestens 1878 reflektiert Peirce in »How to Make Our Ideas Clear« (HTMOIC) systematisch auf diese Grundlage der Kriterien des Denkens, Handelns und Fühlens. Die Wirklichkeit enthält demzufolge Leitprinzipien, die über das augenblicklich Gegebene hinaus verweisen. Diese Dynamik des Universums, d. h. der in ihm selbst angelegte Wandel, findet einen sich selbst bestätigenden Ausdruck im Bewusstsein von Organismen, die ihren eigenen Zustand sowie ihren Platz im Gefüge der sie umgebenden Welt durch zweckmäßige Vorstellungen zeitlich vorgestellt. Es bleiben darüber hinaus bis in die heutige Pragmatismusdebatte hinein virulent: »doubt-belief«-Schleifen, »pragmatische Maxime« und Utilität, Triadik der Kategorien, Relationalität, Architektonik und damit die Ethik als Theorie der normativen Geltung. 321 Religiöser und wissenschaftlicher Einfluss auf die Entwicklung von Peirce scheinen – ähnlich wie bei James – bereits im Elternhaus gewirkt zu haben (vgl. Brent 1998, S. 36) und lassen sich auch in den frühen Entwürfen ohne Weiteres ausfindig machen (vgl. Deuser 1995, S. 26 und LXXIV f.). 322 Vgl. Jung (2009, S. 150 ff.) zur Organisation von (Sprech-)Handlungen mit Wissenskonzepten nach Dilthey und Dewey. Es ist diese grundlegende Dynamik, durch die der Wertbegriff auch später bei Dewey noch aus dem »Reflexbogen« heraus gedeutet werden kann: »Thus, ends-in-view should be regarded not as anticipations of future states but as flexible schemas for structuring ongoing processes. They guide choices between the accessible possibilities for action, and influence our perception of the space of possibilities. In this sense, means and ends are two sides of the same coin. […] Dewey’s sharp criticism of disembodied and decontextualized ends includes the use of all kinds of force in the fixation of ends, whether external or internal to the actor. The isolation and sanctification of ends as values in themselves is inappropriate for at least two reasons: in picking out one desired outcome and skipping the contingencies and unexpected consequences of action, it is unrealistic and justifies the actors neglecting everything except the idealized end. In addition, it encourages actors to take a merely instrumentalist stance toward their own corporeality and thus blinds them to the specific demands of situations which according to Dewey are understood and assessed in the first place as expressive meanings present in emotional, qualitative totalities.« (Jung 2010, S. 151).

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Genealogie des klassischen Pragmatismus

übersteigen und durch zielgerichtete, willentliche Handlungen wiederum auf diese natürliche und soziale Umwelt einwirken. 323 In jeden gegebenen Zustand des Universums ist folglich zugleich ein Feld von vorstellbaren Möglichkeiten eingelassen, von denen jede einzelne als mögliche zukünftige Wirklichkeit alle bisher dagewesenen Zustände des Universums neu verkörpern könnte. Diese abstrakte Vorstellung der Transformation des Universums entfaltet sich nach Peirce bezeichnenderweise ausschließlich in Organismen, deren Bewusstsein von konkreten Erfahrungen bestimmt wird und die diese Erfahrungen auch nachweislich »machen« und gedanklich verarbeiten sowie reflektieren können. Der Möglichkeitshorizont weiterer Erfahrungen generiert sich daher vollständig aus den vorhergehenden Erlebnissen, Wahrnehmungen und Hoffnungen dieses Lebewesens und invertiert die Genese des Universums zu einer Genese des singulären Bewusstseins. Es ist m. E. ganz entscheidend, für alle Phasen des Peirceschen Denkens darauf hinzuweisen, dass die Vorstellung der Dynamik eines ausgewählten lebendigen Individuums strukturell der Vorstellung der Dynamik des ganzen Universums entspricht. Auf diesem Weg lässt sich damit die synechistische Grundlage der pragmatistischen Methodologie für die Architektonik moralphilosophischer Phänomene entwickeln, nach der letztlich je für das konkrete bewusste Lebewesen alles mit allem in Verbindung steht. Für das Individuum ist die bewusste Teilhabe am Gesamtgefüge der Phänomene durch die Reflexion des eigenen Vorstellungsfeldes bestimmt: »Consider what effects, that might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception of these effects is the whole of our conception of the object.« (CP 5.402) Unter der Bezeichnung »pragmatische Maxime« wird in dieser Formel der gesamte phänomenale Lebenshorizont eines bewussten Wesens mit all seinen Bedeutungen und Relationen entworfen und auf einen Gegenstand hin gebündelt. Jede vorstellbare Konstellation dieses Phänomenbereichs zeichnet für die in ihr enthaltenen Entitäten sozusagen Vektoren von gewohnten und erwartbaren Transformationen vor. Entscheidet sich ein Lebewesen also im Alltag für eine bestimmte Handlung, so wird diese Wahl nicht aus dem Nichts heraus getroffen, sondern sie ist ein aus allen bewussten Parametern erschlossenes Leitprinzip mit nachhaltiger regulativer Wir323 Einige Gedanken aus dem Folgenden wurden erfolgreich angewandt in einem Aufsatz zur Erwachsenenbildung: vgl. Moskopp & Vetter (2014).

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kung. 324 Dieses dynamische Feld von Möglichkeiten ist weder völlig beliebig noch vollständig determiniert, es befindet sich in einer offenen Ausrichtung auf eine hypothetische Zweckmäßigkeit. 325 Dass daher Sachverhalte der Welt ihrem phänomenalen Wesen nach bereits mit einem normativen Anspruch aufgeladen sind, wird aus der Funktionsweise dieser Matrix ersichtlich: Jede aktuelle Vorstellung enthält alle vorhergehenden Vorstellungen und ist zusätzlich ausgestattet mit Überzeugungen vom weiteren Ablauf der »normalen« alltäglichen Lebenswelt. 326 Aus dieser Überzeugung entsteht eine Motivation, durch die eine konkrete Vernunft eine situative Verwirklichung 324 Es wird heute offen diskutiert, ob Peirce diese Projektionen in den 70er Jahren nominalistisch-fiktional betrachtete oder bereits damals eine universalienrealistische Deutung vertrat; ob diese beiden Sichtweisen überhaupt Gegensätze formulieren oder vielmehr Entwicklungsschritte, muss vielleicht vor dem Hintergrund der »pragmatischen Maxime« insgesamt für den Pragmatismus kritisch aufgearbeitet werden. Vgl. Pihlström (2007, S. 21): »One further observation worth emphasizing is that even when we are defending pragmatic realism in general metaphysics, our pragmatist metaphysics of the self (our philosophical anthropology) and of culture must be based on (once again naturalized) version of transcendental idealism, reinterpreted as transcendental pragmatism. All ontological or metaphysical postulations and commitments depend on human purposive practices.« Vgl. dazu auch ebd., FN 36 zum metaphysischen Hintergrund der »real generals« bei Peirce. 325 Die »Transformation« wird hier im Sinne Apels (1975) als eine Art »sich entwickelnder Umstellung« verstanden. Hier (vgl. ebd., S. 138) zeigt Apel auch, dass die Maxime bereits im Sinne einer normativen Wissenschaftlichkeit gelesen werden darf. Trotzdem grenze ich im Weiteren alle konsens-basierten Varianten der Interpretation aus. 326 Die Universalität der »pragmatischen Maxime« wird dadurch bestärkt, dass Peirce sie als eine Regel der Logik einführt (vgl. Forster 2003, S. 526 u. S. 531). Vgl. dazu auch Hookway (2004, S. 25 u. S. 31), der durchgängige Grundannahmen Peirce’ in Realismus, Wahrheitsbildung usw. vertritt, auch wenn die späteren Formulierungen der Maxime manchmal abweichen von HTMOIC (CP 5.18, EP1 134 f.; CP 5.438, EP2 346). Rosa Mayorga in »The Hair« (2004) geht von drei Änderungen (»shifts«) in Peirce’ Universalienpositionierung aus, und sie wurde zu einer Forschungsfrage angeregt u. a. von Max Fisch. Die »konstruktivistische« Interpretation der »Maxime«, die ich vertrete, greift auf diesen Pragmatizismus als eine holistische Vertiefung des »doubt-belief«-Schemas zurück (vgl. Apel 1975, S. 203: Phänomenologie als prima philosophia). Vgl. aber auch Liszka (2012, S. 51–54) zur Suche nach der grundlegenden Ebene bzw. der »Grammatik« der Ethik (vgl. ebd., S. 65), die ganz in den Bahnen der »doubt-belief«-Schematik abläuft (vgl. ebd., S. 54) und für die Reflexion intentionaler Handlungs-/Kausalitätsketten impliziert (vgl. CP 7.371). Im Kern der Kontrolle steht dabei die Rationalität, evtl. besser: die Vernunft. Referenzstellen, die hierzu herangezogen werden (vgl. ebd., S. 56): CP 5.3, 5.538, 8.191, 1.604, 8.322, 1.594– 600. Liszka stellt nun u. a. eine Verbindung zwischen »purposive and moral behavior« her (vgl. Liszka 2012, S. 60 f.).

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von Handlungsoptionen daraufhin kontrolliert, wie sie der Erwartung nach sein sollen. Jeder Organismus verkörpert in dieser Komplexität von Relationen ein Spannungsgefälle zwischen einem idealen harmonischen Ruhezustand und den ständig störenden Veränderungsimpulsen der Welt. Die durch die Störungen hervorgerufene Unruhe treibt den Organismus an, mittels Einwirkungen auf die Umwelt wieder in die Ruhelage zu gelangen. Die Strategien, die dieses ideale Telos verwirklichen sollen, werden dabei immer umfangreicher und führen sowohl zur Entfaltung individueller Fähigkeiten als auch zur Kultivierung sozialer Interaktionen. Angewandt auf eine sich ständig verändernde (Um-)Welt bilden die Gewohnheiten der Wahrnehmung, des Erlebens und des Denkens hypothetische Ordnungsschemata, die sich in ihrer Anwendung auf eine unordentliche Umgebung immer wieder aufs Neue als »gut« oder »nicht gut« bestätigen müssen. Diese Bestätigung ist ihrerseits je der neue Ausgangspunkt für die folgenden Bewertungen: Gut sind unsere Handlungen und Denkweisen dann, wenn sie »wahre« Schlussfolgerungen produzieren; nicht gut sind sie dann, wenn sie falsche Schlussfolgerungen hervorbringen. Wahr ist eine Schlussfolgerung, wenn sie sich in Hinsicht auf die mit ihr verbundenen Erwartungen bewährt. 327 In jedem neuen Status quo eines Organismus bündelt das qualitative Erlebensmoment »hic et nunc« das gesamte Gefüge der Weltrelationen. Trotzdem existiert dieses Moment niemals als der diskrete Zustand, als der es anschließend vom Individuum reflektiert wird, denn durch die intentionale Ausrichtung der »pragmatischen Maxime« lässt sich reziprok das Gesamtgefüge der Relationen (zeitlich ausgedrückt) in den neuen aktuellen Zustand des reflektierenden Bewusstseins einund umkehren. 328 Vgl. Poggiani (2012). Die Reflexion eines Zustands ist bereits die Weiterentwicklung des Zustands. Das Universum ist also genau genommen selbst ein »Argument« (vgl. CP 5.107) und dies ist der ausschlaggebende Punkt für die Vorliebe zum Lamarck’schen Evolutionsmodell in Verbindung zur »(Nächsten-)Liebe«, die Peirce spätestens ab den Monist-Artikeln (1890–1893) erkennen lässt. Versucht man, die menschliche Gewohnheitsbildung ohne Regulativ (Ideal) vorzustellen, so befällt einen leicht die Sorge des Serenus (vgl. Seneca »Über die Ausgeglichenheit der Seele« (1986, S. 5 u. S. 13)) im Verhältnis zu dem, was die Tendenz der Bildung gut oder schlecht werden lässt (vgl. zur »Übung«: Peirce in Ketner (2002, S. 404)). Ein Gedanke kann in kontinuierlicher, logischer Vermittlung von Intension und Extension der Begriffe und Gegenstände gedacht werden, ohne dass ein Psychologismus oder eine vor-Kantische Metaphysik bemüht werden 327 328

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Als Überzeugung, d. h. sozusagen als vorläufiges Zwischenergebnis des »Fürwahrhaltens« in einem solchen Erlebensmoment, gilt eine bewusste und zufriedenstellende Gewohnheit, die nicht bloß die Weltveränderung allein, sondern zugleich die Intentionalität der Weltveränderung in Ruhe versetzt. Gewohnheiten sind damit ein steter formaler Bestandteil des aktuellen Fühlens, Handelns und Vorstellens. Es wäre m. E. daher nicht übertrieben, dieser philosophischen Untersuchung logischer und praxeologischer Leitprinzipien schon hier eine transzendentale Komponente zu attestieren. In den Ausführungen der »Minute Logic« (1902) legt nach Peirce das bewusste Nachdenken über nicht-bewusste Tatsachen – z. B. Hypothesen über noch nicht entdeckte Planeten am Rande des Universums – den Schluss nahe, dass alle möglichen Tatsachen als Relationen der Welt durch das Bewusstsein miteinander zusammenhängen. Da das Bewusstsein selbst aber aus diesem Weltzusammenhang emergiert, ist es unmöglich – und daher auch irrelevant für dieses Bewusstsein –, den Gesamtzustand der Welt jemals vorstellen zu können. Es bleibt jedoch der limitierende Hinweis möglich, »meine« Apperzeption 329 als bewussten, stark eingeschränkten Ausschnitt aller Einflüsse auf »meinen« Organismus, wie er in das Universum eingefasst ist, zu erschließen. Für den Gesamtzustand des Universums lässt sich weiter schlussfolgern, dass in diesem Universum kein Vakuum existiert, und alles, was im Zuge der Transformation des Ganzen entsteht, aus dem Wandel eines zuvor Bestehenden hervorgeht. Der Zusammenhang alles Bestehenden spiegelt sich dann ebenfalls auf der Ebene der Individuen wider, die aus eigenem Antrieb ihrer Willenskraft (Motivation) heraus in die Relationen der Sachverhalte eingreifen können, sobald die bisherige bewährte Gewohnheit der Verhaltensweisen berechtigterweise in (lebendigen) Zweifel gezogen und somit reflektiert wird. 330 Durch alle Veränderungen der Welt hindurch macht uns das müssten. Peirce übernimmt demnach in MS 595 eine Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten Tatsachen oder Schlüssen, wie Leibniz sie in der Monadologie entwirft. 329 Hier wird Apperzeption also ganz im Sinne der Leibnizschen Definition in der Monadologie gebraucht: »Qui est l’état intérieur de la Monade représentant les choses externes« (GP VI: 600). 330 Manche Zweifel entstehen auch aus einer völlig unphilosophischen Unentschlossenheit heraus, manch einer sogar aus Langeweile. Sinneseindrücke sind dabei nach Peirce als Vorstellungen unmittelbar, Überzeugungen regeln das Handeln und das Denken als gewohnte Ruhezustände. Sowohl »Vorstellungen« – wenn wir den weiten Begriff Karl Leonhard Reinholds veranschlagen – als auch die daraus folgenden Ein-

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Denken folglich auch konstante Orientierungsstrukturen bewusst. Peirce stuft diese Kontinuität 331 entsprechend als Abstraktionsleistungen ein und wendet sie ex post auch auf die Architektonik der Philosophie an. Die gültigen Leitprinzipien des Verhaltens und Denkens lassen sich in einem wissenschaftlichen Rahmen dann selbstverständlich formalisieren (Mathematik), systematisieren (Logik) und in einem Kompendium der Logik (Metaphysik) katalogisieren. Gegen den sog. methodischen Zweifel René Descartes’ sowie gegen jede Form von dogmatischer Philosophie setzt Peirce damit für die Philosophie auf einen lebendigen, ganzheitlichen Zweifel, ohne den gar keine Abweichung von dem bisher Gewohnten stattfinden würde. 332 In dieser Systematik stellen die Disziplinen der Philosophie folglich ebenfalls Analysen von einzelnen Phänomenen dar, die in der alltäglichen Welterfahrung eigentlich nicht vereinzelt oder getrennt auftreten. Um diese anhand der »pragmatischen Maxime« durchgeführte Synopsis mit einem moralischen Einschlag gezielt auf ausgewählte Textstellen zurückzuführen, zeichne ich zunächst noch einmal detailliert die »doubt-belief-inquiry« in »Fixation of Belief« (FoB) und HTMOIC nach und übertrage diesen Mechanismus auf die Vorlesungreihe »What Pragmatism is« sowie auf einige relevante Aufsätze aus dem Spätwerk. Mit diesem »par force«-Vergleich möchte ich schließ-

satzbereitschaften, Haltungen etc. sind damit universale Leitprinzipien, die aber als vollständig verkörperte Gewohnheiten und als bekannte Möglichkeitsräume verstanden werden müssen. Relational ist sozusagen die Zweiwertigkeit der Vorstellungen, zu denen ich Sprache, Wirklichkeit und Denken zähle. 331 Vgl. Ketner (2002, S. 398): »Das Kontinuum am Beispiel des Blattes und einem Zugeständnis an Hegel […].« 332 Genau genommen ist natürlich auch der methodische Zweifel ein lebendiger Antrieb für einen Wissenschaftler, wobei aber das eigentliche Motiv (bspw. Langeweile, Ehrsucht o. ä.) verdeckt bleibt. Wie bei Dewey und James muss daher auch hier der Wahrheitsbegriff genauer betrachtet werden: An etwas künstlich zu zweifeln (wie in Descartes’ Methode), ohne dass dabei eine Änderung an den Überzeugungen resultiert, gleicht dem bloßen Zerreden eines Sachverhalts (trotz einer offensichtlichen festen Überzeugung in diesen Fragen). Eine solche »Spielerei« ist in wissenschaftlicher Hinsicht nicht seriös und auch in philosophischer Hinsicht nicht ergiebig, da von vornherein feststeht, wie das Ergebnis aussehen wird. In praktischer Hinsicht befriedigt meine Überzeugung ja bereits meine Wünsche. Der fehlende Schritt in der Logik bei Descartes besteht daher ganz einfach darin, dass er bei der Evidenz des Cogito keine Unterscheidung zwischen klaren und klar erscheinenden Urteilen gemacht hat bzw. machen konnte, die für die Erste-Person-Perspektive dieselbe Reichweite einnehmen.

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lich meine Genealogie der pragmatistischen Ethik an einige Hyothesen der Forschungsliteratur in Bezug auf Peirce’ Ethik anbinden. Der Betrag der Differenz zwischen einem lebendigen Zweifel (Unruhe) und einer angestrebten vorläufigen Überzeugung (Ruhe) bestimmt die situative Stärke des Strebens in einem Organismus. Solche Äquilibrationsprozesse erstrecken sich auch über die Entwicklung sämtlicher Vermögen in menschlichen Individuen. In ungewohnten Situationen werden die bisherigen Überzeugungen gestört. Da man den Zweifel an deren Überzeugungskraft als unangenehm empfindet, »sollen« die gewohnten Gedanken, Motivationen und Emotionen wieder in Übereinstimmung mit dem Horizont der übrigen Überzeugungen gebracht werden. Ein Zweifel wirkt also positiv ausgedrückt als Motivation zu einer Veränderung des momentanen Zustands und setzt eine abwägende Auseinandersetzung mit den wirklichen und möglichen Relationen von Organismus, Welt und deren »Repräsentationen« in Gang. Welche Option letztlich den Vorzug erhält, wird in einer Untersuchung (»inquiry«) entschieden, die zur Festlegung einer vorläufigen Meinung führt; die Ethik im Sinne eines allgemeinen normativen Geltungsanspruchs geht daher der Logik, der Metaphysik und den Wissenschaften immer schon voraus. Eine wahre Meinung gleicht zwar im Erleben einem unumstößlichen Beweis, aber ihre Erklärungskraft – und damit eben ihr Geltungsanspruch – bezieht sich ausschließlich auf ein klar definiertes raumzeitliches Gefüge an Bedingungen und gilt gewissermaßen nur bis auf Widerruf: Jedes gute Gefühl und jedes wahre Urteil über die Welt kann schließlich jederzeit auch wieder Gegenstand eines neuen Zweifels werden, sobald sie nicht mehr »funktionieren«. Erneut gilt: Im Pragmatismus gibt es daher keine absolute Wahrheit, obwohl die Konstellation sämtlicher Überzeugungen eines Lebewesens in jedem Augenblick einen vorläufig »letzten« Wahrheitshorizont für den Organismus selbst konstituiert. 333 Der gesamte Werdegang des Lebens lässt sich daher als Wandel von auseinander hervorgehenden Überzeugungen darstellen, die sich je in angemessenen (für richtig er333 Peirce geht sogar soweit, dass die Überführung von Vorstellungen in eine Handlung und die anschließenden Erfahrungen der Handlung und ihrer Folgen selbst wieder Motor des Prozesses sind: Die Differenz der subjektiven Vorstellungen mit der objektiven Erfahrung der Handlung führt zur Fortsetzung des »doubt-belief«Schemas, quasi als (autopoietische) Evolution des Individuums. Deshalb kommen hier wandelbare Leitprinzipien als theoretische Gewohnheiten auch für moralische und wissenschaftliche Dimensionen ins Spiel.

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achteten) Haltungen, Verhaltens- und Handlungsweisen manifestieren. Diese etablierten Gewohnheiten sind auf der jeweiligen Ebene so lange zielführend und ergo normativ und »praktisch«, wie sie den je erwarteten Effekt in der vorliegenden Umwelt erzielen. Tritt ein Problem auf, kann erst a posteriori, nach einem (Miss-)Erfolg, der Versuch einer Problemlösung als »gangbar« (viabel) bezeichnet werden. Wäre bereits im Vorfeld erkennbar, wie das Problem sicher zu lösen ist, so gäbe es gar kein Problem. Vergleicht das Individuum darüber hinaus seine Gewohnheiten mit den Gewohnheiten anderer Individuen und bringt diese Erfahrungen wiederum in die Gemeinschaft der Individuen ein, dann wird derselbe Prozess auch im Rahmen einer sozialen Entwicklung fortgesetzt. Sollte Peirce mit dieser Beschreibung richtig liegen, so wären einige andere Methoden für die Genese sozialer Wahrheitskonzepte kontraproduktiv (vgl. FoB, CP 5.358–387): Der Glaube an Setzungen einer Autorität (Gott, Souverän, Experte …) kann zwar für manche Gesellschaften eine leitende Funktion übernehmen, lässt sich aber nicht auf Dauer, als starres doktrinäres System, aufrechterhalten. Das willkürliche Beharren auf traditionellen Meinungen ist nämlich in Anbetracht einer sich in einem steten Wandel befindlichen Welt strukturell praxisuntauglich. Zugleich fällt dieser Argumentation die Apriorizität zum Opfer, denn es gäbe keinen Zweifel in einer Welt, in der angeborene oder intuitive Wahrheiten ab ovo zugänglich wären. Außerdem haben diese »Wahrheiten« die Eigenschaft, nicht von jedem Menschen überprüfbar zu sein und damit Beliebigkeitscharakter anzunehmen. Allein die Wissenschaft als Methode der Erkenntnisbildung führt nach Peirce zu vorläufigen Wahrheitsannahmen, die einen zugleich regulativen und falliblen Charakter aufweisen und an denen alle Menschen aufgrund ihres »Vermögens« der Gewohnheitsbildung und Schlussfolgerung partizipieren können. Fallibilismus, Abduktion 334 und Viabilität bilden in diesem System die notwendige 334 Die Funktionsweise des soeben durchgeführten schematischen Denkens kann hier bereits in seiner materialen Beliebigkeit bewusst gemacht werden als Abduktionsvorgang: Dies ist xy (token), xy ist Z (type). Z ist eine bestimmte von allen möglichen Vorstellungen des Subjekts, die im Bedarfsfall getestet wird. Dies ist Wein, Wein ist trinkbar, ich trinke den Wein. Führt uns die Handlung zur Ruhe, verstärkt sie das Leitprinzip durch die Perzeption der Befriedigung eines Wunsches. Die gewohnte Überzeugung »Wein ist trinkbar« bleibt unangetastet und die Annahme »dies ist Wein« wird als aktuelle Perzeption rekursiv verstärkt. Erfolgt allerdings aus dem Bedürfnis eine Verstärkung für den Zustand der Unruhe, weil ein Zweifel mit diesen

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Grundlage für eine wissenschaftliche Programmatik. 335 Einzelne Menschen leben und forschen ausschließlich mit Hypothesen, die keine absolute Sicherheit garantieren können. Auf lange Sicht betrachtet, läuft der Forschungsprozess einer »community of inquirers« jedoch gegen den Limes einer adäquaten wissenschaftlichen Beschreibung der Realität, die damit als theoretisches Postulat der Wahrheit auftritt. 336 Diese regulative Forderung gilt auch vor dem Hintergrund, dass das o. g. Prinzip der Viabilität in sozialen Entwicklungen ebenfalls Tragfähigkeit besitzt. Dementsprechend darf auch in wissenschaftlichen Forschungen erst von einem erreichten oder verfehlten Etappenziel aus, d. h. in der nachträglichen Reflexion auf die eingangs erstellten vorläufigen Hypothesen, eine Auswahl an Richtlinien für den weiteren Forschungsprozess ausgewertet werden. Es gibt damit also zwei Theorie-Praxis-Feedbackschleifen in Peirce’ Argumentationsaufbau: erstens das logische Denken als eine optimistische Anlage, die Vertrauen in die falliblen »Prinzipien« anstelle der absoluten Wahrheit setzt, und zweitens die Festlegung von Überzeugungen als Methode der Bildung von »Episteme« in Forschungsgemeinschaften. Die praktische Dimension ist damit von den Popular Science Monthly-Aufsätzen der Jahre 1877 und 1878 an bis in die späte »metaphysische« Phase der Peirceschen Texte nicht von der Hand zu weisen: Überzeugungen haben die Eigenschaft, Unruhe bewusst zu beruhigen und die Regeln des Handelns gewohnheitsbildend zu steuern. Unterschiedliche Überzeugungen werden nach Peirce unterschieden durch die unterschiedlichen Handlungsweisen, die Annahmen verbunden bleibt (irgendetwas ist anders, es stimmt etwas nicht …), so wird der Zweifel das Denken als Problemlöseprozess initiieren, um den Zustand der Überzeugung wiederherzustellen. Jeder befindet sich stets in einem vollständigen Rahmen seiner bestmöglichen Annahme- und Handlungsweisen. 335 So verstanden liegt ein Fallibilismus selbstverständlich in jeder Variante des kritischen Denkens vor; vgl. dazu ausführlich Gava (2014) und Gava (2015). 336 Realität gilt nach FoB als die von allen Menschen akzeptierte Hypothese einer gemeinsamen Bezugswelt unserer bloß subjektiven Vorstellungen, freilich mit Annäherungstendenz in Hinsicht auf die Wahrheit der Gegenstände in der gemeinsamen Forschung und in melioristischer Hinsicht bzgl. des Miteinanders der Zeichennutzung, Hypothesenbildung und Handlungsdimension. Kurz: Realität ist das, was sich nicht ändert, egal, was wir uns darüber vorstellen. Wir erkennen also sämtliche Aspekte der frühen Kategorien bei Peirce als Verdichtungen von Gewohnheiten wieder: im Sein, in der Wahrnehmung, in der Vorstellung, im Denken und in den Gegenständen des Denkens, die aus den eben genannten Kategorien stammen müssen. Vgl. Topa (2007, S. 117, S. 120 f. u. S. 131) zu den frühesten Kategorien (Ich Du Es) in Anlehnung u. a. an Friedrich Schiller.

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sie hervorbringen. Das Handeln bringt also Überzeugungen in konkreten Ereignissen zum Erscheinen. Durch die Diskrepanz zwischen vorläufiger Vorstellung und nachträglicher Reflexion der Weltzustände ist selbstredend bereits das Potential für neue Unzufriedenheiten vorprogrammiert. 337 Seit HTMOIC entlarvt Peirce systematisch aber auch die Spielarten der metaphysischen Dialektik (auch hier als »Logik des Scheins«), die einige abstrakte Diskurse der Philosophie bestimmen, obwohl sie gerade keinen praktischen Unterschied im alltäglichen Verhalten der Philosophen machen. Der Schein von Überzeugungen kann nach Peirce auf verschiedene Weise hervorgerufen werden: Es findet statt a) eine Täuschung durch eine imaginäre Variation der Überzeugung (Einbildungskraft, Phantasie), b) eine Täuschung durch abweichenden Wortgebrauch, der eigentlich dasselbe sagen will wie eine bereits bestehende Annahme, oder c) eine Täuschung der Sinneseindrücke als Folge der Unklarheit des Denkens, also eine Verwechslung der Eigenschaft des Objekts mit einer bloßen Vorstellung. Und dabei muss zugegeben werden, dass auch Irrtümer und Täuschungen in realen Handlungen einen Unterschied machen können, solange sie noch nicht als Täuschungen erkannt wurden. Die Lösung eines den Akteur umtreibenden Problems besteht nun aber darin, die Denkfunktionen auf gewohnheitsbildende Handlungsmuster auszurichten, und alles, was nicht Teil einer solchen Zwecksetzung ist, zeigt sich auch nicht (absichtlich) in der Welt. 338 Eine Täuschung macht also vor allem dann einen (negativen) Unterschied in der Praxis, wenn der Akteur durch das eigene starre Fürwahrhalten von der eigentlich erforderlichen Anpassung an neue Umstände der (sozialen) Umwelt abgehalten wird. Schon deshalb reicht für Peirce die kognitive Seite einer »Evidenz« (Klarheit) nicht aus, um eine gelingende wissenschaftliche Praxis zu etablieren, weil sie nicht an sich differenziere zwischen dem »meinenden« Fürwahrhalten, das einer Person selbst klar und deutlich (eindeutig definiert) erscheint, und der Überzeugung, die mit der empirischen Realität übereinstimmt. 339 Die Vgl. ebd., S. 65. Die Bedeutung eines Gegenstands bildet sich durch die Gewohnheiten (Erwartungen) in der Vorstellung des Gegenstands. Die sich bildende »Identität« einer Gewohnheit wiederum erzeugt Handlungsmotivationen. Handlungen sind also genau wie Gewohnheiten auch »Überzeugungen« (vgl. ebd., S. 67). 339 Vgl. Liszka (2012 S. 65). Der normative Schluss als Basis für Normativität macht nach Liszka aus Peirce einen ethischen Realisten (vgl. ebd., S. 66), da die entsprechen337 338

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Wahrheit leite als reale regulative Idee den wissenschaftlichen Fortschritt durch eine gemeinsame Ausrichtung der (hinreichend informierten) subjektiven Vorstellungen und durch die derart ermöglichten reziproken Interaktionen zwischen den Forschern. Sie steht bei Peirce sozusagen idealiter in einer konstanten Relation zu wahren Überzeugungen, deren Realität sich irgendwann als viabel erwiesen haben wird. In den Vorlesungen »What Pragmatism is« von 1905 entwickelt Peirce eine Erweiterung dieser in HTMOIC noch stark »psychologisch« ausgerichteten Überzeugungsbildung und dem damit implizierten Wahrheitsbegriff. Er kann nun die Logik explizit als normatives Instrumentarium (Leitprinzipien des Denkens) kennzeichnen und damit näher auf das (intersubjektive) Fürwahrhalten in Urteilen und Behauptungen eingehen: Das performative Idiom »Ich wette, dass …« wird von Peirce zur Veranschaulichung einer für sicher gehaltenen Privatmeinung eingesetzt, während die stärkere Suggestivkraft des Ausrufs »Darauf kannst Du wetten!« die Behauptung impliziert, dass die eigene Überzeugung a) auch die Situation des anderen abbilde und/oder b) den anderen zu überzeugen in der Lage sei (vgl. CP 5.31). In der ganzheitlichen Überzeugtheit des Individuums (Gefühle, Vorstellungen, Gedanken) liege folglich die Motivation des Handelns begründet und das gesamte Spektrum vorstellbarer praktischer Folgen dieser Handlung sei bereits in deren bedeutungstragende und wertvolle Elemente integriert (vgl. ebd.). Für die Hierarchie der wissenschaftlichen Disziplinen folgt daraus, dass die Instrumente der Logik hinter einer naiven Ethik von Wertschätzungen und Forderungen zurückstehen. In jener werde schließlich ein Geltungsanspruch (Sollen, Richtigkeit, Stichhaltigkeit …) vorausgesetzt, nämlich wie man denken solle bzw. zu denken habe (vgl. CP 5.35 f.). Welchen (ethischen) Grundsatz man aber auch immer aus diesen Daten der Verbindlichkeit abduziert, das Grundprinzip dieser Wahl ist nach Peirce seinerseits von der Ästhetik abhängig:

den Schlüsse wahrheitsfähig sein sollen. In CP 1.251 zeigt sich die Wirkung der theoretischen Ethik auf die Lebensführung; m. E. spricht jedoch die Unterscheidung von Theorie und Praxis bei Peirce gegen diese Annahme. Daran anschließend kann de Waal (2012) die Methodik von Peirce zwar auf moralische Probleme übertragen, er beharrt jedoch auf dem Erfahrungsanteil der Moralität.

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Genealogie des klassischen Pragmatismus

Kurz, Ethik muß auf einer Lehre beruhen, die, ohne überhaupt zu betrachten, was mein Verhalten sein soll, ideal mögliche Zustände von Dingen in zwei Klassen teilt, in jene, die bewundernswert wären, und jene, die nicht bewundernswert wären, und die Aufgabe übernimmt, genau zu definieren, was das Bewundernswerte eines Ideals konstituiert. (CP 5.36, hier zit. n. Peirce 1991, S. 18) 340

Die von Peirce vorgehaltene Architektonik »Ästhetik-Ethik-Logik« 341 setzt auf diese Weise eine erste positive Wissenschaft der Phänomenologie (which »treats of the universal Qualities of Phenomena,« EP 2.197, CP 5.121) voraus, 342 die in der Sphäre der Philosophie mit einem Katalog an Kategorien (universale und partikulare/prozessuale) ausgestattet werden kann. Diese »Phaneroskopie«, als erste der »drei normativen Wissenschaften« (vgl. CP 5.120), bestätige die konkrete Allgemeinheit in der Beschreibung der Unmittelbarkeit qualitativer Phänomene: 343 Das Phaneron bezeichne nämlich »den gesam340 Vgl. Peirce in Ketner (2002, S. 152): Der gegenwärtige Zustand der Philosophie wird als infantil beschrieben, deshalb ist die praktische Anwendung ihrer Theorien auf die Religion und Lebensführung gefährlich. 341 Auch die universale Triadik der Kategorien findet sich nach Peirce in diesen wissenschaftlichen Dimensionen wieder, wenn man drei grundlegende, zu kultivierende Fähigkeiten der Wissenschaftler betrachtet: die des Künstlers für die ausgefeilte und feinsinnige Beschreibung der Qualia (Universalität); die der »Bulldogge« für ein »entschlossenes Unterscheidungsvermögen« (Peirce 1991, S. 23) (Relationalität) und die des Mathematikers (Generalisierung/Abstraktion) (vgl. CP 5.42). Die irreduzible Triadik setzt damit auf 1) Gegenwärtigkeit (Unmittelbarkeit), 2) Kampf und Reaktion 3) Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit (Gesetz). Susan Haack (2014, S. 79 FN 19) weist darauf hin, dass Peirce »general statt universal« verwendet, um Verallgemeinerungen zu beschreiben. Ich füge hinzu, dass er aber Universalität zur Kennzeichnung der Einheit des Ego nutzt (vgl. Peirce in Ketner 2002, S. 214). 342 Vgl. Margolis (1998, S. 229): Phänomenologie bildet die Grundlage aller Pragmatisten. Trotzdem lassen sich zwei unterschiedliche Schlüsse auf die Rolle der Wissenschaft ziehen: Auf der einen Seite wird ein Realismus in die Interpretationen eingebracht und auf der anderen Seite eine Ablehnung des transzendentalen Apriori. Margolis erwähnt aber auch Fischs Argument für den Idealismus Peirce’ (vgl. ebd., S. 231). Es besteht für Margolis kein Zweifel daran, dass Peirce einen quasi-mathematischen Formalismus bevorzugt (vgl. dazu CP 5.311). Die Stellung der Ästhetik in Peirce’ Architektonik wird hier bereits mit Verweis auf CP 2.201 vorgenommen (gegen Ernys späte Architektonik). 343 Diese Definiton des Phanerons kann etwa bei Klawitter (1984, S. 124) eingesehen werden. Vgl. außerdem Fisch (1986, S. 143 u. S. 171) mit dem Verweis auf zwei mögliche Zugänge zur transzendentalen Methode bei Peirce in EP 2:363–4. Auch Illies (2003) kennt – in Anlehnung an Walker et al. (vgl. ebd., S. 32 FN 1) – eine solche Differenzierung eines »explorational type« und eines »retorsive type« transzendentaler Argumente.

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ten Inhalt jeglichen Bewußtseins (denn ein jedes ist wesentlich wie jedes andere) […], die Summe all dessen, was wir auf irgendeine beliebige Art im Geist haben, unabhängig von dessen Erkenntniswert (cognitive value)« (Peirce 2000, Bd. 2, S. 291, MS 282A, 1905). Im Zusammenhang von spezifischen Zweckvorstellungen und den zu ihrer Verwirklichung erforderlichen Mitteln bringt die Phaneroskopie nach Peirce die realen Relationen des Weltgeschehens auf gesetzesartige Formulierungen, die den Forschern eine reflektierte (metaphysische) Erforschung der aktuellen Tendenzen von Welt- und Wertewandel ermöglichen. Die empirisch angeregten Leitprinzipien wirken in Peirce’ Aufsätzen ihrerseits auf die Relationen zurück und bilden auf diese Weise die Klaviatur, auf der die Qualia des jeweiligen Wissenschaftlers spielen. Von dieser phänomenalistischen Wissenschaft aus kann Peirce nun die Rolle der Ethik für die empirische Erforschung von Willensanstrengungen und letztlich für die Logik der Wahrheitsdarstellungen bestimmen. Ethik ist in diesem Sinne selbst mit dem Phänomen der Verbindlichkeit gleichzusetzen und in die Relationen der kategorialen Triadik einzubinden. So geht Verbindlichkeit nämlich aus den qualitativen Zuständen des Individuums hervor 344 und konstituiert eine in das Erleben eingebettete Selbstkontrolle oder »Konkrete Vernünftigkeit« (Erny 2005). 345 Ab wann die Entwicklung der Konzepte »Ethik« 346, »Normativität« 347 oder »Handlungstheorie« explizit von Peirce verVgl. Pape (2004, S. 59): Logik baut auf Normativität auf. Peirce geht allerdings davon aus, dass Kants Kategorien »nicht alle gleichzeitig gegenwärtig sind« und geht in diesem Punkt über Kant hinaus (vgl. CP 5.43, hier: Peirce 1991, S. 24). Probleme in der Einordnung von Verbindlichkeitsphänomenen gibt es bei Peirce in Bezug auf die Unterscheidung von Moral und Ethik (vgl. ebd. mit Hinweis auf CP 1.50, 1896). Vgl. Liszka (2012, S. 49) mit einem Hinweis auf James Feiblemans Hypothese zu CP 1.573, Peirce habe sogar eine reine Ethik als dritte Disziplin geplant. Vgl. dazu Pihlström (2012, S. 240) auch bereits mit CP 3.9, 1870. 346 Um den Pragmatismus mit Hegel auf die Antike zurückzubeziehen, reicht die Betrachtung des Begriffs »ethos« nach R § 151 (vgl. zur Interpretation Erny 2005, S. 31). Gewohnheit bei Hegel zu lokalisieren, ist ein wichtiger Verbindungspunkt zur weiteren Entwicklung des vermittelnden Leitprinzips der Gewohnheitsbildung in der Leiblichkeit (vgl. Enz § 409, s. Ernys Deutung S. 32 ff.; vgl. dazu W3:245). Vgl. auch Brent (1998, S. 339) zur Entwicklung der Ethik. 347 Vgl. CP 8.250. Mit Pape lässt sich für Erny die Relevanz der »normativ-praktischen Beziehung zwischen Denken, Wahrnehmen und Handeln« (Pape zit. n. Erny 2005, S. 73) feststellen, aus der zugleich der zukunftsgerichtete Denkprozess sein Gewicht erlangt und der »action«-Begriff in seiner vielfältigen Bedeutung verwendet werden kann (Tat, Handlung, Bewegung, Wirkung; vgl. ebd., S. 77). 344 345

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folgt wurde, ist in der Forschung umstritten. 348 Für den weiteren Gedankengang steht allerdings der systematische Konnex zwischen Triadik und Ethik im Vordergrund. Um diese Verbindung greifbar zu machen, bietet es sich an, das Prozessuale des Denkens im Allgemeinen in den Fokus zu rücken und die Topoi Vernunft, Willensfreiheit, »übergeordnete Zwecke« im Speziellen auf ihre relationale Dynamik hin zu untersuchen (vgl. Erny 2005, S. 5 & S. 19 Fn. 15). Mit Erny (2005) und Pihlström (2012, S. 258) lässt sich nun EP 1.105 (vgl. Peirce 1898) nutzen, um diese Verbindung zu prüfen: Peirce vertritt hier nicht im herkömmlichen Sinne der heutigen Metaethik 348 Für Erny setzt ab 1902 bei Peirce eine neue Phase in der Gestaltung einer Ethik ein, in der die regulative Rolle der Selbstkontrolle in ein dynamisches Konzept des »summum bonum« integriert und mit CP 8.255 (»logic must be founded on ethics«, s. auch: CP 1.577, CP 1.191) zum Grundpfeiler in der Interpretation der Architektonik ausgearbeitet werde. Diese Anlage sehe ich mit Apel jedoch bereits in HTMOIC entfaltet, ja über die »(Er-)Forderungen« der Logik (MS 357, Peirce 2000, Bd. 1, S. 107: »der vom Verstand geforderten Einheit«, S. 127) sicherlich in den Lowell-Lectures (1903) angelegt, aber vorher spätestens in den Monist Series (1891–93, von CP 6.7 an) sowie dann in R 432:1 (1902) (vgl. Liszka 2012, S. 50) explizit verwertet. Die Rolle von Ethik und Moral bei Peirce (vgl. Erny 2005, S. 6) zeigt m. E., dass die Ethik bereits formale Züge tragen muss und dies – wie Erny dann selbst (vgl. ebd., S. 7) andeutet – auch bereits in agapistischen Ansätzen bis 1893 tat. Vgl. CP 5.1: »Pragmatic anthropology, according to Kant, is practical ethics.« Nachdem die Ethik in der Darstellung von Vincent G. Potter (1996, S. 37–61) für den frühen Peirce (vgl. CP 2.198) nur eine praktische Wissenschaft war, wird sie ab 1882 bereits als Theorie der Normativität für seine Untersuchungen relevant, wie Potter belegt: »For Peirce, then, normative science is the study of what ought to be (1.218), of norms or rules which need not but ought to be followed (2.156). ›Ought,‹ then excludes uncontrollable compulsion and rigid determinism […]. The ›ought‹ implies ideals, ends, purposes which attract and guide (1.575) deliberate conduct. […] Still, he looks upon normative science as positive science […] [vgl. CP 5.39].« (Potter 1996, S. 39) Und so zeigt sich diese ethische Konzeption in der Entwicklung des »kruden« ersten HTMOIC-Ansatzes, der in der Folge nicht verworfen, sondern konsequent ausgearbeitet wurde. Normative Wissenschaft setze auf phänomenale Relationen und während »logic, in classifying arguments, recognizes different kinds of truth; ethics admits of qualities of good [(and not of degrees), W. M.]; and esthetics is so concerned with qualitative differences« (vgl. ebd., S. 42, mit Verweis auf CP 5.127). Die Daseinsmodi sind also bei Peirce als Gegenstand nicht psychologisch erforschbar, sondern – umgekehrt – die von ihnen ausgehenden normativen Züge reichen bis in die Gebiete des psychologischen Aufgabenfeldes hinein. Für die Ethik gebe es folglich sogar zwei zu erforschende Wege, nämlich erstens die Frage nach dem »pränormativen« Ursprung von Werterleben und zweitens die Frage nach dem Grad von Normativität (vgl. ebd., S. 50 f.). Diese Architektonik deckt sich mit dem kategorialen Aufbau: »Pragmatism is a doctrine of logic« (ebd., S. 51, vgl. CP 5.35), in der es nicht um Ideale an sich gehe, sondern um Ideale für einen Akteur (vgl. ebd., S. 60).

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einen Externalismus, 349 der den Grund der Werte in die Dinge an sich verlegt, sondern er arbeitet erneut mit einer Koinzidenz der drei Kategorien und beschreibt, wie diese das Feld der Normen und Werte synthetisieren: 350 Erleben, Wertrelation und Normativität bilden ein formales Inklusionssystem der Verbindlichkeitsmomente, aus dem heraus sich sämtliche konkreten Verhältnisse ergeben und auch bestimmen lassen. 351 Um dies anhand eines formalen Gedankenexperiments zu belegen, möchte ich das oben entfaltete kritische Moment in Peirce’ Methodologie, den lebendigen Zweifel, als Orientierungspunkt nehmen, um die Verbindung der Kategorien auf diese Weise »universaliter« lesen zu können, sodass sie immer auch einen ethischen Gehalt transportieren. In der direkten Verschränkung des kategorialen Denkens von Erstheit, Zweitheit und Drittheit erweitert Peirce die traditionellen philosophischen Kategorienlehren 352 und fordert zusätzlich zu deren statischer Systematik ein lebendiges Momentum (»present instant«, L 463: Letters to Lady Welby, 12. 10. 1904), das die Einheit im Vollzug des jeweiligen Denkens re349 Dazu müsste allerdings auch die Interpretation von Erny 2005, S. 141 diskutiert werden. Auch bei Nagl (1992, S. 22) wird die Argumentation von Peirce als Externalismus dargestellt. 350 Vgl. den Bezug auf MS 693A00069 f., den Erny 2005, S. 129 ff., S. 151 u. S. 285 f. (zur Relativierung von Rortys Deutung) aufbaut. Selbstkontrolle im Synechismus (vgl. ebd., S. 159) wird als die Grundlage für die Bildung von Logik und Ethik des Individuums in gleicher Weise angenommen (vgl. ebd., S. 156). 351 Erny vertritt diesbzgl. die These, es seien keine konkreten Normen oder allgemeinen Pflichten aus Peirce’ Ethik deduzierbar, die das Verhalten generell lenken könnten (vgl. ebd., S. 283 u. S. 286). Aus ihrer Sicht müsste der Internalist die Einbildungskraft zum Grund der Werte machen, wofür sie bei Peirce zu Recht keinen direkten Anhaltspunkt finden kann (vgl. ebd., S. 146). Klopft man die drei Kategorien vereinzelt und nacheinander auf diese Funktion der Wertstiftung hin ab, trifft Ernys Vermutung selbstverständlich zu, der intellektuelle Wert eines Gedankens sei in Hinblick auf das aus ihm erfolgende Verhalten zu bestimmen (vgl. ebd., S. 280). Nimmt man jedoch die universale Triadik als ganze und liest man Peirce zusätzlich vor dem Hintergrund der oben entwickelten pragmatischen Maxime, so ließe sich umgekehrt genauso gut behaupten, es gäbe keine Pflichten, die nicht aus dieser Ethik (Verbindlichkeit) deduziert werden müssten. Aber durch diese Distanzierung des Peirceschen Ansatzes von Kants formaler Grundlegung der Moralphilosophie schwächt Erny m. E. ihre »methodische« Lesart, nach der eine »ethische Methodik […] unsere moralischen Überzeugungen transformiert« und damit wie die pragmatische Methode zu einem Fortschritt führe (ohne Begründung in der Autonomie, Biologie etc.). 352 Peirce bezieht sich an diversen Stellen auf die »Kategorien« von Aristoteles, Kant, Hegel et al., allerdings erscheinen ihm die in der Philosophiegeschichte vorfindlichen Ansätze als bislang unzureichend (vgl. L 463: Letters to Lady Welby, 12. 10. 1904).

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flektieren und zugleich auch noch wissenschaftlich abbilden könnte (vgl. ebd.). Damit gestaltet Peirce sozusagen ein triadisches Fraktal, das sich im Prozess des Forderns dieses Momentums in die Tiefe des eigenen Erlebens hinein selbst bestätigt und gleichzeitig in der Weite des sprachlichen Ausdrucks in einem semiotischen Feld triadisch entfaltet. Wie man im sog. Syllabus (1903) – einer Erweiterung der Lowell-Vorlesungen – sehen kann, bilden schließlich sämtliche semiotischen Abbildungen, Aussagen und Schlussfolgerungen für den Hörer oder Leser eine Analogie zur oben dargestellten Architektonik der philosophischen Wissenschaften (Ästhetik-Ethik-Logik). Die Terminologie wiederum, in der die Wissenschaften arbeiten, transportiert daher unweigerlich einen normativen Anspruch, dessen lebendige Verbindlichkeit selbstverständlich aus dem Dasein selbst hervorgeht und entsprechend mit konkreten Regeln des reflektierten Verstehens verbunden ist. 353 Damit ist für das hier durchgeführte Gedankenexperiment Folgendes belegt: Immer dann, wenn eine Komponente der Triadik (Erleben, Relation, Reflexion) besprochen wird, sind die beiden anderen Seiten in diesem Prozess aktiv und bestätigen sich im Vollzug. Um dies noch einmal konkreter auszuführen, möchte ich zwei Beispiele heranziehen: a) Die methodischen Bewegungen der Deduktion, Induktion und Abduktion bilden die Triadik des wissenschaftlichen Forschens. Immer wenn ich eine induktive Forschungsmethode auf bestimmte Sachverhalte anwende, habe ich sie aus der allgemeinen Prämisse der Methodenanwendung abgeleitet und richte sie auf einen besonderen Fall, der auf irgendeine Weise meine Aufmerksamkeit erregt hatte. b) Die Zeichen Ikon, Index und Symbol bilden die Triadik der Semiotik (oder nach Peirce: »Semiosis«, s. u.): 353 Metaphysische Zusatzannahmen, die Peirce ab den 90er Jahren formuliert, lassen sich ebenfalls im Entwicklungskonzept der universalen Kategorien und in der Triadik der Zeichen erkennen. Wie schon in der Kategorienlehre geht Peirce aber auch in der Zeichenlehre nicht davon aus, diese neu zu erfinden, sondern er lehnt sich ganz im Gegenteil ausdrücklich an Duns Scotus und Wilhelm von Ockham an. Geschriebene, gesprochene und begriffliche Termini entfalten demnach ihrerseits triadische Strukturen, die nämlich Sprache, Welt und Vorstellungen an der dreiwertigen Gelenkstelle »Logik« vermitteln. Ikone, Indizes und Symbole sind die semiotischen Entsprechungen der Kategorien auf Zeichenebene, durch die Peirce die Transformation der epistemologischen Philosophie zur linguistischen Philosophie (mit) einleitet. Auch hier gilt die Irreduzibiltät (in jedem Zeichen sind immer alle drei Aspekte beteiligt), die Rekursivität (jeder Gedanke über Zeichen ist durch diese selbst ausgedrückt), Transzendentalität (auf jeder Ebene ist die Negation dessen, was man tut, eine Selbstaufhebung, ihre Affirmation jedoch eine performative Selbstbestätigung).

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Immer wenn ein Symbol genutzt wird verweist es indexikalisch auf seine Bedeutung und kann von anderen Betrachtern ikonographisch erschlossen werden. Oder: Jedes Ikon ist ein auf spezifische IndizesGefüge angewiesenes Symbol usw. Aus der durch dieses Experiment und diese zwei Beispiele illustrierten Irreduzibilität der Triadik lässt sich selbstverständlich auch für die Ethik nachweisen, dass in der Selbstkontrolle des Individuums jederzeit alle drei Momente auftreten und dass also jede konkrete Maxime immer zugleich auch deduziert und jede allgemeine Pflicht zugleich auch induziert wurde. Es gilt allerdings für die offenen Forschungsprozesse einer moralischen Wissenschaft, die jeweilige Hinsicht des Auftretens weiter zu analysieren und die konkreten empirischen Fakten genauer zu betrachten sowie deren Zusammenhänge kreativ zu erschließen. Für die oben aufgeworfene Frage nach dem Externalismus der pragmatistischen Ethik bei Peirce lassen sich daher abschließend folgende Konturen nachzeichnen: Die allgemeine Beschreibung einer Möglichkeit der Wirklichkeit hat als abstrakte Vorstellung genau dann reale Relevanz, wenn ein Einzelding seine Existenz durch diese Aussage wirklich bewahrheitet. Ein Einzelding ist dabei eine Vorstellung im Beziehungsgefüge seiner sämtlich erwartbaren Wirkungen (eine universale Bestimmung des Daseins im Denkvollzug). Es handelt sich folglich beim Pragmatismus um einen empirischen Realismus, dessen Aussagen jederzeit durch Erfahrung überprüfbar und revidierbar bleiben. Trotzdem arbeitet die Praxis des Aussagens immer auf der Grundlage des holistischen Gefüges aller gewesenen Zustände des Universums und invertiert dieses Gefüge jetzt und hier in das holistische Gefüge all meiner Bewusstseinszustände. 354 Realität und konkretes Leben lösen also auch in der durch Zeichen verkörperten philosophischen Theorie ihren Stellenwert ein. Für die konkrete Vernunft in ihrem lebendigen Vollzug lässt sich daher frei nach Peirce behaupten, dass alles Zeichen ist, alles wirklich ist Wie Pihlström (2007, S. 30) die Lage einschätzt, lässt sich die gewöhnliche Vermutung, Peirce und James seien wie »Realismus« und »Nominalismus« vergleichbar, nicht halten. Bei einer in den Briefen dokumentierten wechselseitigen Hochachtung und gegenseitigem Engagement (mehr oder weniger) für die gemeinsame Sache, sind lediglich die differierenden Formulierungen der »pragmatischen Maxime« ausschlaggebend für die unterschiedliche Rezeption der Autoren in Grundfragen der pragmatistischen Methodik (vgl. ebd., S. 38). Insbesondere die Affinität zu Kant ist ausschlaggebend für die Einschätzung (vgl. ebd. S. 41). 354

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und alles in Verbindung ist, denn die Trias der Zeichen tritt gleichursprünglich auf und sie ist nur durch sich selbst zu bestätigen (oder zu widerlegen). Wir haben damit den transzendentalen Idealismus in Peirce’ Pragmatismus erreicht, der zugleich in allen weiteren Relationen als empirischer Realismus arbeitet. In der praktischen Methodologie des Denkens, Artikulierens und Handelns schlägt sich demnach das (normative) Regulativ des Denkens ganz konkret und real nieder. 355 Allgemeines und Besonderes sind im Universalen verbunden und distinkte Kriterien können so durch kontinuierliche Entwicklungen und universale Verbindlichkeit artikuliert werden. Die Triadik der Kategorien ersetzt auf diesem Weg zudem die Kantische Vermögensanthropologie und ergänzt das oben ausgeführte Konzept der transzendentalen Apperzeption durch eine Relation des qualitativen Erlebens: »Now, there is a peculiar sensation belonging to the act of thinking that each of these predicates inheres in the subject.« (CP 2.643) Die Universalität der Triadik (Erleben, Wirken, Vermitteln) ermöglicht zusätzlich den Perspektivwechsel sowie den Rollentausch und versieht die Ethik mit einem konkret artikulierten Geltungsanspruch. Weiterhin lässt sich m. E. eine transzendentale Verbindung von Peirce und Kant dahingehend aufbauen, dass sowohl die Vermögenslehre Kants (Lust/Unlust, Begehrungsver-

355 Ohne vermittelnde Kontrolle der Drittheit würden relationale Aussagen die empirische Nachvollziehbarkeit ihrer Bezüge einbüßen. Auch Kontrolle und kritisches Schließen symbolisieren bei Peirce äquivalent zu Kants Definition der Vernunft zugleich die Entwicklung der logischen Fragestellungen der Ethik, die ihrerseits auf ästhetischen Urteilen aufbaut. Der einzige Kategorienfehler, der in diesen Kombinationen auftreten kann, ist folglich die Reduktion der Kategorien auf physische Bestandteile, d. h. die Verknüpfung von transzendentalem Realismus mit empirischem Naturalismus. »Heute lacht jeder darüber [sc. Descartes’ »Zirbeldrüse«], und doch denkt jeder in derselben allgemeinen Weise weiter über den Geist als etwas in dieser oder jener Person, das zu ihr gehört und mit der realen Welt in Wechselbeziehung steht. Eine ganze Vorlesungsreihe wäre erforderlich, diesen Irrtum bloßzulegen. Ich kann nur andeuten, daß, wenn Sie darüber nachdenken, ohne von vorgefaßten Ideen beherrscht zu sein, Sie bald wahrnehmen werden, daß es eine sehr enge Auffassung von Geist ist. Ich möchte meinen, daß es jedem so erscheinen muß, der sich genügend in die Kritik der reinen Vernunft versenkt hat.« (CP 5.128, hier: Peirce 1991, S. 85) Die Kopernikanische Wende bedeutet für den individualisierten »Geist«, dass Schmerz und Vergnügen in den Sinnesempfindungen direkte Auswirkungen für mich als Individuum haben: Schmerz bedeutet für mich, diesen einen Kampf (Unzufriedenheit/taraxia) zur Ruhe bringen zu wollen; Lust bzw. Freude verleiten zur Forderung einer Verstetigung (Generalisierung) eines Zustands (empfehlenswert/mehr davon).

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mögen, Erkenntnisvermögen) als auch die philosophischen Kategorienlehren überhaupt mittels der Triadik abgebildet werden können: Nun sind seit Kant drei Bereiche des Geistes allgemein anerkannt, und zwar: Gefühl, Wissen und Wollen. Die Einstimmigkeit, mit der diese Dreiteilung des Geistes akzeptiert wurde, ist in der Tat überraschend. Sie hatte ihren Ursprung nicht in spezifischen Ideen Kants; im Gegenteil, er hat sie sich von dogmatischen Philosophen ausgeliehen […]. Kant hat sie von dem leibnizianischen Philosophen Tetens fertig übernommen. […] Bei Platon erscheint die Lehre in poetischem Gewand und verzerrtem Ausdruck […]. Deshalb fällt es nicht schwer, der Aussage bei Diogenes Laertius Glauben zu schenken, jene Lehre stamme aus der Schule des Pythagoras […], und damit haben wir in der Geschichte jener Dreiteilung des Geistes einen Hinweis darauf, daß sie mit den Ideen von Eins, Zwei und Drei in Verbindung gebracht werden kann. (CP 1.375 f., hier: Peirce in Deuser 1995, S. 132 f.)

Auch in der weiteren Systematik Kants treten diese Funktionen im Erkenntnisvermögen (innere/äußere Empfindung, Einbildungskraft und Denken) sowie im Denken (Begriff, Urteil und (syllogistischer) Schluss) immer wieder auf. Daher kann Peirce – auch ohne seine historische Plausbilitätsannahme für die Eminenz der kategorialen Trichotomie – ohne Weiteres auf die transzendentale Architektonik des Denkens bei Kant (vgl. KU, AA 05: 197 FN) 356 rekurrieren. Der Pragmatismus läuft möglicherweise also gerade deshalb auf einen Fallibilismus hinaus, weil seine Grundlagen der kritischen Philosophie Kants entsprechen (vgl. CP 2.642). 357, 358 Für die Bestimmung der Be356 »Man hat es bedenklich gefunden, daß meine Eintheilungen in der reinen Philosophie fast immer dreitheilig ausfallen. Das liegt aber in der Natur der Sache. Soll eine Eintheilung a priori geschehen, so wird sie entweder analytisch sein nach dem Satze des Widerspruchs; und da ist sie jederzeit zweitheilig (quodlibet ens est aut A aut non A). Oder sie ist synthetisch; und wenn sie in diesem Falle aus Begriffen a priori (nicht wie in der Mathematik aus der a priori dem Begriffe correspondirenden Anschauung) soll geführt werden, so muß nach demjenigen, was zu der synthetischen Einheit überhaupt erforderlich ist, nämlich 1) Bedingung, 2) ein Bedingtes, 3) der Begriff, der aus der Vereinigung des Bedingten mit seiner Bedingung entspringt, die Eintheilung nothwendig Trichotomie sein.« (ebd.) 357 Kants Ordnungsvorstellungen treten bei Peirce also in leicht veränderter Form wieder auf; es handelt sich aber – methodisch gesehen – m. E. ebenfalls um eine transzendentale Kritik, die hier Kategorien, regulative Idee (vgl. Apel 1975, S. 73 ff.), transzendentale Argumentation, Postulate der Vernunft, Evolutionsdenken und einen diskursiven Inferentialismus entwickelt. Über diese architektonische Leistung hinaus muss jedoch auch der Inklusionscharakter der Kategorien entfaltet werden, sodass kontinuierliche Wirkkraft der Ästhetik und der Ethik in die Wissenschaften hinein deutlich werden kann (vgl. ebd., S. 85 und CP 6.7–34). Vgl. auch die Stellen, auf die

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dingungen der Möglichkeit eines solchen wissenschaftstheoretischen Konzepts benötigt Peirce die transzendentale, d. h. die allgemeine und notwendige Universalität der Kategorien: Die Artikulation dieser Universalität emergiert schließlich als Drittheit aus der Erstheit des Potter (1967) in diesem Zusammenhang rekurriert: CP 1.282, CP 1.575, CP 5.125, CP 8.255. Der phänomenologische Holismus wird als »Phaneroskopie« bei Klawitter (1984, S. 124 f.) behandelt. Diese Variante der kritischen Philosophie bestätigt dabei in jedem kritischen Gedanken die Präsuppositionen des »Selbstdenkens« und der »Selbstkontrolle« eines unvollkommenen Individuums mit seinem kontinuierlichen Strom an Qualitäten (vgl. MS 942, hier: Ketner 2002, S. 393). Thomas Hünefeldt (2002, S. 47–53) geht sogar soweit, hier die Begrifflichkeiten »Dekonstruktion«, »Phänomenologische Reduktion/Interpretation«, »rekursiv transzendentales Verfahren« für die Verarbeitung der transzendentalen Strukturen Kants in die neue Trichotomie einzusetzen. 358 Peirce war sich im Klaren darüber, dass ein Unterschied zwischen dem aktualen lebendigen Vollzug des Sich-Bewusstseins und der Beschreibung des Daseins und seiner unhintergehbaren Relationalität besteht. Und auch hier schlägt er eine Analogie vor: Um abbilden zu können, dass ich mir bewusst darüber bin, diese Relationen jetzt und hier zu denken, konfrontiert Peirce den Leser mit der berühmten Analogie der deckungsgleichen Landkarten (vgl. ebd., S. 45), mit dem er die Kontinuität des Selbstbewusstseins illustriert und die Zeichentheorie als triadischen Prozess einführt (vgl. ebd., S. 47): Wo die Repräsentationstheorie auf die Korrespondenz zweier sich gegenüberliegender Bezugssysteme baut, da akzentuiert Peirce die fließende Aktualität des Erlebens, die nicht an Qualität verliert, sondern je die neue Ganzheit des Gegebenen ist, weil sie alles zeitlich Vorhergehende abbildend überdeckt und ebenso wieder von einem sie Repräsentierenden überdeckt zu werden beinhaltet. Weil es an den Rändern deckungsgleich mit dem Abgebildeten ist, ist nur dieser nachträgliche Selbstverweis auf die Tätigkeit für das Selbstbewusstsein möglich, nicht das Sichselbst-Einholen. Sobald diese Relationen in Peirce’ Denken erneut vermittelt werden, zeigt sich der anhaltende Einfluss der »pragmatischen Maxime« auf diese Strukturmerkmale: Die Möglichkeiten der Kombination und steten Rekursion der drei Dimensionen eröffnet den konkreten Bezug des peirceschen »Phanerons« zum transzendentalen Idealismus, wie Pape mit einem Hinweis auf MS 282 belegt (vgl. Pape 2000, S. 27): »Ich lade den Leser ein, mich bei einer kleinen Untersuchung des Phanerons zu begleiten (das für ihn und für mich ausreichend identisch sein wird), um zu entdecken, welche unterschiedlichen Formen unzerlegbarer Elemente es enthält.« (hier in Pape 2000, Bd. 2, S. 291) Peirce bestimmt die universale Wirklichkeit (Gegenwart) in der kategorialen Triadik, um die »Drittheit […] von allen Seiten über jeden Weg der Sinne zu uns« kommen zu lassen (vgl. CP 5.157, hier: Peirce 1991, S. 105). Es verbietet sich aber hierdurch ein strikter Nominalismus, weil er die Performanz der Verweisungsgefüge vernachlässigt. Jeder Zeichentypus wird in der Darstellung durch die beiden anderen Typen konstituiert. Zeichen sind also ebenso wie die Kategorien als einzelne uneinholbar (s. o.): Verweist man auf ein Symbol als Symbol, so verwendet man ein indexikalisches Zeichen, um die gegenseitigen Assoziationsketten in den Phänomenen hier und jetzt zu erden. Der Triadik der Kategorien entsprechend bauen Ikone keine Verbindung zu möglichen Referenzobjekten auf, sondern erfassen als

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Die pragmatistische Methodologie der Moralphilosophie

Erlebens inmitten seines gesamten »Äußeren« (im kontinuierlichen Phänomenbereich der Qualität). Der allgemeine Ausdruck verweist dabei auf die Einheit des Einzelurteils durch die Verbindlichkeit, denn nur die Allheit der Einzelurteile könnte ansonsten idealiter das Ganze des Seienden ausdrücken. »Der Umstand, daß das einzige Ergebnis, das mit sich selbst zufrieden ist, eine Empfindungsqualität ist, erklärt sich dadurch, daß die Vernunft stets nach vorn in eine endlose Zukunft blickt und dabei annimmt, ihre Ergebnisse endlos zu verbessern.« (ebd., S. 86) So ist also einerseits die Universalität als Grundlage von Ethik und Verbindlichkeit zu verstehen, wobei Peirce andererseits die in die Zukunft gerichtete, offene »Generalisierung« von Wertvorstellungen als eine normative Vermittlung verwenden kann. Eine Generalisierung bspw. in der Form eines Naturgesetzes steht selbst in einer vernunftgemäßen Ordnung der Natur und bestätigt mit ihrer Regelmäßigkeit die Kontinuität der natürlichen Phänomene. Im Rahmen einer phänomenologisch bestimmten Allgemeinheit tritt der einheitliche, universale Geltungsanspruch formal an jedes einzelne reale Dasein heran, statt eine inhaltliche Allgemeinheit des »Für-Wert-Haltens« für alle Subjekte zu suggerieren; dazu müsste ich mich in eine bereits absolut gesetzte Reihe der Subjekte hineindenken, was unmöglich ist. Dieses Problem der nicht deutlich gemachten Darstellungsebene (also: dass auch die absolute Reihe der Subjekte von mir gedacht werden müsste) beschäftigt Peirce m. E. aber bereits seit seinen ersten philosophischen Texten. Er geht davon aus, was als Allgemeines existiere, sei als Universales real und wertvoll: Das Reale sei nämlich so, wie es ist, unbedingt davon, was ich von ihm denke – aber es müsse als Reales immer auch erkennbar sein (vgl. CP 5.310). Unbeeinflusst vielleicht, aber doch eben nicht »unbedingt«, von meinem Erfahrungs- und Denkhorizont müsse also auch das Allgemeine real sein, an dem die Partikularien partizipieren (vgl. Erstheit immer vollständig den qualitativen Zustand des Individuums. So wie die Indizes auf Phänomene verweisen – nicht auf die wirkliche Welt – und Phänomene selbst Zeichen sind, und Symbole nur aus Symbolen (er-)wachsen, zeigt sich in Peirce’ Denken eine Zweitheit, ein triadischer Monismus. Die Außenwelt ist so wenig durch den mechanischen Materialismus erklärbar wie die innere Welt durch den Hinweis auf separierte Qualia. Abbildbar in der mathematischen Abstraktion und logischen Notation durchziehen die drei Kategorien das gesamte Kontinuum des triadischen Feldes (vgl. Pape 2000, S. 43). Demgemäß gilt der Grundlagencharakter der »Phänomenologie« auch für die Zeichentheorie und für die Möglichkeit der Kommunikation.

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Zusammenfassung: Transzendentale Verbindlichkeit im Pragmatismus

bereits die Studien zu Duns Scotus in W 2.277). Unter der oben bereits angedeuteten Prozessbezeichnung »Semiosis« formuliert Peirce schließlich seine Auffassung, dass es nichts Einfaches und nichts Allgemeines sei – wie es nämlich nachträglich in der Abstraktionsleistung des Intellekts suggeriert werde –, was dem lebendigen Bewusstsein in einem kontinuierlichen Prozess von phänomenalen Verweisungen begegne; jede bewusste Begegnung sei vielmehr universal (vgl. Pape 1990, S. 33). Diese spezifische Grundlage von Qualität, Wert und Begriff bei Peirce muss also für die vermutete Gestaltung einer Moralphilosophie unbedingt berücksichtigt werden. 359 Alles steht mit allem in Relation, weil es (irgendwie) je mit »mir« in Relation steht. Dass es ein nützliches Leitprinzip sein kann, die Dinge auch ohne Bezug zu uns weiterexistieren zu lassen, erweitert die »pragmatische Maxime« abduktiv auf zukünftige Beziehungen, in denen wir »viabel« sagen werden, »hier schau, das Ding ist die ganze Zeit über real gewesen«. Doch diese Annahme ist kein absolutes Wissen, sondern vielmehr ein fallibles Postulat der theoretischen »Vernunft«. Die Triadik der Kategorien beschreibt daher umfassend, wie die drei von mir eingesetzten Achsen der Moralphilosophie (vgl. o., S. 12 f.) zugleich ein umfassendes System und auch die Offenheit der Relationen generieren, (ab-)bilden und reflektieren können. In diesem kontinuierlichen Gefüge – Peirce spricht hier von einem »Synechismus« – gehen die Ebenen und Kategorien, das Ich und der Andere, Leben und Tod, Sein und Nichtsein, Wachen und Schlaf fließend ineinander über.

3.4 Zusammenfassung: Transzendentale Verbindlichkeit im Pragmatismus Ausgehend von den Ergebnissen der Genealogie einer pragmatistischen Ethik in die Tiefendimension der kritischen Philosophie hinein zeichne ich im nächsten Kapitel die Anschlussmöglichkeit der Moralpsychologie an den pragmatistischen Methodenpluralismus nach. 359 Wie Potter (1967, S. 57) dies auslegt, geht Peirce mit dem Kategorischen Imperativ Kants so um, wie C. I. Lewis unserer Deutung nach insgesamt apriorische Strukturen als Hypothesen aufgreift. Der Pragmatismus bildet in dieser genealogischen Linie tatsächlich den methodologischen Korridor, über den Grundlegung, Transzendentalphilosophie (vgl. ebd., S. 53 zu »pleasure« des Utilitarismus), Moral Sciences und Spekulation in Verbindung stehen.

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Die pragmatistische Methodologie der Moralphilosophie

Dabei soll überprüft werden, ob die Implementierung des transzendentalen Idealismus im gemeinsamen relationalen Hintergrund auch für eine Architektonik der Moralphilosophie genutzt werden kann und welche Rückwirkungen sie auf die Einschätzung der Metaethik hat. 360 Mit Pihlström (2015) plädiere ich dafür, dass ein transzendentaler »Turn« im Pragmatismus enorme Vorteile für die Betrachtung der Strukturmomente der Moralphilosophie hätte, während die pragmatistische Ausgestaltung der Transzendentalphilosophie den Weg zur gelebten normativen Ethik vorbereiten könnte. Pihlström selbst schließt dabei an eine naturalisierte transzendentale Kritik an. Nach dem Überblick über die dialektischen Arbeitsfelder der Metaethik im ersten Kapitel hatte sich eine transzendentale Untersuchung der Verbindlichkeit geradezu aufgedrängt, um die Architektonik der moralischen Disziplinen und deren Übergänge in aller Deutlichkeit (an der Metaethik vorbei) zu skizzieren. Es ging vor allem darum, die möglichen Hinsichten zu betonen, in denen Moral betrachtet werden kann. In den Grundlagentexten des konstruktivistischen, des phänomenologischen, des utilitaristischen und des pragmatistischen Denkens haben sich dabei fundamentale, unhintergehbare Präsuppositionen aufgetan, die sich in kategorialer Form systematisieren lassen. Dass sich auf diesem Weg direkte Anbindungen von Kants transzendentaler Kritik an den Pragmatismus und auch an den Utilitarismus feststellen ließen, hat die Dimension des »geschicklichen« und »pragmatischen« Umgangs mit Mittel-Zweck-Relationen bei Kant in diese Richtungen hinein bestätigt. Vor allem die Anwendung der triadischen Kategorien nach Peirce im Bereich der Moralität bildet als Ergebnis des dritten Kapitels ein entscheidendes Verbindungsglied zwischen theoretischer und praktischer Arbeit innerhalb der Moralphilosophie sowie zwischen Moralphilosophie und Moral Sciences. 361 Um die Berührungen und Übergänge dieser einzelnen moralphilosophischen Betrachtungsebenen eleganter beschreiben zu können als durch die Verwendung der traditionellen metaethischen Dichoto360 Kritische Motive sind dabei: universale und partikulare Dimension (vgl. horizontale und vertikale Achse), eine Anbindung an das spekulative Moment (Intuition, Apperzeption, lebendiges Dasein, Geist …), das Bedingungsgefüge des abstrahierenden Denkens und wissenschaftlichen Forschens (vgl. o.: transzendentaler Idealismus als empirischer Realismus). 361 Vgl. Mones (1997, S. 13) über die Verbindlichkeit des theoretischen Darstellens in einer systematisch-kritischen »Topoheuretik«.

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Zusammenfassung: Transzendentale Verbindlichkeit im Pragmatismus

mien, bietet sich nun für die aktuelle Moralphilosophie die kritischpragmatistische Methodologie an: a) gegen eine Metaethik, die als selbstbezogenes »puzzle-solving« auftritt und b) für die Glättung der theoretischen Übergänge im Kontinuum von einer Grundlegung der Moral über die normative und angewandte Ethik bis hin zu den Moral Sciences. Die Vorteile, die ich mir von diesem Schritt erhoffe, will ich noch einmal klar herausstellen: 1) Direkte realistische Positionen können vom »überschwänglichen« transzendentalen Realismus abgelöst und auf den transzendentalen Idealismus zurückgeführt werden, sobald deutlich wird, dass empirische Forschung notwendig auch Relationalität präsupponiert. Der empirische Realismus entspricht in diesen Voraussetzungen vollständig dem methodologischen Prinzip des transzendentalen Idealismus. 2) Auch diese transzendentale Philosophie hat ihr Pulver verschossen, sobald der Grundlagenstreit um die Verbindlichkeit abgeschlossen werden kann. Empirisch zugängliche Phänomene der Moral müssen durch die gewöhnliche Erfahrung und daher durch die Wissenschaften näher untersucht werden. Die Metaethik ist aber weder eine transzendentale Disziplin noch nutzt sie die Empirie, geschweige denn zeigt sie irgendeinen Effekt für die alltäglichen Fragen der Moral. 3) In das Untersuchungsfeld der Moralphänomene kann auf der Basis des transzendentalen Idealismus sowohl die innere als auch die äußere Erfahrung (aus: Erleben, Handeln, Denken) einbezogen werden. 4) Es gibt in diesen fließenden Übergängen keinen separaten Bereich des rein privaten Erlebens, der Privatsprache, der Privatwelt. Es gibt allerdings auch kein vollständig öffentliches Individuum, das vollkommen in der Welt aufginge oder allein durch Beobachtung transparent wäre. Ich wiederhole noch einmal die Optionen: (a) Im transzendentalen Realismus wird behauptet, dass Sachen, Werte, Gesetze, Normen etc. an sich existieren und dass sie entweder an sich für mich unzugänglich sind oder (je) ich einen besonderen Zugang zu ihnen habe (»moral sense«, Intuition, Offenbarung). Wenn ich diese Gegenstände dann erforsche, habe ich aber doch wieder ausschließlich Kontakt zu den Gegenständen als Erscheinung (für mich). Da diese Grundannahme für mich weder von außen belegbar noch widerlegbar ist, macht diese Forschungsbasis für mich keinen Unterschied. Bloß, dass der transzendentale Realismus sich durchgehend bzw. »prinzipiell« selbst widerspricht, während der transzendentale Idealismus sich stets selbst bestätigt. (b) Im transzendentalen Idealismus wird be269 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Die pragmatistische Methodologie der Moralphilosophie

hauptet, dass Sachen, Werte, Gesetze, Normen etc. für mich existieren und dass sie »an sich« nur per Limitation (außerhalb des von mir sagbaren) (an-)gedacht werden können. Alles Aussagbare über diese Gegenstände bewegt sich in Relation zum bewussten Lebewesen und wird über Erfahrungsprozesse konstituiert. »Realität« muss damit so verstanden werden, dass die Hinsicht geklärt werden muss, in der etwas als real existierend beschrieben wird. So kann es reale Träume, reale Fiktionen, reale Ideen etc. geben, aber auch eine empirische Realität, die sowohl den Boden meiner Alltagserfahrungen als auch den Boden wissenschaftlicher Forschung bildet. Im Rahmen einer transzendental-idealistischen Haltung ist es sogar immer auch zwingend geboten, empirische Wissenschaft zu betreiben, um Erfahrungen systematisieren und nutzbar machen zu können. Der Idealismus in diesem Sinne gibt den Wissenschaften dabei zwar die Impulse eines subjektiven Zweifelns, eines relativen Perspektivismus und Pluralismus mit auf den Weg, doch läuft er keineswegs auf die entsprechenden Dogmen eines Skeptizismus, Relativismus etc. hinaus. Die Forderung nach einem offenen Forschungsprozess würde schließlich sofort enden, wenn etwa Werte und Normen intuitiv oder durch intellektuelle Anschauung unmittelbar zugänglich wären. Eine ganze Reihe von Vorurteilen gegenüber dem transzendentalen Idealismus kann daher auf einen ungeprüften naiven – oder heute: spekulativen – Realismus zurückgeführt werden, in dem die Perspektive »je meiner« Weltrelationen schlicht ausgeblendet wird. Gleichsam sind Psychologie, Evolutionstheorie, Logik, Semiotik und Mathematik in die Anfänge einer pragmatistischen Methodologie eingewoben, ebenso wie Phänomenalismus, Utilitarismus, Autonomie und Humanismus. Auf der Basis des transzendentalen Idealismus sollte für Moralphilosophen also der Anknüpfungspunkt an die jeweiligen Forschungsgegenstände von moderat naturalistischen Wissenschaften jederzeit aufrechtzuerhalten sein. Der transzendentale Idealismus schließt deshalb zunächst einmal keine Position der Metaethik oder normativen Ethik aus dem wissenschaftlichen Spektrum aus, verlangt jedoch eine Klärung der Hinsicht, in der die jeweilige Position vertreten wird und untersucht die Veränderung, die sie für das Leben bedeutet. Auf diesem Weg erweist sich der transzendentale Idealismus als vereinbar mit einem pragmatistischen Methodenpluralismus, die Transzendentalphilosophie als vereinbar mit einem lebensweltlichen Pluralismus, eine Grundlegung als vereinbar mit offenen moralischen Entscheidungsprozessen im Alltag; 270 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Zusammenfassung: Transzendentale Verbindlichkeit im Pragmatismus

die transzendental-realistische Metaethik jedoch schätze ich aus den im ersten Kapitel hergeleiteten Gründen – diese Hinsicht kann eben nicht sinnvoll artikuliert werden – als belanglos ein. Die im dritten Kapitel durchgeführte Genealogie konnte die äußerst »bunte« Landschaft der pragmatistischen Philosophie auf eine gemeinsame (kritische) Methodologie zurückführen und damit die Verbindungslinie von der transzendentalen Kritik bis zum Anwendungsbereich gewährleisten. Das Projekt ist aus meiner Sicht erfolgreich verlaufen, weil der Pragmatismus folgende Kriterien des transzendentalen Idealismus hergibt: a) Phänomenalismus: Ich spreche von Dingen als Erscheinung; Dinge an sich sind nicht erkennbar und von ihnen kann lediglich gedacht werden, dass sie als solche nicht erkennbar sind. b) Empirischer Realismus: Für die Moralphilosophie gilt es, ein wissenschaftliches Forschungsprogramm zu entwerfen, das auf der Basis der formalen Voraussetzungen einer universalen Verbindlichkeit empirische Studien über die Vielfalt von moralischen Phänomenen, ethischen Systemen, rechtlichen Setzungen etc. untersucht. Diese Ergebnisse sind der pragmatistischen Methodologie gemäß immer auch potentiell anschlussfähig und nachvollziehbar für den empirischen Realismus, den Menschen aus ihrer verkörperten, in Umwelt und Gesellschaft eingebetteten Situation heraus annehmen. c) Aufklärerischer Impetus: Ich reflektiere die eigenen Fähigkeiten und ermögliche eine Besinnung auf das Dasein, von dem aus das Primat der praktischen Vernunft verteidigt werden kann. Das Erleben ist die notwendige Bedingung von Weltbeziehungen und die Reflexion ist die hinreichende Bedingung der lebendigen Relationalität selbstbewusster Lebewesen. d) Die bis zu diesem Punkt entwickelte philosophiehistorische »Komparatistik« konnte die Annahmen dieser transzendentalen Synthese durchaus verstärken, der Fokus des Projekts liegt aber auch weiterhin auf den systematischen Ausführungen. Zur Einrichtung der inhaltlichen Fuge zwischen Kant und den Pragmatisten lassen sich für diese Systematisierung folgende Merkmale zusammenfassen: Die transzendentale Kritik erörtert die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnisbildung in theoretischer und in praktischer Hinsicht. 362 Für die Ergebnisse dieser Unter362 Wie diese Verbindlichkeit aus der Struktur der Vernunft für die Selbstbetrachtung der Vernunft ableitbar ist, zeigt die KrV-Passage im Übergang von der Selbstbeschreibung zur nicht-beschreibbaren Daseinsbehauptung. »Dagegen bin ich mir meiner selbst in der transscendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen über-

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Die pragmatistische Methodologie der Moralphilosophie

suchung wird der Anspruch einer allgemeinen und notwendigen Geltung erhoben. 363 Für die Arbeit der praktischen Vernunft ist die Extension des jeweiligen Urteils entscheidend: Während eine gemeinhin akzeptierte Gültigkeit (Übereinstimmung von Prinzip und Maxime) generell aufgebaut wird 364 und insgesamt später der »intuitiven« (regelutilitaristischen) Ebene bei Hare entspricht, ist die Universalität im Anspruch des Kategorischen Imperativs (vgl. MS, AA 06: 225.06–13) ohne Ausnahme (Universalitas, nicht Allheit/Universitas) – und das heißt: verbindlich – zu verstehen. Die »Allgemeinheit« des Kategorischen Imperativs weist direkt auf seinen bloß formalen Charakter hin, der eben nicht alle möglichen inhaltlichen Aussagen aller möglichen Handlungsmaximen bereits enthält (das wäre Allheit), sondern der die universale Form der Verbindlichkeit all dieser – material wie auch immer gearteten – Urteile in ihrem spezifischen Auftreten als Kriterium der Moral garantiert. Aus diesem Grund nimmt die Moralität überhaupt erst die zentrale Position in Kants Kritiken ein, denn sie bedeutet per definitionem die Verbindlichkeit eines Urteils für freie Wesen (vgl. GMS, AA 04: 389.12 f. u. 439.24–34). Niemand muss sich an diese moralische Voraussetzung halten; wer will, kann sich mit Widerwillen nach einem positiven Ge-

haupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperception bewußt, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin. […] Das Bewußtsein seiner selbst ist also noch lange nicht ein Erkenntniß seiner selbst unerachtet aller Kategorien, welche das Denken eines Objects überhaupt durch Verbindung des Mannigfaltigen in einer Apperception ausmachen.« (KrV, AA 03: 123.02–19) Vgl. Schlösser (2012), http://cas.uchicago.edu/workshops/germanphilo sophy/files/2012/03/Concept-Formation-12.pdf (Stand: 30. 05. 2021): Ulrich Schlösser akzentuiert den relationalen Charakter im Denken Kants und wehrt damit (und über die Strukturanalyse transzendentaler Argumente) auch die Einwände gegen Kants »Vermögenspsychologie« ab. Für mein Verständnis ist das »Ich denke« Ausdruck dieser Relationalität, da es jeden Gedanken begleiten muss. Vgl. zur Diskussion dieser Auffassung auch Thein (2013, S. 16). 363 Mit Log, AA 09: 102.19–33 u. 133.20–24 lässt sich für die logische Untersuchung festhalten, dass der Status der Allgemeinheit in analytischen sowie in synthetischen Urteilen dieselbe quantitative Form aufweist. In realer Hinsicht jedoch differenziert Kant sehr wohl zwischen generalen und universalen Sätzen, deren Allgemeinheitsanspruch zwischen einer unbestimmten Menge an Gegenständen unter bestimmten, nicht hinreichenden Bedingungen und der universalen Aussage in Bezug auf einen singulären Gegenstand fluktuiert. Hare repliziert exakt diese Differenzierung, wenn er die möglichen Manifestationen der Universalität in spezifischen und in allgemeinen Urteilen nachweist und sein kritisches Denken darauf aufbaut. 364 Vgl. GMS, AA 04: 424.25–33.

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Zusammenfassung: Transzendentale Verbindlichkeit im Pragmatismus

setzestext richten – sic volo, sic iubeo (vgl. KpV, AA 05: 31.34). Bezeichnenderweise wird aber jede dieser Entscheidungen dort einen formalen Verbindlichkeitsanspruch widerspiegeln, wo eine Begründung über das trotzige »stat pro ratione voluntas« hinaus anzugeben ist. 365 In dieser Argumentationslinie entwickelt Korsgaard den Begriff der Pflicht von der konstituierenden Quelle der Normativität (Vernunft) bis in die empirische Forschung hinein. 366 Anhand der dokumentierten Funktionszusammenhänge von Vernunft, Freiheit und Autonomie wiederum lässt sich nachweisen, inwiefern die Begründung von Normativität überhaupt erst mit der Möglichkeit von Universalität anhebt: Die Notwendigkeit eines moralischen Urteils stammt aus der universalen Transferenz (vgl. o.: Vendler) und nicht aus der generalisierten Verallgemeinerung. Mit Einfluss auf Hare hat Vendler diesen Argumentationsschritt für die Verbindlichkeit nutzbar gemacht: »Of course, the transcendental self does not operate by itself, in vacuo, but as anchored in you or me. […] To use Kant’s terminology: the transcendental unity of apperception does not determinate my perspective; it is the rule for all possible perceptions.« (Vendler 1984, S. 117 f.) Die Analyse dieser Kantianischen Zusammenhänge hatte zunächst unterschiedliche Ebenen ein und desselben Inklusionssystems zum Gegenstand. 367 Jedes konkrete moralische Urteil beinhaltet selbstverständlich materiale Anteile und ist eben deshalb nicht universal. Die Begründung der Moralität jedoch verweist universal auf die notwendigen Strukturen der synthetischen Einheit der Apperzeption in jedem mit »Vernunft« begabten Wesen (vgl. KrV, AA 03: 126 FN). Die Moralphilosophie Meads, der radikale Empirismus James’, ja sogar die unter strikter Ablehnung der Kantischen Transzendentalphilosophie erstellte Ethik von Dewey und die Absage an jede Art von absoluter Apriorizität von Peirce haben zumindest eine methodische Rückbindung an diese transzendentale Kritik Kants aufgeSpätestens seit Kants Erläuterung in UD, AA 02: 298.04–08 ist Verbindlichkeit daher unabhängig von situativen Zwecksetzungen anzuerkennen. 366 Vgl. MS, AA 06: 222.31–34: »Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist.« Universalität transportiert einen Internalismus für alle Vernunftwesen, ihre Pflicht aus der Vernunftform abzuleiten, wobei dann jede tatsächliche Zuwiderhandlung nicht nur eine Nichtberücksichtigung der Pflicht ist, sondern als pflichtwidrig deklariert werden muss. Vgl. auch MS, AA 06: 222.03–06, 224.15–22. 367 Analytisch: ein »conceptus communis« (KrV, AA 03: 109FN). 365

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Die pragmatistische Methodologie der Moralphilosophie

wiesen. 368 In Architektonik, Kategorienbildung und Zeichentheorie lässt sich zudem eine universale Triadik nachweisen, die sich gleichsam aus Kants transzendentaler Logik 369 speist. 370 Trotz des transzendentalen Geltungsanspruchs dieser Strukturen setzt der Pragmatismus aber zusätzlich auf materiale Veränderung, d. h. auf stete Transformation und Evolution eines qualitativen Universums (Synechismus). Die Relationalität der Weltbezüge eines Handelnden verlangt dementsprechend, dass jede menschliche Interaktion aus einer »gewöhnlichen Erfahrung« (vgl. o.: Dewey und Jung) hervorgeht und aus dem persönlichen Antrieb des Individuums heraus bis in die Sphären eines abstrakten Expertendiskurses hinein nachvollzogen werden kann. Alle technischen und wissenschaftlichen Bezeichnungen, Gruppen, Maße etc., kurz: die Phänomene »zweiter Natur«, sind folglich von Menschen konstituiert und real. 371 Urteile mit Wahrheitsanspruch sind damit stets kompatibel zu den gewöhnlichen Erfahrungen, die Menschen in ihrem persönlichen Umfeld machen; zwischen diesen reflektierten Abstraktionsebenen können keine Umbrüche oder Revolutionen festgestellt werden. Es handelt sich beim Pragmatismus, insbesondere in James’ Denken, um einen kontinuierlichen Perspektivismus, der es ablehnt, von Wahrheiten oder Werten zu erzählen, die unabhängig von einem Betrachter sind. Auf dieser Basis belegt Dewey in seiner Analyse der Ethik, dass sowohl die Erlebnisse, die für den Handelnden selbst relevant sind, als auch die beobachtbaren äußeren Umstände und Folgen bodenständig erklärbar 368 Deweys Verständnis der Kopernikanischen Wende in »Suche nach Gewissheit« (2001), nach der erst seine eigene Philosophie diese Wende hervorbringt, könnte allerdings gegen diese Assoziation sprechen. Der eigentliche Analogiecharakter der Wende, der bei Kant in der Relationalität wirksam wird und keine physikalistische Korrespondenz aufbauen sollte, hat aber die Sachen selbst – nämlich als reale Phänomene (vgl. Oehler 1995, S. 58) – bereits berücksichtigt. Das kritische Denken verwahrt uns bereits durch eine Feedback-Schleife (Reflexion) vor Dogmatismus und Skeptizismus und gibt die empirischen Aufgaben an ein wissenschaftliches Forschungsprogramm weiter, das in die Lebenswelt eingelassen bleibt. Vgl. zur Nähe von Dewey und Peirce bspw. Sleeper (2010, S. 232). 369 Zu Peirce’ Verhältnis zum transzendentalem Idealismus, vgl. Keeler (2003) und die Auswertung von Brent (1998, S. 70); vgl. außerdem Deuser (1995, S. 18, S. 31 u. S. 46). 370 Vgl. Sacks (2005, S. 455): Transzendentale Gedanken sperren sich jedoch offensichtlich gegen Historisierungen. Selbstverständlich nimmt Peirce auch auf Hegels Dialektik und Hegels Spekulation Bezug. 371 Gleichsam lässt sich also auch die Verbindung »real und konstruiert« in einem entsprechenden Urteil herstellen.

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Zusammenfassung: Transzendentale Verbindlichkeit im Pragmatismus

sind und sich in die gesellschaftliche Kontextualität einbetten lassen. 372 Es gibt keine Trennung dieser Phänomene im Gefüge der Qualitäten und erst in der philosophischen Theorie werden nachträglich Grenzen aufgebaut zwischen mentalen Inhalten und weltlichen Gegebenheiten, zwischen Haltungen und Einstellungen auf der einen Seite und Handlungsfolgen auf der anderen Seite. Innen und Außen sind für Dewey Entsprechungen für die Unterscheidungen des »Wie« und des »Was« einer Aktivität. 373 Mit dieser »Kopernikanischen Riposte« Deweys können diverse Bereiche der Kultur unter der Arbeitsweise einer pragmatistischen Methodologie wieder verbunden werden, während die Erkenntnis ihren sakrosankten Status gegen einen vermittelnden, instrumentellen Wert eintauschen muss. Es ist also auch in der Ethik die Reflexion der jeweiligen Hinsicht auf einen Gegenstand entscheidend, um zugleich die Vielfalt, den Artenreichtum und die qualitative Fülle der Welt im Vergleich zu einer abstrakten, epistemologisch bestimmten Wissenschaft wahren zu können. 374 Die Vgl. Fesmire (2003, S. 58). Dewey arbeitet damit wie später Merleau-Ponty (1976) gegen verknappende Dichotomien in den Wissenschaften (bes. Biologismus), der traditionellen Philosophie und der Alltagspsychologie zugunsten einer durch die Gestaltpsychologie beeinflussten wissenschaftlichen Phänomenologie. Gegen das Erfordernis einer zusätzlichen Metaethik kann mit Dewey daher auf die wissenschaftlichen Studien verwiesen werden, die die Ethik von vornherein auszeichnen und nicht erst nachträglich auf eine rein philosophische Disziplin herunterbrechen sollten. 374 Dewey schickt sich an, die reduktionistischen Tendenzen der radikalen Naturalisten zu korrigieren und die positivistischen Untersuchungen in Logik und Physik (quantitativ arbeitend oder Qualitäten analysierend) an qualitative Weltzusammenhänge zurückzubinden. Solange das Denken dem Werden der Dinge gegenübergestellt wird und sich nicht selbst als mitwerdend in die Prozesse der Sachverhalte hineinstellt, führen für Dewey und für Mead die logikbasierten Untersuchungen in typische metaphysische Sackgassen, die auf Attributionsmustern und tradierten Klassifikationen beruhen. Durch Klaus Oehlers Argumentation (1995, S. 15; mit Hinweis auf CP 8.284 u. CP 8.208) wird die Interpretation gestärkt, dass der Pragmatismus sich grundlegend an der Kantischen Formulierung des transzendentalen Idealismus orientiert, der zugleich ein empirischer Realismus ist. Die Trennung von theoretischer und praktischer Philosophie wird aufgehoben und bei Jung (s. o.) als unterscheidende »Formaldistinktion« nur noch für ausgeschrieben systematisierende, architektonische Zwecke genutzt. Weder soll damit jedoch ein naturalistischer Realismus intendiert werden, der reduktionistisch auf die Dinge an sich zielt, noch soll ein non-naturalistischer Realismus betrieben werden. Derart sehe ich diese Entwicklungsstadien aber als mit dem transzendentalen Idealismus vereinbar an, wenn etwa der Aufsatz Deweys zum »qualitativen Denken« (1930, hier Dewey 2003, S. 94–117) hinzugezogen wird. 372 373

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Die pragmatistische Methodologie der Moralphilosophie

Wissenschaften entspringen also der alltäglichen Welt der Menschen und sie sind formal betrachtet den kategorialen Beschreibungsmustern »Erstheit-Zweitheit-Drittheit« verpflichtet. Die Forschungsprozesse funktionieren dabei im Großen wie die »doubt-belief«-Schleifen im Kleinen: 375 Auch hier lässt sich »triadisch« behaupten, dass an jedem Forschungsvorgang induktive, deduktive und abduktive Komponenten beteiligt sind. In einer Vernetzung sämtlicher Phänomene der »einfachen« Lebenswelt entstehen somit fundamentalkomplexe Rückkopplungen, die – wie Mead anhand der Evolutionstheorie zeigt – über simplifizierte linear-kausale Prozesse wie das binäre ReizReaktionsmuster hinausgehen. Individuen können demzufolge, eingebunden in ihre direkte Umgebung, durch eine adaptive Prozessualität beschrieben werden: Jede noch so basale Reflexbewegung ist als aktives Geschehen in diesen Nexus aufgenommen. 376 Eine Letztbegründung des Pragmatismus qua »Instrumentalismus« ist aus diesem Grund nicht (abschließend) möglich, da die verschiedenen Stadien des Forschungsprozesses strukturell unabgeschlossen sind. 377 Für die Moralphilosophie ist die pragmatistische Methodologie daher nur insofern an die transzendentale Architektonik anschlussfähig, als das Besinnungsmoment der transzendentalen Apperzeption unabdingbar zur kritischen Philosophie gehört und Universalität, Relationalität und Idealismus (synechistische »Wechselwirkungen«) ermöglicht. Von diesem Standpunkt aus muss nun also noch die wissenschaftliche Methodenlandschaft an diese Methodologie angebunden werden können, um die von mir so bezeichnete »pragmatische« Bewegung in der Architektonik der Moralphilosophie abschließend in die Lebenswelt zurückführen zu können.

Die Formulierung von Naturgesetzen und Weltbildern basiert vollständig auf Generalisierungen und damit auf vorläufigen Verallgemeinerungsversuchen. 376 Im Pragmatismus ist Erkenntnis also nicht durch Korrespondenztheorien einer distanzierten Beobachtung bestimmbar, sondern (wenn überhaupt) im Funktionskreis eines kohärentistischen Wahrheitsmodells »on the fly« zu nutzen. 377 Die eigentliche Abneigung der Pragmatisten gegen apriorische Strukturen richtet sich also gegen das fertig Angeborene, das Vorgefertigte, das Substantielle, nicht aber gegen das kritische Denken. 375

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4. Die relationale Bewegung der Pragmatik am Beispiel der Moralpsychologie

Der Begründungsdruck in der Ethik lässt sich grundsätzlich auf zwei externe Faktoren zurückführen: Nach außen baut er sich gegen sophistische und skeptizistisch-relativistische Traditionen auf und nach innen wird er durch die Pluralität moralischer Theorien hervorgerufen (vgl. Ott 2006, S. 7 u. S. 24). Die deskriptive Ethik erforscht und rekonstruiert konkrete Moralkonzepte und bezieht sich dabei auf empirische Studien. Um diese Beschreibungen philosophisch auswerten zu können, sind zwei Schritte erforderlich: 1. Die Untersuchungsgegenstände dieser Studien müssen analysiert werden, um das wissenschaftliche Selbstverständnis der Moralforscher in ein Verhältnis zur aktuellen Ethik setzen zu können. 2. Die transzendentale Kritik bildet das Verbindungsstück zwischen der intentio recta aus dem ersten Schritt und einer intentio obliqua in Bezug auf die ethischen Geltungsansprüche der Moralwissenschaften selbst. Heute machen die Moral Sciences und die Moralphänomenologie das herrschende Paradigma der empirischen Psychologie aus. Beide Ansätze eignen sich hervorragend, um die Übergänge aus den methodischen Reflexionen der transzendentalen Kritik (»moral foundation«) in den methodologischen »moral pluralism« des Pragmatismus bis in die empirsche Forschung der Moralpsychologie hinein sichtbar zu machen. 378 Es 378 Um das Einende der menschlichen Natur zu betonen, analysiert – um hier ein Beispiel für dieses Vorgehen zu nennen – Jan Verplaetse (2011) fünf Moralsysteme, die durch eine Kombinatorik kultureller, sozialer und neuronaler Aspekte bestimmt werden. Moral wird demnach als Zusammensetzung von Natur und Kultur – mit bislang vernachlässigtem Anteil der Instinkte und Gefühle – vorgestellt. In Anlehnung an Haidt & Bair gründet er Moral auf Intuitionen und Emotionen (vgl. ebd., S. 19) und untersucht deren Wirksamkeit in den Features »Bindungsmoral«, »Moral der Gewalt«, »Moral der Reinigung« und »Moral der Kooperation«. Wie Normativität aus diesen Faktoren erklärt werden kann, ist für unterschiedliche »Features« unterschiedlich gelöst; sicher ist jedoch, dass der Schluss auf die Kommunikation als Basis für Kooperation und Hemmungen (vgl. ebd., S. 171) bei großen Gruppen ohne weitere Begründung eingesetzt wird. Auch die Abwägungen von sozialem Verhalten

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Die relationale Bewegung der Pragmatik am Beispiel der Moralpsychologie

bietet sich daher an, das von Korsgaard entwickelte Handlungsmodell der Ethik zu nutzen, um eine entsprechende Herleitung der Verbindlichkeit aus der Vernunft bis in die konkrete Handlung hinein zu beschreiben. Diese Agent-Agency-Kopplung scheint als empirische Begründungsfigur zunächst zirkuläre Züge zu verwenden, da die Identität des Akteurs über Interaktionen hergestellt wird, die ihrerseits den Handlungscharakter erst durch die Zugehörigkeit zu einem Akteur und dessen Identität erhalten. Doch in der Moralpsychologie muss Moralität im Sinne der transzendentalen Verbindlichkeit eben nicht mehr eigens nachgewiesen werden, 379 sondern sie wird vorausgesetzt. Die Durchlässigkeit der Bewegungen auf den drei Achsen der Architektonik belegt an diesem Beispiel, dass es sich hierbei nicht um einen Zirkelschluss handelt, sondern um ein offenes Konzept der pragmatistischen Methodologie im Umgang mit den Phänomenen der lebensweltlichen Erfahrung. Die beiden von mir erstellten Graphiken (vgl. o.: S. 12 f. Abb. 1 & 2) veranschaulichen diese Wechselwirkung zwischen Ethik, Moral und Lebenswelt. Die Übergänge der Phänomene in diesen drei Hinsichten sind auf der horizontalen Ebene fließend, im theoretischen Geltungsanspruch und in der Begründung ihres Themas hingegen unterschiedlich. Ein Überblick über die Moralpsychologie wird im Weiteren aufarbeiten, wie die empirischen Wissenschaften an dieses Spektrum der Moralphilosophie herantreten und die Gegenstände in der jeweiligen Perspektive untersuchen. In Abschnitt 4.2 versuche ich zusätzlich, eine Tiefendimension der Psychologie anzudeuten, die aus den pragmatistischen Konzepten heraus entstanden ist und bis zuletzt auf eine Vielfalt der Erklärungsmuster, eine Offenheit der zu erwartenden Handlungen und eine direkte Bezugnahme auf das Erleben der Freiheit als Ursprung der moralischen Handlung nutzt.

nach Kosten-Nutzen-Schemata arbeiten auf utilitaristischer Basis, werden aber durch neurobiologisches Vokabular überdeckt. »Menschen lehnen sich gegen allzu eigennütziges Verhalten auf. Diese Erkenntnis erhöht die Kooperationsbereitschaft. Um nicht selbst in Nachteil zu geraten, verhält man sich redlicher.« (ebd., S. 201) Die Voraussetzungen für eine Prinzipienethik als Bereich der Philosophie wird schließlich so abgehandelt, als seien alle Philosophen non-naturalistische Normrealisten (vgl. ebd., S. 209), denen man nun versöhnlich beikommen müsse – der Mensch sei ja schließlich wohl »auch« ein rationales Wesen. 379 Wie u. a. Ott (vgl. ebd., S. 25) annimmt.

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Die Forschungsachsen der Moralpsychologie

4.1 Die Forschungsachsen der Moralpsychologie Aus der Schnittmenge der kognitionswissenschaftlichen Studien zu den Phänomenen der Moral (Selbst, Werte, Abwägung, Begründung, Handlung) und den (meta-)ethischen Debatten in der Philosophie entwickelte sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts ein interdisziplinäres Projekt der Moralpsychologie, das nach dem Zusammenhang von mentalen Prozessen und dem tatsächlichen Verhalten der Moral Agents fragt. Dazu formuliert Joshua May eine erste Eingrenzung des Forschungsprogramms: How do we form our moral judgments, and how do they influence behavior? What ultimately motivates kind versus malicious action? Moral psychology is the interdisciplinary study of such questions about the mental lives of moral agents, including moral thought, feeling, reasoning, and motivation. While these questions can be studied solely from the armchair or using only empirical tools, researchers in various disciplines, from biology to neuroscience to philosophy, can address them in tandem. Some key topics in this respect revolve around moral cognition and motivation, such as moral responsibility, altruism, the structure of moral motivation, weakness of will, and moral intuitions. Of course there are other important topics as well, including emotions, character, moral development, self-deception, addiction, well-being, and the evolution of moral capacities. Some of the primary objects of study in moral psychology are the processes driving moral action. (May 2015, S. 1)

Die Methodenwahl in der Moralpsychologie ist dem Selbstverständnis der Forscher entsprechend pluralistisch und hebt die Abgrenzungen zwischen geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Gegenständen ebenso auf wie die strikte Trennung von qualitativer und quantitativer Forschung. Forschungshypothesen und das Instrumentarium orientieren sich dabei weiterhin an zugrundeliegenden Konzepten der Moralphilosophie, d. h. der Metaethik, der Ethik, der experimentellen Moralphilosophie und der Angewandten Ethik. Von akademisch-philosophischer Seite aus ist nichts dagegen einzuwenden, die Psychologie – sozusagen als verlängerten Arm der Moralphilosophie – zur wissenschaftlichen Erforschung ethischer Konzepte einzusetzen. Psychologen hingegen fühlen sich häufig durch diesen »Auftrag« zum »bloßen Mittel« der Philosophie degradiert und konstatieren zudem eine philosophische Verwässerung der empirischen Studien (vgl. Lapsley & Narvaez 2005). Zwischen den beiden Disziplinen findet vor allem eine Auseinandersetzung über die Rolle von 279 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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phänomenologischen Anteilen an den moralpsychologischen Studien statt, wenn etwa die Frage nach der Abhängigkeit menschlicher Entscheidungen von moralischen Abwägungen und Reflexionen gestellt wird. Da die Moralpsychologie aber heute durch die Methode der Mixed Methods sowohl auf qualitative als auch auf quantitative Anteile in ihren Studien zurückgreifen kann, werden die zuvor als recht einseitig empfundenen Forschungsprogramme durch eine pluralistisch aufgestellte Methodologie signifikant erweitert: Noch bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein stehen die Studien von Jean Piaget, Lawrence Kohlberg und Carol Gilligan zur (horizontalen und vertikalen) »Stufenfolge« von moralischen Kompetenzen prototypisch für die gesamte Moralpsychologie. 380 Die kognitive Psychologie mit ihrem entwicklungspsychologischen Schwerpunkt setzt dabei auf die experimentelle Erforschung (Beobachtung und Interview) von ontogenetischen Prozessen in kybernetischer Interdependenz (Rückkopplungen, Äquilibrationsprozesse) von logischen (Sensomotorik, präoperationale, konkret-operationale, formal-operationale Prozesse), sozialen und moralischen Aspekten. Vor allem die lange Zeit nicht berücksichtigte Untersuchung Piagets, wie stark Moralität unter dem Einfluss sozialer Faktoren steht, 381 wird seit der einflussreichen Publikation von Owen Flanagans »Consciousness Reconsidered« (1992) in der kognitionswissenschaftlich ausgerichteten Psychologie aufgegriffen. Flanagan betont dabei für Psychologie, Neurowissenschaft und Phänomenologie (moderat naturalistisch), dass jede Sichtweise für sich allein ohne Erfolg bleiben müsse und dass eine interdisziplinäre Forschung, etwa die Kognitionswissenschaft, den Forschungsgegenständen »Bewusstsein« und »Moral« angemessener sei. 382 Aus diesen Überlegungen 380 Vgl. die ausführliche Aufarbeitung der Entwicklungspsychologie im Sammelband von Lapsley & Narvaez (2004). Von Georg Lind (2002) wird der Bestand dieser Befunde in das sog. Zwei-Aspekte-Modell integriert, das sich aus Piagets und Kohlbergs Konzepten der Moralentwicklung gleichermaßen speist und auf die Messbarkeit der moralischen Urteile sowie auf die Umsetzung der Ergebnisse im Bildungssektor eingeht (vgl. ebd., S. 37). In den neueren Varianten ist er sich sicher: »Moral ist lehrbar!« (2015). Um Verhaltensmuster erfassen zu können, werden dazu affektive und kognitive Parallelen in Erwägung gezogen (vgl. in Anlehnung an Damon 1983). 381 Bis heute ist die formale Fragestellung virulent, ob Moralität vom Individuum selbst »generiert« oder ob sie aus der Umwelt »rezipiert« wird und – je nachdem – durch welche Faktoren sie beeinflusst wird (vgl. ebd. S. 281). 382 Flanagan et al. berufen sich in ihren Studien also nicht auf den eliminativistischen, physikalistischen Naturalismus (vgl. Flanagan et al. 2008, S. 7), sondern ganz im

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heraus ging schließlich der sog. Embodiment-Ansatz hervor, der die »Einbettung« von Organismen in ihre jeweilige Umwelt ganzheitlich berücksichtigt. 383 Anhand dieser kurzen Skizze der Entwicklung von moralpsychologischen Forschungsparadigmen wird bereits deutlich, dass die interdisziplinären Projekte genau wie die Metaethik ontologische, epistemologische und linguistische Präsuppositionen bedienen und dass auch innerhalb dieser Studien die Wahl der Forschungsmethoden durchaus vom Weltbild bzw. von der Weltanschauung des jeweiligen Forschers beeinflusst wird. 384 Die oben durchgeführte UnterSinne von Flanagan (1995) wollen sie sich auch den Erlebenszuständen über die entsprechenden Wissenschaften annähern (Soziologie, Anthropologie, Psychologie, Kognitionswissenschaften). Die empirischen und materialistischen Hypothesen der naturalistischen Neurokonstruktivisten stellen entgegen dem von anderen Kollegen kritisierten Alleingang der (starken) szientistischen Naturalisten kein Problem für den transzendentalen Idealismus dar, solange sich die Forscher wissenschaftstheoretisch auch gleichzeitig auf die relationalistischen Präsuppositionen besinnen (vgl. ebd., S. 196). Hinzu kommt der direkte soziale Bezug, denn unter der Voraussetzung, der einzige Mensch auf der Welt zu sein (vgl. ebd., S. 18), nach universalen Normen zu fragen, sind die Aussichten auf Erfolg sehr gering (vgl. ebd.) und wenn man auf etwas Universales stößt, dann ist es die »ratio« (ebd., S. 19) in Kombination mit konstruierten Vermögenszuschreibungen wie dem freien Willen und den sozialen Konstrukten »Verantwortung« und »Schuld«. In diesem Zusammenhang spiegelt sich das Selbstverständnis der Neurowissenschaftler aber wiederum im Einsatz der Instrumente: Szientistische Realisten gehen davon aus, dass ausschließlich die wissenschaftlichen Beschreibungen der Welt zutreffen, während naive Realisten auch diese Sichtweise als durch die Messinstrumente »konstruiert« bezeichnen würden. Als szientistischer Forscher erhärtet Dick Swaab in »Wir sind unser Gehirn« (2013) den Reduktionismus-Verdacht der Gegner des engen, starken Naturalismus und verweist so auf ähnliche Debatten in Deutschland, die nach der Publikation von »Das Manifest« geführt wurden. 383 Seit Francisco Varela, Eleanor Rosch und Evan Thompson in »The Embodied Mind« (1991) sowie George Lakoff und Mark Johnsons »Philosophy in the Flesh« (1999) u. v. m. konnten leibphänomenologische und pragmatistische Konzepte in den naturwissenschaftlichen Forschungen etabliert werden, die zugleich auch entwicklungspsychologische und evolutionistische Kategorien für die Beschreibung von Erkenntnisbildung, Informations- und Energieaustausch kombinieren. Auch in diesen Forschungen gibt es selbstverständlich Diskussionen, u. a. in Bezug auf die Art und Weise des Austauschs oder um eine »terminologische Konfusion«, die die Embodiment-Theorie als »alles andere als eine postkognitive Wende« (Hickok 2015, S. 260 f.) thematisieren. 384 Unter die sprachlichen Aspekte der Moral fallen in den neuesten Studien auch soziale Phänomene wie das »Tratschen« (gossip), das eine wichtige Rolle in der Gestaltung von gesellschaftlichen Moralphänomenen einzunehmen scheint und am deutlichsten im strategischen Vorsprung durch die Kenntnis des Leumunds der ande-

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suchung zur Dialektik der Metaethik und die in diesem Zug an ihre Stelle gesetzte pragmatistische Methodologie betrifft also möglicherweise auch die Paradigmen der Moralwissenschaften: 385 Das Vorurteil etwa, transzendentale und empirische Fragestellungen schlössen sich gegenseitig aus, 386 ist für eine pragmatistisch forschende Moralphilosophie, respektive Moralwissenschaft, sicherlich nicht mehr aufrechtzuerhalten, denn insgesamt zielen die Wissenschaftler derzeit auf eine gemeinsame Architektonik der unterschiedlichen Forschungsperspektiven ab. 387 Eine solche umfassende Architektonik beren Personen mündet. Die Charakter-Zuschreibung von Authentizität verspricht stabile Verhaltensmuster; Unaufrichtgkeit führt vielleicht zu einmaligen egoistischen Vorteilen, aber bei einem regen »Gossip« nicht zum nachhaltigen Vorteil im Verhältnis von Gruppenmitgliedern. 385 Erweiterungen durch die Fortschritte aus der Emotionspsychologie und der Zusammenarbeit von Kognitionswissenschaften und Philosophie sind daher für die Adaptionen der Moralpsychologie reiche phänomenologische Jagdgründe, vgl. etwa die »existentiellen Grundemotionen« bei Ratcliffe (2008). Im Zuge der Affective Revolution (vgl. Haidt 2013 in Bezug auf Arthur Zajonc 1980 und vgl. Meyer 2002 zur Vorarbeit von Wilhelm Wundt und dessen Schüler Georg H. Schneider (v. a. Schneider 1882)) und einer »Wiedergeburt« der bei Shweder & LeVine (1984, vgl. auch Shweder 1980) anthropologisch ausgerichteten Cultural Psychology (vgl. Haidt 2013, S. 283) konnten kulturelle Unterschiede in der Beschreibung der traditionellen Moralkategorien flächendeckend berücksichtigt werden. Zusätzlich ließen sich diese Phänomene nun auch kulturell in ein Kontinuum von vollständig automatisierten bis zu vollständig kontrollierten (»from fully automatic to fully controlled«) mentalen Prozessen einbetten (vgl. Haidt 2013, S. 284). Diese Erkenntnisse wurden in der Automatic Revolution aufgegriffen und schließlich durch die neuen technischen Methoden der »neurowissenschaftlichen Revolution« bestätigt (vgl. ebd., S. 284). Evolutionstheoretisch fundierte Studien konnten in der Primatologie (insbesondere durch de Waal et al.) auf sog. building blocks hinweisen, die hauptsächlich sozial-emotionale Fähigkeiten (vgl. ebd.) umfassen, und damit den Einfluss einer Kombination von Evolutionary Psychology und Moralpsychologie legitimieren. 386 So wird etwa im sog. Bindungsproblem und dem Postulat eines unerforschbaren Ego (»mind-I«) geschlussfolgert (vgl. Flanagan 1992). 387 Ein im Sinne einer kritischen Wissenschaft legitimer Überblick über die Entwicklung der Psychologie des 20. Jahrhunderts wurde von Jonathan Haidt (2013) erstellt, an dem ich mich im Folgenden zunächst orientieren werde. Dabei müssen diese Bemühungen konsequenterweise ebenfalls den transzendentalen Anforderungen entsprechen (vgl. Malti & Krettenauer 2013, S. 397 u. S. 409). Im folgenden Überblick greife ich vor allem auf die Sektoren Sozialpsychologie und Entwicklungspsychologie zurück, was sich aus der psychologie-internen Diskussion um die empirische Nachvollziehbarkeit der Tiefenpsychologie rechtfertigen lässt. Im Zentrum der folgenden Darstellung stehen aber nicht die pathologischen und medizinischen Projekte, sondern die Ergebnisse der derzeit führenden psychologischen Institute – u. a. die Moral Psychology Research Group (MPRG) und das Harvard Moral Psychology Research

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deutet jedoch keineswegs auch die Annahme einer Supertheorie, die aus einem einzelnen Forschungsansatz heraus alle Phänomene der Moral erklären könnte, wie dies noch in den 1970er Jahren durch eine mögliche Biologisierung der Moralpsychologie für die Erforschung von Emotionen, Motivationen etc. angedeutet wurde (vgl. Wilson 1975). 388 In der aktuellen Moralpsychologie werden meist fundamentalkomplexe Schemata entwickelt, deren Prinzipien lediglich dazu dienen, die offenen und selbstverstärkenden Prozesse der tatsächlichen zwischenmenschlichen Interaktionen zu dokumentieren und für die Wissenschaft zu modellieren. In dieser Hinsicht referiert Haidt die moralischen Abläufe so, dass Individuen zunächst über ihre »Intuitionen« moralisch angeregt werden, um dann in einem zweiten Schritt erst zu einem strategischen »Reasoning« zu greifen (vgl. ebd., S. 286 ff.). Seiner Meinung nach umfasst Moralität dabei mehr als nur das Abwägen von Nutzen, Schaden oder Fragen der Gerechtigkeit (»harm and fairness«, vgl. ebd., S. 289). Haidts Social Intuitionist Model (SIM) proklamiert demnach, dass Moralität zugleich binde und blende (»Moral binds and blinds«, vgl. ebd., S. 294). 389 Haidt beLab (MPRL) –, angesiedelt um Koriphäen wie Daniel Kahneman und Walter SinnottArmstrong. Die sozialen Studien konnten so auf Rituale, gemeinschaftsbildende Prozesse und Wertkohärenzen sowie auf eine »Psychology of Religion« ausgeweitet werden. Diese Forschungsrichtungen werden nach wie vor sowohl in der Evolutionären Erkenntnistheorie (EET) als auch im Embodiment-Konzept ausgearbeitet. 388 Vgl. Illies (2006, S. 173): Je nach Argumentationsbasis ergeben sich dabei ganz neue disziplinäre Zusammenstellungen: Sieht man z. B. ethische Urteile als erfahrungsbasiert an, dann kommen sie auf diese Weise in der Natur vor und können über biologische Reaktionen erklärt werden (plus Gruppendynamik etc.); die Ethik tritt dann als Subdisziplin der Biologie (vgl. ebd., S. 67) auf (was von Illies nicht begrüßt wird). 389 Haidt reflektiert seine SIM entsprechend: »Since I published the SIM, many critics have focused on the ›intuitionist‹ part […], sometimes chopping off the social part entirely. […] As I wrote in the original ›Emotional dog‹ article: »The discussion thus far may have given the impression that the model dismisses reasoning as post-hoc rationalization […]. However it must be stressed that four of the six links in the model are reasoning links, and three of these links (3, 5, and 6) are hypothesized to have real causal effects on moral judgment. […] In the social intuitionist view moral judgment is not just a single act that occurs in a single person’s mind. It is an ongoing process, often spread out over time and over multiple people. Reasons and arguments can circulate and affect people, even if individuals rarely engage in private moral reasoning for themselves.« (Haidt, 2001, p. 828, emphasis added) My claim is that each of us is flawed as an individual reasoner. We are each cursed by the ›confirmation bias‹ (the tendency to seek only evidence that will confirm our pre-existing beliefs

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dient sich in seinem Modell bspw. evolutionsbiologischer Ablaufschemata, um eine algorithmische Form der moralischen Entscheidung anzuordnen: Emergenz und Rückkopplung beschreiben einen wissenschaftlich analysierten Ausschnitt einer holistischen Realität, nämlich das soziobiologische Entstehen von Kognition aus Natur und Körperlichkeit (von alten zu jungen physiologischen Anlagen) und aus der Einbettung in eine Umwelt, die insbesondere kulturelle Wechselwirkungen erkennen lässt; trotzdem findet eine erste Affizierung immer von außen statt.

[Nickerson, 1998]) and nobody has yet figured out a way to ›debias‹ people (Lilienfeld, Ammirati, & Landfield, 2009). Reasoning evolved to serve an ›argumentative function‹ (Mercier & Sperber, 2011). Yet, when you put flawed reasoners together into a social group, such as a jury, an advisory board or a legislature in which there are good social relationships among the members (unlike the US Congress), good reasoning can emerge, because each person’s confirmation bias is challenged by others. Reasoning matters a great deal for moral change and progress. But it is a mistake for moral psychologists to focus on the reasoning of lone individuals reacting to a moral judgment vignette and to conclude that reasoning is where the action is. Wilson was right. The action in moral psychology is in the ›emotive centers‹ (or affectively laden intuitions more broadly) and the philosophical arguments are to some extent generated post-hoc as a way of making sense of those feelings.« (ebd., S. 288) Von Dawkins übernimmt Haidt zusätzlich »[the] conviction that two simple processes are sufficient to explain the origin of morality: kin selection (Hamilton, 1964) and reciprocal altruism (Trivers, 1971). It was so simple, so beautiful, so … parsimonious« (ebd., S. 292), und in verfeinerter Variation dann von Wilson »that human nature is a product of multi-level selection. He argued that Darwin had it exactly right. People compete within groups, while at the same time, groups compete with groups. […] Groups that achieve coherence vanquish groups that do not. We are all descended from groups that achieved some degree of coherence and Wilson argued that religions co-evolved (as cultural products) along with religious minds (as biological products) over the course of the tens or hundreds of millennia in which human groups have been competing with each other over scarce resources, such as territory. Wilson showed, in a series of case studies, that religions do, in fact, solve the free rider problem that Dawkins (and Williams, 1966) thought was fatal for group selection accounts. Shared gods, rituals, myths and values really to help people to trust each other and achieve together feats that they could not do on their own (Norenzayan & Shariff, 2008; Shariff, Norenzayan, & Henrich, 2009). Conservative and traditional moralities seem generally well suited to preserving moral communities of this sort, even if Turiel would dismiss rules such as ›though shalt have no other gods before me‹ as mere social conventions.« (Haidt 2013, S. 292 f.)

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Triggering Event A’s Intuition

1

A’s Judgment

5 2

A’s Reasoning

4

B’s Reasoning

B’s Judgment

Four main links: 1) Intuitive judgment 2) Post-hoc reasoning 3) Reasoned persuasion 4) Social persuasion

3

B’s Intuition

Two rarely used links: 5) Reasoned judgment 6) Private reflection

Figure 2.4. The social intuitionist model. Intuitions come first and reasoning is usually produced after a judgment is made, in order to influence other people. But as a discussion progresses, the reasons given by other people sometimes change our intuitions and judgments. Abbildung 4: Haidts Modell der SIM (Haidt 2013, S. 287)

Haidt bestätigt mit diesem Modell nachdrücklich, dass durch die Aufhebung des Behaviorismus und der Kritik an der Psychoanalyse eine neue Sozialtheorie der Kognition und schließlich die angedeutete Ausweitung der Forschung auf die Kognitionswissenschaften – mit Anteilen der Kybernetik, Informatik, Neurowissenschaften etc. – initiiert werden konnte (vgl. Haidt 2013, S. 281). Die Gewichtung der ontogenetischen Prozesse musste in der Folge dieses Katalogs revidiert werden. Obwohl man die Unterteilung der Entwicklungsphasen auch heute noch berücksichtigt (vgl. Boom, Brugman & van der Heijden 2001), wird nun aber zusätzlich anerkannt, dass die ErstePerson-Perspektive sich mit jeder Reflexionsleistung immer auch an der obersten Grenze (»cap«) der eigenen Entfaltung befindet und daher keinen exponierten Zugang zur Moralität beinhaltet: Die Feedback-Schleifen der Selbstbeobachtung und die Analyse von Spiegelungen durch andere Lebewesen »triggern« zwar den jeweiligen Akteur auf seine weiteren Handlungsmotive hin, doch bewegen sich auch diese Impulse weiterhin inmitten eines größeren sozialen Gefü285 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

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ges. 390 Unter der Federführung von Haidt et al. entstand im Rahmen der MFT daher der Versuch, eine wissenschaftliche Übersicht über die relevanten Kriterien dieser Vernetzungen zwischen Erster- und Dritter-Person-Perspektive zu erstellen (vgl. ebd., S. 289). 391 Es wird vor allem in den ausgewählten Kategorien für die Vorschläge eines Tugendkatalogs oder für die Integration von wissenschaftlichen Schemata deutlich, dass hier wieder eine starke Zunahme von traditionellen philosophischen Einflüssen auf die (wehrlose?) Psychologie verzeichnet werden kann (vgl. Lapsley & Narvaez 2005, S. 25). 392 Unter Kritikern solcher qualitativ-quantitativer Ansätze wird vor allem die phänomenologische Komponente als kontraproduktiv und ergebnisverzerrend gebrandmarkt. Stattdessen müsse die genuin empirische Forschung von sozialen kognitiven Prozessen gestärkt werden (vgl. ebd., S. 27 ff.), womit eine Naturalisierung und Psychologisierung der Moralpsychologie einhergehen würde. Selbstverständlich handelt es sich hier um einen Vorschlag, mit dem die Vertreter der »naturalized ethics« bei vielen Psychologen offene Türen einrennen, aber bei einer ganzen Reihe von Philosophen auf Unverständnis stoßen. 393 Wie etwa Peter Singer im Vorwort von »Praktische Ethik« 390 Sowohl die sensomotorischen Kreisprozesse der Äquilibrationstheorie als auch die pluralistischen Methodenmodelle greifen damit pragmatistische Vorlagen auf (»doubt-belief«-Schematismus, »Self«-»I«-»Me«, Viabiltät …), die oben vor allem in der Moralphilosophie Deweys volle Einbindung finden konnten. Die Kritik an diesen pragmatistischen Modellen scheint jedoch insgeheim mit einer gewissen Zurückhaltung gegenüber der Philosophie einherzugehen: Insgesamt wird der zu starke Einfluss des Kantianismus in Bereichen der Entwicklungspsychologie kritisiert. 391 Diese Untersuchungen führen seither auch zur Annäherung von »cross-cultural anthropology«, Primatologie und Evolutionstheorie. Die Objektivität dieser Basismerkmale wird allerdings nach wie vor kontrovers diskutiert (vgl. zur Kritik Haidt 2013, S. 290). 392 »It narrows the scope of inquiry, introduces the mixed argument into scientific discourse, and misdirects and distorts the mission of psychological inquiry. But we think there is an additional negative side effect of philosophical assumptions on the contemporary research agenda in moral psychology. The assumption of phenomenalism is one of the distinguishing assumptions of the Kohlbergian tradition, but it is widely embraced by alternative research programs that have their roots in the cognitive developmental tradition. According to Kohlberg, Levine, and Hewer (1983, 69), ›The assumption of phenomenalism is the assumption that moral reasoning is the conscious process of using ordinary moral language.‹ […] In our view, however, the assumption of phenomenalism has contributed to the isolation of moral development research from the broad trends of recent psychological research.« (Lapsley & Narvaez 2005, S. 25) 393 Der größte philosophische Mangel ist damit die ausgebliebene empirische Erfor-

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(2013) betont, leite sich Ethik weder aus einem religiösen Verbotekanon noch aus einer reduktiv biologistischen, respektive naturalistischen Wissenschaft her, sondern bilde eine universale, rationale und im utilitaristischen Sinne »objektive« Disziplin der Philosophie. schung der kognitiven Aktivitäten von moralischen Akteuren (»moral agents«), die deshalb zum eigentlichen Feld der Moralpsychologie erklärt wird, um die Vernachlässigung der Moralität (»attenuation of the moral domain«) (ebd., S. 27) durch eine Naturalisierung und Psychologisierung der Methoden (vgl. ebd., S. 29) zu kompensieren, anstatt metaphysische – ich ergänze: metaethische – Konzepte hinzuzuziehen. Vor allem sprechen sich Lapsley & Narvaez für eine Stärkung der sozial-kognitiven oder naturalistischen Ansätze (social cognitive psychology) in der Betrachtung der Moralentwicklung (vgl. ebd., S. 21: nach Christine McKinnon) aus, die die normative Ethik in der empirisch erforschbaren menschlichen Natur begründen (»defensible account of human nature«, vgl. ebd., S. 22). Ein (m. E. philosophisches) Vorbild findet sich nach Lapsley & Narvaez eben in der Theorie von Johnson (1996): Demgemäß sei der gesamte Zweig der Phänomenologie kontraproduktiv für die aktuelle Psychologie (vgl. Lapsley & Narvaez 2005, S. 27). Selbst wenn man aber wie Sytsma und Machery (2012) die Hypothese verteidigte, die beiden Quellen der moralischen Haltung (»moral standing«) seien aus dem Laienverständnis bzw. der alltagspsychologischen (Folk Psychology«, vgl. ebd., S. 309) Unterscheidung von Erfahrungen und Handlungen (vgl. ebd., S. 308) immer schon vorgebahnt (»geprimed«), wäre die Beeinflussung der alltagsnahen Selbstkonzepte der Menschen durch die Vorurteile der Philosophie nachdrücklich erkennbar. Die Moralpsychologie sei also an einer entscheidenden »Kreuzung« angekommen und Lapsley & Narvaez kämpfen daher im o. g. Bindungsproblem (»boundary problem«) zwischen Philosophie und Psychologie für eine Psychologisierung der Moral (»more psychology«) anstelle einer philosophischen Isolation der Moralpsychologie (»moralizing psychology« (ebd.)) von den übrigen psychologischen Feldern. Unter (äußerst) kritischer Würdigung der phylo- und ontogenetischen Entwicklungspsychologie greift der Sozialpsychologe Walter SinnottArmstrong in der Sammlung »Moral Psychology« dieses naturalistische Leitbild auf, wobei auch in diesem Fall Schwerpunkte wie Naturalistische Ethik und Symbolentwicklung im Verhältnis von Mensch und Tier gesetzt werden. Vgl. die Arbeit der »Research Group« um Harman et al.: www.moralpsychology.net. (Stand: 30. 05. 2021) Vgl. zur genaueren Differenzierung der metaphysischen, gemäßigten, reduktionistischen etc. Naturalismen: Flanagan (2008, S. 430–452). Flanagan, Sarkissian & Wong (2008, S. 1–27) plädieren demgemäß für eine Naturalisierung der Ethik, doch sei es hier gerade der Naturalismusbegriff, der spezifiziert werden müsse: Eine Zuordnung der Ethik zu »human ecology comitted to pluralistic relativism« (ebd., S. 1) soll durch den Zusatz neokompatibilistischer Elemente (»Duke Naturalism«) eine Alternative zum eliminativistischen Naturalismus (»Australian Ethical Naturalism«) und zum »Pittsburgh Naturalism« bieten. Für diese szientistischen Naturalisten und ihr einseitiges Verständnis von Rationalität (vgl. Illies 2006, Kap. 4 u. 5) bleibt die empirisch fundierte Wissenschaft das einzige Instrument für die »ernsthafte« Erforschung der Moral und sollte daher auch rückwirkend die philosophischen Diskurse bestimmen, bei denen die Autoren wegen der einflussreichen metaphysischen Tradition noch Aufholbedarf vermuten. Paradigmatisch solle also heute der Ansatz einer »neuen Natu-

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Aus philosophischer Sicht wäre es also geradezu naiv, zu leugnen, dass die Erforschung der »Moralen« genuin auf den Aufgabenbereich der empirischen Wissenschaften reduziert werden dürfe. Vielmehr sollte die Wahl der wissenschaftlichen Methoden durch eine geeignete Methodologie reflektiert werden, um die Nachvollziehbarkeit der moralischen Studien zu wahren. Darüber hinaus wird die Frage, was es überhaupt bedeute, eine Entscheidung in einem moralisch relevanten Kontext 394 zu treffen, von der philosophischen Handlungstheorie fast einhellig an die Fachwissenschaften delegiert. Da es aber bei der Frage nach dem Ursprung von Verbindlichkeit und Moralität um Voraussetzungen geht, die als Geltungsprobleme notwendig bereits im Vorfeld einer empirisch arbeitenden Moralpsychologie geklärt werden müssen, 395 schützt gleichsam der (transzendentale) Einfluss der Philosophie die Psychologie vor einem »Psychologismus«. 396 Tatsächlich wiederholen sich auch auf dieser Ebene die Positionierungen der Metaethik: Realistische Naturalisten setzen für die objektive Gültigkeit ihrer empirischen Studien fast durchgängig ralisierung« gelten, nämlich: eine eindeutige Klärung der methodischen Voraussetzungen und eine transparente Gestaltung der Forschungshypothesen. Diese Forderungen erinnern an klassische Texte der pragmatistischen und positivistischen Autoren um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, denn auch damals wurden supernaturalistische Autoriäten, Apriorizität von selbstevidenten, intuitiven, fundamentalistischen Annahmen und zum Teil auch non-naturalistische moralische Fakten empirisch angegriffen. Die einzige akzeptierte wissenschaftliche Methode bei diesen naturalistischen Hardlinern besteht in der naturwissenschaftlichen Erforschung natürlicher Fakten. In einer knappen, ex negativo geführten Definition des Naturalismus im weiteren, schwachen Sinn grenzen sich die Autoren vor allem von jeder Art des Supernaturalismus ab, da der »Ethik« noch immer eine enorme religiöse Erblast und diverse antinaturalistische Vorurteile (bes. in den USA, vgl. ebd., S. 2) nachgesagt werden könne. 394 Dazu zählen Gefühlszustände, Stimmungen, Befindlichkeiten (vgl. Schnall, Benton & Harvey 2008, S. 1219), aber auch Klima, geographische Lage, Erziehung, Sozialisation, kultureller Kontext u. v. m. 395 Eine solche Argumentation findet sich bereits bei Schwartz (1968, S. 356). Des Weiteren wehren Flanagan et al. gekonnt die Vorurteile des radikalen Relativismus und Nihilismus gegen den Naturalismus ab, doch für die Autoren, an die sie sich damit wenden, sind diese Figuren nach wie vor »open questions«. Ich denke, dass exakt an dieser definitorischen Engführung eine relationale Bindung nachgewiesen werden kann, die dem transzendentalen Idealismus wieder entgegenkommt. 396 Der Begriff »Psychologismus« stammt zwar nachweislich bereits aus Erdmanns Erwiderung gegen Beneke (vgl. Kusch 2005, S. 101), der die Philosophie durch die Psychologie grundlegen wollte, wird aber von Peirce, Husserl u. a. systematisch verwendet, um die transzendentale Methode von der Psychologie abzugrenzen.

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einen transzendentalen Realismus voraus. 397 Die der Philosophie gegenüber offen gestalteten Positionen der Moralpsychologie arbeiten hingegen mit multiperspektivischen, oftmals konstruktivistischen Konzepten, die von relationalen und anti-dualistischen Grundpositionen gestützt werden. Transzendentaler Idealismus und Naturalismus ergänzen einander, trotz oder gerade wegen ihrer abweichenden Explanationsebenen: 398 »And it is the transcendental level of investiga397 Durch Plausibilitätsgründe weisen diese Autoren oftmals auf den durch Hume vorbereiteten neokompatibilistischen Weg hin, der die naturwissenschaftliche Erforschung der menschlichen Natur begründet. Hierbei wird übersehen, dass Hume – wie die meisten angelsächsischen Empiristen und Sensualisten – vollständig auf einer ideistischen Epistemologie (vgl. »Humes fork«: impressions and ideas) aufbaut und damit einen transzendentalen Idealismus ›avant la lettre‹ vertritt. 398 Wie diese philosophische Seite in die Wissenschaften hineinwirkt, wird in einem Sammelband von Smith & Sullivan (2011) umfassend dokumentiert: Da als »transzendental« bei Kant die Erschließung der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis definiert wurde, führt die transzendentale Methode zu Grundlagenfragen (vgl. ebd., S. 5), denen sich die Wissenschaften nicht entziehen können, insofern sie diese selbst auf die ein oder andere Weise bedienen. So lancieren Sullivan et al. die Verbindung zwischen transzendentalem Idealismus und moderat naturalistischen Schlüssen durch einen Verweis (vgl. ebd., S. 9) auf Oliver Sacks (2000 u. 2005), der »transcendental constraints« und »transcendental features« ganz im Sinne der MFT-Module differenziert. Diese beiden Facetten greifen den transzendentalen Idealismus als kognitivistische Argumentationsstrategie auf, die jede Erscheinung durch die Strukturen des Bewusstseins (constraints) oder durch die »features alternatives to which we cannot currently conceive« (ebd., S. 10) konstituiert. Die Psychologen postulieren dazu entweder kognitive Strukturen, die als Bedingung der Möglichkeit angenommen werden, oder eben »Features«, die im Moment des Schließens je »für mich« alternativlos auftreten. In einem von Knobe, Prasada und Newman (2013, S. 241, 1. Sp.) formulierten dualen Charakterkonzept wird sogar suggeriert, dass zwischen konkreten »features« und abstrakten Werten eine Verbindung besteht, die zum Prozess der Realisierung von Vorstellungen/»Idealen« führt, da zwischen konkreten Bestandteilen und eben diesen Idealen eine kategoriale Einheitlichkeit existiert. Wie Wolfgang Kuhlmann (1993, S. 96) – und insgesamt die Transzendentalpragmatik (vgl. o.) – annimmt, ist die Begründung einer normativen Ethik nur auf transzendentalem Wege möglich, nicht empirisch; für die Sachverhalte der Welt greife umgekehrt jedoch die hierauf aufbauende (empirische) Psychologie (vgl. ebd.). Tatsächlich ist das, was Laurence Tancredi (2005) über die Moralfunktionen des Gehirnaufbaus vermittelt, nach biologischer Sichtweise äußerst aufschlussreich. Emotionszentren, Kooperations- und Reaktionsmöglichkeiten, Vernetzungen, Spiegelneuronen u. v. m. erklären uns neuronale Entsprechungen/Grundlagen des Gehirns für moralphilosophische Topoi: »Although morality is a social construct, it would not exist without the brain.« (ebd., S. 34) Als Zankapfel bleibt die Annahme der synthetischen Urteile a priori bestehen: »Here it is useful to consider Kitcher’s distinction between what he calls the ›official epistemological‹ conception and the ›tacit knowledge‹ conception (Kitcher 2006) […].«

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tion and explanation that is considered fundamental. Certainly, at the empirical level, natural scientific methods can show us that space and time are real, and can determine their properties.« (Smith & Sullivan 2011, S. 15) Wie auch die MFT demonstriert, greift für diese Art der Grundlagenforschung der Vorwurf eines »Formalismus« nicht länger, da die Philosophie ihrerseits stets in die »gewöhnliche Erfahrung« der Lebenswelt eingelassen bleibt. In diesem Sinne antizipiert die sog. Positive Psychologie eine pragmatistische Wende in der Moralforschung. 399 Was Hare noch ganz abstrakt als die beiden Ebenen (intuitiv und kritisch) moralischer Entscheidungen skizziert, wird im Folgenden – in Anlehnung an Daniel Kahnemans »dualen Prozess« (vgl. Kahneman 2015, S. 65 f.) – ein wenig plastischer veranschaulicht: Die Selbstkontrolle ist zwar das zentrale Moment der sog. Glückshypothese, jedoch sitzt dieser (selbst-)bewusste, autonome Reiter (System 2) in Haidts Bild auf dem Rücken eines Elefanten (System 1), der die evolutionär älteren Module des Individuums sowie seine Emotionen darstellt. 400 Viele Entscheidungen seien dem jeweiligen Reiter-Elefant-Gespann durch phylo-, onto- und soziogene(ebd., S. 16) In dieser Form, d. h. in Kitchers pragmatistisch verfeinerter Version der Apriorizität, können auch Naturalisten (ontologische, methodologische und epistemologische, vgl. ebd., S. 17) ohne Selbstwiderspruch argumentieren. 399 In der Tradition von Martin E. P. Seligman et al. entwickelt Haidt (2014) sogar eine »Glückshypothese«/Glücksformel: »G = S + L + A« (Glückseligkeit = Sollwert + Lebensbedingungen + freiwillige Aktivitäten), bei der die oben beschriebene Kontrolle nach David Glass und Jerome Singer die entscheidende Komponente ausmacht (vgl. ebd., S. 132) – auch Resilienz- und Reaktanzphänomene werden hier integriert. »Innen« und »Außen« sollen in eine Harmonie gebracht werden. Diese relativ junge Disziplin kombiniert einen neu erworbenen Hang zur Spiritualität (im Sinne einer »intellektuellen Redlichkeit«) mit einem aufgeklärten Umgang der praktischen Vernunft mit »un(ab)lösbaren« metaphysischen Fragestellungen. 400 Dieser duale Prozess strukturiere zwar lediglich ein Modell für die Entscheidungsbildung, das aber durchaus dazu in der Lage sei, die vier traditionellen Unterteilungen des Geistes (nämlich: Geist-Körper, ebd., S. 19; links-rechts (Gehirnstrukturen), ebd., S. 21; neu-alt (Evolutionstheorie der Systeme), ebd., S. 25; kontrolliert-automatisch (vgl. SIM), ebd., S. 29) abzubilden. Dass diese traditionellen Strukturmerkmale in Konflikten stehen, ist der hier vorliegenden (integrativen) Theorie zufolge ein vorläufiges Resultat der Evolution. Je »neuer« dabei ein Prozess, desto anfälliger sei er für Fehler – je älter die evolutionäre Entwicklung, desto sicherer seien die hierauf aufbauenden Systemleistungen. »Machteinflüsse« kontrollierter und automatischer Prozesse (ebd., S. 34, mit Hinweis auf Versuche von Mischel et al., vgl. ebd., S. 35 f.) hätten mehr Gewicht im Rahmen der emotionalen Intelligenz, in die sich das Denken mit seinen rationalen Prozessen einmische (vgl. ebd.). Vgl. Wegner (s. Anmerkungen ebd., S. 38): »ironische […] Prozesse mentaler Kontrolle«.

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tische Erfahrungsprozesse »intuitiv« vorgegeben, weil hier emotive Konstrukte die Leitung des Wollens übernähmen (vgl. ebd., S. 40) bzw. eine Art Netzwerk von »motivated reasoning« verkörperten (vgl. ebd., S. 97). Diese Anteile der automatischen Entscheidungsverfahren bestehen bei Haidt aus manifesten Gewohnheiten, die aber auch weiterhin durch Impulse wie bspw. ein »affektives Priming«, Erziehung, Ideale usw. beeinflusst werden können. 401 Für die bewusste Abwägung von konkreten Handlungsalternativen gilt hingegen das utilitaristische Kalkül als ein mögliches Instrument des Reiters, bestimmte Wege einzuschlagen oder zu meiden. 402 Das Macht-Ver401 Tugenden verkörpern in diesem Ansatz die Verbindlichkeit von Moralvorstellungen in sozialen Gefügen, denn in einem Vergleich zur Entwicklung von gesellschaftlicher Diversität herrscht in den moralischen Vorstellungen der Wunsch nach Orientierungsfunktion. Das »Designprinzip« nach Pinker (vgl. ebd., S. 50 f.) zeigt auch, dass die Amygdala Abkürzungen komplexer Entscheidungen bereitstellt, sodass die genetische Veranlagung in neueren Studien einen immer größeren Einzug in die Erklärung der Charakterbildung erhält (vgl. ebd., S. 55 ff.). Zur Änderung des affektiven Charakterstils empfehlen sich nach Haidt drei Wege (vgl. ebd., S. 58): Meditation, kognitive Therapie und Fluoxetin. Die Wertvorstellungen ihrerseits werden bei Haidt durch soziale Narrative (vgl. dazu auch MacIntyre, Taylor, Ricoeur et al.) auch im »Äußeren« perpetuiert und reflektiert, um auf diese Weise Gegenseitigkeit und Altruismus in ultrasozialen Gemeinschaften zu konstituieren. 402 Elinor Amit & Joshua Greene (2011) demonstrieren mit ihren sozialen Sprachhypothesen in einer Versuchsreihe, dass Menschen mit visual kognitiven »Stärken« zu deontologischen, Menschen mit einem Hang zu verbalen kognitiven Formen aber zu utilitaristischen Abwägungen neigen. Diese Untersuchung bezieht sich direkt auf die grundlegendere Annahme des Dual-Prozesses von regelgeleiteten (»rights of the individual«) und utilitaristischen Ebenen (»greater good«, vgl. ebd., S. 861) und zählt die Utilitaristen zu den deliberativen Ethikern, die moralische Probleme durch eine Berechnung entscheiden, während deontologische Modelle Regeln beachten, deren Grundlage eine lange einstudierte Charakter- oder Gewohnheitsstrategie ausmache (vgl. ebd.). Auch Greene versucht, die moralphilosophischen und moralpsychologischen Konzepte zu verbinden, indem er die Einrichtung einer Metamoralität (vgl. ebd., S. 25 f. u. S. 54 f.) zur Lösung des Widerstreits von evolutionär geprägtem Ingroup-Verhalten (u. a. reziprokes »tit for tat«, Abneigung gegen Gewalt, Vergeltungsdrang, gemäßigte Xenophobie und Pflege gemeinsamer Werte, Sprache und Ziele) und notwendiger gruppenübergreifender Zusammenarbeit zu lösen. Für moralische Entscheidungen hält das »moralische Gehirn« Intuitionen bereit (vgl. Intuitionen nach Haidt, ebd., S. 60 als »moral machinery«, vgl. ebd., S. 64), wobei soziale Diversität (vgl. ebd., S. 83) und vorgeprägte moralische Verständnisse von Gerechtigkeit und Fairness (durch lokale Werte und religiöse Vorstellungen gefördert) Hand in Hand gehen. Im Zuge der Globalisierung gibt es aber allgemeine Probleme, die sich nicht durch einen kommunitaristischen Ansatz wie bei Haidt lösen lassen (vgl. ebd., S. 98). So kann zusammenfassend auf mindestens sechs Strömungen der Psychologie zurückgegriffen werden (vgl. ebd., S. 99), die nun in die Moralpsychologie eingebun-

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hältnis zwischen Intuition und Rationalität nach Haidt wird durch die Figuren »Reiter« und »Elefant« also eindrücklich vermittelt. In einer der prominentesten Forschungsinitiativen der jüngeren Moralpsychologie übernimmt Joshua Greene (2013) die Ausgangshypothesen von Kahneman und Haidt und variiert lediglich die Analogiebildung: 403 Er illustriert das Verhältnis der beiden Prozessebenen 404 durch den Vergleich zu einer Kamera, die in der Autoden werden sollen. Dazu setzt Greene die Systeme nach Kahneman ein (ab ebd., S. 105) und zeigt an einer Reihe von Experimenten und Rückgriffen auf Studien von Damasio et al. (vgl. ebd., S. 119), wie die multi-process-Theorien (vgl. zur KameraAnalogie: ebd., S. 136 f.) und fundamentalkomplexe Prozesse (Feedbackschleifen: vgl. ebd., S. 133 f.) die Moralpsychologie bereichern können. Drei Arten von »Versuch und Irrtum« (vgl. Greene 2013, S. 143) sowie drei Mechanismen des »getting smart« (ebd.) lassen die Aufbauten und die Interaktionen der automatischen und der manuellen Ebenen der Systeme erkennen, hier in direkter Entsprechung zu Hares kritischer und intuitiver Ebene. Die Umsetzung, sozusagen die situative Vernunft, resultiere aus dem PFC als »general-purpose problem solver, an optimizer of consequences« (ebd., S. 199) für willkürliche Entscheidungssituationen; doch selbst eine Intuition entspringe nicht aus dem Nichts, sondern basiert auf langwierig etablierten Gewohnheiten und Haltungen. Dementsprechend zeige sich in der korrekten Einschätzung des Charakters und der stetigen egoistischen Verhaltensweisen der anderen Gemeinschaftsmitglieder ein enormer sozialer Vorteil, wenn man die zwischenmenschlichen Beziehungen auf rationale Spielsituationen und auf Prognosen realer sozialer Abläufe übertrage. 403 Greene et al. nennen im Sinne einer Analogiebildung zum moralischen Urteil ein von Shane Frederick entlehntes Beispiel (vgl. Kahneman 2015, S. 61), bei dem das eigene intuitive Urteil über den Einzelwert zweier Gegenstände allein auf Grundlage von deren Summe von den Probanden selbst meist als falsch erkannt wird. Weitere Beispiele bzw. Dilemmata mit offener Abwägung sind z. B. das Trolley-Problem, die Nazi-Besetzung etc. Die Debatte, die Greene mit Selim Berker führte (neben einigen anderen Diskursen, vgl. o.) – Berker argumentiert, dass Greenes Forschung irrelevant für die Einschätzung (»assessment«) von normativen ethischen Theorien sei –, wird von Campbell & Kumar (2012) aufgelöst, indem sie Moral auf eine naturalistische Erkenntnis zurückführen. Derart behaupten sie, dass Greenes Studien zwar normativ signifikant sind, aber keineswegs die Rolle der Deontologie in der Ethik bedrohen. Hier wird eine Theorie des »moral consistency reasoning« entwickelt, die eine Regulation der beiden Systeme beinhaltet. 404 Auch Greene nutzt für seine Dual-Process-Modelle (ohne expliziten Bezug auf Hares Zwei-Ebenen-Modell) Studien zur Relation von präfrontalen Kortexschädigungen und dem davon abhängigen Anstieg utilitaristischer Entscheidungsfindungen (Greene 2007, S. 2009). Greenes Deutung des Utilitarismus (in direkter Nähe zur Forschung von Racine et al. 2010) rückt jedoch die Philosophie dabei näher an die Neurowissenschaften heran, statt sie weiter von ihnen zu entfernen. Gewohnheiten auf der einen Seite und »rational choice« auf der anderen Seite wurden in der Moralpsychologie als dichotomische Modelle verstanden, wenn sie nicht ab ovo entwick-

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matik-Einstellung eigenständig die Motive ausleuchtet, den Blitz steuert etc., während die manuelle Einstellung nur in ungewohnten Situationen einspringt und die Automatik durch einen deliberativen Prozess ersetzt (vgl. Greene 2013, S. 136 f.). Im deliberativ bewerteten Einzelfall entspreche das kritische Abwägen von Handlungsoptionen einem Handlungsutilitarismus, der prinzipiell nutzenorientiert kalkuliere und daher nach einer konkreten und offenen Abwägung urteile (vgl. ebd.). Durch die Integration von Smiths Konzept der »sympathy« gelingt Greene die Überleitung von der natürlichen Egozentrizität zu einem rationalen Ideal der Unparteilichkeit von moralischen Akteuren, das – in Wirklichkeit nie erreichbar – als Maßstab für soziale Interaktionen durchaus funktional sei. Diese Verschränkung von Perspektivität und assoziativer Rollenübernahme setze ein Multi-Process-Model voraus (vgl. Greene et al. 2012, S. 50), denn eine rein deontologische Moraphilosophie mittlerer Reichweite könne weder den Ursprung einer Verpflichtung selbst liefern, noch könne lungstheoretisch verbunden wurden. Eingelassen in einen äquilibrativen Prozess, bei dem ein internalistischer Balanceakt im Verhältnis von Selbstwert und altruistischem Verhalten vorausgesetzt wird (vgl. Sachveda, Iliev & Medin 2009, S. 528), findet auch das »moral balancing« seine Anknüpfung an diese ontogenetischen Prozesse (vgl. Cornelissen, Bashshur, Rode & Le Menestrel 2012), führt aber je nach psychologischer Theorie geradewegs in die Differenzierung von Deontologie und Konsequentialismus zurück (vgl. ebd., S. 482 f.). Man sieht im Rahmen der Erweiterung des dualen Prozesses in Minimalist Moral Dual-Process-Models (MMDP), dass Informationsprozesse der Kognition immer auch auf die emotionale Ebene ausgeweitet werden, ebenso wie umgekehrt der Einfluss der Intuitionen auf das Denken stets einen signifikanten Status erhält – wie die Relationen der Wirkungsbereiche verteilt sind, wird allerdings auch weiterhin mit der Konsistenz des jeweiligen Forschungskonzepts abgeglichen. Selbstverständlich sind alle konsequentialistischen Urteile durch Gefühle beeinflusst (vgl. ebd., S. 280). In Anlehnung an Jerry A. Fodors »Modularity of Mind« (1983) versuchen Campbell & Kumar deshalb auch nachträglich, Versäumnisse des MMDP zu kompensieren, nach denen ein Wandel im moralischen Urteil rein über kognitive Prozesse erklärt werden sollte (vgl. Campbell & Kumar 2012, S. 286). Sie zeigen, dass den Personen selbst also nicht bewusst sein muss, wie zwei Urteile als (in-)konsistent empfunden werden könnten; hier arbeite das schnelle, automatische System. Das Denken und »Reasoning« auf der manuellen Ebene hingegen sei bei all diesen Systemtheoretikern langsam, kontrolliert, bewusst etc., doch das »Reasoning« der Konsistenztheorie hat zusätzlich den Vernunftanteil mit der »›target‹ situation consistent with our emotion-driven intuition about a ›base‹ situation, actual or hypothetical. In the course of this reasoning, we engage in conscious and deliberative processes, namely, in describing to others or ourselves various situations and identifying the most salient differences« (ebd., S. 291). Dementsprechend wirke nach Greene die mit Emotionen gekoppelte Gehirnzirkulation direkt auf das Verhalten ein.

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sie eine zufriedenstellende Strategie zur Lösung konkreter Probleme anbieten. 405 Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese – methodologisch gesehen – »hybriden« Studien der Moralpsychologie die Lücke zwischen den ethischen Ebenen durch kontinuierliche Übergänge schließen: 406 Statt nämlich Emotionen und Vernunft (»reason«) zu kontrastieren, wird das ursprüngliche Zwei-Ebenen-Modell in MultiProcess-Theorien transformiert, um fließende und rückgekoppelte Verhaltens- und Denkmuster wissenschaftlich untersuchen und abbilden zu können. Neuropsychologische Befunde unterstützen dabei die Thesen zum (elefantösen) Einfluss der Intuitionen und nehmen trotzdem die philosophischen Vorlagen von »controlled, deliberative systems« (reason) sowie »basic appetitive systems« vollkommen ernst (vgl. Greene 2013, S. 138). Psychologen systematisieren diese Komponenten allerdings durch genetische, neuronale und hormonelle Kategorien (vgl. ebd., S. 137) und erklären die Aufgaben dieser Module und Features durch evolutions- und soziobiologische Prozessbeschreibungen (vgl. ebd., S. 139). Auf diese Weise können intra405 Dabei führt Greenes eigenes Forschungskonzept so weit, dass er von Seiten der Deontologen als Befürworter der neuronalen Prozesse und Emotionen, von der MFTFraktion jedoch als »Kantianer« eingeschätzt wird (vgl. MFT 2012, S. 32): »In Greene’s dual-process model, cognition and emotion are analogized to John Stuart Mill (cool utilitarian reasoning) versus Immanuel Kant (deontological principles, which are, paradoxically, based in emotion), fighting it out in the brain. However, Greene agrees with the basic intuitionist claim that rapid, automatic, affectively-laden processing often drives moral reasoning and turns it into rationalization.« (ebd.) Vgl. zur Rehabilitierung der Emotionen bei Kant in Alix Cohen (Hg.) (2014): Pauline Kleingeld kritisiert Greenes Einschätzung der Deontologie (vgl. ebd., S. 147 ff.) – doch werde Greene heute selbst von der MFT als Kantianer eingestuft. Insgesamt zeigt Kleingeld aber (vgl. ebd., S. 163), dass Kant nicht ganz falsch liege. Nancy Sherman (vgl. ebd.) belegt zusätzlich, dass Kant sich immer wieder auf empirische Annahmen bezieht (vgl. ebd., S. 25 u. S. 29; dort finden sich auch Hinweise zur Einschätzung von Korsgaards Kantianismus aus moralpsychologischer Sicht). Die Rückschlüsse auf Greenes Kantbild sind damit aber nicht so eindeutig möglich, wie etwa Kleingeld et al. vermuten. 406 Am Beispiel des »kognitivistischen Expressivismus« ließe sich dies nachvollziehen: Emotionen motivieren, aber kein Philosoph kann sagen, wie bzw. wodurch sie motivieren (vgl. Nichols & Prinz 2012, S. 111). Eine Emotion kann nämlich als »moral motivator« eingestuft werden, wenn die moralische Emotion mit paradigmatischen Fällen von moralischen Regeln verbunden ist und zu einer der folgenden Kategorien gehört: prosoziale Emotionen, »self-blame«-Emotionen, »other-blame«-Emotionen (vgl. ebd., S. 122). Ebenfalls mit Sicherheit kann festgehalten werden, dass auch umgekehrt moralische Normen immer emotional besetzt sind (vgl. ebd., S. 121).

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personale und interpersonale Perspektiven gleichermaßen in die Auswertung moralischer Situationen integriert werden: »Likewise, in the now-versus-later dilemma, the greater good is for oneself (intrapersonal), while in the footbridge dilemma it is for several others (interpersonal). Nevertheless, at the most general functional level, and at the level of functional neuroanatomy, we see the same pattern.« (ebd., S. 140) 407 Diese Beschreibungen lassen sich nun zusätzlich mit der persönlichen, qualitativen Relevanz der bewussten oder unbewussten Moral-Kriterien aus der Kamera-Analogie versehen. Greene bezeichnet dieses Konzept als Deep Pragmatism und versteht darunter ein »pragmatisches« egoistisches Moralverständnis: Jedes Lebewesen wählt das, was ihm selbst den Umständen entsprechend am nützlichsten erscheint. So why is the human manual mode utilitarian? I don’t think that it’s inherently utilitarian. Rather, I think that utilitarianism is the philosophy that the human manual mode is predisposed to adopt, once it’s shopping for a moral philosophy. So let’s rephrase: Why is the manual mode predisposed toward utilitarianism? The manual mode’s job is, once again, to realize goal states, to produce desired consequences. (ebd., S. 198)

Moralität ist demnach nicht durch natürliche Prädispositionen gegeben, 408 sondern sie manifestiert sich nach Greene in beiden Modi

407 Es werden also nicht alle Differenzen in den Feinabstimmungen des utilitaristischen Kalküls geklärt: Bei Hare wird statt auf die Zielgruppe eher darauf geachtet, ob »ich« denke, zwei objektive Interessen zu vergleichen, oder ob ich mir bewusst bin, zwei Präferenzen, wie sie mir nach bester Erwägung und Informationslage erscheinen, aus zwei möglichen Ich-Perspektiven heraus abzuwägen. Dies macht selbst dann noch einen gravierenden moralischen Unterschied, wenn die neuronalen Muster gleich sind. Ich denke, dass man diese Bedeutungsverschiebung und den damit verbundenen Verlust an ethischer Relevanz berücksichtigem muss, eben weil Greene ja ausdrücklich für jeden einzelnen Aspekt der zu erforschenden Zusammenhänge auf eine philosophische Begründung setzt: Die Rolle des VMPFC, das aus Erfahrung der viszeralen Zustände (»gut-feelings«) zur Überbrückung der Deliberationen installiert und damit zu Anweisungen (»advices«) befähigt wird, kann genauso wie das DLPFC, das neue Lerninhalte assimiliert und zur Gewohnheit werden lässt, in traditionellen moralphilosophischen Konzepten berücksichtigt werden. Es handelt sich je um persönliche Erfahrungen, die situativ und ontogenetisch relevant sind, während die Phylogenese nur rein theoretisch hinzugezogen wird. 408 Auch im Rahmen der Biologie kann selbstverständlich formuliert werden – vgl. das »Selfish Gene« (Dawkins 1976), den »Expanding Circle« (Singer 2011) und den »Turm von Hanoi« (Vollmer 2008) –, wie die Vernunft mit Nachdruck in das moralische Selbstverständnis eingreift. Hier wirkt m. E. die o. g. »sympathy«, die schon bei

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erst dadurch, dass ein altruistischer Utilitarismus 409 eine Unparteilichkeit der Prozeduren und Fairness im Lösen von Konfliktfällen bewusst angestrebt wird. »Hot preferences« stehen dabei »cool cognitions« nicht einfach gegenüber, sondern sie werden (mutual) ineinander transformiert, um ein cost-benefit-Verfahren unparteiisch und doch motivationsstiftend ausführen zu können: »Maximize happiness impartially« (ebd., S. 203). 410 Je stärker Personen in einem solchen Verfahren zu Neubewertungen (»reappraisal«) tendieren und alte Intuitionen überdenken, desto »moralischer« und zugleich überlegter fällt deren Entscheidung in Testsituationen aus. Offen bleibt allerdings zu diesem Zeitpunkt noch, ob dies alles überhaupt in gleicher Weise bewusste Vorgänge sind (vgl. Feinberg 2011, S. 793). Diese Ergebnisse stimmen aber zumindest mit neurowissenschaftlichen Erhebungen überein, die von Greene et al. seit 2008 durchgeführt

Mill als kultivierbare Fähigkeit eines starken Gemeinschaftsgefühls beschrieben wird und die heute auch auf neuronaler Ebene bemüht wird. 409 Aus der künstlich generierten Kontraposition »me vs. us« wird also ein mutiger und nachhaltiger Deep Pragmatism (vgl. ebd., S. 344), dessen Werteskala aus seinem »impact on our experience« resultiert (vgl. ebd., S. 349). Dass Kant im Rahmen einer solchen Wohlfahrtsmoral (vgl. ebd., S. 353) nicht besonders »freundlich« dargestellt wird, liegt nach Greene an der mangelnden Praktikabilität der Deontologie; doch dieses Problem wurde oben ja durch den Übergang Kant-Utilitarismus-Pragmatismus bereits »beseitigt«. Es ist demgemäß auch bei Kant nicht mehr von einer »dualistischen Konzeption praktischer Gründe« auszugehen, wie Klemme in »Moralische Motivation: Kant und die Alternativen« (2006, S. 142) als richtungsweisend postuliert. Klemme geht von einem an der Autonomie anderer Menschen orientierten normativen Externalismus aus, der gepaart mit einem motivationalen Internalismus auftritt (nicht deckungsgleich mit einem »kognitiven Sinn moralischer Normen«, sondern auf das Gefühl der Achtung rekurrierend, vgl. ebd.). 410 Indizien für eine solche Unterscheidung werden aber durchaus gestützt durch »Cognitive Reflection Tests« (CRT) (vgl. Paxton, Ungar & Greene 2011), bei denen eine direkte – und das heißt hier: intuitive, automatische – Reaktion in der Überzeugungsbildung stattfindet. Für die Neurowissenschaftler kann durch einen Aufschub der Urteilsbildung und Entscheidungsfindung jede moralische Überzeugung verändert werden. Für die moralische Entscheidung muss aber zusätzlich in Erwägung gezogen werden, dass unter Umständen keine eineindeutige Schlussfolgerung entstehen kann, sondern – wie McKinstry, Dale & Spivey (2008, S. 22) zeigen – durchaus ein Gefühl der »Zerrissenheit« (»to feel torn«, ebd.) auftritt (vgl. Paxton & Greene 2011, S. 10). Gleichzeitig besteht ein erster Feedback-Gedanke darin, dass nach Feinberg et al. (2011) in einer Situation moralischen Urteilens eine emotional geprägte Intuition aktiviert wird, die dann entweder den Einfluss dieser Emotion zugunsten einer situativen Deliberation schwächt, oder – ohne Neubewertung – die Emotion verstärkt (vgl. ebd., S. 789).

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wurden und in denen die Beurteilung von Dilemmata in persönlicher und unpersönlicher Hinsicht variiert: These data, however, are correlational and do not demonstrate a causal relationship between emotional responses and moral judgments. […] Previous reaction time (RT) data (Greene et al., 2001) suggest that controlled cognitive processes drive utilitarian judgments, but these data are inconclusive. Alternative evidence comes from a subsequent neuroimaging study (Greene et al., 2004) […]. (Greene et al. 2008, S. 3)

Diese zentrale Instanz der Moralität als kognitive Kontrollprozesse mit utilitaristischem Kalkül wird von Greene (2013) durch das Hineinversetzen (»sympathy«) in den Anderen ergänzt. Zu diesem Akt des Rollentauschs muss eine formale Phänomenalität des Daseins sowie ein personales Inertialsystem vorausgesetzt werden, damit eine Appräsentation auf neuronal verkörperter Grundlage überhaupt erfolgen kann. 411 Im transzendentalen Idealismus lassen diese Annahmen zusätzlich den Schluss auf die Selbstbeschreibung dieser Lebewesen als freie Wesen zu; und auch die Moralpsychologie hat entsprechende Präsuppositionen untersucht.

411 In der »Humanforschung« wurde die Entdeckung der Spiegelneuronen 1988 in Parma als physische Voraussetzung für die Empathie bei Primaten (die Versuche wurden an Makaken durchgeführt) und Menschen gefeiert und bis heute ist die einschlägige Kritik (etwa durch Gregory Hickok (2015, S. 23 f.)) nicht über die Kreise der Spezialisten hinaus angekommen. Die Übertragung wurde nach drei Argumentationslinien aufgebaut (TMS-Studie, PET-Studie, pathologische Studie, vgl. ebd., S. 27 f.): »Doch bei einem genaueren Blick auf die Studien beim Menschen zeigt sich, dass die Geschichte, die das Forscherteam aus Parma zu erzählen versucht, so nicht aufgeht.« (ebd., S. 42 f.) Das Verstehen von Handlungen und das Hineinversetzen in die Gefühlszustände anderer Lebewesen kann weder durch die TMS- (bei der nicht zwischen der Messung der neuronalen Aktivität im »kanonischen Neuronensystem« in Bezug auf Handlungsbeobachtung und Gegenstandsbetrachtungen unterschieden wurde) noch durch die PET-Erhebung erklärt werden. Gerade die in der TMS-Studie ausgelassene Unterscheidung beim Menschen führt zu Zirkelschlüssen, die aus der Festsetzung nur einer von vielen möglichen Annahmen – dass der Mensch ebenso wie der Affe ein Spiegelsystem habe – resultieren: »Beim Menschen besteht anders als beim Affen keine Überlappung zwischen Handlungsbeobachtung und Handlungsausführung; auch tritt während der Handlungsbeobachtung keine Aktivität an der genau richtigen Stelle im Gehirn auf.« (ebd.) Trotzdem schließen die Studien »auf einen möglichen gemeinsamen stammesgeschichtlichen Mechanismus für Sprache und Gestenverständnis« (ebd.). Bezeichnenderweise macht Hickok exakt denselben logischen Fehler für die Neurobiologie wie für die Moralphilosophie aus.

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4.2 Zur Verbindung von erlebter Freiheit und Kontrolle in der Moralpsychologie Neben den intuitiven moralischen Automatismen der sozialen Einflussfaktoren hat Moralität im eigentlichen Sinne ihren Ursprung in der Kontrolle des Individuums über seine bewussten Entscheidungen, Handlungen und Attributionen. 412 Die Selbstkonzepte »Freiheit« und »Autonomie« bilden folglich die beiden Grundvoraussetzungen für die Identität eines moralischen Akteurs (»moral identity«) und das Erleben der phänomenalen Freiheit müsste auf die Grundlagen der transzendentalen Philosophie zurückgeführt werden können. 413 Um 412 Eine Adaption der »Reaktanztheorie« an die Dual-Process-Models kann besonders im Rahmen der Moralphilosophie für Aufschluss sorgen: Auf der Ebene des Alltäglichen und des »Resentments« geht man von einem System-1-Vollzug der Erfahrung von Handlungsimpulsen und emotionalen Widerständen aller Art aus. Exakt diese reflexive Beschreibung führt bereits zu einer zweiten Facette, die als kognitive Seite den »blutleeren« universalen Standpunkt besetzt (System 2). Vgl. dazu Strawson (1962, S. 205 ff.) als mögliche Verbindung zwischen Reaktanztheorie und Hares intuitiver Ebene. Die weitere Argumentation ist darüber hinaus auch angebunden an die Attributionsforschung und damit an die Ausläufer der Emotionstheorie und Rotters »locus of control«-Ansatz (1954) sowie die sozialpsychologische Studie »The psychology of interpersonal relations« Heiders aus dem Jahre 1958 (vgl. auch Meyers Vermutung der teils wechselseitigen Verhältnisse zwischen Fühlen, Denken und Handeln 1999, S. 172). Attributionstheorien begreifen den Menschen als ein rational Informationen verarbeitendes Wesen, das seine Umwelt zu verstehen versucht; der Mensch bleibt dabei nicht auf einer deskriptiven Ebene singulärer Aussagen stehen, sondern sucht gewissermaßen induktiv (vgl. Niketta 1981, S. 4) nach den Ursachen eines Ereignisses. Komplexe Strukturen des moralischen Urteils sind daher möglicherweise in kausalen und intentionalen Attributionen, also nicht-moralischen Voraussetzungen für Kontrolle (vgl. Cushman & Young 2011), begründet und durch »relatively simple moral computations« bestimmt (Derived Model, vgl. ebd., S. 1071). Diese Voraussetzungen sind aber (kybernetisch gedacht) ihrerseits wieder abhängig von den Erfahrungen der Kontrollierbarkeit von Handlungen und ihren Folgen. Als Voraussetzung werden kognitive Fähigkeiten erfordert, die das oben beschriebene Selbstverständnis als freies Wesen entfaltet haben. 413 Das moralische »Selbst« ist vor dem Hintergrund der Selbstzuschreibung von Freiheitserleben und der Bestimmung von Kontrollmöglichkeiten in Handlungssituationen auch in Identitätskonzepte (Identity Theory, vgl. Stryker & Burke 2000) eingebunden. Diese Konzepte erweitern Stets & Carter (2013) unter explizitem Bezug auf Augusto Blasis (1984) Entwurf für die dichte Beschreibung von moralischer Identität in der Moralpsychologie so, dass sie für die Sozial- und Moralpsychologie in dem hier bevorzugten Sinne der Dual- oder Multi-Process-Models in gleicher Weise greifbar werden: In einem Kontinuum von moralisch guten oder negativen Phänomenen schlägt bei der Beobachtung von eigenen Handlungen dann ein negatives Gefühl an, wenn die Abläufe nicht im Gewohnten verortet werden können. Bezeichnenderweise

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diesen letzten Nachweis des Kontinuums moralischer Phänomene von der abstrakten Grundlegung bis in die erstpersonale Qualität hinein zu präsentieren, nutze ich in diesem Abschnitt nun eine Theorie aus der Psychologie, die wegen ihrer behavioristischen Wurzeln für gewöhnlich eher in der Marktforschung als in der Moralphilosophie eingesetzt wird: Die sog. Reaktanztheorie entstand in den Forschungen Jack W. Brehms (1966) im Rahmen der psychologischen Dissonanztheorie (vgl. Farr 1996, S. 67) und hat ihre grundsätzlichen Parameter seitdem kaum verändert, nämlich: »the expectation that he posseses freedom to begin with, the strength of the threat to his freedom, the importance of the freedom threatened, and the implications of the threat for his other freedoms« (Wortmann & Brehm 1975, S. 283). Der Ort der Reaktanztheorie ist die Sozialpsychologie mit ihren vielfältigen interdisziplinären Anknüpfungsmöglichkeiten. So wurde bereits in den frühen Studien rund um das Phänomen »Reaktanz« eine Verbindung zum Konzept der »Erlernten Hilflosigkeit« nach Seligman erarbeitet und besonders in den Bereichen der therapeutischen und klinischen Psychologie fand die Prognostizierbarkeit von Reaktanz großen Anklang (vgl. Wright 2015, S. 267 u. Miron 2006). 414 Brehm präsentiert in seinen Artikeln zunächst einige Definitionen der Kernbegriffe »Reaktanz«, »Kontrolle« usw. und entwickelt

weichen nach Blasi Handlungen dann von zuvor getätigten moralischen Urteilen ab, wenn die Urteile nicht an die Persönlichkeit (Haltung, Einstellung, Meinung) gebunden sind. Dass entsprechend Integrität anstelle der Pflichturteile den Kompass für die moralische Handlung bilde, setzt m. E. einen hohen rationalen Anteil an der Selbstbestimmung voraus: Wie stark bin ich verantwortlich für eine Handlung? Welche Kontrollfähigkeit schreibe ich mir selbst zu? Handle und urteile ich konsistent zu meinem eigenen Selbstverständnis (vgl. Hardy & Carlo 2011, S. 496)? Moralische Identität ist daher also unabhängig von der moralischen Wertigkeit einer Sache oder einer Handlung; sie ist auf die Erkennbarkeit und Systematisierbarkeit zurückzuführen, deren (Nicht-)Anschlussfähigkeit durch emotionale Indikatoren signalisiert werden. Zugleich kann sowohl eine empirische moralische Entwicklung als auch eine quer dazu verlaufende Variabilität konstatiert werden (statt den universalen Stufencharakter der Moral weiter zu bedienen). 414 Weitere Wirkungsgebiete des Brehmschen Ansatzes sind die pädagogische Erforschung von Lernwiderständen und Trotz- bzw. Frustrationsverhalten sowie die Marketingforschung zum Konsumentenverhalten. In Deutschland wird seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem an der Universität Mannheim von Grabitz, Gniech & Dickenberger zu diesen interdisziplinären Projekten geforscht und entsprechend zur Erweiterung der Reaktanztheorie beigetragen.

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zur Illustration der Reichweite seiner Theorie dann hypothetische Beispiele (1966, S. 2 f.), die später in experimentellen Beobachtungen überprüft werden. Er geht davon aus, dass Menschen motivational erregt werden, wenn ihre empfundene, angenommene oder imaginierte Freiheit bedroht oder die Einschätzung der eigenen Kontrolle über die Folgen einer Handlung eliminiert werde. »Studies of this type generally find that subjects are quite reluctant to attribute an outcome to chance. They apparently prefer to believe that someone or something potentially controllable is responsible for people’s outcomes.« (Wortmann & Brehm 1975, S. 281) 415 Reaktanz sei entsprechend zur Kontrolle das Motiv, das dem Streben nach Wiederherstellung der je eigenen Freiheit zugrunde liege (vgl. Wortmann & Brehm 1975, S. 283). Wenn etwa eine gezielte Beeinflussung auf einen Menschen ausgeübt wird, um dessen Einstellungen zu manipulieren, wenn einem Menschen Hindernisse in den Weg gestellt werden oder wenn eine Freiheit durch eine zu große Anzahl von Wahlmöglichkeiten »ausgedünnt« wird, 416 können nach Brehm Reaktanzeffekte beobachtet werden (vgl. Bierhoff 1998, S. 171). 417 Die Theorie der psychologischen Reaktanz basiert also kurz gefasst auf der Annahme, Freiheitsverlust könne in einem direkten Verhältnis zu Kontrollverlust auftreten. Dabei ist jedoch zu beachten, dass »[…] Kontrolle und Freiheit zwar überlappende, aber nicht identische Konstrukte [sind]« (Niketta 1981, S. 2), denn wahrgenommene Kontrolle sei eine kon-

415 Die Schlussfolgerung von der erwarteten Freiheit auf die (Selbst-)Kontrolle über Handlungen und Handlungsfolgen beinhaltet bereits pragmatistische Anleihen sowie explizite Bezüge auf die Attributionstheorie (vgl. Rotter 1966: »Locus of Control« u. vgl. Lerner 1970, S. 207 f., zit. n. Wortmann & Brehm 1975, S. 281: »Since evidence of an unjust world threatens a person’s control over his potential outcomes, he is presumably motivated to distort reality so that the world appears just.«). Vgl. auch die Studien zur Kopplung dieses Ansatzes mit der Entwicklung des »Moral Judgment« in Bachrach et al. (1977, S. 1350, 2. Sp.). 416 Ein solcher Umschlag findet im Moment der Entscheidung statt. Zusätzlich tritt Reaktanz aber auch dann auf, wenn man (hypothetisch) eine Zielsetzung markiert und sich durch die Entscheidung zu bzw. Ausführung einer Handlung zur Eliminierung (Nichtung) sämtlicher Alternativen entschließt. Das Erzwingen einer Verhaltenseinschränkung verstärkt geradezu das Bestreben, dieses Verhalten, oder ein zumindest sehr ähnliches, an den Tag zu legen, solange die Möglichkeit noch nicht vollständig ausgelöscht wurde. 417 Das »integrative Modell« erklärt die zusätzlichen Facetten des Verhaltens aus diesem Grundkonzept heraus.

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Zur Verbindung von erlebter Freiheit und Kontrolle in der Moralpsychologie

tinuierliche Haltung, während wahrgenommene Freiheit den singulären Akt der Entscheidung ins Zentrum rücke (vgl. ebd.). 418 Die konkreten Auswirkungen der Reaktanz sind nach dem bisher geschilderten Umfang selbstverständlich vielfältig. Zusammenfassend kann man jedoch folgende Struktur erkennen: Ein Subjekt, das versucht, seine Freiheit zu erhalten, erhöht die Attraktivität der bedrohten Handlungsalternative oder spielt den Einflussfaktor der Bedrohung herunter. Reaktanz äußert sich dabei oftmals in Aggressionen, Wutausbrüchen und Anfeindungen gegenüber Personen, die die erlebte Freiheit bedrohen. Ein positiver Aspekt solcher Reaktionen besteht also in einer erhöhten Leistungsbereitschaft und einem gesteigerten Anstrengungspotential zur Wiederherstellung der Freiheit; unter bestimmten Umständen können jedoch auch Selbsterniedrigung, Nachgeben oder lügenhafte Versprechen als Strategien der Reaktanz beobachtet werden. Nicht die Moral, sondern der Zweck ist ausschlaggebend für die Bestimmung der Reaktanzarten. 419 Ihre jeweilige Intensität wiederum hängt zusammen mit der Höhe der Erwartungen und Wertsetzungen des Individuums in Bezug auf seine bisher empfundene Freiheit (aus Erfahrungen oder Gewohnheiten) und zugleich auf die Vehemenz der Bedrohung – die Unbeständigkeit der Welt selbst ist bspw. eine generelle, existentielle Bedrohungslage, die wir aber im Alltag zu einem akzeptablen Teil kontrollieren können. Kommt es nicht zur wirklichen Wiederherstellung der Freiheit, so kann das Subjekt sogar per Attribution eine Illusion von Freiheit erzeugen, wodurch unter Umständen die gesamte Bedrohung geleugnet oder auf interne Antriebe übertragen wird. Ein reaktantes Verhalten hat also mindestens zwei Spielarten: Die direkte Variante beschreibt diejenigen Möglichkeiten, die die Freiheit selbst retten; die indirekte Vorgehensweise weicht über eine Verlagerung der Kontrol418 Entsprechend können sowohl Entscheidungs- als auch »Ergebnisfreiheit« auch unabhängig von Kontrollerleben angenommen werden (vgl. Herkner 1993, S. 101). 419 Dass die Reaktanztheorie sich explizit von konkreten moralischen Wertungen freispricht, bedeutet nicht, dass nicht umgekehrt auch moralische Urteile zwischen Kontrolle und Kontrollverlust changieren. Diese Offenheit stammt ja gerade aus den Qualia des erlebten Freiheitsgefühls mit dem gesamten Umfang des Phänomenbereichs der sog. Ordinary Folk Morality. Die Konsistenz der moralischen Entscheidungsfindung (»moral reasoning«) hängt in diesem Konzept sogar vollständig vom Erleben der eigenen Kontrolle ab, das in moralischen Entscheidungssituationen »empfunden« und zusätzlich reflektiert wird.

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Die relationale Bewegung der Pragmatik am Beispiel der Moralpsychologie

le auf Bereiche aus, die dem bedrohten Verhalten ähneln oder in denen soziale Implikationen zu einem Ressentiment gegenüber dem Verhalten bei anderen Menschen führen (vgl. Dickenberger 1979 u. vgl. Niketta 1981, S. 23). Zusätzlich zu den aktiven Handlungspotentialen lassen sich dabei passive Reaktionen beobachten, die bis zu akuten Krankheitsbildern reichen: Depressionen, Antriebslosigkeit, Selbstaufgabe etc. fügen sich daher ebenfalls ohne Probleme in die Reaktanztheorie ein, wie das sog. integrative Modell von Reaktanz und Hilflosigkeit belegt: »Freiheitsverlust kann auch als Kontrollverlust betrachtet werden. […] Je wichtiger das unkontrollierbare Ereignis ist, desto größer sind Reaktanz und Hilflosigkeit.« (Herkner 1993, S. 104 f.) Die scheinbar widerstreitenden Verhaltens- und Gefühlsweisen zwischen einer Passivität bei Hilflosigkeit und gesteigertem Aktionspotential bei Reaktanzphänomenen bemisst seine Intensität in beiden Theorien an der Stärke des sog. Hilflosigkeitstrainings: Solange bei der Einschränkung der Freiheit eine Erwartung von Kontrollierbarkeit besteht, tendiert das Verhalten der Versuchspersonen in die Richtung der Reaktanz, wird jedoch Kontrolllosigkeit erwartet, tritt vermehrt ein erlernter Hilflosigkeitseffekt ein. 420 Die Dauer und 420 Auch nachdem eine Person unter Beibehaltung der Unkontrollierbarkeitsbedingungen die reaktante Widerstandsphase durchlaufen hatte, konnte in Versuchsreihen der Zustand der Hilflosigkeit als nachträgliche Phase festgestellt werden. Brehm (1989) geht auf der Basis dieser Ergebnisse sogar über die bloße Verschränkung der beiden Theorien hinaus: Er entwickelt ein Motivationsmodell, das potentielle und aktuelle Motivationen einführt. Potentielle Motivation kann Produkte der Erwartung und Wertungen der Ziele bestimmen sowie die Kosten/Anstrengungen einschätzen, die aufgewendet werden, um einen bestimmten Nutzen zu erreichen, während aktuelle Motivation ganz konkret genügend Energie für ein vorgestelltes, zielorientiertes Handeln aufbringen muss. Die beiden älteren Ansätze bilden also nun Spezialfälle des Motivationsmodells. Entscheidend für unseren hier gewählten Zugang zur Reaktanz bleibt die These, die Brehm (1972, S. 1) mit zunehmender Deutlichkeit heraustellt: »It is the thesis of this paper that there is a psychological process common to these various phenomena [sc. Ungehorsam eines Kindes, Widerwille gegen Beeinflussung etc. Beispiele dazu gibt Brehm in den vorhergehenden Eingangssätzen des Aufsatzes, W. M.]. Our understanding of this process – our explanation or ›theory‹ – allows us to see diverse events as closely related to each other rather than distinct, unrelated problems.« Um die grundlegende »Idee« zu illustrieren, bringt Brehm die Ausführungen auf den Punkt: »A person is motivationally aroused any time he thinks one of his freedoms has been threatened or eliminated. This motivational arousal, called ›psychological reactance‹ [Brehm 1966], moves a person to try to restore his freedom. The rest of the theory consists of indicating (a) the various ways freedom can be threatened or eliminated; (b) the factors that determine the magnitude of psychological reactance; and (c) the effects of psychological reactance on the individual’s behavior

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Zur Verbindung von erlebter Freiheit und Kontrolle in der Moralpsychologie

die Intensität einer erlernten Unkontrollierbarkeit beeinflussen dabei den Übergang zum jeweiligen Reaktanzeffekt. Das moralische Selbstverständnis – wie wichtig ist die Moralität überhaupt in meinem Selbstkonzept? – ordnet der Skala moralischer Bewertungen nun aber einen gesonderten Stellenwert im Sinne der Selbstkontrolle und in Hinsicht auf eine konkrete freiheitliche Zwecksetzung (Moralität, Reichtum, Ansehen …) zu. Aus einem starken und konsistenten Selbstkonzept folgt also nicht immer auch ein moralisches Verhalten und aus einem hohen Stellenwert der Moral folgt umgekehrt auch nicht notwendig ein starkes oder konsistentes Selbstkonzept. Konsistenz und Authentizität scheinen das substanzlose Selbst des Selbstkonzepts vor allem in Fragen der Moral anzuleiten, da die Moralpsychologie die Authentizität der eigenen Persönlichkeit mit Kontrollattributionen identifiziert. 421 Übertragen in die Beschreibung der transzendentalen Architektonik der Moral werden diese Kernmomente der moralischen Identität und der neutralen Reaktanz durch die vertikale Achse erklärt und – gemäß dem pragmatistischen Argumentationsverlauf – auf die Charakterbildung sowie auf die Relationen von Selbstbild und lebendigen Handlungsoptionen angewandt. Egal, welche Nuancen der Moralität das jeweilige Selbstkonzept einer Person demnach aufweist, auch für alle anderen Parameter des Identitätsnarrativs muss das Erleben der eigenen Person als freies Individuum bestimmend sein. 422 Alle übrigen and subjective feelings.« (ebd.) Weitere Kombinationen entstehen durch den Versuch Banduras (1977), die Hilflosigkeit in die soziale Lerntheorie einzubeziehen, während Frankel und Snyder (1978) die Ich-Bedrohung per Selbstkonzept als Erklärungsansatz für Motivationen entwickeln (vgl. Petermann 1992, in: Seligman 1999, S. 229 f.). Ein alternatives Konzept erstellt Kuhl (1981) in Anlehnung an die Leistungsmotivationsforschung, indem er die Hilflosigkeitserscheinungen in das System der Handlungskontrolle einbettet. 421 Die kontinuierliche Synthesis der Perspektiven, Reflexionen und Gefühlsebenen konstituiert das Selbstkonzept (als Ganzheit) (vgl. Stets & Carter, S. 408). Stets & Carter arbeiten aber mit mehreren Identitäten einer Person, die situativ angesprochen (»getriggert«) werden können und die an bestimmte Perspektiven auf das Selbstschema angegliedert sind. In bestimmten Situationen kann bspw. aus System 1 etwa Scham aktiviert werden, um durch ein kurzes beschämtes Innehalten die absehbaren Krisen oder Konflikte genauer abwägen zu können. 422 Aquino & Reed (2002) entwickeln ein Messverfahren für die »Wichtigkeit« (»SelfImportance«) eines moralischen Selbstkonzepts und moralischer Handlungspotentiale im Rahmen eines sozialen Selbstschemas (vgl. ebd., S. 1438). Ich denke, dass die neun moralischen Züge (»traits«), die Aquino & Reed ausfindig machen, heute auf die Tugenden der MFT (vgl. o.) reduziert werden können.

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Die relationale Bewegung der Pragmatik am Beispiel der Moralpsychologie

Relationen wie das Eingelassensein in eine soziale Wertegemeinschaft, die Verkörperung des Selbst in einer naturalistisch beschreibbaren Weltordnung oder auch das narrative Selbstkonzept bestätigen diese Dimensionen der Verbindlichkeit in der je entfalteten Haltung eines moralischen Akteurs. In den beiden entscheidenden Merkmalen der Reaktanztheorie, dem »Erleben der Freiheit« und der »Kontrolle«, treten die behavioristischen und epistemologischen Grundlagen des klassischen Pragmatismus in den moralpsychologischen Diskurs ein. 423

4.3 Zusammenfassung: Relationale Philosophie und empirische Forschung Die Ubiquität des Erlebens der Freiheit ist selbst moralinfrei, aber sie ist das Kriterium für die Art und die Stärke von konkreten Handlungsmotiven. Die Moralen regeln den Umgang mit anderen Menschen und den Ressourcen lokal. Entzieht sich das Erleben der Freiheit und das »Gefühl« der Einschränkung dieser Freiheit nicht grundsätzlich dem Selbstverständnis der neueren Moralpsychologie? Wie im ersten Abschnitt dieses Kapitels gezeigt werden konnte, gibt es zwei starke Tendenzen in der Moralpsychologie, die vor dem Hintergrund dieser Fragestellung unterschieden werden müssen, nämlich erstens die Tendenz einer Abspaltung der Moralpsychologie von der Phänomenologie und zweitens die Tendenz einer Annäherung der Moralpsychologie an die philosophischen Figuren der Grundlegung (Foundation) von Moralität und der Ausrichtung der Wissenschaften

423 Man kann nach Heckhausen und Schulz (vgl. Bierhoff 1998, S. 172 f.) eine Differenzierung von Kontrolle vornehmen, die an Piagets Schemata der Assimilation und Akkomodation erinnert: Primäre Kontrolle zielt diesem Konzept gemäß darauf ab, durch direkte Handlungen einen Kontrollverlust zu kompensieren, sekundäre Kontrolle beschreibt den Vorgang des operationalen Lernens unter den gegebenen Umständen. Überschätzt ein Mensch durch eine verzerrte Kontrollwahrnehmung seinen Einfluss auf die Umgebung, so spricht man von einer Illusion der Kontrolle, dem Gegenteil der erlernten Hilflosigkeit. So kann auch Selbstkontrolle eingebildet werden. Diese Kontrolle kann im Äußeren aber auch bewusst (d. h. kontrolliert) aufgegeben werden (Kontrollverzicht), wenn sie zur Erwartung negativer Folgen Anlass gibt. Im Inneren (hier im Sinne Vendlers als »Leibes-Access«) wird das Ego jedoch ebenfalls als Verursachendes in den Handlungsprozess hineingedacht. Vgl. dazu auch Oerter (1998, S. 548).

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Zusammenfassung: Relationale Philosophie und empirische Forschung

auf die Verbesserung des menschlichen Lebens (Positive Psychologie). Die Anbindung an die Relationalität in der Moralphilosophie kann für die Moralpsychologie wahlweise als radikaler Empirismus (James), als Ecological Psychology (James J. Gibson), als Phänomenologie oder als Konstruktivismus aufgebaut werden. Die einzige metaethische Sichtweise, die damit nicht von der pragmatistischen Methodologie der Moralphilosophie kompensiert werden kann, ist der transzendentale oder metaphysische Realismus, der Realismus mit »großem R« (vgl. Putnam 2011, S. 327 f.) und mit der Annahme, es gebe unabhängig vom Betrachter Werte (an sich), über die wir trotzdem (in ihrer Unabhängigkeit) sinnvoll eine Aussage treffen könnten. Bezeichnenderweise steuern diejenigen Bereiche der Moralpsychologie, die sich von der Moralphilosophie absondern – wie von Lapsley & Narvaez gefordert –, geradewegs auf einen solchen metaethischen naturalistischen Szientismus zu. Relationalismus ist aber auch unter Ablehnung dieser metaphysischen Variante des Realismus nicht als naiver Relativismus misszuverstehen. Bei den Herausforderungen durch radikale Varianten des Relativismus, Nihilismus, Skeptizismus oder Revisionismus schließe ich mich Thomas Nagel an, denn »[…] ich gelangte zu der Anschauung, daß die Antwort auf diese Positionen nicht auf metaethischer Ebene gefunden werden kann, sondern aus der Moralität heraus gegeben werden muss« (Nagel 1999, S. 7). Eben daher setzt die rationalistisch geprägte Argumentation Nagels auf Methoden der systematischen und überprüfbaren Rechtfertigung, die »universell berechtigte von unberechtigten Folgerungen unterscheiden und das Ziel verfolgen, die Wahrheit in nichtrelativem Sinne zu erreichen« (ebd., S. 8). Universalität bedeutet hier aber nicht direkt auch Allgemeinheit, sondern einen Rechtfertigungsgrund für jeden, der an meiner Stelle das gleiche tut, sprich: Ubiquität oder Universalität werden hier als notwendige Präsuppositionen der Moral bestätigt. Moralische Geltungsansprüche stammen dabei möglicherweise aus biologisch und psychologisch erforschbaren evolutionären Anlagen, doch »sobald die Unschuld verloren ist und das reflexive Bewußtsein begonnen hat, gibt es […] keinen Rückweg mehr, der zu einer bloß biologischen – soziologischen, ökonomischen oder politischen – Anschauung der eigenen Gedanken insgesamt führt« (ebd., S. 209). Um diese Teilperspektiven zu konservieren, arbeitet etwa die MFT eine theoretische Grundlegung mit relativistischem Kultur305 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Die relationale Bewegung der Pragmatik am Beispiel der Moralpsychologie

modell und empiristischer Ausrichtung aus. Dieser pragmatistische Charakter lässt sich in den (neuro-)psychologischen Befunden von Racine et al. sowie von Haidt, Greene et al. wiederfinden, in denen ein Deep Pragmatism (als alltäglicher Utilitarismus) und genetische Zwei-(plus x)-Ebenen-Modelle mit evolutionstheoretischem, sozialintuitionistischem und kritisch-deliberativem Bestandteil zum Tragen kommen. Die Grundlegung dieser Konzepte verlangt nach wie vor eine transzendentale Konstitution (vgl. o.: Sensen 2015), um Theorie und Praxis in gleicher Weise über die Vernunft zu begründen und zu verbinden. Die Ebene der Moralitätsbegründung muss auf alle Mores (vgl. Velleman 2013) anwendbar bleiben, welche konkrete Ausführung sie auch immer erfahren haben. Diese Verbindung lässt weiterhin den Meliorismus und den interkulturellen Diskurs zwischen Individuen unterschiedlicher sozialer und kultureller Prägung gelingen, ohne dass ein transzendentaler Realismus erforderlich wäre. Weder hinsichtlich der Vernunft noch hinsichtlich der Phänomene werden Substanzen oder Akzidenzien benötigt, solange die Mind-Dependency (Copp) und die Besinnung auf den Bezug interner Gründe (Williams) reflektiert werden. Transzendentaler Idealismus steht für die universale Verbindlichkeit der Relationalität, der empirische Realismus verhindert das Missverständnis eines daraus herleitbaren metaphysischen Realismus und setzt über die Bedürfnisse, Wünsche und Interessen hinaus auf das (in the long run) Wünschenswerte, d. h. auf eine Konstellation dynamischer Mittel-Zweck-Relationen unter Anleitung der praktischen Vernunft. 424 Kurz: »Wir sollten nicht im Modell rivalisierender Theorien denken, sondern im Modell verschiedener Teile praktischer Rationalität.« (Foot 2014, S. 29) In der Frage nach der Methodenwahl in den Moral Sciences dreht sich daher alles um die graduelle Verbindung von Theorie und Praxis: Wie beschreibe ich das, was ich ohnehin schon immer tue, gemäß den Methoden der Wissenschaft? In einem Aufsatz zum Thema »Values: the dynamic nexus between biology, ecology and culture« von Fischer & Boer (2016) wird deutlich, wie komplex die systematischen Strukturen sein müssten, um individuelle Wertvorstellungen über das Nervensystem des Individuums hinaus in der Vernetzung von natürlicher und sozialer Umwelt wissenschaftlich untersuchen zu können (vgl. 424 Damit entspricht Deweys Gesamtkonzept m. E. dem, was heute von Merlin Donald als »tiefgreifende Enkulturation« (vgl. Donald 2008, S. 15) bezeichnet wird.

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Zusammenfassung: Relationale Philosophie und empirische Forschung

Affordances & Constraints: Economy Ecology Institutions

SelfEnhancement Openness to change

Protection

Emanocipation Growth

Well-being, Attitudes & Behavioral Expression

Conservation

SelfTranscendence

Ontogenetic Development

Approach/Avoidance Motivations (neural level)

Genetic Predispositions Current Opinion in Psychology

Abbildung 5: Forschungsperspektive für die Moralpsychologie (Fischer & Boer 2016, S. 156)

ebd., S. 158). Dabei interpretieren die Autoren Werte als motivationale Zielvorstellungen (»motivational goals«, ebd., S. 155, Sp. 1), die einen kultivierenden Einfluss auf Einstellungen, Verhaltensweisen und Bewertungen haben. 425 Für die weitere Erforschung dieser Interdependenzen schlagen Fischer & Boer anhand einer schematisierten Übersicht (Abbildung 5) vor, die genannten Einzelbereiche als Untersuchungsgegenstände eines interdisziplinären Forschungsprogramms zu verstehen. Die Graphik könne solche spezifischen Studien zu den In einigen Studien zu den Verhältnissen von Wertkonzepten und Wohlstand, klimatisch-ökonomischen Bedarfs-Ressourcen-Analysen, individualistischen und kollektivistischen Werten und genetischen Wert-Prädispositionen lassen sich reziproke Prozesse in Längs- und Querstudien belegen. Die Wechselwirkungen von internen und externen Bedingungen (sowohl körperlich als auch kognitiv) sind somit auf vielfältige kulturelle Einflüsse und individuelle Konzepte des Wohlbefindens und das Handlungspotential einzelner Personen sowie Gruppen übertragbar (vgl. ebd., S. 158, Sp. 1). 425

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Die relationale Bewegung der Pragmatik am Beispiel der Moralpsychologie

Einzelbereichen untereinander koordinieren (»encompass«) (vgl. ebd., S. 158, Sp. 2), »as it further highlights how individuals change their motivations and goal structures in interaction with the local social, (multi-)cultural, economic and ecological context« (ebd.). Damit ist das vorgestellte Forschungsprogramm m. E. kongruent zu den Grundannahmen der klassischen Pragmatisten sowie anschlussfähig für die o. g. pragmatisch ausgerichteten Projekte in der Psychologie. Anhand dieser neuesten interdisziplinären Impulse aus der Moralpsychologie kann – kurz gefasst – eine pluralistisch aufgestellte Methodologie hervorragende Verknüpfungen generieren. Sowohl in der Psychologie als auch in den Neurowissenschaften befinden sich pragmatistische Methodenmodelle bereits in Anwendung und bestätigen, dass zusätzlich zu den Forschungsinstrumenten und der wissenschaftstheoretischen Reflexion von Präsuppositionen keine weiteren philosophischen Zusatzannahmen in die empirischen Studien übernommen werden müssen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass nicht auch hier noch einige hilfreiche Ansätze zur Untersuchung von Moralen, Normen und Werten gewonnen werden könnten. Um die empirischen Studien der Moralforschung letztlich auch mit den utilitaristischen Anforderungen in der Angewandten Ethik abgleichen und dabei simultan auf eine transzendentale Begründung der Moralität aufbauen zu können, habe ich oben einige Selbstbestimmungsmomente der Moralphilosophie referiert und diese an die im zweiten Kapitel erläuterte vertikale Achse Kant-Vendler-Korsgaard zurückgebunden. Es wird hier bereits ersichtlich, dass die Gestaltung von Meta-Ebenen der Moralität keinen zusätzlichen Gewinn zu den bereits etablierten Bereichen der transzendentalen Kritik, der pragmatistischen Methodologie und der interdisziplinären empirischen Moralforschung erbringt. Diejenigen Reflexionen der Metaethik, die einen Unterschied im Denken und Handeln der Menschen bewirken, können durchaus in den Reflexionen der Ethik wiedererkannt werden, ohne dadurch zunehmend abstraktere MetaDiskurse zu fördern.

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Schlussbetrachtung

In der Angewandten Ethik wird für die diversen Bereichsethiken (Rechtsethik, Medizinethik, Umweltethik …) von einem »Methodenproblem« gesprochen (vgl. etwa Nida-Rümelin 2005, Knoepffler 2010, Fenner 2010). Beschrieben wird das Problem als typische Frage nach der Leistungsfähigkeit der Urteilskraft in der Subsumtion von Einzelfällen unter eine Regel oder in der Generierung und Reflexion von Regeln aus der Betrachtung von Einzelfällen. Die situative Urteilskraft (vgl. Martens 2005) stellt das Individuum in der konkreten Betroffenheit von moralischen Abwägungen vor extreme Herausforderungen. Die Unparteilichkeit schwindet im Angesicht der persönlichen Entscheidungsfindung und es kommt auf charakterliche Eigenschaften und kultivierte Haltungen und Einstellungen an, wie man solche Situationen durchläuft – denken wir etwa an unrevidierbare Verfügungen am Lebensende (Assistierter Suizid, »Sterbehilfe« …) oder Entscheidungen am Lebensanfang (Präimplantationsdiagnostik, Schwangerschaftsabbruch …). Verbindlichkeit im transzendentalen Sinn tritt sowohl im Gefüge der beschreibbaren Bedingungen als auch unter dem Entscheidungsdruck einer moralischen Abwägung auf – auch das Nichthandeln oder Unterlassen sind in den Problemen der Bioethik folgenreiche Entscheidungen. Viele Ethiker setzen aufgrund des genannten Methodenproblems auf holistische Ansätze, die das Induktionsproblem genauso integrieren wie die Frage nach der Legitimation von Deduktionen ethischer Fallbestimmungen. In der Medizinethik wird dabei meist über die Annahme von Prinzipien mittlerer Reichweite (vgl. Beauchamps & Childress 1989) argumentiert und sog. Faustregeln bzw. prima facie-Pflichten und -Regeln vorgehalten. Welche Argumentation allerdings im konkreten Fall über medizinische Indikationen oder die Art der medizinischen Behandlung bestimmt, ist abhängig von den individuellen Erfahrungen und Überzeugungen der Beteiligten. Nimmt man als Beispiel den Schwangerschafts309 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Schlussbetrachtung

abbruch, so sehen »konservative« Argumente 426 bereits den Embryo als absolut zu schützendes menschliches Leben an. Theologische Begründungen beziehen sich sogar auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen; Biozentriker setzen das Leben der Individuen insgesamt als Wertbasis; Pathozentriker nehmen als Kriterium für die ethische Berücksichtigung erst die Empfindungsfähigkeit (der Embryo wird also erst ab der 9. bis 12. Woche moralisch relevant) usw. Mit dem in dieser Arbeit vorgeschlagenen Systemmodell der Verbindlichkeit können sämtliche Betrachtungsweisen und Formen des Involviertseins in ihrer je spezifischen Hinsicht und ihren typischen Rechtfertigungsstrategien abgebildet werden. Dabei lässt sich das moralische Erleben und Entscheiden in der jeweiligen Situation mit entsprechenden Graden der Betroffenheit der beteiligten Personen bemessen. Ethische Strategien und gängige »sittliche« Regeln stehen dem Individuum abhängig vom Hintergrund der Überzeugungen, der Wertvorstellungen und der Präferenzen zur Verfügung. Zusätzlich dienen Fallbeispiele und Erfahrungsberichte als Anhaltspunkte für Folgenabschätzungen. Es kann im Einzelfall außerdem umfangreich aufgearbeitet werden, welche Bedingungen aus fachwissenschaftlicher Sicht vorherrschen. So können Statistiken und vergleichbare Situationen herangezogen oder neue Projekte eröffnet werden. Für die Auseinandersetzung mit anderen Beteiligten stehen dann argumentative Rechtfertigungsstrategien zur Verfügung, die möglicherweise sogar mit katalogisierten ethischen Topoi übereinstimmen (Nächstenliebe, Pflicht, Sachzwänge, Folgenabwägung, Egoismus etc.). Es darf allerdings nicht vernachlässigt werden, dass zusätzlich zum bestehenden Erfahrungshorizont individueller Art und auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus den Überlieferungen der Menschheitsgeschichte erst dann ein wirkliches moralisches Problem vorliegt, wenn der Einzelne in eine moralische Krise gerät oder moralische Konflikte mit anderen Menschen oder Normen- bzw. Wertkonzepten auszutragen hat. An dieser Stelle beginnt das Angebot der Verfahren für die ethischen Diskurse, um die moralischen Kriterien im Rahmen des lebendigen Problems zu reflektieren und auszuwerten. Die nachträgliche Analyse solcher Situationen führt selbstverständlich zu differenzierteren Betrachtungen der Umwelt426 Gemeint sind hier die sog. SKIP-Argumente: Spezieszugehörigkeit, Kontinuität der individuellen Entwicklung, Identität des Lebewesens über alle Entwicklungsverläufe hinweg, Potentialität der Anlagen.

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Schlussbetrachtung

bedingungen und charakterlichen Dispositionen, als dies im Moment der Betroffenheit möglich ist. Auch für die Systematisierung der moralischen Überzeugungen stehen dabei gängige Kategorien zur Verfügung (Egoist, Zechpreller, Ehebrecher usw.). Eine ethische Überlegung spielt sich demzufolge immer schon in einer von der Lebenswelt abstrahierenden Reflexion und immer auch bereits interdisziplinär ab, sodass der Ethiker zur Abwägung der Handlungsoptionen immer auch auf Sach- und Fachkenntnisse angewiesen ist. Es scheint bei all diesen Abstraktionsschritten folgender Zusammenhang zu bestehen: Je abstrakter der ethische Diskurs wird, desto deutlicher werden die persönlichen Weltanschauungen der beteiligten Personen. Je deutlicher die Weltanschauungen zu Tage treten, desto schwieriger wird sich der interdisziplinäre Austausch gestalten. So könnte ein bekennender Atheist einem unbekannten Katholiken auf der Straße ad hoc beim Beheben einer Reifenpanne helfen; besprechen die beiden aber die Situation und die Motivation zur Hilfsbereitschaft am Abend bei einem gemeinsamen Dankesessen, wird von beiden Seiten wohl bereits Toleranz für die Begründungen der jeweiligen Handlungsmotive erfordert. Verlassen die beiden dann die Ebene des freundlichen Austauschs oder der ethischen Argumentation und bekennen schlicht ihre weltanschauliche Einstellung, »Ich bin eben Atheist!« – »Gott wollte es aber so!«, verhärten sich unter Umständen die Fronten. Wie ich im Rahmen der Ausführungen des ersten Kapitels dargelegt habe, ist die institutionalisierte Metaethik möglicherweise eine solche Hypostasierung von einer ursprünglich offenen, interdisziplinären Gesprächsbereitschaft zwischen problemorientierten Wissenschaftlern. Diese pragmatischen Diskurse sind dabei aus meiner Sicht unbedingt zu begrüßen. Diejenigen Diskursteilnehmer hingegen, die den Austausch so nutzen, dass auf der Ebene der Metaethik plötzlich die Kooperation der Philosophie, Theologie, Metaphysik mit den Wissenschaften für unmöglich erklärt wird – etwa, da das Moralische sich deren Instrumenten entzöge –, halte ich für einen folgenschweren Abbruch des fächerverschränkenden Austauschs. Nachdem ich mir in freier Anlehnung an Hans Ulrich Gumbrecht (2004) ganz persönlich die Frage gestellt habe, »Weshalb will ich die Metaethik überhaupt überwinden?«, muss ich zugestehen, dass ich niemandem absprechen möchte, sich auch weiterhin im Bereich der metaethischen Untersuchungen betätigen zu dürfen. Allerdings hat sich im Verlauf meiner Studien der Verdacht erhärtet, dass die Annahme einer eigen311 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Schlussbetrachtung

ständigen Disziplin der Metaethik selbst zu einer Frage der Ethik, nämlich zur Frage der Redlichkeit und Authentizität wird. Meine Diagnose zum Entstehen und zur Entwicklung der Metaethik lautet nach den Auswertungen der einschlägigen metaethischen Topoi im ersten Kapitel, dass ausschließlich die transzendental realistischen Positionen überhaupt auf einer Institutionalisierung der Metaethik als eigenständiger Disziplin beharren. Alle anderen Problemund Fragestellungen lassen sich auf dem interdisziplinären Gebiet der Wissenschaften und der moralphilosophischen Methodologie diskutieren. Für den Fall, dass »Metaethik« bereits als bloße Bezeichnung für eine interdisziplinäre Methodologie statt als eigenständige Disziplin betrachtet wird, unterbreite ich im zweiten Kapitel dieser Studie durch eine Kombination aus transzendentaler und pragmatischer Argumentation einen integrativen Vorschlag: Eine transzendentale Architektonik der Moralphilosophie entwickelt sowohl ein Begründungsmodell als auch ein Profil für die Verbindlichkeit im Bereich der moralischen Phänomene. Alle Aspekte dieses Phänomenbereichs lassen sich in der von den Wissenschaften jeweilig gewählten Hinsicht und in der ihnen angemessenen Weise analysieren, katalogisieren und legitimieren. Gleichzeitig wird die Durchlässigkeit der erstpersonalen Moralität von der direkten Betroffenheit bis zur Reflexionsleistung nachgewiesen und formal systematisiert. In der Theorienlandschaft der Moralphilosophie erweist sich der pluralistische Ansatz einer pragmatistischen Methodologie als vereinbar mit dem zuvor beschriebenen transzendentalen Idealismus. Der interdisziplinäre Austausch über moralische Phänomene – auf allen Ebenen der Abstraktion – ist daher bereits auf der Ebene der gewöhnlichen Moralphilosophie eröffnet. Die transzendentale Kritik als eine der anwendbaren Methoden begleitet die Abstraktionsbewegung und hat nur eine einzige Aufgabe und nur einen einzigen Gegenstand: die Verbindlichkeit als universales Konstituens der Moralphilosophie zu reflektieren bzw. für regelmäßige »Besinnungen« offen zu halten. Die aus der Verbindlichkeit hervorgehenden Strukturmomente der Relationalität und der Moralität lassen sich pragmatisch für die Beschreibung von Sachverhalten der Welt und für die Beschreibung von Normgehalten und Wertbeziehungen anwenden. Diese immer konkreter werdenden Anwendungen nutzen dann aus dem »Werkzeugkoffer« der pragmatistischen Methodologie diejenigen Instrumente, die für die jeweilige Konstellation angemessen erscheinen. Damit kann noch einmal wie312 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Schlussbetrachtung

derholt werden, dass die Transzendentalphilosophie zwar stringent beweist, wie das Selbstkonzept eines autonomen und selbstbestimmten moralischen Wesens mit dem Selbstverständnis als freies Wesen zusammenhängt. Die Universalität der Moralität ist also formal belegt, sagt aber noch nichts über Problemlösungen, den Charakter oder das Verhalten eines Individuums aus. Da auch die moralpsychologischen Theorien, z. B. über wissenschaftliche Instrumente wie die Reaktanztheorie, die Identity Theories, die Multi-Process-Models, die SIM usw. einen Zugang zum Erleben von Freiheit und Kontrolle nutzen können, um moralische Situationen und ihre Handlungsoptionen zu analysieren, lässt sich der Überkomplexität der sachlichen Bedingungsgefüge (vgl. o. Fischer & Boer) möglicherweise durch eine reflektierte interdisziplinäre Methodologie beikommen. Wozu eine Architektonik der Moralphilosophie daher befähigen muss – und das kann der hier vorliegende Entwurf m. E. leisten –, ist die Beschreibung von offenen Übergangsmöglichkeiten zwischen abstrahierenden und konkretisierenden Denkbewegungen sowie zwischen Relationen von Sachverhalten (Neuronen, Körper, natürliche und soziale Umwelt) und dem Besinnungsmoment auf die Universalität des transzendentalen Ego. Durch die Architektonik werden also keine ethischen Probleme gelöst, sondern hier wird lediglich begründet, warum es diese Probleme überhaupt gibt und wie es möglich ist, sich mit anderen darüber auszutauschen. Kurz: Die Architektonik hält die universale Perspektivität des formalen Bewusstseins als transzendentalen Idealismus für den moralphilosophischen Diskurs fluide. Die Koordination der vielfältigen Präferenzen und konkreten Diskursbedingungen kann aber in der Lebenswelt nicht von einer neutralen Exklave aus durchgeführt werden, vor allem dann nicht, wenn der moralische Druck in der Form von direkter emotionaler Betroffenheit, eines bedeutsamen Entscheidungszwangs oder einer akuten zwischenmenschlichen Auseinandersetzung rationale Kalküle geradezu unmöglich macht. Sicherlich lassen sich auch solche Situationen durch Gewohnheit, Autorität oder Ignoranz entschärfen oder bewältigen – und oftmals sind dies die Verhaltensmuster, die über eine Krise hinweghelfen –, doch wird die qualitative Moralität und d. h. die Besinnung auf die Freiheit und Selbstbestimmung in solchen Momenten (wenn auch nur zum Schutz des Akteurs) empfindlich eingeschränkt. Insbesondere zum Zweck einer demokratischen Selbstorganisation zwischenmenschlicher Interaktionen kann die Forderung nach einer Orientierung an der »Pflicht«, wenn man näm313 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Schlussbetrachtung

lich überhaupt »moralisch« handeln will, zwar rigoros erscheinen, doch ist dieser Umweg über die personale Universalität zugleich die einzige freiheitliche Möglichkeit einer intersubjektiven moralischen Problembewältigung – und damit die Garantie der Würde der Menschheit als Selbstgesetzgebung durch meine eigene Vernunft. Dass das Image einer moralisch integren Person gar nicht zu den Kernaspekten eines Selbstkonzeptes gehören muss und damit Moralvorstellungen gegenüber anderen Zwecksetzungen abgewertet werden können, ändert nichts an der formalen Verschränkung von relationaler und moralischer Verbindlichkeit in menschlichen Absichten (Zwecksetzungen) und Handlungen. Inwiefern jedoch ein moralischer Charakter und seine kultivierten Einstellungen (Tugenden) das Ansehen und die Anerkennung einer Person in einer Gemeinschaft stärken können, wird über diverse sozialpsychologische Studien zum Gruppenverhalten und die Rolle des Leumunds belegt; wenn es denn der Zweck einer moralischen Einstellung sein kann, angesehen und bewundernswert zu sein. Wie Menschen diese materiale Justierung der formalen Strukturen von Moralität anwenden, steht jedem Individuum vor dem Hintergrund seiner sozialen Voraussetzungen weitestgehend offen. Strategien im Umgang mit gängigen Persönlichkeitskonzepten der Mitmenschen wie das »tit for tat« können regelutilitaristische Kosten-/Nutzenerwartungen für eine Vielzahl an Fällen regulieren. Doch moralische Integrität und moralische Wertvorstellungen sowie Normakzeptanz bzw. -reaktanz bleiben ganz dem empirischen Zugang des Individuums und seinem Dafürhalten überlassen. Die Basis für moralische Normen liegt daher in der Relation von erstpersonaler Perspektive und den daraus erfolgenden Präferenzen. Diese sind aber niemals unabhängig von der sozialen Umgebung, aus der immer schon Wertkonzepte und Ideale in die Erziehung und Bildung der Persönlichkeit gelegt wurden. Beide Vernetzungen (zu den persönlichen Präferenzen und zur Umwelt) determinieren den Menschen deshalb zwar nicht in moralischer Hinsicht – sie lassen jedoch eine kongruente wissenschaftliche Beschreibung des moralischen Wertempfindens oder der moralischen Entscheidungsfindung nahezu unmöglich werden. Aus diesem Grund ist es eminent wichtig für jeden Forschungsprozess, die Gegenstände und Methoden deutlich zu markieren, aufeinander abzustimmen sowie die durch die Forschungsfrage transportierten Präsuppositionen zu klären. Die im dritten Kapitel entwickelten Komponenten einer pragmatistischen Methodologie wirken mit einem solchen Vorgehen also auch der Iso314 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Schlussbetrachtung

lation der Moralforschung entgegen. Es muss vielmehr mit Dewey darauf bestanden werden, die Moral wieder an die moralischen Lebensbereiche der Politik, der Ökonomie, der Bildung usw. zurückzubinden (vgl. Dewey 2012, S. 151). Zusätzlich bedarf es einer sprachanalytischen Sensibilität für das tradierte Vokabular und die vorgefertigten Kategorien, in denen die moralischen Probleme reflektiert werden. So hat sich im Verlauf dieser Studie gezeigt, dass die Begrifflichkeit »Intuition« mindestens sechs verschiedene Verwendungsweisen bedient: direkte sinnliche Anschauung, intellektuelle Anschauung, Gewissen, Ahnung (im Sinne von »Eingebung«, deren genaue Herkunft man aber nicht direkt benennen kann), das lebendige Moment des Daseins (Bergsons Metaphysik) oder Gewohnheit (Hares intuitive Ebene). In einer neuen Bestimmung des Verhältnisses zwischen der menschlichen Natur und der Natur als Umwelt schafft der Pragmatismus eine zugleich relationale, offene und tiefe Durchdringung des Weltzusammenhangs (bspw. Environmental Ethics, Deep Ecology, Deep Pragmatism), die vollständig auf einem moderaten Naturalismus aufbaut. Erste und zweite Natur des menschlichen Daseins und sozialen Wirkens sind aus Sicht dieser radikal empirischen Philosophie vornehmlich in naturwissenschaftlichen Forschungskonzepten zugänglich. Wozu benötigt man hier transzendentale Prinzipien, die den Anschein erwecken könnten, als ginge etwas der Natur voraus? Im Pragmatismus erhalten die Ausdrücke »das Gute« und »das Richtige« ihren sozialen Verbindlichkeitsanspruch aus gewöhnlichen Bedürfnissen, Interessen und Forderungen heraus. Hinter dem Gedanken einer »Grundlegung« der Verbindlichkeit von Werten und Normen wird daher oftmals ein Dogma vermutet, das den Rahmen des Natürlichen zu transzendieren versucht. Sobald aber deutlich wird, dass eine nachträgliche Grundlegung der Moral im Sinne des transzendentalen Idealismus lediglich bedeutet, den moderaten Naturalismus in seiner relationalen Ausrichtung und seinem perspektivischen Empirismus zu bestätigen, kommen die aufklärerisch-kritischen Konturen des Pragmatismus selbst in aller Deutlichkeit zum Vorschein. Als »Türhüter« – wenn ich diese Figur aus Kafkas Parabel »Vor dem Gesetz« hier nutzen darf – eines solchen modernen, individualistischen und aufklärerischen Narrativs der Philosophie wird gemeinhin über alle philosophischen Positionen hinweg Immanuel Kant betrachtet. Die kritische Philosophie, die er in diesem Diskurs 315 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Schlussbetrachtung

repräsentiert, verkörpert sozusagen bereits eine Synthese der großen philosophiehistorischen Dichotomien – »Rationalismus und Empirismus«, »Nominalismus und Universalienrealismus«, »Idealismus und Realismus«, »Skeptizismus und Dogmatismus« – und sagt, wenn man so will, voraus, in welchen theoretischen Modellen die Menschen der Zukunft ihre Welt werden interpretieren können – man vergleiche etwa den Hinweis in der »Kritik der Urteilskraft« auf einige Varianten der Evolutionstheorien, die dem menschlichen Erkenntnisvermögen zur Erklärung der gesamten biologischen Naturentwicklung zur Verfügung stehen. Wer diesem Türhüter gegenübertritt, der droht selbstverständlich zunächst vor Ehrfurcht zu erstarren; aus einem zutiefst menschlichen Affekt heraus scheint man eher den Worten der Koryphäe als den eigenen vernünftigen Schlussfolgerungen zu gehorchen. Doch nichts läge Kant ferner, als eine Aufgabe des lebendigen Denkens zugunsten seiner eigenen Autorität hervorzurufen. Er empfiehlt daher vehement, den eigenen Verstand zu nutzen; aber muss nicht dieser transzendentale Übergriff auf je »meinen Verstand« selbst wiederum Reaktanzphänomene evozieren? Die Besinnung auf das formale Moment der Verbindlichkeit versetzt mich umso nachdrücklicher in eine moralische Verantwortung, je abstrakter die Relation zwischen »mir« und Kants universalem Sittengesetz wird. Die paradoxe Situation, »er hat mir gesagt, ich solle mich meines eigenen Verstandes ohne Zutun einer fremden Autorität bedienen«, legt die Autonomie für einen Augenblick lahm. Kant rückt dem Leser sozusagen den Schemel neben dem Eingang zum Gesetz zurecht. Die Überwindung der Paradoxie kann nun aber sowohl in der »Legende« als auch in der wirklichen Moralität ausschließlich durch eine reflektierende Auseinandersetzung auf die Verbindlichkeitsstrukturen von Autonomie und Heteronomie gelingen. Schließlich setzt sich der gesamte Phänomenbereich moralischer Konflikte aus Maximen autonomer Autonomie (meiner Maximen) und aus Maximen heteronomer Autonomie (den Maximen anderer) zusammen. Die Welt der Personen scheint daher zunächst von der natürlichen Welt der Sachen getrennt zu sein. Doch es ist das Verdienst der pragmatistischen Philosophen, die Emergenz dieser beiden »Welten« aus der Einbettung des Individuums in seine Umwelt hervorgehen zu lassen. Obwohl also die kategoriale Triadik bei Peirce die drei menschlichen Grundvermögen Kants (Gefühl, Erkenntnisvermögen, Begehrungsvermögen) noch einmal stärker zu abstrahieren scheint, werden auf diese Weise die Übergänge zwischen den künst316 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Schlussbetrachtung

lich generierten Feldern oder Welten in einer umfassenden Dynamik des lebendigen Bewusstseins »aufgehoben«. Aus diesem synechistischen Moment geht folglich auch die Verbindlichkeit erst in ihrer ursprünglichen synthetischen Leistung aus der aktualen Reflexion eines Bewusstseins hervor. Die Autonomie des bewussten Daseins kann daher nur gedacht werden, wenn die Freiheit des Vernunftwesens als »ratio essendi« dieser Moralität vorausgesetzt wird. Wird das Erleben dieser (nicht weiter erkennbaren) Freiheit eingeschränkt, treten Verhaltensphänomene auf, die mithilfe der Reaktanztheorie beschrieben werden können. In die Normativität von Handlungen und die Wertegemeinschaft von Menschen übersetzt, bewegen wir uns hier im empirischen Bereich der Phänomene der Moral. Auf diesem Terrain wird die Wissenschaft so lange neue Erkenntnisse hervorbringen, wie die Menschheit existiert. Das Ergebnis der vorliegenden Studie für die Einschätzung der Metaethik lässt sich also klar zusammenfassen: Das erste Kapitel sichtet die Entwicklung und den aktuellen Diskurs der Metaethik und kommt zu dem Ergebnis, dass die interdisziplinäre Arbeit rund um moralische Phänomene auch sehr gut ohne eine transzendentalrealistisch geprägte Zusatzdisziplin »Metaethik« auskommen kann. Im zweiten Kapitel wird anhand einschlägiger Vorarbeiten in der Kantianischen Tradition der praktischen Philosophie eine transzendentale Architektonik der Moralphilosophie entwickelt. Ohne Letztbegründung und ohne doppelten Boden transportiert die transzendentale Argumentation die Hinweise auf eine Verbindlichkeit im Ursprung der synthetischen Leistung des Lebendigen selbst. Anders ausgedrückt: Die Universalität im Strukturmoment des transzendentalen Ego konstituiert die Nachvollziehbarkeit von moralischen Artikulationen für alle vernünftigen Lebewesen. Die kritische Philosophie bietet so ein argumentatives Fundament für den transzendentalen Idealismus, das im Rahmen einer Genealogie von ausgewählten Traditionslinien der pragmatistischen Ethik auch als Ausgangspunkt der pragmatistischen Philosophie insgesamt bestätigt werden konnte. Daher gilt für diesen Entwurf, dass auch dieses pluralistische und empirisch offene Forschungskonzept durch die formale Universalität des lebendigen Daseins konstituiert werden muss. Faktische Selbstkontrolle und konkrete Sozialkompetenz entstehen dann ihrerseits – ex negativo – durch die Abgrenzung von heteronomer Lebensgestaltung und – positiv gefasst – durch die transzendentale Kritik der menschlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Damit 317 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Schlussbetrachtung

erwies sich der Pragmatismus oben keineswegs als kritische Sackgasse, wie etwa Hans Albert vermutet, sondern ganz im Gegenteil als Bollwerk der transzendentalen Kritik gegen die Einwände der naivrealistischen »kritischen Rationalisten«. Die Vielfalt der materialen moralischen Phänomene muss also entsprechend sukzessive durch die empirischen Moral Sciences erforscht werden. Wie der Einblick in die Forschungslandschaft der jüngeren und jüngsten Moralpsychologie im vierten Kapitel nachdrücklich vermitteln konnte, arbeitet diese empirische Wissenschaft auf Augenhöhe mit der Moralphilosophie an den moralischen Gegenständen. Es gilt an dieser Stelle, an einen Hinweis zu erinnern, den Hans-Georg Gadamer zu Beginn von »Wahrheit und Methode« (Gadamer 1999, S. 9) platziert, nach dem sich das Wort »Geisteswissenschaft« aus einer Übersetzung der Moral Sciences ergeben habe: »Mill sucht in seinem Werk anhangsweise die Möglichkeiten zu skizzieren, die die Anwendung der Induktionslogik auf die moral sciences besitze. Der Übersetzer sagt dafür ›Geisteswissenschaften‹.« So lassen sich möglicherweise anhand dieser philosophiehistorischen Zusammenhänge zusätzliche Plausibilitätsgründe dafür anführen, dass die Metaethik von Beginn an das Hoheitsgebiet der non-naturalistischen Realisten war. Arbeiten nämlich die Ethiker direkt mit dem Begriff »Moralität« als Strukturmoment der Verbindlichkeit, so entfallen die spekulativen Momente über das Wesen der Moral »an sich« und der Gegenstand wird schlicht in die Relationen des alltäglichen menschlichen Lebens eingelassen. Von daher kann eine von jeder Perspektivität abstrahierte Meta-Moral, respektive Metaethik, lediglich in einer Hinsicht Geltung beanspruchen: Dass sie die notwendige Relationalität des Phänomens negativ-transzendental bestätigt. Am Ende dieses Textes vertrete ich daher, cum grano salis, einen NonMetaethizismus und hoffe doch bis zum Schluss, dass diese Studie nicht selbst einen Beitrag zur Metaethik geleistet hat. Da die hier rund um die Gegenstände der Moral Sciences angewandte Forschungsmethode ohne Weiteres im Rahmen der Grounded Theory oder der Mixed Methods angesiedelt werden kann, lässt sich weiterhin vermuten, wie nah dieser transzendentale Idealismus dem (neuen) Neuen Realismus steht: Immerhin kann in Fragen der Realität bereits mit Peirce nachgewiesen werden, dass über etwas zu sagen, es sei nicht real, es real mache – wenn nur die Hinsicht klar angezeigt wird. So funktioniert die Erforschung von menschlichen Zuständen und Weltzuständen ganz im Sinne der von Peirce auf318 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Schlussbetrachtung

gegriffenen Frage nach den »buried secrets« aus Thomas Grays Elegie: »Full many a gem of purest ray serene The dark, unfathomed caves of ocean bear; Full many a flower is born to blush unseen, And waste its sweetness on the desert air.« Do these things not really exist because they are hopelessly beyond the reach of our knowledge? And then, after the universe is dead (according to the prediction of some scientists), and all life has ceased forever, will not the shock of atoms continue though there will be no mind to know it? To this I reply that, though in no possible state of knowledge can any number be great enough to express the relation between the amount of what rests unknown to the amount of the known, yet it is unphilosophical to suppose that, with regard to any given question (which has any clear meaning), investigation would not bring forth a solution of it, if it were carried far enough. […] But it may be objected, »Why make so much of these remote considerations, especially when it is your principle that only practical distinctions have a meaning?« Well, I must confess that it makes very little difference whether we say that a stone on the bottom of the ocean, in complete darkness, is brilliant or not – that is to say, that it probably makes no difference, remembering always that that stone may be fished up tomorrow. But that there are gems at the bottom of the sea, flowers in the untraveled desert, etc., are propositions which, like that about a diamond being hard when it is not pressed, concern much more the arrangement of our language than they do the meaning of our ideas. It seems to me, however, that we have, by the application of our rule, reached so clear an apprehension of what we mean by reality, and of the fact which the idea rests on, that we should not, perhaps, be making a pretension so presumptuous as it would be singular, if we were to offer a metaphysical theory of existence for universal acceptance among those who employ the scientific method of fixing belief. However, as metaphysics is a subject much more curious than useful, the knowledge of which, like that of a sunken reef, serves chiefly to enable us to keep clear of it, I will not trouble the reader with any more Ontology at this moment. (CP 5.409 f.)

Die handlungsleitende Regel, von der Peirce hier spricht, um das Riff der Metaphysik (Ontologie) zu umschiffen, führt in das Zentrum der pragmatistischen Methodologie, wie sie oben in ihrer phänotypischen Vielfalt und kritischen Einheit entwickelt wurde: Die Relation zu einem Gegenstand, wie auch immer er vorgestellt wird, muss in der Hinsicht einer Überzeugung (belief) der »Vernunft« als Existenz aufgebaut sein (vgl. auch Korsgaard 2015, S. 82) und macht damit einen 319 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Schlussbetrachtung

Unterschied. »Consider what effects, which might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception of these effects is the whole of our conception of the object.« (CP 5.402) Die Relationalität der Moral bedingt daher einen Internalismus von Gründen und einen Extrinsikalismus von Werten. Dabei gilt für die Rationalität von Gründen, dass wir zu etwas fähig sind, und nicht notwendig, dass die Rationalität auch hinreichend für motivationale Zustände wäre bzw. die Handlung als Konklusion des rationalen Schlusses aufträte (vgl. Korsgaard 2016, S. 490 f.); die aktuelle Debatte um die »Akratia« bestätigt diese Annahme. Aus der Dialektik der metaethischen Vernunft ließ sich folglich eine triadische Matrix gewinnen, die durch die künstlichen Dichotomien hindurch zu einem Kontinuum der eigentlichen Diskussionsgegenstände gelangt: Bewusstsein, Welt und Sprache stehen in wechselseitiger, irreduzibler Beziehung zueinander. Da jedoch gemeinhin in jeder der drei Dimensionen zwischen einem Innen- und einem Außenbereich unterschieden wird – Erleben und Weltbewusstsein, Semantik und Pragmatik, Für-mich und An-sich der gedanklichen Vermittlung –, ermöglichen die Kombinationen dieser Aspekte die Positionen des Metaethikdiskurses. Die Hinsichten, in denen diese relationalen Darstellungen möglich sind, entsprechen aber den gemeinsamen Bedingungen der Möglichkeit von Erscheinungsweisen überhaupt: Dass sie erscheinen, ist sicher; wie sie erscheinen ist je von den Qualia bedingt, die aber wiederum in der Reflexion der Scientific Community objektiviert werden können. Das Dasein des Wissenschaftlers ist folglich keine hinreichende Bedingung für Wissenschaftlichkeit, doch es bildet die conditio sine qua non für jeden wissenschaftlichen Prozess. Die transzendentale Argumentation bedeutet dabei geradezu die Relationalität und legitimiert formaliter deren Geltungsanspruch. Egal, wie komplex das Gefüge der Relationen in einem unvorstellbar großen Universum auch sein möge, es ist das Vertrauen der Wissenschaftler in einen ebenso (unvorstellbar) lange andauernden Prozess der Erforschung dieser Relationen, der früher oder später die lebendigen Zweifel zur Ruhe führen wird. Die im zweiten Kapitel nachgezeichnete kritische Philosophie in ihrer transzendentalen und in ihrer pragmatischen Bewegung behandelt daher lediglich ein strukturelles »knowing that« der Moralität, das noch keinerlei inhaltliche Bestimmung der Moral vornimmt. Im dritten Kapitel wird dieser Struktur ein »knowing how« hinzugefügt, das 320 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Schlussbetrachtung

sich frei über die Korridore des moralphilosophischen Gebäudes bewegt und die unterschiedlichsten Erlebens-, Forschungs- oder Abstraktionselemente miteinander kombinieren kann. Qualitative und quantitative Methoden lassen sich hierbei je nach Projekt miteinander verbinden; gemeinsamer Bezugspunkt ist die lebensweltliche Vielfalt moralischer Phänomene. Damit erweist sich auch der Diskurs um geeignete Anwendungsbereiche der Ersten- und der Dritten-Person-Perspektive als Scheindebatte: Es ist – unbedingt vom jeweiligen Sachverhalt – immer die erstpersonale Perspektive, die rezipiert, artikuliert, handelt … Die Anschlussfähigkeit einer Wissenschaft an das subjektive Bewusstsein generiert sozusagen erst ihre universale formale Nachvollziehbarkeit oder Gesetzmäßigkeit. Nach der Auflösung der reinen Dritte-Person-Perspektive muss am Ende freilich auch zusätzlich in Frage gestellt werden, ob dann noch sinnvoll von einem singulären, erstpersonalen Weltzugang gesprochen werden kann. Immerhin setzt die Kontinuität zwischen Welt und Lebewesen, zwischen Fakten und Werten, zwischen Freiheit und Zwang, zwischen Ich und Anderem, zwischen Seele und Leib etc. eine neue pragmatistische Metaphysik in Geltung, deren Kontinuität für das Individuum zu einer Indifferenz von Relationalität und Moralität führen könnte. Gegen diese Selbstauflösung regt sich jedoch ein reaktantes Gefühl im personalen Ego, das immer aufs Neue eine Ordnung in die materiale Mannigfaltigkeit der Erfahrungen bringen möchte. So würde wohl auch Peirce die sukzessive Systematisierung der komplexen moralischen Phänomene gutheißen, die sicherlich als Forderung am Ende dieser Arbeit bestehen bleibt: »That systems ought to be constructed architectonically has been preached since Kant […].« (CP 6.9) 427

427 »I do not think the full import of the maxim has by any means been apprehended. What I would recommend is that every person who wishes to form an opinion concerning fundamental problems should first of all make a complete survey of human knowledge, should take note of all the valuable ideas in each branch of science, should observe in just what respect each has been successful and where it has failed, in order that, in the light of the thorough acquaintance so attained of the available material for a philosophical theory and the nature and strength of each, he may proceed to the study of what the problem philosophy consists in, and of the proper way of solving it […] to make a systematic study of the conceptions out of philosophical theory may be built, in order to ascertain what place each conception may fitly occupy in such a theory, and to what uses it is adapted.« (ebd.).

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Dankeswort

Allen, die den Text bis zum diesem abschließenden Abschnitt gelesen haben, möchte ich meinen Dank ganz grundsätzlich aussprechen. Da dieses Projekt als Habilitationsschrift im Fachbereich 2 der Universität Koblenz-Landau eingereicht wurde, möchte ich ganz konkret den Gutachtern und Kommissionsmitgliedern danken, die den Prozess der Evaluierung begleitet haben: Prof. Dr. Matthias Jung, Prof. Dr. Sami Pihlström, Prof. Dr. Jürgen Goldstein sowie Prof. Dr. Nicole Maruo-Schröder und Prof. Dr. Uta Schaffers. Viele der Studentischen Hilfskräfte, die mit den Recherchen und Formalia rund um diese Studien betraut waren, sind heute geschätzte Kolleginnen und Kollegen; inbesondere möchte ich Lea Lentes, Fransziska Schwan und Daniel Enkirch danken, die im Institut für Philosophie einiges an Zeit in die Unterstützung der Studien investiert hatten. Gesondert möchte ich mich bei Tina Massing und Elias Schmitt bedanken, denn sie waren vom Anfang bis zum Ende – willentlich – in umfassende inhaltliche Diskussionen involviert und schließlich auch an der Erstellung des Layouts beteiligt. Vielleicht darf ich an dieser Stelle insgesamt anmerken, dass die Atmosphäre im Institut für Philosophie in Koblenz außergewöhnlich ist: Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird unter der Leitung der beiden Professoren Jung und Goldstein bei freier Wahl der Forschungsschwerpunkte die volle Unterstützung gewährt – wir erfahren einen enormen Rückhalt und einen regen Austausch über die Forschungsgegenstände; ich möchte diese Konstellation aus meiner Wahrnehmung heraus als eine gelebte pragmatistische Forschungsatmosphäre bezeichnen und mich gleichsam für diese Offenheit und Unterstützung herzlich bedanken. Darüber hinaus trägt der gesamte Fachbereich die wissenschaftlichen Leistungen seiner Mitglieder institutionell, stärkt aber die Gemeinschaft vor allem durch weitreichende kollegiale Kooperationen, etwa in der Gesellschaft für Dialogforschung oder dem KWG-Netzwerk für Kritische Methodologie, in deren Schnittmenge Wolf-Andreas Liebert, 322 https://doi.org/10.5771/9783495826195 .

Dankeswort

Tanja Gnosa sowie Klaus Otte und Katharina Otte-Varolgil einen großen Einfluss auf meine Studien ausgeübt haben. Bleibt selbstverständlich am Ende, den wichtigsten Menschen in meinem Leben zu danken, denn es ist leicht abzusehen, wie viel familiärer Rückhalt und auch Entbehrung in einem solchen Projekt stecken. Meiner geliebten Frau Kim und unserem Sohn Frederick, meinen Eltern Christine und Walter Moskopp sowie meinem Bruder Pierre und seiner Freundin Sonja, meinen Schwiegereltern Rosi und Uwe Hiller, meinem Doktorvater Rudolf Lüthe, meinem Patenonkel Werner Moskopp, Jennifer Schmitz und meinem Freundeskreis mit Mike, Andy, Matthes, Torsten, Jack, Rheini, Bernd, Jim, Mario, Sue und Familien gilt meine ganz besondere Dankbarkeit und universale Verbundenheit.

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