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German Pages [217] Year 1998
Weyma Lübbe
Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen
BAND 55 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
B
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
Zu diesem Buch: Kollektiv verursachte Schäden stellen die moderne Gesellschaft in Frage. Appelle gibt es überall - aber wie läßt sich kollektive Verantwortung organisieren? Die Organisation von Verantwortung ist in der Praxis Sache des Rechts. Lübbe schließt daher an die traditionellen juristischen Kon zepte und ihre aktuellen Fortentwicklungen an. Deren handlungstheo retischer und zurechnungstheoretischer Gehalt wird an zahlreichen Beispielen herausgearbeitet und für die allgemeinere verantwortungs ethische Diskussion fruchtbar gemacht. Collectively caused damages call modern societies into question. Appeals are widespread, but how can collective responsi'b111ty be organized? ln practice, the organization of responsibih'ty is a legal matter. Lübbe thus takes recourse to the traditional juridical concepts and their current continuing development. Their content in regard to the theory of action (viz, of the attribution of action) is worked out in numerous examples and rendered fruitful forthe general discussion ofthe ethics of responsibih'ty. Die Autorin: Dr. phil. Weyma Lübbe, geb. 1961, war zuletzt am Zentrum für Philoso phie und Wissenschaftstheorie der Universität Konstanz tätig und ist ge genwärtig Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Ihre Publikationen im Gebiet der Praktischen Philosophie sind gekennzeichnet von dem Be mühen, sozial- und rechtswissenschaftliche Kategorien wieder stärker in die Moralphilosophie einzubeziehen.
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Weyma Lübbe Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen
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Alber- Reihe Praktische Philosophie Hinter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Deiner Dastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Günther Bien, Karl-Heinz Musser und Annemarie Pieper Band 55
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Weyma Lübbe
Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen
Verlag Karl Alber Freiburg/München https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Universität Konstanz gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lübbe, Weyma:
Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen / Weyma Lübbe. - Freiburg (Breisgau); München : Alber, 1998 (Alber-Reihe praktische Philosophie ; Bd. 55) ISBN 3-495-47875-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte Vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 1998 Einbandgestaltung: Eberle & Kaiser, Freiburg Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Satz: SatzWeise, Trier Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 1998 ISBN 3-495-47875-2
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Vorwort
Der vorliegende Text ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Oktober 1996 an der Universität Kon stanz eingereicht wurde. Das Thema wurde in dem Bemühen ange gangen, die Problematik nicht durch Beschränkung auf einen engen disziplinären Reflexionskontext zu verkürzen. Entsprechend waren die Schwierigkeiten der Konzipierung und Abfassung erheblich. Umso mehr habe ich den Personen zu danken, die mir die Arbeit erleichtert haben. In erster Linie nenne ich Hermann Lübbe, der stets als „sounding-board“ zur Verfügung stand. Besonderes ver danke ich auch Tilman Ickes: Er hat mir durch Gespräche und Lite raturhinweise den Zugang zum Strafrecht erleichtert, das für mich noch zu Beginn der Arbeit in den über die Kausalitätsproblematik hinausgehenden Aspekten im wesentlichen Neuland war. Durch Diskussion meiner Thesen oder durch Verschaffung wichtiger Ge legenheiten dazu haben mich im übrigen folgende Personen unter stützt: Michael Baurmann, Günther Jakobs, Urs Kindhäuser, Anton Leist, Klaus Lüderssen, Jürgen Mittelstraß, Gottfried Seebaß und Johanna Seibt sowie die Mitglieder des Konstanz-Zürich-Kolloquiums für Praktische Philosophie. Ebenso wichtig wie der wissen schaftliche Austausch ist die Garantie der nötigen Zeit und der ge eigneten Umgebung für den Rückzug an den Schreibtisch. Dafür vor allem - danke ich Jürgen Mittelstraß, der als Direktor des Zen trums für Philosophie und Wissenschaftstheorie für hervorragende Arbeitsbedingungen an der dafür auch sonst geeigneten Universität Konstanz sorgte. In den Jahren 1995 und 1996 unterstützte mich zu sätzlich die Deutsche Forschungsgemeinschaft, der ich für die Ge währung eines Habilitationsstipendiums danke. Das Manuskript wurde im Frühsommer 1997 abgeschlossen. W. L.
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Inhalt
Vorwort.....................................................................................
7
I. Einleitung ..........................................................................
11
1. Der verantwortungsethische Vorwurf: Zivilisationsfolge schäden als Schädigungstaten............................................. 2. Kategoriale Probleme I: Nichteingreifen und kollektive Verursachung........................................................................ 3. Aktuelle Entwicklungen: Zurechnungsexpansion............ 4. Kategoriale Probleme II: Handlungen und Strukturen . . 5. Die Absicht: Konkretisierung des verantwortungsethi schen Vorwurfs ..................................................................... 6. Das Vorgehen: Zugangsweise und Struktur des Argumen tationsgangs ...........................................................................
11 15 20 25 31 36
II. Vermeidbare Schäden.......................................................
41
1. 2. 3. 4.
Verdrängung des Naturalen ................................................ Unvermeidbarkeit qua Unvorhersehbarkeit..................... Unvermeidbarkeit in Zwangslagen.................................... Vermeidbarkeit der Differenz.............................................
41 46 50 55
III. Unterlassungsbedingte Schäden...................................
63
1. Untauglichkeit der Differenzenlösung bei Sonderstellung des Unterlassens .................................................................. 2. Handlungstheoretische Aufklärungsbedürftigkeit der Sonderstellungstheoretiker?................................................
63 69 9
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3. 4. 5. 6.
Die nichtrevolutionäre Form der Äquivalenzthese .... Sonderstellung des Unterlassens im Strafrecht.................. Die revolutionäre Form der Äquivalenzthese.................. Konsequentialistische Argumente gegen die Äquivalenz these .....................................................................................
106
IV. Kollektive Schädigung...................................................
121
1. Kollektive Verursachung...................................................... 2. Kollektive Verursachung und individualistische Hand lungstheorie ........................................................................... 3. Verantwortungsverteilung................................................... 4. Mittäterschaft als Institut kollektiver Zurechnung............ 5. Zusammenwirken in hierarchischen Organisationen.... 6. Nebentäterschaftliche kollektive Verursachung...............
121
V. Erlaubte Schädigung ......................................................
175
1. Grenzen des Nichtschädigungsgebots................................. 2. Erlaubtes Risiko - Legitimationsversuche........................ 3. „Politische Verantwortung“................................................
175 185 194
Schlußwort...............................................................................
201
Literaturverzeichnis...............................................................
203
Namensregister......................................................................... Stichwortregister.....................................................................
211 213
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76 88 97
128 139 145 153 164
I.
Einleitung
1. Der verantwortungsethische Vorwurf: Zivilisationsfolgeschäden als Schädigungstaten Seit der Studie über die „Grenzen des Wachstums“1 steigt beständig die Flut der Publikationen, in denen der Blick auf die Schäden und Risiken gerichtet wird, die dem Menschen nicht aus seiner natür lichen Umwelt, sondern aus seinem Umgang mit ihr Zuwachsen: Es drohen bzw. sind partiell schon eingetreten oder irreversibel auf den Weg gebracht die Vergiftung der Böden, des Grundwassers und der Ozeane, die Ausrottung zahlloser Arten, die Vernichtung des Strahlenschutzschilds der Erde und insbesondere die Destabili sierung des Klimas2. Bereits leichte Änderungen in diesem Bereich sind in komplizierten Ökosystemen ja auch für diejenigen Arten bedrohlich, die aufgrund physiologischer oder - im Falle des Men schen - kulturell bedingter hoher Anpassungsfähigkeit solche Än derungen selbst erst einmal überleben könnten. Das Ausmaß der möglichen Folgen übertrifft zweifellos das Schadensausmaß des fol genreichsten und in diesem Sinne schlimmsten Delikts, das das Strafrecht kennt - nämlich des Völkermords3. In der Tat trifft man in einschlägigen Kontexten immer wieder einmal auf Formulierungen, die nahelegen, wir hätten uns mit Be zug auf die globalen Risiken und ihre zu erwartenden Folgen auch wirklich als Verbrecher zu fühlen. So lautet zum Beispiel in einem Prospekt des C. H. Beck-Verlags der Werbetext zu einem Buch mit dem Titel „Das Ende des blauen Planeten?“: „Dieses Buch straft jeden Lügen, der jetzt oder später behauptet, er habe es nicht wis sen können“. Angesichts dieser Ankündigung ist offenbar erst recht 1 Meadows/Meadows/Randers/Behrens III (1972), The Limits to Growth. A Report for the Club ofRome’s Project on the Predicament of Mankind. 2 Z. B. Nisbet (1994), Globale Umweltveränderungen. 3 §220a StGB.
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nicht entschuldigt, wer das Buch nicht kauft. Es ist bekannt, woher der zitierte Satz seinen geradezu drohenden Aufforderungscharak ter bezieht: Daß man es nicht habe wissen können, war der häufige, für die genau informierten Spätgeborenen schwer glaubhafte Kom mentar derjenigen, die im Dritten Reich ihren Alltagspflichten nachgingen, anstatt sich gegen die Judenvernichtung aufzulehnen. Die hier insinuierte Analogie erscheint manchem umso weniger ab surd, je deutlicher er sich das Ausmaß der drohenden Schäden ver gegenwärtigt. Die Vergegenwärtigung der Langfristfolgen haben denn auch Mahner wie Hans Jonas unter dem Stichwort „Heuristik der Furcht“4 zur moralischen Pflicht der jetzt Lebenden erhoben, damit sie fähig seien, ihre Gleichgültigkeit abzulegen und das „Un geheure“5 ihres Tuns einzusehen. Mit einiger rhetorischer Intensität hat auch Ulrich Beck seinen Lesern die Katastrophenträchtigkeit der Lage vor Augen geführt und zugleich insistiert, daß es sich hier nicht um naturale Prozesse, sondern um Taten handelt - und zwar keineswegs nur um Taten vergangener, sondern auch und gerade jetzt lebender Akteure6. In soweit kann man durchaus verstehen, warum sich bei Gelegenheit der Befassung mit diesem Thema beim Publikum häufig eine gewis se hilflose Empörung einstellt. Insbesondere ist dies bei Subjekten der Fall, die bereits unter konkreten, evidenten Beeinträchtigungen ihres Wohlbefindens, etwa unter schweren Allergien zu leiden ha ben. Die Vermutung, daß es sich bei zahlreichen, insbesondere bei den häufiger werdenden Krankheiten nicht um endogene Katastro phen, sondern um eine ungebetene Mitgift der Risikogesellschaft handelt, steigert die Protestbereitschaft. Dabei muß sich der Ver dacht nicht einmal durch Angabe konkreter Kausalitäten oder mit
4 Jonas (1979), Das Prinzip Verantwortung, S. 63-65. 5 Das Stichwort entstammt dem Chor aus Sophokles’ Antigone, der in der einschlägi gen Literatur gern zitiert wird, siehe Jonas (1979), S. 17f., auch Lenk (1994), Zum Stand der Verantwortungsdiskussion in der Technik, S. 113. 6 Beck (1986), Risikogesellschaft; Beck (1991), Politik in der Risikogesellschaft; Beck (1988), Gegengifte, bes. Erster Teil, Kap. III: Der industrielle Fatalismus: Die organi sierte Unverantwortlichkeit, S. 96-112, s. a. S. 174: „Wenn es eine Schlüsselerfahrung gibt, die das Zeitalter der atomaren Selbstvernichtungs- und genetischen Selbstverän derungsmöglichkeiten von der alten Industriegesellschaft unterscheidet, so ist es die dämmernde Einsicht, daß alle Konstruktionen industrieller Eigendynamik unter der Diktatur der Gefahr, die sie heraufbeschworen hat, zerbrechen und die Menschen erkennen müssen, daß die Eigendynamik im Kern aus Handlungen (Unterlassungen) gemacht ist.“
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tels statistischer Evidenzen bestätigen lassen. Meist genügt schon, daß er nicht widerlegt werden kann. Die Reaktion auf die Zivilisationsfolgeschäden hat freilich einen speziellen Charakter, der sie von der Reaktion auf gewöhnliche Schädigungstaten durchaus verschieden sein läßt. Insbesondere ist auch mäßig reflektierten Beurteilern der Lage unmittelbar klar, daß, anders als bei gewöhnlichen Schädigungstaten, der Kreis der in Frage kommenden Täter äußerst weit zu ziehen ist und in man nigfacher Hinsicht auch sie selbst umfaßt. Gewiß macht, da nie mand sich gerne über sich selbst empört, diese Erkenntnis geneigt, einschlägige Unrechtsurteile abzumildern. Aber die Aufrechten un ter den Besorgten sehen in der Tatsache, daß die meisten ihrer An klagen auch gegen sie selbst erhoben werden können, in gar keiner Weise einen guten Grund, sie fallenzulassen, und dies offenbar mit einem gewissen Recht. Gerade die Aufrechten tendieren dann auch dazu, aus der Anklage zunächst einmal persönliche Konsequenzen zu ziehen: Sie trennen besonders gewissenhaft den Müll, benutzen in der Cafeteria statt des Plastikbechers mitgebrachte Gefäße, ver zichten auf Wochenendtrips mit dem Flugzeug, verkaufen vielleicht gar ihr Automobil oder treiben auf andere Weise einschneidenden Konsumverzicht. Obgleich der Grad der geäußerten Empörung auch eine Temperamentsfrage ist, läßt sich doch feststellen, daß ceteris paribus die Protestbereitschaft in dem Grade wächst, in dem man sich selbst durch Aktivitäten oder Unterlassungen der geschil derten Art aus dem Kreis der evidentesten Täter zurückgezogen hat oder zu haben glaubt. In der Tat ist es ja auch besonders unerträg lich, in praktisch unveränderter Weise potentielles oder schon ak tuelles Opfer zivilisatorischer Schädigungstaten zu sein, wenn man persönlich die Konsequenzen aus der allgemeinen Regel, daß man sich so verhalten müsse, daß andere nicht geschädigt werden, schon gezogen hat. Die öffentlich unbestrittene Geltung des Nichtschädigungsgebots ist es denn auch, die der Empörung über die Umweltschäden eine in gewisser Weise gesteigerte Qualität gibt. Gesteigert wird die Empö rung nämlich dadurch, daß die im Gang befindliche Zerstörung der Biosphäre im Unterschied zu gewöhnlichen Schädigungstaten of fenbar nicht verboten ist7. Daß Menschen immer wieder einmal so 7 Vgl. Beck (1988), S. 11: „irrwitzig ist es wie eine mit Gesetzen überfütterte, offi ziell gegenläufig programmierte Justiz ... nahezu perfekt Alltäterschaft in Freispruch verwandelt.“
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unmoralisch sind, andere zu schädigen, ist schließlich nichts Neues. Aber daß sie, soweit es um die umwelt- und gesundheitsschädigen den Nebenfolgen des Industrialisierungsprozesses geht, dies ohne gesellschaftlich allgemein akzeptiertes und effektuierbares Schuld urteil und infolgedessen weitgehend auch individuell ohne schlech tes Gewissen tun - das ist die Besonderheit der Lage, in der neben Polizisten, Staatsanwälten und Richtern nun auch Philosophen, Ge sellschaftstheoretiker und Publizisten damit beschäftigt sind, das „Prinzip Verantwortung“ zur Geltung zu bringen. Insbesondere macht man sich dabei zum Anwalt derer, die bei dem im Gang befindlichen Prozeß als die hauptsächlichen Träger der Folgelasten und zugleich als die eigentlich Unschuldigen gelten können - nämlich der künftigen Generationen, aber auch der lei densfähigen unter den nichtmenschlichen Kreaturen8. Der Reich weite der möglichen Folgen entsprechend wird der Bereich des zu Verantwortenden dabei äußerst weit gefaßt - in der Tat sehr viel weiter, als der Bereich des gegenwärtig Justitiablen reicht. Hans Jonas erläutert, die Ethik der technologischen Zivilisation habe es „mit Handlungen zu tun (wiewohl nicht mehr des Einzelsubjekts), die eine beispiellose kausale Reichweite in die Zukunft haben“9. Verantwortung aber habe „Zeit- und Raumhorizonte(.), die denen der Taten entsprechen“10, und daher sei es heute „nicht weniger als die gesamte Biosphäre des Planeten, ... wofür wir verantwortlich sein müssen, weil wir Macht darüber haben“11. Auch Beck spricht von „entscheidungsabhängig entstandene(n) und damit gesell schaftlich zu verantwortende(n) Gefahren“12, knüpft also die Verantwortbarkeit schadensträchtiger Situationen an ihre Eigenschaft, Entscheidungsfolge zu sein. Eben diesen Zusammenhang hat Her mann Lübbe zur Erklärung von gestiegenem Risikobewußtsein und abnehmender Risikoakzeptanz herangezogen: „Schlimme Folgen aus Handlungen sind ungleich weniger akzeptabel als schlimme Fol gen aus Prozessen bloßer Natur, und der Zivilisationsprozeß . ist ein Prozeß der Verwandlung dieser in jene. Das wirkt sich irreversi bel auf unser Risikoakzeptanzverhalten aus, und zwar ganz unab 8 Vgl. Birnbacher (1988), Verantwortung für zukünftige Generationen; Lenk (1994), Zum Stand der Verantwortungsdiskussion in der Technik, S. 141: „Ein justitiables Recht der Nachgenerationen, der Mitkreaturen sollte entwickelt werden.“ 9 Jonas (1979), S. 8f. 10 Ebd. S. 9. 11 Ebd. S. 27. 12 Beck (1988), S. 10.
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hängig von der Beantwortung der Frage, ob unser Leben industrie gesellschaftsabhängig nun sicherer oder unsicherer geworden sei“13. Auch Niklas Luhmann konstatiert, in immer mehr Schadensfällen seien es „Menschen bzw. Organisationen, also Entscheidungen ..., die man als auslösende Ursache identifizieren kann. Also macht es Sinn, dagegen zu sein“14. Die Unterscheidung des sogenannten natürlichen Geschehens vom Bereich der Handlungs- oder Entscheidungsfolgen als Bereich, innerhalb dessen es „Sinn macht, dagegen zu sein“, ist jedoch weni ger deutlich und weniger einleuchtend, als es auf den ersten Blick aussieht. Insbesondere kann auf der Basis dieser Unterscheidung der Möglichkeit subjektloser kultureller Prozesse nicht Rechnung getragen werden. Das sind Prozesse, die zwar durch Handlungen bzw. Entscheidungen bedingt sind (kulturelle Prozesse), die aber gleichwohl nicht sinnvoll als irgend jemandes Handlung konzipier bar sind (subjektlose Prozesse). Der nachfolgende sowie der vierte Abschnitt dieses Einleitungskapitels erläutern einige kategoriale Probleme, die bei dem Versuch auftreten, innerhalb kultureller Pro zesse zwischen Handlungen und sonstigem Geschehen zu unter scheiden. Im folgenden Abschnitt interessieren zunächst zwei As pekte: Erstens geht es um die Frage, ob bzw. unter welchen Umständen die Folgen des Nichteingreifens in einen (naturalen oder kulturellen) Prozeß als subjekthafte Verläufe zu begreifen sind. Zweitens geht es um die Frage, inwieweit dasselbe für kollektiv verursachte, d. h. von mehreren natürlichen Personen bewirkte Ver läufe gilt. 2. Kategoriale Probleme I: Nichteingreifen und kollektive Verursachung In den oben wiedergegebenen Zitaten war bei der Kennzeichnung des Verantwortungsbereichs zum Teil von Handlungs- und zum Teil von Entscheidungsfolgen die Rede. Der Bereich der Entschei dungsfolgen umfaßt - im Unterschied zum Bereich der Handlungs folgen, falls der Handlungsbegriff im engeren, das Unterlassen aus schließenden Sinne verstanden wird - auch die Folgen einer Entscheidung, nicht einzugreifen. Hierbei ist das Bestehen einer 13 H. Lübbe (1990), Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, S. 93. 14 Luhmann (1991), Soziologie des Risikos, S. 3.
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Eingriffsmöglichkeit vorausgesetzt. Wo sie besteht, scheint auch mit Bezug auf Schäden aus „natürlichen“ Prozessen der Ruf nach Ver antwortung sinnvoll zu sein. Wer am Begriff des natürlichen Pro zesses als eines nicht entscheidungsbedingten Prozesses festhalten will, muß das so wenden: Bei Entstehen einer Eingriffsmöglichkeit zieht nicht nur das Eingreifen, sondern auch das Nichteingreifen in einen (bislang) natürlichen Prozeß diesen in den Bereich des kul turell Bedingten und damit nicht mehr bloß Natürlichen hinein. Dann wäre zum Beispiel der Prozeß der natürlichen Evolution, so bald ein politisches Verbot gentechnischer Eingriffe Bedingung sei ner Ungestörtheit wäre, insoweit kein naturaler Prozeß mehr. Das ist freilich eine Betrachtungsweise, auf die das alltägliche Urteilen in vielen Hinsichten nicht - vielleicht noch nicht - eingestellt ist. Gerade die Debatten um die Gentechnik bieten dafür ein Beispiel: Die Chancen, die sich an diese Technologie knüpfen, verlocken die Öffentlichkeit nicht annähernd so, wie die Risiken sie ängstigen. Dahinter steckt nicht nur ein Abwägungsurteil über das Größenver hältnis der Chancen hier und der Risiken dort. Es steckt dahinter auch die Gewohnheit, die möglichen Schadensfolgen einer Anwen dung neuer Technologien als zu verantwortende Taten zu betrach ten, während die möglichen Schadensfolgen ihrer Nichtanwendung als Folgen der Prozesse hingenommen werden, in die man korrigie rend hätte eingreifen können - nicht aber als Folgen des unterlasse nen Eingriffs selbst. Hinsichtlich der Folgen des Nichteingreifens stehen daher die Akteure trotz insgesamt knapper werdender Risi kotoleranzen oft unter geringerem Legitimationsdruck als hinsicht lich der Folgen des Eingreifens. Es ist also keineswegs selbstverständlich, daß der Bereich der Unterlassungsfolgen im gleichen Sinne und im gleichen Ausmaß in den für das „Dagegensein“ relevanten Bereich fällt wie der Bereich der Handlungsfolgen15. Behandelt man entgegen den auch rechtlich institutionalisierten Üblichkeiten beides gleich, dann sind Unter lassungsfolgen ebenso gut Taten, und der Bereich des nicht subjekt losen Geschehens scheint entsprechend weiter. Aber schon die Tat sache, daß das jeweils nicht Ausgeführte im Unterschied zum Ausgeführten fast beliebig zahlreich sein kann, zeigt an, daß Unter lassungsfolgen nicht summarisch als Taten der Entscheider verstan den werden können. Man hätte hier oder dort eingreifen können 15 Siehe auch Birnbacher (1995), Tun und Unterlassen, S. 9-23; zur Bevorzugung des Nichteingreifens in der Ökologie-Diskussion S. 11 f.
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das Unterlassen von Eingriffen überhaupt zu vermeiden, steht da gegen zu niemandes Disposition. Aber auch im Falle einer bloß durch zwei Möglichkeiten bestimmten Entscheidungssituation läßt sich bezweifeln, daß der (handelnd oder unterlassend) gewählte Prozeßverlauf jedenfalls Tat sei. Im Beispiel einer Mutter, die ihr Kind vor der Geburt verliert, wäre dieses Ereignis Teil des natür lichen Geschehens, wenn es infolge einer angeborenen Fehlfunk tion der Organe des Kindes eintritt. Mit einem entscheidungs-, näherhin handlungsbedingten Geschehen hätte man es dagegen zu tun, wenn das Unglück als Nebenfolge eines ärztlichen Eingriffs zu diagnostischen Zwecken eintritt. Aber wie ist das Ereignis einzu ordnen, wenn es infolge einer angeborenen Fehlfunktion eintritt, die rechtzeitig erkannt und therapiert worden wäre anläßlich eines diagnostischen Eingriffs, den die Mutter aus Sorge vor dem Ein griffsrisiko nicht hat vornehmen lassen? Wo sich der durch die Al ternative von Eingreifen oder Nichteingreifen eröffnete Entschei dungsspielraum auf die Wahl zwischen zwei möglichen Übeln beschränkt, scheint es nicht ganz passend, den schließlich gewähl ten Verlauf ohne weiteres als Tat zu qualifizieren. Denn immerhin war es nicht möglich, auf das Sichentscheiden für üble Folgen über haupt zu verzichten. Wie muß also dasjenige am resultierenden Ver lauf, das hier tatsächlich zur Disposition des Entscheidungssubjekts steht und insoweit nicht subjektlos ist, genau beschrieben werden? Die meisten Schäden und Risiken, um die es in den aktuellen Verantwortungsdebatten geht, sind - im Bereich des Handelns wie in dem des Unterlassens - kollektiv verursacht: Viele Entscheidun gen, viele Handlungen verschiedener Subjekte sind beteiligt. Von einer einzelnen oder gar von jeder einzelnen Entscheidung oder Handlung läßt sich dabei meist nicht sagen, sie sei die auslösende Ursache oder auch nur eine notwendige Bedingung des betreffen den Ereignisses. Auf diesen Umstand bezieht sich Hans Jonas an der bereits zitierten Stelle16 mit dem Einschub, es seien Handlungen „wiewohl nicht mehr des Einzelsubjekts“, die jene beispiellose kau sale Reichweite hätten. Es ist jedoch ein Unterschied, ob man sagt, die Probleme entstünden aus einer Vielheit von Handlungen, oder ob man sagt - und in diese Richtung geht die Formulierung von Jonas -, die Probleme entstünden aus den Handlungen einer Viel heit. Im Übergang von der ersten zur zweiten Formulierung steckt das Problem, inwieweit kollektiv verursachte Schäden oder Risiken 16 Jonas (1979), S.8f.
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Resultate kollektiven Handelns sind in einem Sinne, der es recht fertigen würde, die beteiligten Individuen zusammenzufassen und die Gesamtheit analytisch sowie praktisch nach Analogie eines Handlungssubjekts zu behandeln. Nur ein Handlungssubjekt kann Intentionen ausbilden, sich entscheiden, fahrlässig sein, auf morali sche Appelle reagieren, kurz: Verantwortung tragen. Wenn nur die Gesamtheit der Handlungen die Zurechnungsbedingung der Kau salität erfüllt, dann versteht es sich noch nicht von selbst, daß sie auch die Bedingung erfüllt, als Gesamtheit aus einer Quelle zu stammen, die als Zurechnungssubjekt geeignet ist. Die Antwort auf die Frage, ob bzw. in welchen Fällen dies für „uns“, für „die Gesellschaft“, für „Organisationen“17 oder für sonstwie sprachlich in Bezug Genommenes, das nicht eine natürliche Person ist, gilt, ist keineswegs selbstverständlich. Christian Meier hat im Zusammenhang von Überlegungen zu einer Theorie historischer Prozesse darauf hingewiesen, daß in hi storischen Zusammenhängen häufig Aussagen mit fiktiven Hand lungssubjekten vorkommen, die sich von handlungstheoretisch un bedenklichen Verwendungen desselben Subjektausdrucks auf den ersten Blick nicht unterscheiden. Als Beispiel dienen die beiden Sätze „Italien erkennt die DDR an“ - dieser Satz gilt Meier als unproblematisch - und „Italien zerstört durch die Streiks seine Wirtschaft“. Im zweiten Satz bezeichne das grammatische Subjekt nicht den „Ausgangspunkt der Handlung“, sondern „nur das Ge häuse für Prozesse“18. Obwohl man anhand der Beispiele zu verste hen glaubt, worum es geht, bleibt der relevante Unterschied pro blematisch: Ist nicht auch der Akt der Anerkennung der DDR, unbeschadet seiner Zurechenbarkeit zum Völkerrechtssubjekt Ita lien, ein Resultat mannigfacher Prozesse - diplomatischer, außen politischer, parteipolitischer -, an denen zwar viele Handlungssub jekte beteiligt sind, aber so, daß keines von ihnen als Subjekt des Resultats des Gesamtprozesses gelten kann? Hat im zweiten Fall nicht der Prozeß der Zerstörung der italienischen Wirtschaft in all denen, die das Resultat hätten abwenden können, ein Handlungs subjekt - in den Streikenden selbst, in den unnachgiebigen Arbeit gebern, oder in den Politikern, die angesichts der Gefahr eine Än derung der rechtlichen Rahmenbedingungen für den Arbeitskampf hätten beschließen können? Für den Historiker mag die Reflexion 17 Vgl. die oben, S. 14 f., wiedergegebenen Zitate von Jonas, Beck und Luhmann. 18 Meier (1978), Fragen und Thesen zu einer Theorie historischer Prozesse, S. 54.
18 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
auf die Voraussetzungen, unter denen von einem kollektiv verur sachten Vorgang sinnvollerweise gesagt werden kann, er habe ein Subjekt und sei mithin Handlung, letztlich entbehrlich sein. Für den Verantwortungsethiker ist das auf keinen Fall entbehrlich. Denn Prozesse ohne Handlungssubjekt sind zugleich Prozesse ohne Ver antwortungssubjekt. Soweit die Erläuterung der beiden Problemaspekte. In beiden Fällen handelt es sich um Aspekte einer Fragestellung, die - als Frage nach der Unterscheidung von Handeln und sonstigem Ge schehen - eine klassische Fragestellung ist19. Hier wird sie freilich mit Bezug auf eine nicht ebenso klassische Situation aufgenommen und verlangt daher möglicherweise auch nichtklassische Antwor ten. Nichtklassisch ist zunächst das Ausmaß, in dem wir heute über nichtintendierte Folgen des Verhaltens und insbesondere des Zu sammenhandelns der Menschen Bescheid wissen. Nichtklassisch ist sodann der Wegfall der Möglichkeit, über diese Effekte im Mo dus der Rekonstruktion des providentiellen Handelns Gottes zu sprechen. Was diese Rede ebenso wie ihre Säkularisate (die „un sichtbare Hand“ der klassischen Ökonomie, Hegels „List der Ver nunft“) heute vor allem untauglich macht, ist die Tatsache, daß die zivilisatorische Entwicklung an einen Punkt gekommen ist, an dem unter den nichtintendierten Effekten vor allem die schädigenden und nicht wie vordem die wohltätigen auffällig werden. Erst die schädigenden Folgen sind es, die den Zurechnungsdruck produ zieren und zu der Forderung führen, das Wissen über die nichtintendierten Effekte des Handelns, anstatt zu einem Thema geschichtsphilosophischer Reflexionen, zu einem Mittel der Hand lungssteuerung zu machen. Im folgenden Abschnitt wird geschil dert, wie sich die gerade erläuterten Schwierigkeiten in der Art und Weise niederschlagen, in der die mit dem Verantwortungsthe ma primär befaßten wissenschaftlichen Disziplinen auf den steigen den öffentlichen Zurechnungsdruck reagieren. Zuständig sind vor allem die Jurisprudenz und die Moralphilosophie; freilich decken sich deren Antworten nicht, obwohl sie in dieselbe, nämlich zurech nungserweiternde Richtung gehen.
19 Vgl. Spaemann (1975), Nebenwirkungen als moralisches Problem.
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3. Aktuelle Entwicklungen: Zurechnungsexpansion Die für eine Bearbeitung der gerade erläuterten Probleme relevan ten Diskussionsbereiche sind disziplinär verstreut und oft auch in nerhalb der Fächer unverbunden, insbesondere innerhalb der in sich so heterogenen Philosophie: Für den Handlungsbegriff erklärt sich die analytische Handlungstheorie zuständig; mit Kausalitäts fragen beschäftigt sich die Wissenschaftstheorie; Geschichtstheorie treiben, neben den Historikern, wieder andere Philosophen; an den Debatten um Individualismus und Kollektivismus nehmen Sozial wissenschaftler und Sozialphilosophen teil; das Verantwortungsthe ma schließlich fällt in die Kompetenz der Moralphilosophen, die freilich nach Hegel die Pflege der zurechnungstheoretischen Kate gorien weitgehend an die Jurisprudenz abgegeben haben. Der Be reich, der die nötigen Teilaspekte am stärksten integriert, ist denn auch die juristische Zurechnungsdiskussion. Das ist nicht überra schend, weil Juristen Zurechnungsurteile ja wirklich fällen müssen - und zwar im Unterschied zu Philosophen, Soziologen und Histo rikern gültige, also folgenreiche Urteile. Das macht sich in den Theorien bemerkbar, nicht zuletzt in Form einer außerordentlichen Detailliertheit und Systematizität. Denn bei der Entwicklung juri stischer Teilkonzepte - etwa dem strafrechtlichen Täterschaftsbe griff - sind der Verschiedenartigkeit und Komplexität der wirklich zu entscheidenden Fälle wegen jeweils zahlreiche Anschlußproble me mitzubedenken: Welches Konzept der Mittäterschaft läßt sich anschließen? Wie ist die Vertreterhaftung zu entwickeln? Gibt es Beteiligung auch bei fahrlässigem Tun? Analoge philosophische Konzepte werden einem so umfangreichen Test ihrer Eignung, Teil eines Systems zur Erfassung eines vom Theoretiker nicht nach Gut dünken vorselektierten sozialen Phänomenbereichs zu sein, norma lerweise nicht ausgesetzt. Viele der nötigen Unterscheidungen lassen sich freilich auch mit alltagssprachlichen Mitteln anhand von Beispielen entwickeln, und für manches Grundlegende kann auf die philosophischen Klassiker zurückgegriffen werden. Nicht befriedigend gelöst ist die Frage, ob die klassischen philosophischen und die auf ihrer Basis systematisch ins Detail getriebenen juristischen Lehren auch angesichts der „neuen“ Probleme ausreichen, um die es in den aktuellen Verant wortungsdebatten und daher auch hier primär geht. Was an diesen Problemen wirklich neu ist, und wie weit, wenn überhaupt, sich aus 20 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
ihnen eine „Erschütterung der tradierten metaethischen Basis“20 ergibt, ist strittig. Immerhin zeigt sich, daß die Zurechnungspraxis und die mit ihr befaßte Wissenschaft mit der konzeptuellen Bewäl tigung zivilisationstypischer Schadensformen zu kämpfen haben und sich unter ihrem Druck zum Teil im Umbruch befinden21. Der Trend geht fast überall in Richtung einer Ausweitung der Zurech nung, sogar im eher innovationsfeindlichen, weil an beweisbar schuldhaftes Handeln gebundenen und daher nicht gemäß gesell schaftlichen Steuerungserfordernissen beliebig umgestaltbaren Be reich des Strafrechts. Beispiele umfassen die Ausweitung des Rechtsgutsbegriffs („Sicherheit“ als Rechtsgut)22, des Kausalitäts begriffs („epidemiologische Kausalität“)23, der Deliktsformen („Kumulationsdelikt“)24, der Haftung auch aus unterlassenem Tun begründenden Garantenstellungen (etwa der Produzenten für die Unschädlichkeit ihrer Produkte)25 oder der möglichen Zurech nungssubjekte („Unternehmensstrafe“)26. In der bundesrepublika 20 Seebaß (1994b), Moralische Verantwortung in der wissenschaftlich-technischen Welt, S. 240, der sich in Abgrenzung von Hans Jonas und anderen gegen die Erschütterungs these ausspricht. 21 Besonders klar und einleuchtend der Überblick bei Seelmann (1990), Atypische Zurechnungsstrukturen im Umweltstrafrecht; siehe im einzelnen die folgenden Anmer kungen. 22 Kindhäuser (1989), Gefährdung als Straftat; zur begrenzten praktischen Bedeutung des Streits um das Rechtsgut der Straftaten gegen die Umwelt Rengier (1990), Zur Bestimmung und Bedeutung der Rechtsgüter im Umweltstrafrecht, siehe aber zu den Auswirkungen im Bereich der Amtsträgerstrafbarkeit ebd. S. 2509f.; ausführlich - an der strafrechtsbegrenzenden Funktion des traditionellen Rechtsgutsbegriffs orientiert - Hohmann (1991), Das Rechtsgut der Umweltdelikte. 23 Als Überblick über die Problemlage im Strafrecht und im Haftungsrecht siehe die Beiträge von Schulz (1994), Kausalität und strafrechtliche Produkthaftung, sowie von Köck (1994), Kausalität und Zurechnung im Haftungsrecht. Klassische und moderne Problemkonstellationen, und Teubner (1994), Die unsichtbare „Cupola“: Kausalitäts krise und kollektive Zurechnung, im Abschnitt „Zurechnungspraxis in der Kausalitäts krise“ in W. Lübbe (1994b), Kausalität und Zurechnung. Yamanaka (1991), Umwelt katastrophen, Massenprozesse und rechtlicher Okologieschutz in Japan, S. 115 f., diskutiert die strafrechtliche Anwendbarkeit des im japanischen Zivilrecht entwikkelten epidemiologischen Kausalbegriffs. 24 Siehe Kuhlen (1986), Der Handlungserfolg der strafbaren Gewässerverunreinigung (§324 StGB); ergänzend Kuhlen (1993), Umweltstrafrecht - auf der Suche nach einer neuen Dogmatik, S. 716 f. 25 Z. B. Kuhlen (1990), Strafhaftung bei unterlassenem Rückruf gesundheitsgefährden der Produkte, bes. S. 567-569; Seelmann (1994), Privatrechtlich begründete Garanten pflichten?; ausführlich Hilgendorf (1993), Strafrechtliche Produzentenhaftung in der „Risikogesellschaft“. 26 Nach geltendem deutschen Strafrecht können juristische Personen nicht sanktio
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nischen Rechtspraxis und in verwandten Rechtssystemen setzt sich dabei anstelle einer Aufweichung der Haftungskriterien, also der Voraussetzungen des Schuldurteils, primär die Zurechnungserwei terung durch Übergang zu neuen Haftungsgegenständen durch. Das geschieht insbesondere auf dem Wege der Formulierung von Ge fährdungsdelikten anstelle der traditionell dominierenden Erfolgs delikte27. In der Diskussion bleiben aber auch tragende Teile der klassischen Zurechnungslehre nicht unberührt - etwa die Indivi dualhaftung oder das in dubio-Prinzip angesichts bloß statistischer Kausalnachweise. Umstritten sind die Neuerungen oder Neue rungsvorschläge allemal28. Zurechnungsexpansion ist freilich vor allem eine öffentliche, gar nicht primär von Juristen erhobene Forderung. Und es ist nicht zu letzt das Rechtssystem selbst, gegen das sich diese Forderung rich tet. Als Reaktion auf eine verbreitete Praxis verantwortungslosen Handelns allein kann ja die Flut der Verantwortungsliteratur, wie erwähnt, nicht begriffen werden. Es handelt sich zusätzlich um eine Reaktion auf eine als ungenügend empfundene Praxis des Zurver niert werden, wohl dagegen nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz (§ 30 OWiG). Im anglo-amerikanischen Rechtskreis, wo die unterschiedliche Pragmatik der einzelnen Rechtsgebiete weniger streng gehandhabt wird, gibt es die Unternehmensstrafe seit langem; siehe Ehrhardt (1994), Unternehmensdelinquenz und Unternehmensstrafe. Sanktionen gegen juristische Personen nach deutschem und US-amerikanischem Recht. 27 Im Unterschied zu Erfolgsdelikten sanktionieren Gefährdungsdelikte bereits die Herbeiführung einer (ggf. auch: „abstrakten“, d.h. nicht unmittelbar drohenden) Ge fahr und nicht erst die Herbeiführung eines Schadens („Erfolgs“). Entsprechend ent fallen insbesondere die Schwierigkeiten der Kausalitätsfeststellung zwischen der ein zelnen Handlung und einem konkreten Schaden. Zu den handlungs- und rechtstheoretischen Grundlagen siehe Kindhäuser (1989), Gefährdung als Straftat. Rechtstheoretische Untersuchungen zur Dogmatik der abstrakten und konkreten Ge fährdungsdelikte. 28 Vgl. Roxin (1994a), Strafrecht, S. 18-21, zur Diskussion um das „Risikostrafrecht“: „Es geht dabei um die Frage, inwieweit das Strafrecht in der Lage ist, mit seinem überlieferten rechtsstaatlich-liberalen Instrumentarium ... den modernen Lebensrisi ken (etwa atomarer, chemischer, ökologischer oder gentechnischer Art) entgegenzu wirken ... Da die ,Zukunft‘ weniger durch Einzelpersonen als durch Kollektive ge fährdet wird, werden vor allem in diesem Bereich neue Zurechnungsstrukturen zu entwickeln sein ...“ (S. 19f.). Gegen die Ausweitung der Gefährdungsdelikte z.B. Herzog (1991), Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge. Stu dien zur Vorverlegung des Strafrechts in den Gefährdungsbereich; moderater Prittwitz (1993), Strafrecht und Risiko. Untersuchungen zur Krise von Strafrecht und Kriminal politik in der Risikogesellschaft; gegen den Rückzug des Strafrechts aus diesem Auf gabenbereich z. B. Stratenwerth (1993), Zukunftssicherung mit den Mitteln des Straf rechts; siehe auch Kuhlen (1994c), Zum Strafrecht der Risikogesellschaft.
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antwortungziehens. In der philosophischen Fachdiskussion ist dabei von den beiden im vorigen Abschnitt erläuterten Problemschwer punkten vor allem der zweite präsent. Im angelsächsischen Bereich gibt es eine inzwischen umfangreiche Diskussion über kollektive Verantwortung, in der zunehmend die Seite der Kollektivisten ver treten wird29. In den einschlägigen Untersuchungen, die zunächst vor allem im Bereich der sogenannten Business ethics zu Hause wa ren, sich aber längst nicht mehr auf diesen Bereich beschränken, ist ein breiter sozialtheoretischer Unterbau entstanden. Es wurde evi dent, daß man keine Ethik der Verantwortung sozialer Gruppen entwickeln kann, ohne mehr als bisher gewohnt über diejenigen Aspekte der Realität zu sagen, die uns veranlassen, eine Menge von Individuen eine soziale Gruppe zu nennen30. Dabei dehnen sich die Untersuchungen über das bereits klassische Thema der „kor porativen Akteure“ (Unternehmen, Verbände usw.) hinaus auch auf nichtorganisierte Personengruppen aus, zum Beispiel auf soge nannte „random collections“ wie die Menge der zufällig in der Nä he eines Unfalls oder Überfalls befindlichen Passanten31. Diese und ähnliche Beispiele - auch parallel, aber ohne Verabredung tätige Verursacher insgesamt umweltbelastender Effekte gehören im Prinzip hierher - sind deshalb besonders interessant, weil es sich nicht um Personenmengen handelt, die man ebenso leicht unter das Konzept eines „kollektiven Akteurs“ subsumieren würde wie etwa die Mitglieder der Geschäftsführerversammlung eines Unter nehmens. Tatsächlich kann man beobachten, daß im Kontext der Diskussion solcher Quasigruppen die Kommentare der Analytiker einen quasi-performativen oder auch offen normativen Charakter annehmen: Die Gruppenqualität wird der im Prinzip bestehenden kollektiven Schadenshinderungsmöglichkeit wegen insinuiert, bzw.
29 Als Überblick über die Debatte May/Hoffman (1991), Collective Responsibility; siehe auch French (1984), Collective and Corporate Responsibility; Mellema (1988), Individuals, Groups, and Shared Moral Responsibility; May (1992), Sharing Responsi bility; u.v. a. 30 Aus dem speziell ethischen Diskussionskontext heraustretend ausführlich Gilbert (1989), On Social Facts; programmatisch Ware (1988), Group Action and Social Ontology; ebenfalls sozialtheoretisch, aber zugleich an den Problemen der aktuellen (zivil rechtlichen) Rechtsentwicklung orientiert Teubner (1994), Die unsichtbare „Cupola“: Kausalitätskrise und kollektive Zurechnung. 31 Siehe Held (1991), Can a Random Collection of Individuals be Morally Responsible? (zuerst 1970).
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es wird gefordert, daß man sich als Gruppe zu verstehen und ent sprechende Verbindlichkeiten zu übernehmen habe32. Im Zusammenhang damit wird zunehmend die bislang übliche Begrenztheit der Zuständigkeit realer oder potentieller kollektiver Akteure für die Folgen unterlassenen Eingreifens in schädigende Prozesse in Frage gestellt33. Das Problem der unterschiedlichen Zu rechnung von Handeln und Unterlassen hat seinen philosophischen Ort freilich nicht primär in der verantwortungsethischen Literatur. Die einschlägigen Diskussionen entstammen vorwiegend dem me dizinethischen Bereich und bleiben auch in den Beispielen noch häufig auf die dort aktuellen Probleme bezogen, wobei freilich die vorgebrachten Argumente von großer handlungstheoretischer und ethischer Allgemeinheit zu sein beanspruchen34. Die Tendenz, die Zurechnungsvoraussetzungen des Unterlassens den strengeren Kri terien im Bereich des Tuns anzugleichen, erfährt jedenfalls auch von dieser Seite Unterstützung. Es scheint mir offensichtlich, daß diese zurechnungsexpansiven Tendenzen auf ähnlichem Boden wachsen wie die analogen, aber deutlich konservativeren Debatten im juristischen Bereich. Man verspricht sich von der Ausweitung der Zurechnung eine bessere Ausschöpfung der Grenzen der Steuerungsfähigkeit in einer Lage, in der es gute Gründe gibt, zusätzliche Aspekte des Zivilisations prozesses in den Planungshorizont der Akteure hineinzuverlagern. Dabei tendiert die nichtjuristische Diskussion zu einer Konzentra tion auf Einstellungsfragen im Unterschied zu Organisationsfragen; sie kümmert sich, kraß gesagt, eher um die Entwicklung von Ver antwortungsgefühlen als um die Voraussetzungen aktueller indivi 32 Z. B. May (1992), Sharing Responsibility, Part Two, bes. Ch. 6.2.: Collective Responsibility and Putative Groups, S. 109-112. - Die diskutierten Anwendungsfälle betref fen in den hier herangezogenen Debatten, soweit es nicht um „business ethics“ geht, freilich häufiger klassische Problemfälle von „Kollektivschuld“ (Rassismus, Kriegs verbrechen, Völkermord) als Fälle kollektiver Umweltschädigung. Dieser Problembe reich wird hier, obgleich sich gewisse Parallelen ziehen lassen, nicht aufgenommen; er führt auch in der juristischen Literatur in andere Diskussionsgebiete, als sie im folgen den relevant werden - siehe etwa Jäger (1989), Makrokriminalität. Studien zur Krimi nologie kollektiver Gewalt; sowie Marxen (1994), Die Beteiligung an systematischem Unrecht - Bemerkungen zu einer völkerstrafrechtlichen Straftatlehre. 33 Das Stichwort lautet „collective inaction“; z.B. May (1992), Part Two, Ch. 6.: Col lective Inaction and Responsibility, S. 105-124. 34 Siehe Steinbock/Norcross (1994), Killing and Letting Die; Kuhse (1994), Die „Hei ligkeit des Lebens“ in der Medizin. Eine philosophische Kritik; Birnbacher (1995), Tun und Unterlassen.
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dueller oder kollektiver Handlungsfähigkeit. Dennoch ist gerade wegen der Unbesorgtheit um Konkretheit und rechtstechnische Umsetzbarkeit die Diskussion in der Moralphilosophie und ande ren rechtsfernen Bereichen von großer Bedeutung. Denn sie öffnet in anderem Ausmaß als die immer um Anschlußfähigkeit an die herrschende Praxis bemühte juristische Diskussion den Blick für die Kontingenz, also für die Nichtselbstverständlichkeit der aktuell bestehenden Zurechnungsverhältnisse. Die zentrale Bedeutung, die die Tatsache der Kontingenz der Zurechnungsstrukturen im Kontext der Frage nach der Grenze zwischen subjektlosen und nicht subjektlosen Prozessen hat, wird im folgenden in einem eige nen Abschnitt erläutert. 4. Kategoriale Probleme II: Handlungen und Strukturen Wenn jemand an einem angeborenen Herzfehler zu sterben droht, wird das von ihm selbst, von den Angehörigen, den Ärzten usw. als individuelles Schicksal schließlich hingenommen. Tatsächlich ist das „Schicksal“ unter anderem eine Folge dessen, daß in unserer Gesellschaft die Möglichkeit, transplantationsfähige Organe Ver storbener zu nutzen, durch detaillierte juristische Bestimmungen stark eingeschränkt ist. Die üblichen Wahrnehmungsmuster bezüg lich der Frage, welche Schäden protestfrei hinzunehmen sind, sind also häufig keine Funktion prinzipieller Grenzen der Hinderungs möglichkeit, sondern eine Funktion begrenzter Rechte und Pflich ten, zu hindern. Entsprechend ist auch die Unterscheidung zwi schen dem, was innerhalb eines Geschehensablaufs Tat ist, und dem, was niemandes Tat, sondern Unglück, Schicksal oder Natur ist, von normativen Zurechnungsgesichtspunkten geprägt. Diese sind überdies in Abhängigkeit von allerlei kulturellen Entwicklun gen wandelbar. Die zivilrechtliche, aber auch die strafrechtliche Produkthaftung oder auch die Verkehrssicherungspflichten sind zum Beispiel solche aktuell im Wandel begriffenen Bereiche. Ent sprechend operiert man hier mit der Unterscheidung, ob man von einem Unglück oder von einer Pflichtverletzung betroffen wurde, häufig nicht mit reflexionsfreier Selbstverständlichkeit. So kann es etwa passieren, daß jemandem beim Besuch eines Biergartens aus dem schattenspendenden Dach der Kastanienbäume ein Ast auf den Kopf fällt. Ob der Betroffenen darauf wie auf einen Hagel 25 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
schauer zu reagieren hat - nämlich mit Hinnahme und eventuell mit gesteigerter Aufmerksamkeit für künftige Situationen dieser Art oder ob er sich entrüstet an den Gastwirt wenden und sich diesem als Opfer seines Unterlassens präsentieren darf, das sagt einem nicht der gesunde Menschenverstand, sondern darüber muß sich der juristische Laie informieren. Analoges gilt nun auch für Beeinträchtigungen, die - anders als die Folgen einer Organschwäche oder die Folgen des Aufenthalts unter altersschwachen Bäumen - nicht einmal prima facie als Be einträchtigungen aus naturalen Prozessen gelten können. Wird man zum Beispiel von einem Sexualpartner mit AIDS infiziert oder ver liert man ein Kind durch einen Verkehrsunfall, so wird man seinen Protest zunächst an die beteiligt gewesenen Handlungssubjekte richten wollen - an den Führer des Unfallfahrzeugs oder an den Sexualpartner. Ergibt sich freilich oder ist von vornherein ersicht lich, daß in den vorliegenden Fällen die betreffenden Subjekte (zum Beispiel mangels Erkennbarkeit der Gefahrenlage) nicht verant wortlich sind, dann pflegt man auch auf solche Schäden protestfrei, also wie auf Naturkatastrophen zu reagieren. Gleichwohl handelt es sich unbeschadet der fehlenden Erkennbarkeit der Gefahrenlage nicht um Ereignisse, die schlechthin unvermeidbar gewesen wären. Ihre aktuelle Unvermeidbarkeit ist vielmehr eine Folge der gelten den Gesundheits- bzw. Verkehrspolitik. Hätte Tempo dreißig gegol ten, wäre der Autofahrer in der Unfallsituation zum rechtzeitigen Abbremsen fähig und mithin dazu verpflichtet gewesen35. Wäre ein allgemeiner AIDS-Test vorgeschrieben gewesen, hätte der Sexual partner Bescheid gewußt und wäre zur Nichtweitergabe des Virus fähig und dazu verpflichtbar gewesen. Kurz: Wer in einer konkreten Situation wozu fähig ist, ist oft keine Frage hinzunehmender, objek tiver Grenzen von Handlungsmöglichkeiten, sondern, nochmals, eine Frage so oder so organisierbarer Rechte und Pflichten. Ulrich Beck scheint insoweit mit dem Untertitel seines Buches „Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit“36 eine passen 35 Siehe K. Günther (1994), Kampf gegen das Böse?, von dem das Verkehrsunfallbei spiel stammt, vgl. S. 150: „Tausende von Verkehrstoten pro Jahr sind ,Schicksal‘, auch wenn eine Geschwindigkeitsbegrenzung schon zu einer Verringerung der Opferzahl führen würde.“ 36 Beck (1988). Die Formel „organisierte Unverantwortlichkeit“ ist keine Erfindung von Beck; in der wirtschaftsstrafrechtlichen Diskussion wird sie schon vor 1988 schlag wortartig verwendet. Volk (1993), Zur Bestrafung von Unternehmen, S. 430, Anm. 11, gibt als älteste Quelle Ostermeyer (1971), Kollektivschuld im Strafrecht, S. 76, an, der
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de Formel für die Verhältnisse gefunden zu haben. In der Risiko gesellschaft, so Becks Analyse, gibt es mannigfache Schäden und Schadensrisiken, für die niemand zur Verantwortung gezogen wird - Anstieg der Krebs- und Allergieerkrankungsraten, Unfallrisiken durch Atomkraftwerke und Chemiewerke, Ozonloch, Waldsterben, Robbensterben, Artensterben und so weiter. Bei den meisten dieser Schäden und Risiken gilt als unumstritten, daß sie Industrialisie rungsfolgen sind, also Handlungsfolgen. Aber es finden sich keine Verantwortlichen - niemand, der sich zu den Schäden als seinen Taten bekennt, niemand, der den Betroffenen die Schäden ersetzt, und vor allem niemand, der sich Mühe gibt, daß ihm solches nicht wieder passiert. Aber die Unverantwortlichkeit, diese allgemeine Nichtzuständigkeit, so lautet Becks Kritik, ist kein unvermeidliches Unglück. Sondern es handelt sich um ein Organisationsprodukt, eben um „organisierte Unverantwortlichkeit“. In der Tat sind viele Beispiele, die man hier anführen kann, über zeugend. Beweisprobleme im Umweltrecht zum Beispiel sind in vielfältiger Hinsicht organisationsabhängig37. Bekannt ist die „Poli tik der hohen Schornsteine“, mit der man Nachweisprobleme be züglich der Quellen von Schadstoffimmissionen verschärfen, also Unzuständigkeit herstellen kann. Der ursprüngliche Sinn des Bau ens hoher Schornsteine war freilich nicht der des Verschärfens von Nachweisproblemen, sondern der der Entlastung der unmittelbar sich seinerseits ohne nähere Angaben auf Mills beruft. Auf die Bedeutung der Formel im Rahmen der Debatten über die sogenannte Unternehmenskriminalität kommen wir in Abschnitt IV.5. zurück. - Die Rezeption des Topos „Risikogesellschaft“ im Strafrecht und in anderen Rechtsgebieten referiert Hilgendorf (1993), Strafrechtliche Produzentenhaftung in der „Risikogesellschaft“, Abschnitte A bis C. Kritisch zur straf rechtlichen Bedeutsamkeit des Begriffs Kuhlen (1994c), Zum Strafrecht der Risikoge sellschaft. Siehe die Stellungnahme von Prittwitz (1993), Strafrecht und Risiko, S. 120: „Beck unterscheidet weder verschiedene Rechtsgebiete, noch verschiedene Rechts funktionen. Er wirft das allgemeine und besondere Verwaltungsrecht (einschließlich des hier natürlich besonders einschlägigen Umweltrechts), das Zivil- und Strafrecht ebenso durcheinander wie die Funktionen der Gefahrenabwehr, der Kompensation für erlittene Schäden und der ,Bestrafung‘. Dadurch verliert die Kritik erheblich an Profil und Gewicht; sie kommt kaum über die Konturen einer letztlich nebulösen Rechts- und Justizkritik hinaus.“ Selbst soweit das zutrifft, lohnt es sich, Becks These von der organisierten Unverantwortlichkeit ernst zu nehmen, denn sie hat einen wah ren Kern. Außerdem ist die These, wenn nicht geradezu „populistisch“ (Prittwitz, ebd.), so doch populär. Es ist einer der Vorzüge der Schriften von Beck und ein Grund ihres Erfolgs, daß sie verbreitete, aber noch kaum formulierte Stimmungslagen zur Sprache bringen - und sei es in ihrer gelegentlichen Nebulosität. 37 Siehe Beck (1988), S. 211-226.
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umliegenden Gebiete von allzu hohen Schadstoffeinträgen. Zeigt sich, daß die aus verschiedenen Quellen sich kumulierenden Ein träge insgesamt so hoch werden, daß von der Feinverteilung zur Vermeidung übergegangen werden muß, dann bedarf es einer Um organisation der einschlägigen Rechte und Pflichten der Beteiligten - inklusive solcher Änderungen, die möglichst bewirken, daß Ver stöße gegen diese Pflichten auch justitiabel sind, anstatt an Be weisproblemen zu scheitern. Insoweit handelt es sich bei einer fort gesetzten Unverantwortlichkeit, genaugenommen, nicht um ein Organisationsprodukt, sondern um ein Produkt unterlassener Um organisation, nämlich angesichts von Folgen gesellschaftlicher Ent wicklungen, die eine ursprünglich zweckmäßig erschienene Organi sation von Rechten und Pflichten ins Unzweckmäßige verkehrt haben. Analoges gilt für das erwähnte Beispiel des Verkehrsunfalls: Beim Erlaß der Regelung, daß innerstädtisch (nicht mehr als) fünf zig gefahren werden darf, waren keine Organisatoren der Unver antwortlichkeit am Werk. Allenfalls erweist es sich als unverant wortlich, angesichts der gestiegenen Verkehrsdichte, insbesondere bei schulnahen Straßen, an dieser Regelung festzuhalten. Die kleine rhetorische Übertreibung, die insoweit in der Beckschen Formulierung liegt, ist gewiß nicht unabsichtlich: Schließlich kommt es dem Autor darauf an, angesichts scheinbar schicksal hafter, von den betroffenen Subjekten oft genug auch so hingenom mener Prozesse herauszuarbeiten, daß unbeschadet fehlender rechtlicher Zuständigkeiten die Katastrophe eine vermeidbare Ka tastrophe ist. Die Aufdeckung des „naturalistischen Mißverständ nisses“38, das keine Täter am Werk sieht, wo den geltenden Zurech nungsstrukturen nach keine Täter am Werk sind, kann auf den feinen Unterschied zwischen Organisation und unterlassener Um organisation keine Rücksicht nehmen. Denn angesichts einer je denfalls unterstellten Pflicht, das Vermeidbare zu vermeiden, kann es - so scheint es - darauf nicht ankommen. Da die Vorwerfbarkeit des Unterlassens insoweit der des Tuns gleichkommt, liegt es nahe, das Unterlassen auch rhetorisch wie ein Tun darzustellen. Man kann also - so läßt sich das Gesagte zusammenfassen organisatorisch vieles tun, um in komplexen Prozessen mehr Zure chenbarkeit herzustellen, mehr Aspekte der Prozesse in den Pla nungshorizont der Akteure hineinzuverlagern und auf diese Weise 38 Beck (1988), Erster Teil, Kap. II: Das naturalistische Mißverständnis der Ökologie bewegung: Umweltkritik als Gesellschaftskritik, S. 62-95.
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„naturwüchsige“ Prozesse tendenziell in gesteuerte Prozesse zu verwandeln. Es ist nicht schwer zu sehen, daß dieses Möglichkeits urteil den Versuch der Abgrenzung von Prozessen mit und solchen ohne Handlungssubjekt schwierig, wenn nicht hoffnungslos macht. Ist nämlich angesichts eines schädigenden Prozesses kein Steuer ungssubjekt auszumachen - wie in unserem Beispiel des Verkehrs unfalls -, so sind doch meist Strukturen auszumachen, an denen es liegt, daß keines auszumachen ist. Diese Strukturen sind ihrerseits Handlungsfolgen, nämlich Folgen der Organisation von Rechten und Pflichten. Das zeigt, daß die Frage, ob hier nicht doch Verant wortung zugeschrieben werden kann, mit der Betrachtung der kon kreten Unfallsituation noch gar nicht abgeschlossen ist. Die Schwierigkeit scheint auf der gesamtgesellschaftlichen Ebe ne ähnlich der zu sein, die für individuelle Handlungssubjekte schon Aristoteles beschrieben hat. Unwissenheit bezüglich der Handlungsfolgen, sagt Aristoteles, ist ein Zurechnungsausschlies sungsgrund. Denn wer nicht wußte, was er tat, konnte es auch nicht verhindern - außer freilich in den Fällen, „wo anzunehmen ist, daß jemand es aus Fahrlässigkeit nicht weiß, aufgrund der Erwägung, daß es bei dem Betreffenden stand, nicht unwissend zu sein, da es bei ihm lag, die nötige Sorgfalt anzuwenden“39. Dies gilt freilich wiederum nicht in den Fällen, wo einer „nun einmal so (ist), daß er keine Sorgfalt anwendet“40. Aber vielleicht hatte er es in seiner Hand, nicht einer zu werden, der unsorgfältig ist? In der Tat be endet Aristoteles hier das Hin und Her zwischen Vermeidbarkeits- und Unvermeidbarkeitsurteil zugunsten der Vermeidbarkeit: „Aber, daß man ein solcher geworden ist, ist man selber schuld, indem man sich gehen läßt; und daß man ungerecht oder zügellos ist, ist man selber schuld, der eine dadurch, daß er fortgesetzt Unrecht begeht, der andere dadurch, daß er in Trinkgelagen und ähnlichen Dingen seine Zeit hinbringt.“ Fragt man nach, warum jemand seine Zeit so hinbrachte, kann sich das Vermeidbarkeitsur teil bezüglich des ursprünglich ins Auge gefaßten Schadens ein wei teres Mal vom Ja ins Nein verkehren. Zieht man schließlich, wie das die Kriminologie nach Aristoteles getan hat, weitere mögliche Zu rechnungssubjekte aus dem Umkreis des ursprünglichen Täters her an - die Eltern, die Lehrer, heutzutage auch die Verantwortlichen für Jugendarbeitslosigkeit oder Gewalt im Fernsehen oder „Kon 39 Eth. Nic. 1114 a 1 (Aristoteles [1985], S. 56). 40 Ebd.
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sumterror“ so scheint einzig folgendes Fazit die Gesamtlage an gemessen zusammenzufassen: Theoretisch ist praktisch alles ver meidbar. Dieses Fazit, auch wenn man ihm das nicht gleich ansieht, enthält den Hinweis auf die Richtung, in der die zurechnungstheoretischen Konsequenzen der beschriebenen Schwierigkeit zu suchen sind. An dieser Stelle seien sie lediglich mit Hilfe eines Beispiels angedeutet. Das Beispiel entstammt einer Diskussion, die sich unlängst im Kon text einer Verantwortungsdebatte zwischen einem ökonomisch und einem verwaltungswissenschaftlich geschulten Teilnehmer zugetra gen hat. Der referierende Ökonom berichtete mit deutlich sarkasti schem Unterton und einigem Publikumseffekt von einem Verwal tungsentscheid. Der betraf ein Biotop, das auf dem Wege der Überwässerung durch einen leicht undichten Damm auf benachbar tem Ackerland entstandenen war. Eine äußerst seltene Glocken blumenart hatte sich dort entwickelt, aber der Anbau von Kartof feln oder Raps, die der Bauer hätte verkaufen können, war nicht mehr möglich. Das Unterlassungsgesuch des Bauern gegen die für den Damm zuständige öffentliche Instanz hatte den Erfolg, daß der Damm unter Zerstörung des Biotops mit einem Geldaufwand sa niert wurde, der ausgereicht hätte, dem Bauern seinen entgangenen Gewinn hundertfach zu ersetzen. „Die können ja nicht rechnen“, lautete betreffs der Frage der Vermeidbarkeit der Vorwurf des Ökonomen. Der verwaltungswissenschaftliche Kommentar dage gen lautete anders: Der zuständige Beamte konnte vielleicht rech nen - aber möglicherweise durfte er in diesem Falle so nicht rech nen. Vielleicht stand es nicht in seiner Kompetenz, auf ein Unterlassungsgesuch mit dem Angebot irgendwelcher Geldsum men zu reagieren. Die Konsequenzen, die sich ergäben, wenn man solche Optionen generell in die Macht von Sachbearbeitern stellen wollte, sind jedenfalls nicht leicht zu überblicken. Vom Bestehen rechtsstaatlicher Restriktionen des Verwaltungshandelns hatte, wie sich ergab, auch der Ökonom schon gehört. Aber so gut konnte er nun eben selbst nicht rechnen. Er war jedenfalls außerstande, die möglichen Folgekosten einer Lockerung rechtsstaatlicher Kompe tenzverteilungsregeln, die die von ihm empfohlene Handlungsop tion zu einer realen Handlungsoption des Sachbearbeiters hätte werden lassen, in seine Rechnung gleich mit einzubeziehen. Das Beispiel zeigt, daß es in der Frage der Vermeidbarkeit von Schäden ein Theorie-Praxis-Problem gibt. Theoretische Möglich keiten, wie sie der Ökonom - soweit korrekt - konstatiert hatte, 30 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
und praktische, d.h. situativ gebundene Möglichkeiten fallen aus einander. Die für das Verantwortungsthema relevanten Möglich keiten sind die letzteren: Vermeidbarkeitsurteile, aus denen man die Verantwortung eines Handlungssubjekts folgern möchte, müs sen situativ gebundene Urteile sein. Es bleibt zwar richtig, darauf hinzuweisen, daß in denjenigen Restriktionen des Handelns, die nicht zur Disposition des jeweils betrachteten Subjekts stehen, ein zusätzliches Vermeidungspotential steckt. Aber über die Frage, ob dieses Potential zurechenbar ungenutzt geblieben ist, muß anhand der Analyse anderer Entscheidungssituationen debattiert werden in unserem Beispiel anhand von Situationen, in denen über Verwal tungsstrukturen entschieden wird. Von Biotopen und Glocken blumen ist dort aus begreiflichen Gründen nicht die Rede; wohl dagegen etwa von demokratischer Kontrolle, Gesetzesvorbehalt, Einzelfallgerechtigkeit, Ermessensspielräumen, Bestechungsre sistenz und dergleichen mehr. Wie sich die Notwendigkeit der Schaffung begrenzter Zuständigkeiten in den Grenzen situativer Pflichten zur Folgenorientierung spiegelt - das wird in den folgen den Kapiteln im Detail untersucht werden. 5. Die Absicht: Konkretisierung des verantwortungsethischen Vorwurfs Auch mit Quasi-Subjekten lassen sich korrekte Sätze bilden. In der Verantwortungsliteratur begegnet man solchen Sätzen auf Schritt und Tritt: „Das Industriesystem“ zum Beispiel41, „die industriali sierte Menschheit“, „die Politik“, „die Gesellschaft“ und immer wieder schlicht und einfach „wir“ tauchen an der Subjektstelle von Sätzen auf, die mit ihrem Prädikatsteil („zerstören“, „ausrotten“, „vergiften“) über Schädigungshandlungen berichten. Die Strekkung der Handlungsbegriffe über das von je individuellen Subjek ten in konkret angebbaren Situationen Getane hinaus ist zwar nicht sprachgebrauchswidrig. Die Grammatik ist eben geduldig - aber nicht jedes grammatische Subjekt ist als solches schon ein Hand lungssubjekt. Wenn die betreffenden Sätze unanstößig sind, so liegt das daran, daß das Verhältnis der in ihnen benannten Subjekte zum 41 Bahro (1989), Logik der Rettung, S. 15: „Wollen wir dem Ungeheuer den Bauch auf schlitzen, damit es wirklich eingeht, müssen wir vor allem seinen Namen wissen. Es ist unser Industriesystem, unsere industrielle Lebensweise selbst.“
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üblichen Subjekt von Handlungen - dem sogenannten Einzelsub jekt - offen gelassen, also auch nicht als Ausschließungsverhältnis behauptet ist. Jeder ist im Prinzip frei, sich unter „wir“ jeden einzel nen von uns und unter dem „Industriesystem“ die Menge der in diesem System tätigen natürlichen Personen vorzustellen. Freilich hat das, was man sich dann gegebenenfalls vorstellt, weder hinsicht lich der betroffenen Handlungssubjekte noch hinsichtlich der rele vanten Handlungssituationen diejenige Plastizität und Deutlich keit, die man von den Beispielen gewohnt ist, anhand derer in Handlungstheorie, Moralphilosophie und Jurisprudenz das Fällen von Zurechnungsurteilen eingeübt wird. Eine kontrollierte, hin sichtlich des implizierten Vorwurfs konkretisierte Zuschreibung von Verantwortung findet mithin in Sätzen dieser Art nicht statt. Das ist auch der Grund, warum sie - trotz eines vagen Gefühls ihrer Berechtigung - meist nichts Konkretes bewirken. Umso überraschender ist die gewisse Berührungsangst, die man che Verantwortungsethiker zeigen, wenn es um das probateste Mit tel der Konkretisierung von Verantwortungszuschreibungen geht, nämlich um den - gegebenenfalls kritischen - Anschluß an die rechtlich institutionalisierte Praxis des Zurverantwortungziehens. Hans Lenk zum Beispiel zählt in einem Beitrag zu Problemen der Technikfolgenverantwortung die „rechtliche Verantwortung“ als einen „Verantwortungstyp“ neben anderen auf, den er nicht weiter behandeln wolle42, „zumal man nicht alle Verantwortungsprobleme einfach verrechtlichen kann. (Dies wäre unmöglich und auch unzu lässig einschränkend, kontraproduktiv für Forschung und For schungsfreiheit.)“43 Daß die effektive Durchsetzung zugeschriebe ner Verantwortlichkeiten Freiheitseinbußen mit sich bringt, ist gewiß richtig. Aber darum, daß man nicht will, daß bestimmte Din ge nach Belieben getan oder gelassen werden, handelt es sich eben gerade, wenn man Verantwortung zuschreibt. Wogegen genau rich tet sich also der Affekt gegen die Rechtsförmigkeit der Durchset zung? Geht es darum, daß die Wahrnehmung der einschlägigen 42 Lenk (1994), Zum Stand der Verantwortungsdiskussion in der Technik, S. 120. Stattdessen werden - nach des Autors Ansicht auf anderen, unterscheidbaren „Ebenen“ des Verantwortungsbegriffs liegend - die „Handlungs(ergebnis)verantwortung“ sowie die „Aufgaben- und Rollenverantwortung“ behandelt. Daß im Rahmen des Nachden kens über rechtliche Verantwortung zu diesen beiden natürlich ihrerseits nicht dis junkten „Verantwortungsbegriffen“ Nützliches gesagt worden ist, mögen die folgen den Kapitel belegen. 43 Ebd. S. 116.
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Pflichten - wie die Wahrnehmung bestimmter karitativer Aufgaben - freiwillig bleiben und in diesen Sinne bloß moralisch sein soll? Oder handelt es sich - speziell im Falle der Forschung? - darum, daß dem Fachmann als dem in der Sache Kompetentesten das Ur teil über die Erlaubtheit seines Tuns selbst überlassen werden soll? Und woher käme dieses Vertrauen in die Zweckmäßigkeit einer Form der Verantwortung, die den Täter zu seinem eigenen Richter macht? Die Unwilligkeit hinsichtlich der Anwendung juristischer Kate gorien ist wohl auch eine Folge der Tatsache, daß die Ethiker selbst nicht genau sagen können, wer angesichts schädigender Technikfol gen nun in welchem Ausmaß schuldig geworden ist und zur Verant wortung gezogen werden sollte, und wofür genau. Wo eine klare Vorstellung davon entwickelt ist, wer in welcher Weise seine Ver antwortung nicht wahrgenommen hat, da ist prima facie nicht ein zusehen, warum der Bereitschaft dazu nicht auch mit rechtlichen Mitteln Nachdruck verschafft werden sollte. Immerhin droht, so weit die schädigenden Nebenfolgen der Technikentwicklung in Fra ge stehen, der Eintritt sehr erheblicher Beeinträchtigungen. Selbst verständlich sind auch traditionell strafrechtlich geschützte Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit betroffen, und dies massen haft. Aus dieser Tatsache bezieht ja die Kritik der „Risikogesell schaft“ ihre Heftigkeit und ihr öffentliches Gehör. Und selbst in der eher zurückhaltenden strafrechtlichen Diskussion ist daraus ge schlossen worden, daß - neben anderen zuständigen Rechtsgebie ten - auch das Strafrecht sich aus dem Bereich der „Zukunftssiche rung“ nicht gut heraushalten könne44. Die Verweigerung des Anschlusses an die rechtliche Organisation von Zuständigkeiten er laubt dagegen die umso unbekümmertere, weil konsequenzenfreie, daher meist auch ohne Widerspruch bleibende Forderung nach weitreichenden „moralischen“ Verantwortlichkeiten45. Sie können 44 Stratenwerth (1993), Zukunftssicherung mit den Mitteln des Strafrechts, S. 688. 45 Siehe Weizsäcker (1983), Wahrnehmung der Neuzeit, S. 341: . der Wissenschaftler ist für die Folgen seiner Erkenntnis nicht legal, sondern moralisch verantwortlich“; Lenk (1994), S. 141: „Die Schaffung neuer Abhängigkeiten schafft eine neue morali sche Verantwortung persönlicher und überpersönlicher Art. Eine ins utopische ge wachsene Verfügungsmacht erzeugt eine erweiterte Verantwortlichkeit: Über die Ver ursacherverantwortung hinaus übernimmt der Mensch eine ,sorgende‘ Heger- und Verhinderungsverantwortung. Eine Treuhänder- und Vorsorgeverantwortlichkeit kann nicht nur einzelnen zugerechnet werden. Angesichts der Gefahren vielfältig sich aufschaukelnder Wirkungsfaktoren und technischer Großprojekte (an denen Tausen de einzelne beteiligt sind) ist auch eine Gemeinschaftsverantwortung von kollektiv
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von jedermann billig - im Sinne von „wohlfeil“, nicht im Sinne von „zu Recht“ - erhoben werden, und nicht zuletzt deshalb treten sie gegenwärtig inflationär auf. Das distanzierte Verhältnis der Verantwortungsethik zur „recht lichen Verantwortung“ ist sicherlich auch - aber nicht nur - auf die Schwierigkeiten der Rezeption einer längst unabhängig von philo sophischen Diskussionszusammenhängen weiterentwickelten und daher inzwischen fachfremden Terminologie zurückführen46. Die jahrzehntelange Konzentration der Moralphilosophie auf Letztbe gründungsfragen einerseits und Probleme der Metaethik anderer seits hat die Fremdheit noch verschärft. Daß gegenwärtig das Ver antwortungsthema in der Philosophie Konjunktur hat, liegt denn auch nicht an fachinternen Entwicklungen, sondern an der öffentli chen Nachfrage. Eine echte Befriedigung der Nachfrage verlangt jedoch eine verstärkte Befassung mit den fachexternen Problemen, die die Nachfrage haben entstehen lassen. Dazu gehört auch die Befassung mit der Frage, was es für die herrschende Zurechnungs praxis so schwierig macht, für evidente Schäden, die evidenterweise Folgen menschlichen Verhaltens sind, mit ebensolcher Evidenz Tä ter zu benennen. Kümmert man sich um diese Frage nicht, läuft man Gefahr, anstelle einer praxisfähigen Orientierungsleistung Ap pelle in die Welt zu setzen, mit denen, soweit sie überhaupt ernst genommen werden, das Niveau der in die bestehenden Institutio nen bereits eingegangenen Vernunft deutlich unterschritten wird. Viele der zentralen Kategorien, um deren fortgesetzte Funk tionsfähigkeit angesichts komplexer werdender Interaktionsketten Zurechnungstheoretiker bemüht sind, sind Grundkategorien des
Handelnden zu übernehmen: Teamverantwortung, Verantwortung von Institutionen und auch der Gesamtgeneration“ usf. Vgl. dazu Beck (1988), S. 98: „Ethik - Sonntags-, Feierabendbeschwörungen nach getaner Tat, deren Förderung schon deshalb beson ders lukrativ erscheint, weil ihre Unverbindlichkeit Bestandteil ihrer Verbindlichkeit ist.“ 46 Ropohl (1994), Replik [zu den Kritiken seines Artikels „Das Risiko im Prinzip Ver antwortung“], S. 189, bezieht sich anläßlich von kritischen Bemerkungen zur Rechts ferne auch seiner verantwortungsethischen Überlegungen gleich gar nicht auf die Ferne der Moralphilosophie zum Recht, sondern auf ihre Ferne zur Rechtsphiloso phie: „Die Spezialisierung in der Philosophie ist so weit gegangen, daß auch Rechts philosophie und Moralphilosophie kaum noch miteinander kommunizieren. So ist in zwischen selbst innerhalb der praktischen Philosophie so etwas wie ein interdisziplinärer Brückenschlag erforderlich, vor allem, wenn in der Rechtsphiloso phie bestimmte Teilfragen bereits eine weiterführende Klärung erfahren haben.“
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praktischen Weltbezugs. Schon deshalb sind sie ein unaufgebbares Thema der praktischen Philosophie. Darin, daß man diese Katego rien - Rechtsgut, Täter, Handlung, Unrecht, Schuld und so weiter nicht unbesehen auf Schäden aus komplexen kulturellen Prozessen übertragen kann, liegt das Problem. Die Unangemessenheit einer direkten Übertragung strafrechtlicher Kategorien auf „Erfolge“ wie das Ozonloch oder den Treibhauseffekt ist den Verantwortungsethikern zweifellos bewußt. Auch das macht sie ungeneigt, sich die Mühen des Anschlusses an die juristische Zurechnungsleh re zu machen. Aber durch die an alle Beteiligten gerichtete Forde rung nach Wahrnehmung einer institutionell in keiner Weise effektuierten „Zukunftsverantwortung“ wird die fällige Arbeit der Organisation konkreter Verantwortlichkeiten eben weder geleistet noch entbehrlich gemacht. Bei der hier als „Organisation von Verantwortung“ bezeichneten Aufgabe handelt es sich, wie im letzten Abschnitt bereits ange deutet, partiell um eine Aufgabe institutioneller Umgestaltung, nämlich um eine Änderung, insbesondere Erweiterung der Scha densvermeidungsmöglichkeiten und Schadensvermeidungspflich ten konkreter Subjekte. Vorausgehen muß dem aber die analytische Arbeit der Zerlegung jener komplexen Schädigungsprozesse in handlungstheoretisch faßbare Teilprozesse. Um einen Beitrag zu dieser begrifflichen Arbeit handelt es sich im folgenden. Dabei kann sich herausstellen, daß die als Handlungen (oder zurechenba re Unterlassungen) sinnvoll ansprechbaren Teilprozesse trotz der ernsten Folgen, die sie im Zusammenwirken mit anderen Handlun gen - eventuell erkennbar - nach sich ziehen, als „Verbrechen“ nicht plausibel gekennzeichnet sind. Insoweit kann es durchaus sein, daß die Zukunftssicherung weitgehend tatsächlich keine Auf gabe des Strafrechts, sondern eine Aufgabe anderer Rechtsgebiete oder gar überhaupt keine Angelegenheit repressiver Normen, son dern zum Beispiel eine Angelegenheit des geschickten Setzens öko nomischer Anreize ist. Kenner des Ausmaßes, in dem insbesondere die verwaltungsrechtliche Diskussion um eine zukunftsfähige Rege lung der schadensträchtigen Handlungsbereiche bemüht und für diese einschlägig ist, mag es insoweit verwundern, daß in dieser Ar beit mit ganz wenigen Ausnahmen speziell auf strafrechtliche Kate gorien Bezug genommen wird. Der Grund dafür ist indessen ein fach: Es handelt sich hier nicht um eine Bestandsaufnahme der krisenbewältigungsrelevanten aktuellen Entwicklungen im Rechts system, sondern es handelt sich um den Versuch, den eingangs um 35 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
schriebenen verantwortungsethischen Vorwurf zu konkretisieren. Moralische Vorwürfe aber sind ihrer Struktur nach traditionell dem strafrechtlichen Schuldvorwurf verwandt; insbesondere kulti viert die Moralphilosophie dieselben strikten Voraussetzungen hin sichtlich der individuellen Vermeidbarkeit des fraglichen Gesche hens, wie sie das Strafrecht, nicht aber zum Beispiel das Zivilrecht und schon gar nicht etwa das Polizeirecht kultivieren. Der Versuch, sich den Zivilisationsfolgeschäden mit strafrechtlichen Kategorien zu nähern, ist daher auch dann sinnvoll, wenn das Ergebnis im we sentlichen negativ ausfällt. Zunächst einmal klingt es ja durchaus strafrechtlich erheblich, wenn wir hören, wir trügen die Verantwor tung für die Zerstörung unserer Lebensbedingungen und der unse rer Nachkommen. Die Einsicht, daß und warum ein Vorwurf vom Typus des strafrechtlichen Vorwurfs gegebenenfalls gleichwohl unangebracht ist, zwänge dazu, den stattdessen gemeinten Gehalt des Vorwurfs zu konkretisieren. 6. Das Vorgehen: Zugangsweise und Struktur des Argumentationsgangs Zunächst sei betont, daß diese Arbeit trotz ihrer im Vorstehenden begründeten Nähe zu den Kategorien und Problemen des Straf rechts selbstverständlich keine juristische und insbesondere keine rechtsdogmatische Arbeit ist. Die philosophische Freiheit, sich auch in der Art der Anmerkungsgestaltung - auf aktuelle oder auch klassische Debatten zu dogmatischen Streitfragen nicht zu bezie hen, wird hier jederzeit beansprucht. Die Fähigkeit, dies selbst bei den tatsächlich thematisierten Debatten in einer auch den Juristen durchweg befriedigenden Weise zu tun, wird dagegen nicht bean sprucht. Die Lektüre wird deutlich machen, daß es der Sache nach um Fragen geht, die zu grundlegend sind, um als spezifisch juristi sche in Anspruch genommen werden zu können. Die Freiheit vom steten Rückbezug auf die „herrschende Meinung“ hat dann auch den Vorteil, daß der Begründungszusammenhang nicht mit Bezug auf kontingente Systemvoraussetzungen abgeschnitten werden kann. Im Beispiel: Ein Strafrechtler mag - je nach dem, wie er seine Aufgabe versteht - vorbringen, er sei mit der Explikation unseres (also eines liberalen) Straftatsystems befaßt und habe daher weiter keine Begründung für die Begrenztheit der Solidaritätspflichten im Unterschied zu den Nichtschädigungspflichten zu liefern, da diese 36 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
eben aus dem liberalen Ansatz folgten47. Im vorliegenden Kontext wird weder der liberale noch ein anderer Ansatz gegen einschlägige Rückfragen einfach als vorausgesetzt behauptet. Das zwingt hier und da zur Behandlung von Fragen, auf die Juristen wegen zu gro ßer Ferne von den herrschenden Rechtsverhältnissen sich nicht ein zulassen pflegen. Freilich hat die gesellschaftliche Entwicklung über die Jahrhunderte hinweg immer wieder einmal Wendungen genommen, die die Kontingenz und Begründungsbedürftigkeit des scheinbar Selbstverständlichen sichtbar gemacht haben. Es ist mög lich, daß auch die aktuellen Prozesse, für die das Stichwort „Risiko gesellschaft“ geprägt wurde, die eine oder andere Wendung dieser Art bereithalten. Dann wird auch das Rechtssystem entweder die Unverändertheit der historischen Voraussetzungen seiner Grund entscheidungen nachweisen oder diese ändern müssen. Im Rückgriff auf das bislang Entwickelte sei der Argumenta tionsgang der nachfolgenden vier Kapitel folgendermaßen umris sen. Kapitel II veranschaulicht zunächst das Ausmaß, in dem zivili satorische Prozesse - nach der zitierten Charakteristik von Hermann Lübbe48 - Prozesse der Umwandlung von Folgen aus blo ßer Natur in Folgen menschlichen Verhaltens sind (II.l). Die Kon sequenz einer entsprechenden Ausweitung menschlicher Verant wortung liegt nahe. Einschränkend wird - in Konkretisierung des Zurechnungserfordernisses der Vermeidbarkeit der fraglichen Verhaltensfolgen - an zwei klassische (bereits aristotelische), frei lich in nichttrivialer Weise miteinander verschränkte Zurechnungs ausschließungsgründe erinnert: die Unvorhersehbarkeit einerseits (II.2) und das Vorliegen von Zwangslagen andererseits (II.3). Nichttrivial ist dann auch die im letzten Abschnitt des Kapitels entwickelte „Differenzenlösung“: Es handelt sich um eine Charak teristik dessen, was genau in Zwangslagen als zum Dispositions spielraum des involvierten Subjekts gehörig und mithin als subjekt hafter Teil oder Aspekt des auf die Entscheidung folgenden Prozeßverlaufs, d.h. als Tat gelten kann (II.4). Im Rahmen dieses Konzepts wird zwischen den Folgen einer Handlung und den Folgen der Unterlassung dieser Handlung kein Unterschied gemacht. Kapitel III wendet sich - mit insgesamt nega tivem Ergebnis - der oben (I.2) schon angesprochenen Frage zu, ob 47 Siehe Jakobs (1996b), Die strafrechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen, S. 42, Anm. 92. 48 H. Lübbe (1990), Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, S. 93.
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das zurechnungstheoretisch haltbar ist. Dabei wird zunächst veran schaulicht, daß und wie ein einschlägiger Unterschied im Zurech nungsalltag verankert ist (III.l), und zwar so tiefgreifend verankert, daß von den einschlägigen Zurechnungsgesichtspunkten auch unse re Wahrnehmung dessen, was als Tat (im Unterschied zum subjekt losen Geschehen) wahrgenommen wird, und mithin auch unser Umgang mit der handlungstheoretischen Begrifflichkeit geprägt ist. Der folgende Abschnitt verteidigt die solchermaßen zurech nungstheoretisch geprägte, also bereits nicht mehr lediglich am Kri terium der Vermeidbarkeit orientierte handlungstheoretische Begrifflichkeit gegen die Zumutung, sich auf eine gegen die ein schlägigen Zurechnungsgesichtspunkte neutrale Handlungstheorie einlassen zu sollen (III.2). Die nachfolgenden vier Abschnitte sind mit Ausnahme des Abschnitts III.4, der die einschlägigen straf rechtlichen Institute vorstellt - der Verteidigung der zwischen Handlungen und Unterlassungen differenzierenden Zurechnungs praxis gegen ihre handlungstheoretischen (III.3) und moralphiloso phischen (III.5, III.6) Kritiker gewidmet. Abschnitt III.3 erläutert dabei insbesondere die pflichtentheoretische Unterscheidung zwi schen Nichtschädigungspflichten und Solidaritätspflichten - eine mit der handlungstheoretischen Unterscheidung nicht deckungs gleiche, aber nur mit ihrer Hilfe rekonstruierbare Unterscheidung, auf die im V. Kapitel zurückgegriffen wird. In diesem und im letzten Abschnitt ergeben sich auch insofern Bezüge auf die - primär mit (aktiven) Handlungen befaßten - nachfolgenden beiden Kapitel, als sich zeigt: Wie im Bereich des Unterlassens, so ist auch im Bereich des Handelns eine lediglich an den im II. Kapitel entwickelten Kri terien orientierte Zurechnung nicht praktikabel. Die nötigen zu sätzlichen Gesichtspunkte sind freilich im Bereich des Handelns an ders gelagert als im Bereich des Unterlassens, so daß sie - dies zu zeigen, bleibt das primäre Anliegen des III. Kapitels - ohne Rekurs auf diese handlungstheoretische Unterscheidung nicht rekonstru iert werden können. Kapitel IV nimmt die ebenfalls oben (I.2) schon erläuterte Frage nach der Zurechenbarkeit kollektiv verursachter Schäden auf. Zu nächst wird an einigen Beispielen die kausalitätstheoretische Basis des Konzepts der kollektiven Verursachung expliziert (IV.l). Die hier begründete Unmöglichkeit einer Zerlegung kollektiver Schä digungen in Summen individueller, also auch individuell zurechen barer Schädigungen schafft ein Zurechnungsproblem. Es wird, wie der folgende Abschnitt entwickelt, auch durch bekannte Versuche 38 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
einer individualistischen (also reduktionistischen) Theorie der „many person actions“ nicht gelöst (IV.2). Auch hier (wie in Kapitel III) zeigt sich die zurechnungstheoretische Unfruchtbarkeit philosophi scher Handlungstheorien, die nicht von vornherein Gesichtspunkte der Verteilung von Verantwortung in ihre Begrifflichkeit einbauen. Im Anschluß an die Diskussion eines der (in rechtsfernen Argu mentationskontexten seltenen) konkreten philosophischen Vor schläge zum Problem der Verantwortungsverteilung (IV.3) wendet sich das Kapitel den einschlägigen strafrechtlichen Instituten zu. Dabei wird zwischen drei Fallkonstellationen unterschieden: dem gemeinsam beschlossenen Zusammenwirken (IV.4), dem durch Be fehlsempfang im Rahmen einer Organisation entstehenden Zusam menwirken (IV.5) und dem unbeabsichtigten (aber erkennbaren) Zusammenwirken von Personen, deren Handeln weder verabredet noch sonstwie auf ein gemeinsames Ziel hin eigens organisiert ist (IV.6). Die strafrechtliche Vorwerfbarkeit der kollektiv verursach ten Folgen nimmt in der genannten Reihenfolge deutlich ab. Es wird argumentiert, daß die guten Gründe dafür sowie für die stattdessen eintretenden Regelungsformen auch im Kontext des verant wortungsethischen Redens über einschlägige Schädigungskonstel lationen Berücksichtigung finden sollten. Am Ende des IV. Kapitels verbleibt eine Frage, die die im zwei ten der einführenden problemanalytischen Abschnitte (I.4) erläu terte Thematik der Kontingenz der Zurechnungsstrukturen auf nimmt und damit zu Kapitel V überleitet. In dem erwähnten Abschnitt war gezeigt worden, daß der Umfang aktueller Vermei defähigkeiten - und damit der Umfang dessen, was im Prinzip als Tat wahrgenommen werden kann - eine Funktion der Verteilung von Rechten und Pflichten, insbesondere von Sorgfaltspflichten, al so eine Funktion prinzipiell änderbarer Zurechnungsstrukturen ist. Der erste Abschnitt des V. Kapitels erläutert im Rückgriff auf den klassischen Liberalismus (für den nur die Nichtschädigungspflicht, nicht aber Pflichten zu gegenseitiger Hilfeleistung von naturrecht licher Grundsätzlichkeit waren), daß der Schädigungsbegriff selbst in der erläuterten Weise relativ auf eine Verteilung von Rechten und Pflichten, also kein naturalistischer Begriff ist. Dasselbe gilt dann für den Umfang des tatsächlich schon im „Naturzustand“ nicht ohne normative Abwägungsentscheidungen konkretisierba ren Nichtschädigungsgebots. In der aktuellen Strafrechtsdogmatik schlägt sich die Normativität des Schädigungsbegriffs unter ande rem in der Kategorie des erlaubten Risikos nieder. Sie betrifft 39 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
Handlungen, mit denen man unter einer tatbestandsrelevanten Ri sikoschwelle bleibt und daher im Falle des Schadenseintritts (zwar von einem naturalistischen Standpunkt aus, aber) im Sinne der herr schenden Zurechnungsverhältnisse nicht schädigt. Die herrschenden Zurechnungsverhältnisse präjudizieren also die meist unreflektier te Beantwortung der Frage, welche Schäden Schädigungstaten sind. Sie lassen sich freilich repolitisieren, also in ihrer Legitimität in Fra ge stellen. Genau dies ist es, was im Zuge der steigenden Unwillig keit, die von niemandem verantworteten Nebenfolgen der beste henden Verantwortungsstrukturen zu akzeptieren, geschieht (V.l). Der folgende Abschnitt zeigt, daß die erforderliche legitimatorische Aufgabe - ohne daß dies im übrigen stets mit der wünschenswerten Deutlichkeit konstatiert würde - im Rahmen strafrechtlicher Refle xionen über Kategorien wie die des erlaubten Risikos nicht gelöst werden kann (V.2). Vielmehr handelt es sich um eine (rechts-)politische Aufgabe. Der dritte Abschnitt beschließt das Kapitel mit einer Analyse der prinzipiellen Schwierigkeiten, die einer allseits überzeugenden Lösung dieser legitimatorischen Aufgabe auf der politischen Ebene entgegenstehen. Es handelt sich um dieselben Schwierigkeiten der fehlenden Eindeutigkeit dessen, was eine Pflicht zu globaler Folgenorientierung eigentlich verlangt, die auch in den vorausgehenden Kapiteln den Anlaß boten, für eine Begren zung der individuellen Pflichten zur Folgenorientierung zu argu mentieren. Politische Verantwortung, so lautet die abschließende These, kann daher, soweit sie sich an das politische Gelingen oder Mißlingen als Kriterium der Richtigkeit oder Falschheit des Verhal tens (also an die Folgen anstatt an die Einhaltung von ex ante for mulierten Standards legitimen Verhaltens) heftet, nicht nach Art des strafrechtlichen oder moralischen Schuldvorwurfs ausgestaltet werden (V.3).
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II. Vermeidbare Schäden
1. Verdrängung des Naturalen Wenn man die Verantwortungspflichtigkeit schädigender Verläufe an ihre Eigenschaft knüpft, Entscheidungsfolge zu sein, so ge schieht das offenbar deshalb, weil diese Eigenschaft indiziert, daß ein Verlauf nicht unvermeidbar war, sondern abgewendet werden konnte - nämlich durch eine Entscheidung anderen Inhalts. Ent sprechend ist die Feststellung, daß man auf entscheidungsbedingte Schäden anders reagiert als auf Schäden aus naturalen Prozessen, zunächst einmal eine plausible Feststellung. Beispiele, die als Beleg geeignet sind, sind nicht schwer zu finden. Schlägt der Hagel Dellen ins Auto, so ist das schade. Sind es Rowdies gewesen, ist das nicht bloß schade. Es kommt noch die spezifische Qualität des Dagegenseins hinzu, die nur dort Sinn zu haben scheint, wo die Schadensur sache ein potentieller Interaktionspartner ist. Entsprechend gilt: Wer unvermutet mitgeteilt bekommt, er habe AIDS, reagiert des interaktionsbedingten Übertragungswegs dieser Krankheit wegen anders, als wenn die Mitteilung lautet, er habe Krebs; und wer am angeborenen Nierenfehler stirbt, wird von seinen Angehörigen an ders betrauert als der, der sein Leben lassen mußte, weil dem Arzt die Routineoperation der Transplantation einer Spenderniere miß lang. Die spezifische Differenz zwischen naturalen und entschei dungsabhängigen Schadensursachen stellt sich selbst dann ein, wenn die Handlungen, als deren Opfer man sich erfährt, eigene waren: Die Diagnose Lungenkrebs wird von Rauchern anders auf genommen als von Nichtrauchern, und der Hausbrand wird unab hängig von der Versicherungslage als Folge eines Blitzschlags leich ter verkraftet denn als Folge einer angelassenen Herdplatte. Hinzunehmen ist das Geschehene freilich - wie alles Geschehene - so oder so. In mehreren der genannten Fälle handelt es sich darüberhinaus um Schäden, die, anders als die Dellen in der Karosse rie, auch durch künftiges Entgegenwirken oder durch Ersatz nicht behoben werden können. Entsprechend ist der spezifische Sinn des Dagegenseins, um den es hier geht, nicht der des Ungeschehenma 41 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
chenkönnens. Es handelt sich vielmehr, wie gesagt, um eine Form des Dagegenseins, die spezifisch mit der Tatsache zu tun hat, daß der Verursacher - sowie andere, künftig in analoger Situation be findliche Handelnde - mögliche Interaktionspartner sind. Die ge naue Explikation des Sinns normativer Reaktionen auch auf unab änderliche entscheidungsbedingte Schädigungen geschieht - soweit es sich nicht um den schlichten Sinn des finanziellen Schadenser satzes handelt - traditionell vor allem in den Straftheorien49. Im vorliegenden Zusammenhang kommt es auf die dort zu findenden Unterscheidungen und Kontroversen nicht an. Die alltäglichen Re aktionen, an deren Vertrautheit ich mit den gegebenen Beispielen appelliert habe, bleiben hinsichtlich der von Straftheorien unter schiedenen Zwecke („Vergeltung“, „Spezial-“ und „Generalprä vention“, „Normstabilisierung“ usf.) meist inexplizit. Was immer genau der Sinn des alltäglichen normativen Reagierens auf schädi gende Entscheidungsfolgen - also etwa des Verlangens, die Verant wortlichen „zur Rechenschaft zu ziehen“ - sein mag: Es leuchtet ein, daß im Falle von Schäden aus naturalen Prozessen dieser Sinn jedenfalls entfällt. Die im ersten Kapitel geschilderte Zurechnungsexpansion wird demnach plausibel als Reaktion auf die zunehmende Häufigkeit, mit der Schäden entscheidungsbedingt eintreten oder als entschei dungsbedingt erkannt werden. Diese beiden Varianten sind zu un terscheiden. Denn der Expansionsprozeß, um den es geht, gewinnt seine Dynamik zwar zu einem erheblichen Teil aus der Steigerung der Reichweite menschlichen Handelns. Zum anderen Teil aber ge winnt er sie aus der Steigerung des Wissens über Folgen, die man auch zuvor schon verursachte, ohne sie jedoch als Handlungsfolgen zu erkennen. Ein Beispiel für die erste Alternative ist der objektiv gestiegene Energieverbrauch pro Kopf der Bevölkerung in den In dustrieländern samt seinen Folgen. Ein Beispiel für die zweite Al ternative sind epidemiologische Erkenntnisse über Beziehungen zwischen bestimmten Erkrankungen, etwa Krebserkrankungen, einerseits und bestimmten traditionellen Ernährungsweisen oder Formen des Umgangs mit Arbeitsmaterialen andererseits. Im Rahmen dieses Expansionsprozesses addieren sich die ent scheidungsbedingten Schäden offenbar nicht einfach zu den Schä den aus naturalen Prozessen hinzu. Vielmehr haben sie diese über weite Strecken hin ersetzt. Der Fall des zunächst nierengeschädig 49 Als Überblick Jakobs (1993), Strafrecht, S. 1-29; Roxin (1994a), Strafrecht, S. 36-65.
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ten, dann aber kunstfehlergeschädigten Patienten ist ein Beispiel dafür: Gäbe es nicht die hier und da eben auch mißlingende Tech nologie der Organverpflanzung, wäre der Patient, anstatt an dieser, an seiner natürlichen Organausstattung gestorben. Für die Zure chenbarkeit fehlerhaften ärztlichen Handelns spielt es freilich keine Rolle, ob bei Verzicht auf einen ärztlichen Eingriff oder bei dessen Unmöglichkeit der Patient auf natürlichem Wege gestorben wäre oder nicht. Immerhin ist die Verhinderung natural bedingter Schä den zu den Motiven der Handlungsexpansion zu zählen, in deren Konsequenz man es dann auch vermehrt mit schädigenden Folgen des Handelns zu tun bekommt. Die Expansion des Anteils der handlungsbedingten unter allen Schäden ist ja mit einer Reduktion der Gesamtschadensmenge durchaus vereinbar. Soviel läßt sich feststellen, ohne sich in die Diskussion über die Meßbarkeit und Vergleichbarkeit von Schäden und Schadensrisiken in industrieller Zeit einerseits und in vorindustrieller Zeit andererseits hineinbege ben zu müssen50. Auch die Tatsache, daß der Expansionsprozeß als solcher in ge wissem Sinne indisponibel, jedenfalls nicht absichtsvoll reversibel ist, scheint die Zurechenbarkeit nicht zu beeinträchtigen. Zur Er läuterung sei das bereits erwähnte Beispiel der pränatalen Diagnose51 herangezogen: Existiert diese Technologie, so können sich die Eltern der Verantwortung für die Folgen ihrer Nichtanwendung ebensowenig entziehen wie der Verantwortung für die Folgen ihrer Anwendung. Es bleibt ihnen, selbst wenn sie das vorziehen würden, nicht die Möglichkeit, die Entwicklung ihres Kindes einzig jenem natürlichen Prozeß zu überlassen, der diese Entwicklung war, bevor es die nunmehr verfügbare Möglichkeit des Eingriffs gab. Mit der ihnen zugewachsenen Handlungsmöglichkeit ist ihnen, gewollt oder nicht, auch die Aufgabe zugewachsen, über ihre Nutzung zu entscheiden. Ulrich Beck hat diese Struktur des nicht gewählten Zuwachsens von Entscheidungsspielräumen am Beispiel der Gen technologie, nämlich an ihren für die Zukunft erwarteten Nutzungs möglichkeiten exemplifiziert52: Verweigern die Eltern die Wahl ge netisch bedingter körperlicher oder auch geistiger Eigenschaften 50 Zu den Schwierigkeiten des Vergleichs H. Lübbe (1990), Der Lebenssinn der Indu striegesellschaft, Abschnitt 8.2.: Ist das Leben in der wissenschaftlich-technischen Zi vilisation riskanter geworden?, S. 85-89. 51 S.o. S. 17. 52 Beck (1988), Gegengifte, Erster Teil, Kap. I.5.: Wunschkindmentalität: Der leise Zwang zum perfekten Kind, S. 54-61.
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ihres künftigen Kindes, weil sie diese wie das ganze Kind als Gabe der Natur, des Schicksals oder Gottes entgegennehmen möchten, so befinden sie sich gleichwohl nicht in der Lage dessen, der dies frü her in Ermangelung einer Alternative tat. Entsprechend kann es ihnen passieren, daß das Kind sich später beklagt, so wie sich heute ein Jugendlicher beklagen mag, daß dem „natürlichen“ Verfallspro zeß seiner Zähne im Kindesalter nicht mit Fluortabletten entgegen gewirkt wurde. Beck hat die aus gentechnologischen Eingriffsmöglichkeiten künftig zuwachsenden Lasten der verantwortlichen Nutzung oder Nutzungsverweigerung in der Absicht beschrieben, Opposition ge gen die vorgebliche Eigendynamik der technologischen Entwick lung zu schüren. In der Tat fällt ja die Technologie nicht vom Him mel, sondern sie ist Produkt intensiver Forschungstätigkeit und in diesem Sinne frei gewählt. Das macht, wie es scheint, den beschrie benen Zuwachs an Verantwortung schließlich doch zum Resultat frei gewählten Verhaltens - zwar nicht der betroffenen Eltern selbst, aber doch der Wissenschaftler, Wissenschaftspolitiker oder anderer im Forschungsprozeß steuernd tätiger Personen. Entspre chend scheint es möglich, sich den Lasten des Verantwortungszu wachses dadurch zu entziehen, daß man nicht erst auf die Nutzung, sondern bereits auf die Entwicklung der Eingriffsmöglichkeiten verzichtet oder daß man gegen ihre Entwicklung opponiert. Denn das Eingreifenkönnen ist in der Tat eine Voraussetzung des Verantwortenmüssens. Aber diese Strategie verkennt, daß für den, der sich gegen die Entwicklung einer Handlungsmöglichkeit entscheidet, mutatis mutandis dasselbe gilt wie für den, der sich gegen ihre Nut zung entscheidet: In diesem Falle ist eben die Entwicklung der künftig nutzbaren Handlungsmöglichkeit selbst die Handlungs möglichkeit, auf deren Nutzung man verzichtet. Und zu den prinzi piell verantwortbaren Folgen der Nutzungsverweigerung gehört samt ihren Folgen - das Nichtbestehen der Handlungsmöglichkeit, gegen deren Entwicklung man sich entschieden hatte. Kurz - der Stand der Unschuld, in dem sich der Mensch befand, als er noch nicht konnte, was er gegenwärtig kann oder voraussehbar erreichen kann, läßt sich nicht planvoll wiederherstellen. Der im Sinne dieser Charakterisierung nicht planvoll vermeidba re Prozeß der Verdrängung des natural Bedingten durch das kultu rell Bedingte hat mittlerweile ein Ausmaß angenommen, das es nachgerade schwierig macht, Fälle von Schädigungen zu finden, die als Beispiele für Schädigungen aus rein naturalen Prozessen 44 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
zweifelsfrei geeignet sind. Zweimal wurde in der anfänglichen Bei spielreihe das Wetter herangezogen (Hagel, Blitzschlag), und im übrigen war von Erkrankungen verschiedener Art die Rede. Tat sächlich befinden sich unter allen Kranken heute nicht einmal mehr die Träger von Erbkrankheiten durchweg in der Gewißheit, keiner lei Anlaß zum normativen Protest gegen einzelne unter den Ur sachen ihres Leidens zu haben. War vielleicht eine mißlungene pränatale Diagnose Ursache der Entscheidung, den Nasciturus aus zutragen, obwohl er de facto in einem Ausmaß geschädigt war, das sein Leben nach seinem heutigen eigenen Urteil nicht lebenswert sein läßt? So kann die Überlegung eines erblich Kranken heute lau ten, und Schadensfälle von dieser Struktur sind schon vor Gericht gelangt53. Selbst das Wetter, dieses Paradigma eines naturalen Pro zesses, ist längst in die Klasse der Prozesse eingerückt, bei denen die Vermutung, daß es Sinn hat, dagegen zu sein, nicht mehr absurd wirkt. Von den schneearmen Wintern ist längst in dieser Form die Rede. Jede jahreszeitliche Ungewöhnlichkeit einschließlich des neuerdings, wie es scheint, so ungewöhnlich rasch sich einstellenden Sonnenbrands nährt die Bereitschaft zum Protest weiter. Für klas sische Naturkatastrophen wie die Überschwemmungen sind die für ihre heutigen Erscheinungsformen ursächlichen kulturellen Ver hältnisse sogar recht gut bekannt. Einzig die Erdbeben scheinen man nimmt es fast mit Aufatmen zur Kenntnis - noch rein natürlich zu sein; aber die Zahl ihrer Opfer ist es schon wieder nicht mehr, wie man im Anschluß an ein solches Unglück in den mit Bildern von eingeknickten Brücken und halbierten Hochhäusern versehe nen Zeitungsberichten über die Verhältnisse in den betroffenen Metropolen lesen kann. Angesichts dieser in der Tat beispiellosen Ausdehnung des An teils der kulturell bedingten unter allen Schäden, mit denen die Menschheit zu kämpfen hat, liegt es wohl nahe, den Verantwor tungsbereich des Menschen so auszudehnen, wie Hans Jonas das in seinem bekannten Buch in den bereits zitierten Passagen gefordert hat: Die „beispiellose kausale Reichweite“ menschlichen Handelns rücke „Verantwortung ins Zentrum der Ethik, und zwar mit Zeit-
53 Vgl. zur „wrongful life“-Problematik, bei der es im Unterschied zu den „wrongful birth“-Fällen um Schadensersatzansprüche des unerwünscht zur Welt Gebrachten selbst, nicht aber der Eltern geht, Stieglitz (1989), Die wrongful birth und wrongful life Problematik im deutschen Deliktsrecht.
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und Raumhorizonten, die denen der Taten entsprechen“54. Gegen die in diesem Zitat geforderte Orientierung der Verantwortungszu schreibung am Umfang der „kausalen Reichweite“ des Handelns ist nun aber zu erinnern: Dem Kriterium, eine Schädigung müsse Handlungsfolge (im weiten, das Unterlassen ggf. einschließenden Sinne) sein, sind von Zurechnungstheoretikern seit jeher weitere Zurechenbarkeitskriterien hinzugefügt worden. Wir werden im fol genden einige davon heranziehen und diskutieren, wie sich unter ihrem Einfluß das Bild von der Zurechenbarkeit handlungsbeding ter im Unterschied zu naturalen Prozessen verändert. 2. Unvermeidbarkeit qua Unvorhersehbarkeit Das bekannteste und unumstrittenste zusätzliche Zurechnungskri terium lautet, es seien nur solche Handlungsfolgen zurechenbar, die vermeidbar gewesen seien. Im Strafrecht und in der philosophi schen Handlungstheorie wird die Vermeidbarkeit häufig sogar zur Definition dessen herangezogen, was an einem Geschehen, zu des sen Ablaufsbedingungen auch ein Handeln gehört, selbst Handlung ist: Handlung sei „individuell vermeidbare Erfolgsverursachung“55. Als Grund dafür, daß nicht jede Handlungsfolge zur Handlung ge hört, also nicht jede Folge - qua Vermeidbarkeit der Basishandlung selbst - vermeidbar ist, gelten vor allem die Grenzen der kognitiven Antizipationsmöglichkeit des Handlungssubjekts. Wenn der Täter so wird das in dem gerade zitierten Lehrbuch exemplifiziert - „nicht erkennen kann, daß dort, wohin er die Ziegel wirft, ein Weg ver läuft, oder daß die Ziegel, die er wirft, dort auftreffen, wo ein - an sich bekannter - Weg verläuft: Dann vollzieht der Täter immer noch die Handlung Werfen von Ziegeln“, aber nicht mehr die Handlung Werfen von Ziegeln auf einen Weg“. Was Inhalt einer Handlung ist, hängt also vom jeweiligen Erkenntnisvermögen des Agierenden ab.“56 Das Auftreffen der Ziegel auf den Weg und die daraus unter Umständen resultierenden Schadensfolgen gelten also qua Unvorhersehbarkeit als unvermeidbar und insoweit als Un glück, nicht als Tat. Der Rekurs auf die Vorhersehbarkeit als Grenze der Vermeid54 Jonas (1979), Das Prinzip Verantwortung, S. 9. 55 Jakobs (1993), Strafrecht, S. 136. 56 Ebd. S. 141.
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barkeit eines Geschehens durch ein Handlungssubjekt, das eine Be dingung für dieses Geschehen gesetzt hat, ist wie gesagt nicht weiter umstritten. Im wesentlichen entspricht dem auch die alltägliche Verwendung des Handlungsbegriffs. Wird zum Beispiel ein Auto fahrer von einem Passanten angehalten und um den Weg gefragt, und befährt er wegen dieser Verzögerung später genau zum Zeit punkt eines Lawinenabgangs die entsprechende Stelle der Paßstra ße, so wird niemand den Unfall als Tat des Passanten bezeichnen. Gleichwohl ist die schlichte Subsumtion des Unvorhersehbaren un ter das Unvermeidbare nicht ganz korrekt. Denn qua Vermeidbar keit der (Basis)handlung selbst sind eben auch alle ihre Folgen ver meidbar - bekannte wie unbekannte. Man fingiere nur, es käme uns auf nichts anderes an als darauf, unter gar keinen Umständen täti ger Urheber irgendeines Schadens zu werden. Ungeachtet seiner Absurdität wäre dieses Gebot strikt befolgbar, nämlich durch gänz liches Untätigbleiben. Das zeigt, daß die Rede von der „Unver meidbarkeit“ der unvorhersehbaren Folgen des Tätigwerdens kein reines Möglichkeitsurteil ist, sondern ein normatives Urteil invol viert: Es drückt nicht eigentlich die Unfähigkeit, zu vermeiden, son dern die Unzumutbarkeit des Vermeidens aus. Unzumutbar ist es, um unbekannter Folgen willen auf bekannte Güter, nämlich auf die intendierten Handlungszwecke zu verzich ten. Das gilt - wie das Beispiel mit dem Lawinenabgang demon striert - schon deshalb, weil Folgen, die gänzlich unerkennbar sind, ebenso gut günstige wie ungünstige sein können. Die zeitliche Ver zögerung durch den Passanten hätte den Autofahrer ja auch gerade vor der Lawine retten können. Eine Tendenz, in Fällen wie dem vorliegenden eher Unfälle als Rettungen zu bewirken, hat eine zeit liche Verzögerung als solche nicht. Sie stellt insoweit kein Risiko dar - es ist nicht erkennbar, ob in der Folge eher Günstiges oder eher Ungünstiges eintritt. Dennoch sind qua Vermeidbarkeit der (Basis)handlung selbst auch alle ihre Folgen vermeidbar. Was dage gen in der Tat unvermeidbar ist, ist das Bedingen von (vorherseh baren und unvorhersehbaren) Folgen durch Tätigwerden oder durch Untätigbleiben. Auf die nicht triviale Frage, wie diese Unver meidbarkeit mit der Vermeidbarkeit der einzelnen Arme der Alter native zusammenzudenken ist, kommen wir zurück57. Zunächst scheint es, als gehe es bei den Armen der Alternative nicht um Un vermeidbarkeit, sondern um die Wünschbarkeit bzw. Zumutbarkeit 57 Abschnitt II.3.
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des im einen oder anderen Falle Eintretenden. Und da die Wünschbarkeit des Unvorhersehbaren nicht beurteilt werden kann, fällt es ganz ebenso aus der Rechnung, als wäre es unvermeidbar. Was nun die Rede von der Unvorhersehbarkeit angeht, so scheint sie im Unterschied zur Rede von der Unvermeidbarkeit des Unvor hersehbaren kein normatives Urteil auszudrücken. Tatsächlich in volviert aber der übliche Gebrauch auch dieses Ausdrucks meist ein Zumutbarkeitsurteil. So mag jemand sein Zuspätkommen mit dem Hinweis entschuldigen, er habe nicht wissen können, daß heute in der Stadt „Fahrraddemo“ und daher mit dem Auto auf dem übli chen Weg kein Durchkommen sei. Genaugenommen ist er freilich nicht deshalb entschuldigt, weil er das wirklich nicht wissen konnte. Veranstaltungen dieser Art werden, was dem Betreffenden norma lerweise nicht unbekannt ist, in der Lokalzeitung angekündigt. Wenn die Entschuldigung gleichwohl akzeptiert wird, liegt das an der Unzumutbarkeit einer Form der Risikovorsorge, die es ver langt, sich vor jedem Weg in die Stadt durch Studium der Lokalzei tung des Fehlens möglicher Verkehrsbeeinträchtigungen zu verge wissern. Viele Handlungsfolgen, die als vorhergesehene unerlaubt wären und nur qua Unvorhersehbarkeit nicht zugerechnet werden, sind also Folgen der erlaubten Unterlassung risikomindernder Informationsbeschaffung58. Mit besonders strengen Sorgfaltsanforderungen sind - anders als das Risiko des Sichverspätens bei einer gewöhnlichen Verabredung - die Risiken der technischen Zivilisation umgeben. Mit Bezug auf sie wird in einer Expertenkultur wie der unseren die Vorhersehbar keit gerne nach dem Kriterium der Existenz einschlägigen Exper tenwissens beurteilt, das der jeweils Zuständige sich habe verschaf fen müssen. Aber selbst die Nichtexistenz von Expertenwissen beweist nicht, daß die einschlägigen Folgen schlechterdings unvor hersehbar gewesen seien. Hätte man nicht um die Erforschung relevanter Sachverhalte und Zusammenhänge sich intensiver be mühen können und müssen, bevor man es riskierte, durch die Im plementierung einer neuen Technologie allerlei Unvorhergesehe nes zu bewirken? Worüber in einer Kultur Expertenwissen zur Verfügung steht und worüber nicht, das ist ja seinerseits ein Fak 58 Ist die Unterlassung der Informationsbeschaffung nicht erlaubt, hat die resultieren de Verantwortlichkeit für den Schaden die Struktur der Fahrlässigkeitshaftung; vgl. die Analyse bei Kindhäuser (1989), Gefährdung als Straftat, Abschnitt l.l.IV.: Erwar tete Fähigkeiten, S. 62ff.
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tum, das zum Bereich der Entscheidungsfolgen zählt. Und in man cher Hinsicht - etwa bei der Gestaltung von Forschungsförderungs plänen - zählt es darüberhinaus zum Bereich der voraussehbaren Entscheidungsfolgen. Also markiert auch dieses Faktum keine scharfe Grenze der Zurechenbarkeit. Man sieht, daß trotz der Unumstrittenheit und Unverzichtbarkeit des Kriteriums der Vorhersehbarkeit der Grenzverlauf zwischen sogenannten vorhersehbaren und sogenannten unvorhersehbaren Folgen durchaus umstritten sein kann. Die Nichttrivialität von Ur teilen über die Vorhersehbarkeit von Handlungsfolgen ist bereits seit den Anfängen der Zurechnungslehre bekannt. Aristoteles59 be handelt die hierher gehörigen Probleme im Rahmen der Erörte rung der Begriffe des „Freiwilligen“ und des „Unfreiwilligen“60. Daß es dabei um Zurechnungsfragen geht, wird hinreichend deut lich aus der Formulierung, daß „Handlungen ..., wenn sie freiwillig sind, Lob und Tadel finden, wenn aber unfreiwillig, Verzeihung“61. Weiter heißt es dann, unfreiwillig scheine zu sein, „was aus ... Un wissenheit geschieht“62. An anderer Stelle nimmt aber Aristoteles den aus, der seine kognitiven Fähigkeiten durch Trunkenheit ein geschränkt hat63, und kurz darauf findet sich die aus solchen Bei spielen abzuziehende generelle Regel: „Freigewollte Unwissenheit ist keine Ursache des Unfreiwilligen, sondern der Schlechtigkeit.“64 Auf den ersten Blick scheint diese Regel zirkularitätshalber zur Ab grenzung des Bereichs freiwilliger Handlungsfolgen schlecht geeig net. Tatsächlich hat aber Aristoteles mit dieser Formulierung genau die iterative Struktur erfaßt, die dem Möglichkeitsurteil der Vor aussehbarkeit eigen ist. Über die Frage, was von alledem, worüber man sich vorsorglich informieren könnte, wenn man wollte, nun je weils von wem gewußt werden sollte - darüber entscheiden, wie es scheint, nicht Möglichkeit oder Unmöglichkeit, sondern Zumutbar keit oder Unzumutbarkeit. Zumutbarkeit hat, wie wir bereits sa hen, mit dem Blick auf die Folgen des Alternativverhaltens zu tun - im vorliegenden Fall mit dem Blick auf die Vorteile des Bleiben lassens der Informationsbeschaffung, die nicht bleiben zu lassen den Vorteil des besseren Schutzes vor einem ins Auge gefaßten Ri 59 60 61 62 63 64
Vgl. oben Abschnitt I.4., S. 29. Eth. Nie. 1109 b 30 (Aristoteles [1985], S. 44). Ebd. 1110 a 1 (ebd. S. 44). 1110 b 25 (ebd. S. 46). 1110 b 30 (ebd. S. 47).
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siko geboten hätte. Auf diesen Punkt - nämlich auf die zurech nungstheoretische Relevanz der Folgen des Alternativverhaltens gehen wir im folgenden Abschnitt ausführlicher ein. 3. Unvermeidbarkeit in Zwangslagen Im gleichen Zusammenhang der Erörterung des „Freiwilligen“ und des „Unfreiwilligen“ benennt Aristoteles einen zweiten Zurech nungsausschließungsgrund. Der Sache nach kann er ebenfalls als ein unter Zurechnungstheoretikern altbekannter und unumstritte ner Gesichtspunkt gelten. Gleichwohl erkennt man nicht auf den ersten Blick, was genau gemeint ist, wenn Aristoteles formuliert, es scheine auch das, „was aus Zwang ... geschieht“, unfreiwillig zu sein, „z.B. wenn ihn [sc. einen Seemann] der Wind irgendwohin führ(t)“65. Das Beispiel legt zunächst die Deutung nahe, das Er zwungene sei einfach deshalb von der Zurechnung auszuschließen, weil es gar nicht Handlung oder Handlungsfolge sei. Genaugenom men fällt aber das sturmbedingte Abtreiben von Booten, da es das Fahren in Booten voraussetzt, durchaus unter den Begriff der Handlungsfolge. Konnte man bei der Ausfahrt mit einem Sturm und also mit dem Abgetriebenwerden rechnen, kann dieses nicht mit Hinweis auf die unwiderstehliche Gewalt des Sturms für unfrei willig erklärt werden. Es sieht danach so aus, als könne innerhalb des Bereichs der Handlungsfolgen der Begriff des Erzwungenen kein Unfreiwilligkeitsurteil begründen, das nicht bereits durch das Kriterium des Nichtwissenkönnens gedeckt wäre. Aristoteles bemerkt jedoch im folgenden, daß das nicht dem Sprachgebrauch entspricht. Wenn einer Güter „bei einem Seesturm über Bord wirft“ - nämlich um das Boot zu entlasten -, so sei es zweifelhaft, ob man das freiwillig oder unfreiwillig nennen solle66. Mit irgendwelchen Zweifeln am Wissenkönnen der Folgen hat das offenbar nichts zu tun. Dennoch hat es etwas mit der Vermeidbar keit der Folgen zu tun. Unfreiwillige Handlungen im hier gemein ten Sinne sind Resultat einer Situation, in der von mehreren Übeln jedes für sich genommen vermeidbar ist, aber nicht alle zugleich. Der Handelnde hat zwar die Wahl, aber er hat auch den Zwang zur Wahl. Denn selbst die Unschlüssigkeit hat voraussehbare und in 65 Eth. Nie. 1110 a 1 (Aristoteles [1985], S. 44). 66 1110 a 5 (ebd. S. 44).
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diesem Sinne durch Unschlüssigbleiben gewählte Konsequenzen. In der Tat würde ja die Konsequenz der Unschlüssigkeit, nämlich der Untergang des Schiffes, in einer nachfolgenden Gerichtsverhand lung nicht als „Unfreiwilliges“ hingenommen, sondern dem See mann (im Falle seiner Rettung) als Konsequenz seines Nichteingrei fens zur Last gelegt. In solchen Situationen hat also - mit einer hier sehr nützlichen Unterscheidung, die auf Thomas von Aquin zurück geführt wird67 - der Handelnde nicht die libertas exercitii (die Frei heit, etwas oder nichts zu bewirken), sondern nur die libertas specificationis (die Freiheit, dieses oder jenes zu bewirken). Es ist offensichtlich und unumstritten, daß Zwangslagen dieser Art zurechnungsmindernd wirken, daß also trotz Entscheidungsbe dingtheit und Voraussehbarkeit des Schadens (in unserem Beispiel des Verlusts der Waren) dieser gegebenenfalls nicht zu verantwor ten ist. Der strafrechtliche Fachausdruck dafür ist der des rechtfer tigenden Notstands. Der einschlägige Paragraph68 fordert dazu auf, eine Abwägungsentscheidung in Orientierung am Wert der gefähr deten Güter und am Grad der ihnen drohenden Gefahr zu treffen. Wir werden uns mit den zurechnungstheoretischen Voraussetzun gen solcher Abwägungsregeln, die ja heute unter entscheidungs theoretischem Einfluß zu einem generellen Kriterium praktischer Rationalität avanciert sind, noch eingehend befassen. Zuvor ist aber die Art und Weise genauer zu charakterisieren, in der in Situa tionen des Zwangs zur Entscheidung zwischen zwei Übeln von einer eingeschränkten Vermeidbarkeit des schließlich gewählten Übels die Rede sein kann. Vermeidbar ist in Situationen des Zwangs zur Entscheidung zwi schen zwei Übeln, so scheint es, zunächst einmal jedes der beiden Übel - nämlich insofern, als dem Handelnden ein Prozeßverlauf erreichbar ist, bei dem es nicht eintritt. Zerstört jemand die Woh nungstür eines Nachbarn, um mittels des dahinter befindlichen Feu erlöschers ein Kind aus der in Flammen stehenden eigenen Woh 67 Spaemann (1975), Nebenwirkungen als moralisches Problem, S. 326 f. 68 § 34 StGB: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Le ben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein ange messenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“ Zur Bedeutung der Angemessenheits klausel (Satz 2) siehe Abschnitt III.1., Anm. 78.
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nung zu retten, so war dies vermeidbar, nämlich durch Unterlassen der Zerstörung. Aus eben diesem Grund gilt die Zerstörung auch als Handlung. Die strafrechtliche Zurechnungsdogmatik trägt dem Rechnung, indem im geschilderten Fall der Tatbestand der Sach beschädigung als erfüllt gilt. Der gewünschte Zurechnungsaus schluß wird nicht auf der Tatbestandsebene, sondern auf der Ebene der Prüfung von Rechtfertigungsgründen erreicht69. Folgt man die ser Unterscheidung von Stufen der Zurechnung auch im aristoteli schen Beispiel, so ist die handlungstheoretische Frage, ob der See mann durch sein Überbordwerfen die Zerstörung der Waren vermeidbar bedingt habe, ganz unabhängig von der anschließend aufzuwerfenden Frage zu behandeln, ob ihm diese Handlung zum Vorwurf gemacht werden könne. Auf diese Trennung von - wie wir hier der Kürze halber sagen wollen - handlungstheoretischer und normativer Ebene der Zurechnung hatten wir uns im vorigen Ab schnitt gestützt, als wir die sogenannte Unvermeidbarkeit unvor hersehbarer Handlungsfolgen als Unzumutbarkeit der Vermeidung rekonstruierten: Handlungen - im Sinne von vermeidbarem Ge schehen - seien qua Vermeidbarkeit der (Basis)handlung selbst auch ihre unvorhersehbaren Folgen; die Frage der Zumutbarkeit des Vermeidens dagegen sei eine normative Frage, die mit Blick auf die Zumutbarkeit des Alternativverlaufs, also der Unterlas sungsfolgen zu entscheiden sei. Diese Trennung von handlungstheoretischer und normativer Ebene der Zurechnung ist nun freilich bei Aristoteles so nicht aus gebildet. Zwar macht er deutlich, daß Handlungen wie die des Überbordwerfens von Waren in gewissem Sinne frei seien: „Denn im Augenblick ihrer Ausübung sind sie frei gewählte ... Denn auch das Prinzip, das bei derartigen Handlungen die Glieder des Leibes bewegt, liegt in dem Handelnden selbst. Liegt aber das Prinzip der Handlung in ihm, so steht es bei ihm, sie zu verrichten oder nicht.“ Daher schließt Aristoteles: „Mithin ist solches freiwillig“, fügt je doch gleich hinzu: „schlechthin aber vielleicht unfreiwillig, da nie mand sich für derartiges an sich entscheiden würde“70. Hier wird also der Aspekt, der gegebenenfalls den Zurechnungsausschluß 69 Zum Verhältnis von Unrechtstatbestand und Rechtfertigung siehe Jakobs (1993), Strafrecht, S. 155: „Der Inbegriff der Merkmale, mit denen ein Verhalten beschrieben wird, das allenfalls in einem Rechtfertigungszusammenhang tolerierbar ist, heißt Un rechtstatbestand“. 70 Eth. Nic. 1110 a 10-20 (Aristoteles [1985], S. 44f.).
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motiviert, als Problem der Freiwilligkeit und mithin als Frage nach der Struktur der Handlungssituation, nicht aber als Rechtferti gungsfrage behandelt. Tatsächlich drückt man sich ja auch alltags sprachlich mit Bezug auf Notstandshandlungen so aus, daß man sagt, es sei unvermeidlich gewesen, dieses oder jenes zu beschädi gen - und nicht so, daß man sagt, es sei begründbar oder rechtferti gungsfähig gewesen. Anders gesagt: Daß wir - „normativ“ - für einen Zurechnungsausschluß optieren, liegt an der besonderen Struktur der Handlungssituation. Daher muß der Grund des Zu rechnungsausschlusses in einer adäquaten handlungstheoretischen Beschreibung der Situation erkennbar werden. Insoweit ist es durchaus sinnvoll, den Alternativverlauf nicht erst bei der Frage der Vorwerfbarkeit der Handlung, sondern schon auf der hand lungstheoretischen Ebene selbst - also bei der Beschreibung des sen, was am betrachteten Verlauf Handlung ist - zu berücksichti gen. Wir prüfen im folgenden, wie das zu geschehen hätte. In der Tat ist der Dispositionsspielraum des Handelnden nicht adäquat gekennzeichnet, wenn man jedes der beiden möglichen Übel einzeln betrachtet und es mit Blick auf die Verfügbarkeit einer Alternative für vermeidbar erklärt. Die Urteile „Übel A ist ver meidbar“ und „Übel B ist vermeidbar“ lassen sich eben nicht zu dem Urteil „Übel A und Übel B sind vermeidbar“ verbinden. Dar an zeigt sich, daß die einzelnen Urteile nicht zwei Teile eines durch Zusammenfügung seiner Teile korrekt charakterisierten Vermei dungsspielraums beschreiben. Das liegt daran, daß die Möglich keitsurteile, die in dem Wörtchen „vermeidbar“ stecken, sich in den beiden Vermeidbarkeitsurteilen auf verschiedene mögliche Welten beziehen. Der Handelnde kann freilich nur eine mögliche Welt zur wirklichen machen. Die Welt, in der er Übel A vermeidet, ist die Welt, in der er eo ipso, d. h. ohne weiteren Entscheidungs schritt Übel B verwirklicht, und umgekehrt. Daß ein Übel eintritt - dies ist schlechterdings und im strengen Sinne unvermeidbar. Mit hin ist es, wie aus der oben71 zitierten Handlungsdefinition zu schlie ßen wäre, nicht Handlung. Vermeidbar und mithin Handlung ist dagegen, daß es dieses konkrete Übel ist, das eintritt - anstelle jenes konkreten Übels. Wie kann aber der Eintritt eines konkreten Übels als Handlung klassifiziert werden, ohne daß der Eintritt eines Übels Handlung wäre? Um der größeren Anschaulichkeit willen reformulieren wir diese 71 S. 46.
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Frage an einem Beispiel, nämlich am sogenannten Weichensteller fall, der in der einen oder anderen Variante in strafrechtlichen und auch moralphilosophischen Diskussionskontexten gut bekannt ist. Hier sei die genaue Situation folgende: Ein Bahnangestellter sieht einen nicht mehr zu stoppenden Zug auf einen nicht geschlossenen Bahnübergang zufahren, der gerade von einer Passantin überquert wird. Er hat nur die Möglichkeit, eine Weiche umzustellen, worauf hin der Zug in das Nebengleis einfahren würde. Dort ist jedoch ein Gleisarbeiter mit Reparaturen beschäftigt. Stellt der Bahnange stellte die Weiche um, bedingt er den Tod des Gleisarbeiters. Dies ist vermeidbar, nämlich durch Unterlassung der Weichenstellung. Stellt er sie nicht um, bedingt seine Unterlassung den Tod der Pas santin. Auch dies ist vermeidbar, nämlich durch Umstellen der Wei che. Beides hingegen ist nicht vermeidbar. Schlechterdings und im strengen Sinne unvermeidbar ist daher, daß ein Mensch stirbt. Dies zu verhindern, steht nicht in der Macht des Bahnangestellten. Mit hin ist es - nach der zitierten Handlungsdefinition - nicht Hand lung. Stellt der Bahnangestellte nun die Weiche um, ist nach dem Gesagten das Geschehene folgendermaßen zu qualifizieren: Der Bahnangestellte hat (qua Vermeidbarkeit) den Gleisarbeiter getö tet - aber einen Menschen hat er (mangels Vermeidbarkeit) nicht getötet. Da man dem Gleisarbeiter nicht absprechen kann, ein Mensch zu sein, kann dieses Ergebnis ersichtlich nicht so stehen bleiben. Will man den Tod des Gleisarbeiters als Handlung klassifi zieren, muß man dasselbe auch vom Tod eines Menschen sagen. Wie also muß das, was hier Handlung ist, beschrieben werden, wenn man an der Maßgabe, nur Vermeidbares einzubeziehen, festhalten will? Die Redeweise, der Bahnangestellte habe „den Gleisarbeiter ge tötet“, ist ungeachtet ihrer Gebräuchlichkeit im vorliegenden Kon text in der Tat zu kompakt. Die Orientierung am Kriterium der Vermeidbarkeit zwingt dazu, anders zu formulieren, etwa so: Der Bahnangestellte hat vermeidbar bedingt, daß der Mensch, der in jedem Falle sterben mußte, in concreto der Gleisarbeiter war und nicht die Passantin. Er hat also nur aus zwei möglichen Konkretisie rungen des (schon vor seiner Entscheidung feststehenden) Ereig nistypus’ „Tod eines Menschen“ gewählt. Nochmals anders gesagt: Das Ereignis „Tod des Gleisarbeiters“ hat er nur insoweit vermeid bar bedingt, als es sich dabei um diesen statt um jenen Menschen handelt, nicht insoweit, als es sich überhaupt um einen Menschen handelt - was damit keineswegs bestritten wird. Man sieht, was die 54 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
Idee dieser - gewiß ungewöhnlichen, alltagsfernen - Umformulie rungen ist: Im Gegensatz zur üblichen Rede wird das, was hier Handlung ist, nicht alternativenblind, sondern anhand der Diffe renz zwischen dem eingetretenen und dem durch die Entscheidung vermiedenen (alternativen) Geschehen beschrieben. Prozeßele mente, die auf beiden Seiten einer Verlaufsalternative eintreten, werden aus dem Begriff dessen, was an dem tatsächlich eingetrete nen Verlauf Handlung ist, ausgeschieden. Sie gehen sozusagen nicht auf das Konto des Entscheiders, sondern auf das Konto des Prozes ses, der auf den Entscheidungspunkt zulief. Denn hinsichtlich dieser Elemente war der Prozeß nicht umlenkbar. Sie bleiben daher, ob wohl zeitlich nach dem Entscheidungspunkt liegend, subjektlose Elemente des Gesamtprozesses. 4. Vermeidbarkeit der Differenz Auf die im Vorstehenden entwickelte Charakterisierung des Ver meidbaren als Differenz zwischen dem wirklichen und dem stattdessen möglich gewesenen Verlauf wird im folgenden mit dem Stichwort „Differenzenlösung“ Bezug genommen. Zunächst sei nochmals der Kontext vergegenwärtigt, der es wichtig macht, sich mit dem Problem der handlungstheoretischen Kategorisierung von Folgen aus Situationen des Entscheidungszwangs auseinanderzu setzen. Für unser Thema ist das von Bedeutung, weil es die Frage betrifft, ob bzw. inwieweit ein aus einer solchen Situation resultie render Geschehensablauf Aspekte der Subjektlosigkeit behält, ob wohl er alltagssprachlich als Handlung charakterisierbar ist. Die Differenzenlösung wird dabei nicht in der Absicht eingeführt, das alltagssprachliche Reden von Handlungen durch eine differenzen theoretische Redeweise zu ersetzen. Obgleich, wie wir sehen wer den, die Alltagssprache in bestimmten Kontexten selbst differen zentheoretisch operiert, verbietet sich ein Durchhalten dieses Zugangs schon wegen der Kompliziertheit, die die einschlägigen Formulierungen bereits in so simplen, wohldefinierten Fällen wie dem Weichenstellerbeispiel annehmen. Gleichwohl sei der Vorzug betont, der überhaupt den Anlaß bot, sich bei der Herausarbeitung der Subjektlosigkeit kultureller Pro zesse auf den Feitfaden des alltäglichen Redens von Handlungen und ihren (voraussehbaren) Folgen zunächst einmal nicht zu verlas sen. Genauer als die Begrifflichkeit der Alltagssprache ist die Diffe 55 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
renzenlösung geeignet, zur Evidenz zu bringen, was für jemanden, der in einen Prozeß eingreifen kann, an diesem Prozeß tatsächlich disponibel ist und was nicht. Wer sich um solche Trennschärfe nicht bemüht, gerät leicht unter den Eindruck, der die Verantwor tungsdebatten tatsächlich prägt: Der Zivilisationsprozeß sei, in offensichtlichem Unterschied etwa zum geophysischen Prozeß der Erstarrung des Erdmantels, ein kultureller Prozeß - eine Aufsum mierung von Handlungsfolgen. Mithin seien auch die Schäden aus diesem Prozeß „hausgemacht“. Diese Sichtweise produziert einen Zurechnungsdruck, der die realen Dispositionsspielräume nicht an gemessen wiedergibt - und zwar deshalb, weil die Sichtweise alter nativenblind ist. Wenn es denn unzweckmäßig ist, der handlungs theoretischen Begrifflichkeit die Alternativenblindheit prinzipiell auszutreiben, so macht doch der Versuch deutlich, daß der Bereich des Vermeidbaren weniger weit reicht als der Bereich dessen, was wir als unsere Taten beschreiben72. Das ist - wie die Gegenüberstel lung mit der zitierten, verbreiteten Handlungsdefinition zeigt - be reits ein nichttriviales Ergebnis. Wie erwähnt, hat die Differenzenlösung durchaus auch in der All tagssprache ihren Sitz. Das spiegelt sich darin, daß in Fällen von Handlungen in Zwangslagen auf den handlungsbewirkten Schaden häufig wie auf ein Unglück Bezug genommen wird. Im Falle des aristotelischen Beispiels könnte die Mitteilung eines Kurzberichter statters an den Schiffseigner etwa folgendermaßen lauten: „Der Sturm Berta hat uns beträchtliche Warenmengen gekostet. Dem Schiffsführer N. ist es zu verdanken, daß immerhin das Schiff selbst gerettet wurde.“ In solchen Formulierungen zeigt sich, daß die akti ve Umlenkung des drohenden Unglücks vom Schiff auf (lediglich) seine Ladung deren Verlust auch im Alltagsverständnis nicht seines Charakters als Unglück enthebt. Als Inhalt der Handlung wird viel eher die Rettung des Schiffes wahrgenommen. Dem entspricht, daß der emphatische aristotelische Handlungsbegriff, demzufolge jede Handlung „ein Gut zu erstreben (scheint)“73, auf eine als „Zerstö rung der Waren“ beschriebene Handlung gar nicht anwendbar wä re. Für derartiges würde eben, wie Aristoteles kommentiert, „nie 72 Dem widerspricht nicht, daß es sich in anderen Fällen umgekehrt verhält: Nicht jede vermeidbare Handlungsfolge - und insbesondere nicht jede vermeidbare Unter lassungsfolge - wird eo ipso als Tat beschrieben. Wir gehen darauf in den folgenden Kapiteln ein. 73 Eth. Nie. 1094 a 1 (Aristoteles [1985], S. 1).
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mand sich ... an sich entscheiden“74. Daher ist die Entscheidung des Seemanns, wenn sie als Entscheidung gegen die Waren beschrieben wird, gar nicht kommentarlos verständlich - wohl dagegen, wenn sie als Entscheidung für die Schadensbegrenzung beschrieben wird. Die Schadensbegrenzung als eigentlichen Inhalt der Handlung zu benennen, bedeutet nun aber nichts anderes, als sich auf die Diffe renz zwischen dem wirklichen und dem möglich gewesenen Verlauf zu beziehen. Dabei ist zuzugeben, daß bisher in einem durchaus unscharfen Sinne von der Bildung einer „Differenz“ zwischen Geschehensab läufen die Rede war. Zwischen den Tatsachen, daß (im Weichenstel lerbeispiel) der Mensch, der sterben mußte, im einen Falle die Pas santin, im anderen Falle der Gleisarbeiter war, läßt sich über die Benennung der Konkretisierungsalternative hinaus nicht eigentlich eine Differenz ziehen. Jedenfalls geht das nicht in dem Sinne, in dem sich etwa eine Differenz ziehen läßt, wenn auf dem einen Gleis eine Person umkommt, auf dem anderen Gleis dagegen sechs. Am ehesten liegt das Abstellen auf die Differenz daher dort nahe, wo die alternativen Prozeßverläufe quantitativ vergleichbar sind. Droht einem Unternehmen mit zwölfhundert Beschäftigten der Konkurs, wenn nicht drastische Rationalisierungsmaßnahmen in Form der Entlassung von zweihundert Arbeitnehmern durchge führt werden, so läßt sich zwanglos kommentieren, es seien durch die Maßnahmen tausend Arbeitsplätze gerettet worden. Bei nähe rer Betrachtung der Entitäten, um deren Vergleichung es geht, liesse sich freilich auch bei der Alternative Passantin-Gleisarbeiter par tiell in dieser Weise vorgehen: Man kann Differenzen bilden bezüglich bestimmter Eigenschaften unter allen Eigenschaften, die das eine Individuum vom anderen Individuum verschieden sein las sen. Wenn es sich bei dem Gleisarbeiter um einen jungen Mann mit einer Lebenserwartung von fünfzig zusätzlichen Jahren, bei der Pas santin dagegen um eine betagte Dame mit lediglich zwei weiteren erwartbaren Lebensjahren handelt, so lautet die Differenz auf acht undvierzig erwartbare Jahre. Der Wegfall zweier erwartbarer Le bensjahre dagegen gehört zu den strikt unvermeidbaren Elementen des schließlich eintretenden Prozeßverlaufs, welcher von beiden es auch sei. An dieser Stelle liegt es freilich nahe, eine Konsequenz zu ziehen, die die Differenzenlösung zu desavouieren scheint. Es könnte je 74 1110 a 15 (ebd. S. 45).
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mand behaupten, der Bahnangestellte habe nicht den Gleisarbeiter oder die Passantin, sondern in Wahrheit „sechs Zentimeter Mensch“ oder „15 Kilogramm Mensch“ gerettet oder auf dem Ge wissen, wenn die Körpergrößen und -gewichte der Beteiligten ent sprechend sind. Dazu ist zu sagen, daß das zwar geschmacklos ist, aber nicht falsch. Wenn die Frage lautet, wie groß der Dispositions spielraum des Bahnangestellten hinsichtlich der Rettung nicht von Menschen, sondern von „Lebendgewicht“ war, so ist „15 Kilo gramm“ gegebenenfalls die korrekte Antwort. Daß sie geschmack los ist, liegt an der Geschmacklosigkeit der Fragestellung. Die ge nannte Konsequenz ist also kein Einwand gegen die Geeignetheit der Differenzenlösung, Dispositionsspielräume korrekt zu be schreiben. Aber sie bringt zur Evidenz, daß das, was zum Zweck einer Differenzenbildung verglichen werden soll, nach normativen Relevanzgesichtspunkten ausgewählt wird. Tatsächlich bewirkt ja die Weichenstellung auch, daß der Zug zum Beispiel in südöstlicher anstatt in südlicher Richtung weiterfährt. Aber auf diesen Unter schied kommt es nicht an. Daher wurde die Himmelsrichtung der Zugbewegung auch nicht in die Beschreibung der Prozeßverläufe aufgenommen, um deren Vergleichung es geht. Auf die Differenz der Lebenserwartungen sich zu beziehen, war dagegen deutlich we niger abwegig. Tatsächlich gibt es sogar Lebensbereiche, etwa in der Transplantationsmedizin, in denen anhand gerade dieser Differenz unter mehreren möglichen Prozeßverläufen gewählt wird. An den bisher diskutierten Beispielen läßt sich schon ablesen, daß die normativen Gesichtspunkte, die das zum Zweck einer Dif ferenzenbildung zu Vergleichende auswählen, keineswegs von sich aus eher auf quantitativ Vergleichbares zielen. Im aristotelischen Beispiel sind ein Schiff einerseits und die auf ihm transportierten Warenkisten andererseits zwar in mehreren Hinsichten direkt quantitativ vergleichbar - etwa hinsichtlich des Gesamtgewichts oder hinsichtlich der Anzahl (ein Schiff, fünfzig Kisten). Aber die interessierende Hinsicht ist in diesem Fall der Wert der beiden Gü ter. Das ist eine Eigenschaft, die nur in seltenen Fällen (etwa bei Geldscheinen) nach konventionell festliegenden Maßstäben ein fach abgelesen werden kann. Bei vielen Gütern ist die interessieren de Hinsicht getroffen, wenn sie nach ihrem ökonomischen Wert verglichen, also in Geld bewertet werden. Wo es evident ist, daß es auf diesen Gesichtspunkt ankommt, liegt dann auch der alltäglichen Betrachtung die Beschreibung von Handlungen durch die bewirkte Differenz besonders nahe. Wer die Handlungen eines Unterneh 58 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
mers dahingehend zusammenfaßt, dieser habe im vergangenen Jahr „Gewinne erzielt“, bezieht sich auf die Differenz zwischen den als Einnahmen und den als Ausgaben charakterisierbaren Elementen seines Wirtschaftens. Und wer kommentiert, es sei gelungen, die Gewinne um eine Million zu steigern, bezieht sich gar auf die Diffe renz zwischen zwei Differenzen, nämlich zwischen der diesjährigen und der letztjährigen Einnahmen-Ausgaben-Differenz. Eine onto logisch ähnlich komplizierte, dem Alltagsverständnis aber ganz geläufige Handlung wird konstruiert, wenn von einem Mediziner gesagt wird, er habe mittels eines neuen Medikaments die Über lebensrate unter den mit Chemotherapie behandelten Leukämie patienten angehoben. In anderen Fällen ist die relevante Differenz zwischen Prozeß alternativen weder zähl- noch meßbar, und auf eine in Geld bewert bare ökonomische Differenz kommt es auch nicht (oder nicht nur) an. Man denke - um gleich ein komplexes Beispiel zu nehmen - an das Insgesamt von Überlegungen, das ein Universitätsprofessor an stellt, wenn es um die Alternative geht, einen Ruf an eine andere Universität anzunehmen oder diesen abzulehnen: Vergleiche des Gehalts, der Ausstattung, des „Arbeitsklimas“ im Institut, der „Le bensqualität“ in Stadt und Umgebung, der Berufs- und Schulmög lichkeiten für Familienangehörige sind anzustellen. Die Bildung der Gehaltsdifferenz mag noch problemlos, aber wegen unterschiedli cher Lebenshaltungskosten doch wenig aussagekräftig sein. Für Ka tegorien wie „Lebensqualität“ gilt dagegen, daß die Hinsichten, in denen hier ein Mehr oder Weniger stattfindet, nicht nur nicht quan tifiziert, sondern nicht einmal klar auf den Begriff gebracht und un terschieden und im übrigen von jedem Subjekt anders ausgewählt und gewichtet werden. Ersichtlich kann in solchen Fällen von einer begrifflichen Benennbarkeit der relevanten Differenz nur noch in der allgemeinen, jeder materialen Konkretisierung entzogenen Form die Rede sein, daß die betreffende Handlung eine Steigerung an Wohlergehen, Nutzen oder Lebensglück bewirke - jenes Gute eben, nach dem Aristoteles zufolge eine jede Handlung zu streben scheint. Für die Position, die verlangt, es sei ganz generell bei der Ent scheidung zwischen mehreren möglichen Handlungsalternativen auf die Maximierung des Nutzens der Gesamtfolgen abzustellen, hat sich in der Moralphilosophie der Name „Konsequentialismus“ eingebürgert: „Consequentialism in its purest and simplest form is a moral doctrine which says that the right act in any given situation is 59 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
the one that will produce the best overall outcome, as judged from an impersonal standpoint which gives equal weight to the interests of everyone“75. Im Rahmen der Debatten um die Tauglichkeit die ser Lehre zur Rekonstruktion der moralischen Alltagsintuitionen wird gerne betont, daß die Basisidee im Grunde trivial sei: „For given only the innocent-sounding assumption that good is morally preferable to evil, it seems to embody the principle that we should maximize the desirable and minimize the undesirable, and that principle seems to be one of the main elements of our conception of practical rationality. Anyone who resists consequentialism seems committed to the claim that morality tells us to do less good than we are in a position to do, and to prevent less evil than we are in a position to prevent. And this does not sound nearly as plausible“76. Offenbar kann die Differenzenlösung als handlungstheoretische Basis der vom Konsequentialismus befürworteten moralischen Zu rechnung der Nutzendifferenz zwischen mehreren Handlungsalter nativen gelten: Wer eine suboptimale Handlung wählt, hat insoweit einen Schaden bewirkt. Dessen Höhe bemißt sich nach der Diffe renz zwischen dem durch die gewählte Handlung erreichten Nut zenniveau und dem Nutzenniveau, das durch die optimale Hand lung hätte erreicht werden können. Angesichts dieser ganz generellen Formulierungen fällt im Rück blick auf die Argumentation im dritten Abschnitt auf, daß wir die Differenzenlösung anhand von Handlungssituationen besonderer Art entwickelt hatten. Im Titel waren sie (in Vorwegnahme der ein schlägigen aristotelischen Formulierungen) als Zwangslagen ge kennzeichnet. Die exemplarisch geschilderten Situationen - der Seemann im Sturm, der Vater vor der brennenden Wohnung, der Bahnangestellte angesichts des unvermeidlichen Zugunglücks - ha ben durchaus den Charakter der Außeralltäglichkeit. Auch für den Notstandsparagraphen, der als einschlägige juristische Regel be nannt wurde, gilt, daß er Ausnahmelagen regelt77. Andererseits hat ten wir bei der weiteren Erläuterung der Differenzenlösung auch Beispiele herangezogen, die unter dem Titel „Handeln in Zwangs 75 Scheffler (1988), Consequentialism and its Critics, S. 1. Zur Kritik - mit weiteren Nachweisen - auch Nida-Rümelin (1995), Kritik des Konsequentialismus, der angibt, daß der Ausdruck „consequentialism“ zuerst von Anscombe verwendet wird, siehe Anscombe (1958), Modern moral philosophy, S. 12 (in Abgrenzung von älteren For men des Utilitarismus). 76 Scheffler (1988), S. 1. 77 Vgl. Abschnitt III.1., bes. Anm. 78.
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lagen“ prima facie nicht vermutet würden oder denen jedenfalls die Außeralltäglichkeit fehlt. „Gewinne machen“ ist kein außeralltägli ches Tun, und auch von dem Universitätsprofessor, der einen Ruf erhalten hat, würde man nicht sagen, daß er sich in einer notstands ähnlichen Lage befinde. Dennoch schien es passend, dem Professor eine Orientierung an der Nutzendifferenz zwischen den ihm offen stehenden Alternativen zu unterstellen. Offenbar ist der Bereich einer sinnvollen Anwendung der Differenzenlösung erheblich wei ter als der Bereich der üblicherweise so genannten Zwangslagen. Die Unanwendbarkeit dieser Kategorie auf die Lage des Professors mag ja vor allem daran liegen, daß ihn der Ruf nicht vor den Zwang zur Entscheidung zwischen zwei Übeln stellt, sondern vor die Frage, ob er seine ohnehin günstige Lage noch zusätzlich verbessern kann. Freilich kann jedes entgangene Gut im Prinzip als ein Übel gelten. Es scheint nur die Orientierung am Status quo zu sein, die in be stimmten Fällen die eine und in anderen die andere Bezeichnung nahelegt. Berücksichtigt man das, dann zeigt sich, daß eine struktu relle Analogie zwischen der Lage des Professors und, zum Beispiel, der des Seemanns letztlich doch gegeben ist. Beide stehen vor der Wahl, eine Handlung vorzunehmen oder sie zu unterlassen; bei bei den knüpfen sich unterschiedliche Nutzenniveaus an die beiden Al ternativen; und bei beiden (wenn auch beim Professor bekanntlich nach erheblich komfortableren Fristen) entscheidet auch andauern de Unschlüssigkeit die Sache, nämlich zugunsten der Unterlassung und ihrer Folgen. Bei näherer Betrachtung scheint es also nicht abwegig, die Situa tion des Zwangs zur Entscheidung zwischen verschiedenen Übeln (oder verschiedenen Gütern, die einem entgehen könnten) als die jenige Situation zu kennzeichnen, in der man sich in Permanenz befindet. Genau dies ist die Voraussetzung, die der Konsequentialismus quasi selbstverständlich macht. Um auf die oben erwähnte Unterscheidung von Thomas von Aquin zurückzugreifen: Der Konsequentialismus setzt voraus, daß man immer und überall nur die libertas specificationis, niemals die libertas exercitii habe: niemals die Freiheit, statt etwas nichts zu tun, sondern lediglich die Freiheit, statt diesem jenes zu tun. Daher gelten dem Konsequentialisten nicht nur die Folgen dieses und die Folgen jenes Handelns, sondern auch die Folgen des Handelns und die Folgen des Unterlassens, also des Nichthandelns, durchweg in gleicher Weise als zurechenbar. Die Frage, ob das eine haltbare Position ist, ist Gegenstand des fol genden Kapitels. Dessen erster Abschnitt wird - noch unabhängig 61 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
von der Frage nach den guten Gründen - zunächst deutlich machen, wie der moralische common sense und mit ihm die juristische Zu rechnungspraxis über diese Frage urteilen.
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III. Unterlassungsbedingte Schäden
1. Untauglichkeit der Differenzenlösung bei Sonderstellung des Unterlassens Da die Plausibilität der Differenzenlösung mit Hilfe von Beispielen gestützt wurde, beginnen wir die Diskussion der Einwände zweck mäßigerweise mit der Darstellung von Gegenbeispielen. Zunächst handelt es sich wiederum um einen Fall, der in dieser oder ähnlicher Form unter Strafrechtlern nicht unbekannt ist. Er taucht in Zusam menhängen auf, in denen es um die Grenzen der Einschlägigkeit des Notstandsparagraphen geht78. Eine kostbar gekleidete Dame (Samtrobe, 3000 DM) entreißt einer Passantin (Jäckchen mit Samt besatz, 300 DM) den Regenschirm, um vor dem einsetzenden Schauer ihre eigene Kleidung zu schützen. Die Orientierung am Wert der gefährdeten Güter - gemäß der Güterabwägungsregel würde zu dem Ergebnis führen, die Dame habe recht getan. Denn 78 Der Wortlaut des Notstandsparagraphen (§ 34 StGB) ist zitiert in Anm. 68, S. 51. Die für das im Haupttext folgende Beispiel relevante Angemessenheitsklausel des Satz 2 enthält nach der Interpretation von Joerden (1991), §34 Satz 2 StGB und das Prinzip der Verallgemeinerung, eine regelutilitaristische Einschränkung des hand lungsutilitaristischen Satz 1: Es sollen Handlungen ausgeschlossen sein, die, obwohl im Einzelfall interessenoptimierend, zu Störungen des sozialen Lebens führen wür den, wenn sie allgemein praktiziert würden, wobei eine reale Gefahr bestehen muß, daß sie im Erlaubtheitsfall tatsächlich allgemein praktiziert würden. Zu Satz 2 auch Jakobs (1993), Strafrecht, S. 427-431, S. 427: „Die Angemessenheitsklausel soll den formellen Rechtsstaat gegenüber der freihändigen Nutzenoptimierung durch Interes senabwägung garantieren. ... Beispiel: Bei einem akuten Krankheitsfall und Uner reichbarkeit anderer Hilfe stiehlt der Vater für sein Kind das zum Überleben nötige Medikament; - Rechtfertigung; aber: Der Vater stiehlt aus Geldknappheit das Medi kament, das die Sozialhilfe nicht gewährt; - keine Rechtfertigung“. So verstanden, sichert Satz 2 den Ausnahmecharakter von Situationen rechtfertigenden Notstands und verhindert damit, daß § 34 als universelle Rechtfertigungsnorm für interessenop timierendes Handeln im Einzelfall fungiert. Einen expliziten Nachweis der Suboptimalität interessenoptimierenden Handelns im Einzelfall („punktuelle Optimierung“) im Vergleich zur einzelfallübergreifenden Festlegung auf Strukturen („strukturelle Optimierung“) gibt Nida-Rümelin (1995), Kritik des Konsequentialismus, 11. Kapitel: Das Koordinationsproblem, bes. §36: Das dynamische Koordinationsproblem des strikten Konsequentialismus, S. 127-129.
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sie hat das kostbarere Gut gerettet. Was ist es also, das uns - wie ich unterstelle - zu dem Urteil bewegt, daß es im vorliegenden Fall besser gewesen wäre, die Rettung zu unterlassen? In erster Linie ist es wohl die Tatsache, daß das zerstörte Kleidungsstück nicht Ei gentum der Robenträgerin war. Auf diesen Umstand scheint es so sehr anzukommen, daß die Wertdifferenz der Kleider unerheblich wird. Woher kommt es aber, daß das Eigentum der Passantin hier, wie es scheint, höher gehalten wird als das Eigentum der Robenträ gerin? Per se wird es natürlich nicht höher gehalten. Hätte die Da me in der Robe den Regenschirm auf der Straße gefunden, wäre sie nicht verpflichtet gewesen, zunächst einmal die Passantin zu be schirmen. Der entscheidende Umstand ist also der, daß die Passan tin Eigentümerin des Regenschirms war. Dieses vertraute und daher ganz triviale Ergebnis wird für unsere Zwecke erst dann aufschlußreich, wenn wir auch hier nach dem Warum fragen: Warum berechtigt das Eigentum am Regenschirm die Passantin, den ihr möglichen Beitrag zur Rettung des kostbare ren Gutes zu verweigern? Offenbar wird hier eine Solidaritäts pflicht der Passantin mit den Interessen der fremden Dame ausge schlossen. Eine solche Pflicht wäre auch in der Tat erstaunlich, da ja umgekehrt keine Solidaritätspflicht der Robenträgerin besteht, wenn es sich um fremde Interessen an der gelegentlichen Nutzung ihrer Robe handeln sollte. Dieser (ebenfalls vertraute) Rekurs auf Solidaritätspflichten beziehungsweise deren Fehlen hat nun aber auch eine handlungstheoretische Seite: Verweigert die Passantin den ihr möglichen Beitrag zum Schutz der Robe, so wird niemand kommentieren, die Passantin sei kraft dieser Unterlassung Urhebe rin (oder Miturheberin) des Schadens, aber ihre Tat sei gerechtfer tigt wegen Fehlens einer Solidaritätspflicht mit der Robenträgerin. Vielmehr lautet der übliche, übrigens auch der strafrechtliche Kom mentar, der Regenschauer habe die Robe geschädigt - und nicht die Passantin. Das bedeutet: Der Schaden gilt ungeachtet seiner Vermeidbar keit durch eine gegenteilige Entscheidung der Passantin nicht als deren Tat. Es scheint, daß die Passantin hier durchaus nicht nur die libertas specificationis hat: die Freiheit, ihre eigene Kleidung zu ruinieren, indem sie den Regenschirm herausgibt, oder die Klei dung der Robenträgerin zu ruinieren, indem sie die Herausgabe unterläßt. Vielmehr geht die übliche Sichtweise dahin, daß die Pas santin gar nichts ruiniert, wenn sie mit ihrem Schirm ihrer Wege geht. Daran zeigt sich, daß es nicht oder jedenfalls nicht unter allen 64 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
Umständen üblich ist, die unterlassene Nutzung einer Eingriffs möglichkeit in einen schadensträchtigen Geschehensablauf zurech nungspraktisch wie einen schädigenden Eingriff in einen Gesche hensablauf zu behandeln. Nur so läßt sich auch das Ergebnis verstehen, zu dem das Straf recht im Weichenstellerfall kommt. Nach den geltenden strafrecht lichen Zurechnungsregeln hat der Bahnangestellte in rechtswidri ger Weise einen Menschen getötet, wenn er die Weiche umstellt. Das ist selbst dann der Fall, wenn sich auf dem Gleis, auf das der Zug zunächst lossteuert, statt der einzelnen Passantin eine ganze Gruppe, zum Beispiel sechs Personen befinden. Die Güterabwä gungsregel verlangte in diesem Fall, daß der Bahnangestellte den Gleisarbeiter opfert, anstatt sechs Menschen dem sicheren Tod aus zuliefern. Differenzentheoretisch gesprochen: Die Handlung, um die es in der beschriebenen Situation geht, ist die der Rettung oder Nichtrettung von fünf Menschenleben. Denn das ist, wie es dem Konsequentialisten scheint, der relevante Unterschied, den es macht, die Weiche gestellt oder dies unterlassen zu haben. Nach Auffassung des Strafrechts dagegen hätte der Bahnangestellte durch Verzicht auf die Weichenstellung niemanden dem Tod ausge liefert. Er hätte den Gleisarbeiter nicht getötet und die Menschen gruppe auf dem anderen Gleis auch nicht. Denn die hat der Zug getötet79. Bei der Weichenstellung handelt es sich um „rechtswidri ges Umlenken“80 des todbringenden Prozesses, als der der fahrende Zug aufgefaßt wird. Nicht dagegen handelt es sich um rechtswidri ges Umlenken, wenn der Bahnangestellte die Unterlassungsalter native wählt, und dies ist die entscheidende Asymmetrie. Analog zum Regenschauer - der als Problem der Dame ohne Regenschirm aufgefaßt wird und nicht als Problem der Dame, die um ihren Re genschirm gebeten wird - wird der fahrende Zug als Problem der Menschengruppe aufgefaßt und nicht als Problem des Arbeiters auf dem anderen Gleis. Eine Solidaritätspflicht, die sich darauf erstrekke, um der bedrohten Menschengruppe willen sein eigenes Leben zu lassen, habe der Gleisarbeiter nicht. Daher dürfe ihm dieses Op fer erst recht nicht von einem Dritten - nämlich vom potentiellen Weichensteller - zugemutet werden81. 79 Oder der für die Schließung des Bahnübergangs Zuständige oder die unvorsichti gen Opfer selbst usf. je nach Lage des Falles. 80 Jakobs (1993), Strafrecht, S. 419. 81 Ungewöhnlich weitgehende, aber bedenkenswerte Argumente für die These, daß
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Offenbar liegt der entscheidende Schritt bei solchen Urteilen in der Zuordnung von schadensträchtigen Prozessen zu Personen als „deren Problem“. Das Weichenstellerbeispiel in seiner zuletzt erör terten Version mag ja Zweifel wecken, ob das Strafrecht - was hier nicht von vornherein unterstellt werden soll - mit der geschilderten Regelung des Falles auch eine vernünftige Regelung getroffen habe. Aber es lassen sich unschwer Beispiele finden, die zeigen, daß sol che Zuordnungen schadensträchtiger Prozesse tagtäglich vorkom men und dabei meist als absolut trivial gelten. Wenn jemand an einem Organversagen zu sterben droht, so ist das sein Problem nicht dasjenige potentieller Organspender. Entsprechend kann, wer einen Menschen töten läßt, um seinem herzkranken Kind ein Spenderherz zu beschaffen, sich nicht entlasten mit dem Argument, er habe einen Menschen getötet und einen gerettet - das kürze sich weg, also habe er gar nichts verbrochen82. Und zwar ist das nicht das Zahlenverhältnis der Opfer als solches moralisch irrelevant sei, liefert Taurek (1977), Should the Numbers Count?; für zumindest einige Fälle, in denen die Rücksicht auf die Anzahl auch dem common sense naheliegt (z. B. im Falle von Rettungsaktio nen, bei denen zwischen zwei ungleich großen Gruppen von nicht unterschiedlich be rechtigten Personen gewählt werden muß), gelingt ihm eine nicht konsequentialistische, sondern vertragstheoretische Rekonstruktion der üblichen Intuitionen: Zustimmungsfähig sei nicht das Verfahren, mit dem die meisten gerettet werden, son dern das Verfahren, auf das sich die Betroffenen ex ante einigen könnten, weil es jedem eine gleich große Rettungschance eröffnet. 82 Jedenfalls ist es nicht dieses Argument, daß die Regelung des bei Nichteinschiägigkeit des rechtfertigenden Notstands (§ 34) ggf. einschlägigen sog. entschuldigenden Notstands (§35 StGB) plausibel machen könnte. Dieser Paragraph stellt bei (nicht selbst verschuldeter oder kraft besonderen Rechtsverhältnisses [zum Beispiel als Sol dat oder im Polizeidienst] selbst zu tragender) Bedrohung bestimmter Rechtsgüter (Leben, Leib, Freiheit) rechtswidrige Eingriffe in die Güter anderer (also Taten, die nicht durch § 34 gerechtfertigt sind) zu eigenen Gunsten oder zugunsten Angehöriger oder Nahestehender schuldfrei, also straflos, und zwar ggf. auch unabhängig von Pro portionalitätsgesichtspunkten. Vgl. Jakobs (1993), S. 572: „insbesondere kann auch die Tötung mehrerer Personen zur Erhaltung des Lebens einer Person entschuldigt wer den“. Konsequentialistisch kann dies ersichtlich nicht begründet werden. Ob es sonst wie begründet werden kann, sei hier dahingestellt; vgl. - materialreich und unter Berücksichtigung der ideengeschichtlichen Hintergründe, insbesondere der Ausge staltungen des Prinzips der Selbsterhaltung in den neuzeitlichen Vertragstheorien Bernsmann (1989), „Entschuldigung“ durch Notstand. Die üblichen Ansätze stellen auf die sog. Unzumutbarkeit der Rechtstreue ab, was zum Teil im Sinne einer vermin derten psychischen Fähigkeit zum Verzicht auf den Eingriff und zum Teil im Sinne eines verminderten Unrechtsgehalts der Tat verstanden wird. Dessen Begründung läßt freilich meist nicht erkennen, warum einschlägige Gesichtspunkte nicht schon in § 34 zum Tragen kommen. Nicht erhellend auch die Erklärung (in Wirklichkeit wohl nur: Paraphrasierung) der bestehenden Rechtslage bei Jakobs (1993), S. 570: Nur wenn
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deshalb unmöglich, weil man der Ansicht wäre, das Leben des Ge töteten sei wertvoller oder nützlicher als das Leben des Geretteten. Vielmehr ist, wenn der unfreiwillige Spender stirbt, ein Recht ver letzt worden - nämlich sein Recht auf Unterlassung aller Handlun„der Konflikt als Zufall erledigt oder Dritten zugeschoben werden kann“ (d. h. eben hier: nicht selbst verursacht wurde oder wegen besonderen Rechtsverhältnisses selbst getragen werden muß), komme Entschuldigung in Betracht. Aber warum soll ein Pro blem, das nach den naturalen Gegebenheiten A trifft, von diesem einem Dritten zu geschoben werden können, während bei § 34 jeder das naturale Pech, das seine Exi stenz bedroht, selbst zu tragen hat? Gewiß kann zum Beispiel die gewaltsame Beschaffung eines Spenderorgans für einen Angehörigen ebensowenig als entschul digt wie als gerechtfertigt gelten. Vgl. Jakobs (1993), S. 570: „Leitender Gesichtspunkt ist stets, ob bei einer Entschuldigung der betreffende Lebensbereich rechtlich organi sierbar bleibt“. Die ratio dieser (nicht im Gesetz stehenden, aber seine Interpretation leitenden) Klausel scheint dieselbe zu sein wie die der Angemessenheitsklausel beim rechtfertigenden Notstand (vgl. oben Anm. 78). Schließt sie auch dieselben Fälle aus zum Beispiel den Diebstahl des Medikaments, das die Sozialhilfe nicht gewährt? Festzuhalten ist, daß trotz gleichen Ergebnisses hinsichtlich der Straflosigkeit des Tä ters die Lozierung eines Gesichtspunkts als Rechtfertigungsgrund oder Entschuldi gungsgrund systematisch bedeutsam ist: Nur gegen rechtswidrige Taten besteht das Recht der Notwehr (§ 33). Während also ein durch § 34 gerechtfertigter Angriff (der nicht gegen die in § 35 spezifizierten existentiellen Güter gerichtet werden darf) vom Opfer geduldet werden muß, bleibt gegen eine durch § 35 lediglich entschuldigte Tat das Recht auf Selbstverteidigung erhalten. Im Ergebnis schlagen sich die Beteiligten um die rettende Planke (oder was es auch sei) wie die Hobbes’schen Subjekte im Naturzustand: „jedermann [hat] ein Recht auf alles“, was zu seiner Rettung geeignet und erforderlich ist, „selbst auf den Körper eines anderen“ (Hobbes [1984], Leviathan, S. 99). Eine generelle Anwendung dieses Prinzips ist mit dem zitierten Erfordernis der rechtlichen Organisierbarkeit der betreffenden Lebensbereiche jedenfalls nicht kom patibel: Das Krankenhauswesen bräche zusammen, wenn jedermann befürchten müß te, auf dem Operationstisch auch seiner gesunden Organe beraubt zu werden. Ande rerseits bleibt, wie es scheint, das Schiffahrtswesen auch dann organisierbar, wenn befürchtet werden muß, daß man im Falle eines Schiffbruchs von einem anderen Er trinkenden der rettenden Planke beraubt wird. Für den Raub des Platzes im Rettungs boot gilt das wohl bereits nicht mehr: Die geordnete („organisierte“) Besteigung der Rettungsboote jedenfalls bräche zusammen. Es scheint also letztlich darauf anzukom men, ob die Erlaubnis, vom rechtlich geregelten Vorgehen zum - wenn man so sagen kann - Naturzustand des §35 überzugehen, die Chancen der Rettung nur von einer Person auf die andere verschiebt (Entschuldigung) oder sie kurz- oder langfristig für alle zu mindern geeignet ist (keine Entschuldigung). Daß es nicht dieses (strukturkonsequentialistische) Prinzip allein ist, dem die geltende Rechtslage gehorcht, zeigt das oben erwähnte Fehlen einer Proportionalitätsregel. - Auf den (fingierten) Fall eines wohlorganisierten Ausgleichswesens zur Rettung unverschuldet Organerkrankter kommen wir im Abschnitt III.6 zurück. - Analoge Gesichtspunkte wie bei § 35 treten in den gesetzlich nicht geregelten Fällen ein, in denen die Tat zugunsten Dritter ge schieht, die nicht Angehörige oder Nahestehende sind (sog. übergesetzlicher entschul digender Notstand). Klassischer Fall ist die Opferung einzelner zur Rettung vieler durch Ärzte, die in die Euthanasie-Aktionen der Nationalsozialisten involviert waren.
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gen, die seine Existenz bedrohen. Wenn dagegen der Herzkranke stirbt, gilt kein Recht als verletzt. Denn natürliche Prozesse - wie Herzkrankheiten oder auch Regenschauer - verletzen keine Rechte; und ein Recht auf Ausführung aller Handlungen, die dem Prozeß seiner Krankheit entgegenzuwirken geeignet sind, hat der Kranke nicht. Nochmals aber sei betont: Die übliche Sichtweise geht nicht dahin, ein potentieller Spender sei, wenn er nicht spende, zwar Urheber (oder Miturheber) des schließlichen Todes des Kran ken, sei aber gerechtfertigt, weil der Kranke kein Recht auf eine Spende habe. Vielmehr gilt der schließliche Tod durch Herzversa gen als Ereignis ohne Urheber - also als Ereignis aus einem subjekt losen Prozeß. Die Beispiele zeigen, daß im strafrechtlichen und auch sonst üb lichen Verständnis der Begriff des subjektlosen (keinem Hand lungssubjekt als seine Tat zuzurechnenden) Schadensverlaufs nicht identisch ist mit dem Begriff eines im strengen Sinne indisponiblen, d.h. auf keine Weise entscheidungsabhängigen Verlaufs. Im übli chen Verständnis macht nicht jeder unterlassene Eingriff in einen (voraussehbar) schadensträchtigen Prozeß den Schaden zur Tat. Von den Unterlassungsfolgen werden die Subjekte vielmehr in wei tem Umfang entlastet. Und nur dies macht es möglich, ihnen im Bereich der Handlungsfolgen die Gesamtfolge anstelle der bloßen Differenz als Handlung zuzurechnen - also im Falle des Weichen stellers die Handlung, einen Menschen getötet zu haben, anstelle der Handlung, unter zwei möglichen Todeskandidaten einen ausge sucht zu haben. Nur wenn die Unterlassungsfolge nicht als Tat zu gerechnet wird, kann die Handlungsfolge ohne weiteres als ver meidbar gelten. Nur dann hat das Entscheidungssubjekt die Freiheit, einen Menschen zu töten oder dies bleiben zu lassen - an stelle der ganz anders gearteten Freiheit, einen unvermeidlichen Todesfall so oder so zu konkretisieren. Die Frage, ob und gegebenenfalls mit welchen Gründen man Un terlassungsfolgen gegenüber Handlungsfolgen eine Sonderstellung zuerkennen sollte, gehört gegenwärtig zu den meistdiskutierten Fragen in der philosophischen Handlungstheorie und Ethik. Man Überblick bei Roxin (1994a), Strafrecht, S. 855-864, bes. zur Differenzierung zwischen Fällen der Gefahrengemeinschaft (in denen, wie beim Euthanasie-Fall, die allen dro hende Gefahr auf einige verengt wird) und den nach herrschender Auffassung nicht entschuldigten Fällen der Überwälzung der Gefahr auf zuvor nicht Gefährdete (zu denen etwa der Weichenstellerfall gehört).
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sieht sofort, daß Art und Umfang dessen, was innerhalb des zivili satorischen Gesamtprozesses als Tat und was dagegen als subjekt loses Geschehen - als Natur, als Schicksal, als Unglück - gilt, mit der Antwort auf diese Frage variiert. Welche Gesichtspunkte inso weit die herrschende Zurechnungskultur bestimmen und wo und aus welchen Gründen sich möglicherweise Verschiebungen anbah nen, wird uns weiter beschäftigen. Teil der Zurechnungskultur und ihrer Entwicklungstendenzen sind ja, neben der juristischen Lehre und Praxis, auch die philosophischen Debatten selbst. Ihnen vor allem wenden sich - mit Ausnahme des vierten Abschnitts - die folgenden Erörterungen zu. 2. Handlungstheoretische Aufklärungsbedürftigkeit der Sonderstellungstheoretiker? In liberalen Gesellschaften ist umstritten, ob und inwieweit die Bür ger zur Förderung des Wohlergehens anderer verpflichtet sind. Un umstritten ist dagegen die Pflicht der Bürger, das Wohl anderer nicht zu schädigen. Die Unterscheidung dieser beiden Arten von Verpflichtungen - der Solidaritätspflichten und der Nichtschädi gungspflichten - hat eine lange Tradition: caritas und iustitia, Tu gendpflichten und Rechtspflichten, unvollkommene und vollkom mene Pflichten heißen die klassischen Entgegensetzungen83. Auch die Meinung, es handle sich bei der Nichtschädigungspflicht um die striktere, jedenfalls zu erzwingende Pflicht, war keine Erfindung der Theoretiker der liberalen Gesellschaft84. Bei diesen, zum Bei spiel bei John Locke, scheint der begrenzte Umfang dessen, wozu 83 Vgl. Seelmann (1991), Solidaritätspflichten im Strafrecht?; Feinberg (1984), Harm to others, bes. Ch. 4: Failures To Prevent Harm, S. 126-186; Buchanan (1987), Justice and Charity, mit der These, daß die Unterscheidung in der gegenwärtigen Moraltheorie keine systematische Bedeutung mehr habe. In der analytischen Moralphilosophie wird oft das Begriffspaar „positive/negative duties“ verwendet, z. B. Foot (1994), The Pro blem of Abortion and the Doctrine ofthe Double Effect (zuerst 1967), S. 274; Russell (1977), On the Relative Strictness of Negative and Positive Duties. 84 Vgl. zur Entwicklung der Regel „Delictum maius est in committendo quam in omittendo“ Honig (1979), Die Entwicklungslinie des Unterlassungsdelikts vom römischen bis zum gemeinen Recht: Die Verallgemeinerung dieses Satzes über ursprünglich be sonders geartete Fälle hinaus beruhe auf Ungenauigkeiten seitens der Postglossatoren. Zur in der Tat nur begrenzten Deckungsgleichheit der Unterscheidung von Tun und Unterlassen mit der Unterscheidung von Schädigen und Nichthelfen siehe Abschnitt III.3.
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bereits vor jeder expliziten Übereinkunft über die Struktur der Ge sellschaft, in der man leben will, alle verpflichtet sind, dann freilich eindeutig: „Im Naturzustand“, so schreibt Locke, „herrscht ein na türliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Und die Vernunft, der die ses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit ..., daß niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll“85. In der philosophischen und juristischen Reflexion ist bis heute die Meinung dominant, daß die Unterscheidung der beiden Arten von Pflichten etwas mit der Unterscheidung von Tun und Unterlas sen zu tun habe. Man schädigt jemanden, wenn man ihm einen Ei mer Wasser über den Kopf gießt. Nicht dagegen schädigt man ihn, wenn man es unterläßt, ihn mit einem Schirm vor einem Regen schauer zu schützen. Beide Male wird das Opfer vermeidbar durch näßt. Insoweit ist es naheliegend, die Differenz, die die Unter schiedlichkeit der Pflichtenstellung begründet, in dem zu suchen, worin die beiden Fälle sich unterscheiden - nämlich in der Diffe renz von Aktivität und Passivität. In einem Kommentar zu Beispielen, die diese Konsequenz nahe legen, schreibt Gottfried Seebaß, es sei zwar richtig, „daß Unterlas sungen im Recht ebenso wie im Alltag häufig anders, milder behan delt werden“ als Handlungen, und „daß wir nicht selten zögern oder uns weigern, Folgen von Unterlassungen als etwas anzusprechen, das wir getan haben“. Weiter heißt es: „Doch muß man prüfen, was sich aus diesen Tatsachen ableiten läßt. Eine Erklärung für die Un gleichbehandlung geht dahin, daß das Recht und die Alltagspraxis, die von diversen, heterogenen Gesichtspunkten bestimmt sind, handlungstheoretisch nicht reflektiert genug sind bzw. nicht syste matisch und konsequent genug bei der Behandlung einzelner Fälle verfahren“86. Handlungstheoretisch gelte: „Die geläufige Trennung zwischen Begehungen und Unterlassungen ist ... ohne Fundament. Entscheidend ist beidemal nur, ob etwas abhängig vom Wissen und Wollen dessen geschieht, der als Handelnder in Betracht steht. Ob er aktiv interveniert oder passiv bleibt; ob er ein Negativum oder ein Positivum mit seinem Verhalten verwirklicht; und ob es sich bei dieser Verwirklichung um eine Änderung handelt oder ein Fortdau ern des schon bestehenden Zustands oder Prozesses: all dies ist 85 Locke (1977), Zwei Abhandlungen über die Regierung, II/§ 6, S. 203. 86 Seebaß (1995), Anmerkungen zu Weyma Lübbe: „Natural bedingte und kulturell bedingte Schadensverläufe“, S. 4.
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prinzipiell ohne Belang“87. Entsprechend wird auch die These ab gelehnt, es sei möglich, die (voraussehbaren) Folgen des Tuns als menschliche Taten zu bezeichnen, ohne dasselbe von den (voraus sehbaren) Folgen des Unterlassens zu sagen: ,,... formal sind beide Fälle strukturidentisch. Beidemal ist es ein Sachverhalt, dessen Be stehen von der Entscheidung des Menschen abhängt. Nur handelt es sich im einen Fall um einen positiven Sachverhalt, wie das Heben des rechten Arms, im anderen um einen negativen, wie dessen Nichtheben bzw. Untenlassen. Wenn der Sachverhalt oder eine Fol ge von ihm überhaupt zurechenbar ist, dann doch in beiden Fällen gleichermaßen“88. Wenn man die zurechnungstheoretische Relevanz der Unter scheidung von Aktivität und Passivität bestreitet, bedarf es einer anderen Begründung dafür, wieso man in den einschlägigen Bei spielen - handlungstheoretische Zurechenbarkeit hin oder her das Unterlassen dennoch zu entschuldigen geneigt ist. Den Wei chenstellerfall kommentiert Seebaß folgendermaßen: „Entschul digt man aber oder fordert sogar die Untätigkeit des potentiellen Weichenstellers ..., so liegt der Grund dafür keineswegs in der ver meintlichen Sonderstellung des Unterlassens. Er liegt vielmehr in der Forderung, daß Menschen nicht in der Weise ,dem Rad des Schicksals in die Speichen greifen“ sollten, daß sie darüber entschei den, welche von mehreren, normativ gleichgestellten Personen von einem als solchen unvermeidlichen Übel getroffen werden“89. Hier wird offenbar vorausgesetzt, es werde dem Gebot, dem Rad des Schicksals nicht in die Speichen zu greifen, durch Untätigbleiben, nicht aber durch Tätigwerden Genüge getan. Darin steckt aber ge rade jene Sonderstellung des Unterlassens, die keineswegs als Grund für das moralische Urteil herangezogen werden sollte. Wer Handeln und Unterlassen konsequent ex aequo behandeln möchte, muß darauf bestehen, daß der Bahnangestellte durchaus dem Rad des Schicksals in die Speichen greift, wenn er die Weichenstellung unterläßt. Eine Freiheit, dem Schicksal seinen Lauf zu lassen - so müßte der Kommentar lauten -, hat der Bahnangestellte gar nicht. Daher kann ihm dies auch nicht geboten werden. Er hat vielmehr lediglich die Freiheit, das Schicksal hierhin oder dorthin zu lenken.
87 Seebaß (1994a), Handlungstheoretische Aspekte der Fahrlässigkeit, S. 385. 88 Seebaß (1995), S. 3. 89 Seebaß (l994a), S. 385, Anm. 24.
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Entsprechend wäre der fahrende Zug zunächst einmal niemandes Schicksal. Er rast nicht auf die Passantin zu, sondern auf den Ent scheidungspunkt. Dasselbe gälte für Organkrankheiten. Bis wir ent schieden haben, wer ihr Opfer sein soll, bedrohen sie niemanden im besonderen. Diese ungewöhnliche Sicht der Dinge stellt sich ein, wenn man die Gleichstellung der Unterlassungsfolgen - wie gefordert - kon sequent und systematisch durchführt. Der Begriff des subjektlosen Schädigungsprozesses und entsprechend die Zurechnungsinstanzen des Schicksals, Unglücks, „Laufs der Welt“ sind dann im Sinne des auf keine Weise entscheidungsabhängigen, also strikt indisponiblen Prozesses zu verstehen. Im Weichenstellerbeispiel gehört dann im Falle der Weichenstellung so gut wie im Falle der unterlassenen Weichenstellung die Tatsache, daß ein Mensch stirbt, zu den indis poniblen Elementen des Geschehens. Auch Seebaß spricht ja von einem „als solchen unvermeidlichen Übel“, das also nicht abhängig vom Wissen und Wollen des potentiellen Weichenstellers und mit hin nicht seine Handlung ist. Die partielle Subjektlosigkeit des Geschehens wird also (da ihr nicht - wie in der strafrechtlichen Lö sung - durch Subjektloserklärung der Unterlassungsfolge Rech nung getragen wird) dadurch berücksichtigt, daß die eigentliche Tat im Sinne der Differenzenlösung nicht als Tötungshandlung, son dern als Konkretisierungshandlung beschrieben wird: als Entschei dung darüber, „welche von mehreren, normativ gleichgestellten Personen“ von dem unvermeidlichen Übel betroffen wird. Exakt dasselbe gälte, nochmals, für das Übel einer Organerkrankung. De ren Opfer wird durch die Entscheidung, sich selbst oder einen an deren zum Organspender zu machen oder dies nicht zu tun, festge legt. Denn die Organerkrankung selbst legt ja, da der Verlauf zum Tode Entscheidungspunkte passiert, bezüglich des Opfers noch gar nichts fest. Man sieht, daß zusätzliche Erläuterungen fällig werden, wenn man auf dieser handlungstheoretischen Basis die gängige, über weite Strecken hin durchaus von unseren moralischen Intuitionen getragene Zurechnungspraxis rekonstruieren will. Was diese an geht, so hält freilich Seebaß die Frage nach dem Umfang unserer Pflichten zu aktiver Hilfe für eine Frage, die von der handlungs theoretischen Analyse unabhängig sei: „... bei ... naturgegebenen Differenzen des nutzbaren Möglichkeitsspielraums (Erdbeben, Hochwasser) kann man sinnvoll darüber streiten, wie weit deren Ausgleich eine Gemeinschaftsaufgabe ist. Begrifflich ist hier nichts 72 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
vorentschieden“90. Wirklich nicht? Für jemanden, der in seiner Ab lehnung der Relevanz des Unterschieds von Tun und Unterlassen konsequent wäre, handelte es sich bei den Folgen von Erdbeben und Hochwasser von vornherein nur insoweit um „naturgegebene“ Ungleichheiten, als den Opfern nicht zu helfen ist. Jede trotz beste hender Möglichkeit nicht beseitigte Ungleichheit ist nicht Natur, sondern Tat - und zwar ebensogut Tat, als wären anstelle des Erd bebens Bomben Ursache der Zerstörungen gewesen. Meines Erachtens wäre es eine Täuschung, dies für die begrifflich klarere oder auch nur moralisch neutralere Kategorisierung zu hal ten. Gewiß ist es letztlich eine Frage von Pflichtenstellungen und insoweit eine Frage der herrschenden Moral und der Rechtskultur und nicht eine Frage bloßer Natur, ob das Opfer eines naturalen Prozesses (wie ein Erdbebenopfer oder ein Organkranker) auf sei nem Schaden sitzenbleibt oder per Spendenpflicht gerettet wird. Von der herrschenden Zurechnungskultur ist nun aber auch der all tags- und bildungssprachliche Umgang mit den handlungstheoreti schen Begriffen geprägt. Eben deshalb bezeichnet man im Falle eines Erdbebens die resultierenden Schäden unabhängig von etwai gen Hilfsmöglichkeiten als Schäden aus einem naturalen Prozeß. Und eben deshalb kommt niemand auf die Idee zu sagen, der po tentielle Nierenspender habe den Patienten umgebracht, wenn die ser an seiner eigenen schadhaften Organausstattung stirbt. Die sprachgebrauchswidrige Analogisierung jeder ungenutzten Hinde rungsmöglichkeit mit der aktiven Herbeiführung eines Schadens legt, gewollt oder nicht, eine Übertragung der in unserer Kultur für Handlungen geltenden Zurechnungsstandards auf sämtliche Unterlassungen nahe. Falls man solche Zurechnungsverhältnisse wünscht, mag man beginnen, so zu reden. Aber dann ist über diesen Wunsch zu diskutieren - und nicht über den Wunsch nach begriff licher Klarheit. Denn wer sagt, daß der Begriff dessen, was Tat ist, ausschließlich an das Kriterium der Abhängigkeit vom Wissen und Wollen des Subjekts gebunden werden müsse? Alltagssprachlich ist, wie ge zeigt, die Verwendung der handlungstheoretischen Begriffe zumin dest in weiten Bereichen zusätzlich an das Bestehen oder Nichtbe stehen von Vermeidepflichten gebunden. Das gilt im übrigen, wie wir noch genauer sehen werden, nicht nur für Unterlassungsfolgen, sondern auch für Handlungsfolgen. Daher regen sich Widerstände, 90 Seebaß (1996), Der Wert der Freiheit, S. 773.
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wenn von allerlei Ereignissen, die wir zwar hätten vermeiden kön nen, aber nicht zu vermeiden verpflichtet waren, gesagt wird, sie seien unsere Taten. Und einem Theoretiker, der den Tod des Or gankranken als Tat eines potentiellen Spenders oder gar als Tötung durch diesen bezeichnet, nimmt man nicht ab, er habe nur eine wertneutrale handlungstheoretische Feststellung machen wollen, die hinsichtlich der Bewertung nichts präjudiziert. Den Satz, daß jemand einen anderen getötet habe, kann man gar nicht als wert neutrale Feststellung hören. Daher ist die Feststellung, jemandes Tod sei nicht Unglück, sondern Tat, nolens volens ein Präjudiz. Aus diesem Grund bin ich generell skeptisch gegenüber dem Un ternehmen, die handlungstheoretische Kategorienbildung im Inter esse einer angeblichen Beseitigung begrifflicher Unklarheiten zu nächst von der herrschenden moralischen und juristischen Kultur abzulösen und sodann eine von allen normativen Gesichtspunkten gereinigte Version den Normsetzern als kategoriale Grundlage an zuempfehlen91. Im Zuge dieser Strategie werden dann auch Begrif fe „geklärt“, deren Prägung durch eine bestimmte normative Tra dition so deutlich ist, daß eine normativ gereinigte Version nichts als Verwirrung stiftet. Ein aktuelles Beispiel ist der Freiheitsbegriff92. Infolge der angeblich handlungstheoretisch zwingenden Gleichstellung von Handeln und Unterlassen gilt A’s Freiheit - de finiert als seine Möglichkeit zur ungehinderten Selbstentfaltung schon dann als behindert, wenn B eine Möglichkeit, A zu einer Selbstentfaltungschance zu verhelfen, ungenutzt gelassen hat. Da nach muß es als Eingriff des B in die Freiheit des Nierenkranken A gelten, wenn B dem A keine Niere spendet. Ich glaube, daß die These, hier sei „ein mißbrauchter Begriff“93 präzisiert worden, auch bei Kritikern unter den Kennern der Tradition des Liberalismus nicht nur Beifall finden wird. Macht man die Prägung der handlungstheoretischen Begrifflichkeit durch pflichtentheoretische Gesichtspunkte explizit, so wird freilich auch deutlich, daß man die pflichtentheoretische Sonder91 Vgl. Seebaß (1993b), Wollen, z.B. den Tenor der Anm. 103, S. 258f.; auch Kuhse (1994), Die „Heiligkeit des Lebens“ in der Medizin, bes. Kap. 2. 92 Vgl. Seebaß (1996), Der Wert der Freiheit, S. 761: „Die wichtigste Aufgabe ist eine Präzisierung des Freiheitsbegriffs. ... Dazu muß die deskriptive Komponente der Re de von .Freiheit1 strikt von der evaluativen getrennt werden. Vergessen wir also für einen Augenblick, daß das Wort wertbesetzt ist, und konzentrieren uns ganz auf seinen Gehalt.“ 93 Seebaß (1996), S. 759.
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Stellung des Unterlassens nicht argumentativ auf den handlungs theoretischen Sprachgebrauch stützen kann. Daß viele Unterlas sungsfolgen nicht als Taten klassifiziert werden, zeigt an, daß man gemeinhin nicht als verpflichtet gilt, sie in seinem Verhalten zu be rücksichtigen. Aber es erklärt nicht, warum das so ist. Und erst recht ist es nicht geeignet zu begründen, daß dem so sein sollte. In den einschlägigen Debatten sind von den Verfechtern der These, daß die Unterscheidung von Aktivität und Passivität normativ unerheb lich sei, zwei unterscheidbare Positionen eingenommen worden. Im Rahmen der ersten Position - sie findet sich bei Juristen und bei Philosophen - bezweifelt man die Relevanz des Unterschieds von Aktivität und Passivität. Aber man bezweifelt nicht, daß mit der Unterscheidung von Nichtschädigungspflichten und Solidaritäts pflichten eine systematisch wichtige Differenz benannt ist. Es sei lediglich so, daß es bei der pflichtentheoretischen Unterscheidung auf den Unterschied von Aktivität und Passivität nicht ankomme. Denn es gebe Fälle, in denen man das Nichtschädigungsgebot durch Passivbleiben verletze; und umgekehrt gebe es Fälle, in denen man, obgleich man aktiv war, es nur an Solidarität, nicht aber an der Ein haltung des Nichtschädigungsgebots habe fehlen lassen. Die zweite Gegenposition ist im Unterschied zur ersten de lege lata nicht vertretbar und wird auch de lege ferenda, soviel ich weiß, von keinem Juristen vertreten. Es handelt sich also um eine philo sophische Spezialität. Diese Position bestreitet im Unterschied zur ersten auch die Berechtigung der pflichtentheoretischen Unter scheidung. Sie stützt sich aber dabei auf die These von der Äquiva lenz von Tun und Unterlassen. Habe man erst eingesehen, daß auf den Unterschied von Tun und Unterlassen nichts ankomme, dann sei auch nicht mehr zu vertreten, daß derjenige, der es vermeiden könne, einem anderen einen Eimer Wasser über den Kopf zu schüt ten, stärker verpflichtet sein sollte als der, der es (ceteris paribus) vermeiden könne, daß der andere im Regen naß wird. Denn in der Hinsicht, die dieser Position zufolge (es ist die konsequentialistische94) die normativ eigentlich relevante Hinsicht ist - nämlich die Art und Qualität der vermeidbaren Folgen, die das fragliche Verhalten hat -, in dieser Hinsicht bestehe in den beiden Fällen keine Differenz. Wir diskutieren im folgenden Abschnitt die erste der beiden genannten Positionen und setzen uns nach einer Darstel
94 S.o. II.4., S. 59ff.
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lung der relevanten strafrechtlichen Unterscheidungen (III.4) mit der zweiten, radikaleren Position auseinander. 3. Die nichtrevolutionäre Form der Äquivalenzthese Es gibt Fälle, in denen dem üblichen moralischen Urteil nach Un terlassungsfolgen mit demselben moralischen Vorwurf belegt wer den wie entsprechende Handlungsfolgen. Gottfried Seebaß nennt in der Absicht der Stützung der Äquivalenzthese - folgendes Bei spiel: „Niemand, der in einer entscheidenden Abstimmung seinen Arm nicht gehoben hat, kann sich allein aufgrund der Tatsache, daß sein Verhalten die Form des Unterlassens hat, von seiner Verant wortung für das Ergebnis entlasten“95. Beispiele wie dieses werfen eine Frage auf, die von dem Problem der Relevanz der Unterscheidung von Handeln und Unterlassen nicht zu trennen ist - nämlich die Frage, ob sich Handeln und Unter lassen überhaupt mit hinreichender Eindeutigkeit unterscheiden lassen. Im gerade zitierten Beispiel hätte man über den betreffen den Vorgang auch in der Form berichten können, die Person habe „an einer Abstimmung teilgenommen“. Dann wäre niemand auf die Idee gekommen, darin eine Unterlassung zu sehen. Also scheint die Kategorisierung eines Vorgangs als Handlung oder als Unterlas sung von der Art des sprachlichen Bezugs auf ihn abzuhängen96. Von der moralischen Qualität des Vorgangs wird man dasselbe nicht sagen wollen. Denn dann, so scheint es, könnte man sich mo ralischen Vorwürfen, anstatt durch Andershandeln, auch durch An 95 Seebaß (1995), Anmerkungen zu Weyma Lübbe: „Natural bedingte und kulturell bedingte Schadensverläufe“, S. 3. 96 So auch Seebaß (1995), S. 3. Seebaß’ eigenes Beispiel für die Beschreibungsabhän gigkeit der Kategorisierung scheint mir freilich wenig überzeugend: „Der Autofahrer, der einen Verletzten am Straßenrand ignoriert, kann entweder als ein Mensch charak terisiert werden, der pflichtwidrig an ihm vorbeigefahren ist, oder als jemand, der es unterlassen hat, pflichtgemäß anzuhalten“ (ebd.). Das mag sein, aber der Tod des Ver letzten ist gleichwohl eindeutig Unterlassungsfolge, nicht Handlungsfolge: Der Ver letzte wurde nicht durch das Vorbeifahren getötet, sondern er starb wegen Fehlens von Handlungen, die mit dem Vorbeifahren inkompatibel sind (Anhalten, Verband anlegen usw.). Die Handlung, die anstelle der gebotenen, schadensabwendenden Handlungen ausführt wird, ist keine Bedingung des Schadenseintritts. Unterbleibt sie, unterbleibt nicht auch schon der Schaden; es sind dann lediglich die Handlungen möglich, bei deren Durchführung der Schaden in der Tat unterbleibt - deren Unter lassung also den Schaden bedingt.
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dersbeschreiben entziehen97. Insofern scheint bereits der Hinweis auf die Beschreibungsabhängigkeit der Unterscheidung von Han deln und Unterlassen ein Hinweis auf ihre moralische Irrelevanz zu sein. Auf diese Argumentation kann in folgender Weise geantwortet werden: Die Wahl zwischen unterschiedlichen Beschreibungen eines Vorgangs ist keine beliebige, und insoweit kann man sich auch Vorwürfen nicht nach Belieben durch Beschreibungswechsel ent ziehen. Wer nach der Abstimmung vorträgt, er habe sich nicht ge rührt und mithin auch gar nichts getan, der kann mit Fug und Recht darauf hingewiesen werden, daß er durchaus einiges getan hat: Er hat zum entsprechenden Zeitpunkt den Sitzungssaal betreten, hat sich an seinen Platz gesetzt, hat seine Finger (anstatt zum Beispiel in den Ohren) an den üblichen Stellen plaziert, hat möglicherweise genickt, als es um die Frage ging, ob man zur Abstimmung schreiten soll - kurz, er hat sich so verhalten, wie man sich verhalten muß, um als jemand beschreibbar zu sein, der „an einer Abstimmung teil nimmt“. Die Einlassung, er habe „nichts getan“, da er den Arm nicht gehoben habe, ist demgegenüber, soweit sie korrekt ist, uner heblich: Sie greift aus dem Gesamtvorgang („Abstimmung“) einen Ausschnitt heraus, an dem als isoliertem in der Tat ein moralischer Vorwurf nicht haftet. Der Vorwurf haftet an der Teilnahme an der Abstimmung - näherhin am „Dagegenstimmen“, falls dies in See baß’ Beispiel die Bedeutung gewesen sein soll, die der Kontext dem beschriebenen Verhalten verleiht98. Die Ontologie eines solchen Aktes ist mit dem Hinweis darauf, daß jemand den Arm nicht ge hoben habe, offenbar recht unvollkommen erfaßt. Es fehlt die On tologie des Kontexts, der ein solches Verhalten ein „Dagegenstim men“ sein läßt. Damit ist zunächst belegt, daß dort, wo es um moralische Beoder Entlastung geht, die Art des sprachlichen Bezugs auf einen Vorgang nicht beliebig ist. Daher ist auch die Beschreibungsabhän gigkeit der Kategorisierung eines Schadens (als Handlungsfolge oder als Unterlassungsfolge) als solche kein Einwand gegen die nor mative Relevanz dieser Unterscheidung. Die Beschreibung muß 97 Vgl. auch Birnbacher (1995), Tun und Unterlassen, S. 29, m.w.N. 98 Nicht zufällig ist es so, daß bei Abstimmungen normalerweise sowohl für die Zustimmung wie für das Dagegenstimmen und schließlich auch für die Stimmenthal tung ein Handzeichen gefordert wird. Das sichert - über das vom Kontext Leistbare hinaus - die Definiertheit des jeweiligen Sinns des „Nichtzustimmens“, insbesondere auch seine Unterscheidbarkeit von der Nichtteilnahme an der Abstimmung.
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eben, wenn sie für Zurechnungszwecke tauglich sein soll, diejenigen Aspekte des Vorgangs erfassen, an denen seine moralische Qualität haftet. Im Beispiel ist der Beschreibung „Dagegenstimmen“ der Vorzug zu geben vor der Beschreibung „Nichtheben des Arms“. Ist aber damit nicht gerade das bestätigt, was den eigentlichen In halt der Äquivalenzthese ausmacht: Die Tatsache, daß der Arm un ten blieb, anstatt nach oben zu gehen (also die Tatsache, daß hier eine Unterlassung vorlag), ist kein moralisch relevanter Aspekt des Vorgangs, tangiert also auch nicht die Zurechenbarkeit des aus der Abstimmung entstehenden Schadens? Die Antwort lautet: Das mo ralisch relevante Verhalten ist, wie gesagt, das Dagegenstimmen. Für den Zurechnungszusammenhang zwischen diesem Verhalten und dem Schaden ist es durchaus relevant, daß ein solches Verhal ten nicht durch pures Unterlassen zu bewerkstelligen ist. Ohne die oben aufgezählten aktiven Aspekte der Beteiligung wäre die unter lassene Armbewegung kein Dagegenstimmen gewesen. Das ist der Grund, weshalb wir etwas, das so bezeichnet wird, insgesamt als Handlung klassifizieren und gegebenenfalls auch entsprechend sanktionieren. Das Beispiel zeigt, daß bei der Frage nach der Klassifizierung von Schäden als Handlungsfolgen oder als Unterlassungsfolgen das in Handlungstheorie und Jurisprudenz vieldiskutierte Problem der Einheit der Handlung ins Spiel kommt". Offenbar ist in unserem Beispiel das Nichtheben des Arms ein Teil der Handlung des Teil nehmens an der Abstimmung. Dieses stellt sich also als komplexes Verhalten dar, das zum Teil aus aktivem Tun und zum Teil aus Un terlassungen besteht. Alltagssprachlich wird das komplexe Verhal ten eindeutig als Handlung klassifiziert, nicht als Unterlassung. Das scheint zu belegen, daß, solange das komplexe Verhalten nicht aus purem Unterlassen besteht, die Beteiligung von Unterlassungen die Kategorisierung des Ganzen als Aktivität nicht beeinträchtigt. An dernfalls müßte man allerlei Schäden, die üblicherweise ohne wei teres als Handlungsfolgen angesehen werden, stattdessen als Unter lassungsfolgen klassifizieren. Zum Beispiel: Wer eine Bombe legt, mag bis zur Explosion Zeit haben, sie wieder zu entfernen. Und wer jemanden vergiftet, mag vor dem Eintritt des Todes die Möglichkeit99 99 Siehe Pfeifer (1989), Actions and Other Events. The Unifier-Multiplier Controversy; für das Strafrecht Maiwald (1964), Die natürliche Handlungseinheit; Jakobs (1993), Strafrecht, S. 884ff. mit weiteren Nachweisen, bes. S. 911 (zum einheitlichen Vollzug von Begehungstaten und Unterlassungstaten).
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haben, ein Gegenmittel einzuflößen. Dennoch bezeichnet der All tagssprachgebrauch die Explosion und den Vergiftungstod deshalb nicht als Unterlassungsfolgen. In der neueren Ethikdiskussion sind Fragen dieser Art vor allem anhand der Unterscheidung von „killing“ und „letting die“ behan delt worden100. Auch unter denjenigen, die an der Aufrechterhal tung einer moralischen Differenz zwischen dem Töten und dem Sterbenlassen (generell: zwischen dem Schädigen und dem Nichthelfen) interessiert sind, haben einige argumentiert, daß der eigent liche Unterschied zwischen beidem nicht in der Aktivität oder Pas sivität des Handlungssubjekts zu suchen sei. Vielmehr komme es auf die sogenannte kausale Rolle des Subjekts an, das heißt: Hat ein Subjekt den kausalen Faktor, an dem das Opfer stirbt, wenn niemand eingreift, selbst herbeigeführt, so soll es sich, wenn dieses Subjekt nicht eingreift, um Tötung handeln und nicht um Sterben lassen101. Ein häufig erwähntes Beispiel ist das Verhalten einer Per son, die ein Tier in einen Käfig sperrt und es in der Folge unterläßt, 100 Siehe Steinbock/Norcross (1994), Killing and Letting Die, mit weiteren Nachwei sen; weitere Literatur in Abschnitt III.5. 101 Green (1980), Killing and Letting Die; vgl. S. 198: „A kills B when A refrains from preventing B’s death if, and only if, (1) there is a condition c which is sufficient to cause B’s death unless A or some other agent does something s which will prevent B’s death from c, (2) A brought about c, (3) A refrains from doing s, and (4) B dies from c.“ Zum Zweck einer Abgrenzung des Begriffs der Tötung (hier: durch Unterlassen) ist der Bezug auf das Setzen einer „hinreichenden“ (Vor)Bedingung (was ja nur heißen kann: hinreichend unter den gegebenen Umständen) freilich ungeeignet, nämlich zu weit. Und zwar ist sie schon auf der Ebene der objektiven Zurechnung zu weit, d.h. auch dann, wenn man berücksichtigt, daß die (die subjektive Seite der Tat betreffende) Vor aussetzung der Erkennbarkeit des Schadens mitgedacht werden muß (in Greens Defi nition ist sie durch Einfügung einer entsprechenden Klausel bei der Definition des Begriffs „refraining“ [ebd.] berücksichtigt; bei der Definition des „killing without refraining“ [ebd.], also des gewöhnlichen Tötens durch Begehung, fehlt ein entsprechen der Zusatz - siehe dazu ebd., S. 197). Hier ist ein Beispiel dafür, daß auch der Bezug auf das qua Erkennbarkeit vermeidbare Setzen einer hinreichenden (Vor-)Bedingung zu weit ist: A weiß, daß sein Nachbar schwer herzkrank ist, und weiß zudem, daß der Nachbar ein notorischer Ausländerfeind ist und sich insbesondere beim Kontakt mit allem Türkischen heftig aufzuregen pflegt. Gleichwohl tötet A nicht einmal fahrlässig, wenn er - mit letaler Wirkung für den Nachbarn - in seinem Garten nach türkischen Gebräuchen eine türkische Familie bewirtet oder es unterläßt, die Bewirtung abzubre chen. Mit fehlender Erkennbarkeit hat die fehlende Zurechenbarkeit in einem sol chen Fall nichts zu tun. Der Schadenseintritt kann wahrscheinlicher sein als die fahr lässige Tötung des Nachbarn infolge unvorsichtigen Hantierens mit einem geladenen Gewehr. Wir kommen auf diesen Punkt - also auf die Tatsache, daß auch bei Erkenn barkeit der Gefahr nicht jedes Setzen einer unter den gegebenen Umständen hinrei chenden Bedingung für die Schlechterstellung einer anderen Person ein Verstoß ge
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das Tier zu füttern, so daß es verhungert. Gemeint ist also ersicht lich, daß die Lage, in der positives Tun zur Schadensabwendung er forderlich ist, von dem betreffenden Subjekt durch positives Tun herbeigeführt worden sein muß - und nicht etwa durch Unterlassen. Das zeigt, daß bei der Unterscheidung von Töten und Sterbenlassen der Rekurs auf die sogenannte kausale Rolle das Kriterium des Vorliegens oder Nichtvorliegens aktiver Einflußnahme nicht obsolet macht. Er setzt die Wichtigkeit dieses Kriteriums vielmehr voraus. Wer, wie die Äquivalenztheoretiker, einen moralisch relevanten Unterschied zwischen Aktivität und Passivität nicht erkennen kann, wird sich daher auch von der moralischen Relevanz des Rekurses auf die kausale Rolle nicht überzeugen können102. Dabei steht der terminologische Ausweg, der im Abstimmungs beispiel überzeugen konnte, nicht überall offen: Man kann die Übereinstimmung der Differenz von Töten und Sterbenlassen mit der Differenz von Aktivität und Passivität nicht dadurch zu einer ganz allgemeinen machen, daß man alle Unterlassungen, die wegen vorangegangener aktiver Rolle mit einem handlungsäquivalenten Vorwurf belegt werden, mit der vorangegangenen Aktivität zu einem Ganzen zusammenfaßt und dieses als Handlung kategori siert. Wie insbesondere Juristen wissen (die aus Gründen der Ver suchs- und Rücktrittsproblematik und aus anderen guten Gründen gewohnt sind, auf den Tatzeitpunkt zu achten), gibt es mannigfache Gesichtspunkte, die dazu zwingen, ein komplexes Verhalten der hier relevanten Art begrifflich nicht als Handlungseinheit zu behan deln. Am offensichtlichsten ist das der Fall, wenn innerhalb eines Verhaltenskomplexes der erste, aktive Teil als solcher nicht verbo ten ist, sondern lediglich eine Pflicht zur Durchführung der zur Schadensverhinderung erforderlichen Folgehandlungen mit sich führt. Im Beispiel: Es ist nicht verboten, als Produzent Ledersprays in Umlauf zu bringen. Verboten ist dagegen, die in Umlauf gebrach ten Sprays nicht zurückzurufen, wenn sich aus entsprechenden Rückmeldungen Hinweise auf ihre Gesundheitsheitsschädlichkeit ergeben. Die Gesundheitsschäden, die sich nach Unterlassen der erwogenen Rückrufaktion ereignen, sind daher Körperverletzun
gen das Nichtschädigungsgebot (ggf. also: eine Tötung) ist - gegen Ende dieses Ab schnitts und dann in den folgenden beiden Kapiteln zurück. 102 Vgl. die kritische Diskussion des Konzepts von Green bei Kuhse (1994), Die „Hei ligkeit des Lebens“ in der Medizin, S. 96-100.
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gen wegen unterlassenen Rückrufs, nicht Körperverletzungen we gen getätigter Auslieferung des Produkts. Die Pragmatik, der die Bildung von Verhaltenseinheiten ge horcht, ist kompliziert. Daher werden unter Umständen auch Schä den, die ohne eine vorangegangene aktive Beteiligung des in Frage stehenden Subjekts nicht eingetreten wären und insofern jedenfalls auch Folgen seiner Aktivität sind, als Unterlassungsfolgen klassifi ziert. Insoweit gilt, daß die Gesichtspunkte, die das Operieren mit der Unterscheidung von Handeln und Unterlassen anleiten, sich in der Tat nicht schlicht mit den Gesichtspunkten decken, die das Operieren mit der Unterscheidung von Schädigen und Nichthelfen anleiten. Insbesondere bezieht man sich beim Operieren mit der zuerst genannten Differenz häufig auf kleinere Verhaltenskom plexe - eben nicht gerade auf die Verhaltenskomplexe, die relevant werden, wenn es darum geht, anläßlich eines eingetretenen Scha dens die Schwere des zu bildenden Vorwurfs zu bestimmen. Freilich sahen wir bereits, daß der Handlungsbegriff gelegentlich selbst komplexere Verhaltenseinheiten übergreift. Die mit dem Hand lungsnamen „Vergiften“ ausgeschnittene Verhaltenseinheit zum Beispiel umfaßt unter Umständen aktive und passive Faktoren so das unterlassene Verabreichen eines Gegenmittels. Die Unter scheidung von Aktivität und Passivität deckt sich also, genauge nommen, nicht einmal mit der Unterscheidung von Handeln und Unterlassen (so, wie man üblicherweise mit ihr operiert). Gleich wohl wird man daraus doch nicht schließen wollen, daß die Unter scheidung von Handeln und Unterlassen nichts mit der Unterschei dung von Aktivität und Passivität zu tun habe. Die Unterscheidung von Aktivität und Passivität ist, wenn sie im Sinne des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins einer Körper bewegung verstanden wird, eine sogenannte „naturalistische“ Un terscheidung103. D.h. die Verwendung der Begriffe „Aktivität“ und „Passivität“ richtet sich nicht nach juristischen oder moralischen Begriffsbildungszwecken. Insbesondere hängt sie nicht von den Zwecken ab, die man verfolgt, wenn man ein Geschehen unter dem Gesichtspunkt seiner strafrechtlichen oder moralischen Vor werfbarkeit in Begriffe faßt. Tut man dieses, hat man oft auf Ver haltenseinheiten zu blicken, die komplexer sind als diejenigen, auf 103 Zur Diskussion Puppe (1994), Naturalismus und Normativismus in der modernen Strafrechtsdogmatik; Küpper (1990), Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogma tik.
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die man zu blicken hat, wenn es darum geht, das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Körperbewegung zu konstatieren. Das belegt nun aber nicht, daß es für die Bildung des Vorwurfs (und daher auch für die Bildung der diesen oder jenen Vorwurf implizierenden Be griffe: Schädigen hier, Nichthelfen dort) unerheblich sei, ob das Subjekt eine Körperbewegung vollzogen hat. Es belegt lediglich, daß die relevante Frage nicht lauten kann, ob eine Aktivität oder eine Passivität den Schaden bedingte. Denn häufig ist eben beides der Fall. Die Frage muß vielmehr lauten, ob eine Aktivität oder keine Aktivität, also reine Passivität, den Schaden bedingte. Nur diese Unterscheidung ist auch mit Bezug auf komplexe Verhaltens einheiten, die beides enthalten, disjunkt. Es ist also, nochmals, richtig, daß man auch mit einem Unterlas sen unter Umständen schädigen kann. Durch pures Unterlassen da gegen, so lautet die generalisierbare These, kann man nicht schädi gen. Belegt das etwa, daß die These von der pflichtentheoretischen Relevanz des Unterschieds von Handeln und Unterlassen als solche falsch ist und allenfalls die These von der pflichtentheoretischen Relevanz des Unterschieds von Handeln und purem Unterlassen vertretbar wäre? Das hieße, sich zu sehr an kontingente grammati sche Formen zu binden. Dieselbe generalisierbare These läßt sich ja auch so ausdrücken: Ohne Handeln kein Schädigen. Dieser Satz gilt nur für das Handeln, nicht für das Unterlassen. Die These, daß der Unterschied von Handeln und Unterlassen als solcher pflichten theoretisch ohne Belang sei, läßt sich angesichts dieses Satzes nicht aufrechterhalten. Es bleibt der zweite Teil des Einwands gegen die pflichtentheo retische Relevanz des Unterschieds von Handeln und Unterlassen zu diskutieren: Er lautete, es gebe Fälle, in denen man es trotz Ak tivität nur an Solidarität, nicht aber an der Einhaltung des Nicht schädigungsgebots habe fehlen lassen. Im Rahmen der strafrechtli chen Diskussion hat Günther Jakobs einschlägige Beispiele vorgebracht, um zu belegen, daß es auf den Unterschied von Han deln und Unterlassen pflichtentheoretisch nicht ankomme104: Ein Hausbesitzer schaltet das Außenlicht aus; daraufhin stolpert auf dem am Haus vorbeiführenden und nun schlecht beleuchteten öf fentlichen Weg ein Passant und verletzt sich. Oder: Ein Gartenbe sitzer setzt seine Bewässerungsanlage außer Betrieb; daraufhin ver 104 Siehe Jakobs (1993), Strafrecht, S. 781-783; ausführlich Jakobs (1996b), Die straf rechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen, zum folgenden Beispiel S. 26.
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trocknen auf dem tiefergelegenen Grundstück die bislang mitbe wässerten Blumen des Nachbarn. In der Tat sind diese Beispiele auch nach dem bisher Gesagten kommentarbedürftig. Sie widerle gen zwar nicht die These, daß man, wenn kein Handeln beteiligt ist, jedenfalls nicht gegen das Nichtschädigungsgebot verstoße. Inso fern bleibt es dabei, daß die Behauptung, es komme pflichtentheo retisch auf den Unterschied von Handeln und Unterlassen nicht an, nicht zu halten ist. Aber die genannten Beispiele verbieten eine der möglichen Umkehrungen der These - nämlich die Behauptung, daß man, wenn ein Handeln beteiligt ist, damit jedenfalls nicht (nur) gegen eine Solidaritätspflicht verstoße. Diese Umkehrung soll hier in der Tat nicht behauptet werden. Ebenso wie zugegeben wurde, daß man unter Umständen mit einer Unterlassung schädigt, wird auch zugegeben, daß man es unter Um ständen mit einer Handlung lediglich an Solidarität fehlen läßt. Bei den genannten Beispielen verlangt freilich die Benennung der Um stände, die das möglich machen, wiederum einen Rekurs auf den Unterschied von Handeln und Unterlassen, und zwar in folgender Weise: Es dreht sich bei den in Frage stehenden Aktivitäten (näm lich bei der Betätigung des Lichtschalters bzw. des Schalters der Be wässerungsanlage) um Handlungen, die zugleich Beendigungen von Handlungen sind (nämlich des Beleuchtens bzw. Bewässerns). Näherhin handelt es sich um die Beendigung von Handlungen, die mit Bezug auf einige ihrer Folgen Hilfeleistungen sind. Die in Frage stehenden Aktivitäten bewerkstelligen den Übergang zur Unterlas sung dieser Hilfeleistungen. Das ist der Grund, weshalb man sich mit ihnen allenfalls unsolidarisch, nicht aber schädigend verhält. Analog ist der in den oben herangezogenen Ethikdebatten meistdiskutierte Fall dieser Art zu lösen: Das Abschalten von Beat mungsgeräten bei irreversibel komatösen Patienten wird zu Recht als Sterbenlassen und nicht als Töten kategorisiert. Denn die in Frage stehende Aktivität beendet das Beatmen, ist also die Be endigung einer Handlung, mit der der ohne aktive Beteiligung des Arztes bedingte Verlauf zum Tode gehindert werden sollte105. Üblicherweise bewerkstelligt man freilich den Übergang von einer Handlung zu ihrer Unterlassung nicht durch Handeln, son 105 Zu den Grenzen der Klassifizierbarkeit einer Rücknahme von Hilfe als Beendi gung einer Hilfshandlung (und damit als bloßes Geschehenlassen des Schadens) siehe ausführlich McMahan (1994), Killing, Letting Die, and Withdrawing Aid; auch Jakobs (1996b), S. 37-39.
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dern dadurch, daß man mit dem Handeln aufhört. Man beendet das Sprechen, indem man aufhört, Laute zu bilden; man beendet das Essen, indem man aufhört, Bissen in den Mund zu stecken, sie zu kauen und herunterzuschlucken; und wenn man seinen Garten mit der Gießkanne bewässert, dann beendet man das Bewässern, indem man aufhört, die Gießkanne zu befüllen und im Garten wieder aus zugießen. Wieso es sich in den zuvor diskutierten Beispielen und in vielen anderen Fällen - tatsächlich in einer ständig zunehmenden Zahl von Fällen - anders verhält, darauf kommen wir am Schluß dieses Abschnitts zurück. Zunächst ist zu überlegen, was sich aus dem soweit Gesagten für die pflichtentheoretische Relevanz der Unterscheidung von Handeln und Unterlassen ergibt. Prima facie scheint folgender Schluß erlaubt: Nur bei solchen Handlungen, mit denen man eine andere Handlung beendet und daher mit Bezug auf sie zum Unterlassen übergeht, kann es vorkommen, daß man (anstatt zu schädigen) lediglich eine Solidaritätspflicht verletzt106. Die korrekte Umkehrung der These, daß man ohne Handeln keine Nichtschädigungspflicht verletzen kann, würde dann in der Tat nicht lauten, daß man mit einem Handeln keine Solidaritätspflicht verletzen kann. Sondern sie würde lauten, daß man ohne Unterlas sen keine Solidaritätspflicht verletzen kann - nämlich ohne Unter lassen einer helfenden Handlung. Diese These ist, obwohl sie für die diskutierten Beispiele paßt, als generelle These freilich falsch. Man nehme das Beispiel eines Man nes, der von seinem kranken, erholungsbedürftigen Nachbarn ge beten wird, ausnahmsweise auf das tägliche Geigenspiel zu verzich ten. Ignoriert der Mann diese Bitte, läßt er es gewiß an Solidarität fehlen - aber nicht durch ein Handeln, mit dem bezüglich einer (helfenden) Handlung zum Unterlassen übergegangen würde, son dern durch ein ganz gewöhnliches Handeln. Daß das möglich ist, ist nicht schwer zu erklären: Es ist die Kehrseite des Umstandes, daß nicht jede Aktivität, die einen Schaden bedingt (hier: das Geigen spiel), eine Schädigung im Sinne eines Verstosses gegen das Nicht schädigungsgebot ist. Auf diesen Umstand waren wir bereits gestossen: Er war der Grund, warum wir uns nicht auf die These von 106 Freilich wäre - wie sich aus dem hier Gesagten im Zusammenhang mit dem zuvor (zum Schädigen durch Unterlassen) Entwickelten konsistent ergibt - nicht jede Hand lung dieser Art keine Schädigung. Im Beispiel: Hat jemand die Bewässerungsanlage in Betrieb genommen, um die zuvor versehentlich in Brand gesetzte Gartenlaube des Nachbarn zu retten, dann handelt es sich beim Beendigen des Bewässerns durch Ab schalten um ein Schädigen.
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Green einlassen wollten, daß der Umfang des Tötungsbegriffs mit Hilfe der Kategorie der kausalen Rolle bestimmbar sei107: Wenn jedes für einen Schaden kausal erhebliche, aber sonst wie auch im mer geartete Tun eine nachfolgende (in Kenntnis der Lage vorge nommene) Unterlassung zur Schädigung erhöbe, wären unsere Nichtschädigungspflichten erheblich weiter, als es dem üblichen Verständnis entspricht. Wer zum Beispiel als Autofahrer mit einem anderen Verkehrsteilnehmer nach dessen Vorfahrtsverletzung zu sammenstößt, hat gewiß (wie der andere) einen positiven Kausal faktor für den Zusammenstoß gesetzt. Gleichwohl ist er zu an schließender Hilfeleistung am Verletzten nur aus der allgemeinen Solidaritätspflicht108, nicht aber - kraft seines vorangegangenen Tuns - aus dem Nichtschädigungsgebot verpflichtet. Das Beispiel zeigt, daß nähere Qualifikationen des kausal rele vanten Vorhandelns nötig sind, wenn man die Fälle plausibel ein grenzen möchte, in denen es qua Nichtschädigungsgebot zur akti ven Abwendung der Folgen verpflichtet. Nicht jedes für einen Schaden kausal relevante Handeln, nochmals, ist eben ein Schädi gen. Wir kommen darauf in den beiden nachfolgenden Kapiteln ausführlich zurück. Für den vorliegenden Kontext halten wir ledig lich fest: Zu einigen Handlungen (zum Beispiel zum Geigenspiel) ist man berechtigt, obwohl man mit ihnen unter Umständen die Lage Dritter verschlechtert, und zwar nicht durch Beendigung einer Verbesserungshandlung, sondern ganz ohne vorangegangene Ver besserung. Wer auf ein solches Recht verzichtet, also die fragliche Handlung unterläßt, verschafft dem Dritten etwas, auf das dieser keinen Anspruch hat - genauer, keinen Anspruch aus dem Nichtschädigungsgebot109 (im Beispiel: Ruhe). Ein solches Verhalten nennt man Helfen, und daher läßt es der, der auf seinem Recht zum Handeln besteht, allenfalls an Solidarität fehlen. Die Relativität des Begriffs der Solidarleistung auf den Umfang 107 Siehe oben S. 79f., Anm. 101. 108 Vgl. unten S. 88 mit Anm. 114. 109 Auch auf Hilfeleistungen kann man natürlich Anspruch haben: Nicht dem Nach barn, wohl aber dem eigenen Kind muß man bei Bedarf Medikamente aus der Apo theke holen, wenn es krank zu Bett liegt. Die geforderte Leistung bleibt, obwohl sie (auch rechtlich) geschuldet ist, eine Solidarleistung, und der Verstoß gegen sie ist kei ne Verletzung des Nichtschädigungsgebots. Genaueres zum Umfang rechtlich geschul deter Solidarität enthält der folgenden Abschnitt. Jedenfalls aber sind ungeschuldete Leistungen (ob sie nun in Aktivitäten oder im Verzicht auf Aktivitäten bestehen) Hilfen.
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des Nichtschädigungsgebots hat zur Folge, daß Solidarleistungen nicht notwendig ein Handeln voraussetzen. Für die Klärung des Be griffs der Solidarleistung ist daher die Frage, ob eine Körperbewe gung vorliegt oder nicht, tatsächlich unerheblich. Das ändert nichts daran, daß es für die Klärung des Begriffs der Schädigung nicht unerheblich ist: Ohne Körperbewegung, wie gesagt, keine Schädi gung. Diese These bestätigt auch der (insoweit durchaus plausible) Versuch, den Schädigungsbegriff mit Hilfe des Konzepts der kausa len Rolle zu rekonstruieren. Dasselbe gilt für den Begriff der Pflich ten kraft Organisationszuständigkeit110, der in der strafrechtlichen Diskussion anstelle der Rede von der Pflicht zu Vermeidung schä digender Aktivitäten vorgeschlagen worden ist. Er sei hier abschlie ßend diskutiert, weil er zugleich Gelegenheit bietet, auf ein oben vertagtes Problem zurückzukommen. Es betraf die Frage, wieso man immer häufiger durch Aktivität anstatt durch Passivität von einer Handlung zu ihrer Unterlassung übergeht. „Haftungsgrund“, so erläutert Günther Jakobs, „ist im Grundfall der Begehungsde likte, daß der Täter durch sein Kausalwerden seinen Organisations kreis ohne Rücksicht auf andere Personen und auf deren Kosten ausdehnt“. Das schließe Fälle ein, in denen „zwar der Täter nicht mehr handelnd kausal wird, wohl aber sein Organisationskreis noch Außenwirkungen hat“. Typischerweise liege das vor, „wenn der Tä ter sich die Notwendigkeit zu irgendwelchen Handlungen durch den Einsatz von Automaten (oder weisungsgebundenen Menschen oder abgerichteten Tieren) erspart. Beispiel: Ob jemand mit einem Auto bewußt einen Menschen überfährt, indem er Gas gibt (Han deln) oder den vorhandenen Schwung nicht bremst (Unterlassen), zählt gleich.“111 In der Tat: Innerhalb bereits organisierter Verläufe (zum Beispiel in Gang gesetzter maschineller Abläufe) ist es für die Art des zu bildenden Vorwurfs (für die Natur des „Haftungsgrundes“) uner heblich, ob das aktuelle Verhalten des Pflichtigen eine Aktivität oder eine Passivität ist - zum Beispiel ein Abschalten oder ein Nichteingreifen in eine Abschaltautomatik. Aber daraus könnte man (solange man nur den Organisator des Verlaufs und nicht be liebige vermeidefähige Dritte in die Pflicht nehmen möchte) nur 110 Jakobs (1993), Strafrecht, bes. S. 802-820, auch S. 213. Zum Begriff der Organisa tionszuständigkeit und zu seinem Gegenbegriff (der - zur Solidarität verpflichtenden sog. institutionellen Zuständigkeit) siehe auch den folgenden Abschnitt III.4. 111 Jakobs (1993), S. 213.
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dann auf die Irrelevanz der Unterscheidung von Aktivität und Pas sivität schließen, wenn es gelänge, auch noch den Unterschied zwi schen dem Organisator und den Dritten gänzlich ohne Rekurs auf diese Unterscheidung zu reformulieren. Die Beobachtung, daß Handlungen immer häufiger den Charakter des Organisierens von Verläufen haben, die sich ohne aktuelle Aktivität des Organisators vollziehen, bleibt dabei zurechnungstheoretisch von großer Bedeu tung112. Sie belegt zwar nicht, daß solche Handlungen mangels ak tueller Aktivität als Handlungen nicht mehr richtig beschrieben wären. Für das Bewässern des Gartens mittels einer Bewässerungs anlage paßt der Handlungsname „Bewässern“ durchaus. Daher kann man auch nicht sagen, daß die Unterlassung dieser Handlung mit dem Beenden des Anschaltens der Anlage beginnt. Sondern sie beginnt mit ihrem Abschalten. Richtig ist also, daß es bei der Ver wendung des Handlungsbegriffs immer weniger darauf ankommt, ob aktuell eine Körperbewegung vorliegt. Mit anderen Worten: Der Handlungsbegriff entnaturalisiert sich partiell in der Tat. D.h. die Einheiten, die man aus einem Geschehensverlauf mittels der Verwendung von Handlungsnamen herausschneidet, entsprechen immer weniger gerade den Einheiten, die man herauszuschneiden hätte, wenn man am Kriterium des aktuellen Vorliegens einer Kör perbewegung orientiert wäre. Bereits am ganz traditionellen, kei neswegs modernitätsspezifischen Beispiel des Vergiftens zeigte sich ja, daß der Handlungsbegriff so nicht funktioniert113. In modernen Verhältnissen wird nun dieser Umstand immer uni verseller. Der Handlungsbegriff streckt sich also - weil er ein unter Zurechnungsgesichtspunkten gebildeter Begriff ist - mit der Reich weite der Folgen, deren Zurechnung im Rahmen technisierter Abläufe als zweckmäßig gelten kann. Einige der zahlreichen Ge sichtspunkte, auf die es dabei ankommt, werden uns in den nachfol genden Kapiteln noch beschäftigen. Im vorliegenden Kapitel geht es darum, ob auch der Gesichtspunkt des (nicht notwendig aktuel len) Vorliegens einer Körperbewegung ein solcher zweckmäßiger weise zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist. Dabei ergab sich bislang: Wenn es zweckmäßig ist, einen Schaden nicht beliebigen vermeidefähigen Dritten (also Personen, die mit Bezug auf den 112 Vgl. schon Welp (1968), Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäqui valenz des Unterlassens, S. 112-116; Philipps (1974), Der Handlungsspielraum, S. 140145. 113 S.o.S.81.
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Schaden nur unterlassen haben), sondern dem „Organisator“ des schädigenden Verlaufs zuzurechnen, dann ist es auch zweckmäßig, am Kriterium des (nicht notwendig aktuellen) Vorliegens einer Körperbewegung festzuhalten. Denn es ist nicht ersichtlich, wie es gelingen könnte, den Unterschied zwischen dem Organisator und den beliebigen Dritten ohne Rekurs auf dieses Kriterium zu expli zieren. Wer die Relevanz dieses Kriteriums bestreitet, muß auch beliebige vermeidefähige Dritte in die Pflicht nehmen. Das genau ist es, was die (insoweit konsequenteren) Vertreter der revolutionä ren Form der Äquivalenzthese aus der behaupteten Äquivalenz von Aktivität und Passivität gefolgert haben. Mit ihnen befassen wir uns - nach dem nun folgenden Ausflug ins geltende Strafrecht - in den beiden Schlußabschnitten dieses Kapitels. 4. Sonderstellung des Unterlassens im Strafrecht Sieht man in einer sozialen Gemeinschaft zwischen dem Schädigen einerseits und dem Nichthelfen andererseits einen Unterschied im Grad ihrer Vorwerfbarkeit, dann kann sich das im Strafrecht dieser Gemeinschaft auf zweierlei Weise niederschlagen: Das Schädigen kann in mehr Fällen verboten sein, d. h. auch in solchen Fällen, in denen ein in den Folgen vergleichbares Nichthelfen nicht verboten ist. Außerdem kann es - in den Fällen oder einigen der Fälle, in denen beides verboten ist - schwerer sanktioniert sein. Das Aus maß, in dem beides realisiert ist, ist in den Strafrechtssystemen ver schiedener Länder oder auch in unterschiedlichen historischen Pha sen ein und desselben Landes verschieden. So kennen zwar viele, aber nicht alle modernen Gesellschaften die Strafbewehrung einer für jedermann bestehenden Pflicht zur Hilfeleistung in Notfällen114. In den meisten Ländern des angelsächsischen Rechtskreises macht sich ein Passant, der ein Kind in einem Teich ertrinken läßt, obwohl er es ohne große Mühe retten könnte, nicht strafbar115. Kontingent ist auch, inwieweit herrschende moralische Überzeugungen (die 114 In Deutschland §323c StGB (Unterlassene Hilfeleistung): „Wer bei Unglücksfäl len oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“ 115 Siehe Feinberg (1984), Harm to Others, S. 127; Material zur älteren US-amerikani schen Diskussion enthält Ratcliffe (1966), The Good Samaritan and the Law.
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wohl auch den meisten Amerikanern ein solches Verhalten vor wurfswürdig erscheinen ließen) sich in strafrechtlichen Positivierungen niederschlagen. Einen zwingenden Zusammenhang mit der Schwere des Vorwurfs gibt es dabei nicht, zumal der Positivierungsbedarf auch von der Verfügbarkeit und Effizienz anderer (etwa in takter sozialmoralischer, also informeller) Verhaltensgarantien ab hängt. Umgekehrt sind Rückwirkungen der (strafrechtlichen und sonsti gen) Rechtslage auf die in einer Gesellschaft vorherrschenden mo ralischen Urteile zu erwarten, oft sogar zwingend. In einer Gesell schaft, in der die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten praktisch jedermann umfaßt, träfe den Notarzt, der vor der Be handlung eines Verunglückten auf der Klärung der Kostenübernah me bestünde, im Schädigungsfalle rechtlich und moralisch ein schwerer Vorwurf. In einem Land, in dem die finanzielle Absiche rung von Gesundheitsrisiken weitgehend Privatsache ist, ist die vor gängige Prüfung der finanziellen Verhältnisse und gegebenenfalls auch das Sichselbstüberlassen des Verunglückten rechtlich erlaubt. Es gilt dann auch moralisch nicht schlechthin als verwerflich - näm lich in Kenntnis der Tatsache, daß ein Arzt, der jene Privatsache durchweg zu seiner Sache machen wollte, bald überhaupt nieman dem mehr helfen könnte. In Ländern mit geringem Institutionali sierungsgrad von Solidargemeinschaften wird also auch die Jedermannspflicht der Hilfeleistung in Notfällen zurücktreten müssen. Denn ihre Erfüllung wird umso anspruchsvoller, je weniger man sich darauf beschränken kann, zuständige Institutionen zu benach richtigen. Kurz - für die Beurteilung der moralischen Überzeu gungskraft konkreter strafrechtlicher Regelungen ist mehr erfor derlich als Prinzipienwissen, auch mehr als ein schlichter Vergleich mit den eigenen, unter besonderen historischen Umständen aus gebildeten Intuitionen. Erforderlich ist darüberhinaus die Ver trautheit mit der kontingenten institutionellen Verfaßtheit der Gesellschaft, in der die betreffenden Regelungen gelten. Diese Verfaßtheit mag ihrerseits moralisch mehr oder weniger überzeugen. Aber mit diesbezüglichen Vorwürfen wird man sich nicht an die Adresse des Strafrechts wenden können. Mit sehr prinzipiellen, die gemäßigt-liberale Grundstruktur einer Gesellschaft wie der unseren in Frage stellenden Einwänden gegen die Berechtigung der Sonderstellung des Unterlassens befassen sich die nachfolgenden Abschnitte. Hier soll es darum gehen, an einige relevante Kategorien anzuschließen, die die in unserer Kultur herr 89 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
sehenden moralischen Intuitionen prägen und von ihnen geprägt sind. Dabei soll deutlich werden, in welcher Form sieh in ihnen die im letzten Abschnitt entwickelten Gesichtspunkte zu Geltung bringen. Die in unserem Kontext nicht weiter kontroversen (auch terminologischen) Rahmeninformationen werden auf das zur Ver meidung von Unverständlichkeit oder Unkorrektheit des Wesent lichen nötige Maß beschränkt. Im deutschen Strafrecht116 kommt die Sonderstellung des Unter lassens, wie nach dem bereits Erörterten zu erwarten ist, nicht in der Form zum Ausdruck, daß Unterlassungsfolgen im Unterschied zu vergleichbaren Handlungsfolgen generell nicht zugerechnet oder auch nur generell mit geringerer Strafe belegt würden. Vielmehr zeigt sie sich darin, „daß die Gleichstellung mit dem aktiven Han deln nur dort erfolgt, wo dem Täter besondere Obhuts-, Sorge- oder Aufsichtspflichten obliegen, nicht aber dort, wo es um allgemeine Hilfspflichten geht, die keine gesteigerte Verantwortung des Täters für das bedrohte Rechtsgut voraussetzen“117. Bei der bekanntesten allgemeinen Hilfspflicht, der erwähnten Pflicht zur Hilfeleistung in Notlagen118, beträgt die Freiheitsstrafe maximal ein Jahr. Das im Falle voraussehbar eingetretener Todesfolge korrespondierende Begehungsdelikt (§212 - Totschlag119) wird mit Freiheitsentzug nicht unter fünf Jahren bestraft. Bei den sogenannten begehungs gleichen, dann auch wie ein in den Folgen vergleichbares Tun zu bestrafenden Unterlassungsdelikten - sie setzen Sonderpflichtigkeit voraus - sind einige explizit gesetzlich formuliert (so in § 223 b - Mißhandlung von Schutzbefohlenen „durch böswillige Vernach lässigung seiner Pflicht, für sie zu sorgen“ ). Andere - die sogenann ten unechten Unterlassungsdelikte - werden aus der Übertragung der explizit nur für das Tun formulierten Tatbestände auf Unterlas sungen mittels des § 13 StGB (Begehen durch Unterlassen) gewon 116 Zur Zurechnung beim Unterlassungsdelikt Jakobs (1993), Strafrecht, S. 775-860, mit weiteren Nachweisen; Stratenwerth (1981), Strafrecht, S. 265-290; zur Diskussion über einige neuere Konzepte (darunter das von Jakobs) siehe Schünemann (1995), Zum gegenwärtigen Stand der Dogmatik der Unterlassungsdelikte in Deutschland. 117 Stratenwerth (1981), S. 267. 118 Das zweite Beispiel einer allgemeinen Hilfspflicht ist die Pflicht zur Anzeige ge planter Straftaten (§ 138 StGB). Zur Herkunft dieser - im Vergleich zu Hilfspflicht des § 323 c mit höherer Strafdrohung versehenen - Vorschrift aus der Teilnahmeproblema tik (Erfassung von Fällen nicht beweisbarer Beteiligung) vgl. Jakobs (1996b), Die straf rechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen, S. 10. 119 Abs. 1 lautet: „Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschlä ger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.“
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nen. Dessen erster Absatz lautet: „Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür ein zustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unter lassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht“120. In unserem Zusammenhang interessieren be sonders die Bedingungen des Vorliegens der hier geforderten Einstandspflicht, der sogenannten Garantenpflicht. Denn sie spezi fizieren offenbar die besonderen Umstände, unter denen ein Unter lassen - an der Schwere der Sanktion gemessen - als ebenso vor wurfswürdig gilt wie ein vergleichbares Tun. Die Entstehungsgründe einer Garantenpflicht des Unterlassen den sind nicht im Gesetz geregelt. Die herrschende Lehre nennt in offensichtlich unsystematischer, auch wechselnder, insgesamt nur historisch zu erklärender Zusammenstellung - Gesetz, Vertrag, freiwillige Übernahme, enge Lebensbeziehung, vorangegangenes Tun121. Kraft Gesetzes sind zum Beispiel Eltern Garanten für das Wohlergehen ihrer unmündigen Kinder (helfen sie ihrem Kind, das über die Balkonbrüstung geklettert ist und nun auf dem schrä gen Dach abzurutschen droht, nicht in die Wohnung zurück, haften sie bei dessen Absturz nicht nur wegen unterlassener Hilfeleistung, sondern begehungsgleich, d. h. wegen Tötung); kraft Vertrags ist der Arzt Garant gegenüber dem (erwachsenen) Patienten, dessen Be handlung er übernommen hat; kraft freiwilliger Übernahme ist der Bergsteiger Garant für seinen Seilpartner, der sich auf korrekte Handhabung des Sicherungsmaterials verläßt; kraft enger Lebens beziehung sind die (gesetzlich nicht Ehepartnern gleichgestellten) Lebenspartner füreinander Garanten; kraft vorangegangenen Tuns ist der Autofahrer, der die Verletzung eines Passanten verschuldet hat, Garant für die Abwendung von Folgeschäden. Von den genannten Entstehungsgründen entspricht die Figur des vorangegangenen Tuns (auch „Ingerenz“) am unmittelbarsten dem im letzten Abschnitt entwickelten Gesichtspunkt: Ein Passivblei 120 Zum spezifischen Sinn der - dem Wortlaut nach wenig aussagekräftigen - Entspre chungsklausel (Transformation spezifischer Handlungsmodalitäten in der Formulie rung des Begehungstatbestands) siehe Jakobs (1993), S. 787 f. und S. 833-835. §13 Abs. 2 enthält eine fakultative Strafmilderungsregel. 121 Siehe Stratenwerth (1981), S. 268ff., der noch den Gesichtspunkt des „Herrschafts bereichs der Person“ hinzufügt. Gemeint ist der Besitz von Sachen, die eine Siche rungspflicht auslösen (Haus, Auto usw.). Vgl. - anstelle des traditionellen Katalogs die Systematik bei Jakobs (1993), S. 796 ff.
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ben, das die Realisierung eines schädigenden Verlaufs ermöglicht, den man zuvor aktiv in Gang gesetzt hat, verdient denselben Vor wurf wie ein schädigendes Aktivwerden. Im Rahmen von Bemü hungen zur Systematisierung der Garantenpflichten hat man ver sucht, das Konzept der Garantenstellung ganz generell auf die Figur des vorangegangenen Tuns zurückzuführen122. Nimmt man die Figur wörtlich, scheint es tatsächlich so zu sein, daß ohne vorhe riges aktives Tun, nämlich ohne Sichhineinbegeben in eine Garan tenposition niemand Garant wird. Eine sicherungspflichtige Sache muß man erwerben, einen Vertrag schließen, eine Übernahme (zum Beispiel der zeitweiligen Sorge für ein Kind) verabreden, eine enge Lebensbeziehung eingehen. Und selbst die Garantenstellun gen kraft Gesetzes (insbesondere die familienrechtlichen Pflichten von Ehepartnern füreinander und von Eltern gegenüber ihren un mündigen Kindern, auch Amtspflichten wie die des Staatsanwalts zur Aufnahme von Ermittlungen) sind an Positionen gebunden, in die man nicht durch bloßes Unterlassen hineingerät: Man muß ge heiratet, ein Kind gezeugt oder ein Amt übernommen haben123. Freilich ist die Ingerenz ursprünglich enger, nämlich als aktives Hineintragen von Gefahren in den Lebenskreis anderer verstanden worden. Nur auf ein Vorhandeln dieser Art - und nicht auf ein Vorhandeln, das lediglich das Einrücken in eine (irgendwie be gründete) Position der Hilfsverpflichtung bewirkt - waren auch die Erläuterungen des letzten Abschnitts bezogen. Nur wenn das vor angegangene Tun in diesem engeren Sinne verstanden würde, wäre jedenfalls der Nachweis einer Rückführbarkeit aller Garantenstel lungen auf diese Figur zugleich der Nachweis, daß es sich bei den einschlägigen Pflichten um Pflichten aus dem Nichtschädigungsge bot handelte, so daß insoweit der trotz aktueller Passivität hand lungsäquivalente Vorwurf erklärt wäre124. Es läßt sich rasch plausibel machen, daß ein vorangegangenes Tun in diesem, eine Pflicht aus dem Nichtschädigungsgebot be 122 Siehe Gallas (1989), Studien zum Unterlassungsdelikt, S. 67ff.: Die Garantenpflicht des Unterlassungstäters (1963), bes. S. 91 ff. 123 Freilich ist auch die Mutter eines durch Vergewaltigung aufgezwungenen (und dann nicht abgetriebenen) Kindes Garantin; auch die (umstrittenen!) Einstandspflich ten von Geschwistern untereinander oder von Kindern gegenüber ihren Eltern wären Fälle, in denen nicht notwendig eine Haftungsübernahme durch den Verpflichteten vorausgeht. 124 Auf diesen engeren Sinn der Figur des vorangegangenen Tuns begrenzt auch Gal las (1989) seine Theorie der Garantenpflicht.
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gründenden Sinne nicht nur in den üblicherweise unter dem Stich wort der Ingerenz behandelten Fällen vorliegt. Wer eine siche rungspflichtige Sache, etwa einen Wachhund erwirbt, setzt seine Umgebung einem Verletzungsrisiko aus, dessen drohende Verwirk lichung er aktiv zu verhindern hat - zum Beispiel durch Zurück rufen des Hundes oder durch Anbinden. Günther Jakobs hat den Umfang, in dem Garantenpflichten Nichtschädigungspflichten sind, mit Hilfe des Begriffs der Organisationszuständigkeit näher be stimmt125: Für die schädigenden Außenwirkungen des eigenen Organisationskreises - so die Grundidee - hat man kraft des Grundsatzes „neminem laede“, nicht aber kraft eines Gebots zur solidarischen Schadensverhinderung einzustehen. Jakobs läßt nun den Begriff der Außenwirkung eines Organisationskreises nicht nur auf die unmittelbaren und (per Ingerenz im engen, klassischen Sinne) mittelbaren Außenwirkungen von Körperbewegungen, son dern auch auf Außenwirkungen aus dem Bereich beherrschter Sachen (Sicherungspflicht), schließlich auch auf Außenwirkungen wegen Organisation der Erwartungen anderer (durch freiwillige Übernahme von Handlungspflichten) sich erstrecken126. Ein Bei spiel für das zuletzt Genannte: Jemand, der einem anderen ver spricht, ihm ins Boot zurückzuhelfen, woraufhin dieser ins Wasser springt, ist nicht aus Gründen der Solidarität verpflichtet, dann auch wirklich aktiv zu werden. Sondern er ist es aus demselben Grunde, aus dem es ihm verboten gewesen wäre, den anderen ins Wasser zu stoßen. Jakobs begründet die Subsumtion der Pflichten aus Über nahme unter die Nichtschädigungspflichten so: „Hier ist die aus drücklich oder konkludent erklärte Bereitschaft zu einer Sicherung oder einer Rettung erst der Grund dafür, daß fremde Güter in einen Zustand gebracht werden, in dem Sicherung oder Rettung nötig oder nicht mehr anderweit garantiert ist. Der Grund der Haftung für Übernahme ist derselbe wie bei der Ingerenz: der Täter muß für die Konsequenzen der Gestaltung seines eigenen Organisations kreises, hier: durch das Übernahmeverhalten, einstehen“127. Wenn freilich in dieser Weise die freiwillige Übernahme einer Hilfspflicht ihrer erwartungsbildenden und dadurch verhaltens steuernden Konsequenzen wegen mit der Verursachung von Hilfs bedürftigkeit durch vorangegangenes Tun gleichgesetzt wird, so 125 Siehe oben S. 86. 126 Jakobs (1993), S. 802-820. 127 Jakobs (1993), S. 814f.
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läßt sich der Kreis der in dieser Weise begründbaren Garantenstel lungen noch weiter ziehen. Zumindest für einige der von Jakobs im Unterschied zu den Pflichten kraft Organisationszuständigkeit sogenannten Pflichten kraft institutioneller Zuständigkeit (Garan tenpflichten von Eltern, Ehepartnern, Amtsträgern)128 gilt: Hier ist nicht auszuschließen, vielmehr regelmäßig zu erwarten, daß im Fal le der Verweigerung des Akts, der die Garantenstellung begründet (etwa der Heirat), für anderweitige Garantie (etwa Heirat mit einer anderen Person) gesorgt worden wäre129. Richtig ist, daß in diesen Fällen bei fehlender Übernahmewilligkeit die Garantie für die be treffenden Güter nicht durchweg oder nicht mit gleicher Effektivi tät durch deren Inhaber selbst organisiert werden kann. D.h., sie kann letztlich nur durch Anschluß an andere übernahmewillige Personen effektiv organisiert werden. Insoweit als dies gilt, sind Menschen in der Tat auf den Eintritt in Gemeinschaften, die gegen seitige Hilfe garantieren, angewiesen. Aber sie sind auch daran in teressiert, so daß sich übernahmewillige Personen normalerweise finden lassen. Gewiß, der Ehemann, der seine grippekranke Frau zu pflegen hat, hat die Grippekrankheit nicht verursacht und hat sie auch nicht insoweit bewirkt, als die Frau sich ohne sein Hilfsversprechen etwa nicht auf die Krankheit „eingelassen“ hätte. Aber ohne das Hilfs versprechen hätte sich die Frau nicht darauf eingelassen, im Krank heitsfalle auf die Leistungen dieses Mannes angewiesen zu sein. In soweit kann von einer aktiven Schädigung der Betroffenen die Rede sein, wenn die entsprechenden Erwartungen mit Schadensfol gen enttäuscht werden. Nur in dieser indirekten, über die Verlet zung berechtigter Erwartungen laufenden Weise läßt sich im übri gen in zahlreichen Fällen die Schädigungsqualität der Verletzung von Sicherungspflichten begründen: Zwar trägt derjenige aktiv eine Gefahr in den Lebensbereich der ihm begegnenden Passanten, der 128 Vgl. Jakobs (1993), S. 820-833. 129 Im Falle der Pflichten der Eltern gegen ihre Kinder paßt freilich diese Denkfigur nicht; hier hat im übrigen auch Gallas eine Ausnahme zugestanden, siehe Gallas (1989), S. 92. Vgl. auch Seelmann (1989), Opferinteressen und Handlungsverantwor tung in der Garantenpflichtdogmatik, der die Garantenstellung ganz auf das Prinzip der Handlungsverantwortung (d.h. in der hier verwendeten Terminologie: auf das Nichtschädigungsgebot) gründen will - außer in den Fällen der Pflichten der Eltern gegen ihre Kinder und der Garantenpflichten des Staates bzw. seiner Organe (etwa bei der Strafverfolgung). Diese Pflichten seien Bedingungen der Möglichkeit eines Sy stems von auf Handlungsverantwortung gestützten Pflichten (S. 256).
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mit einem Hund spazieren geht. Aber in welchem Sinne ist das der Fall, wenn jemand die Besitzrechte an einem Haus erwirbt, an dem die Passanten seit jeher vorbeigelaufen sind? Daß die Pflicht des (neuen) Hausbesitzers, die Dachziegel in Ordnung zu halten, gleichwohl keine Pflicht zur Solidarität mit beliebigen Passanten ist, sondern eine Pflicht, sie nicht zu schädigen - das läßt sich nicht mit der Installierung einer gefährlichen Sache, sondern nur mit der Übernahme der Garantie ihrer Schadlosigkeit erklären. Die Bil dung der einschlägigen Erwartungen der (deshalb sorglosen) Pas santen hat zwar in diesem Falle nicht der Pflichtige selbst, sondern der Gesetzgeber induziert. Das ändert aber nichts daran, daß der neue Besitzer aktiv den Wegfall einer anderweitigen Garantie orga nisiert hat - nämlich indem er (ggf. über ein Kette von Zwischen besitzern) die Sicherungspflicht von demjenigen übernommen hat, der die gefährliche Sache ursprünglich tatsächlich installiert hat und deshalb ihre Schadlosigkeit zu garantieren hatte. So eindeutig wie im Falle der Sicherungspflichten ist die Lage im Falle der von Jakobs sogenannten institutionellen Pflichten freilich nicht. Man stelle sich das Beispiel einer Sennerin vor, die, wenn ihre Heiratspläne gescheitert wären, die Alm eben weiterhin allein be wirtschaftet und die damit verbundenen Risiken schlicht in Kauf genommen hätte. Die Pflichten der Ehepartner setzen eben - an ders als die üblicherweise unter dem Stichwort der Pflichten kraft Übernahme behandelten Fälle - in keiner Weise den Nachweis vor aus, daß durch die Übernahme und anschließende Pflichtverletzung tatsächlich eine Chancenverschlechterung gegenüber der Lage vor der Übernahme eingetreten ist. Daher wirkt es gesucht, wenn man (nämlich im Interesse der Rettung einer Theorie) die Chancenver schlechterung auch in diesen Fällen als den eigentlichen Haftungs grund präsentieren möchte. Einige Garantenpflichten sind - wie es der Fall der Garantenpflichten der Eltern gegen ihre Kinder ohne hin zeigt - eben nicht in der Absicht eingerichtet, das gegenseitige Schädigen zu verhindern. Vielmehr wird hier das solidarische Ver halten als solches gewünscht und garantiert. Gegen die Konzeption von Gallas, der ohne institutionelle Pflichten auskommt, wendet daher Jakobs ein: . der Schutz des Chancenbestandes ist nur der negative Aspekt von Gesellschaft (nicht verletzen); die gemeinsame Welt, die Gesellschaft auch ist, bleibt bei Gallas ohne strafrechtli che Garantie“130. Daß dem so wäre, leuchtet nur insoweit ein, als 130 Jakobs (1993), S. 800, Anm. 53.
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man weitestgehend131 nur zur Ausfüllung aktiv übernommener Ga rantenpflichten per Strafandrohung gezwungen wird, nicht aber zu deren Übernahme. Gleichwohl handelt es sich in einigen Fällen um echte Hilfspflichten und nur kontingenterweise hier und dort auch um die Pflicht zur Abwendung einer Gefahr, die man durch Bewir ken des Fehlens andernfalls verfügbar gewesener Hilfe aktiv her beigeführt hat. Wir kommen später132 auf die Frage zurück, ob der von Jakobs so genannte negative Aspekt von Gesellschaft von der „gemeinsamen Welt, die Gesellschaft auch ist“, so deutlich getrennt werden kann, wie das hier vorausgesetzt ist. Im vorigen Abschnitt wurde insoweit ja nur darauf bestanden, daß die Verletzung des negativen Aspekts jedenfalls ein Handeln voraussetzt, und diese These wird von dem hier zum Institut der Garantenstellung und seiner Systematik Ge sagten offenbar bestätigt. Allerdings kann die handlungsäquivalen te Sanktionierung von Unterlassungen im Rahmen von Garanten positionen nach dem Gesagten nicht durchweg damit erklärt werden, daß es sich bei solchen Unterlassungen eben um Verstöße gegen das Nichtschädigungsgebot handle. Vielmehr handelt es sich in einigen Fällen um Verstöße gegen Solidaritätspflichten, die man gleichwohl mit einem ebenso schweren Vorwurf belegen möchte wie (in den Folgen vergleichbare) Verstöße gegen das Nichtschädi gungsgebot. Nichts kann Gesellschaften hindern, Solidarität in die sen oder auch anderen Fällen so hoch zu bewerten. Und nichts könnte sie überdies hindern, hier und dort auch die bei uns fast voll ständige Freiwilligkeit des Eintritts in Garantenstellungen aufzuhe ben. Keine Gesellschaft ist allerdings bekannt, in der ein Primat der Pflicht, beim Verfolgen eigener Zweck andere nicht tätig zu schädi gen, vor der Pflicht, die Zwecke anderer sich tätig zu eigen zu ma chen, in keiner Weise ersichtlich ist. Dies aber wäre zu erwarten, wenn man sich die These zueigen machen wollte, daß eine Un gleichbehandlung von Handlungs- und Unterlassungsfolgen nicht begründbar sei133. Mit den Vertretern dieser Position befassen wir uns in den verbleibenden Abschnitten dieses Kapitels. 131 Siehe aber oben Anm. 123, S. 92. 132 Abschnitt V.1. 133 Jonathan Bennett hat argumentiert, daß „the shape of the law is not good evidence for the moral significance of making/allowing“. Denn die einschlägigen Asymmetrien seien ohne Rekurs auf die moralische Relevanz der Unterscheidung von Tun und Un terlassen, vielmehr aus rechtstechnischen Gründen erklärbar: „Any attempt to make the law symmetrical would run up against a problem about relative cost.“ Gemeint ist,
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5. Die revolutionäre Form der Äquivalenzthese Die These einer generellen normativen Irrelevanz des Unterschieds von Schädigen und Nichthelfen wird von Juristen meines Wissens nirgends vertreten und daher auch nicht diskutiert. In speziellen, besonders in medizinethischen Kontexten ist aber die Frage einer stärkeren Berücksichtigungswürdigkeit der Folgen bestimmter (purer) Unterlassungen kontrovers geworden. Dazu gibt es dann selbstverständlich auch juristische Stellungnahmen. Das aktuell meistdiskutierte Problem ist das des Verhältnisses von aktiver Eu thanasie und passiver Euthanasie134. In diesem Kontext haben auch die oben schon herangezogenen Debatten über die Unterscheidung von killing und letting die ihre aktuelle Konjunktur135. In den mei sten Ländern - nicht aber zum Beispiel in den Niederlanden - ist gegenwärtig die aktive Euthanasie im Unterschied zur passiven Eu thanasie (der unterlassenen Weiterbehandlung) strikt verboten. Darüber, ob das so bleiben sollte, läßt sich in der Tat streiten. Wäre es nicht beispielsweise im Interesse eines schwerstgeschädigten Neugeborenen, auf dessen hinsichtlich Lebensqualität und Lebens länge aussichtslose Weiterbehandlung erlaubterweise verzichtet wird, wenn es anstelle mehrerer Stunden oder gar Tage des Dahinsiechens mit einer Spritze rasch getötet würde? So wird gefragt, und auf diese Frage gibt es gegenwärtig keine eindeutige, gemeinkultu rell überzeugende Antwort. Im Laufe der Debatten hat die Zahl und Komplexität der Ge sichtspunkte, die sich in der Frage der aktiven Euthanasie als bedaß das Recht die nötige Abwägung der Kosten des Tuns (Helfens) für den Pflichtigen nicht in hinreichend allgemeiner und zugleich einfacher Weise leisten könne und aus diesem Grunde in den meisten Fällen auf eine Verpflichtung verzichte; siehe Bennett (1995), The Act Itself, S. 76. Nun möchte man aber noch erläutert haben, warum das Abwägungsproblem im Bereich der negativen Pflichten nicht in gleicher Weise auftritt (der Autor spricht von „rare cases“) bzw. warum das Recht hier damit anders umgeht. Diese Mühe einer detaillierten Auseinandersetzung mit den bestehenden Zurech nungsverhältnissen und ihren Gründen will sich der Autor offenbar nicht machen. Aber dann sollte er immerhin darauf verzichten, mittels eines oberflächlichen Argu ments den Anschein zu erwecken, als sei eine solche Auseinandersetzung die Mühe nicht wert. 134 Statt vieler Birnbacher (1995), Tun und Unterlassen, Kap. 10: Ein aktuelles Anwen dungsbeispiel: Aktive und passive Sterbehilfe, S. 337 ff., mit weiteren Nachweisen. 135 Steinbock/Norcross (1994), Killing and Letting Die; mit breiter, über den medizin ethischen Bereich hinausgehender Diskussion relevanter Praxisfelder schon Glover (1977), Causing Death and Saving Lives.
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rücksichtigenswert erwiesen haben, rasch zugenommen. Ineins da mit hat die Fülle dessen zugenommen, was man neben der Fähig keit zu begrifflicher Klarheit an medizinischen, psychologischen, soziologischen und sonstigen Kenntnissen haben muß, um kompe tent Stellung nehmen zu können. Insbesondere die Beurteilung der sogenannten slippery-slope-Argumente ist schwierig und umstrit ten136. Zu diesen Aspekten soll hier freilich nicht Stellung genom men werden. Denn auch wer zu dem Ergebnis kommt, daß aktive Euthanasie unter bestimmten Umständen erlaubt sein sollte, ist von einer zurechnungspraktischen Äquivalenz von Unterlassungsfolgen und Handlungsfolgen noch weit entfernt. Ein weiterer (und nicht der letzte) Schritt zu einer wirklichen Gleichstellung bestünde da rin, daß die Vermeidung der Unterlassungsfolgen unter bestimmten Umständen nicht nur erlaubt, sondern geboten wäre. Eine Ver pflichtung des Arztes zur Vermeidung der Folgen einer Nichttötung (d. h. einen Anspruch des Patienten auf aktive Euthanasie in Paral lele zum selbstverständlichen Anspruch auf deren Unterlassung) gibt es aber meines Wissens in keinem Land der Welt. Dergleichen wird auch von den Befürwortern der aktiven Euthanasie normaler weise nicht gefordert. Einer positiven Antwort auf die Frage, ob das Töten unter bestimmten Umständen - insbesondere: auf Verlangen - gestattet sein soll, steht die These der normativen Relevanz der Unterscheidung von Töten und Sterbenlassen denn auch nicht im Wege. Dennoch haben im Verlauf der Debatte manche Autoren ihre befürwortende Stellungnahme zur Frage der aktiven Euthanasie auf die Äquivalenzthese gestützt - also auf die Behauptung, daß der Unterschied zwischen Herbeiführen und Geschehenlassen als solcher keinerlei moralische Relevanz habe137. Vielmehr komme es jeweils einzig auf die Qualität der Folgen des Verhaltens an. Daß damit erheblich mehr behauptet ist, als in der öffentlichen Debatte um die aktive Euthanasie in Frage steht, scheint nicht oder jeden falls nicht von vornherein allen Autoren klar gewesen zu sein. Bei 136 Vgl. Lamb (1988), Down the slippery slope. Arguing in applied ethics. 137 Kuhse (1994), Die „Heiligkeit des Lebens“ in der Medizin, S. 107: „Wir sind ceteris paribus sowohl kausal als auch moralisch in gleichem Maße für das verantwortlich, was wir geschehen lassen, wie für das, was wir geschehen machen“; Rachels (1994), Active and Passive Euthanasia, S. 112: „The conventional doctrine is ... that, although the latter is sometimes permissible, the former is always forbidden. ... the doctrine rests on a distinction between killing and letting die that itself has no moral importance“; Tooley (1994), An Irrelevant Consideration: Killing versus Letting Die; u. v. a.
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spiele, in denen die Äquivalenzthese zu gänzlich common sense fernen Resultaten führt, sind denn auch, soweit ich sehe, zunächst von ihren Gegnern vorgebracht worden. Von Daniel Dinello stammt das folgende Beispiel: „Jones and Smith are in a hospital. Jones cannot live longer than two hours unless he gets a heart transplant. Smith, who had had one kidney removed, is dying of an infection in the other kidney. If he does not get a kidney transplant, he will die in about four hours. When Jones dies, his one good kidney can be transplanted to Smith, or Smith could be killed and his heart transplanted to Jones“138. Dinello konstatiert zu recht, daß ein Äquivalenztheoretiker im Falle des Fehlens sonstiger relevanter Unterschiede beide Verhaltensalternativen gleich beurteilen und im Falle eines relevanten Unterschieds in der Folgenmenge (etwa: Smith ist im Unterschied zu Jones alleinstehend) sogar die Tötung von Smith zur moralischen Pflicht erheben müßte. „But, this ... seems to be wrong“, fügt Dinello, darin mit selbstverständlicher Zu stimmung rechnend, hinzu139. Angesichts solcher Beispiele kann man entweder die Äquiva lenzthese oder die üblichen moralischen Intuitionen aufgeben. Bei des kommt vor - das erste versteckt, das zweite mehr oder weniger offen. James Rachels kommentiert, Dinellos Beispiel sei mißlun gen: Wenn Jones an seinem schwachen Herzen sterbe, dann handle es sich gar nicht um einen Fall von Sterbenlassen. Denn der Arzt sei „not in a position to save Jones“, da für eine Transplantation gar kein Herz zur Verfügung stehe: „Smith’s heart, for example, is not available since Smith is still using it“140. Sicherlich entspricht es dem Sprachgebrauch, im vorliegenden Fall zu sagen, daß für Jones kein Transplantationsherz verfügbar sei. Aber dieser Sprachgebrauch bezieht sich nicht auf technische, sondern auf rechtliche und mora lische Unverfügbarkeiten - auf fehlende Zulässigkeit, nicht auf fehlende Möglichkeit. Darauf kann sich ein Äquivalenztheoretiker gewiß nicht stützen. Denn um die moralische Berechtigung, Smith wegen der besonders schlimmen Unterlassungsfolgen (Jones stirbt und seine Angehörigen trauern) zu töten, dreht es sich ja gerade. Andere haben sich entschiedener geäußert. Carolyn Morillo schreibt, wir seien hier an einem Punkt, wo der Konsequentialismus Anlaß zur „Radikalisierung“ unserer Intuitionen gebe: „The point 138 Dinello (1994), On Killing and Letting Die (zuerst 1971), S. 195. 139 Ebd. 140 Rachels (1979), Killing and Starving to Death, S. 170.
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of the radical criticism is not to find fault with what our intuitions have been telling us about killing, but with what they have failed to teil us about letting die.“141 Wir könnten nicht umhin zuzugestehen, daß wir ein Menschenleben opfern, wenn wir Smith am Leben las sen. Wenn man die Äquivalenzthese akzeptiert hat, muß man das in der Tat zugestehen. Aber warum sollte man sie akzeptieren? Morillo argumentiert, daß - „presuming motive, intention, knowledge, and cost to the agent to be held constant“ - der einzige Unterschied zwischen Herbeiführen und Geschehenlassen in der An- oder Ab wesenheit einer Körperbewegung liege (gemeint ist natürlich eine für den Schaden kausale Körperbewegung). Und sie fährt fort: „With respect to that I feel inclined to say that for rational, decision-making creatures, the mere presence or absence of such a movement is simply not morally relevant“142. Aber wie kann man angesichts der Tatsache, daß die weitaus meisten Menschen - im Falle von Jones und Smith zugestandenermaßen - das Gegenteil für richtig halten, für diesen Satz intuitive Evidenz beanspruchen? Entweder ist die Äquivalenzthese intuitiv evident, oder sie kann zur Korrektur intuitiver Evidenzen herangezogen werden. Dann aber müßte sie selbst anders begründet werden als durch den Hinweis auf ihre Evidenz. Die traditionelle, nicht-äquivalenztheoretische Akzeptanzstruk tur ist nicht nur verbreitet, sondern auch weitestgehend resistent gegen Versuche, die Gleichbehandlung von Töten und Sterbenlas sen als die moralisch überlegene Position zu empfehlen. Für die mangelnde faktische Überzeugungskraft ihrer These müssen sich Äquivalenztheoretiker eine Erklärung einfallen lassen143. Will man zugleich an der Äquivalenzthese selbst festhalten, kann die Erklä rung nur eine Erklärung mit ideologiekritischen Mitteln sein. In diesem Sinne hat James Rachels - mit Bezug auf den Unterschied von Töten und Verhungernlassen - argumentiert, wir fänden letzte res nur deshalb weniger schlimm, weil wir davon weit weniger be droht seien als die Bewohner gewisser anderer Landstriche144. Aber warum finden dann auch Herz- und Nierenkranke, daß Tötungen 141 Morillo (1977), Doing, Refraining, and the Strenuousness of Morality, S. 34. 142 Ebd. S. 32. 143 Rachels (1979), S. 171: „We need some account of why people have the allegedly mistaken intuition and why it is so persistent.“ 144 Ebd. S. 171: „Since we are not in danger of starving, we will not suffer if people do not regard feeding the hungry as so important; but we would be threatened if people did not regard killing as very, very bad.“
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zum höheren Nutzen von Herz- und Nierenkranken keine gute Sache sind? Die Antwort lautet, daß sie sich, obwohl es ihrem Über leben dienlich wäre, nicht von der Richtigkeit der Äquivalenzthese überzeugen können. Entsprechend ist auch darüber, daß die Be wohner traditionell von Hungersnöten heimgesuchter Gegenden sich als Opfer der Bewohner klimatisch begünstigter oder auch technisch entwickelterer Länder fühlten, nichts bekannt. Vielmehr pflegen Hilfsleistungen, anders als Leistungen wegen geschuldeter Ansprüche, mit Dankbarkeit entgegengenommen zu werden145. Die beschriebene Akzeptanzstruktur korreliert offenbar nicht gerade in der Weise mit partikularen Interessenlagen, wie es der Fall sein müßte, wenn die vorgetragene ideologische Erklärung überzeugen soll. Über den soweit geschilderten, an immer neuen Beispielen er probten Rekurs auf intuitive Evidenzen und über das zugehörige wechselseitige Zuschieben der Begründungslast sind die einschlägi gen Debatten nicht recht hinausgekommen. Offenbar kann man als Gegner der Äquivalenzthese mit den Konsequentialisten nur auf gemeinsamen argumentativen Boden gelangen, wenn man sich auf ihr grundlegendes Moralkriterium einläßt - also auf die Behaup tung, daß die moralische Qualität eines Verhaltens von der Qualität seiner (erkennbaren) Folgen abhänge. Tatsächlich ist es auch nicht diese Behauptung, die von vornherein unplausibel wäre. Unplausi bel scheint mir vor allem die Kurzsichtigkeit und Phantasielosigkeit, mit der viele Konsequentialisten geschlagen sind, wenn es um die aktuelle Nennung der jeweils zu erwartenden Folgen geht. Zu nächst ist ja zu berücksichtigen, daß die Äquivalenzthese nicht so verstanden werden kann, als bedeute sie, daß jedem Handlungssub jekt die Folgen aller seiner Unterlassungen zuzurechnen seien, da es ja keine Rolle spiele, daß die dabei eingetretenen Schäden durch bloße Passivität bedingt wurden. Auch ein Äquivalenztheoretiker wird sich an dem Satz „Ultra posse nemo obligatur“ orientieren. Er wird also berücksichtigen, daß ein Handlungssubjekt in einer 145 Daß Entwicklungsländer in entsprechenden Konferenzen (etwa zu Fragen des Schuldenerlasses) durchaus als Verhandlungspartner und nicht als Almosenempfänger auftreten, hat seinen Grund zum Teil darin, daß sie in einigen Hinsichten (Fälle kolo nialer Ausbeutung; aktuell und zunehmend relevant: globale ökologische Belastun gen) durchaus aktive Schädigung geltend machen können. Und zum Teil beruht es darauf, daß die Beteiligten wissen, daß die entwickelten Länder an der wirtschaftli chen, politischen und schließlich auch ökologischen Stabilität der Entwicklungsländer ein keineswegs nur altruistisches Interesse haben.
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gegebenen Situation jeweils nur eine oder wenige seiner vielen Handlungsmöglichkeiten realisieren kann. Er kann also nicht um hin, jeweils das meiste zu unterlassen. Einen zurechnungstheore tisch vollständigen Sinn ergibt die Äquivalenzthese also nur in Ver bindung mit einer Regel, die angibt, nach welchem Kriterium das Subjekt unter seinen vielen Handlungsmöglichkeiten derart zu wählen hat, daß es bezüglich sämtlicher Unterlassungsfolgen als ge rechtfertigt gelten kann. Ein solches Kriterium bietet die konsequentialistische Regel, nach der unter allen Verhaltensalternativen jeweils einzig diejenige gerechtfertigt ist, mit der man unter den gegebenen Bedingungen (soweit erkennbar) den Zustand der Welt optimiert146. Immerhin verpflichtet das den Handelnden, wenn nicht zur Ver meidung, so doch zur beständigen Zurkenntnisnahme und Einkalkulierung sämtlicher Folgen seines Unterlassens. Offensichtlich ist bereits dies eine Aufgabe, die man auch nicht in einer einzigen Ent scheidungssituation, geschweige denn in jeder Entscheidungssitua tion in endlicher Zeit lösen kann. Daher haben die Menschen ein Interesse an der Verfügbarkeit von Schemata legitimen Handelns. Sie wollen, wenn es um die Frage der Erlaubtheit ihres Handelns geht, auf weniger komplexe, rascher verfügbare und besser objekti vierbare Legitimitätsgrundlagen zurückgreifen als auf die Ergeb nisse von in jedem Einzelfall neu zu veranstaltenden Gesamtfolgen abwägungen. Die Legitimation einer Handlung durch den Hinweis, sie halte sich im Rahmen eines Schemas legitimen Handelns, ist eine nicht-konsequentialistische Form der Handlungslegitimation. Gleichwohl ist die hier gegebene Begründung dafür, daß nicht-konsequentialistische Formen der Handlungslegitimation gestattet sein sollen, ihrerseits folgenorientiert. Sie verweist auf die unannehmba ren Folgen, die es hätte, wenn jeder jedesmal tagelang kalkulieren müßte, bevor er eine obendrein unsichere Vermutung wagen darf, was er zu tun und was zu lassen hat. Die meisten Konsequentialisten ersparen sich die ständige Be rücksichtigung dieser Schwierigkeiten, indem sie in ihren Beispie len sowohl die Komplexität des zu bedenkenden realen Möglich keitsspielraums als auch die Reichweite der Folgenbetrachtung drastisch beschränken. Die Zahl der gegeneinander abgewogenen Handlungsoptionen beläuft sich in den typischen Beispielen auf zwei, und die Folgenbetrachtung erstreckt sich - offenbar unter An 146 Vgl. oben, S. 59f.
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nähme einer ceteris paribus-Klausel für alles Weitere - häufig auf den Vergleich der unmittelbarsten Effekte. Ich führe daher im nachfolgenden Abschnitt die weitere Diskussion an einem der we nigen Beispiele durch, anhand dessen die Folgen einer effektiven Institutionalisierung der von den Konsequentialisten geforderten Pflichten wenigstens ansatzweise in den Blick geraten. Es handelt sich um den Fall der von John Harris vorgeschlagenen „survival lottery“147. Sie betrifft (wie das Beispiel von Dinello) die Frage der Hilfspflichten bei Organkranken. Tatsächlich sind ja in Dinellos Beispiel nicht nur Smith’s Herz und Jones’ Nieren, sondern auch die Herzen und Nieren aller anderen Mitglieder der Gesellschaft im Prinzip verfügbar. Moralisch einwandfrei sei daher, so Harris, einzig, die jeweiligen Spender im Rahmen einer alle Organinhaber umfassenden Lotterie zu bestimmen. Es lassen sich einige Inkon sistenzen in Harris’ Argumentation herausarbeiten, an denen sich zeigt, daß die Vernunft, die sich in der Sonderstellung des Unter lassens niedergeschlagen hat, sich auch aus seinem Szenario nicht gänzlich hat vertreiben lassen. Bevor ich dazu übergehe, muß ich freilich kurz zu der Frage Stel lung nehmen, was eine Diskussion der vermutlichen Folgen einer allgemeinen Gleichstellung des Unterlassens für die Äquivalenz these überhaupt besagen würde. Denn ersichtlich sind alle Argu mente gegen die Gleichstellung von Tun und Unterlassen, die auf die vermutlichen Folgen der Gleichstellung rekurrieren, konsequentialistische Argumente - und damit Argumente, die der Konsequentialist sich gern zu eigen machen wird. Er wird dann sagen, daß es insoweit in Wahrheit eben Folgendifferenzen seien, die ge gebenenfalls unsere Ungleichbewertung des Tötens hier und des Sterbenlassens dort motivieren. Nicht dagegen sei es ein angebli cher moralisch relevanter Unterschied zwischen der Verursachung ein- und desselben Schadens durch Aktivwerden hier und durch Passivbleiben dort. Auf dieses Argument kann in der folgenden Weise geantwortet werden: Konsequentialistische Argumente ge gen die Äquivalenzthese sind insoweit echte, die Äquivalenzthese selbst betreffende und sie widerlegende Argumente, als die an geführten negativen Folgen einer Gleichstellung von Tun und Un terlassen sich nicht bloß zufällig, sondern gerade wegen der Gleich stellung ergeben. Sie resultieren dann aus der Mißachtung des sachlichen Unterschieds, der involviert ist, wenn ein Schaden durch 147 Harris (1994), The Survival Lottery (zuerst 1975).
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Unterlassen anstatt durch Tun herbeigeführt wird. Insoweit als ein solcher nicht zufälliger Zusammenhang gegeben ist, trifft es nicht zu, daß nun anstelle der Differenz von Aktivität und Passivität Fol gengesichtspunkte die moralisch relevanten Gesichtspunkte wären. Vielmehr gilt, daß die These der moralischen Relevanz der Diffe renz von Aktivität und Passivität sich als unter Folgengesichtspunk ten gut begründbar erweist148. Diese Differenzierung ist nicht unerheblich. Denn von Kritikern der These einer moralischen Relevanz der Unterscheidung von Handeln und Unterlassen „als solcher“ (auch: „an sich“) wird die gerade entwickelte Position meist nicht als eigenständige Position wahrgenommen. Vielmehr wird die (wie gerade zitiert umschriebe ne) gegnerische Position als eine sogenannte „absolute“ verstanden, die auf dem „intrinsischen“ Wert oder Unwert des Verhaltens be steht und sich auf Folgenbetrachtungen gar nicht einläßt. Meist wird dann ohne weiteres unterstellt, daß einem Theoretiker, der sich auf solche nicht weiter begründbaren Festsetzungen nicht einlassen wolle, bei einem Versuch der Rekonstruktion der Zurechnungspra xis nichts als der Rekurs auf „unabhängige“ oder „äußere“ Fakto ren bleibe, die die Ungleichbehandlung erklären könnten. So schreibt zum Beispiel Peter Singer: „Ein Nachdenken über diese Fälle [sc. Fälle aktiver und passiver Euthanasie] führt uns zu der Schlußfolgerung, daß es zwischen Töten und Sterbenlassen keinen moralischen Unterschied an sich gibt. Das heißt, es gibt keinen Un terschied, der lediglich von der Unterscheidung zwischen Handlung und Unterlassung abhängt. (Dies bedeutet nicht, daß alle Fälle von Sterbenlassen dem Töten moralisch äquivalent sind. Andere Fakto 148 Ein insoweit analoger Fall mag das zusätzlich verdeutlichen: Die Unterscheidung, ob jemand vorsätzlich oder fahrlässig getötet habe, gilt als moralisch relevant und ist auch rechtlich relevant. Der Konsequentialist kann sagen, das liege daran, daß Perso nen mit Tötungsvorsatz viel gefährlicher sind (nämlich viel häufiger tatsächlich töten) als Personen, die lediglich unsorgfältig sind. Daher lohne es sich, trotz gleicher Folge im Einzelfall (d. h. bei eingetretener Tötung) durch höhere Bestrafung der Vorsatztat von dieser stärker abzuschrecken als von der Fahrlässigkeitstat. Belegt das etwa, daß hier nur der „Anschein einer eigenständigen moralischen Relevanz“ der Unterschei dung von Vorsatz und Fahrlässigkeit besteht, während es in Wirklichkeit die Folgen sind, die moralisch relevant sind? (So äußert sich bezüglich der Unterscheidung von Handeln und Unterlassen Birnbacher (1995), Tun und Unterlassen, S. 128). Dies ist doch gewiß nicht in dem Sinne der Fall, daß es nun rational wäre, sich um den Unter schied von Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht mehr zu kümmern. Man kann sich eben nicht um Folgendifferenzen kümmern, ohne sich um diejenigen Differenzen zu küm mern, die die Folgendifferenzen bewirken.
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ren - äußerer Art - fallen manchmal ins Gewicht.. .)“149. Auch Die ter Birnbacher spricht in seiner umfangreichen Studie der Un terscheidung von Handeln und Unterlassen „als solcher“ eine mo ralische Bedeutsamkeit ab, prüft dann aber allerlei „verborgene Parameter“, die die Annäherung der im Grundsatz äquivalenztheo retischen Position an die tatsächliche Zurechnungspraxis leisten sollen: „Wenn es eine Berechtigung dafür gibt, Handeln und Unter lassen unterschiedlich zu beurteilen, kann diese nicht in der inneren Struktur von Handeln und Unterlassen selbst liegen. Damit steht der Position einer durchgängigen moralischen Differenzierung aber nur noch ein Begründungsweg offen: die These, daß bestimmte un abhängig moralisch relevante Beurteilungsmerkmale mit der Un terscheidung zwischen Handeln und Unterlassen so eindeutig kor relieren, daß zwar Handeln nicht als solches anders zu beurteilen ist als ein entsprechendes Unterlassen, daß es aber dennoch de facto regelmäßig anders zu beurteilen ist, insofern es mit ihrerseits mora lisch gewichtigen Verhaltensmerkmalen zusammengeht.“150 Unklar bleibt, wieso die relevanten Beurteilungsmerkmale, wenn sie denn tatsächlich „unabhängig“ sind, eigentlich korrelieren.151 Weder bei den zuletzt genannten noch bei anderen Autoren habe ich ein überzeugende Erklärung der zurechnungspraktischen Un terschiede von Handeln und Unterlassen gefunden, die nicht in der einen oder anderen Weise die Relevanz der Unterscheidung doch voraussetzte. Das zeigte sich schon bei der Behandlung der Kon zepte der kausalen Rolle und der Organisationszuständigkeit im dritten Abschnitt dieses Kapitels. Es gilt auch für die von Birnbacher herangezogenen psychischen Erklärungsfaktoren, zum Bei spiel für unterschiedliche Grade von Vertrauensverlusten oder von Bedrohtheitsempfinden bei den Opfern oder bei Dritten durch 149 Singer (1994), Praktische Ethik, S. 267. Singers Explikation des Zusatzes „an sich“ ist - vielleicht nur auf den zweiten Blick - überraschend: Warum genügt für einen „moralischen Unterschied an sich“ nicht ein Unterschied, der jedenfalls auch von der genannten Unterscheidung abhängt, d. h. ohne Rekurs auf sie nicht rekonstruiert wer den kann? Siehe dazu - am Beispiel - unten Anm. 161, S. 109 f. 150 Siehe Birnbacher (1995), Tun und Unterlassen, S. 127 f., und Kap. 6, S. 129 ff., wo die verborgenen Parameter (Aufwand der Pflichterfüllung, Sicherheit des Schadensein tritts, wahrgenommene Bedrohlichkeit des Verhaltens u. a.) diskutiert werden. 151 Vgl. auch die Scheinalternative zwischen „praktisch-statistischen“ und sonstigen (echten, systematischen?) Gründen, Handeln und Unterlassen unterschiedlich zu be handeln, bei Jakobs (1993), Strafrecht, S. 783: „Im Ergebnis ist also das Übergewicht der Verbote praktisch-statistisch begründet, nicht aber durch besondere Haftungsvor aussetzungen bei Geboten, die bei Verboten nicht erforderlich wären.“
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Handlungen einerseits, Unterlassungen andererseits152. Solche psy chischen Dispositionen unterstellen eine äquivalenztheoretisch nicht begründbare Differenz und müssen daher dem Äquivalenz theoretiker als irrational gelten. Das mag freilich, solange sie fak tisch stabil sind, kein Einwand gegen ihre Berücksichtigung im konsequentialistischen Kalkül sein. Aber reagierten alle so, wie sie nach der Theorie rationalerweise reagieren sollten, verschwänden die Folgendifferenzen. Und damit verschwände auch die Sonderstel lung des Unterlassens. Die im folgenden Abschnitt diskutierten konsequentialistischen Gründe für die Sonderstellung stützen sich nicht auf anti-äquivalenztheoretische psychische Reaktionen von Beteiligten, sondern auf Umstände, die solche Reaktionen zu be gründen geeignet sind. 6. Konsequentialistische Argumente gegen die Äquivalenzthese Eine ernstgemeinte Forderung, das Opfer einer Organerkrankung durch eine alle Organinhaber umfassende Lotterie zu bestimmen, würde von den meisten Menschen als skandalös empfunden. John Harris, der Erfinder der „survival lottery“, trägt dem Rechnung, indem er die Forderung den Patienten Y und Z in den Mund legt. „We and the doctors“ dagegen finden das zunächst „out of the question“, versuchen aber immerhin, davon auch Y und Z zu überzeu gen. Da die beiden Patienten die Evidenz der Äquivalenzthese vor aussetzen, ist in diesem Punkt die Debatte rasch zuende153. Mit der Äquivalenzthese allein kann man freilich nicht begründen, warum nicht abgewartet werden sollte, bis einer der Patienten stirbt, um dann mit seinen Organen den anderen (und möglicherweise weite re) Patienten zu retten. Die Anzahl Geretteter wäre, wie Harris ausdrücklich zugibt, bei Außerachtlassung Dritter gleich154. Und auf spezifischere Folgendifferenzen (Anzahl der Angehörigen, 152 Siehe Birnbacher (1995), z.B. S. 157,159, 200f., zum Zirkelproblem explizit S. 166, 203. 153 Harris (1994), S. 257: „... we can tell Y and Z ... that when they die they will have died of natural causes and not of the neglect of their doctors. Y and Z do not however agree; they insist that if the doctors fail to kill a healthy man and use his organs to save them, then the doctors will be responsible for their deaths.“ 154 Ebd. S. 263. Transplantationstechnische Fragen (Gewebeverträglichkeit etc.), de ren Einbezug der Praktiker vermissen wird, läßt Harris außer acht - darin wird ihm hier gefolgt.
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höherer Nutzen von Y und Z für die Gesellschaft ...) berufen die Patienten sich gar nicht. Gleichwohl fährt der Autor fort zu behaup ten, daß man für die Ablehnung des Plans einen hohen Preis zahlen müsse: Die Lotterie rette „many lives that would otherwise have been lost“155. Ich kann nicht erkennen, daß die Lotterie im Verhält nis zu der gerade erwähnten Option etwas anderes bewirkt als den Austausch von Opfern. Der Einwand, den Y und Z gegen die Außerachtlassung Dritter Vorbringen, ist denn auch nicht konsequentialistisch. Sie verweisen nicht auf eine insgesamt bessere Folgenmenge der vorgeschlagenen Option, sondern - als subsidiäres, zur Entscheidung zwischen konsequentialistisch äquivalenten Optionen heranzuziehendes Argu ment - auf ihre höhere Verteilungsgerechtigkeit. Y und Z fühlen sich nämlich diskriminiert, wenn man ihr gesundheitliches Problem als ihr Problem behandelt, anstatt es als Problem aller Organinha ber anzusehen. Gewiß dürfe man keine Unschuldigen töten. Aber sie selbst seien auch unschuldig, und warum sollten gerade sie ster ben müssen, bloß weil sie das Pech hatten, krank zu werden?156 Pech hat freilich auch derjenige, der schließlich ausgelost wird. Auch er hat sein Los nicht selbst verschuldet. Die Insinuation, hier werde im Namen der Gerechtigkeit argumentiert, entsteht einzig durch die dubiose Vermutung, daß beim Ersatz natürlicher Lose durch Lotte rielose wenigstens Chancengleichheit hergestellt werde. Dubios ist diese Vermutung, weil gar nicht plausibel gemacht werden kann, in welchem Sinne bei jener ersten Lotterie, die den einen als diesen (Anfälligen) und den anderen als jenen (Robusten) geboren wer den ließ, die Chancen ungleich verteilt gewesen sein sollten. Wie dem auch sei - um eine Legitimation von Ungleichheit durch Re kurs auf Pech, das dann nicht mehr jedermanns Problem ist, kommt offensichtlich auch der Erfinder der Organlotterie nicht herum. Es sind aber wohl nicht allein diese beiden Einwände (daß die Organlotterie die Überlebensbilanz nicht verbessert und daß sie natürliche Ungleichheit nicht durch Gleichheit, sondern durch künstliche Ungleichheit ersetzt), die die Sache als „out of the question“ erscheinen lassen. Die Tötung einiger Weniger, etwa durch Einimpfen eines tödlichen Virus, kommt dem üblichen Urteil zufol ge auch dann nicht in Frage, wenn dabei Erkenntnisse gewonnen werden könnten, die zahlreichen künftig Befallenen das Leben ret 155 Ebd. S. 265. 156 Ebd. S. 258.
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ten würden. Solche Maßnahmen verwirft der moralische common sense selbst dann, wenn die Chance, als Versuchskaninchen ausge lost zu werden, gleichverteilt, aber geringer wäre als die ebenfalls gleichverteilte Chance, auf natürlichem Wege von dem Virus befal len zu werden. Für große Kollektive ist ein solches Szenario unrea listisch, weil kaum eine Gefahr denkbar ist, die nicht verschiedene Gesellschaftsmitglieder in verschiedenem Ausmaß bedroht157. Je denfalls wäre in einem solchen Fall mit der Einwilligung in die Maß nahme für jeden Beteiligten eine Steigerung der eigenen Überle benschance verbunden. Aber offenbar will nicht jedermann vor allem überleben. Mancher will vor allem nicht getötet werden und nicht töten. Die gelegentlich behauptete strukturelle Analogie der „survival lottery“ mit einer wenig skandalösen und ganz verbreiteten Institu tion, nämlich der allgemeinen Wehrpflicht, ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen158. Im Rahmen der Diskussion der Grenzen des rechtfertigenden Notstands159 entwickelt Günther Jakobs, es komme darauf an, daß das Opfer „ex ante“ (gemeint ist: zum Zeit punkt der als erlaubt in Frage stehenden Handlung) „als möglicher weise Gewinnender definiert“ werden könne. Das sei dann der Fall, wenn keine Hinderungsmöglichkeit mehr bestehe, sobald das Opfer individualisiert sei160. Ein mögliches Beispiel: Drei eingesperrte Personen werden von einem bissigen Hund bewacht. Sie beschliessen den gemeinsamen Ausbruch aufgrund der Überlegung, daß der Hund sich auf einen von ihnen stürzen wird, was den beiden ande ren das unbeschädigte Entkommen ermöglicht. Durch den Aus schluß von Fällen des Bestehens einer Hinderungsmöglichkeit wird die Einführung einer (von Jakobs jedenfalls verneinten) Duldungs pflicht entbehrlich, d. h. einer Pflicht, auf die Verteidigung gegen einen unmittelbar auf sich gerichteten Tötungsakt zu verzichten. An einer solchen Pflicht fehlt es wohl auch beim Militärdienst, wo 157 Für kleine Kollektive lassen sich solche Situationen eher konstruieren. In nicht ganz reiner Form sind sie auch schon vorgekommen - siehe zum Mignonette-Fall (Tö tung eines Schiffsjungen zur Ernährung der übrigen Schiffbrüchigen) und anderen realen Beispielen mit weiteren Nachweisen zu deren ausführlicher Behandlung Berns mann (1989), „Entschuldigung“ durch Notstand, S. 45-48. 158 Vgl. Birnbacher (1995), Tun und Unterlassen, S. 216f.; siehe eauch Jakobs (1993), Strafrecht, S. 419. 159 § 34 StGB; vgl. zum entschuldigenden Notstand (§ 35) Anm. 82, S. 66 f. 160 Jakobs (1993), S. 421; siehe zum Problem auch Glover (1977), Causing Death and Saving Lives, Ch. 16.3.: Certain Death for a Known Person and ,Statistical‘ Death, S. 210-213.
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es immerhin der Feind und nicht der eigene Kommandeur ist, der unmittelbar tötet; und gegen den Feind darf man sich stets verteidi gen. Die heikle Legitimität sogenannter Himmelfahrtskommandos, die in ganz eindeutigen Fällen denn auch an Freiwillige abgegeben, d.h. als Selbstmord veranstaltet zu werden pflegen, weist in diesel be Richtung. Sie zeigt aber zugleich, daß hier auch Gradfragen (Ausmaß des Risikos, Ausmaß der ex ante-Individualisierung des Opfers) eine Rolle spielen. Das Fehlen der Hinderungsmöglichkeit nach der Individualisierung kann jedenfalls in Jakobs’ Konstruktion nicht ersetzt werden durch eine Selbstverpflichtung ex ante, eine Tötung ex post zu dulden. Plausibel ist daran, daß es in den als legi tim verbleibenden Fällen im Unterschied zu den Lotterie-Fällen an einem auf eine spezifische Person gerichteten Tötungsakt fehlt. Die Wichtigkeit des Gesichtspunkts der Anonymität der möglichen Op fer bei der Zulassung riskanter Praktiken wird uns im V. Kapitel noch beschäftigen: Ein Verbot jeglichen Setzens von (ex ante gleich oder auch ungleich verteilten) Risiken für das Leben anderer würde das Leben überhaupt zum Stillstand bringen. Ob die bei den meisten Menschen hartnäckige Abwehr gegen eine Verpflichtung, Unschuldige zu töten und sich gegebenenfalls selbst töten zu lassen, letztlich nicht doch auch mit Bezug auf das Ziel der Lebensverlängerung rational ist, möchte ich hier nicht aus führlich diskutieren. Eines der häufigsten Argumente gegen solche Tötungsrechte, nämlich den Hinweis auf Mißbrauchsmöglichkeiten, bringt Harris selbst vor161. Freilich fehlt der Zusatz, daß die Rück sicht auf Mißbrauchsmöglichkeiten zugleich eine Rücksicht auf den Unterschied zwischen Tun und Unterlassen als solchen ist. Daß eine Gesellschaft, die Rechte zur Tötung Unschuldiger institutionali siert, für das Mißbrauchsproblem anfälliger ist als eine Gesellschaft, in der das Recht besteht, Unschuldige sterben zu lassen, kommt nämlich nicht von ungefähr. Der lediglich Unterlassende bleibt da rauf angewiesen, daß zunächst einmal ein zielführender Schädi gungsverlauf daherkommt, dessen Hinderung er unterlassen könn te. Daher kann man durch Passivbleiben nicht so gezielt Mißliebige 161 Harris (1994), S. 265: „The lottery scheme would be a powerful weapon in the hands of someone able and willing to misuse it. Could we ever feel certain that the lottery was safe from unscrupulous computer programmers?“ Vgl. auch Birnbacher (1995), S. 209, auch S. 215, andererseits S. 293: Es gebe „keinen Grund anzunehmen, daß die ... Mißbrauchsgefahren für Handlungserlaubnisse generell oder überwiegend größer und gewichtiger sind als für Unterlassungserlaubnisse“. Das im folgenden Haupttext dazu Gesagte scheint mir einen solchen Grund zu bieten.
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schädigen, wie das durch Aktivwerden möglich ist162. Freilich scheint es nicht dieser Punkt allein zu sein, der die üblichen Wider stände motiviert. Wie dem auch sei - von einer Antwort auf die Frage nach der Rationalität oder Irrationalität eines grundsätzli chen (einzelfallunabhängigen) Verbots der Tötung Unschuldiger hängt der Nachweis, daß die Äquivalenzthese auch unter Folgenge sichtspunkten unsinnig ist, nicht ab. Anders als dieser (im medizin ethischen Kontext wichtige) Aspekt des Themas sind die im folgen den zu diskutierenden Inkonsistenzen in Harris’ Argumentation unmittelbar für unser Thema der Verantwortung in komplexen Pro zessen relevant. Gleich zu Beginn versichert Harris, es sei natürlich nicht akzepta bel, Ärzten, die einige Transplantationsbedürftige zu versorgen hät ten, zu erlauben oder gar zu gebieten, sich ein Opfer einfach von der Straße zu holen163. Um die Bedenken gegen die Ungerechtigkeit einer derart willkürlichen Praxis auszuräumen, wird ja gerade das geregelte, Chancengleichheit involvierende Verfahren der Lotterie vorgeschlagen. Mit anderen Worten: Es wird eine Institution vor geschlagen, die spezifischen Personen - dem Arzt, den Lotterie beamten, den je ausgelosten Opfern, den Vollstreckungsorganen spezifische, im einzelnen geregelte Handlungspflichten auferlegt. Offenbar hat das zur Folge, daß die weitaus meisten Handlungssub 162 Handelt es sich hier um einen Unterschied, der „lediglich“ an der Unterscheidung von Tun und Unterlassen hängt und damit im Sinne des von Singer (oben S. 104 mit Anm. 149) vorgebrachten Kriteriums ein Beleg für die Relevanz der Unterscheidung als solcher wäre? Dagegen ließe sich einwenden, daß das Bestehen von Mißbrauchs möglichkeiten im aktiven Fall möglicherweise durch intensive Kontrollen auf das im passiven Fall gegebene Maß gesenkt werden könne (was in Ländern, die die aktive Euthanasie dulden, auch versucht wird). Insoweit würde der Eintritt der mißlichen Folgen eben nicht lediglich an der Mißachtung des Unterschieds von Handeln und Unterlassen hängen, sondern an dieser Mißachtung in Verbindung mit dem Versäum nis, den relevanten Unterschied durch spezielle Maßnahmen zu kompensieren. Eine solche Argumentation kann aber ersichtlich nicht die These stützen, daß der Rekurs auf die Mißbrauchsmöglichkeiten ein Rekurs auf einen „unabhängigen“ oder „äuße ren“ Faktor wäre, der nichts mit der Unterscheidung von Handeln und Unterlassen als solcher zu tun habe. Sie zeigt lediglich, daß das Ausmaß der Mißbrauchsmöglichkeiten nicht nur von jener Unterscheidung abhängt, sondern auch von anderen Parametern (z. B. vom Kontrollaufwand). Daher kann es sein, daß nicht jeder Vorschlag zur Eröff nung von Tötungsrechten eo ipso am Mißbrauchsargument scheitert und gleichwohl das Mißbrauchsargument - also der Hinweis auf die ceteris paribus unterschiedlichen Mißbrauchsmöglichkeiten des Tötens und des Sterbenlassens - ein korrekter Hinweis auf einen moralisch relevanten Aspekt der Unterscheidung als solcher ist. 163 Harris (1994), S. 258 f.
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jekte sich angesichts des Transplantationsproblems aufs Unterlas sen beschränken dürfen. Denn es wird ja nun nicht von jedermann verlangt, sich angesichts des drohenden Todes Organkranker seiner Täterschaft durch Unterlassen bewußt zu werden und irgendwie Abhilfe zu schaffen. Die mit der Einrichtung der Lotterie eingerich teten Zuständigkeiten entlasten die unzuständige Mehrheit vom Zwang, aktiv zu werden, Folgenkalkulationen anzustellen, sich über den Stand der Dinge zu informieren, die ordnungsgemäße Durch führung zu überwachen - ja überhaupt über dieses Problem nach zudenken. Offenbar ist die von Harris selbst vorgeschlagene Institutionali sierung der Hilfe eine wesentliche Effektivitätsbedingung. Würden sämtliche Unterlassenden unkoordiniert und ungeachtet ihrer spe zifischen Kompetenzen (als Ärzte, Softwareprogrammierer usf.) tä tig werden, wären die Gesamtfolgen mit Sicherheit fürchterlich. Es muß ja - allermindestens - klar sein, wer für die Beschaffung eines Spenderorgans zu sorgen hat, damit angesichts eines Organkranken zur Beruhigung ihres schlechten Gewissens nicht hunderte von po tentiellen Unterlassungstätern zum Messer greifen. Daß die Vertei lung spezifischer Zuständigkeiten nötig ist, liegt also an den Folgen, die sich ergäben, wenn sie unterbliebe. Und diese Folgen hängen wie es erforderlich ist, wenn die Folgenbetrachtung für die Äquiva lenzthese erheblich sein soll - mit dem Unterschied von Aktivwer den und Passivbleiben als solchem zusammen, nämlich in der fol genden Weise: Hinsichtlich der unerwünschten Folgen des Tuns (des Tötens zum Beispiel) ist das Gewünschte erreicht, wenn sämt liche Subjekte aufgefordert werden, insoweit passiv zu bleiben. Hinsichtlich der unerwünschten Folgen des Unterlassens (des Ster benlassens) ist das Gewünschte keineswegs erreicht, wenn sämtli che Subjekte aufgefordert werden, aktiv zu werden. Im Gegenteil setzt eine effektive Entfaltung von schadenshindernden Aktivitäten eine Verteilung von spezifischen Zuständigkeiten voraus, d. h. von Sonderpflichten anstatt - wie beim Tötungsverbot - von Jedermannspflichten. Nur Nichtschädigungspflichten können ohne wei tere Zusätze an alle potentiellen Täter zugleich gerichtet werden. Denn nur Untätigkeit ist nicht koordinierungsbedürftig. Wir kommen auf diesen Gesichtspunkt - der erklärt, wieso Un terlassende nicht schon des puren Unterlassens wegen Garanten sein können - gegen Ende dieses Abschnitts zurück. Denn es wird sich zeigen, daß man unbeschadet der fehlenden Koordinierungs bedürftigkeit des Untätigbleibens auch Handelnde zweckmäßiger 111 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
weise nicht schon des puren Handelns wegen für zuständig erklären kann. Zunächst kommentiere ich aber eine von Harris selbst er wähnte praktische Schwierigkeit des Lotterieplans: Es müßten heikle und entsprechend umstrittene Entscheidungen darüber ge troffen werden, wer in welchem Grade unschuldig an seinem eige nen Gesundheitszustand ist, und dies gegebenenfalls unter Zeit druck164. Daß solche Entscheidungen schwierig sind, ist gewiß richtig. Jeder Rekurs auf jemandes Eigenleistung ist ja zugleich ein Rekurs auf Bedingungen seiner Leistungsfähigkeit, die ihrerseits kein Resultat seiner Eigenleistung sind. Man stelle sich vor, man wollte Medaillen für sportliche Leistungen so strikt nach Verdienst verteilen, daß der Anteil am Resultat, den ein Athlet seiner beson deren physischen und psychischen Grundausstattung verdankt, als Malus in Abzug zu bringen wäre. Mit dem Problem der Unabtrennbarkeit eines „reinen“ Verdienstes werden freilich auch real existie rende Gesellschaften irgendwie fertig. Der Punkt, um den es mir geht, betrifft eine andere Frage: Warum setzt Harris überhaupt vor aus, daß die Forderungen sich auf den Ausgleich nicht selbstver schuldeter Organschäden zu beschränken hätten? Natürlich ent spricht diese Einschränkung dem common sense. Aber entspricht sie auch dem äquivalenztheoretischen Standpunkt? Die unterlasse ne Abwendung eines Schadens ist gewiß nicht weniger eindeutig Bedingung für den Eintritt des Schadens (im Beispiel: Tod des Or gankranken), wenn dessen positive Bedingungen anstatt durch einen naturalen Prozeß durch den Betroffenen selbst gesetzt wur den. Harris erklärt also, so scheint es, den Urheber der positiven Bedingungen des Schadens (nämlich den Selbstschädiger) zum Ver antwortlichen und entlastet den Urheber der negativen Bedingun gen (nämlich den bloß Unterlassenden). Gegen diese Beschreibung kann freilich eingewendet werden, daß ein Selbstschädiger die Bedingungen seiner Gesundheitsschä digung häufig seinerseits durch Unterlassen (zum Beispiel der re gelmäßigen Zahnpflege) bewirke. Daher habe die besondere Ver antwortung des Selbstschädigers nicht notwendig etwas mit einer besonderen Verantwortung dessen zu tun, der positive Schädi gungsbedingungen setze. Dazu ist zunächst folgendes zu sagen: Ge wiß - es gibt Fälle abwendbarer Schädigungen, in denen weder der Betroffene selbst noch andere eine positive Schadensbedingung ge setzt haben. In diesen Fällen kann man sich an einen aktiven Schä 164 Ebd. S. 265.
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diger eben auch nicht halten. Soll der Schaden trotzdem verantwor tet werden, bedarf es, wie oben ausgeführt, der Bestimmung eines Sonderpflichtigen. Pflichtig ist im genannten Fall zweckmäßiger weise der Betroffene selbst - und nicht diejenigen, die es sonst noch unterließen, seine Zähne zu putzen. Daß für den Zustand des eige nen Leibes, entsprechende Fähigkeiten zum Handeln vorausge setzt, jeder selbst Garant ist, hängt im übrigen (unter anderem165) seinerseits mit der Koordinierungsbedürftigkeit des Tuns, nicht aber des Unterlassens zusammen: Nur der Inhaber des Leibes kann die Bewegungen, mit denen der Leib instandgehalten wird (zum Beispiel die Bewegung der Zahnbürste), ohne weiteres mit den Be wegungen des Leibes selbst koordinieren. Bei Harris fehlt nicht nur - was verständlich ist - eine Theorie der Garantenstellungen, sondern auch der Blick für ihre Erforderlich keit. Ihm zufolge sind ja - wie alle, die jemanden töten - auch alle, die jemanden sterben lassen, Garanten. Daher bleibt er eine Erklä rung dafür schuldig, wieso im Falle eines Schadens infolge bloßen Unterlassens unter allen Unterlassenden gerade der Betroffene selbst der Verantwortliche sein soll. Als schuldig - so halten wir fest - gilt ihm jedenfalls auch der Selbstschädiger, der seine Gesundheit, zum Beispiel seine Leber, aktiv ruiniert hat, zum Beispiel durch exzessives Trinken. Da in einem solchen Fall kein Anspruch auf einen Organersatz bestehen soll, gelten die lediglich Unterlassen den hier offenbar als unzuständig. Soll nun der lediglich Unterlas sende nicht zuständig sein, wenn die positiven Bedingungen des Schadens durch den Betroffenen selbst gesetzt wurden, so wird wohl auch der lediglich Unterlassende nicht zuständig sein, wenn die positiven Bedingungen durch einen Dritten gesetzt wurden jedenfalls solange nicht, wie der Dritte (statt aller) zur Vermeidung des Schadens herangezogen werden kann, den er dem unschuldigen Opfer aufgebürdet hat. Im Beispiel: Ist der lebensbedrohende Le berschaden des A Folge eines Vergiftungsversuchs durch B, dann wäre offenbar B der primär zu verpflichtende Kandidat für die Or ganspende. Damit ist, so scheint es, schon eine gewisse Aufteilung der Verantwortungsbereiche entlang des Kriteriums der aktiven Schadensherbeiführung erreicht. Aber es scheint nur so. Harris könnte einwenden, daß die Entla 165 Auf andere, bedeutendere Effizienzgründe einzugehen - etwa auf den Informa tionsvorsprung und den Motivationsvorsprung, den jeder mit Bezug auf seine eigenen Bedürfnisse hat -, besteht hier kein Anlaß.
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stungswirkung, die das Vorhandensein eines am Organschaden „Schuldigen“ für die Allgemeinheit der potentiellen Organspender hat, gar nicht an das Vorhandensein eines aktiv Schuldigen gebun den sei. Sie trete vielmehr auch im Falle des Vorhandenseins eines passiv Schuldigen auf. Ganz wie im Falle der Selbstschädigung (die sowohl bei Aktivität als auch bei Passivität des Selbstschädigers die potentiellen Spender entlastet) sei es auch im Falle der Fremdschä digung so, daß auch die Schädigung durch Passivität schuldig ma che. Im Beispiel: Auf der steilen, unübersichtlichen Straße, die an A’s Haus vorbeiführt, hat sich starkes Glatteis gebildet. A bemerkt das und unterläßt es, Salz zu streuen oder die Autofahrer zu war nen. B verunglückt und erleidet so schwere Leberquetschungen, daß nur eine Transplantation ihn retten kann. Hier - so könnte Harris argumentieren - sei A der Schuldige und daher der zum Er satz des Schadens primär Verpflichtete. Der eigentliche Inhalt der Regel, daß nur bei nicht unverschuldeten Organproblemen alle po tentiellen Spender zuständig seien, ist also möglicherweise nicht der, daß der Aktive vor dem Passiven belastet werden soll. Es könn te sich auch darum handeln, daß der erste Vermeidefähige vor den späteren Vermeidefähigen belastet werden soll. Die so rekonstruierte Position scheint zunächst konsistent zu sein. Freilich läßt sich zeigen, daß eine generelle Auszeichnung des ersten Vermeidefähigen als des Schuldigen nicht zweckmäßig ist. Und daß das so ist, hängt wiederum mit dem Unterschied von Ak tivität und Passivität zusammen. Zunächst ist folgendes zu beach ten: Wenn der erste Vermeidefähige vor den späteren Vermeidefä higen belastet und zugleich Aktivität und Passivität strikt gleich behandelt werden sollen, dann muß nicht nur derjenige, der nach dem ersten Vermeidefähigen durch Aktivität vermeiden könnte (al so ein Unterlassender), entlastet werden. Sondern es muß auch der jenige entlastet werden, der nach dem ersten Vermeidefähigen durch Passivität vermeiden könnte (also ein Handelnder). Hier ist ein Beispiel, das das Gemeinte anschaulich macht; zunächst die Un terlassungsvariante: Der Autofahrer A ist wegen zu schnellen Fah rens verunglückt und liegt verletzt auf der Straße. Der Passant B hat den Unfall beobachtet und fühlt sich entlastet von der Pflicht, dem Verunglückten beizustehen. Denn dieser habe ja (als erster Vermei defähiger) die Folgen seines Verhaltens selbst zu tragen. A schleppt sich zum Arzt, belastet aber dabei seinen verletzten Knöchel so, daß dieser schließlich steif bleibt. Die Handlungsvariante: Der Motor radfahrer C, der im Heranfahren den Unfallhergang ebenfalls be 114 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
obachtet hat, fährt auf den auf der Straße liegenden A zu und fühlt sich entlastet von der Pflicht, das Überfahren zu vermeiden, weil ja A (als erster Vermeidefähiger) die Folgen seines Verhaltens selbst zu tragen habe. C überfährt das Bein des A, dessen Knöchel in der Folge Steif bleibt. Ein möglicher Einwand gegen die anti-äquivalenztheoretische Aussagekraft dieses Beispielpaars sei sogleich kommentiert. Der Einwand lautet, daß die beiden Varianten im Kausalaspekt nicht parallel seien: Der Motorradfahrer habe einen neuen Schadensver lauf bedingt, während der Passant bloß den ungehinderten Ablauf des bereits von A selbst ins Werk gesetzten Schadensverlaufs be dingt habe. Das stimmt freilich nicht: A hat ja bedingt, daß er ver letzt auf der Straße liegt, und damit hat er auch bedingt, daß er, wenn ein nachfolgender Fahrer nicht anhält, überfahren wird. Die Folgen des Überfahrenwerdens sind nur dann neue, nicht schon von A selbst ins Werk gesetzte Schäden, wenn man die Kausalkette bei der Aktivität des Motorradfahrers neu beginnen läßt. Läßt man wie das die äquivalenztheoretische Parallelität erfordert - die Kau salkette auch bei der Passivität des Passanten neu beginnen, dann hat auch der Passant neue Schäden bedingt - nämlich alle Folge schäden seines Unterlassens166. Warum also soll er für diese nicht genauso einstehen wie der Motorradfahrer für die Folgeschäden seines Handelns? Die Diskussion des Beispiels zeigt folgendes: Entweder muß zu gegeben werden, daß die Regel, nach der der erste Vermeidefähige (als der „Schuldige“) vor den späteren Vermeidefähigen belastet werden soll, tatsächlich auch den Motorradfahrer entlastet - diese 166 Der hier abgewiesene Differenzierungsversuch findet sich immer wieder auch bei Autoren, die sich zur völligen Gleichheit der kausalen Rolle von Aktivität (Setzen einer positiven Bedingung des Schadens) und Passivität (Setzen einer sog. negativen Bedingung des Schadens) explizit bekannt haben. Vgl. zum Beispiel Birnbacher (1995), Tun und Unterlassen, S. 223, beim Vergleich von Fällen des Weichenstellertyps mit dem Fall „Dicker Mann“ (den jemand in der Absicht, einen auf eine Gruppe von Kindern zurollenden Wagen zu stoppen, vor diesen stößt): „Es wird hier [d. h. beim Fall „Dicker Mann“] nicht mehr nur ein natürlich-schicksalhaftes Geschehen in seiner Richtung, Qualität oder Intensität modifiziert, sondern es wird ein völlig neues und unabhängiges Geschehen in Gang gesetzt.“ Bei konsequenter Gleichbehandlung der kausalen Rolle von Handlungen und Unterlassungen (die Birnbacher für geboten hält, vgl. ebd. S. 117) ist eine Differenzierung derart, daß nur in einem Falle „etwas Neues“ in Gang gesetzt werde, weder zwischen den beiden Falltypen noch zwischen der jewei ligen Handlungsvariante und der zugehörigen Unterlassungvariante zulässig. Vgl. auch oben S. 71 f. die Kritik zu Seebaß’ Kommentar zum Weichenstellerfall.
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Möglichkeit kommentieren wir später. Oder es muß zugegeben werden, daß die genannte Regel auch den Passanten nicht entlastet. Was, so fragt sich dann aber, war der Sinn der von Harris (am Bei spiel der selbstverschuldeten Organschäden) aufgestellten Regel nämlich der Regel, daß angesichts eines Schadensverlaufs, für den es bereits einen Schuldigen gibt, spätere Vermeidefähige von der Vermeidepflicht zu entlasten sind? Die Idee war ja, so schien es, nicht die, daß die Regel nur solange gelten soll, wie der Schuldige diejenigen Folgeschäden seines Verhaltens, die die Späteren ver meiden können, genau so gut noch selbst vermeiden kann. Das hies se im Beispiel: Die Entlastung des Passanten träte nur dann ein, wenn der Verletzte allein ebenso gut (d.h. ohne zusätzliche Ge sundheitsschäden) zum Arzt hätte gelangen können. Und der Mo torradfahrer wäre nur dann entlastet, wenn der Verletzte sich ange sichts des heranfahrenden Motorrades auch selbst von der Straße hätte wälzen können. Harris’ Organspendefall bestätigt aber - pri ma facie - diese Deutung nicht: Der Selbstschädiger (zum Beispiel der exzessive Trinker) kann den infolge seines Leberschadens zu erwartenden Tod selbst nicht mehr verhindern. Das können nur noch die potentiellen Organspender. Genaugenommen muß man die Lage freilich so beschreiben: Die Organspender können zwar vermeiden, daß infolge des Leber schadens der Trinker stirbt. Aber auch sie können nicht mehr vermeiden, daß infolge des Leberschadens irgend jemand stirbt. Differenzentheoretisch167 gesprochen: Der Trinker hat den Unter schied bewirkt, den es macht, ob einer oder keiner stirbt. Die po tentiellen Organspender können nur noch den Unterschied bewir ken, den es macht, ob dieser (der Trinker) oder ein anderer stirbt. In dieser Manier hat freilich Harris selbst seinen Fall nie beschrieben: Es kam ihm ja auf die These an, daß Unterlassungsfolgen (qua Ver meidbarkeit) Taten seien - nämlich ebensogut wie Handlungsfol gen. In Abschnitt II.4. haben wir ausführlich entwickelt, wieso das hieße, den Bereich des Vermeidbaren zu weit zu fassen: Handlungs folgen und Unterlassungsfolgen sind nur alternativ, aber nicht beide zugleich vermeidbar. Auch im vorliegenden Fall bestätigt sich, daß - wenn man denn Handeln und Unterlassen gleich behandeln möchte - es sich gelohnt hätte, sich in der Beschreibung dessen, was an dem betrachteten Geschehen wessen Tat ist, exakt an das je Disponible zu halten. Dann hätte Harris genauer explizieren müs 167 Vgl. Abschnitte II.3. und II.4.
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sen, in welchem Sinne seine Lotterie „Leben rettet“. Täte sie dies im differenzentheoretischen Sinne, dann wären die Verweigerer der Organspende Täter bezüglich der Anzahl von Todesfällen, die durch die Lotterie hätten verhindert werden können. Tauscht die Lotterie dagegen nur die Opfer aus, dann hätte einzig der Trinker - und nicht der Verweigerer einer Organspende - Leben retten können. Warum, so fragt sich angesichts der hier entwickelten Komplizie rungen, ist dem Konsequentialisten die Beschränkung der Spende pflicht auf unverschuldete Organschäden so selbstverständlich und kommentarlos aus der Feder geflossen? Zur Erklärung liegt es na he, auf einen - in der Konsequentialismusdebatte freilich immer umstrittenen - Konsequentialismus zweiter Stufe zu rekurrieren: Wäre die Spendepflicht auch bei Selbstverschulden nach strikt konsequentialistischen Maximen eingerichtet, würde das rasch zu einer Inflation der Menge der auszugleichenden Schäden führen. Denn mit dem, was ein jeder an Steuerungsmöglichkeiten (qua Aktivität oder qua Passivität) selbst in der Hand hat, wird erheblich vor sichtiger umgegangen, wenn die Konsequenzen der Nachlässigkeit, anstatt von jedermann, selbst zu tragen sind168. Ob ein Konsequen tialismus, der die gütervermindernden Rückwirkungen der Ver pflichtung aller auf eine gütermaximierende Moral einkalkuliert, sich noch Konsequentialismus nennen darf, ist, wie gesagt, umstritten169. Wenn Harris diesem Folgengesichtspunkt Rechnung tragen will, bleibt es dabei: Bis zu einem gewissen, die Motivation zur Er füllung der je eigenen Pflichten erhaltenden Grade - es handelt sich hier um ein Optimierungsproblem - müssen „Schuldige“ (primär Vermeidefähige) auch solche Folgelasten ihres Verhaltens selbst tragen, die durch Umverteilung auf andere (sekundär Vermeidefä hige) vom Schuldigen abgewendet und dabei insgesamt gemindert werden könnten. Insoweit muß es dann aber für den Äquivalenztheoretiker auch dabei bleiben, daß sekundär Unterlassende und sekundär Handeln de in gleicher Weise zu entlasten sind. Auch Folgen, die sich aus einer nachfolgende Handlung ergeben, weil ein primär Beitragen 168 Diesen Gesichtspunkt hat bereits Singer (1977), Utility and the Survival Lottery, gegen Harris geltend gemacht. 169 Vgl. Nida-Rümelin (1995), Kritik des Konsequentialismus, 13. Kapitel: Kritik zwei ter Ordnung, S. 139-149, zum Problem, inwieweit es ein Argument gegen die konsequentialistische Ethik ist, zu zeigen, daß ein Konsequentialist nicht wünschen könne, daß eine Gesellschaft aus Konsequentialisten besteht.
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der seine Vermeidefähigkeit nicht genutzt hat, hätte dieser auszu baden. Tatsächlich pflegt man die Folgen des Handelns dem je Han delnden zuzurechnen, und zwar unabhängig davon, ob unter den Bedingungen seines Handelns sich welche finden, die Folge frühe ren Handelns oder Unterlassens anderer Personen waren. Das Überfahren des Verletzten durch den Motorradfahrer mitsamt sei nen Folgen erscheint, falls vermeidbar, unmittelbar als Tat des Mo torradfahrers und nicht etwa als Tat des Verletzten. Der kausalen Seite nach waren zwar beide (genauer: sehr viele) beteiligt. Aber offenbar wird bei Schäden, die Folge einer Kette von Aktivitäten seitens verschiedener Personen sind, auf den Letzten zugegriffen und nicht auf den Ersten. Es zeigt sich, daß man nicht nur im Bereich des passiven Bedingens von Schäden, sondern auch im Bereich des aktiven Bedingens Gesichtspunkte benötigt, die klären, wer im Falle des Vorhanden seins mehrerer Vermeidefähiger als der Zuständige und daher als der zum Tragen der Vermeidungslast Verpflichtete gelten soll. Um die im Rahmen unseres Gesamtthemas wichtigsten Aspekte einer solchen Theorie (die dem entspräche, was im Bereich des Unterlas sens die Lehre von den Garantenpflichten leistet) geht es im nach folgenden Kapitel. An dieser Stelle soll dazu nur soviel gesagt wer den, wie nötig ist, um die zurechnungstheoretische Nichtäquivalenz von Handeln und Unterlassen zu belegen: Es ist zu zeigen, daß die Regelung der „Garantenstellungen“ im Bereich des Handelns sich nicht mit derjenigen zur Deckung bringen läßt, die im Bereich des Unterlassens als zweckmäßig gelten kann. Wir beschränken uns da bei auf den Gesichtspunkt, der sich aus der bisherigen Auseinander setzung mit Harris ergab: Anders als es Harris’ Erhebung des ersten Vermeidefähigen zum Schuldigen nahelegte, pflegen die schädigen den Folgen einer Handlung, die auf vorangegangenen Handlungen oder Unterlassungen anderer Subjekte aufbaut und ohne deren Vorliegen harmlos geblieben wäre, im allgemeinen dem zuletzt han delnden Subjekt zugerechnet zu werden170. Im nächsten Kapitel 170 Es scheint, daß damit die vorhin rekonstruierte Pragmatik verletzt wird, derzufolge man die ersten Vermeidefähigen motivieren muß, ihre Verantwortung nicht auf späte re Vermeidefähige abzuwälzen. Tatsächlich lautet die korrekte Regel, daß man die Vermeidepflichtigen motivieren muß, ihre Verantwortung nicht auf spätere Vermeide fähige abzuwälzen. Erst die Antwort auf die Frage, wer unter allen Vermeidefähigen vermeidepflichtig ist, legt die Verantwortung fest, zu deren Wahrnehmung man durch die Regel, daß man die Folgen der Verantwortungslosigkeit selbst zu tragen habe, motivieren muß. Auch Harris rekurriert zwar, wie gezeigt, auf die primäre Trage
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wird das ausführlicher entwickelt, und dort werden auch die Gren zen der Zweckmäßigkeit dieser Regel kommentiert. Hier dagegen geht es einzig noch um folgende Frage: Warum ist das, wenn es denn im Bereich des Handelns so ist, im Bereich des Unterlassens nicht ebenso? Warum ist hier nicht auch im allgemeinen der zuletzt Bei tragende, also der zuletzt Unterlassende der Schuldige? Der wichtigste Grund scheint mir dieser zu sein: Sich auf die Schadenshinderungspflicht eines Späteren zu verlassen, hat nur dort Sinn, wo man weiß, daß ohne die Pflichtwidrigkeit des Späte ren nichts passieren kann. Genau das ist im Bereich des Unterlas sens nicht der Fall. Denn hier sind die positiven Schadenseintritts bedingungen schon komplett. In einem solchen Falle kann der Schaden auf zweierlei Weise eintreten: erstens dadurch, daß ein Vermeidefähiger auftaucht und pflichtwidrig das Vermeiden unter läßt; und zweitens dadurch, daß gar kein Vermeidefähiger mehr auf taucht. Entfallen kann der Schaden dagegen nur auf eine Art und Weise - nämlich indem ein Vermeidefähiger auftaucht und pflicht gemäß den Schaden hindert. Im Bereich der Begehung dagegen verhält es sich umgekehrt. Hier sind die positiven Schadenseintritts bedingungen noch nicht komplett, und daher kann der Schaden nur auf eine Art und Weise eintreten - nämlich indem ein Vermeidefä higer auftaucht und den Schaden pflichtwidrig herbeiführt. Entfal len kann dagegen der Schaden auf zweierlei Art und Weise: erstens dadurch, daß ein Vermeidefähiger auftaucht und pflichtgemäß ver meidet; und zweitens dadurch, daß gar kein Vermeidefähiger mehr auftaucht. Daher gilt, nochmals, daß hier ohne Pflichtwidrigkeit eines Späteren nichts passieren kann. In diesem Sinne sind hier die Beiträge der Früheren harmlos. Nicht ist es dagegen ein Beitrag, der die positiven Schadenseintrittsbedingungen bereits selbst komplet tiert. Dieser Beitrag kann schon selbst der letzte sein, mit dessen Vermeidung der Schaden noch hätte verhindert werden können. Natürlich gibt es Fälle, in denen es nach Lage der Dinge am ef fektivsten ist, Schäden durch Hindern eines in seinen positiven Be dingungen schon kompletten Verlaufs zu vermeiden. In solchen Fällen muß dann aber auch das Auftauchen des Vermeidefähigen eigens organisiert, d. h. zur Pflicht gemacht werden. Im Beispiel: pflicht des „Schuldigen“. Er hat aber keine Theorie, die erklärt, wieso unter allen Vermeidefähigen ein bestimmter der Schuldige ist. Zu zeigen, daß eine solche Theorie unter anderem den Unterschied von Aktivität und Passivität berücksichtigen muß, ist hier die Absicht.
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Auf die Vermeidefähigkeit des Schrankenwärters kann man sich verlassen, weil man ihn - als Garanten - zugleich verpflichtet hat, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Solche Pflichten, ohne die in modernen arbeitsteiligen Handlungszusammenhängen nir gends auszukommen ist, lassen sich evidenterweise nicht an alle Unterlassenden, sondern nur an einen eigens benannten Garanten richten. Die Pflicht dagegen, einen in seinen positiven Bedingungen unvollständigen Schadensverlauf nicht zu komplettieren, läßt sich ohne weiteren Organisationsbedarf an alle vermeidefähigen Sub jekte richten. Noch ein weiterer Aspekt der Pragmatik der Regel, nach der beim aktiven Zusammenwirken im allgemeinen der Letzte der Zu ständige ist, versagt beim Unterlassen: Handlungen mehrerer bau en häufig in ihrem Handlungssinn aufeinander auf. Deshalb wird maximal viel nichtdeliktischer Handlungssinn gerettet, wenn man erst den Letzten belastet. Im Beispiel: Wäre (wegen der vielen dro henden Verkehrsunfälle) bereits das Bauen der Straße verboten und nicht erst ihre deliktische Nutzung, so entfielen auch alle nichtdeliktischen Nutzungen, weil auch sie ohne das Handlungsresultat des Straßenbauens nicht möglich sind. Dagegen eröffnet der erste Passant, der am hilfsbedürftigen Opfer vorbeimarschiert, mit seiner Unterlassung nicht mehr nichtdeliktische Handlungsmöglichkeiten als der letzte. Schließlich sei - drittens - erwähnt, daß Unterlassun gen im Unterschied zu Handlungen oft zeitlich weniger punktuell lokalisiert sind, so daß es viel häufiger vorkommt, daß viele gleich zeitig unterlassen. Dann kann man schon aus diesem Grunde nicht einfach den Letzten belasten, weil kein Einzelner der Letzte ist. Die aufgezählten Gründe - es lassen sich vermutlich weitere fin den - erklären, warum es nur beim Handeln möglich ist, sich weit gehend auf die schlichte Regel zu stützen, nach der der Letzte der Zuständige ist. Entsprechend ist es, wo nicht spezielle Garanten pflichten eingerichtet sind, der letzte Aktive, der in den meisten Schadensfällen von vornherein als „Täter“ des Schadens ins Auge springt. Wir differenzieren die Theorie der Zuständigkeitsvertei lung im folgenden Kapitel für den Fall des Handelns mehrerer. Am Ende des vorliegenden Kapitels sei festgehalten, daß unter den zahlreichen Gesichtspunkten, die bei einer solchen Theorie zu berücksichtigen sind, sich jedenfalls auch der Unterschied von Ak tivität und Passivität befindet.
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IV. Kollektive Schädigung
1. Kollektive Verursachung Wenn wir uns an die Beispiele erinnern, die im dritten Kapitel dis kutiert wurden, fällt auf, daß es sich vorwiegend nicht um Beispiele für Schäden aus komplexen kulturellen Prozessen handelte. Nicht um das Ozonloch, das Waldsterben oder den Treibhauseffekt geht es typischerweise in den oben herangezogenen Debatten. Sondern es geht um gewöhnliche Sach- und Personenschäden, deren Eintritt oder Nichteintritt vom situativ genau lokalisierten Verhalten ein zelner Personen abhängt. An Schäden, und seien es Todesfälle, die zum Beispiel beim Überqueren von Bahngleisen wegen vorgenom mener oder unterlassener Weichenstellungen entstehen, haben sich die gegenwärtigen Verantwortungsdebatten freilich nicht entzün det. Es handelt sich dort vielmehr um Schäden, die, obgleich sie definitiv als handlungsbedingt gelten, doch nicht als Folge bestimm ter Handlungen einzelner Personen beschreibbar sind. Es gibt die einzelne Person nicht, von der man - wie von einem Autofahrer, der ein Loch in einen Gartenzaun gefahren hat - sagen könnte, er habe das Loch in der Ozonschicht verursacht. Typischerweise handelt es sich also bei den in der Verantwortungsliteratur anvisierten Schä den und Risiken um Folgen aus mehreren Handlungen mehrerer Subjekte, oft um Folgen aus unbestimmt vielen Handlungen unbe stimmt vieler Subjekte. Es sei gleich darauf aufmerksam gemacht, daß die Grenze zwi schen Schäden, die als Handlungen einzelner Personen beschreib bar sind, und Schäden „aus komplexen kulturellen Prozessen“, bei denen das nicht der Fall ist, durchaus keine scharf definierte Grenze ist. Denken wir uns etwa den Fall des Weichenstellers so, daß dessen Versäumnis, einen Hebel umzulegen, einen vollbesetzten Hochge schwindigkeitszug auf ein totes Gleis auffahren und dort mit leta lem Ausgang für Dutzende von Passagieren und Passanten entglei sen läßt. Gewiß wird man zunächst davon sprechen, daß der Schaden als Folge des Verhaltens (hier: des garantenpflichtwidrigen Unterlassens) einer einzelnen Person entstanden sei. Andererseits 121 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
gilt es zu bedenken, daß die Wirkung, die hier infolge der Unter lassung einer einzigen Handbewegung eintritt, auch eine Funktion der Geschwindigkeit des Zuges, der Anzahl der mit diesem einzel nen Verkehrsmittel beförderten Personen, der Dichte der Rand bebauung der Geleise usf., kurz: eine Funktion des Verkehrs systems ist, das mit der unterlassenen Handlung hätte gesteuert werden sollen. Solche „Randbedingungen“ der Unterlassung des zunächst betrachteten Subjekts sind offenbar ihrerseits in mannig facher Weise Resultate des Handelns oder Unterlassens anderer Subjekte. Insoweit kann auch die Schadensfolge einer unterlasse nen Weichenstellung nicht ohne Berechtigung als Schaden aus einem komplexen kulturellen Prozeß beschrieben werden, in des sen Verlauf unbestimmt viele Handlungen unbestimmt vieler Sub jekte eingegangen sind. In extremen Fällen wie dem des betrunke nen Kapitäns, der mit der Havarie eines Großtankers ganze Küstenstriche verwüstet, ist der Sinn für die Inadäquatheit der Be schreibung solcher Katastrophen als Folge der Handlung eines ein zelnen Subjekts auch längst ins öffentliche Bewußtsein und in die Verantwortungsdiskussion eingedrungen171. Angesichts der offensichtlichen Relevanz und Nichttrivialität der mit solchen Beispielen aufgeworfenen Fragen überrascht die Bei läufigkeit, mit der in der Verantwortungsliteratur gerade in promi nenten Fällen das Phänomen der multiplen Täterschaft behandelt wird. Hans Jonas beispielsweise beschränkt sich auf die schon zitier te Wendung, die Ethik habe es heute „mit Handlungen zu tun (wie wohl nicht mehr des Einzelsubjekts), die eine beispiellose kausale Reichweite in die Zukunft haben“172. Nur wenig ausführlicher äu ßert sich Ulrich Beck mit der Bemerkung, „die Justiz“ könne, „ein gemauert in das Selbstverständnis einer anderen Epoche, ... wie zu Dorfrichter Adams Zeiten erst dann eingreifen, wenn im chemi schen Universum das traditionelle Relikt eines ,Einzeltäters‘ ding fest gemacht“ sei. Das sei „eine Spezies, die in der legalisierten In ternationale des Schad- und Giftstoffverkehrs allerdings auch ausgestorben“ sei, so daß „nahezu perfekt Alltäterschaft in Frei spruch verwandelt“ werde173. Stellungnahmen dieser Art hätte man gerne näher erläutert. Denn immerhin wird deutlich - mehr bei 171 Siehe H. Lübbe (1994), Moralismus oder fingierte Handlungssubjektivität in kom plexen historischen Prozessen. 172 Jonas (1979), Das Prinzip Verantwortung, S. 8 f. 173 Beck (1988), Gegengifte, S. 10f.
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Beck als bei Jonas daß im Übergang von der Reaktion auf Schä den aus Handlungen einzelner zur Reaktion auf Schäden aus Hand lungen mehrerer ein Problem gesehen wird. Im Unterschied zu Jo nas, der seine Parenthese weiter gar nicht kommentiert, unterstellt Beck ja explizit ein Versagen der herrschenden Zurechnungspraxis. Freilich ist mit der Entgegensetzung von „Alltäterschaft“ und „Ein zeltäterschaft“ die Schwierigkeit der Lage kaum überzeugend auf den Begriff gebracht. Wer ist denn der „Alltäter“, der da durch die Maschen des Gesetzes schlüpft, nachdem mit „alle“ offenbar nicht alle Einzelnen gemeint sind? (Wären sie gemeint, ließen sie sich ja nach und nach mit den nach „Einzeltätern“ ausgeworfenen Netzen der Justiz fangen.) Auch die Formulierung von Jonas ergäbe wenig Sinn, wenn es ihm, statt um die Handlungen eines Einzelsubjekts, nun schlicht um Handlungen seitens mehrerer oder vieler Einzel subjekte ginge. Vielmehr geht es ausdrücklich um Handlungen einer anderen Sorte von Subjekt („nicht mehr des Einzelsubjekts“). Dessen positive Benennung hat sich der Autor vielleicht auch des halb erspart, weil man von Mehrfachsubjekten üblicherweise über haupt nicht und von Kollektivsubjekten nicht ohne nähere Erläute rung des Gemeinten zu sprechen pflegt. In denjenigen Teilen der Verantwortungsliteratur, die sich spe ziell mit dem Thema der „kollektiven Verantwortung“ befassen174, gibt es denn auch deutlicher als sonst in verantwortungsethischen Texten eine Tendenz zur Diskussion handlungstheoretischer Grundlagenfragen. Das liegt daran, daß man sich seines Gegenstan des nicht sicher ist. Daß es individuelles Handeln, also Handlungen natürlicher Personen gibt, muß man dem Leser nicht erst plausibel machen. Hier hat die Ethik ihr traditionelles, selbstverständliches Betätigungsfeld. Umstritten ist dagegen, worauf der Ausdruck „kol lektives Handeln“ referiert. Referiert er überhaupt auf etwas, das eine eigenständige Bezeichnung verdient und damit geeignet wäre, den Gegenstandsbereich der Ethik zu erweitern? Gebräuchliche einschlägige Sätze, etwa Schlagzeilen wie „Mafia ermordet Chefan kläger“, gelten zwar niemandem als sinnlos. Aber es wird doch be stritten, daß hier tatsächlich eine Handlung der Mafia vorliege. Handlungsfähigkeit, so argumentieren methodologische Individua 174 May/Hoffman (1991), Collective Responsibility; French (1984), Collective and Cor porate Responsibility; Mellema (1988), Individuals, Groups, and Shared Moral Res ponsibility; May (1987), The Morality of Groups; May (1992), Sharing Responsibility, u. v. a.
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listen, komme ausschließlich natürlichen Personen zu. Wenn gleich wohl im Alltagssprachgebrauch Kollektive an die Subjektstelle ge rückt würden, so sei damit ein klarer Sinn nur zu verbinden, wenn die betreffenden Wendungen als Abkürzungen für einen Komplex von Aussagen über die beteiligten Individuen aufgefaßt würden. Insbesondere die Zuschreibung von Verantwortung an solche In stanzen sei, soweit sie überhaupt sinnvoll sei, allenfalls politisch pragmatisch begründbar - etwa als Maßnahme infolge von Schwie rigkeiten beim Nachweis der wahren, nämlich der individuellen Kausalketten, denen die Zurechnung eigentlich zu folgen habe. In der Tat kann man Beispiele nennen, für die mit dieser Stel lungnahme das Wesentliche gesagt zu sein scheint. Das gilt etwa für die aus der zivilrechtlichen Diskussion bekannt gewordenen so genannten DES-Fälle175: Die Mutter der erkrankten Klägerin hatte während der Schwangerschaft ein Medikament zu sich genommen, dessen Kausalität für die Erkrankung der Tochter erwiesen war. Diese klagte auf Schadensersatz, ohne daß feststellbar gewesen wä re, von welchem der damals dieses Mittel herstellenden Produzen ten das eingenommene Medikament stammte. Die Rechtsprechung hat zur Regelung dieser Fälle in der Absicht, die Opfer nicht ent schädigungslos zu lassen, das Konzept der „market share liability“ entwickelt. Danach haftet jeder Produzent nach Maßgabe seines zum relevanten Zeitpunkt innegehabten Marktanteils176. Es ist of fensichtlich, daß hier nicht den individuellen Kausalketten gefolgt, daß also kollektiv gehaftet wird: Bei einer konkreten Klägerin ha ben jeweils alle außer einem der zahlenden Produzenten den Scha den nicht verursacht. Natürlich kann man sagen, daß die Gesamt heit der am Markt vertretenen Produzenten die Gesamtheit der Schäden verursacht habe. Aber die Möglichkeit der Rede von einer Kausalverbindung zwischen den Gesamtheiten ist einfach eine Fol ge der Tatsache, daß konkrete Teile der ersten Gesamtheit konkre te Teile der zweiten Gesamtheit verursacht haben. Da man nicht
175 Siehe Elliott (1988), Torts with multiple causes under US. Law, S. 23-26; Koch (1987), Haftungsprobleme bei Produktspätschäden, S. 103-107. 176 Wir sehen bei diesem Beispiel davon ab, daß die haftenden „Produzenten“ (d. h. Firmen) bereits als einzelne keine Individuen im Sinne des methodologischen Indivi dualismus sind. Im vorliegenden Kontext geht es nur um die Reduzierbarkeit des Kol lektivs der marktbeteiligten Firmen, nicht um die Reduzierbarkeit des Kollektivs „Fir ma X“.
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weiß, welche Teile das sind, gibt es für den Übergang zur kollekti ven Haftung zwar einen Grund, aber keinen in der Sache gelegenen Grund: Nicht das Wissen, sondern das Nichtwissen über den Sach verhalt veranlaßt die gewählte Form der Regelung. Fälle dieser Art sind jedoch nicht typisch für die Fälle, um die es den Vertretern von Konzepten kollektiver Verantwortung geht. Ins besondere handelt es sich ja bei der Menge der auf einem Markt konkurrierenden Produzenten gar nicht um ein Kollektiv in dem Sinne, in dem etwa auch alltagssprachlich von einer (sozialen) Gruppe die Rede ist. Betrachten wir dagegen folgenden Fall: Die Geschäftsführerversammlung eines Unternehmens fällt einen (hier der Einfachheit halber: einstimmigen) Beschluß, ein Produkt nach Eingang von Schadensmeldungen weiterhin zu vertreiben, worauf hin zusätzliche Personen geschädigt werden. Eine Zerlegung der Kausalverbindung zwischen der Personengesamtheit auf der Ur sachenseite (Menge der Geschäftsführer) und der Schadensgesamt heit auf der Wirkungsseite (Menge der Personenschäden) in Teil kausalitäten im Sinne der DES-Fälle läßt sich hier offensichtlich nicht nur aus epistemischen Gründen nicht vornehmen. Jede einzel ne Ja-Stimme bewirkt jeden Teil des Gesamtschadens tatsächlich nur mit den anderen Stimmen zusammen. Die Bündelung der von den Individuen ausgehenden Kausalketten ist bereits eine Bünde lung in der Realität und nicht erst eine Bündelung seitens des Zu rechnungstheoretikers oder Zurechnungspraktikers, der den Fall behandelt. Hier gibt es mithin für den Übergang zu kollektiver Zu rechnung eine Basis in der Sache selbst: Es ist nicht unser Nicht wissen, sondern unser Wissen über den Sachverhalt, das die kollek tive Zurechnung veranlaßt. Ein drittes Fallbeispiel liegt zwischen den beiden behandelten Fällen und ist daher zur weiteren Differenzierung geeignet. Es be trifft eine durch Entforstung der Wassereinzugsgebiete verursachte Überschwemmung im Unterlauf eines Flusses. Eine Brücke wird von den Wassermassen eingerissen und einige sie überquerende Passanten ertrinken. Hier liegt keine Bündelung der Beiträge der verursachenden Individuen (d. h. der einzelnen Forstbesitzer) durch einen gemeinsamen Beschluß vor. Insoweit gleicht das Beispiel den DES-Fällen. Gleichwohl ist eine kausale Zurechnung von Teilen des Schadens auf einzelne Verursacher nicht möglich. (Sie wäre selbst dann nicht möglich, wenn bekannt wäre, welche der beteilig ten Wassermoleküle aus welchem Teil des gesamten Einzugsgebiets stammen). Insoweit gleicht der Fall dem Geschäftsführer-Beispiel. 125 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
Ein Zusammenwirken von Individuen, d. h. eine Bündelung der von ihnen ausgehenden Kausalketten kann eben auch ohne Verabre dung der Individuen vorliegen. Es ist dieser, den zweiten wie den dritten Fall umfassende Be reich kollektiver Verursachung, der im folgenden interessiert. Denn die objektive Verflechtung der von unterschiedlichen Individuen ausgehenden Kausalketten ist es, die zu Schwierigkeiten bei der in dividuellen Zurechnung führt. Die Frage dagegen, wer mit wem in welchem Sinne ein „Kollektivsubjekt“ bildet, wird durch die Wahl dieses Untersuchungsbereichs noch gar nicht präjudiziert. Die Me taphorik, deren Umkreis das Bild der „Verflechtung“ kausaler Ver läufe entstammt, spielt in der Geschichte der Kausalitätstheorie und näherhin in der Geschichte des Reduktionismusproblems eine prominente Rolle. Es handelt sich um die Textilmetapher, die John Stuart Mill seiner einflußreichen Erläuterung der Induktionsme thoden im dritten Buch der Logik zugrundegelegt hat177. Er schreibt dort: „Eine gewisse Thatsache erfolgt unabänderlich, sobald gewis se Umstände vorhanden sind, und erfolgt nicht, wenn sie abwesend sind; dasselbe gilt von einer anderen Thatsache und so fort. Aus diesen gesonderten Fäden der Verbindung zwischen Theilen des großen Ganzen, das wir Natur nennen, setzt sich unausweichlich ein allgemeines Gewebe zusammen, durch welches das Ganze zu sammengehalten wird“178. Das Auflösen des Gewebes in seine Be standteile, nämlich die Fäden, dient Mill als Bild für den Vorgang der Induktion: „... der Ausdruck Naturgesetze bedeutet nichts an deres als die Gleichförmigkeiten, die unter Naturphänomenen vor handen sind (oder mit anderen Worten die Ergebnisse der Induction), sobald sie auf ihren einfachsten Ausdruck zurückgeführt sind. Es ist jedoch immerhin etwas, auch nur zu der Einsicht gelangt zu sein, daß die Erforschung der Natur die Erforschung von Gesetzen, nicht von einem Gesetze ist, von Gleichförmigkeiten in der Mehr zahl; . daß (um unsere frühere Metapher aufzunehmen) die Re gelmäßigkeit, die in der Natur vorhanden ist, ein aus gesonderten Fäden zusammengesetztes Gewebe ist, das man nur dadurch er 177 Mill (1968), System der deduktiven und induktiven Logik (zuerst engl. 1843), 2. Band, 3. Buch. Für eine ausführliche Analyse siehe W. Lübbe (1993a), Die Fäden im Gewebe der Natur. Von Historikern des (zum Reduktionismusbegriff komplemen tären) Emergenzbegriffs wird der Ursprung der einschlägigen Debatten auf Mill zu rückgeführt, siehe Hoyningen-Huene (1994), Emergenz, Mikro- und Makrodetermina tion, S. 166, mit weiteren Nachweisen. 178 Mill (1968), 2. Band, S. 1.
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gründen kann, daß man jeden der Fäden für sich verfolgt, zu wel chem Behüte es oft nothwendig ist, einen Theil des Gewebes auf zulösen und die Fasern gesondert aufzuzeigen“179. Obwohl Mill hier nicht über das Kollektivismusproblem spricht, läßt sich eine Beziehung unschwer herstellen: Für methodologische Individualisten sind Kollektive Teile des Gewebes, die aufzulösen sind, weil nicht sie als Ganze, sondern ihre Bestandteile die eigent lichen kausalen Agentien sind. Wiederum treten bei der Anwen dung dieses Gedankens auf das erste der drei Fallbeispiele (die DES-Fälle) nur epistemische, aber keine kategorialen Probleme auf. Das gesonderte Aufzeigen der „Fäden“ würde bei voller Infor mation über den Sachverhalt keine Schwierigkeiten bereiten. Denn es bestehen tatsächlich isolierte kausale Verbindungen zwischen Teilen des Produzentenkollektivs und Teilen des Gesamtschadens - isoliert nämlich in dem Sinne, daß die Wirkung des Medikaments der Firma A bei der Geschädigten X nicht daran gebunden ist, daß Firma B zugleich Y schädigt. Anders im zweiten und dritten Fall: Hier sind zwar ebenfalls die Kollektive aus Individuen zusammen gesetzt. Aber die von diesen ausgehenden kausalen Verläufe lassen sich nicht „jeder für sich verfolgen“. Denn die interessierenden Wir kungen (die Schädigungen der Produktbenutzer im Geschäftsfüh rerfall und die der Brückenbenutzer im Überschwemmungsfall) treten bei isolierter Verfolgung einzelner „Fäden“ nicht etwa zum Teil, sondern gar nicht auf. Daraus folgt in keiner Weise, daß Kol lektive etwas anderes seien als die Summe der beteiligten Indivi duen. Aber es muß doch zugegeben werden, daß es Fälle gibt und zwar zahlreiche und jedermann vertraute Fälle -, in denen das Resultat des Zusammenwirkens der Individuen etwas anderes ist als die Summe der Resultate des Alleinewirkens der Individuen. In ihren Wirkungen sind dann die Individuen untrennbar. Diese Tat sache ist es, die - soweit in solchen Fällen dennoch zugerechnet werden soll - zu Schwierigkeiten bei der Zuschreibung individuel ler Verantwortung führt. Die Probleme, die die Fälle der von Mill sogenannten „Verflech tung von Wirkungen“180 für sein Induktionsprogramm und für das mit ihm verbundene Kausalitätsverständnis aufwerfen, habe ich an
179 Mill (1968), 2. Band, S. 4f. 180 Mill (l968), 2. Band, 3. Buch, Capitel X: Von der Vielzahl der Ursachen und der Verflechtung von Wirkungen, S. 142-167.
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anderer Stelle diskutiert181. Wir befassen uns im folgenden Ab schnitt speziell mit der Frage, wie solche Fälle handlungstheoretisch auf den Begriff zu bringen sind - also dann, wenn die kausalen Fak toren von Handelnden gesetzt werden. Auch hier wird sich - wie schon im dritten Kapitel - zeigen, daß in den üblichen, alltags sprachlich plausiblen Umgang mit der handlungstheoretischen Begrifflichkeit normative Zurechnungsgesichtspunkte mannigfacher Art bereits eingebaut sind. Um die Rekonstruktion einiger dieser Gesichtspunkte geht es im folgenden. 2. Kollektive Verursachung und individualistische Handlungstheorie Im Rahmen der philosophischen Handlungstheorie wurden die „many person actions“ erst relativ spät überhaupt thematisiert, aber dann doch rasch als eigenständiges Problem anerkannt. Etwa seit den achtziger Jahren sind sie auch ausführlich monographisch be handelt worden182. Zwar ist es auch in umfassenderen Monogra phien zu handlungstheoretischen Fragen noch heute gang und gäbe, die gewählten Thematiken am gewohnten Beispielfeld der Hand lungen einzelner abzuhandeln. Aber in Einleitungen oder Anmer kungen wird immerhin hier und dort auf die Lücke aufmerksam gemacht, die insoweit hinsichtlich der Frage der Anwendbarkeit der entwickelten Theorien auf Fälle besteht, die als Handlungen einzelner nicht plausibel beschrieben sind. Und darunter sind ja, wie erwähnt, zahlreiche gegenwärtig praktisch besonders erhebli che Fälle. So schreibt etwa Gottfried Seebaß in der Einleitung zu seinem als Grundlegung einer Zurechnungslehre angelegten Buch183, er werde „das Problem der multiplen Täterschaft“ - also den Fall, in dem „mehrere zusammen als Täter der komplexen Ver richtung in Frage stehen“ - hier nicht behandeln. Eine Behandlung dieser Thematik könne freilich gegebenenfalls „fundamentale, kon zeptionell bedeutsame Revisionen erfordern“. Dies sei vor allem dann der Fall, wenn die gemeinsame Täterschaft in einem Sinne zu 181 Siehe Anm. 177. 182 Kritisch zum individualistischen Bias der analytischen Handlungstheorie z. B. Ware (1988), Group Action and Social Ontology. Vor allem durch die Schriften von Raimo Tuomela (1984, 1989, 1991, 1995 u. ö.) ist das Thema der Handlungen mehrerer als solches bekannt gemacht, freilich auch in gewisser Weise besetzt worden. 183 Seebaß (1993b), Wollen.
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verstehen wäre, „der nicht bzw. nicht vollständig auf den entschei denden, aktiven Anteil“ aller Betroffenen an relevanten, individuell zuzurechnenden Teilhandlungen zurückzuführen ist“184. Der Autor deutet an, daß er dies für unwahrscheinlich, also die „„individuali stische“ Fundierung des Handlungsbegriffs“ für erfolgversprechend hält. Insbesondere Raimo Tuomela habe hierfür ein ausgearbeitetes begriffliches Instrumentarium bereitgestellt185. Diese Sicht der Dinge kann als die in der gegenwärtigen ana lytischen Handlungstheorie vorwiegend vertretene Sicht gelten. Ich möchte gleich hinzufügen, daß ich die mit der zitierten Position verbundene zurechnungspraktische Tendenz des Festhaltens am Prinzip individueller Verantwortlichkeit weitestgehend teile186. Al lerdings glaube ich nicht, daß individuelle Verantwortlichkeit durchweg als Verantwortlichkeit für relevante „Teilhandlungen“ einer komplexen Gesamtverrichtung konstruiert werden kann oder daß das auch nur wünschenswert wäre. Im folgenden soll das an hand einer Auseinandersetzung mit einigen relevanten, für die in dividualistisch ausgerichtete Theorie der „many person actions“ charakteristischen Zitaten aus Texten von Tuomela näher erläutert werden. Bevor wir uns dieser Auseinandersetzung zuwenden, sei jedoch nochmals erinnert: Die von der Mehrzahl der Handlungstheoreti ker zum Thema gemachten Handlungen einzelner sind nicht etwa mit ontologischer Eindeutigkeit nicht von der im folgenden zu be handelnden Problematik betroffen. Zu schlechterdings jedem Er eignis, von dem wir sagen, es sei Tat einer bestimmten Person, ge hören außer der oder den von dieser Person gesetzten Ursachen weitere Eintrittsbedingungen, die die betreffende Person nicht selbst gesetzt hat - und sei es nur das Faktum der eigenen Existenz. In modernen Lebenszusammenhängen insbesondere sind wir nicht als Pioniere in Steppe oder Urwald, sondern in einer auf mannigfa che Weise bereits kultivierten Welt tätig. Hier gibt es praktisch kei ne Handlungssituation, in der die außerhalb des betrachteten Sub jekts gelegenen Bedingungen seines Tuns (und damit auch die Auswirkungen dieses Tuns) nicht auf die eine oder andere Weise auch Auswirkungen der Handlungen anderer wären. Die Gesichts punkte, nach denen sich der Handlungen zurechnende Blick mit 184 Ebd. S. 19. 185 Ebd. S. 19 f. mit Anm. 16. 186 Dazu - m. E. überzeugend - Seebaß (1993a), Kollektive Verantwortung.
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mehr oder weniger großer Selbstverständlichkeit auf dieses oder jenes Subjekt oder eben auf mehrere Subjekte richtet, bleiben all tagstheoretisch inexplizit. Sowohl die Theoretiker der Einzelhand lung als auch die Theoretiker der „many person actions“ ersparen sich die Explikation der Konstituierungsbedingungen ihres jeweili gen Gegenstandes, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf alltagstheo retisch prima facie eindeutige Fälle richten. Der dabei unexpliziert bleibende Hintergrund verliert jedoch - das mag das Beispiel des Tankerunglücks187 plausibel gemacht haben - seinen Selbstver ständlichkeitscharakter mehr und mehr. Es lohnt es sich also, ihn zu problematisieren. Zunächst aber soll im Anschluß an die soge nannte philosophy of social action der Blick auf Fälle gerichtet wer den, die als Paradigmen für multiple Täterschaft gelten können. Raimo Tuomelas188 individualistische Grundhaltung hat, was für unseren Zusammenhang nicht unerheblich ist, auch eine Basis in seinem Kausalitätsverständnis. Das kommt zum Beispiel in folgen der Stellungnahme zur sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung zum Ausdruck: Diese „should conform to one’s tendency to think individualistically of ontological matters, especially causation, so that causation due to holistic entities is regarded as merely derivative“189. Das entspricht offenbar der im letzten Abschnitt be 187 Siehe oben S. 122. 188 Es ist eine unerfreuliche Angelegenheit, zu versuchen, eine systematische Über sicht über Tuomelas genaue Position hinsichtlich begrifflicher bzw. terminologischer Einzelfragen zu gewinnen - etwa zum Verhältnis der Begriffe „social“, „joint“, „collective“ und „holistic“, oder von „individualistic“ und „strictly individualistic“, oder von „group-level“ und „individual (or, better, ,joint-individual‘) level“ (letzteres in 1991, S. 259) -, zumal Tuomela seine erläuternden Texte mit zahlreichen Hindernis sen, ihn beim Wort zu nehmen, versieht („broadly“, „briefly“ und „metaphorically speaking“, „somehow“, „so to speak“, „in some weak sense“ usf.). Leider geht der Autor zugleich ziemlich harsch mit Kritikern um, die, anstatt anhand speziell kon struierter Gegenbeispiele kleine Änderungen oder Ergänzungen zu seinen Definitio nen vorzuschlagen, sich bemühen, die Stellung des Autors zu Debatten von allgemei nerem Interesse zu rekonstruieren; siehe Leist (1985), Eine individualistische Theorie sozialen Handelns. Zu Raimo Tuomelas ,A Theory of Social Action“, und die Replik Tuomela (1986), Replies to the Critics of ATheory of Social Action, z.B. S. 232: „... he appararently has not read through the book nor has he even looked up the 49 different notions referred to in the index by the phrase ,social action‘“. Dieser Zumutung habe nach hoffnungsvollem Start - auch ich mich schließlich verweigert. 189 Tuomela (1984), A Theory of Social Action, S. 28; zum Holismus-Problem jetzt auch Tuomela (1995), The Importance of Us, Kap. 9, S. 356ff., hier z.B. S. 362: „If a holistic social entity . is to have causal impact on the world, so to speak, surely that impact must at bottom be exerted and come about due to some concrete individual persons (and their actions, interactions, and various relevant relationships).“
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schriebenen Position, derzufolge Sätze über Handlungen von Kol lektiven in Sätze über Handlungen der beteiligten Einzelpersonen auflösbar sein sollen, weil die Einzelpersonen die eigentlichen kausalen Agentien seien. In vielen Fällen leuchtet es nun zwar all tagstheoretisch ein, daß Kollektive im Verhältnis zu den sie konsti tuierenden Individuen ontologisch sekundär sind. Wer wollte be streiten, daß zum Beispiel die Rede von einer Gruppe von drei Möbelpackern (die gemeinsam einen Umzug bewerkstelligen) die Möglichkeit der Rede von den einzelnen Möbelpackern voraus setzt, während umgekehrt die Rede von den einzelnen Möbel packern die Möglichkeit der Rede von der Dreiergruppe nicht vor aussetzt. Aber damit ist weder gesagt, daß die Gruppe der Möbelpacker ontologisch „nichts anderes als“ Möbelpacker A plus Möbelpacker B plus Möbelpacker C sei, noch wäre mit einer sol chen Reduktion des Kollektivs die ontologische Reduzierbarkeit der ihm zugeschriebenen Handlungen in Teilhandlungen der betei ligten Einzelpersonen gesichert. Zum ersten Punkt - im Unterschied zum zweiten Punkt, der das eigentliche Thema dieses Abschnitts betrifft - kann ich mich an dieser Stelle nur kurz äußern. Man sieht sofort, um welches Pro blem es sich handelt, wenn man die Rede von der Gruppe dreier Möbelpacker zum einen auf den beschriebenen Fall der drei am Umzug beteiligten Personen und zum anderen auf drei beliebige, einander gänzlich unbekannte Möbelpacker aus drei verschiedenen Firmen in drei verschiedenen Städten bezieht. Die erste Gruppe ist als Gruppe irgendwie realer als die zweite, und das liegt gewiß nicht an einem etwa unterschiedlichen Grad der realen Existenz der hier und dort beteiligten Individuen. Vielmehr liegt es daran, daß zwi schen den Personen der ersten Gruppe soziale Beziehungen beste hen - sie sind eine Gruppe im sozialen Sinne des Wortes190. Die Ontologie dieser Beziehungen muß offenbar irgendwie zu der als „Möbelpacker A plus Möbelpacker B plus Möbelpacker C“ bezeichneten Entität hinzukommen, wenn die Ontologie der Gruppe gelungen sein soll. Die komplizierte Frage, ob bzw. in welchem Sin ne eine „individualistische“ Ontologie sozialer Beziehungen mög190 Zur Nichtidentität auch nichtorganisierter Gruppen mit der Summe ihrer Mitglie der z. B. French (1984), Collective and Corporate Responsibility, z. B. S. 22; zusätzliche Probleme (insbesondere: Kontinuität des Kollektivs trotz Wechsels der Mitglieder) treten bei organisierten Kollektiven auf, dazu ebd., z.B. S. 27ff.; eingehende Kritik verschiedener summativer Ansätze anhand des Konzepts des „collective belief“ bei Gilbert (1989), On Social Facts, Kap. V.
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lieh ist, möchte ich hier nicht behandeln. Tuomela selbst hat sich insbesondere mit der Analyse von Personenmehrheiten befaßt, die sieh mindestens dadurch als soziale Gruppen qualifizieren, daß ihre Mitglieder bei der Verfolgung irgendwelcher Zwecke Zusammenar beiten. Die soziale Bezogenheit der Beteiligten wird dabei als Kom plex von wechselseitigen Annahmen und Erwartungen konstruiert. Dazu gehören insbesondere Erwartungen bezüglich der „Teilhand lungen“ anderer. Insoweit würde also eine individualistische Ana lyse sozialer Beziehungen eine Antwort auf unsere zweite Frage voraussetzen - nämlich auf die Frage nach der Reduzierbarkeit der Gruppenhandlung in Teilhandlungen. Es mag so sein, daß selbst dann, wenn die Antwort insoweit negativ ausfiele, von einer ge lungenen individualistischen Reduktion der sozialen Beziehung ge sprochen werden kann, da es sich immerhin um Annahmen und Er wartungen von Individuen (wenn auch - gegebenenfalls - über irreduzibel Nichtindividuelles) handelt191. Diese Frage mag man so oder so beantworten - im vorliegenden Kontext hängt davon nichts ab. In vielen Fällen wird man tatsächlich mit der Teilung einer Grup penhandlung in Teilhandlungen keine Schwierigkeiten haben. Zum Beispiel könnten die drei Möbelpacker den Umzug so bewerkstel ligt haben, daß jeder von ihnen einen Teil des Hausrats aus dem alten Haus in den Möbelwagen und einen Teil aus dem Möbelwa gen in das neue Haus getragen hat, wobei einer der Drei zusätzlich den Wagen gefahren hat. Dann läßt sich zwar nicht bezüglich des „Umzugs“ als solchen und vielleicht, zum Beispiel, auch nicht be züglich des Prozesses „Transport des Vogelkäfigs“ behaupten, sie seien von einzelnen Individuen bewerkstelligt worden. Aber die mittels dieser Beschreibungen aus der Wirklichkeit herausgehobe nen Prozesse lassen sich so umbeschreiben, daß sie als Summe von Teilprozessen sichtbar werden, deren Subjekte eindeutig Indivi duen sind: A hat den Vogelkäfig in den Wagen getragen, B hat ihn im Wagen von hier nach dort gefahren usw. Die Teilbarkeit des Ge samtprozesses erscheint hier als Funktion der Teilbarkeit der Weg strecke, die der Käfig insgesamt zurückgelegt hat. Ebenso ist die Teilbarkeit des Vorgangs „Ausräumen des Möbelwagens“ eine Funktion der Teilbarkeit der Gesamtmenge der auszuräumenden Gegenstände in einzelne Gegenstände. Wenn freilich ein schweres Möbel wie zum Beispiel das Klavier von den drei Möbelpackern 191 Vgl. dazu Mandelbaum (1955), Societal Facts.
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zusammen getragen wurde, ist trotz der Teilbarkeit der zurückge legten Wegstrecke und trotz der prinzipiellen Teilbarkeit auch des Gegenstandes selbst die Auskunft, jeder habe das Klavier ein Stück weit getragen oder habe einen Teil des Klaviers getragen, ersicht lich nicht korrekt. Welcher Teil soll es denn gewesen sein, den zum Beispiel A (der etwa auf der Treppe am oberen Ende angefaßt hat) getragen hat? Oder wie sonst soll der Anteil am Gesamtverlauf (oder an passend gewählten zeitlichen Teilen des Gesamtverlaufs), den angeblich einzig A bewirkt hat, benannt werden?192 Situationen, in denen mehrere Personen zusammen einen schweren Gegenstand tragen, sind nun gerade die typischen Bei spiele, an denen Tuomela erläutert hat, was er unter „joint actions“ (und deren intentionalem Korrelat, den sogenannten „we-intentions“) versteht193. In den Definienda für diese Konzepte kommt immer wieder der Ausdruck „his part of X“ vor, wobei X die ge meinsame Handlung bezeichnet (zum Beispiel „to carry this heavy table upstairs“194). Wo die Teilhandlungen einzeln benannt werden, 192 Zur von Tuomela gelegentlich angedeuteten Möglichkeit, es könne an die Teilbar keit des Gewichts des getragenen Gegenstandes angeknüpft werden (siehe Tuomela [1989], What Does Doing One’s Part of a Joint Action Involve?, S. 199 f.), ist folgendes zu sagen: In der Tat gehört das Gewicht eines Gegenstandes zu seinen teilbaren Eigen schaften. Und in der Tat lastet auch auf jedem der Träger zu einem gegebenen Zeit punkt ein bestimmter Teil des Gesamtgewichts. Freilich kann nicht gesagt werden, welche Teile der Masse, die insgesamt soundsoviel wiegt, jeder trägt. Im übrigen ver ändert sich während des Gesamtvorgangs fortwährend der getragene Anteil am Ge samtgewicht, so daß entweder eine sehr detaillierte (freilich notwendig diskontinuier lich bleibende) zeitliche Aufteilung des Gesamtverlaufs hinzukommen oder bezüglich des Gesamtverlaufs von einem je getragenen Durchschnittsgewicht gesprochen wer den müßte, der als solcher natürlich keinen ontologischen Status hat. Zudem gilt, daß das Transportieren des Gewichts nur ein Aspekt des Vorgangs „Transportieren des Klaviers“ ist. Die Umbeschreibung dieses Vorgangs in den Vorgang „Transport eines Gewichts von soundsoviel Kilogramm“ ist tatsächlich keine bloße Umbeschreibung, sondern eine Abstraktion. Käme es - nämlich unter Zurechnungsgesichtspunkten einzig auf diesen Aspekt des Vorgangs an (ob das so ist, ist keine Frage der Ontologie), wäre insoweit das Getane mit der genannten Einschränkung tatsächlich teilbar. Frei lich kommt es im gegebenen Fall auf das Gewicht allein wohl nicht an. Unter Zurech nungsgesichtspunkten interessiert zum Beispiel auch, ob man sich auf der Treppe in der oberen oder in der unteren Position befindet, in der das Tragen schwerer Gewichte biophysikalisch erheblich einfacher ist. Die Teilwirkung, die das Anfassen oben im Unterschied zum Anfassen unten hat, ist jedoch am (wie auch immer umbeschriebe nen) Gesamteffekt nicht unterscheidbar. - Zur mit diesen Überlegungen bereits ange schnittenen Frage der Verantwortungsteilung vgl. Abschnitt IV.3. 193 Z.B. Tuomela (1995), The Importance of Us, S. 229 und passim. 194 Tuomela (1991), We Will Do It An Analysis of Group-Intentions, S. 249, S. 252.
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geschieht das meist mittels Symbolen195. Nur in Fällen, in denen die Teilung des Gesamtverlaufs in Handlungen der einzelnen Beteilig ten auch alltagstheoretisch funktioniert, wird gelegentlich explizit gesagt, um welche Verläufe es sich denn nun handelt196. Im zuletzt zitierten Aufsatz, der seinem Titel nach eine Aufklärung über das hier angesprochene Problem erwarten ließe, wird zwar allerlei über die Normabhängigkeit von Arbeitsteilung gesagt. Es wird auch be merkt, daß die Beschreibung der Teile „non-trivial“ sei und daß häufig „ex ante actu“, d.h. bei der Planung einer Tat darüber gar nicht im Detail entschieden werden könne. Aber zum Problem der prinzipiellen Teilbarkeit findet sich dann doch die Behauptung, daß „after the joint crime, their parts - what they actually did - can be described in great detail“197. Diese Behauptung halte ich mit Blick auf zahlreiche Fälle von „joint actions“ nicht nur für uneingelöst, sondern schlicht für falsch. Wenn sich einige der in diesem und im letzten Abschnitt gegebenen Beispiele gegen die Zerlegung in Teilhandlungen sperren, so ist das keine Folge mangelnder Detailliertheit der Beschreibung. Betrach ten wir, um das noch einmal deutlich zu machen, folgenden Vor gang: Die drei Möbelpacker lassen auf der vorletzten Treppenstufe gleichzeitig (auf Kommando) das Klavier los und springen beiseite, so daß das Klavier unter Auflösung in zahlreiche Einzelteile wieder im Erdgeschoß landet. Auch einer noch so detaillierten Beschrei bung dieser „Zerstörung des Klaviers“ werden jene Teilvorgänge, die angeblich jeder der Beteiligten allein getan oder verursacht hat, nicht zu entnehmen sein. Gewiß läßt sich sagen, daß jeder seine 195 Tuomela (1989), S. 200: „Xi, ..., Xm are parts of X ...“; ebenso - und in unserem Kontext wichtiger - „r1, rm“ für die „results . of part-actions“ des „full result event r of X“ (ebd. S. 199); siehe auch Tuomela (1995), S. 82. 196 Zum Beispiel Tuomela (1989), What Does Doing One’s Part of a Joint Action Involve?, S. 197: „Suppose Kalle and I jointly write a book. My share is to write the first part of the book, while Kalle’s is to do the rest.“ Dieser Aufsatz ist - mit in unserem Zusammenhang unwesentlichen Revisionen - eingegangen in Tuomela (1995), The Importance of Us, Kap. 2, S. 94 ff. Die im Beispiel angesprochenen Buchteile sind of fensichtlich Teile einer Textmasse, die als Ganze in der Tat dadurch entsteht, daß ihre einzelnen Sätze, Kapitel oder sonstwie benannten Teile geschrieben werden. Freilich unterscheiden sich auch hier Bücher, die wirklich „zusammen geschrieben“ wurden, von Büchern, deren alleine geschriebene Teile lediglich zusammengeheftet wurden nämlich dadurch, daß jeder Autor einen (in der Wirkung unabtrennbaren) Einfluß auf die Gedanken genommen hat, die in den vom je anderen Autor formulierten Text eingegangen sind. 197 Tuomela (1989), S. 199; ebenso Tuomela (1995), S. 95.
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eigenen Hände vom Klavier entfernt hat und nicht die seiner Kolle gen. Die einzelnen Körperbewegungen sind in der Tat in einem un problematischen Sinne Werk der beteiligten Einzelpersonen. Aber wir pflegen ja auch sonst die Rede von Handlungen („what they actually did“) und erst recht die Antwort auf die Frage, was ein Individuum bewirkt oder verursacht hat, nicht auf die sogenannten Basishandlungen zu beschränken. Und was die von den Basishand lungen ausgehenden Kausalketten betrifft, so gilt eben, daß sie sich - mit Mill zu sprechen - verflechten. Es ist also gerade die Unrich tigkeit der oben zitierten Grundannahme, daß Kausalität individua listisch zu denken sei, die die Unrichtigkeit des zugehörigen hand lungstheoretischen Reduktionismus zur Folge hat198. Daß Kausalität nicht individualistisch zu denken sei, soll freilich nicht heißen, wir täten besser daran, zur „causation due to holistic entities“199 zurückzukehren. Auch unter verantwortungstheoreti schem Gesichtspunkt weiß man ja im Falle der Möbelpacker nicht einmal, was es heißen soll, anstelle der beteiligten Individuen das Kollektiv für den Schaden verantwortlich zu machen200. Weder Frei 198 Es ist möglich, daß Tuomela die Irreduzibilität der Handlungsresultate zahlreicher „joint actions“ nicht bestreiten würde. Seine Behauptung, „joint actions“ ließen sich in Teilhandlungen der beteiligten Individuen zerlegen, würde sich dann nur auf die Ba sishandlungen und deren vor der Verflechtung der Wirkungen eintretende (also noch allein verursachte) Folgen beziehen. Gegen diese Deutung spricht die gelegentliche Rede von einer Zerlegbarkeit des „full result event r of X“ in ein „set of results r1, ..., rm of part actions“ (Tuomela 1989, S. 199); in Tuomela (1995), S. 82, wird freilich ge sagt, daß die Teilresultate r „generieren“ (womit gemeint sein könnte, daß sie r kausal hervorbringen, und nicht, daß r aus ihnen besteht oder in sie zerlegbar ist). - Vermut lich hängt die mangelnde Explizitheit hinsichtlich des hier ins Zentrum gerückten Pro blems bei Tuomela damit zusammen, daß seine Theorie nicht zurechnungstheoretisch ausgerichtet ist: Die Frage, ob bzw. in welchem Sinne X mit dem Resultat r (also die „joint action“ selbst und nicht nur Xi, d. h. die individuelle Basishandlung mit ihren vor der Verflechtung mit den Handlungen anderer eintretenden Folgen) Ai zugerech net werden kann - die Frage also, ob Ai Täter von X ist, interessiert im Grunde nicht. Zurechnungstheoretisch muß diese Frage interessieren, weil gegebenenfalls erst mit r das Ereignis eintritt, um dessen Zurechnung es geht. Für dieses Problem liefert - ent gegen der oben (S. 129) zitierten generellen Vermutung von Seebaß - Tuomelas Theo rie keine Lösung, j a nicht einmal Gesichtspunkte. 199 Siehe den Text zu Anm. 189, S. 130. 200 Im diskutierten Beispiel geht es nur um das Kollektiv der drei Möbelpacker, nicht zum Beispiel um das Kollektiv der Firma, bei der sie gegebenenfalls angestellt sind. Die zivilrechtliche oder - in einigen Ländern - auch strafrechtliche Haftung juristi scher Personen kann selbstverständlich von der Haftung natürlicher Personen unter schieden werden. Eine Verbandshaftung ohne jegliche (insbesondere: ökonomische) Einbußen für natürliche Personen (ggf. auch für die Kunden, auf die Firmen Geld
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heitsstrafen noch Geldstrafen sind hier am Kollektiv exekutierbar, wenn die Individuen unbehelligt in ihrer Freiheit und in ihrem Ver mögen nach Hause gehen dürfen. Kausalitätstheoretisch entfällt die Notwendigkeit, das Kollektiv zur Ursacht zu erheben, schon des halb, weil man nicht nur die sogenannte Gesamtursache eines Er eignisses als Ursache zu bezeichnen pflegt. Vielmehr bezieht sich die Rede von Ursachen regelmäßig auf Teilursachen eines Ereignis ses. Der nichtreduktionistische Aspekt auch dieses Kausalitätsver ständnisses steckt in der Tatsache, daß man Teilursachen eines Er eignisses gleichwohl als Ursachen dieses Ereignisses und nicht etwa als Ursachen relevanter („eigentlich“ verursachter) Teile des Ereig nisses anzusprechen pflegt. Und das ist nicht bloß alltagssprachliche Ungenauigkeit. Das mußte auch der in Sachen Kausalität reduktionistisch gesonnene Mill spätestens dort zugeben, wo die Tauglich keit seiner Kausalitätstheorie sich außer an Beispielen aus der Me chanik auch an Beispielen aus Wissenschaften wie der Chemie und der Physiologie hätte erweisen sollen201 - von den Gesellschaftswis senschaften ganz zu schweigen. Das hier geltend gemachte Merkmal unseres Kausalitätsver ständnisses prägt ganz selbstverständlich auch die handlungstheore tische Begrifflichkeit. Das wird sofort ersichtlich, wenn man an ganz gewöhnliche Fälle von „one person actions“ denkt, die ihre Resul tate ebenfalls niemals allein bewirken. Jedes Anknipsen einer Lam pe oder Lüften eines Zimmers, auch jede Sachbeschädigung, Kör perverletzung, Urkundenfälschung oder was es auch sei, setzt neben der relevanten Körperbewegung des Täters weitere Bedingungen voraus, ohne deren Vorliegen die Körperbewegung das interessie rende Ereignis nicht bewirkt hätte. Gleichwohl erstreckt sich so wohl die Rede von dem, was bewirkt wurde, als auch die Beschrei bung der „Tat“ gegebenenfalls auf die ganze ins Auge gefaßte Wirkung. Die Kriterien, nach denen aus den durch die Körperbewe strafen über die Preise abwälzen können) ist freilich auch hier nicht denkbar. Wir kommen darauf in Abschnitt IV.5. zurück; vgl. Volk (1993), Zur Bestrafung von Unter nehmen, mit einer knappen Darstellung der diskutierten Instrumente und der Argu mente dafür und dagegen. 201 Siehe Mill (1968), System der deduktiven und induktiven Logik, 2. Band, 3. Buch, Kapitel VI, § 1: Es gibt zwei Arten der vereinigten Wirksamkeit von Ursachen, die mechanische und die chemische, S. 66-70, z. B. S. 69: „Bis zu welchem Grade wir auch unsere Kenntniß von den Eigenschaften der verschiedenen Bestandtheile eines leben den Körpers vervollkommnet und erweitert denken mögen, so ist es doch gewiß, daß nie ein bloßes Zusammenaddieren der gesonderten Thätigkeit jener Elemente die Thätigkeit des lebenden Körpers selbst ergeben wird.“
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gung einer Person in Gang gesetzten Kausalketten dasjenige her ausgehoben wird, was noch als Handlung dieser Person gelten soll, sind in den alltagssprachlichen Umgang mit dem Handlungsbegriff eingebaut. Sie sind bereits in Fällen, in denen die Charakteristik eines Vorgangs als Einzelhandlung unproblematisch erscheint, nicht trivial. Die bekannteste und wichtigste Begrenzung wird hier durch das bereits diskutierte Kriterium der Voraussehbarkeit gelei stet. Aber bereits bei dessen Anwendung wird, wie oben gezeigt202, nicht auf pure kognitive Möglichkeiten, sondern auf so oder so ver teilbare Pflichten zu ihrer Nutzung Bezug genommen. Im vorlie genden Zusammenhang geht es nun speziell um die in Fällen der Beteiligung mehrerer relevanten Zurechnungsgesichtspunkte. Inso weit wurde bisher nur so viel geklärt: Sie sind jedenfalls nicht schon deshalb mit den an Einzelhandlungen entwickelbaren Gesichts punkten schlicht identisch sind, weil Handlungen mehrerer bereits ihrer kausalen Seite nach in Wirklichkeit nichts anderes als ungenau beschriebene Mengen von Handlungen einzelner wären. Der kau salen Seite nach gilt vielmehr, daß fast alle Handlungen einzelner in Wirklichkeit Handlungen mehrerer sind - genauer: wären, wenn sich die Verwendung des Handlungsbegriffs schlicht am Faktum der Kausalität (oder auch nur der voraussehbaren Kausalität) orien tieren würde. Tatsächlich hat im Bereich der Jurisprudenz das Interesse an dem in der älteren Diskussion203 im Mittelpunkt stehenden Thema der Kausalität stark abgenommen. Daran ist das im Zuge der Verdrän gung des Naturalen204 immer universeller werdende Phänomen der untrennbaren kausalen Verflochtenheit unseres Tuns nicht ganz un beteiligt. Zahlreiche Gesichtspunkte, die damals als Streitfragen zur Kausalität behandelt wurden, sind seither ausgelagert worden und werden heute, an Komplexität stets zunehmend, unter dem Ti tel der sonstigen objektiven Zurechnung behandelt205. Die Auslage 202 Siehe Abschnitt II.2. 203 Damit sind hier die Autoren gegen Ende des letzten Jahrhunderts gemeint. Auf die Klassiker dieser Zeit - zur Kausalität vor allem Glaser, v. Bar, v. Buri, v. Kries, Rad bruch - beziehen sich noch die heutigen Lehrbücher zurück. 204 Siehe Abschnitt II.l. 205 Was ehemals die sogenannte Unterbrechung des Kausalzusammenhangs (durch einen Handelnden, der in den von einem anderen Handelnden ingang gesetzten Kau salverlauf eingreift) leistete, wird heute oft ohne Bezug auf die Kausalität unter dem Stichwort Regreßverbot behandelt; Funktionen der Adäquanztheorie der Kausalität (siehe die folgende Anm.) werden vom Institut der Sozialadäquanz oder von der Figur des „Schutzzwecks der Norm“ übernommen; usw. Zum Problemfeld der objektiven
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rung bedeutet zugleich den Verzicht auf die Ausbildung einer spe zifisch juristischen (also speziell nach zurechnungspraktischen Ge sichtspunkten eingerichteten) Kausalitätstheorie. Dieser Verzicht ist unter dem Gesichtspunkt einer möglichst weitgehenden Über einstimmung der juristischen mit der alltagstheoretischen Verwen dung der betroffenen Begriffe nicht unzweckmäßig. Die alltags theoretische Verwendung des Kausalitätsbegriffs ist zwar ihrerseits nicht völlig frei von zurechnungstheoretischen Gesichtspunkten206. Aber sie ist doch insgesamt erheblich weniger davon geprägt als die Verwendung der handlungstheoretischen Begrifflichkeit. Zu den für die Zurechnung von Handlungsfolgen erheblichen Gesichtspunkten gehören jedoch nach wie vor auch solche, die sehr wohl im Rahmen einer allgemeinen (nicht spezifisch juristisch aus gerichteten) Kausalitätstheorie explizierbar sind. Über die Art der nomologischen Beziehung, die zwischen einer Teilursache (einem sogenannten kausalen Faktor) und einer Gesamtwirkung besteht, läßt sich unter Umständen auch rein kausalitätstheoretisch mehr sagen als bloß dies, daß der kausale Faktor - wie alle anderen betei ligten Faktoren - eine Bedingung207 des Eintritts des Gesamtwir kung war. Insbesondere lassen sich gegebenenfalls Unterschiede im Grad der Gefährlichkeit der beteiligten Faktoren kausalitäts theoretisch explizieren. In Fällen, in denen man die Verantwortlich keit für einen untrennbar gemeinsam herbeigeführten Schaden auf die Beteiligten verteilen möchte, sind Analysemöglichkeiten in die ser Richtung ersichtlich von großem zurechnungstheoretischem In Zurechnung umfassend Frisch (1988), Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs. 206 Ein Beleg für die zurechnungstheoretische Prägung auch des Kausalitätsbegriffs ist die Tatsache, daß sogenannte zufällige Verursachungen alltagstheoretisch meist nicht als Kausalzusammenhänge kategorisiert werden. Ein Beispiel bietet der oben (S. 47) erwähnte Fall der Verursachung einer zeitlichen Verzögerung, aufgrund derer das Opfer genau zum Zeitpunkt des Lawinenniedergangs die entsprechende Stelle der Paßstraße befährt. Insoweit ist der (die zufällige Verursachung ausschließende) adä quanztheoretische Kausalitätsbegriff alltagssprachennäher als der auf das bloße Be dingungsverhältnis abstellende äquivalenztheoretische (auch: bedingungstheoreti sche) Kausalitätsbegriff. Zu diesem aus der älteren Diskussion stammenden Begriffspaar siehe Hart/Honore (1985), Causation in the Law (zuerst 1959), Part III: The Continental Theories, S. 431 ff., und W. Lübbe (1993b), Die Theorie der adäquaten Verursachung. 207 Zur heute vorherrschenden, vor allem mit dem Konzept der INUS-Bedingung auch juristisch bedeutsam gewordenen Form der Bedingungstheorie siehe Mackie (1974), The Cement ofthe Universe; zur strafrechtlichen Rezeption Schulz (1994), Kau salität und strafrechtliche Produkthaftung, S. 56-60.
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teresse (und in Alltagsurteilen auch tatsächlich am Werk). Einigen Aspekten des Problems der Möglichkeit und Wünschbarkeit von Verantwortungsverteilung für Schäden aus Handlungen mehrerer wenden wir uns im nachfolgenden Abschnitt zu. 3. Verantwortungsverteilung Die Frage, ob und gegebenenfalls wie die Verantwortung für einen gemeinsam herbeigeführten Schaden unter den Beteiligten aufge teilt werden soll, ist in den Debatten über kollektive Verantwortung vor allem am Beispiel nichtorganisierter Gruppen behandelt wor den. Das liegt insofern nahe, als in organisierten Gruppen (zum Bei spiel in Firmen) häufig auf intern bereits verteilte Zuständigkeiten zurückgegriffen werden kann. Dann erscheint ein Schaden meist unmittelbar als Folge des Handelns (nämlich des im Unterschied zu den anderen Beiträgen fehlerhaften Handelns - oder Unterlas sens) einer bestimmten Person208. Freilich gibt es auch in ad hocGruppen ohne institutionalisierte Entscheidungsstruktur interne Aufteilungen von Zuständigkeiten für benennbare Teilverrichtun gen - zum Beispiel bei zusammen spielenden Kindern, bei den drei Möbelpackern unseres Beispiels aus dem vorigen Abschnitt oder bei den Mittätern eines Banküberfalls. Die Unterscheidbarkeit und Benennbarkeit von Teilverrichtungen ist dabei mit der Unteil barkeit eines interessierenden Gesamteffekts durchaus vereinbar. So war ja auch die Unterscheidbarkeit von „oben Anfassen“ und „unten Anfassen“ beim Transport eines Klaviers mit der Unteilbar keit des Vorgangs „Transport des Klaviers“ vereinbar209: Die von den Handelnden ausgehenden, in ihren Wirkungen sich verflech tenden Kausalketten können zunächst getrennt verlaufen und tun es normalerweise mindestens im ersten Stadium, nämlich dem der Körperbewegung, häufig allerdings auch darüber hinaus. So können bei einem gemeinsam begangenen Mord gegebenen falls die Beiträge der Täter so beschrieben werden, daß der kräf tigere A das sich heftig wehrende Opfer festgehalten habe, während B es am Hals gepackt und dann zugedrückt habe. Die eingeschränk te Bewegungsfähigkeit des Opfers ist dabei (vor Eintritt der Wir kung des Sauerstoffmangels) ein Beitrag allein des A. Die Behaup 208 Darauf kommen wir in Abschnitt IV.5. zurück. 209 Vgl. oben S.132ff.
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tung, daß umgekehrt der Sauerstoffmangel ebenso eindeutig Bei trag allein des B sei, wäre natürlich falsch: Das Zupacken und Zu drücken des B hat im hier vorausgesetzten Fall die genannte Wir kung nur dadurch, daß A das Opfer an erfolgreicher Gegenwehr hindert. Was den Tod des Opfers angeht - also die Wirkung, um deren Zurechnung es geht -, so ist er nicht teilbar. Insoweit ist mit der gegebenen Beschreibung der Teilverrichtungen auch der als „Tötung“ benannte Vorgang nicht erfolgreich geteilt. Vielmehr sind lediglich zwei separat zurechenbare Kausalfaktoren benannt wor den, die sich in der interessierenden Wirkung unteilbar verflechten. Die Unterscheidbarkeit von Teilverrichtungen durch Angabe un terscheidbarer Kausalfaktoren einer interessierenden Wirkung ist also nicht zu verwechseln mit der Teilbarkeit des die interessieren de Wirkung mitumfassenden Vorgangs. Gleichwohl kann bei einer eventuellen Teilung der Verantwortung der unterschiedliche Cha rakter der noch separat zurechenbaren Teile des Vorgangs eine er hebliche Rolle spielen. Im gerade analysierten Beispiel leuchtet nun freilich nicht ein, daß die Verantwortung irgendwie geteilt werden sollte. Plausibel ist vielmehr, daß jeder der Beteiligten für den ganzen Effekt be straft wird - also so wie jemand, der eine andere Person allein ge tötet hat. In der Tat erstreckt sich in solchen Fällen auch die Rede von dem, was jedes der beteiligten Einzelsubjekte „getan“ hat, auf den Gesamteffekt. D.h., es wird von jedem der Beteiligten gesagt werden, er sei ein Mörder, er habe einen Menschen getötet usw. Die Tatsache, daß hier einer der zur Körperbewegung des je betrachte ten Subjekts hinzukommenden Kausalfaktoren von einem anderen Subjekt ausging, ist für die Zurechenbarkeit des Gesamteffekts zum einzelnen Subjekt offenbar irrelevant. In der philosophischen Ver antwortungsliteratur ist die Meinung, daß Verantwortung nicht ge teilt werden sollte, unter dem Namen „Anti-Dilutionismus“ vorge stellt worden210. Bei Gregory Mellema lautet - zunächst mit Blick auf Fälle, in denen bei einer Abstimmung mehrere Personen einer schädigenden Maßnahme zustimmen - die Charakteristik dieser Position so: „... the extent to which one incurs moral responsibility ... is not affected by the fact that other moral agents are likewise 210 Siehe Mellema (1985), Shared Responsibility and Ethical Dilutionism; Mellema (1988), Individuals, Groups, and Shared Responsibility, bes. Kap. 4 und 5, mit Darstel lung weiterer Autoren. Zum Sachproblem auch Leist (1989), Kollektive Güter und individuelle Verantwortung, dazu unten Anm. 268, S. 170.
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responsible“211. Diese These wird dann auch anhand von Beispielen anderer Art diskutiert und verteidigt - so an dem (von J. Feinberg stammenden) Fall eines Bankraubs: Zwei Personen führen den Raub aktuell durch und andere Personen liefern vorweg oder im Anschluß an die Tat Beiträge unterschiedlicher Art, von der Er munterung über das Leihen von Waffen, das Fahren eines Flucht fahrzeugs und das Verstecken der Täter bis hin zur Nichtanzeige212. Man würde erwarten, daß ein Anti-Dilutionist auch in diesem Fall jeden einzelnen, der einen Beitrag zum Gelingen des Bank raubs geleistet hat, für diesen voll und ganz verantwortlich machen müßte. Tatsächlich wird man vom Autor über den eigentlichen In halt seiner Position folgendermaßen aufgeklärt: Sie sei nicht so ge meint, daß dem Unterschied von „major and minor roles“213 bei der Herbeiführung eines schädigenden Resultats nicht Rechnung getra gen werden könne. Vielmehr sei lediglich (wie oben zitiert) ge meint, daß der Grad der Verantwortung eines jeden Beteiligten in keiner Weise davon abhänge, daß noch andere Subjekte an der Schadensherbeiführung beteiligt waren. Da dies für den Anti-Dilutionisten irrelevant sei, sei die Verantwortlichkeit jedes Beteiligten gerade so, wie sie wäre, „if his actions (supplying weapons with the intent that they assist in the robbery) had brought about the outcome (the robbery of the bank) in the absence of any other agents who share responsibility for it“214. Für die Durchführung der hier verlangten kontrafaktischen Überlegung bedarf es natürlich ge nauerer Anweisungen. Denn bei ersatzloser Abwesenheit aller an deren Beteiligten hätte die „Versorgung mit Waffen“ (soweit eine so beschriebene Handlung ohne zu versorgende Personen überhaupt stattfinden kann) jedenfalls den Bankraub nicht bewirkt. Tatsäch lich werden wir aufgefordert, uns eine Welt vorzustellen, in der die kausalen Rollen der anderen Täter von (schuldunfähigen) Robo tern wahrgenommen werden, die der Waffenlieferant freilich nicht programmiert habe215. Da offenbar auch kein sonstiger Täter die Roboter programmiert haben darf, verbleibt zwar eine gewisse Un-
211 Mellema (1985), S. 177. Mellema (1988) weicht hinsichtlich dieser und der im fol genden zitierten Stellen nicht in sachlich erheblicher Weise ab. 212 Mellema (1985), S. 182. 213 Ebd. S. 181. 214 Ebd. S. 182. 215 Ebd. S. 182.
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geklärtheit der Situation, in der man seine moralischen Intuitionen spielen lassen soll. Aber der Autor sieht darin weiter kein Problem. Jedenfalls sei klar, daß der Grad der Verantwortlichkeit des Waf fenlieferanten („call it degree n“) auf diese Weise nicht mit Blick auf das Faktum der Beteiligung anderer bestimmt werde und daß er gleichwohl nicht mit dem (analog zu ermittelnden) Grad der Ver antwortlichkeit der jeweils anderen Täter identisch sein müsse. Wir führen die vorgeschlagene Überlegung kurz an einem Bei spiel durch, bei der auch die kontrafaktisch vorzustellende Welt eine Welt von der uns bekannten Art ist. Dann sieht man nämlich sofort, daß die Behauptung, es ließe sich auf die geschilderte Weise auch im Rahmen des Anti-Dilutionismus den „minor und major roles“ Rechnung tragen, falsch ist. Die wirkliche Situation sei die, daß der Beteiligte A („minor role“) dem Opfer einen Stoß gibt, woraufhin der Beteiligte B („major role“), die momentane Hilflo sigkeit des Opfers ausnutzend, dessen Schädel mit einem Stein zer trümmert. In der zum Zweck der Elimination multipler Täterschaft abgeänderten Situation - wir eliminieren B - gibt ebenfalls A dem Opfer einen Stoß. Dies geschieht natürlich mit der (von Mellema ja auch im Falle des Waffenlieferanten unterstellten) Intention, daß dies zum Eintritt des fraglichen Resultats beitragen möge. Die Rol le des B wird von einem tiefen Abgrund übernommen: In diesen stürzt das Opfer im Moment der Hilflosigkeit hinein, wobei beim Aufprall ein Stein seinen Schädel zertrümmert. Ein naturales Äqui valent für den Stoß des A mag sich jeder selbst ausdenken. Jeden falls ist klar, daß im Falle ihres jeweiligen Alleinehandelns sowohl A als auch B ganz unzweideutig für das Resultat in gleicher Weise voll verantwortlich sind. Entsprechend gilt: In einer Welt, die so eingerichtet wäre, daß es unter geeigneten (naturalen) Umständen lediglich des Beschaffens einer Waffe bedürfte, um einen Bankraub zu bewerkstelligen, wäre der Waffenlieferant ganz ebenso ein Bankräuber, wie es in der wirklichen Welt diejenigen sind, denen er die Waffen geliefert hat. Insgesamt zeigt sich: Der Vorschlag von Mellema führt auch dort zu anti-dilutionistischen Resultaten, wo man zwischen hauptsäch lich Beteiligten (strafrechtlich: Tätern) und nebensächlich Beteilig ten (strafrechtlich: Gehilfen) gerne einen Unterschied machen wür de. Die vom Autor mit seinem Vorschlag angezielte Position dagegen ist, auch wenn sie nicht so genannt wird, dilutionistisch. Denn es soll in ihrem Rahmen je nach Tatbeitrag partielle (statt jeweils voller) Verantwortlichkeiten für das in Frage stehende Re 142 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
sultat geben216. Mindere Verantwortlichkeit im Sinne bloßer Gehil fenschaft ist nun aber an die Existenz eines Haupttäters gebunden. Niemand kann sich zum bloßen Gehilfen des Abgrunds erklären, in den er das Opfer absichtlich hineingestoßen hat. Insofern ist - ent gegen der Hauptthese des Autors - die Frage, was andere beigetra gen haben bzw. ob überhaupt andere etwas beigetragen haben, in zahlreichen Fällen durchaus relevant für das Ausmaß der Verant wortung am Gesamtresultat, das das je betrachtete Subjekt trifft. In der strafrechtlichen Beteiligungsdogmatik217 werden die für eine Zuschreibung unterschiedlicher Verantwortlichkeiten ein schlägigen Gesichtspunkte seit langem ausführlich diskutiert218. Eine generelle, für alle Fälle multipler Täterschaft passende Ant wort auf die Frage, ob man (der Sache nach) „Dilutionist“ oder „Antidilutionist“ zu sein habe, wird dort nicht gegeben und auch nicht gesucht. Vielmehr unterscheidet schon das Gesetz zwischen Fällen sogenannter Mittäterschaft, bei denen jeder der Beteiligten als Täter der Gesamttat haftet, und Fällen, in denen einzelne Betei ligte lediglich als sogenannte Teilnehmer (Anstifter oder Gehilfen)
216 Der Autor bemerkt das durchaus (ebd. S. 183). Er nimmt es, anstatt als Anlaß zu gründlicherer Begriffsbildung zum Anlaß, ad hoc eine neue Schublade für seine Posi tion zu bilden: Es handle sich um „moderate anti-dilutionism“. 217 Was das Zivilrecht angeht, so ist Verantwortungsteilung einfach deshalb am Platz, weil es um Schadensersatz geht. Die Teilung der „Verantwortung“ ist hier eine Teilung des Geldbetrags, auf den das Opfer insgesamt Anspruch hat. Wie eine gerechte Tei lung aussieht, wenn zum Beispiel einer der Haftenden seiner Streupflicht nicht nach gekommen ist und der andere an der betreffenden Stelle zu schnell gefahren ist, so daß insgesamt der Wagen ins Schleudern gerät und einen Passanten verletzt - darüber kann man ersichtlich unterschiedlicher Meinung sein. Im Zivilrecht kommt also das Anteilsproblem gerade wegen der Quantifizierung der Schäden in Geldeinheiten und wegen des direkten Bezugs von Schadenshöhe und Sanktionshöhe voll zum Tragen. Als Überblick Larenz/Canaris (1994), Lehrbuch des Schuldrechts, 2. Bd., 2. Halbbd., § 82: Die Haftung mehrerer Schädiger, S. 563-584; siehe auch Assmann (1988), Multi kausale Schäden im deutschen Haftungsrecht; Brüggemeier (1990), Die Haftung mehrerer im Umweltrecht: Multikausalität - Nebentäterschaft - „Teilkausalität“. - Die gelegentlich prinzipiell daherkommende Abwehr gegen Verantwortungsteilung in der verantwortungsethischen Literatur (zum Beispiel Lenk (1994), Macht und Machbar keit der Technik, S. 128: „Moralische Verantwortung ist nicht teilbar oder ablenkbar“) zeigt immerhin, daß moralische Verantwortung nicht haftrechtlich verstanden wird. Aber auch für den in der Art des Vorwurfs verwandteren strafrechtlich relevanten Bereich ist eine solche Position viel zu undifferenziert. 218 Als Überblick über die bekannteren Ansätze zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme z. B. Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, § 25, Rn. 1-161 (Roxin); aus führlich Roxin (1994b), Täterschaft und Tatherrschaft, bes. S. 546ff.
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zur Verantwortung gezogen werden219. Im Laufe der Diskussion zur Abgrenzung dieser beiden hauptsächlichen Beteiligungstypen sind zahlreiche Kriterien herangezogen worden: Grad der Zustimmung zum Erfolg, des Eigeninteresses am Erfolg, generelle Gefährlich keit des Beitrags, Leichtigkeit seiner Ersetzbarkeit, Zeitpunkt des Beitrags usw. Die meisten Kriterien sind kontinuierlich variabel, so daß schon aus diesem Grund eine diskontinuierliche Typenbildung und dann auch die Einordnung konkreter Fälle etwas Willkürliches an sich haben muß. Überdies ist das relative Gewicht, das einem relevanten Faktor im Verhältnis zu anderen zukommt, nicht auf in tersubjektiv nachvollziehbare Weise angebbar. Auch insoweit ver bleibt daher ein selbst bei Aufbietung maximalen Scharfsinns nicht zu verkleinernder Beurteilungsspielraum220. Ich verzichte auf weitere Informationen über die allgemeinen Debatten zur Beteiligungslehre und konzentriere mich im folgen den Abschnitt auf die Figur der Mittäterschaft. Den Fragekontext liefern die bislang zum Verhältnis von handlungstheoretischer Teil barkeit und Verantwortungsteilung gemachten Bemerkungen. Im folgenden geht es speziell darum, zu zeigen, daß in Mittäterschafts fällen nicht nur für unteilbare Resultate, sondern unter Umständen auch für handlungstheoretisch tatsächlich individuell zurechenbare Teilverrichtungen von allen Beteiligten gehaftet wird. Der Umfang des Zugerechneten ist insoweit nicht nur weiter als der Umfang des allein Ausgeführten. Vielmehr ist er unter Umständen auch weiter als der Umfang des mit anderen Ausgeführten - also weiter als der Umfang des überhaupt selbst Ausgeführten. Inwieweit dies dem 219 Siehe § 25 StGB (Täterschaft): „(1) Als Täter wird bestraft, wer die Straftat selbst oder durch einen anderen begeht. (2) Begehen mehrere die Straftat gemeinschaftlich, so wird jeder als Täter bestraft (Mittäter).“ Zum Fall des Begehens „durch einen an deren“ (sog. mittelbare Täterschaft) s. u. S. 146, Anm. 226. Der Begriff des Teilneh mers (Anstifter, geregelt in §26, oder Gehilfe, geregelt in §27) wird in §28 definiert. § 27 Abs. 1 lautet: „Als Gehilfe wird bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat.“ 220 Dieser Tatsache trägt unter den juristischen Täterschaftstheorien zum Beispiel die Position von Schmidhäuser (1975), Strafrecht, S. 575-577, (sogenannte „Ganzheits theorie“) Rechnung. Andere Autoren bleiben „wegen der dadurch geschaffenen Un sicherheit“ (so Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, § 25, Rn. 11 [Roxin]) skeptisch. Freilich besteht ein Unterschied zwischen der „Schaffung“ von Unsicherheiten durch ungenaue Analyse scharfer Grenzen einerseits und durch genaue Analyse unscharfer Grenzen andererseits. Letztere schließt die Erkenntnis der Unschärfequelle ein nämlich einer trotz Erkennbarkeit nicht beseitigbaren Unschärfequelle. Damit ist zu mindest Sicherheit über die Grenzen der erreichbaren Sicherheit geschaffen.
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Prinzip individueller Verantwortlichkeit widerspricht und inwie weit eine solche Praxis dennoch wünschenswert ist, verdiente auch mit Blick auf die immer relevanter werdenden Probleme der Täter schaft in deliktischen Organisationen221 ausführlicher diskutiert zu werden, als das im folgenden möglich ist. Immerhin wird sich zei gen, daß auch in diesem Bereich die alltagssprachlichen Üblichkeiten, nach denen wir uns richten, wenn wir sagen, jemand habe etwas „getan“, zu einer Anpassung an sich verändernde Zurechnungsbe dürfnisse tendieren. Im vorliegenden Problembereich tendieren sie zu einer Abkoppelung vom Kriterium der aktuellen Ausführung oder Mitausführung der Tat. 4. Mittäterschaft als Institut kollektiver Zurechnung Wir hatten gesehen, daß bei Vorgängen mit multipler Täterschaft, die in bezug auf das interessierende Resultat nicht in Teilhandlun gen zerlegbar sind, doch separat zurechenbare Kausalfaktoren un terschieden werden können, die dann meist auch als Teilhandlun gen benennbar sind - so im Mordbeispiel das Festhalten des Opfers einerseits und das Zudrücken am Hals andererseits222. Nun gibt es aber auch Mittäterschaftsfälle, in denen von einem „interessieren den Resultat“ nicht nur mit Bezug auf das unteilbare Endergebnis (hier: Tod des Opfers), sondern schon mit Bezug auf individuell zu rechenbare Zwischenresultate gesprochen werden muß223. Ein Bei spiel: Während eines Bankraubs setzt der Mittäter A (der die An gestellten in Schach hält, während B den Tresor ausräumt) seine Waffe abredegemäß auch tatsächlich gegen den Kassierer ein und tötet ihn. Hier ist neben dem Raub auch die Tötung ein interessie rendes Resultat. Ersichtlich erlaubt in einem solchen Falle die All tagssprache nicht den Kommentar, daß (auch) B den Kassierer getötet habe. Gleichwohl haftet B der jedenfalls in der Rechtspre chung herrschenden Meinung nach mittäterschaftlich (also im Er gebnis wie ein Einzeltäter) für dieses im Rahmen des (gemeinsa men) Raubs begangene Delikt. 221 Siehe dazu Anm. 257 und Anm. 258 sowie den zugehörigen Haupttext. 222 S. o. S. 139 f. 223 Was ein interessierendes Resultat ist, hängt im Strafrecht von der im Gesetz vorge gebenen Typisierung der Tatbestände ab. Siehe hierzu und zum folgenden Rudolphi (1979), Zur Tatbestandsbezogenheit des Tatherrschaftsbegriffs bei der Mittäterschaft.
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Daß B insoweit für die Tat eines anderen hafte, ist freilich nicht die herrschende Meinung. Von Claus Roxin zum Beispiel wird diese Interpretation explizit zurückgewiesen: Es sei „eine sehr sonderba re, mit dem Schuldprinzip schwerlich in Einklang zu bringende An nahme, daß jemand als Täter für etwas bestraft werden soll, was ein anderer aus eigener Verantwortung getan hat“224. Demgegenüber solle daran festgehalten werden, daß man als Mittäter durchaus für eigene Taten bestraft wird. Die gerade zitierte Bemerkung findet sich im Kontext der Behandlung des Problems, ob das von Roxin zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme herangezogene Tatherrschaftsprinzip auch für Mittäterschaftsfälle geeignet sei. Das Tatherrschaftsprinzip lautet: Täter ist, wer den zum deliktischen Erfolg führenden Verlauf beherrscht. Roxin gibt zunächst zu: „Selbst wenn wir uns die Beteiligung so intensiv wie möglich denken und etwa vom Fall des Bankräubers ausgehen, der die An gestellten mit der Pistole in Schach hält[225], müssen wir doch sagen: Die Handlungsherrschaft hat er nicht, weil er das Geld nicht weg nimmt; und die Willensherrschaft hat er auch nicht, weil der die gesetzlichen Tatumstände verwirklichende Genosse weder ,unfrei‘ noch ,blind‘ handelt“226. Zur Lösung wird das Konzept der soge nannten „funktionellen“ Tatherrschaft herangezogen. Mittäter sei danach, „wer auf der Grundlage des gemeinsamen Tatplans die Durchführung der Tat durch seinen Beitrag zusammen mit den übrigen Beteiligten beherrscht“227. Ob bzw. in welchem Sinne dieses „zusammen Beherrschen“ bedeutet, daß „dadurch“ zugleich „jeder“ (statt eben: alle zusammen) „das Schicksal der Gesamttat in der Hand hat“228, bleibt freilich gerade fraglich. Offenbar be herrscht im zitierten Fall der Mann mit der Waffe die Wegnahme des Geldes nur in dem Sinne, daß er (als Einzelner) den Eintritt des 224 Roxin (1994b), Täterschaft und Tatherrschaft, S. 277. 225 Roxin geht es hier nicht - wie in unserem Fall oben - um die Mittäterschaft aller Bankräuber für die Tötung des Kassierers durch den Mann mit der Waffe. Sondern es geht um die Mittäterschaft des Mannes mit der Waffe für die Wegnahme des Geldes. 226 Roxin (1994b), S. 276. Die sogenannte Willensherrschaft ist die Herrschaft des mit telbaren Täters, der eine andere (wegen Unkenntnis der Umstände oder aus anderen Gründen nicht verantwortliche) Person als „Tatwerkzeug“ benutzt. Beispiel: Ein Pfle ger tauscht die Schlaftabletten, bevor sie wie üblich von der Schwester verabreicht werden, gegen optisch gleiche, aber giftige Präparate. 227 So die Formulierung in Roxin (1979), Die Mittäterschaft im Strafrecht, S. 520; vgl. auch (1994b), S. 277: . daß jeder Einzelne im Zusammenwirken mit den anderen das Gesamtgeschehen beherrscht.“ 228 So Roxin (1994b), S. 277.
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deliktischen Erfolgs scheitern lassen kann. Nicht aber beherrscht er den Erfolg in dem Sinne, daß er als Einzelner ihn herbeiführen kann. Auf einen im Sinne des Scheiternlassenkönnens wesentlichen Beitrag zum Erfolg kommt es Roxin offenbar für die Bejahung der Tatherrschaft jedes Einzelnen für das Ganze auch an229. Allerdings soll es sich dabei um einen Beitrag „im Ausführungs stadium“ handeln - im Unterschied zum Vorbereitungsstadium. Denn der bloß Vorbereitende müsse „die Tat ,aus der Hand ge ben““230 und habe daher auch im Sinne des Scheiternlassenkönnens keine Tatherrschaft. Richtig ist, daß er im Ausführungsstadium die Tat nicht mehr scheitern lassen kann. Zu dem Zeitpunkt, an dem er seinen Beitrag zum Erfolg liefert, kann er das unter Umständen durchaus231. Dennoch hat natürlich die Unterscheidung von Vorbereitungs- und Ausführungsstadium ihre Berechtigung. Sie hängt mit dem Tatprinzip zusammen, das die Bestrafung des bloßen Plänema chern verhindern soll. Vom (straflosen) bloßen Wünschen des Er folgseintritts unterscheidet sich das Plänemachen ja nur dann, wenn es mit einem Tatentschluß verbunden ist. Zu dessen Objektivierung bedarf es juristisch des „Ansetzens“ zur Tat. Dieser sogenannte Versuchsbeginn markiert dann auch den Eintritt ins Ausführungs stadium. Über die dabei involvierten Abgrenzungsprobleme (wohin gehört das Beschaffen, das Laden, das Entsichern der Waffe oder das - an sich gegebenenfalls vollständig undeliktische - Betreten des Zimmers des Opfers?) sei hier nichts weiter gesagt. Vielmehr geht es hier um die Konsequenzen, zu denen das Kriterium der Mit wirkung im Ausführungsstadium in Fällen führt, in denen im Rah men der Gesamttat die Arbeit so geteilt ist, daß einzelne (zum Er folg der Gesamttat nötige und auch eingeplante) Delikte von einzelnen Mittätern allein verwirklicht werden. In diesen Fällen kann eben von einer Mitwirkung aller im Ausführungsstadium nicht die Rede sein. Und die Frage ist, ob die Einbindung des be treffenden Teildelikts in einen arbeitsteilig verwirklichten Gesamt plan mehrerer hinreichen soll, um auch die nicht eigenhändig Be
229 Vgl. Roxin (1994b), S. 278, letzter Satz; auch S. 294 unten u.ö. 230 Roxin (1994b), S. 295. 231 Im allgemeinen wird freilich bei einer Verweigerung der Beteiligung im Vorberei tungsstadium die Ersetzung des Betreffenden leichter zu organisieren sein. Aber es sind sowohl Fälle denkbar, in denen die Verweigerung im Vorbereitungsstadium zum Verzicht aller auf die geplante Tat zwingt, als auch Fälle, in denen bei Verweigerung
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teiligten für die Tat voll zur Verantwortung zu ziehen. Wir betrach ten im folgenden einige von Roxin diskutierte Fälle. Unmittelbar einschlägig für unser Problem ist zunächst Roxins Kommentar zu folgendem Fall: „Ein Verbrechensplan wird abrede gemäß so durchgeführt, daß A und B den Nachtwächter X umbrin gen, während anschließend die Tresorknacker C und D in Aktion treten und den Banksafe, den X zu bewachen hatte, ausräumen“232. Anhand dieses Falles exemplifiziert Roxin die These, daß „Gegen stand der Mittäterschaft immer nur die Verwirklichung eines kon kreten Tatbestandes und nicht einer oft verschiedene Tatbestände umfassenden ,Gesamttat‘ ist“233. Daher gelte: „Beim Tatbestand des Raubesp34] sind alle vier Mittäter, weil sie insoweit den Tatbe stand arbeitsteilig verwirklicht haben; für den Mord aber sind nur A und B als Mittäter verantwortlich, während C und D, die nicht bei der Ausführung, sondern nur bei der Planung beteiligt waren, ledig lich als Anstifter oder Gehilfen in Betracht kommen“235. Tatsäch lich ergibt sich diese Lösung konsequent aus dem Kriterium der Mitwirkung im Ausführungsstadium. Darüber, ob sie überzeugend ist, mögen die Intuitionen auseinandergehen. Die zustimmende Po sition kann sich vor allem auf das Tatprinzip stützen. Die Gegen position kann argumentieren, daß die guten Gründe, die im allge meinen für dieses Prinzip sprechen, in Fällen der geschilderten Art nicht greifen. Das sei im folgenden erläutert. Daß der oben genannte Hauptgrund für das Tatprinzip - die mangelnde Strafwürdigkeit eines nicht zum Tatentschluß vordrin genden bloßen Wünschens des deliktischen Erfolgs - im geschilder ten Fall nicht überzeugt, scheint unmittelbar einzuleuchten. An der nötigen Entschlossenheit, auf dem Weg zum angestrebten Erfolg über die Leiche des Nachtwächters zu gehen, mangelt es offenbar keinem der Beteiligten. Freilich ist - hier wie sonst auch, und eben das ist der Grund des Tatprinzips - die Unterstellung einer Tatent schlossenheit ohne Objektivierung dieser Entschlossenheit in einer 232 Roxin (1979), S. 523. 233 Ebd. 234 Der Raub (§ 249 StGB) ist ein qualifizierter Diebstahl (§ 242: die in der Absicht rechtswidriger Zueignung vorgenommene Wegnahme einer fremden beweglichen Sache), nämlich ein Diebstahl „mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“. Der Tatbestand des Raubes wird zur Erläuterung des Mittäterschaftskonzepts häufig herangezogen, weil die Wegnahme und die Drohung oft arbeitsteilig verwirklicht werden. 235 Roxin (1979), S. 523.
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aktuellen Tat heikel. Tatsächlich könnten sich die Tresorknacker C und D darauf berufen, daß sie das ganze Vorhaben fallengelassen hätten, wenn A und B dem schließlich ausgeführten Tatplan nicht zugestimmt und stattdessen eine Ausführung oder Mitausführung des Mordes durch C und D verlangt hätten. Es sei - so C und D ihnen zwar zupaß gekommen, daß A und B zum Mord bereit gewe sen seien. Aber sie selbst hätten sich jedenfalls nicht in dieser Weise die Hände schmutzig machen wollen. Was hätte man von einer sol chen Einlassung zu halten? Zunächst zeigt sie, daß das Problem, ob es zur Zurechnung erforderlich sein soll, sich persönlich „die Hände schmutzig gemacht“ zu haben, durch die Wendung des Blicks auf die Subjektivität der Beteiligten nicht gelöst wird. Ob C und D sich als Mörder empfinden oder sich vielmehr in der beschriebenen Wei se von der Tat distanzieren, kann kein Kriterium dafür sein, ob sie als Mörder behandelt werden sollen. Denn das hieße nichts ande res, als die Frage, ob es zur Zurechnung auf die eigenhändige Betei ligung ankommen soll, davon abhängig zu machen, was C und D dazu meinen. Da es sie entlastet, werden sie mindestens so tun, als meinten sie, es komme darauf an. Um ein normatives Urteil darüber, ob sich eine Entschlossenheit des C und D, bei der Verwirklichung ihres Vorhabens über Leichen zu gehen, in der Leistung ihres Beitrags zum gemeinsamen Plan hinreichend objektiviert habe, kommt man also nicht herum. Eine rechtsdogmatische Stellungnahme dazu kann hier schon wegen der zahlreichen bei solchen Stellungnahmen zu berücksichtigenden rechtssystematischen Gesichtspunkte nicht entwickelt werden. So spielt es - um nur den allereinfachsten Aspekt zu erwähnen - natür lich eine Rolle, ob ein Rechtssystem die Figur des Anstifters vor sieht und wie diese (auch hinsichtlich ihres Strafrahmens) ausgestal tet ist. Als Anstifter (resp. Gehilfen) des Mordes möchte ja auch Roxin die beiden Tresorknacker bestrafen. Zwei weitere Fälle, die wir hier anschließen wollen, zeigen freilich, daß ein konsequentes Ausweichen auf die Figur des Anstifters in Fällen mangelnder Tat beteiligung im Ausführungsstadium die ratio des Mittäterschafts paragraphen gefährdet - nämlich die Idee, daß die arbeitsteilige Verwirklichung eines Delikts die einzelnen nicht von der Verant wortung für das Ganze (und das heißt auch: für alle seine eingeplan ten Teile) entlasten soll. Bei beiden Beispielen geht es um Situationen sogenannten alter nativen (anstatt kumulativen) Zusammenwirkens, zunächst um fol genden Fall: „A und B vereinbaren, den M zu töten. Sie erkunden, 149 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
daß ihr Opfer M nicht immer den gleichen Weg wählt. Um ganz sicher zu gehen, verabreden sie daher folgendes: A soll sich an dem einen Weg in den Hinterhalt legen, B an dem anderen. M wählt am Tattag den Weg, an dem A ihm auflauert und wird von diesem erschossen“236. Roxin kommentiert, daß, obwohl „bei der gebote nen Betrachtung ex ante ... jeder von beiden einen unerläßlichen Beitrag zum Gelingen des Plans“ leiste, doch in dem Sachverhalt ein Problem stecke: „Wenn nämlich das gemeinsame Auflauern nur ein Zusammenwirken bei der Vorbereitung ist und nicht als gemeinsames Tun ins Ausführungsstadium hineinreicht, ist in der Tat eine Mittäterschaft abzulehnen“237. Sein eigenes Urteil lautet jedoch auf Mittäterschaft. Als Begründung wird angeführt: „Auch bei Erscheinen des Opfers, also beim Beginn der Ausführung, hat die Besetzung des ,zweiten Weges“ noch eine wesentliche Funktion: Wenn das potentielle Opfer umkehrt und den zweiten Weg benutzt, weil es auf dem ersten den Attentäter bemerkt oder durch dessen fehlgehenden Schuß vertrieben wird, so wird es dem B in die Arme und um so sicherer in den Tod getrieben“238. Diese Argumentation läuft, wenn sie durchgehalten wird, auf eine Beschränkung der Art der im Rahmen von Mittäterschaft zulässigen Arbeitsteilung hin aus: Es kommt danach darauf an, daß die zur Erreichung des gemeinsamen Zieles nötige Arbeit nicht entlang der (durch die Ty pisierung der gesetzlichen Tatbestände vorgegebenen) Deliktsgren zen, sondern quer zu diesen Grenzen verläuft, so daß an jedem un terscheidbaren Teildelikt jeder ausführend beteiligt ist. Die Art, wie Verbrecherbanden ihre Arbeit teilen, richtet sich freilich normaler weise nach Effizienzgesichtspunkten. Soll man also diejenigen, die der größeren Effizienz halber dem besten Schützen das auf dem Weg zum Erfolg nötige Morden allein überlassen, dadurch beloh nen, daß man sie von der (vollen) Verantwortung für dieses Teil delikt entlastet239? 236 Roxin (1979), S. 524. 237 Ebd. 238 Ebd. 239 Zu dieser - im Rahmen der These von der Nötigkeit einer Mitwirkung im Ausfüh rungsstadium konsequenten - Folgerung kommt zum Beispiel Rudolphi (1979), Zur Tatbestandsbezogenheit des Tatherrschaftsbegriffs bei der Mittäterschaft, S. 383: so versteht sich von selbst, daß eine Mittäterschaft zu verneinen ist, wenn mehrere Per sonen zur Erreichung eines gemeinsamen Zieles in der Weise zusammenwirken, daß jeder von ihnen selbständig und allein einen Straftatbestand verwirklicht.“ Entspre chend lehnt der Autor im zuletzt behandelten sowie in dem im Text folgenden Beispiel
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Daß dies der Effekt der diskutierten Position wäre, mag das fol gende zweite Beispiel zusätzlich veranschaulichen: Es geht um einen (im Original mit hier nicht weiter relevanten Komplizierun gen versehenen) Fall, in dem „drei fliehende Diebe sich verabredet hatten, Verfolger zu erschießen“. Der in der besten Schußposition Befindliche tut das schließlich auch240. Roxin kommentiert, hier sei en „die beiden anderen Mittäter, weil sie gewissermaßen ,Gewehr bei Fuß‘ stehen; sie haben eine wichtige Funktion bei der Tötung, weil sie beim Fehlgehen des ersten Schusses ... sofort eingreifen müssen“241. Soll die volle Mitverantwortung wirklich entfallen, wenn - wie im Fall des Bankräubers, der abredegemäß den Kassie rer in Schach hält und dann auch wirklich schießt - die Lage so ist, daß die Gesamttat am effizientesten organisiert ist, wenn die ande ren nicht ,Gewehr bei Fuß‘ stehen, sondern sich ganz darauf kon zentrieren, den Safe auszuräumen? Ich verzichte auf weitere Erläuterungen zum Konzept der Mit täterschaft, bei dem zahlreiche hier gar nicht berücksichtigte Ge sichtspunkte eine Rolle spielen und gegenwärtig mancherlei syste matische Verschiebungen versucht und diskutiert werden. Das im Vorstehenden Geschilderte hatte lediglich den Zweck, darauf auf merksam zu machen, daß die Frage, ob und wie weit Verantwortung geteilt werden soll, keine strikte Funktion der handlungstheoreti schen Teilbarkeit ist. Selbst Verläufe, die ohne weiteres als Tat einer einzelnen Person beschreibbar sind, können so in ein kollektiv ver abredetes Gesamtgeschehen eingebunden sein, daß eine Entlastung der nicht aktuell Ausführenden unerwünscht erscheint. Auch hier zeigt sich also, daß es heikel wäre, eine (angeblich normativ neu trale) philosophische, insbesondere eine individualistische Hand lungstheorie (als Lehre von dem, was ein jeder „tut“) unbesehen als Grundlage der Zurechnungstheorie (als Lehre von dem, wofür ein jeder verantwortlich ist) zu verwenden. Die gewisse Überein stimmung, die Alltagssprache und Rechtsgefühl zwischen unseren Taten und unserer Verantwortung nahelegen, hat vielmehr umge kehrt den Effekt, daß sich eine Tendenz zur Anpassung der Ver wendung der Handlungsbegriffe (Tat, Täter u. dgl.) an die sich ver ändernden Zurechnungsbedürfnisse einstellt. Juristisch drücken Mittäterschaft ab (S. 379-381); über analoge Konsequenzen in Fällen sukzessiver Mit täterschaft ebd. S. 375-379. 240 Roxin (1979), S. 524. 241 Ebd.
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sich solche Verschiebungen etwa in Formulierungen wie der folgen den aus: „Gewiß, jeder haftet nur für eigene Taten; daß aber eigene Taten nur eigenhändig vollzogene Taten sein könnten und nicht auch fremdhändig vollzogene, ist nicht ausgemacht“242. Alltags sprachlich wäre es zwar, wie erwähnt, ungewöhnlich, in der zuletzt erwähnten Version des Bankraubfalles zu sagen, daß auch der Mann, der den Safe ausräumte, den Kassierer erschossen habe. Aber man wird doch ohne weiteres Kommentare der Art finden, daß „die Bankräuber“ bei ihrer Aktion den Kassierer erschossen hätten, und auch die Qualifikation aller Bandenmitglieder als „Mörder“ würde - selbst dann, wenn bekannt ist, daß nur ein Schuß fiel - keineswegs als sprachgebrauchswidrig auffallen. Solche nicht sprachgebrauchswidrigen Streckungen der Hand lungsbegriffe über das je eigenhändig Ausgeführte hinaus sind es nun freilich auch, die in der Öffentlichkeit und in der Verant wortungsliteratur zu Behauptungen der anfangs243 kritisierten Art führen - daß „die Industrienationen die Lebensgrundlagen der Menschheit zerstören“ usf. Kritikwürdig ist daran, wie nach dem Vorstehenden einleuchten mag, nicht die Abkehr von einem auf individuelle Ausführungshandlungen beschränkten Handlungsbe griff als solche. Kritikwürdig ist vielmehr, daß keine Zurechnungs institute angegeben werden, die es - wie die gesetzlichen Tatbestän de einerseits und zum Beispiel der Mittäterschaftsparagraph andererseits - erlauben, anzugeben, welche Individuen aufgrund einer solchen Behauptung wegen welcher Beiträge für welche deliktischen Erfolge in welchem Maße verantwortlich gemacht werden sollen. An eine schlichte mittäterschaftliche Verantwortung kann ja zum Beispiel mit dem gerade wiedergegebenen Satz kaum gedacht sein. Denn dann bliebe allein schon wegen der zahlreichen Krebs toten, die auf das Konto der steigenden Umweltbelastung gehen, nur noch die kollektive lebenslängliche Internierung. An was aber ist stattdessen gedacht? Mir scheint, daß trotz des deutlich appella tiven Charakters der Äußerung an nichts Konkretes gedacht ist. Daher fühlt sich auch niemand konkret betroffen. Nur durch eine 242 Jakobs (1996a), Akzessorietät. Zu den Voraussetzungen gemeinsamer Organisation, S. 259; siehe auch Jakobs (1995), Anmerkung [zum BGH-Urteil vom 26.7.1994], S. 27: „Wer nicht eigenhändig ausführt, kann stets nur dann für die Tatausführung haften, wenn er einen Grund geschaffen hat, ihm die Ausführung eines anderen als (auch) sein Werk zuzurechnen. Um diese Zurechnung des Verhaltens anderer ist nicht herumzu kommen.“ 243 Siehe S.31f.
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kontrollierte Fortentwicklung der Zurechnungsinstitute kann jeder einzelne wissen, was er tun oder lassen soll und welcher Verstoß ihn in welchem Ausmaß belastet. Die verbleibenden beiden Abschnitte dieses Kapitels befassen sich mit Formen kollektiven Zusammen wirkens, auf die die nichtjuristische Verantwortungsliteratur be sonders häufig Bezug nimmt. Denn es wird unterstellt, daß eine Zurechnungsexpansion mit Blick auf die spezifisch industriegesell schaftlichen Problemlagen hier besonders wünschenswert wäre. 5. Zusammenwirken in hierarchischen Organisationen Die Streckung der Täterschaft über die eigenhändige Ausführung hinaus, soweit sie im Institut der Mittäterschaft positiviert ist, ist an bestimmte enge Voraussetzungen gebunden. Insbesondere ist für die Anwendbarkeit des Mittäterschaftsgedankens nach herrschen der Meinung (neben gleichgewichtigen Beiträgen zum Gesamtver lauf) eine besonders geartete Gemeinsamkeit konstitutiv: Es muß eine (explizite oder konkludente) Verabredung aller Beteiligten zum Gesamtverlauf vorliegen244. Die meisten kollektiven Gebilde, 244 Das Erfordernis des gemeinsamen Tatentschlusses wird in jüngster Zeit - insbe sondere im Umkreis von Günther Jakobs - angezweifelt; siehe Jakobs (1996a), Akzes sorietät. Zu den Voraussetzungen gemeinsamer Organisation; Lesch (1993), Die Be gründung mittäterschaftlicher Haftung als Moment der objektiven Zurechnung; Derksen (1993), Heimliche Unterstützung fremder Tatbegehung als Mittäterschaft; Dar stellung und partielle Kritik bei Danwitz (1994), Ist die Mittäterschaft abhängig von einem gemeinsamen Tatentschluß der Beteiligten? Ein Beitrag zur Zurechnung bei Ar beitsteilung. Es geht darum, daß nun auch die Beteiligungslehre - als ein letztes „Re siduum des Psychologismus“ (Jakobs [1996a], S. 265, Anm. 23) - im Rahmen der Leh re von der objektiven Zurechnung entwickelt werden soll. Kritisch Küpper (1993), Der gemeinsame Tatentschluß als unverzichtbares Moment der Mittäterschaft. Im vorlie genden Kontext dazu nur soviel: Nach Jakobs (1996a, S. 263) soll (bei Mittäterschaft, aber auch bei Beihilfe, d. h. bei nicht gleichgewichtigen Beiträgen) ein Beitrag akzes sorische Haftung (d.h. Haftung für das Gesamtergebnis) begründen, wenn die Tat „speziell so gestaltet wird, daß sie in einen deliktischen Zusammenhang paßt“. Dabei soll es nicht darauf ankommen, ob „der Beteiligte diese Anpassung erkennt, sondern ob er das Angepaßte leistet“, denn es gehe um objektive Zurechnung (ebd.). Akzesso rietät habe „weder bei mittäterschaftlichen noch bei teilnehmenden Beiträgen mit bewußtem und gewolltem Zusammenwirken ... oder sonstigen Innerlichkeiten etwas zu tun“ (ebd. S. 265). Ich sehe nicht, wie die für Jakobs’ Konzept zentrale Unterschei dung zwischen „stereotyp-sozialadäquaten“ (ebd. S. 260 u. ö.) und „angepaßten“ Bei trägen (vgl. ebd. S. 265: „Demnach ist ein Verhalten akzessorisch, wenn es zu einer Ausführung paßt“) durchweg ohne Blick auf die Subjektivität des Beteiligten funk tionieren soll. Denn unter Umständen „passen“ eben auch Handlungen zu einer de-
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von denen heute zunehmend behauptet wird, sie hätten diese oder jene Schädigung bewirkt („Hoechst“, „die chemische Industrie“, „die Drogenmafia“ usf.), haben nicht die Struktur des klassischen Mittäterkollektivs. Obwohl auch in solchen komplexeren Gebilden eine Anpassung von Teilleistungen an ein Gesamtziel stattfindet, ist die Arbeitsteilung meist so organisiert, daß die Beteiligten das (ge gebenenfalls schädigende) Gesamtziel sowie die nicht selbst ausge führten unter den nötigen Teilzielen nicht einmal zu kennen brau liktischen Fortführung, die ihrer äußeren Gestalt nach (bzw. nach dem, was eine ob jektive Maßstabsperson als Folge einer Handlung solcher Gestalt einkalkulieren müß te) als sozialadäquat beschreibbar sind. Die Frage dagegen, ob sie „speziell so gestal tet“ wurden, daß sie passen (d.h., ob sie zwar nicht der äußeren Gestalt nach in unüblicher Weise, aber um der Passung zum Delikt willen gerade hier und jetzt voll zogen wurden) - diese Frage ist oft nur mit Blick auf die Subjektivität des Beteiligten entscheidbar (in die man zum Beispiel durch einen Beleg über eine vorherige Verab redung zum Delikt Einsicht erhalten kann). Um das an einem Beispiel von Jakobs selbst zu erläutern: Wer „beim Aufräumen eines Zimmers ... das Fenster öffnet, damit ein anderer einen Balken hinauswerfen kann, der freilich in unerwarteter Weise einen Passanten trifft“, habe zusammen mit dem anderen „das unerlaubt riskante Verhalten, das unvorsichtige Hinauswerfen des Balkens, durch gemeinsame Organisation be werkstelligt“ (ebd. S. 265). Dies ist final („damit“) formuliert - bleibt die Beurteilung dieselbe, wenn bei identischem äußerem Vorgang die „Innerlichkeiten“ so beschaffen sind, daß das objektiv Angepaßte subjektiv hier und jetzt geleistet wurde, um das Zimmer zu lüften, und ohne die Anpassung zu erkennen bzw. erkennen zu können? Als Beleg dafür, daß das Vorliegen bewußter Koordination nicht entscheidend sei, führt Jakobs nachfolgend dieses Beispiel an: Ein Gastwirt stellt eine ungenügend ge kennzeichnete Flasche giftigen Inhalts in den Schankraum. Der ebenfalls unsorgfälti ge Kellner serviert daraus einem Gast - beide sollen haften (ebd. S. 266). Im Unter schied zu diesem Beispiel ist im Balken-Fall die Handlung des Ersten (das Öffnen des Fensters) eben nicht schon als solche hinreichend gefährlich (d. h. nicht sozialadäquat). Jakobs kommentiert zum Gastwirt-Fall: „Grund zur Haftung sind nicht Verabredun gen, sondern ist die Zuständigkeit für eine unerlaubt riskante Weltgestaltung“ (ebd.). Hier fehlt der Hinweis, daß nicht bewußt mit deliktischem Tun koordinierte Aller weltshandlungen ein geringeres Risikopotential haben (nämlich viel seltener tatsäch lich Schäden mitbedingen) als bewußt mit deliktischem Tun koordinierte (insbeson dere: zum deliktischen Zweck nach Zeit und Ort verabredete) Allerweltshandlungen. Letztere verlieren daher trotz gleicher äußerer Gestalt ihre Sozialadäquanz. So an einem anderen Beispiel auch Jakobs (ebd. S. 264), aber ohne Hinweis darauf, daß der besondere „drastisch deliktische Kontext“ (Prügelei vor dem Ladengeschäft), der den Spartenverkauf inadäquat mache, jedenfalls vom Verkäufer erkannt (oder für ihn er kennbar) sein muß. - Bei diesem Beispiel tritt im übrigen die wichtige zusätzliche Frage auf, ob auch solche Beiträge mittäterschaftliche oder Teilnehmerhaftung be gründen sollen, die (wie der Spatenverkauf) nicht zum Zweck, sondern nur in Kennt nis einer im speziellen Fall drohenden deliktischen Fortführung durch andere vollzo gen werden (also in Verfolgung unabhängiger, d. h. auch ohne den deliktischen Kontext üblicherweise in dieser Form verfolgter Zwecke). Dazu entwickeln der vor liegende und der Schlußabschnitt dieses Kapitels weitere Gesichtspunkte.
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chen. Dabei scheint es jedoch nicht die fehlende Kenntnis allein zu sein, die gegebenenfalls von der Verantwortung entlastet. Soll, zum Beispiel, die gesamte Belegschaft einer Fabrik für Ledersprays we gen Körperverletzung oder auch nur Beihilfe zur Körperverletzung belangt werden, wenn allgemein bekannt geworden war, daß Scha densmeldungen von Benutzern eingegangen sind, und dennoch ,,von oben“ kein Produktions- oder Auslieferungsstop verfügt wur de, woraufhin die Belegschaft wie gewohnt ihre Arbeit fortsetzt? Arbeitsteilung in komplexeren (nichtdeliktischen) Organisatio nen involviert auch die Aufteilung der Zuständigkeiten für die Kon trolle und gegebenenfalls die Verhinderung schädigender Nebenef fekte des primären Organisationsziels. Natürlich müssen sich eine organisationsinterne Aufteilung von Zuständigkeiten und die kom plementäre Entlastung der Unzuständigen nicht eo ipso in rechtli che Zuständigkeiten und Entlastungen transformieren. Auf diesen Punkt kommen wir zurück. In jedem Falle scheint es wenig klärend, davon zu sprechen, daß die Organisationsmitglieder in Fällen wie dem geschilderten immerhin eine „moralische Verantwortung“ hät ten. Eine solche Bekundung zeigt lediglich, daß man sich auf die Härte einer Sanktionierung nach den üblichen Regeln für Körper verletzung nicht einlassen möchte. Sie läßt aber nicht erkennen, worauf man sich denn stattdessen einlassen möchte. Warum soll eine Zuständigkeit der Belegschaftsmitglieder für ihren Beitrag zur Körperverletzung, wenn sie im geschilderten Falle denn bejaht wird, eigentlich nicht entsprechend sanktioniert werden? Das Aus weichen auf die vage, im Appellativen verbleibende „moralische Verantwortung“ wird in der Verantwortungsliteratur gerade dort gerne praktiziert, wo die geltenden juristischen Zurechnungsinsti tute nicht greifen, man sich aber nicht genau überlegt hat, warum sie nicht greifen. Ich vermute, daß hinter dem Appell an die mora lische Verantwortlichkeit von Belegschaftsmitgliedern in Fällen wie dem geschilderten tatsächlich die Vorstellung einer irgendwie ab geschwächten Pflichtenstellung steht - abgeschwächt nämlich ge genüber dem Normalfall einer individuellen Körperverletzung, wie sie etwa jemand begeht, der sich auf dem Weg zur Arbeit verspätet hat und einen Passanten so gefährlich überholt, daß dieser zu Scha den kommt. Um die Rekonstruktion der guten Gründe, beides nicht gleich behandeln zu wollen, geht es im folgenden. Wodurch unterscheidet sich ein Fabrikarbeiter, der (zum Bei spiel) nach Bekanntwerden der Schadensmeldungen wie üblich die Lastwagen zum Versand belädt, von dem eiligen Autofahrer? Zu 155 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
nächst dadurch, daß er sagen kann, er habe doch nur wie immer seine Arbeit getan, während der Autofahrer nicht sagen kann, er sei doch nur wie immer zur Arbeit gefahren. Im Falle des Fabrikar beiters wird ein täglich identisch ablaufendes, normalerweise völlig harmloses Verhalten durch vorheriges Verhalten anderer (etwa der Laboranten, die das neue Spray entwickelt haben) ins Schädigende umgebogen. Der Autofahrer dagegen hat den Übergang vom Harmlosen ins Schädigende durch eine eigene Verhaltensänderung selbst bewerkstelligt. Darin liegt, wie es scheint, ein relevanter Un terschied. Freilich ist es im allgemeinen nicht erlaubt, bei der Kal kulation der Folgen des eigenen Handelns unter allen kausalen Fak toren, die man vorfindet und die zusammen mit der eigenen Handlung den weiteren Verlauf des Geschehens bestimmen, einige einfach deshalb unberücksichtigt zu lassen, weil sie von anderen gesetzt (und sei es deliktisch gesetzt) wurden. Wer als zehnte Person den Lift besteigt, der nur neun Personen transportieren kann, kann sich nach dem Unglück nicht damit entschuldigen, daß er lediglich wie jeden Morgen - in den Lift getreten sei: Diese völlig harmlose Tätigkeit sei nur durch die Anwesenheit der anderen Personen ins Schädigende umgebogen worden. Oder um einen Vorgang mit deliktischer Voreinwirkung Dritter zu nehmen: Wer wie an jedem Morgen auf der Autobahn 100 fährt und auch beim Passieren einer Unfallstelle nicht bremst, kann sich gegebenenfalls nicht damit ent schuldigen, daß nicht er es gewesen sei, der den im Wege liegenden Verunglückten auf die Straße befördert habe. Kurz: Die Welt, in die man hineinhandelt, hat man im allgemeinen so zu berücksichtigen, wie sie zu dem Zeitpunkt, zu dem man handelt, erkennbar ist - und nicht so, wie sie gewesen wäre, wenn zuvor niemand anderer oder doch alle korrekt gehandelt hätten245. Verfährt man strikt nach die sem Prinzip, so ist eben die Lage, in der der Fabrikarbeiter befürch ten muß, schädliche Produkte auszuliefern, moralisch signifikant von der Normallage verschieden, in der er davon ausgehen kann, daß er unschädliche Produkte ausliefert. Vergegenwärtigt man sich weitere Fälle, zeigt sich, daß die gerade benannte Berücksichtigungspflicht nur rückwärts, nicht aber vor wärts zu wirken scheint. Zum Beispiel: Beim Eintritt in den Lift steht die ersichtlich eiligste Person ganz hinten, so daß für die zuerst Gekommenen vorauszusehen ist, daß durch das Hereindrängen des 245 Vgl. Abschnitt III.6., S. 118 f., wo die einschlägigen Unterschiede zwischen aktiven und passiven Beiträgen zum Schadensverlauf begründet wurden.
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Eiligen die zulässige Traglast überschritten wird. Hier besteht gleichwohl keine Verpflichtung, den Lift selbst zu verlassen oder auch nur den Eiligen am Betreten zu hindern. Diese Asymmetrie in der Möglichkeit der Distanzierung von Beiträgen anderer je nach dem Beitragszeitpunkt beruht wahrscheinlich auf Gesichts punkten der Präventionseffizienz: Die Verantwortlichkeit des spä ter Handelnden, die Konsequenzen der Verflechtung seines All tagshandelns mit (selbst deliktischem) Vorhandeln anderer zu berücksichtigen, verpflichtet zur Wahrnehmung von Verhinde rungsmöglichkeiten, die verbleiben, wenn vorangehende Verhinde rungsmöglichkeiten (nämlich die des ersten Handelnden) unge nutzt geblieben sind. (Man denke an das Beispiel dessen, der auf der Autobahn einen Unfall zu passieren hat.) Eine Verantwortlich keit des zuerst Handelnden, die voraussehbar schädigenden Folgen eines nach ihm Beitragenden zu neutralisieren, hätte dagegen die Tendenz, die Verhinderungsfähigkeit des Späteren durch die Ver hinderungsfähigkeit des Früheren zu ersetzen: Der eilige Liftbenut zer könnte damit rechnen, daß ihm umso eher Platz eingeräumt wird, je deutlicher er erkennen läßt, daß er seine eigene Verantwor tung nicht wahrzunehmen gesonnen ist. An eine schlichte Übertragung dieser Gesichtspunkte auf den Fall organisationsinterner Handlungsketten ist nun freilich nicht zu denken. Sie hätte zur Konsequenz, daß die Verhinderungspflicht sich regelmäßig auf den letzten informiert Beitragenden verschöbe - den sogenannten Tatnächsten also, in unserem Beispiel etwa den LKW-Fahrer. Alle anderen könnten sich mit dem Argument entla sten, daß ihr eigener Beitrag ohne den Beitrag des Letzten harmlos geblieben wäre. Es ist evident, warum insoweit das Liftbeispiel - bei dem dieselbe Argumentation einwandfrei ist - in die Irre führt: Die Benutzung des Lifts durch die ersten neun Personen hat einen vom Beitrag der zehnten Person völlig unabhängigen Handlungssinn. Die Handlungen der Belegschaftsmitglieder dagegen verlieren ihren Sinn, wenn das produzierte Gut nicht ausgeliefert wird. Ein schlägigen soziologischen Zweifeln gegen eine Unterstellung unter nehmenszielbezogener subjektiver Sinnorientierungen bei den Mitgliedern komplexer Organisationen muß man dabei gar nicht widersprechen wollen: Gewiß mag sich der Handlungssinn zum Beispiel eines Fließbandarbeiters gänzlich darin erschöpfen, sein Brot zu verdienen, indem er seine vertraglich vorgesehene Arbeit erledigt. Die Frage dagegen, was mit den von ihm (zum Beispiel) befüllten Dosen weiter passiert, wird meist jenseits seines Sinnhori 157 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
zontes liegen. Gleichwohl bleibt es dabei, daß objektiv sein Brotver dienen an das Erreichen des Unternehmensziels gekoppelt ist. Also muß dieses mitsamt seinen jeweils erkennbaren Folgen mindestens im Wege des Inkaufnehmens mitintendiert werden, solange das Brotverdienen intendiert wird. In diesem Sinne handelt es sich eben doch bei der arbeitsteiligen Produktion von Gütern, anders als beim Liftfahren, um ein gemeinsames Unternehmen. Das macht es un plausibel, demjenigen, der sich - an welcher Stelle der Handlungs kette auch immer - zum Beitrag seines Teils entschließt, die Distan zierung von den für ihn erkennbaren Wirkungen des Ganzen zu gestatten. Bleibt es also doch bei der (Mittäter- oder Teilnehmer-) Verant wortlichkeit aller mitwirkenden Belegschaftsmitglieder für die res ultierenden Körperverletzungen? Ich glaube, daß die auch bei Mo ralisten zu beobachtende Hemmung, mit dieser These bis in die entsprechenden Sanktionsforderungen hinein ernst zu machen, be gründbar ist. Sie hängt mit der erwähnten Verteilung der organisa tionsinternen Zuständigkeiten für die Verhinderung schädlicher Nebeneffekte zusammen. Einer Verteilung solcher Zuständigkei ten in nichtdeliktischen Organisationen bedarf es, weil die Antwort auf die Frage, wann die harmlose Normallage in eine hinreichend gefährliche, Gegensteuerung heischende Ausnahmelage umge schlagen ist, sich in den allerwenigsten Fällen von selbst versteht. Eine Antwort verlangt vielmehr Arbeit: Überprüfung von Labor tests und Statistiken, Abklärung möglicher Alternativursachen, Zurkenntnisnahme der einschlägigen Rechtslage, Verschaffung eines Überblicks über die ausgelieferten bzw. schon verkauften Stückzahlen, über die bei verschiedenen Maßnahmen (Anbringen von Warnhinweisen, Auslieferungsstop, Rückrufaktion) zu erwar tenden Effekte usf. Kurz: Zahlreiche Akte der Informationsbe schaffung und Informationsverarbeitung müssen ablaufen, bevor der Eintritt der Ausnahmelage überhaupt festgestellt und eine adä quate Reaktion beschlossen und koordiniert werden kann. Genau diese Arbeit machen sich der LKW-Fahrer und der Fließbandarbei ter nicht, weil das organisationsintern nicht ihre Aufgabe ist. Gewiß - es fragt sich, ob im moralischen und rechtlichen Urteil dieser organisationsinternen Unzuständigkeit gefolgt werden soll. Insbe sondere fragt sich das, weil im individualistischen Fall ein Anfangs verdacht genügt, um den Handelnden zu verpflichten, sich vor der Fortsetzung seiner Aktivitäten ihrer Unschädlichkeit zu vergewis sern. Wer als Inhaber eines Automobils bemerkt, daß etwas mit den 158 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
Bremsen nicht stimmt, kann sich im Schädigungsfalle nicht damit entschuldigen, daß er gar nicht sicher gewesen sei, ob wirklich eine Gefahr vorliege. Er hat vielmehr - als Garant für die Unschädlich keit seiner Aktivitäten - die Pflicht, diese solange zu unterlassen, bis die nötigen Informationen beschafft sind. Als generelle Verhaltensnorm wäre diese Regel freilich selbst im individualistischen Fall (d.h. hier: beim nicht in eine betriebliche Organisation eingebundenen Handeln) schlichtweg unpraktikabel. Man kann nicht jeden Konsumenten, der aus der Steckdose Atom strom bezieht und gehört hat, daß eine gewisse Häufung von Leuk ämiefällen in der Gegend etwas mit dem benachbarten Kraftwerk zu tun haben soll, verpflichten, solange auf den Strom zu verzichten, bis er sich hinreichend in die Krebsepidemiologie eingearbeitet hat, um zu einem begründeten Urteil zu gelangen. A fortiori gilt diese Praktikabilitätsgrenze für das Handeln in Organisationen, weil hier die Suspendierung des individuellen Beitrags die Suspendierung der Funktionsfähigkeit des Ganzen involviert. Daher kann sie zweckmäßigerweise nicht vom zufälligen individuellen Kenntnis stand jedes einzelnen abhängig gemacht werden. Jedes Gerücht, jeder Schwindelanfall eines Arbeiters, jeder publizierte Journali stenverdacht würde auf der Stelle die gesamten betrieblichen Ab läufe lahmlegen und stattdessen eine unkoordinierte Suche der ge samten Belegschaft nach relevanten Informationen in Gang setzen. Zur Effizienz sowohl in der Verfolgung ihrer nichtdeliktischen Zie le als auch in der Nebenwirkungskontrolle selbst sind Organisatio nen einzig imstande, indem sie getrennte Zuständigkeiten bilden. Das liegt zu sehr im Interesse der Gesamtgesellschaft, als daß das Rechtssystem es sich leisten könnte, solche Rollenverteilungen und die darauf aufbauende Selektivität der Informationsbeschaffungs und Informationsverarbeitungsleistungen der jeweils Unzuständi gen zu ignorieren. Die vorstehende Argumentation ist freilich von der Art, daß sie in Fällen völlig eindeutiger, schwerer Gefahrenlagen nicht greift. In solchen Fällen muß ja zugleich mit ebensolcher Eindeutigkeit an der moralischen Integrität der primär Zuständigen gezweifelt wer den. Ein Beispiel: Die Krankenschwester hat mit eigenen Augen gesehen, daß der Arzt die Spritze, anstatt mit dem angezeigten Heilmittel, mit Gift gefüllt hat. Auf ihre Nachfrage hin wird sie von dem Arzt angeherrscht, gefälligst ihre Arbeit zu tun und das medizinische Urteil ihm zu überlassen. Sie würde sich wohl in der Tat des Totschlags schuldig machen, wenn sie die Spritze dann tat 159 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
sächlich verabreicht. Man sieht aber zugleich an diesem Beispiel, daß der Zweifel an der moralischen Integrität der primär Zuständi gen irgendwelche weiteren Anhaltspunkte haben muß, um nicht in einen Zweifel an der Eindeutigkeit der eigenen Informationen über die Gefährlichkeit der Lage umzuschlagen246. In Firmen, in denen es (etwa bei einem Auslieferungsstop) um Millionen geht, mag es insoweit Anhaltspunkte geben. Aber hier ist eben auch die Infor mationslage so gut wie niemals eindeutig. Kurz: Meine These ist, daß das, was in den nicht ganz eindeutigen Fällen allenfalls zuge rechnet werden könnte, ein Normverstoß vom Charakter der Nicht anzeige geplanter Straftaten oder der unterlassenen Hilfeleistung247 wäre und nicht ein Verstoß vom Charakter der aktiven Körperver letzung. Die wegen der verteilten Zuständigkeiten fehlende Garan tenstellung der Mitarbeiter für die Kontrolle der Nebenwirkungen ihrer Aktivitäten rückt sie trotz ihres aktiven Beitrags in die Posi tion des unterlassend Beitragenden - nämlich desjenigen, der einen vermuteten Regelverstoß eines anderen (Zuständigen) in Kenntnis der möglichen Folgen schweigend hinnimmt. Daß es mir mit dem Gesagten nicht um einen rechtspolitischen Vorschlag geht, versteht sich hoffentlich von selbst. Es handelt sich lediglich um den Versuch einer näheren Bestimmung der Art von Pflichtverstoß, die in etwa gemeint sein könnte, wenn Mitarbeitern in komplexen Organisationen in Fällen wie dem geschilderten eine „moralische Verantwortung“ für die entstehenden Schäden angela stet wird. Für das in den letzten Abschnitten erörterte Thema des Verhältnisses von individuell Ausgeführtem und individuell zu Ver antwortendem bedeutet das Gesagte folgendes: Nicht nur zeigt sich - wie im vorangegangenen Abschnitt erörtert -, daß in bestimmten sozialen Kontexten der nicht selbst Ausführende verantwortlich sein kann. Sondern es kann der soziale Kontext auch so gestaltet sein, daß der selbst Ausführende für nicht auszuschließende Folgen seines Handelns unverantwortlich oder doch nicht in dem Maße 246 Das klassische Material für eine so strukturierte Situation liefert die berühmte Milgram-Studie, siehe Milgram (1974), Obedience to Authority. An Experiment View. 247 § 138, § 323 c StGB - diese beiden Delikte sind im Strafrecht die sogenannten Jedermannsdelikte im Unterlassungsbereich - also diejenigen Unterlassungen, die nicht einer besonderen Zuständigkeit (Garantenstellung) bedürfen, um verantwortet wer den zu müssen; s. o. S. 90f. Die Strafbarkeit der Nichtanzeige ist explizit (durch Anga be der Art der anzeigepflichtigen Delikte) und die der unterlassenen Hilfeleistung durch Verwendung der Begriffe „Unglücksfall, gemeine Gefahr, Not“ auf den drohen den Eintritt schwerer Schäden eingegrenzt.
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verantwortlich ist, wie er es ohne diesen speziellen Kontext ge wesen wäre. Tatsächlich richtet sich denn auch in dem hier ein schlägigen Bereich der strafrechtlichen Unternehmenshaftung248 der judizielle Blick gar nicht erst auf die eigenhändig ausführenden Individuen, gar auf den Tatnächsten. Sondern er richtet sich in einem ersten Zurechnungsschritt auf das soziale Gebilde als Ganzes (die Firma XY hat den Rückruf, Auslieferungsstop etc. versäumt) und in einem zweiten Schritt auf die innerhalb des sozialen Gebil des für die versäumte Leistung zuständigen Individuen (etwa die Geschäftsführer). Daß hiermit gegenüber den traditionellen, pri mär an der Ausführungshandlung und im übrigen an der Figur des Anstifters orientierten Zurechnungsinstituten eine grundsätzlich neue - und zwar faire und zweckmäßige - Sichtweise erreicht ist, ist mit Bezug auf die einschlägigen Leitentscheidungen249 inzwi schen deutlich herausgearbeitet worden.250 Zu Recht wird freilich darauf hingewiesen, daß der Bezug auf organisationsinterne Zuständigkeiten unter Umständen ein Son derwissen erfordert - nämlich über organisationsinterne Abläufe , dessen Beschaffung mit rechtsstaatlichen Mitteln nicht trivial ist.251 Überdies wird geltend gemacht, daß der strafrechtliche Anschluß an privat organisierte Zuständigkeiten von den Privaten auch im Sinne einer Exkulpierung mißbraucht werden kann. So schreibt Kuhlen: „Andererseits ist, soweit das mit den Erfordernissen einer arbeitsteiligen Unternehmensorganisation vereinbar ist, dafür Sor ge zu tragen, daß das Strafrecht nicht einen Zustand der organisier ten Unverantwortlichkeit‘ befördert oder akzeptiert, in dem straf rechtliche Verantwortlichkeiten durch unternehmensinterne (und unternehmensübergreifende) Differenzierung von Aufgaben und
248 Kuhlen (1994b), Umweltstrafrecht in Deutschland und Österreich, Teil B: Unterneh menshaftung im Umweltstrafrecht, S. 78-100; Schünemann (1982), Strafrechtsdogma tische und kriminalpolitische Grundfragen der Unternehmenskriminalität. 249 In Deutschland handelt es sich vor allem um das sogenannte Lederspray-Urteil von 1990 (BGH, Urteil vom 6.7.1990, in: Neue Strafrechtszeitung 1990, S. 588); dazu Schmidt-Salzer (1990), Strafrechtliche Produktverantwortung. Das Lederspray-Urteil des BGH; Kuhlen (1990), Strafhaftung bei unterlassenem Rückruf gesundheitsgefähr dender Produkte. 250 Siehe Kuhlen (1994b), S. 93-98, und Kuhlen (1994a), Grundfragen der strafrechtli chen Produkthaftung, II. Die organisationsbezogene Betrachtungsweise der neueren Rechtsprechung, S. 1144f. 251 Z. B. Seelmann (1990), Atypische Zurechnungsstrukturen im Umweltstrafrecht, S. 1261.
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Zuständigkeiten ,wegorganisiert‘ werden“252 - oder, so ließe sich hinzufügen, zum Beispiel so organisiert werden, daß bei Vorhan densein eines formell Zuständigen effektivere (aber teurere) zu sätzliche Schadenshinderungsmöglichkeiten ungenutzt bleiben. Ich erinnere an die heikle Zuständigkeit des betrunkenen Kapitäns für das Schädigungsausmaß des Öltanker-Unfalls253: Durch präventive Verwendung eines kleineren, gekammerten oder sonstwie weniger riskant gestalteten Transportmittels hätte es eingedämmt werden können. Unter anderem wegen der Möglichkeiten betriebsinterner Mißorganisation von Verantwortung wird in der kriminalpoliti schen Diskussion die strafrechtliche Haftung des Unternehmens als solchen (d.h. der juristischen Person) befürwortet254. Die Sank tionsfolgen könnten freilich, wie Volk referiert, auch hier auf aller lei Weise organisationsintern auf „Unschuldige - die Anteilseigner, Aktionäre, Gläubiger, indirekt die Belegschaft, womöglich die All gemeinheit der Käufer etc.“ abgelenkt werden255. Um zweifelsfrei Unschuldige handelt es sich aber zum Beispiel bei den Aktionären, die sich auf den entsprechenden Versammlungen meist eher für die Gewinne als für die Umweltschutzmaßnahmen des Unternehmens zu interessieren pflegen, eben nur dann, wenn man sich an die orga nisationsintern verteilten Zuständigkeiten hält. Will man das nicht, kann man in der Tat das Unternehmen als juristische Person bestrafen und hoffen, daß man damit im großen und ganzen die vom kriminellen Erfolg Begünstigten trifft. Nichts garantiert freilich, daß das zugleich die für seine Vermeidung Zu ständigen oder auch nur dazu Fähigen sind. Vielmehr erspart man sich auf diese Weise eine genauere Reflexion über die Frage, wer gegen welche Pflicht verstoßen hat und damit in welchem Ausmaß schuldig geworden ist. Will man auch dieses nicht, bleibt die Mög lichkeit, unabhängig von bestehenden betriebsinternen Regelungen bestimmte Schadensvermeidungsmaßnahmen von außen festzule gen. So könnte man (was zunächst mittels verwaltungsrechtlicher Vorschriften zu geschehen hätte und dann strafrechtlich im Rah 252 Kuhlen (1994b), S. 84f.; siehe auch Schünemann (1982), S. 42. 253 S.o. S. 122. 254 Dazu und zu den diskutierten Sanktionsformen kurz Volk (1993), Zur Bestrafung von Unternehmen; umfassend Heine (1995), Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen. Von individuellem Fehlverhalten zu kollektiven Fehlentwicklungen, ins besondere bei Großrisiken; siehe auch die Besprechung weiterer aktueller Publikatio nen bei Seelmann (1996), Bereich: Verbandsstrafbarkeit. 255 Volk (1993), S. 434.
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men einer verwaltungsakzessorischen Regelung256 relevant werden könnte) den Öltransport mit Schiffen an Genehmigungsvorausset zungen binden, die einen höheren Sicherheitsstandard garantieren. Auf diesen Punkt, mit dem auf die Verantwortlichkeit der öffent lichen Instanzen der Gefahrenvorsorge für die Festlegung der Vor sorgepflichten der Privaten verwiesen wird, kommen wir am Ende des Kapitels zurück. Hier sei abschließend berichtet, daß auch in Fällen, in denen der Eindeutigkeit der schädigenden Qualität der Ausführungshandlung wegen eine Entlastung des Tatnächsten nicht in Frage kommt, man aber gleichwohl auch die Befehlsgeber „hin ter dem Täter“ voll verantwortlich machen möchte, eine Anpassung der traditionellen Beteiligungslehre ingang gekommen ist. Sie be trifft in diesem Falle die Figur des mittelbaren Täters257. Sie war in ihrer üblichen Form auf Fälle beschränkt, in denen der sogenannte Tatmittler (also die aktuell ausführende Person) unwissend oder sonstwie schuldlos handelt und dabei von dem (wissenden) Hinter mann gewissermaßen als Instrument benutzt wird. Inzwischen ist dieses Institut durch die im Schrifttum schon länger entwickelte so genannte mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft er weitert worden258, die auch und gerade dann bejaht wird, wenn die Ausführenden wissen, was sie tun. Dieses - freilich nach wie vor nicht unumstrittene - Konzept ist in der deutschen Rechtsprechung erstmals im Urteil über die Befehlsgeber der Mauerschützen (näm lich über Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR) herangezogen worden259. Auch diese Zurechnungsfigur trägt der mit steigender Komplexität der Handlungsketten in arbeitsteilig or ganisierten Handlungszusammenhängen zunehmend empfundenen Unzweckmäßigkeit einer Teilung der Verantwortung gemäß indivi duell ausgeführten Tatanteilen Rechnung.
256 Dieser Begriff wird im folgenden Abschnitt erläutert, siehe S. 173. 257 Vgl. oben S. 146, Anm. 226, mit Beispiel. 258 Insbesondere Roxin (1994b), Täterschaft und Tatherrschaft, § 24: Willensherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate, S. 242ff., s.a. S. 653f., dort weitere Stellung nahmen aus der Literatur. 259 BGH, Urteil vom 26.7.1994, in: Neue Juristische Wochenschrift 1994, S. 2703-2707; vgl. Roxin (1995), Anmerkung [zum BGH-Urteil vom 26.7.1994]; Jakobs (1995), An merkung [zum BGH-Urteil vom 26.7.1994].
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6. Nebentäterschaftliche kollektive Verursachung Im letzten Abschnitt dieses Kapitels soll es um Fälle gehen, in de nen Personenmehrheiten - in Kenntnis der Lage - zusammen einen schädigenden Effekt herbeiführen, ohne ihre Beiträge durch gegen seitige Verabredung oder durch Befehlsempfang in einer hierarchi schen Organisation aneinander angepaßt zu haben. Daß diese Fälle im Kontext der gegenwärtigen Verantwortungsdebatten von beson derer Relevanz sind, leuchtet unmittelbar ein. Insbesondere die Umweltschäden - Vergiftung von Böden, Grundwasser und Ozea nen, Artensterben, Destabilisierung des Klimas - kumulieren sich aus Millionen von Alltagshandlungen, die von den einzelnen nicht deshalb vollzogen werden, damit im Zusammenwirken mit anderen Beteiligten die genannten (oder andere, primär intendierte) Effekte entstünden. Vielmehr handelt jeder so, wie er handelt, weil seine Handlung für sich alleine Sinn hat, gegebenfalls sogar mehr Sinn als in Kombination mit den Handlungen der anderen. Wer täglich sein Auto für den Weg zur Arbeit benutzt, tut das eben nicht, um seinen Beitrag zum täglichen Stau zu leisten. Es ist, wie es scheint, vor allem diese besondere Intentionslage, die die Fälle der hier ge meinten Art vom mittäterschaftlichen, also eigens verabredeten Bewirken eines schädigenden Effekts unterscheidet. Ist dies auch der maßgebliche Grund dafür, daß wir - zum Beispiel als Kühl schrankbenutzer - uns nicht als Totschläger empfinden, obgleich wir von statistischen Evidenzen gehört haben, die belegen, daß in folge des Ozonlochs schon der eine oder andere Australier am ma lignen Melanom erkrankt und daran auch gestorben ist? Gegen diese Deutung sind erhebliche Bedenken anzumelden. Die mittlerweile Jahrhunderte währende Diskussion über den Intentionsbegriff260 hat immer wieder nahegelegt, daß nicht das Wollenselement, sondern das Wissenselement das für die Vorwerf barkeit einer Handlung entscheidende Element ist. Man kann ja einen Wollensbegriff verwenden, demzufolge es möglich ist, mit einer Handlung einen Effekt zu wollen, ohne die mit seinem Ein treten bekanntermaßen verbundenen sonstigen Effekte zu wollen. Dann kann es aber bei der Beurteilung der Handlung nicht auf das 260 Zur Diskussion in der Scholastik Kramer (1935), The Indirect Voluntary or Voluntarium in Causa; rechtsgeschichtlich Klee (1906), Der Dolus indirectus als Grundform der vorsätzlichen Schuld; aus der gegenwärtigen juristischen Diskussion Frisch (1983), Vorsatz und Risiko, bes. §7: Vorsatzelemente neben dem „Wissen“?, S. 255-303.
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Gewollte ankommen, sondern es muß auf das Gewußte ankommen. Schon Abaelard kommentiert entsprechend den Fall des Ehebre chers, der erklären könne, er habe zwar ein Verhältnis mit der Frau gewollt, aber er habe doch ganz und gar nicht gewollt, daß sie ver heiratet sei, und daher umfasse das „voluntarium“ seiner Handlung nur das Verhältnis, nicht aber den Ehebruch261. Tatsächlich kann man eben im Handlungsentschluß (bei Abaelard - im Unterschied zum „voluntarium“ als dem abstrakt Gewünschten - „consensus“ oder „intentio“262) nicht trennen, was in der Welt, in die hinein man handelt, zusammengehört. Daß man eine kollektive Umwelt schädigung, anders als etwa einen Terrorakt, weniger leicht als Vor satztat zu klassifizieren geneigt ist, kann also allenfalls daran liegen, daß hinsichtlich des Wissmselements gewisse nicht unberechtigte Zweifel bestehen. Wo diese ausgeschlossen wären, könnte sich die mildere Beurteilung, wie es scheint, nicht auf die mangelnde Bos haftigkeit der Intentionen stützen. Im Falle einer Bande von Bom benlegern, die mit ihrer Handlung vor allem den Durchgang zum Inhalt eines Safes freilegen wollen und die Schädigung von Men schen lediglich als wahrscheinliche Folge des primär intendierten Effekts in Kauf nehmen, geht das ja auch nicht. Was ist es also, das uns gleichwohl einen moralisch relevanten Unterschied sehen läßt zwischen einer Mörderbande, die sich ver abredet hat, einen Brunnen zu vergiften, und uns selbst als dem Kollektiv derjenigen, denen dasselbe als kumulativer, aber vorher gesehener Nebeneffekt ihres individuell harmlosen Alltagshan delns unterläuft? Im Rückblick auf die Erörterungen des vierten Abschnitts erscheint es nun doch eher überraschend, daß das Straf recht im Bereich der kollektiven Verursachung dem Faktum des gemeinsamen Tatplans - also dem gemeinsamen deliktischen Wol len - eine so erhebliche Bedeutung beimißt, während es im Bereich des individuellen Handelns den Blick auf das lenkt, was man wußte oder hätte wissen müssen. Tatsächlich verunmöglicht dem gelten den Strafrecht und ganz ebenso der im Schrifttum herrschenden Meinung nach in den hier behandelten Fallkonstellationen das Feh len eines intendierten (anstelle des bloß faktischen) Zusammenwir 261 Peter Abelard (1971), Ethics, S. 16: „Sepe etiam contingit ut cum velimus concumbere cum ea quam scimus coniugatam, specie illius illecti, nequaquam tamen adulterari cum ea vellemus quam esse coniugatam nollemus.“ 262 Ebd. S. 4: „Hunc vero consensum proprie peccatum nominamus“; S. 42: „Deus, hoc est, inspector intentionum vel consensuum“; zum Verhältnis der beiden Begriffe siehe die Anm. des Herausgebers, ebd. S. 42f.
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kens der Beteiligten die gegenseitige Zurechnung ihrer Tatbeiträge. Im Ergebnis hat zwar, zum Beispiel, jeder Autofahrer einige Koh lenstoffdioxydmoleküle emittiert. Aber einige Kohlenstoffdioxid moleküle sind nicht geeignet, einen Treibhauseffekt herbeizu führen. Vielmehr handelt es sich um eine Menge, die als solche sowohl für die menschliche Gesundheit als auch für andere straf rechtlich geschützte Güter völlig ungefährlich ist. Insoweit kann das Strafrecht auf die Frage, wer zum Beispiel den Tatbestand des §325 StGB263, der bei einem drohenden Eintritt des Treibhausef fekts im Prinzip einschlägig wäre, erfüllt habe, nur antworten: nie mand. Täter, bei denen es an der für die Anwendung der Zurechnungs institute der Beteiligungslehre erforderlichen Gemeinsamkeit fehlt, heißen strafrechtlich Nebentäter264. Im vorigen Abschnitt haben wir ein einschlägiges Beispiel gestreift, und es lohnt sich, kurz auf die dafür herangezogenen Prinzipien zurückzukommen. Es handelte sich um das Beispiel der Liftbenutzer, die sich zu zehnt in den Lift drängen, obwohl dessen Traglast (wie alle Beteiligten wissen) auf neun Personen begrenzt ist. Wir hatten den Fall so kommentiert, wie die Lehrbücher das zum Stichwort Nebentäterschaft empfeh len. Günther Jakobs zum Beispiel schreibt: „Bemerkenswert ist die Nebentäterschaft insbesondere, wenn ein deliktischer Erfolg durch ein nicht koordiniertes Handeln mehrerer Personen herbeigeführt wird; in der Regel dürfte nur beim zuletzt Handelnden täterschaftliche Vollendung gegeben sein, da das Auftreten eines weiteren Tä ters nur selten zum Risiko der Handlung des ersten Täters gehören dürfte“265. Der letzte Halbsatz bedarf der Erläuterung, zumal wir vorausgesetzt hatten, daß die gegebene Lösung auch dann ihre Plausibilität behält, wenn es für die neun ersten Personen erkenn 263 Luftverunreinigung - hier mit Schadstoffen, die „geeignet sind, ... nachhaltig ... die Luft ... nachteilig zu verändern“. Zur Verwaltungsakzessorietät der Formulierung dieses Tatbestandes, die seine Anwendung auf Fälle der Verletzung verwaltungsrecht licher Pflichten einschränkt und daher für verwaltungsrechtlich erlaubte Emissionen schon deshalb nicht einschlägig ist, siehe unten S. 173. 264 Vgl. zur wenig konturierten Funktion dieses Begriffs im Strafrecht Fincke (1975), Der Täter neben dem Täter. Ausführliche Darstellung der Lehren - wie üblich ohne speziellen Bezug auf die Umweltproblematik - bei Murmann (1993), Die Nebentäter schaft im Strafrecht. Zur differenzierteren, aber unter anderen Bedingungen stehen den Ausgestaltung des Konzepts im Zivilrecht (das hier nicht eigens berücksichtigt wird) Brüggemeier (1990), Die Haftung mehrerer im Umweltrecht. Multikausalität Nebentäterschaft - „Teilkausalität“, bes. Abschnitt III. 265 Jakobs (1993), Strafrecht, S. 553.
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bar war, daß die zehnte Person sich mit hereindrängen würde. Tat sächlich ist für Jakobs die Frage, was zum „Risiko einer Handlung“ gehört, weder schlicht eine Frage objektiver Wahrscheinlichkeiten noch eine Frage ihrer Erkennbarkeit. Vielmehr handelt es sich um eine Kategorie, in die neben den beiden genannten Aspekten wei tere, einschränkende Zurechnungsgesichtspunkte eingehen. Das folgende Zitat mag den Begründungszusammenhang verdeutli chen: „Für jeden Schaden lassen sich mehrere Bedingungen, ge nauer: Bedingungskomplexe, nennen; so kann für das Überfahren eines Kindes im Straßenverkehr angeführt werden, daß eine Straße bestimmter Beschaffenheit für das Publikum eröffnet wurde, daß ein Kraftfahrzeug zur Unfallzeit am Unfallort fuhr, daß ein Kind die Straße überqueren wollte etc., und diese Bedingungen könnten wiederum auf ihre Vorbedingungen hin untersucht werden, etwa daß die Straße unübersichtlich geführt wurde, weil für eine sichere Führung kein Geld bewilligt worden war etc. Eine Aufzählung aller Bedingungen im gleichen Rang erbrächte keine Orientierung, son dern verdeutlichte nur den unübersehbar vielfältigen Zusammen hang allen Geschehens. Deshalb wird der Schaden durch die Zu rückführung auf einen der Bedingungskomplexe erklärt, das heißt, dieser Komplex wird als maßgeblich definiert. Klassen solcher maß geblicher Bedingungskomplexe sind etwa: Fehlverhalten eines Tä ters, Schuld eines Täters, Selbstverschulden, Unglück. Ein Bedin gungskomplex, der zu einem Erklärungszusammenhang gehört, heißt nachfolgend: ein Risiko“266. Die Zuständigkeit für die Verhinderung von Risiken wird also enger gefaßt als die (durch Kausalität und deren Erkennbarkeit ver mittelte) Möglichkeit dazu. Der angegebene Grund dafür ist dersel be, auf den wir schon mehrfach gestoßen sind: Erkennbar kausal sind bei einem gegebenen Schaden viele Personen. Es sind umso mehr, je komplexer die Interaktionsketten werden, desto häufiger also die Bedingungen, auf die man beim eigenen Handeln trifft, nicht mehr Natur, sondern bereits Resultat des Handelns anderer sind. In solchen Verhältnissen kann es nicht gewünscht sein, daß jeder verpflichtet sei, das Setzen von Bedingungen, die sich im Zu sammenwirken mit nach aller Lebenserfahrung nicht auszuschlies-
266 Jakobs (1993), S. 222.
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senden Beiträgen anderer schädigend auswirken könnten, schlicht weg zu unterlassen. Vielmehr muß, damit überhaupt ein Handeln erlaubt bleibt, definiert werden, welcher Beitrag (ggf.: welcher un terlassene Verhinderungsbeitrag) der deliktische Beitrag ist. Auf dem Täter dieses Beitrags lastet dann primär die Verhinderungs pflicht. Entsprechend ist, zum Beispiel, der Leiter eines Straßen baus nur dann für allfällige auf dieser Straße sich ereignende Unfälle zuständig, wenn die Unfälle auf evidente Sorgfaltspflicht verletzungen beim Straßenbau zurückzuführen sind. Daß der Bau einer überdurchschnittlich engen Kurve, obwohl riskant, keine Sorgfaltspflichtverletzung darstellt, beruht dann auf der Annahme, daß es insgesamt zweckmäßiger sei, die Kontrolle eines solchen Ri sikos den Straßenbenutzern selbst zuzumuten. In eine solche Zweckmäßigkeitserwägung geht, wie hier gleich hervorzuheben ist, offenbar nicht nur das Ziel der Minimierung der Verkehrstoten ein. Es kann zum Beispiel auch das Ziel der Einhaltung des Strassenbaubudgets eine Rolle spielen. Es handelt sich also nicht um eine reine Frage der Präventionseffizienz, zumal die Lebenserfah rung zeigen mag, daß die Straßenbenutzer, obgleich ihnen dieses normativ zugemutet ist, ihr Fahrverhalten der Straßenführung eben doch nicht hinreichend anpassen. Auf die hiermit angedeuteten weiteren Hintergründe der Vertei lung von Verhinderungspflichten kommen wir im letzten Kapitel zurück. Im vorliegenden Kontext ist zunächst daran zu erinnern, daß es durchaus präventionsbezogene Gründe zu sein schienen, mit denen im letzten Abschnitt erklärt werden konnte, warum im Falle der nebentäterschaftlichen Liftbenutzung die Verhinderungs pflicht trotz allgemeiner Erkennbarkeit gerade auf dem zuletzt Hinzugetretenen lastet - und nicht auf den Personen, die zuvor den Lift im Rahmen der erlaubten Traglast belastet hatten. Gewiß - prima facie würden zusätzliche Verhinderungsmöglichkeiten ge nutzt, wenn in Fällen, in denen der primär verpflichtete Letzte sich definitiv weigert, seine Verantwortung wahrzunehmen, diese sich auf den Zweitletzten verschöbe. Freilich sähe dann dieser nicht mehr ein, warum er den Schwarzen Peter nicht an den Drittletzten weitergeben soll - der ihn seinerseits nicht würde nehmen wollen, weil er nicht einsähe, warum er als achter Passagier zuständig sein soll, wenn es der neunte und der zehnte nicht waren. Kurz: Die Situation, in der ein primär Verpflichteter sich weigert, seine Ver antwortung wahrzunehmen, unterscheidet sich signifikant von der Situation, in der er dazu nicht mehr imstande ist. Nur dieser Fall 168 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
hebt die primäre Verpflichtung auf und mag unter Umständen267 zu sekundären Verpflichtungen der primär Unzuständigen führen. Dies war, nochmals, der Grund für die oben festgestellte Asym metrie in der Berücksichtigungspflicht schon definitiv geleisteter Tatbeiträge einerseits und erst noch zu erwartender Beiträge ande rerseits. Dieser Gedanke allein erklärt nun zwar, zum Beispiel, die Pflicht des Autobahnbenutzers, beim Passieren eines Unfalls lang sam zu fahren, obwohl nicht er, sondern ein anderer den Unfall ver ursacht hat. Aber er erklärt, genaugenommen, nicht die Zuständig keiten im Liftbeispiel. Denn hier sind ja die Tatbeiträge der zuerst Eingestiegenen nicht in dem Sinne definitiv geleistet, daß nicht nochmals über sie entschieden werden könnte, bevor der Lift in Gang gesetzt wird. Das oben geschilderte Schwarzer Peter-Spiel, das sich bei Zuständigkeit aller einstellt, ist zwar seinerseits ein Prä ventionsverhinderungsfaktor. Aber dieses Problem ließe sich auch durch Festlegung einer Regel des Inhalts erledigen, daß in solchen Fällen der erste wieder auszusteigen habe. Das zeigt, daß zur Erklä rung der stattdessen gültigen Regel ein weiteres Prinzip herangezo gen werden muß. Vermutlich handelt es sich um das Prinzip, das in seiner sprichwörtlichen Version am bekanntesten ist: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“ Man könnte einwenden, daß das ein wenig erhabenes Prinzip sei - jedenfalls in Kontexten, in denen es, was ja hier der Fall ist, neben Fragen der Präventionseffizienz auch um Fragen der Gerechtigkeit geht, nämlich der gerechten Belastung mit Verhinderungspflichten. Daß es sich um ein Prinzip handele, das nicht gerechtigkeitsorientiert sei, ist freilich unrichtig. Richtig ist vielmehr, daß die Bedingungen, unter denen die Anwendung dieses Prinzips zu gerechten Ergebnissen führt, sehr spezieller Art sind. In diesem Sinne handelt es sich in der Tat nicht um ein beson ders erhabenes, d. h. um ein Prinzip von großer Allgemeingültig keit. Im Liftfall wäre es tatsächlich eine Ungerechtigkeit gegen die Zuerstgekommenen, wenn sie die Verhinderungspflicht zu tragen hätten. Sie müßten nämlich dann in Fällen besonderer Verkehrs dichte jeweils erneut zurückstehen, wenn der Lift zum zweiten und zum dritten Mal kommt. Die Lasten der Schadensverhinderungs
267 Zu beachten bleibt der oben (S. 117) geltend gemachte Gesichtspunkt, daß der primär Verpflichtete nicht nur zur Vermeidung des Schadens, sondern auch zur Ver meidung des Sichhineinbegebens in die eigene Unfähigkeit, den Schaden zu vermei den, motiviert bleiben muß.
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pflicht sind also, wenn sie schon nicht gleichverteilbar sind, doch mit der angegebenen Regel am gerechtesten verteilt. Wir haben das Liftbeispiel einzig deshalb ausführlicher disku tiert, weil sich daran einiges ablesen läßt über die genaueren Bedin gungen der Funktionsfähigkeit der oben zitierten Regel, nach der in Fällen nebentäterschaftlichen Bewirkens eines Schadens der zuletzt Beitragende der Zuständige sei. Für die meisten der im Kontext der Umweltrisiken interessierenden Konstellationen ist nämlich, obgleich es sich um Fälle nebentäterschaftlichen Bewirkens han delt, die zitierte Regel vollständig unzweckmäßig. Erstens sind soweit nicht ohnehin eher lineare Zusammenhänge vorliegen - die Schwellenwerte268 nicht so schön definiert wie im Liftbeispiel: Nie mand weiß genau, wer der „Zehnte“ ist, mit dessen Beitrag die Traglast der Umwelt überschritten ist. Zweitens - und dies ist der Hauptgrund - ist im Falle der Umweltproblematik die Lage nicht von der Art, daß die Regel „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ zur gerechtesten Verteilung der Schadensverhinderungslasten führen würde. Der Lift kommt hier nämlich nicht zum zweiten Mal. Es ist evidenterweise unpassend, als Bürger eines Wohlstandslandes dem Bürger eines Entwicklungslandes nahezulegen, er habe als später Gekommener auf ähnlich erfreuliche Lebensbedingungen dauer 268 Zum Problem der Schwellenwerte siehe aus der philosophischen Diskussion Leist (1989), Kollektive Güter und individuelle Verantwortung, bes. S. 190-192. Leist geht es primär um die Frage, wann das Verbot eines Einzelbeitrags unter Folgengesichtspunk ten rational ist. Die Unkenntnis der kausalen Relation eines Beitrags zum Schwellen wert könne auch bei nichtlinearen Kausalverhältnissen die Gleichbehandlung aller (gleichen) Beiträge begründen. Sei jedoch „bei überschaubaren Situationen die Funk tion des Einzelbeitrags bekannt, kann der Gesamtertrag nicht numerisch auf die Be teiligten aufgeteilt werden“ (S. 192) - gemeint ist, daß Beiträge vor dem unteren oder nach dem oberen (die maximal mögliche Schädigung definierenden) Schwellenwert rationalerweise nicht verboten werden könnten. Tatsächlich haben jedoch auch die Beiträge vor dem unteren Schwellenwert relevante Folgen: Sie bewirken den Eintritt jener Lage, in der es nur noch um den Preis der Schadensauslösung möglich ist, das zu tun, was vorher ohne diesen Preis getan werden konnte. Ich sehe (von Fragen der rechtsdogmatischen Konstruktion abgesehen) kein Hindernis, den Eintritt einer sol chen Lage als Beeinträchtigung derjenigen zu klassifizieren, die nun nicht mehr han deln dürfen. Was den sogenannten oberen Schwellenwert angeht, so kranken Leists Beispiele daran, daß dessen Existenz nicht plausibel ist: Gibt es maximal verschmutzte Gewässer in dem Sinne, daß es völlig egal ist, ob man noch mehr Gift hineinkippt? Ein realistisches Beispiel mag verdeutlichen, daß bei Beiträgen nach oberen Schwellen werten in der Tat die Haftung entfallen kann - hier wird dann aber auch die Rede von einem „Beitrag“ unpassend: Haben vier Personen ihr Opfer mit Messerstichen kumu lativ umgebracht, so bleibt der Fünfte, der nach der Tat hinzukommt und der Leiche einen Stich versetzt, ohne Verantwortung für die Tötung.
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haft zu verzichten, weil Luft, Wasser usw. durch den eigenen Wohl stand bereits bis an die Grenze des Tragbaren belastet seien. Nor mativ überzeugt, wie sich aus dem oben Entwickelten ergibt, allen falls der Hinweis, daß man wegen des definitiv schon Angerichteten auf Zurückhaltung auch der Neuankömmlinge angewiesen sei. Drittens schließlich gilt, daß es beim Umweltproblem durchaus nicht nur um die beiden Möglichkeiten des Einsteigens oder des Draußenbleibens geht. Die Verhinderungslasten sind vielmehr auf zahlreiche, sowohl in ihrer Gerechtigkeit als auch in ihrer Präven tionseffizienz sehr unterschiedliche Arten verteilbar. Auch das macht den Griff zur schlichten Regel, daß einer - zum Beispiel der Letzte - das Nachsehen haben müsse, zu einem Fehlgriff. Man kann sich nach alledem fragen, wieso das Strafrecht im nebentäterschaftlichen Bereich das nötige Ausmaß an dogmatischer Differenzierung - wie es scheint - so drastisch unterschreitet. Die Antwort ist, zumindest weitgehend, die, daß es eben nur so scheint. Zur strafrechtlichen Regelung der Probleme des nebentäterschaftlichen Handelns gehören nämlich nicht nur die paar Bemerkungen, die unter dem Stichwort „Nebentäterschaft“ - meist am Ende der Beteiligungslehre - zu finden sind. Vielmehr gehört dazu auch ein ständig wachsender Bereich dessen, was im Rahmen der Behand lung der ganz gewöhnlichen individuellen Tatbestandsverwirkli chung zu finden ist - freilich meist nicht im Strafrecht im engeren Sinne, sondern im Ordnungswidrigkeitenrecht269. Im Rahmen vor allem des Ordnungswidrigkeitenrechts werden zunehmend jene in dividuellen Handlungen bzw. Unterlassungen definiert und sanktio niert, von denen bekannt ist, daß sie in ihrer nach Lage der Dinge zu erwartenden Aufsummierung zu ernst zu nehmenden Schäden füh ren. Was hier sanktioniert wird, ist dann freilich nicht mehr die Be teiligung an einem Körperverletzungs- oder gar Tötungsdelikt. Sanktioniert wird vielmehr - etwa im Falle einer unerlaubten Ab fallbeseitigung - die Nichtbeteiligung an dem vom Gemeinwesen in der Absicht der Gefahrenvorsorge beschlossenen und organisierten Abfallbeseitigungskonzept. Daß dies auch moralisch zweierlei ist, mag unmittelbar einleuchten. Einer expliziteren Begründung, die dann auch ein deutlicheres Licht auf die begrenzte Rolle des Straf
269 Zur Entwicklung des Ordnungswidrigkeitenrechts (Verwaltungsstrafrechts) als „Zwitter“ zwischen Strafrecht und Verwaltungsrecht siehe H.-L. Günther (1990), Das Recht der Ordnungswidrigkeiten - Aufbruch zu neuen Ufern?
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rechts in diesem Bereich werfen wird, wenden wir uns abschließend zu. Warum also, nochmals, ist das unbeabsichtigte, aber erkennbare gemeinsame Bewirken eines Schadens dem zum deliktischen Zweck verabredeten (mittäterschaftlichen) Zusammenwirken nicht gleichzustellen? Den Schlüssel geben die Überlegungen, die sich im letzten Abschnitt beim Fall des Zusammenwirkens in nichtdeliktischen Organisationen als einschlägig erwiesen haben (dort kamen wir ja ebenfalls nicht zu einer mittäterschaftsartigen Haftung): Beim klassischen mittäterschaftlichen Delikt ist das gesellschaftlich erwünschte Ziel erreicht, wenn alle Beteiligten dazu gebracht wer den können, ihren Beitrag zu unterlassen. Statt eines Bankraubes, zum Beispiel, findet dann kein Bankraub statt, und damit ist die Angelegenheit erledigt. In Zusammenhängen, in denen ein organi siertes Kollektiv oder die Individuen in einem nichtorganisierten Kollektiv primär nichtdeliktische Ziele anstreben, ist die Sache nicht so einfach. Emittieren organisierte Kollektive (zum Beispiel Lebensmittelfabriken, Papierfabriken, Schuhfabriken) oder die nichtorganisierten Individuen (zum Beispiel die Autofahrer, die Zentralheizungsbesitzer, die Spülmittelbenutzer) Schadstoffe, so ist die Angelegenheit keineswegs erledigt, wenn alle Beteiligten da zu gebracht werden können, ihren Beitrag zu unterlassen. Es findet dann zwar - wie erwünscht - keine Emission von Schadstoffen mehr statt. Aber es findet auch sonst nichts mehr statt. Mit anderen Wor ten: Die Schadensvermeidung ist, da es beim schlichten Unterlassen nicht bleiben kann, an die Erbringung komplexer Organisations leistungen gebunden - zum Beispiel an die Entwicklung und Imple mentierung leistungsfähiger Filtertechniken, an den Ausbau dritter oder vierter Klärstufen, an die Planung und Einrichtung alternati ver Verkehrssysteme und so fort. Gewiß - es scheint, daß es nicht Angelegenheit des Strafrechts ist, sich darum zu kümmern, wie die Subjekte, die zur Einhaltung des Nichtschädigungsgebots verpflichtet sind, ihre nichtdeliktischen Angelegenheiten regeln. Wir kommen auf das, was insoweit als In halt des (moralisch wie strafrechtlich verpflichtenden) Nichtschädi gungsgebots gelten kann, im nächsten Kapitel zurück. Richtig ist zunächst, daß das Strafrecht sich auf das Verbieten strafrechtlich erheblicher Rechtsgutsverletzungen beschränken darf und nicht mitzuteilen hat, wie Produktion, Konsumtion, Verkehr usw. einzu richten sind, damit es zu solchen Verletzungen nicht kommt. Gleichwohl ist beim Verbieten darauf Rücksicht zu nehmen, daß 172 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
nicht das pure Unterlassen, sondern die Umorganisation des Han delns die Leistung ist, die erbracht werden muß. Genau diese Rück sicht war es, die beim Produkthaftungsfall des letzten Abschnitts den guten Grund bot, sich strafrechtlich nicht an alle aktiv Beteilig ten, sondern an die für die erforderliche Umorganisation der Akti vitäten Zuständigen zu halten. Dieselbe Rücksicht liegt dann auch der sogenannten Verwaltungsakzessorietät270 der Tatbestände des Umweltstrafrechts271 zugrunde: „Luftverunreinigung“ zum Beispiel ist gemäß § 325 Abs. 1 StGB nicht überhaupt verboten, sondern dann, wenn es „unter Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten“ dazu kommt272. Hier sind es also die Vermeidepflichten, die in den Rechtsverordnungen und sonstigen Vorschriften des Verwaltungs rechts verteilt werden, auf die das Strafrecht sich bei seinen eigenen Zuständigkeitsurteilen stützt. Die Analogie zwischen der strafrechtlichen Rücksicht auf die in terne Pflichtenverteilung in privaten Organisationen im Bereich der Unternehmenshaftung einerseits und der strafrechtlichen Rücksicht auf die verwaltungsrechtliche Pflichtenverteilung im ge samten Gemeinwesen andererseits ist freilich nicht ganz vollstän dig. Darin liegt ein Haken, dessen Konsequenzen uns im letzten Kapitel beschäftigen werden. Bei der Unternehmenshaftung wer den die Geschäftsführer als die zuständigen Organisatoren des Schadensvermeidungshandelns zur Verantwortung gezogen, wenn sie auf eingehende Schadensmeldungen nicht reagieren, also die er forderliche Prüfung und gegebenenfalls Umorganisation des Han delns der Belegschaft unterlassen. Mittels der erwähnten umwelt strafrechtlichen Tatbestände kann dagegen zwar derjenige zur Verantwortung gezogen werden, der ein von den zuständigen Orga nisatoren (hier: den Konstrukteuren der verwaltungsrechtlichen Normen) ihm zur Pflicht gemachtes Schadensvermeidungshandeln versäumt. Aber für diejenigen Schäden, zu denen es kommt, weil 270 Siehe Frisch (1993), Verwaltungsakzessorietät und Tatbestandsverständnis im Um weltstrafrecht. 271 Zu deren Neufassung durch das am 1.11.1994 in Kraft getretene Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität und zu den einzelnen Erweiterungen der Straf barkeit siehe Otto (1995), Das neue Umweltstrafrecht. 272 Darunter fällt zum Beispiel der Betrieb einer zulassungspflichtigen, aber nicht zugelassenen Anlage, das Versäumen vorgeschriebener Wartungsarbeiten usf. Zu Ge halt, Umfang und Problematik der rasch expandierenden verwaltungsrechtlichen Re gelungen siehe Benda/ Sparwasser/Engel (1995), Grundzüge des öffentlichen Umwelt schutzrechts.
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die Organisatoren selbst untätig bleiben, benennt das Strafrecht mit den Tatbeständen des Umweltstrafrechts und auch mit den ge wöhnlichen Tatbeständen des Kernstrafrechts (etwa der Körper verletzung und den Straftaten gegen das Leben) keine Täter273. Schadensmeldungen zum Beispiel über steigende Allergie- und Krebserkrankungsraten gehen ja sozusagen bei den Organisatoren der Schadensvermeidung - insbesondere beim Cheforganisator, nämlich beim Gesetzgeber - ständig ein. Aber das Nichtingangset zen oder nicht rechtzeitige Ingangsetzen effektiv gegensteuernder Gesetzgebungsprogramme wird eben, anders als das Nichtreagieren auf Schadensmeldungen im privaten Sektor, nicht als Körper Verletzung seitens der Zuständigen geahndet. Warum das so ist, und ob es zustimmungsfähig ist, oder ob es nicht gerade die hier nach konstruierte, an ihrer politischen Spitze gewissermaßen täterlose Form der Organisation von Verantwortung ist, die das von Ulrich Beck vorgebrachte Verdikt der „organisierten Unverantwortlich keit“ verdient274 - darum geht es im abschließenden Kapitel.
273 Das gilt für die Untätigkeit des Gesetzgebers, nicht gegebenenfalls für die Untätig keit von Verwaltungsbeamten. Die hier einschlägige sog. Amtsträgerhaftung ist frei lich insbesondere im Unterlassungsbereich an eine klare Definition der verwaltungs rechtlichen Pflichten des Amtsträgers gebunden und greift daher umso weniger, je weniger die Verwaltung als bloße Durchführungsinstanz eindeutiger gesetzlicher Vor gaben begriffen werden kann. Siehe Rogall (1991), Die Strafbarkeit von Amtsträgern im Umweltbereich, bes. S. 214 f.; Kuhlen (1994b), Umweltstrafrecht in Deutschland und in Österreich, Teil 1, Abschnitt D: Amtsträgerhaftung im Umweltstrafrecht, S. 191 211, S. 207: „Die Garantenpflichtwidrigkeit des Unterlassens setzt demnach voraus, daß das Unterlassen gegen das materielle Verwaltungsrecht verstößt“. 274 Siehe oben Abschnitt I.4.
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V. Erlaubte Schädigung
1. Grenzen des Nichtschädigungsgebots Zu Beginn des dritten Kapitels hatten wir darauf hingewiesen, daß die unterschiedliche Vorwurfswürdigkeit des Schädigens einerseits und des Nichthelfens andererseits zwar althergebracht, aber bei den Theoretikern der liberalen Gesellschaft doch besonders deutlich ausgeprägt ist. Nur das Schädigen erklärt John Locke für verboten, wenn er an der bereits zitierten Stelle formuliert: „Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Und die Ver nunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit ..., daß niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll“275. Etwas später im selben Paragraphen heißt es zwar, daß ein jeder - so, wie er verpflichtet sei, sich selbst zu erhalten „nach Möglichkeit auch die übrige Menschheit erhalten“ solle. Aber der erläuternde Folge- und Schlußsatz zeigt, an welche Lei stung hier gedacht ist: „Er sollte nicht das Leben eines anderen oder, was zur Erhaltung des Lebens dient: Freiheit, Gesundheit, Glieder oder Güter wegnehmen oder verringern, - es sei denn, daß an einem Verbrecher Gerechtigkeit geübt werden soll“276. Vom Hinzufügen oder vom Aufbessern fremder Güter ist nicht die Rede. Was also fehlt, weil andere untätig sind, mag noch so sehr fehlen Opfer einer Schädigung im hier relevanten Sinne ist nur der, dessen schlimmer Zustand mindestens auch Folge der Tätigkeit eines an deren ist. Im Zuge der Entwicklung des liberalen Rechtsstaats zum Sozial staat sind zwar zu den Rechten der Bürger aus dem Nichtschädi gungsgebot Ansprüche aus der Mitgliedschaft in Solidargemeinschaften hinzugekommen. Und solche Mitgliedschaft ist dann auch häufig nicht mehr freigestellt, sondern zur Pflicht erhoben. Aber unterdessen gilt doch das Nichtschädigungsgebot unvermindert 275 Locke (1977), Zwei Abhandlungen über die Regierung, II/§ 6, S. 203. 276 Ebd.
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fort. Auf diesen Umstand stützt sich schließlich auch die angesichts der drohenden Schäden und Risiken aus dem Industrialisierungs prozeß in Gang gekommene Verantwortungsdebatte. Die große Empfindlichkeit der Bürger gegen die auch medial besonders publi ken nichtnaturalen Risiken - insbesondere gegen die einschlägigen Gesundheitsrisiken - zeigt, daß deren mögliche Schadensfolgen durchaus als Verstöße gegen das Nichtschädigungsgebot wahrge nommen werden. Entsprechend steigt der Legitimationsdruck ge gen die öffentlichen Instanzen der Durchsetzung dieses Gebots277. Dies ist zumal dort der Fall, wo man einen Sinn dafür hat, daß die Durchsetzung nur eine politische Leistung, nicht aber eine Leistung der nichtorganisierten Privaten sein kann. In der Tat sind die Mög lichkeiten Privater, die Verantwortung für die im Zusammenwirken mit den Handlungen sehr vieler anderer entstehenden Nebenfolgen ihres Tuns effektiv selbst zu übernehmen, äußerst begrenzt. Das haben die Analysen des letzten Kapitels bestätigt. Hier bleibt zu prüfen, welche Konsequenzen aus der beschriebenen Lage für die Legitimität der zuständigen politischen Instanzen entstehen. Sie hätten es ja, so scheint es, in der Hand, die Zurechnungsstrukturen umzubilden, also die Schadensverhinderungspflichten der Privaten begrenzt, aber gezielt und koordiniert so zu erweitern, daß insge samt die Realisierung der drohenden Schäden tatsächlich vermie den wird. Der vorliegende Abschnitt leitet diese Debatte mit einer Analyse des Schädigungsbegriffs ein. Sie zeigt, daß bereits bei Locke als dem wirkungsreichsten Theoretiker der liberalen Gesellschaft das Nichtschädigungsgebot nicht so aufgefaßt werden kann, als habe jede (sc. vermeidbare) handlungsabhängige Beeinträchtigung ande rer ohne weiteren normativen Klärungsbedarf als reaktionspflichti ger Verstoß gegen dieses Gebot zu gelten. Diesen normativen Klä rungsbedarf ans Licht zu heben, ist hier zunächst die Absicht. Mit einigen vorliegenden Versuchen und einigen prinzipiellen Schwie rigkeiten, den Bedarf auf konsensfähige Weise zu decken, befassen sich die verbleibenden Abschnitte. Ist die zitierte Bestimmung des Umfangs der - bei Locke mit 277 Vgl. Beck (1988), Gegengifte, S. 10: Gefahren, die auf das Leben aller zielen und im offenen Widerspruch zum institutionalisierten Wohlfahrts- und Sicherheitsver sprechen des Staates stehen“; S. 25: „Es kommt ... darauf an, ... das immanente Ge spaltensein der ganzen bürokratisch-industriell-politischen Übermacht in Verkündiger und Verletzer von Sicherheits- und Lebensnormen zum Zentrum einer Gegenpolitik zu machen“, usf.
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langer Nachwirkung vorvertraglichen278 - Nichtschädigungspflicht eindeutig? Betrachten wir ein Fallbeispiel, und zwar zunächst eines, das zu den Verhältnissen im Lockeschen Naturzustand paßt. Der Bauer A hat ein Stück Land bearbeitet und bestellt. Dieses Land pflegt der Jäger B auf dem Weg von seiner Hütte zum Wildwechsel zu überqueren. Als er das über die frische Saat hinweg auch an diesem Morgen tut, wird er, nachdem er auf entsprechende Zurufe nicht reagiert, von dem Bauern mit Schlägen vom Acker vertrieben. Hat der Jäger mit der Inanspruchnahme des freien Durchgangs den Bauern geschädigt - nämlich dessen Besitz? Oder hat vielmehr der Bauer den Jäger geschädigt - nämlich dessen Freiheit und Gesund heit? Alle genannten Güter nennt auch Locke. Und alle wurden tätig beeinträchtigt. Dennoch wäre die Antwort, beide Beteiligten hätten gegen das Nichtschädigungsgebot verstoßen, nicht in Lockes Sinne. Seine Antwort würde lauten, der Bauer habe mit seinen Schlägen „an einem Verbrecher Gerechtigkeit geübt“279. Die rele vante Differenz, die die Schläge des Bauern anstelle eines Ver stoßes gegen das Nichtschädigungsgebot Abwehr eines solchen Verstoßes sein läßt, ergibt sich aus Lockes Theorie des Eigentums erwerbs. Der Eigentumserwerb ist der Prozeß, mittels dessen ein jeder seine natürlichen Rechte über das Recht an der eigenen Per son hinaus auf äußere Gegenstände erweitern kann. Das geschieht, so Locke280, mittels Bearbeitung der Gegenstände. Und bearbeitet hat das Land der Bauer, nicht der Jäger. Die Bedeutung der Frage, ob nicht die Inbesitznahme als solche schon Wegnahme, also Schädigung sei, ist den nachfolgenden Jahr hunderten bekanntlich nicht verborgen geblieben. Locke selbst äußert sich dazu so, daß er Kriterien rechtmäßigen Eigentumser werbs benennt. Es handelt sich erstens um die Bedingung, man dür fe nur soviel erwerben (zum Beispiel einsammeln), wie man nutzen 278 In vorpositivistischen Strafrechtslehrbüchern, so bei Anselm von Feuerbach, findet sich die Formulierung, daß „die ursprüngliche Verbindlichkeit des Bürgers“ nur auf Unterlassungen gehe, während ein Unterlassungsdelikt (also eine Verbindlichkeit zum Tätigwerden) immer einen „besonderen Rechtsgrund (Gesetz oder Vertrag)“ voraus setze, siehe Feuerbach (1847), Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinli chen Rechts, § 24, S. 50. Seinen rechtsdogmatischen Niederschlag hat die größere „Ur sprünglichkeit“ der Nichtschädigungspflicht in der bis heute herrschende Lehre von der Erforderlichkeit einer Sonderpflichtigkeit beim Unterlassungs-, nicht aber beim Begehungsdelikt gefunden. Siehe Kap. III., bes. Abschnitt 4. 279 Siehe oben den Text zu Anm. 276. 280 Locke (1977), II/§27, S. 216 f.
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könne281 oder wie „zur Annehmlichkeit des Lebens“ dienlich sei282. Die zweite Bedingung lautet, es müsse „genug und ebenso gutes“ für die anderen übrig bleiben283. Unter dieser letzten Bedingung jedenfalls stelle „die Abgrenzung für den eigenen Bedarf keine Be nachteiligung für die anderen dar. Denn wenn jemand einem an deren soviel übrig läßt, wie er nutzen kann, handelt er so, als nehme er überhaupt nichts“284. Das Naturzustandsbeispiel zeigt freilich, daß diese Einschränkungen auch bei geringer Bevölkerungsdichte und noch nicht bis an die Grenzen des Fassungsvermögens der Na tur entwickeltem System der Bedürfnisse nicht zu eindeutigen Er gebnissen führen. Denn was soll es angesichts der langen Umwege, die der Jäger nun jeden Tag von seiner Hütte aus zu machen hat, heißen, daß „genug und ebenso gutes“ übrigbleibe? Sagt man, dies sei hier der Fall, dann bleibt es bei der gegebenen Lösung. Sagt man, es sei nicht der Fall, dann klassifiziert man die Beanspruchung des Ackers durch den Bauern als unrechtmäßig und die Durchset zung dieses Anspruchs als Schädigung. Das Zertrampeln der Saat durch den Jäger dagegen wäre, da ja kein rechtmäßiger Besitz vor lag, keine Schädigung. Welche der beiden Lösungen vorzuziehen sei, ist im vorliegenden Kontext gleichgültig. In jedem Falle zeigt sich, daß der Begriff der Schädigung (und - was daraus zu folgen scheint - der Umfang des Nichtschädigungsgebots) selbst im vorvertraglichen Zustand nicht ohne Rekurs auf Anspruchslagen bestimmt werden kann. Insbeson dere kann er zum Beispiel nicht als tätige Verursachung von Leid im utilitaristischen Sinne („pain“) bestimmt werden. Leiden mag ja unabhängig von der Anspruchslage sowohl der Bauer, wenn die von ihm gepflanzte Saat zugrundegeht, als auch der Jäger, wenn er einen Umweg machen muß. Schädigung dagegen, so scheint es, ist immer Schädigung von Rechten. Gerade so drückt sich auch Locke wie selbstverständlich aus, wenn er im Anschluß an die zitierten Formu lierungen des Nichtschädigungsgebots die Überlegung anstellt, wie denn nun die Menschen davon abgehalten werden könnten, „die Rechte anderer zu beeinträchtigen“285. Hier fungiert der Ausdruck „Rechte“ als Oberbegriff für die zuvor genannten Güter - Gesund 281 282 283 284 285
Ebd.II/§31,S.219. Ebd. II/§ 37, S. 223. Ebd. II/§ 27, S. 217. Ebd. II/§ 33, S. 220. Ebd. II/§7,S. 203.
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heit, Besitz, Freiheit usw. Diese Subsumtion wäre nicht weiter pro blematisch, wenn es sich bei den genannten Gütern durchweg um etwas handelte, dessen Vorliegen nicht unabhängig von einer Auf teilung der natürlichen Welt in Anspruchssphären bestimmbar ist. Für die Kategorie „Besitz“ leuchtet das sofort ein. Denn daß ein Gegenstand besessen werde, heißt eben (bei Locke) nichts anderes, als daß daran ein individuelles Recht erworben wurde. Wie steht es aber mit der Kategorie „Gesundheit“? Daß dies ein Rechtsbegriff sei, daß also eine Schädigung einer Person durch Schädigung ihrer Gesundheit nur insoweit stattfinden könne, als ein Recht der Person an der Unversehrtheit des betreffenden Gegenstandes (nämlich des eigenen Körpers) bestehe, will nicht einleuchten. Allenfalls könn ten Gesundheitsschädigung und Rechtsschädigung im Ergebnis zu sammenfallen - nämlich dann, wenn das Recht an der Unversehrt heit des eigenen Körpers so unbeschränkt wäre, daß eben deshalb jede Schädigung der Gesundheit Schädigung eines Rechtes wäre. Tatsächlich muß nach Locke das Recht am eigenen Körper, anders als das Recht an äußeren Gegenständen, nicht eigens erworben werden. Es werden daher für den Besitzanspruch auf diesen beson deren Gegenstand auch keine einschränkenden Rechtmäßigkeits bedingungen genannt. Sondern hier gilt: „... jeder Mensch [hat] ein Eigentum an seiner eigenen Person. Auf diese hat niemand ein Recht als nur er allein“286. Es scheint also, daß die Identifikation von Gesundheitsschädi gung und Rechtsschädigung in diesem System möglich ist. Aber es scheint eben nur so, wie sich sogleich zeigt, wenn wir uns an das diskutierte Fallbeispiel zurückerinnern: Gehen wir davon aus, daß der Bauer einen rechtmäßigen Anspruch auf den Acker hat, so darf er, wenn das zur Verteidigung seines Besitzes erforderlich ist, den Jäger mit Schlägen vertreiben. Eine Schädigung von Rechten des Jägers, also eine Verletzung des Nichtschädigungsgebots, liegt darin nicht. Aber daraus wird man doch nicht folgern wollen, daß auch die Gesundheit des Jägers nicht geschädigt werde. Vielmehr wird man sich ganz natürlich so ausdrücken, daß die Gesundheit des Jä gers hier erlaubterweise geschädigt worden sei. Das Erfordernis, den Begriff der erlaubten Schädigung einzuführen, zeigt, daß der Schä digungsbegriff offenbar doch keine durch und durch auf bestehende Anspruchslagen relativierte Bedeutung hat. Nicht jede Schädigung ist Schädigung eines Rechtes, und insoweit gilt auch (was ja zu 286 Ebd. II/§27, S. 216.
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nächst paradox klingt), daß nicht jede Schädigung eine Verletzung des Nichtschädigungsgebots ist. In bestimmter Hinsicht hat auch Locke dies explizit gesagt, in dem er seine zweite Formulierung des Nichtschädigungsgebots mit der schon zitierten Ausnahmeklausel versieht: . es sei denn, daß an einem Verbrecher Gerechtigkeit geübt werden soll.“ Diese für den Naturzustand gegebene Formulierung umfaßt - in Termini des modernen Strafrechts gesprochen - nicht nur die Bestrafung, son dern auch die Notwehr. Das ist diejenige Form der Abwehr von Rechtsbrüchen, die auch dort, wo die Bestrafung Sache des Staates ist, dem Individuum verbleibt. Im heute üblichen Aufbau des Straf tatsystems gehört die Notwehr (wie der Notstand) zu den sogenann ten Rechtfertigungsgründen. Das sind Gründe, die Anlaß geben können, einer tatbestandsmäßigen Handlung trotz ihrer Tatbe standsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit abzusprechen. Wer zum Bei spiel jemanden in Notwehr erschlägt, erfüllt den Tatbestand des Totschlags. Er kann jedoch für seine Tat hinreichend gute Gründe vorbringen und bleibt daher straffrei. Denkbar wäre anstelle dieser dogmatischen Konstruktion auch eine Konstruktion, derzufolge man mit einer rechtmäßigen Handlung niemals einen Straftatbe stand erfüllt. Die geltende Dogmatik trägt demgegenüber der Tat sache Rechnung, daß das Erschlagen eines Menschen, Rechte hin oder her, mit einiger Anschaulichkeit eine Schädigung dieses Men schen und damit prima facie eine Verletzung des Nichtschädigungs gebots, also Unrecht ist. Soll das Unrechtsurteil zurückgenommen werden, muß die Rechtmäßigkeit der Tat eigens begründet werden. Ich komme nun zu dem Punkt, auf den es bei alledem hier an kommt. Wie wir gesehen haben, hat sich die partielle Nichtrelativi tät des Schädigungsbegriffs auf gegebene Anspruchslagen im heuti gen Straftatsystem insoweit durchgesetzt, als mit der Zweistufigkeit der Zurechnung (erstens: Tatbestandserfüllung - ja oder nein, zwei tens Rechtfertigung - ja oder nein) die begriffliche Möglichkeit er laubter Schädigung gegeben ist. Andererseits hat sich aber auch die partielle Relativität des Schädigungsbegriffs auf gegebene An spruchslagen im Straftatsystem niedergeschlagen. D. h., es gibt zahl reiche tätige Beeinträchtigungen von Gütern, die im Straftatsystem nicht als Schädigungen auffällig werden, weil sie keine konstituier ten Rechte an den betreffenden Gütern verletzen. Für Gegenstän de der äußeren Welt, soweit sie niemandem gehören (also für die Luft, das Grundwasser, die Ozeane), ist das nicht weiter überra schend. Aber es gilt auch für das Gut der körperlichen Unversehrt 180 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
heit. Anders als es die kategorische Formulierung eines bedin gungslosen, angeborenen Eigentums an der eigenen Person bei Locke nahelegt, ist also auch dieses Gut eines, dessen Transforma tion in ein Recht eine nicht naturgegebene Abgrenzung von An spruchsbereichen voraussetzt. Das sei im folgenden an einem Bei spiel erläutert. Das Beispiel ist dieses Mal nicht aus dem Naturzustand, sondern aus dem modernen Großstadtleben gegriffen287. Der Autofahrer A fährt unter Einhaltung der erlaubten Geschwindigkeit und unter Aufbietung der in der gegebenen Verkehrssituation erforderlichen Aufmerksamkeit durch die Innenstadt. Das Schulkind B springt plötzlich und unerwartet von einer Verkehrsinsel auf die Straße. Es wird von dem Autofahrer, dessen sofort eingeleitete Bremsung zu spät kommt, schwer verletzt. Man wird zugeben, daß es an An schaulichkeit der Schädigung hier nicht fehlt. Dennoch wird jeder Beobachter, der die Situation wie beschrieben erfaßt hat, nicht ein mal prima facie ein Unrechtsurteil gegen den Autofahrer fällen. Liegt das daran, daß hier evidenterweise Rechtfertigungsgründe für die schädigende Tat vorliegen? Natürlich nicht. Es ist liegt of fenbar daran, daß der Schaden für den Autofahrer, wie man sagt, nicht vermeidbar war. Es ist also zwar der Schaden evident, nicht aber das Vorliegen einer schädigenden Tat. Freilich - eine vermeid bare Tat (nämlich das Autofahren im Rahmen der Straßenver kehrsordnung) lag genaugenommen doch vor. Und daß es gänzlich unvorhersehbar wäre, daß infolge solchen Tuns gelegentlich auf die Straße springende Kinder verletzt werden, wird man angesichts der einschlägigen Verkehrsstatistiken ebenfalls nicht behaupten wol len. Von purer Unmöglichkeit der Vermeidung des Schadens durch den Fahrer kann also nicht die Rede sein. Woran es fehlte, war viel mehr die Pflicht, den Schaden zu vermeiden, genauer: das Setzen einer Schadenseintrittsbedingung zu vermeiden, wie wir sie täglich millionenfach - mit den zugehörigen, aus den Verkehrsstatistiken bekannten Resultaten - auch dann setzen, wenn wir in der von der Straßenverkehrsordnung erlaubten Weise am Straßenverkehr teil nehmen. Da der Fahrer sich mit seiner Handlung im Rahmen des allgemein Erlaubten hält, erfüllt er keinen Straftatbestand. Er muß also, obgleich er eine positive Schadenseintrittsbedingung gesetzt
287 Wir haben es im ersten Kapitel bereits kurz berührt; siehe Abschnitt I.4., S. 26.
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hat, nicht einmal eine Rechtfertigung für sein Tun verbringen. In einem hinreichend eindeutigen Fall werden sogar die Eltern des Kindes den Grund für den Unfall im Verhalten des Kindes, viel leicht auch in ihrem eigenen Verhalten (fehlende Aufsicht, unzurei chende Verkehrserziehung) sehen und im übrigen auf das Ereignis protestfrei, d. h. wie auf eine über sie hereingebrochene Naturkata strophe reagieren. Im Unterschied zu wirklichen Naturkatastrophen weist aber die scheinbare Unerbittlichkeit des Geschehens eine normative Schwachstelle auf, an der Protest sich festmachen könnte. Ist erst das dritte Kind an derselben Stelle zu Schaden gekommen, so fällt schließlich auch der Blick der Betroffenen auf den änderbaren Kau salfaktor, dessen Benennung die vermeintliche Naturkatastrophe als gesellschaftlich bedingte Katastrophe entlarvt. Dieser Kausal faktor ist die rechtliche Erlaubnis, sich im Straßenverkehr so zu verhalten, daß mit gewisser, nicht unerheblicher Wahrscheinlichkeit Personen zu Schaden kommen. Der Autofahrer könnte einwenden, daß niemand zu Schaden gekommen wäre, wenn auch das Kind sich im Rahmen des rechtlich Erlaubten gehalten hätte. Dann argumen tiert er mutatis mutandis wie (in unserem Naturzustandsbeispiel) der Bauer, der geltend macht, daß niemand zu Schaden gekommen wäre, wenn der Jäger es vermieden hätte, den Acker zu betreten. Ausschließliche Nutzungsrechte, sei es an Äckern oder an Straßen, sind normativ voraussetzungsvoll. Daß die von Locke benannte Le gitimitätsbedingung (es müsse für andere „genug und ebenso gutes“ übrig bleiben) im Straßenverkehrsbeispiel erfüllt ist, will angesichts der zwischen mehrspurigen Fahrzeugkolonnen von Verkehrsinsel zu Verkehrsinsel traversierenden Schulkinder nicht unbezweifelbar erscheinen. Das Beispiel zeigt: Zahlreiche, in modernen Lebenszusammen hängen insgesamt zunehmende Gesundheitsbeeinträchtigungen werden im Rahmen eines auf die geltende Zurechnungspraxis ein gestellten Schädigungsbegriffs nicht als Schädigungen seitens ir gendwelcher Täter, sondern als Unglück wahrgenommen. Wird die Relativität des Schädigungsbegriffs auf kontingente, so oder anders verteilbare Rechte ans Licht gezogen, fallen diese Beeinträchtigun gen in den Bereich des legitimationsbedürftigen Geschehens zurück. Eine konsequente Repolitisierung der geltenden Zurech nungsstrukturen und der durch sie geprägten Hinnahmebereit schaft der Bürger hätte einen sprunghaften Anstieg des Legitima tionsbedarfs zur Folge. Dieser ist das „Gegengift“, das Ulrich Beck 182 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
in seinem mehrfach zitierten Buch288 beschwört. Auf die delegitimierende Wirkung hofft er umso mehr, als die Sicherheitsrhetorik des Establishments289 die Fortgeltung eines strikten (explizit ja nur in der Form der Erlaubnis zur Abwehr von Angriffen eingeschränk ten) Nichtschädigungsgebots zu bestätigen scheint. Unmittelbar delegitimierend kann freilich die prima facie-Empörung, die sich einstellt, wenn Schäden als Taten bewußt werden, auf Dauer nicht wirken. Sie kann es nur dann, wenn es sich um Taten handelt, auf die zu verzichten dem Täter ohne weiteres zugemutet werden kann. Mittlerweile jedoch tragen bereits Alltagshandlungen - die Fortbewegung, das Heizen, selbst das Defäkieren - zum Stei gen des Schadstoffpegels auf gesundheitserhebliche Werte bei und werden so zu Schädigungstaten. In einer solchen Lage muß offen bar zwischen dem prima facie-Recht auf diese Handlungen und dem prima-facie-Unrecht des Schädigens anderer irgendwie abge wogen werden. Es gibt dann ebenjenen von Locke als Bereich legi timer Freiheitsausübung ins Auge gefaßten Bereich nicht mehr, in dem man für den Erhalt seiner eigenen Person sorgen kann, ohne die Bedingungen des Erhalts anderer Personen zu beeinträchtigen. Dann hat man sich, wie es scheint, daran zu gewöhnen, daß auch die körperliche Unversehrtheit ein Gut ist, auf das man nur ein partiel les Recht hat, das also auch unabhängig von Notwehrsituationen auf allerlei Art und Weise geschädigt werden darf. Sicherheitsrhe torik, wie sie in der Tat im politischen, auch im unternehmenspoli tischen Bereich gang und gäbe ist, erleichtert diese Gewöhnung nicht. Es wird zunehmend unvermeidlich sein, die Gefährlichkeit des Handelns explizit zuzugeben und seine Erlaubtheit mit der Un zumutbarkeit der Unterlassungsfolgen zu begründen290. Daß auch das Strafrecht - trotz des Primats des Schädigungsver bots - dem Gedanken der Interessenabwägung nicht fremd gegen 288 Beck (1988), Gegengifte. 289 Vgl. Beck (1988), S. 9: „Die Gefahrentechnokratie zappelt in den Daumenschrau ben ihrer Sicherheitsversprechen, die selbst anzulegen und anzuziehen sie im büro kratischen Wohlfahrtsstaat im Scheinwerferkegel der Massenmedien gezwungen ist.“ 290 Diese Argumentationsstrategie beginnt denn auch die Sicherheitsrhetorik abzulö sen; siehe zum Beispiel als einschlägige Debatte im Umkreis der durch extensive Ge fahrenabwehrregelungen eingeschränkten biotechnologischen Forschung: Mittelstraß/Habenicht (1995), Risikoabschätzung in der Wissenschaft: Konsequenzen unterlassener Forschung und Entwicklung. Der Wechsel von der Sicherheitsrhetorik zur Abwägungsrhetorik wird entscheidend erleichtert durch das Faktum, daß die um strittenen Technologien auch als Mittel zur Abwehr der Risiken aus früheren Techno logien präsentiert werden können.
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über steht, hatten wir bereits im zweiten Kapitel Gelegenheit zu diskutieren: Der Notstandsparagraph gestattet den Eingriff in die Güter anderer, wenn dies zur Rettung von höherwertigen eigenen Gütern oder Gütern Dritter erforderlich ist291. Schwere Gesund heitsschädigungen oder gar der Einsatz fremden Lebens sind aber, wie wir ebenfalls sahen, von der Abwägung ausgenommen. Inso weit ist es nicht selbstverständlich, sondern vielmehr ungewöhnlich, nun auch die eigene körperliche Unversehrtheit nur nach Maßgabe von Gesichtspunkten der Interessenabwägung, nicht aber strikt re spektiert zu sehen. Zumal deshalb ist dies ungewöhnlich, weil die einschlägigen Abwägungsentscheidungen - anders als Abwägungs entscheidungen im Rahmen von Notstandsfällen - gar keiner rich terlichen Kontrolle zu unterliegen scheinen. Die Handlungen, aus denen sich die Schäden ergeben, werden ja, wie wir am Beispiel des Autofahrers sahen, innerhalb des Strafrechts gar nicht als Schädi gungstaten auffällig. Die Erlaubnis zu solchen Handlungen ist daher (im Unterschied zu Notstandsfällen) an das explizite Vorbrin gen einer überzeugenden Interessenabwägung auch nicht gebun den. Die Erlaubnis wird vielmehr pauschal erteilt: Sie geschieht mittels eines nichtnaturalistischen, von vornherein normativ einge schränkten Umgangs mit der Frage, welche Handlungen als tatbe standserfüllend gelten. Immerhin wird die Normativität der Kriterien der Tatbestands erfüllung in der Rechtswissenschaft reflektiert und kommentiert. Das im vorliegenden Zusammenhang wichtigste rechtsdogmatische Stichwort lautet „erlaubtes Risiko“292: Diese Kategorie betrifft Ver 291 Siehe Jakobs (1993), Strafrecht, S. 409-431, S. 409: die Rechtfertigung der Not standshandlung sei „seit jeher streitig gewesen“: „Eine individualistische Lösung nimmt zum Ansatz, daß eine Gefahr nicht vom Betroffenen einem anderen aufgehalst werden darf ... Eine eher auf gegenseitige Solidarität der Rechtsunterworfenen ab stellende Lösung blickt auf die Interessenbilanz und gibt ein Recht zur Interessenver letzung, wenn die Notstandshandlung die Gesamtbilanz verbessert.“ 292 Überblick bei Jakobs (1993), S. 198-208 mit Literaturnachweisen, kurz Roxin (1994a), Strafrecht, S. 306-308; siehe außerdem Prittwitz (1993), Strafrecht und Risiko, S. 267-319, und Kindhäuser (1994), Erlaubtes Risiko und Sorgfaltswidrigkeit. Die rechtsdogmatische Einordnung der Kategorie des erlaubten Risikos hat seit der ersten Thematisierung des Sachproblems bei v. Bar (1871), Die Lehre vom Causalzusammenhange im Rechte, besonders im Strafrechte, S. 14, mehrfach gewechselt; kurz dazu Pritt witz (1993), S. 275-277; ausführlich Preuß (1974), Untersuchungen zum erlaubten Risi ko im Strafrecht, S. 30-61. Analoge Funktion hat die Kategorie der „Sozialadäquanz“. Die beiden Figuren der objektiven Zurechnung werden in verschiedenen Lehrbü chern und verschiedenen dogmenhistorischen Lagen unterschiedlich abgegrenzt; zum Teil gelten sie auch gar nicht als disjunkt. - Vgl. zum folgenden W. Lübbe
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haltensweisen, die pauschal gestattet werden, obwohl sie auch bei sorgfaltsgemäßer Ausführung ein gewisses Schadenspotential in sich bergen und dieses sogar allgemein bekannt ist. Handlungen im Rahmen des erlaubten Risikos sind nicht nur nicht rechtswidrig, sondern gar nicht erst tatbestandsmäßig293. Daher sind Handelnde, die sich im Rahmen des erlaubten Risikos bewegen - im Unter schied zu Handelnden, die eine Notstandslage für sich in Anspruch nehmen -, von der Pflicht zur Abwägung der widerstreitenden In teressen befreit. Eine solche pauschale Befreiung von der Pflicht zur abwägenden Berücksichtigung wißbarer Folgen des eigenen Tuns ist - zumal angesichts der Geltung des Nichtschädigungsge bots - hinsichtlich ihrer Legitimitätsbedingungen klärungsbedürf tig. Mit den üblichen Legitimationswegen befassen wir uns im fol genden Abschnitt. 2. Erlaubtes Risiko - Legitimationsversuche Wer leben will, muß essen, sein Brot auch verdienen, sich selbst und seine Umgebung warm und sauber halten, Kontakte pflegen, Ent fernungen überbrücken und so weiter und so fort. Das alles erzeugt Lärm, Abfall, Hindernisse und sonstige kleine Belästigungen und Gefährdungen aller Art. Bei hinreichend vielen Beiträgern kann sich das zu sehr erheblichen Belästigungen und Gefährdungen auf summieren. Ins theoretische Extrem getrieben, käme die Nicht schädigungsregel also einem Existenzverbot gleich. Tatsächlich ist nicht nur die Lebensweise des Menschen, sondern auch sein Leben oder Nichtleben als solches immer wieder zum Gegenstand politi scher oder auch innerfamiliärer Risikominderungsstrategien ge macht worden. Bevölkerungs- oder familienzuwachsbeschränkende Maßnahmen sind Strategien dieser Art. Wem aber bereits gestattet wurde, auf die Welt zu kommen, dem können auch die damit ver bundenen Mindestbelastungen der Mitmenschen und des Öko systems nicht gut verboten werden. Seiner Legitimationsstruktur nach liegt diesem Argument prima (1995), „Erlaubtes Risiko“. Zur Legitimationsstruktur eines Zurechnungsausschlies sungsgrunds; aus diesem Text sind hier - vor allem im folgenden Abschnitt - längere Passagen übernommen. 293 Vgl. Jakobs (1993), S. 201: „Die Überschreitung des erlaubten Risikos ist eine po sitive Voraussetzung des Unrechts, nicht etwa die Einhaltung des erlaubten Risikos ein Rechtfertigungsgrund.“
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facie derselbe Gedanke zugrunde wie dem Notstandsparagraphen: Wenn es um hohe Güter geht, sind gewisse Schädigungen anderer erlaubt. Freilich können erlaubt riskante und sonstige als sozialadä quat geltende Handlungen mit möglicher Schädigungswirkung nicht durchweg als unabdingbare Notwendigkeiten der Lebensfüh rung gerechtfertigt werden - quasi als alltägliche Notstandshand lungen im Interesse der Aufrechterhaltung der Bedingungen der eigenen Fortexistenz. Nicht einmal die Nahrungsaufnahme oder das Heizen können so, wie sie in unserer Gesellschaft üblich sind (Frischobst im Winter usf.), als lebensnotwendig gelten. Und ent sprechend sind die Aktivitäten zu beurteilen, die schlicht als „Brot verdienen“ zu bezeichnen die Funktionen und Motivationen heuti ger Berufsausübung verkennen hieße. A fortiori gilt das für die Freizeitbetätigungen: Wer aus Freude am Autofahren durch die Ge gend fährt, wer seinen Möbeltransporter einsetzt, um eine Schach tel Zigaretten zu holen, wer sich eigens von Köln nach Paris begibt, um dort elegant zu frühstücken - der kann sich auf das hohe Gut der Lebenserhaltung nicht berufen. Und auch ein sonstwie evidentes Überwiegen der mit solchen Handlungen verfolgten Interessen ge genüber den Interessen der nachteilig Betroffenen liegt nicht vor. Dennoch sind solche Autofahrten nicht weniger erlaubt als die Fahrt eines Arztes zu einem Schwerkranken. Üblicherweise wird denn auch das erlaubte Risiko des Autofah rens - das uns hier weiter als Beispiel dienen soll - nicht einmal von seinen Befürwortern mit evidenter Nötigkeit in den meisten be kannt werdenden Einzelfällen begründet. „Freie Fahrt für freie Bürger“ lautet vielmehr der Slogan einschlägiger Parteien. Tatsäch lich liegt dem liberalen Denken ein genereller Hinweis dieser Art nahe. Muß es nicht aus Gründen der Freiheitssicherung legitim sein, individuelle Handlungsspielräume zu garantieren, innerhalb derer man speziell an seine eigenen Bedürfnisse zu denken berechtigt ist? Eindeutig liberal, also freiheitssichernd, ist das Festhalten an Frei räumen legitimen Eigennutzes freilich nur dort, wo die Entschei dung, ob jemand seinen Handlungsspielraum so oder so nutzt, die Interessen anderer gar nicht berührt. In allen anderen Fällen kann auch die Einschränkung von Handlungsspielräumen mit dem An spruch auf Freiheitssicherung auftreten - nämlich Sicherung der Freiheit der jeweils anderen. Mit der Freiheit des Möbelhändlers, Zigaretten zu holen, verhält es sich eben wie auch sonst mit der Freiheit der Raucher und Nichtraucher: Die Freiheit der Raucher, zu rauchen, ist mit der Freiheit der Nichtraucher, zu rauchen, nach 186 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
einem allgemeinen Gesetze der Freiheit vereinbar - nicht aber mit der Freiheit der Nichtraucher, nicht mitzurauchen. Welches der hier möglichen allgemeinen Gesetze den Ausschlag geben soll, ist dem bekannten kantischen Rechtsprinzip294 oder auch dem Wert der Freiheit als solchem nicht zu entnehmen. Es sieht daher so aus, als ginge es bei der Behandlung von Fällen wie dem des Möbelhändlers gar nicht um mehr oder weniger Liberalität. Es scheint einzig um die größere oder geringere Wichtigkeit der beteiligten Interessen zu gehen. Dennoch taucht das Argument aus der Freiheit im Kontext von Versuchen zur Begründung des erlaubten Risikos auf. Günther Jakobs schreibt im einschlägigen Abschnitt seines Lehrbuchs fol gendes: je mehr Enttäuschungen um jeden Preis vermieden werden, um so stärker schrumpft das Arsenal möglicher Verhal tensweisen ... Schon zur Erhaltung eines differenzierten Angebots an Möglichkeiten sozialen Kontakts müssen also einige Enttäu schungsmöglichkeiten in Kauf genommen werden. Dabei ist es um so eher möglich, ein Risiko als erlaubt zu akzeptieren, als es auch die jeweils eigene Handlungsfreiheit erweitert. Die Entlastung von der Verantwortung für bestimmte Folgen macht dann nicht nur die Palette fremden Verhaltens reichhaltiger, sondern auch die Zahl der Handlungen, aus der jeder selbst wählen kann, ohne sich falsch zu verhalten.“295 Stimmt es, daß das Arsenal rechtlich erlaubter Verhaltensweisen schrumpfen muß, wenn „Enttäuschungen um jeden Preis vermie den werden“ sollen? Dazu fragen wir zunächst, was hier unter einer „Enttäuschung“ zu verstehen ist. Ist jede Form der Beeinträchti gung eines Interesses gemeint, so ist bereits die Rede von einer Ent täuschungsvermeidung „um jeden Preis“ inkonsistent. Hohe Preise, in welcher Währung auch immer zu bezahlen, sind ja ihrerseits ent täuschend. Kenner der Jakobsschen Theorie wissen freilich, daß unter einer „Enttäuschung“ nicht irgendeine Interessenbeeinträch tigung zu verstehen ist, sondern eine Verletzung sozialer Verhal tenserwartungen: Es geht um Erwartungsenttäuschung296. Ist unter dieser Prämisse die zitierte Behauptung richtig? Stimmt es, daß so 294 Kant (1982), Metaphysik der Sitten, B 33, S. 337: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ 295 Jakobs (1993), Strafrecht, S. 200. 296 Vgl. ebd. S. 6f., mit Bezug u.a. auf Luhmanns einschlägige Begrifflichkeit, siehe Luhmann (1983), Rechtssoziologie.
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ziale Verhaltenserwartungen dort am enttäuschungsfestesten sind, wo fast gar nichts erlaubt ist? Ich glaube nicht: Ist riskantes Verhal ten erlaubt, kann der Eintritt einer entsprechenden Schädigung auch nicht als Erwartungsverletzung gelten. Erwarten kann man dann ja nicht das Ausbleiben jeglicher schädigenden Handlungsfol ge. Sondern nur das Ausbleiben der Schädlichkeitsfolgen unerlaub ter Handlungen kann erwartet werden. Meines Erachtens ist die prima facie-Plausibilität der zitierten Formulierungen dem Umstand zuzuschreiben, daß Jakobs die bei den genannten Bedeutungen des Enttäuschungsbegriffs - Eintritt eines Schadens einerseits, Eintritt eines Schadens, dessen Ausblei ben man zu erwarten berechtigt war, andererseits - nicht konse quent auseinanderhält297. Das läßt sich an dem Beispiel zeigen, das Jakobs zur Erläuterung heranzieht: „Wenn man als Passant vor rest los jeglicher Gefährdung durch Kraftfahrzeuge verschont sein will, kann ein auf dem Dorf wohnender Kranker nicht erwarten, daß der Arzt trotz Glatteisgefahr zur Hausvisite kommt.“298 Das soll ein Be leg dafür sein, daß strikte Enttäuschungsvermeidung - hier: strikte Vermeidung der Enttäuschung von Passanten durch Autounfälle eine Einschränkung erlaubter Verhaltensweisen erfordere. Uner wähnt bleibt, daß auch der Mangel an ärztlicher Versorgung eine Enttäuschung darstellt, wenn Enttäuschung Interessenbeeinträchti gung heißen soll. Soll aber Enttäuschung Erwartungsenttäuschung heißen, so ist der Autounfall eo ipso genau so wenig eine Enttäu schung wie die mangelnde ärztliche Versorgung. Ist die ärztliche Versorgung bei Glatteis zulässig, können Passanten eine eingetrete ne Schädigung nicht als Resultat erwartungswidrigen Verhaltens geltend machen. Der Satz „Schon zur Erhaltung eines differenzierten Angebots an 297 Gegen eine strenge Unterscheidung der beiden Bedeutungen des Enttäuschungs begriffs spricht folgende Tatsache: Vorkommnisse, von denen man weiß oder vermu tet, daß sie rechtswidrig sind (zum Beispiel Hausmusik aus der Nachbarwohnung kurz nach 22 Uhr), schädigen mehr als Vorkommnisse, die man der gegebenen Rechtslage wegen hinzunehmen gelernt hat (zum Beispiel Hausmusik ebenda kurz vor 22 Uhr). Mit anderen Worten, was (bzw. in welchem Grade etwas) als Schädigung eines Gutes wahrgenommen wird, ist nicht gänzlich unabhängig von der Frage, inwieweit das ver ursachende Verhalten als berechtigt gilt. Indessen ändert diese Relativierung der Un terscheidung nichts an der Untauglichkeit des hier zu verhandelnden Arguments aus der Freiheit. Jakobs relativiert die Unterscheidung nicht im erläuterten Sinne, sondern benutzt die beiden Bedeutungsalternativen nebeneinander, ohne dies explizit zu ma chen. Siehe dazu das im Haupttext folgende Fallbeispiel. 298 Jakobs (1993), S. 200.
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Möglichkeiten sozialen Kontakts müssen ... einige Enttäuschungs möglichkeiten in Kauf genommen werden“ wäre also so zu lesen: Was in Kauf genommen werden muß, sind Interessenbeeinträchti gungen. Und dasjenige, um dessentwillen sie in Kauf genommen werden, sind zwar in der Tat differenzierte Möglichkeiten sozialen Kontakts, aber dies nicht um der Differenziertheit willen, sondern um der dadurch ermöglichten Interessenbefriedigung willen. Daß der Arzt bei Glatteis Auto fahren darf, ist nicht mit dem Hinweis legitimierbar, dadurch komme eine weitere Handlungsmöglichkeit in die Welt. Allenfalls taugt der Hinweis, an dieser Handlungsmög lichkeit bestehe ein hinreichend wichtiges Interesse. Entsprechendes gilt für die Behauptung, es sei „umso eher mög lich, ein Risiko als erlaubt zu akzeptieren, als es auch die jeweils eigene Handlungsfreiheit erweitert.“ Gewiß, die Erlaubnis, im Hör saal zu rauchen, erweitert auch die Handlungsfreiheit der Nichtrau cher: Auch sie dürfen jetzt im Hörsaal rauchen. Aber das erleichtert eben nur dem die Akzeptanz des einschlägigen Gesundheitsrisikos, der ein Interesse an der Nutzung der Handlungsmöglichkeit hat. Zudem gilt, daß die Raucherlaubnis die Freiheit der Hörsaalbenut zer nicht nur erweitert, sondern auch einschränkt: Es ist ihnen jetzt nicht mehr möglich, im Hörsaal rauchfrei zu existieren. Wer bestrei ten wollte, daß man es hier mit einer Einschränkung von Hand lungsfreiheit zu tun hat, da das „rauchfreie Existieren“ im Unter schied zum Rauchen keine Handlung sei, der beschränkt den Begriff der Freiheit auf die Freiheit zu Eingriffen im Unterschied zur Freiheit von Eingriffen. Wahrhaft grenzenlos ist die Freiheit dann in der Tat dort, wo alles erlaubt ist: A darf rauchen, B darf ihm die Zigarette aus der Hand schlagen usw., und alle sind frei, weil ja keine Handlung verboten ist. Als Thomas Hobbes schrieb, im Naturzustand habe „jedermann ein Recht auf alles“2", meinte er genau diesen Zustand. Empfehlen wollte er ihn bekanntlich nicht. Die Erlaubnis zu riskantem Handeln kann demnach mit dem Argu ment, sie diene der Freiheitssicherung, nicht begründet werden. Er laubte Risiken sind immer zugleich Einschränkungen von Freiheits sphären. Welche Freiheit jeweils vorzuziehen ist, ist keine Frage der Liberalität, sondern eine Frage der Abwägung der beteiligten Inter essen. Zu einem analogen Ergebnis führt eine zweite Form der Legiti-299 299 Hobbes (1984), Leviathan, oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bür gerlichen Staates, Kap. 14, S. 99.
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mation des erlaubten Risikos, die im Schrifttum eine große Rolle spielt. Es handelt sich um die sogenannte „historische Legitima tion“. Jakobs erläutert das Stichwort folgendermaßen: „Bestimmte Formen erlaubter Betätigung sind historisch überkommen, oft un ter Strapazierung des Rahmens (Straßenverkehr) und werden des halb als sozialadäquat akzeptiert“300. Eine Anmerkung erläutert: „Genauer: Nicht die Geschichtlichkeit legitimiert, sondern das Übereingekommensein suggeriert, die Legitimationsfrage sei ehe mals gelöst worden; - eine historisch ersparte Legitimation“301. Kurz: Es handelt sich um eine Legitimation eigener Art kraft Unter stellung des Stattgefundenhabens einer Legitimation anderer Art. Das ist ein gewagtes Konstrukt. Sehen wir zu, ob es trägt, wenn man sich darauf stützen möchte. „Bestimmte Formen erlaubter Betätigung sind historisch über kommen ... und werden deshalb als sozialadäquat akzeptiert“ dieser Satz läßt mindestens die folgenden beiden Deutungen zu. Erstens: Bestimmte Formen der Betätigung sind früher erlaubt ge wesen und werden deshalb auch jetzt akzeptiert, nämlich von seiten der Rechtssetzungsinstanzen. - Diese Deutung ergibt wenig Sinn. Die Rechtssetzungsinstanzen verbieten bekanntlich immer wieder einmal Dinge, die früher erlaubt waren - zum Beispiel die Entsor gung von gewissen häuslichen Abfällen durch Aus-dem-FensterKippen. Frühere Erlaubnisse können angesichts einer sich wandeln den Realität nicht als Hindernis gelten, gegenwärtig anders zu be stimmen. Daher taugen sie auch nicht als Legitimation gegenwär tiger Bestimmungen. Zweitens: Bestimmte Formen der Betätigung sind früher erlaubt gewesen und werden daher auch jetzt akzeptiert, nämlich von den Bürgern. - Diese Deutung scheint mehr Sinn zu ergeben. Jedenfalls paßt sie zu der folgenden Erläuterung von Ja kobs: Die historische Legitimationsform sei „nur möglich, weil das Strafrecht nicht ein Arsenal ruhender Güter zu schützen und auch nicht nur Güter zu maximieren, sondern Erwartungen auf bestimm te Verhaltensweisen zu stabilisieren hat. Wenn ein Verhalten zwar Güter schädigt, aber trotzdem nicht enttäuscht, weil nämlich seine Akzeptation Gewohnheit geworden ist, so ist dies nur bei einem polizeilichen“ Blick auf die Sicherheit der Güter ein Wider spruch“302. Nimmt man das hinzu, so lautet das vollständige Argu 300 Jakobs (1993), S. 201. 301 Ebd. S. 201, Anm. 63; im Original steht „Übereinkommensein“. 302 Ebd. S. 201.
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ment offenbar folgendermaßen: Bestimmte Formen der Betätigung sind früher erlaubt gewesen und werden daher kraft Gewöhnung auch jetzt von den Bürgern akzeptiert. Von den Rechtssetzungsin stanzen dagegen werden sie wegen ihrer jetzigen Akzeptiertheit seitens der Bürger akzeptiert. Ist dies die Struktur der gemeinten Legitimationsform, so läßt sich dazu folgendes sagen: Es handelt sich nicht um eine „histori sche“ Legitimation, sondern um eine Legitimation kraft Verweises auf aktuellen Mangel an Legitimitätszweifeln. Das ist solange eine wunderbare Legitimation, als man damit niemanden überzeugen muß. Melden sich Zweifel, so ist es keine Legitimation mehr. Denn der faktische Konsens hat ja dann ein Ende. Mit anderen Worten: Die sogenannte historische Legitimation trägt genau dann, wenn sie auf Anfrage in eine ganz normale aktuelle Legitimation verwandelt werden kann. Unbeschadet dessen hat natürlich jede aktuelle Legi timation ihre historische Dimension: Die je gegenwärtigen Vorstel lungen darüber, was ein Gut ist, was mithin eine Schädigung und insbesondere was eine illegitime Schädigung ist, sind auch in soge nannten posttraditionalen Gesellschaften in hohem Ausmaß histo risch bedingt. Die oben303 erwähnte Relativität von Interessenwahr nehmungen auf gegebene Rechtslagen ist nur ein Aspekt dieser Historizität. Man könnte dem entgegenhalten, daß posttraditionale Gesellschaften insofern eine Chance haben, dieser Historizität zu entgehen, als die Aufklärung der Interessenten über die bloß histo rische Bedingtheit ihrer Interessenwahrnehmung diese zu verän dern geeignet ist. Das ist aber bei weitem nicht immer der Fall. Ein auf dem Lande Aufgewachsener kann auf Nachfrage hin allenfalls historisch erklären, nicht aber rational begründen, warum er sich im Unterschied zum geborenen Städter durch intensiven Autoverkehr erheblich belästigt fühlt. Gleichwohl bleibt es bei dem Faktum des Belästigtseins. Kurz: Das Argument aus der Üblichkeit hat in posttraditionalen Gesellschaften seine legitimatorische Tauglichkeit verloren, nicht aber das Argument aus den Interessen der Betroffe nen. Für diese Interessen wiederum gilt, daß sie in hohem Ausmaß historisch kontingent sind, wobei die Einsicht in ihre Historizität ihre Eigenschaft, aktuelle Interessen zu sein, nur selten tangiert. Auf die aktuellen Interessen aber kommt es im legitimatorischen Zusammenhang an. Insgesamt ergibt sich: Sowohl das Argument aus der Freiheit als 303 Siehe Anm. 297.
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auch das Argument aus der historischen Üblichkeit verweisen auf die Notwendigkeit einer Legitimation kraft Interessenabwägung zurück. Entsprechend schreibt auch Jakobs - ohne freilich den Zu sammenhang mit seinem Freiheitsargument geklärt zu haben: „Die Begründung des erlaubten Risikos ist insoweit der Interessenabwä gung beim Notstand verwandt“304. Aber es bleibt ja der Unter schied, daß beim Notstand die Interessenabwägung den Handeln den wirklich zugemutet wird, beim erlaubten Risiko dagegen nicht305. Autofahren ist im Rahmen der Vorschriften der Straßen verkehrsordnung erlaubt, und keine dieser Vorschriften verlangt, daß man, bevor man losfährt, prüfen müsse, ob der Zweck der Fahrt auch hinreichend wichtig sei. Mir scheint daher, daß beim Problem der Begründung des er laubten Risikos folgende beiden Aspekte auseinanderzuhalten sind: Erstens geht es um die Frage, ob und gegebenenfalls wie legitimiert werden kann, daß die Rechtsunterworfenen überhaupt in bestimm ten Bereichen von der Pflicht zur Abwägung der Folgen entlastet werden. Zweitens geht es um die Frage, ob und gegebenenfalls wie legitimiert werden kann, daß die Rechtsunterworfenen in gerade den und den Bereichen und in gerade dem und dem Umfang von der Einzelfallabwägung entlastet werden306. Die Beantwortung der ersten Frage klärt, ob die Figur des erlaubten Risikos als solches legitimierbar ist. Die Beantwortung der zweiten Frage klärt, wie argumentiert werden kann, wenn es darum geht, ob ein gegebenes Risiko als ein erlaubtes klassifiziert werden soll oder nicht. Um welche Interessen also geht es, wenn die Frage lautet, ob das erlaubte Risiko als zurechnungsausschließende Kategorie legiti mierbar ist? Gegen eine solche Kategorie sprechen die Interessen derjenigen, deren Rechtsgüter jeweils besser geschützt gewesen wä ren, wenn statt der Kategorisierung eines Verhaltens als erlaubtes Risiko eine Interessenabwägung nach Analogie des Notstandspara304 Jakobs (1993), S. 200. 305 So auch Jakobs, ebd. S. 203. 306 Nur die zweite Frage, nicht die erste, ist berührt, wenn Kindhäuser (1994), Erlaub tes Risiko und Sorgfaltswidrigkeit, S. 218, formuliert: „Tolerabel sind riskante Verhal tensweisen - sub specie erlaubtes Risiko - nur, wenn sie bei abstrakter Betrachtung ihrer Schadenswahrscheinlichkeiten den jeweiligen Beteiligten des Risikobereichs mehr Entfaltungschancen als Freiheitseinbußen bieten.“ Eine Antwort auf die erste Frage hätte zusätzlich zu klären, warum nicht die Vorschrift, es sei statt einer abstrak ten Betrachtung auf die Güterabwägung im Einzelfall abzustellen, insgesamt zu den geringsten Freiheitseinbußen (sive Interessenbeeinträchtigungen) führt und daher vorzuziehen wäre.
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graphen vorgeschrieben wäre. Im Beispiel - wobei es auf die Plau sibilität der Interessenabwägung hier nicht ankommt: Es wäre in dem Falle, daß der Fahrer des Möbelwagens auf dem Weg zum Zi garettenautomaten mit einem Fahrradfahrer kollidiert, bei der Zu rechnung der Folgen zu berücksichtigen, daß das Rechtsgut der Be dienung einer Nikotinsucht weniger wiegt als das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit, daß zwar die Gefahr für das letztere ex ante nicht sehr groß gewesen sei, dafür aber die dem Nikotin süchtigen drohende Einbuße ohne weiteres auch durch Zufußgehen abwendbar gewesen wäre usw., so daß insgesamt die Autofahrt des Möbelhändlers als ungerechtfertigt zu beurteilen sei. De facto ge hen die genannten Gesichtspunkte, da das Autofahren erlaubtes Risiko ist, nicht in die Handlungsplanung von Autofahrern ein. Das geht im geschilderten Fall zu Fasten des Fahrradfahrers. Des sen Interessen sprechen insoweit gegen die Kategorie. Für ihre Be nutzung sprechen nun nicht etwa ebenso legitime komplementäre Interessen der Autofahrer. Die Interessen des Möbelhändlers hat ten wir im gerade durchgeführten Abwägungsbeispiel ja bereits ge hörig berücksichtigt. Und wichtigeren Gründen, Auto zu fahren, würde in den entsprechenden Einzelfällen jeweils abwägend Rech nung getragen. Die entscheidende Frage ist hier vielmehr diese: Können Autofahrer oder sonstige Personen ein Interesse daran gel tend machen, daß die Interessenabwägung im Einzelfall als solche unterbleibt? Das scheint mir nun in der Tat der Fall zu sein. Alle Menschen haben ein Interesse daran, sich im Rahmen des Erlaubten halten zu können, ohne vor jeder ihrer Handlungen eine universelle Interes senabwägung durchführen zu müssen. Zumal wissen sie ja gar nicht, ob ihre persönlichen Abwägungsgesichtspunkte auf allgemeine Zu stimmung stoßen würden. Und entsprechend trauen sie auch den Abwägungsergebnissen anderer nicht über den Weg. Kurz, die Menschen haben ein Interesse an der Verfügbarkeit von Schemata legitimen Handelns. Es handelt sich um dasselbe Interesse, das wir schon mehrfach, insbesondere im dritten Kapitel im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Konsequentialismus geltend gemacht haben307. Die Verfügbarkeit von Schemata legitimen Handelns liegt - um zum Beispiel zurückzukehren - ebenso im Interesse von Fahr radfahrern wie von Autofahrern, und insoweit haben beide ein In teresse an rechtsdogmatischen Figuren wie der des erlaubten Risi 307 Siehe Abschnitt III.5., bes. S. 101 f.
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kos. Was allerdings das erlaubte Risiko speziell des Autofahrens angeht, so gehen die Interessen sogleich wieder auseinander. Nicht nur für Einzelhandlungen, sondern auch für Handlungsschemata läßt sich dann die Frage stellen, ob ihre Zulassung den Interessen der Betroffenen insgesamt eher abträglich oder eher zuträglich ist. Diese Form der Legitimation - die Kosten-Nutzen-Abwägung für Handlungsschemata - scheint unter den üblicherweise vorgetrage nen Legitimationswegen der einzig haltbare zu sein. Im Strafrecht selbst wird freilich bei den üblicherweise als erlaubtes Risiko klassi fizierten Verhaltensweisen das Gelungensein einer solchen Abwä gung irgendwie vorausgesetzt, nicht aber geleistet. Gerade darin liegt die gewisse Berechtigung des Hinweises auf die sogenannte historische Legitimation, also auf die Fortgeltung des Status quo. Dieser Hinweis ist der Sache nach freilich, wie gezeigt, keine inhalt liche Legitimation, sondern eine Reflexion auf das (sachlich viel fach unbegründete) Fehlen von Legitimitätszweifeln. Mit den Schwierigkeiten, die fehlende inhaltliche Legitimation angesichts zunehmend doch sich meldender Zweifel nun aktuell zu beschaffen, befaßt sich der abschließende Abschnitt. 3. „Politische Verantwortung“ Im Rückblick auf Überlegungen, die im ersten und zweiten Kapitel angestellt wurden308, kann man die Position, die sich bei der vorste henden Prüfung verschiedener Versuche der Legitimation erlaub ter Risiken als die vertretbarste erwies, auch als Strukturenkonsequentialismus bezeichnen: Mit Bezug auf jede Einzelhandlung ist der Konsequentialismus undurchführbar. Das zwingt zu zahlrei chen, über das (im zweiten Kapitel entwickelte) Kriterium der Ver meidbarkeit hinausreichenden Zurechnungseinschränkungen. De ren Form und nähere Begründung wurden im dritten und vierten Kapitel erläutert. Angesichts einer rasch sich ändernden techni schen und sozialen Realität scheint es dann aber unabdingbar, die Freisetzung der Individuen von der Kontrolle der Nebenfolgen ihres Handelns durch eine ständige Folgenkontrolle seitens derer zu kompensieren, die es in der Hand hätten, jene pauschalen Er laubnisse notfalls zurückzunehmen oder in geeigneter Weise einzu schränken. Nicht diejenigen, die innerhalb gegebener Zurech 308 Bes. Abschnitte I.4 und II.4; vgl. auch Anm. 78, S. 63.
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nungsstrukturen handeln, sondern diejenigen, deren Handlungen die Strukturen selber sind, wären also die geeigneten Garanten für die Berücksichtigung der Folgen, die außerhalb des Reflexionshori zonts der unmittelbaren Täter liegen. Da inzwischen die Harmlosig keit selbst ubiquitärer, zum Alltag modernen Lebens gehöriger Handlungen nicht mehr vorausgesetzt werden kann, kann der Um fang des Erlaubten, wie zu Beginn dieses Kapitels entwickelt, zu nehmend weniger an einem naturalistisch verstandenen Nichtschä digungsgebot gemessen werden. Sondern es werden Abwägungsentscheidungen fällig. Diese müssen umso expliziter werden, je weniger man sich auf den traditionalen Geltungsmodus - also auf fortgesetzte Hinnahmebereitschaft bezüglich des bislang Hingenommenen - verlassen kann. Die Konsensfähigkeit der „Ri sikogesellschaft“, so scheint es, hängt davon ab, daß solche Abwä gungsentscheidungen auf nachvollziehbare, kontrollierbare und in haltlich überzeugende Weise gefällt werden309. Insbesondere gilt das, weil im Rahmen von Entscheidungen über Nutzen und Kosten von Handlungserlaubnissen nun ja auch über Leben und Tod entschieden wird. Das hat das Beispiel des im Strassenverkehr verunglückten Schulkindes im ersten Abschnitt dieses Kapitels deutlich gemacht. Freilich fallen dabei keine Entscheidun gen über Leben und Tod konkreter, schon vor der erlaubt riskanten Handlung benennbarer Personen310. Es wird lediglich über die Ver größerung oder Verkleinerung statistisch erfaßbarer Risiken für große, nur grob konkretisierbare Gruppen entschieden (Schulkin der, Verbraucher, Trinkwasserbenutzer usf.). Von einer strikten Gleichverteilung der Vorteile und Nachteile der erlaubten Hand lungen über alle Betroffenen hinweg kann dabei nicht die Rede sein. Das ist es ja gerade, was zum Beispiel überzeugte Radfahrer geneigt macht, die Legitimität des privaten PKW-Verkehrs in Zwei fel zu ziehen. In anderen Fällen ist die ex ante erkennbare Un 309 Vgl. Günther (1994), Kampf gegen das Böse?, S. 146: Es wird „das Festhalten an dieser sozialen Ordnung einschließlich ihrer Verhaltens-, Zurechnungs- und Sank tionsnormen zu einer Entscheidung, die aus Alternativen ausgewählt und angesichts möglicher Alternativen gerechtfertigt werden muß“; S. 152: „Wie Zuschreibung und Entlastung erteilt werden, welche Faktoren relevant sind und welche ausgeblendet werden, ist selbst eine politische, also verantwortliche Entscheidung. Als solche ist sie legitimationsbedürftig und -fähig.“ 310 Jakobs (1993), Strafrecht, S. 201: „wären ... die potentiellen Opfer ... nicht ex ante anonym, so wäre nicht einmal rechtfertigender Notstand diskutabel, viel weniger noch die Tötung und Verletzung im erlaubten Risiko.“
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gleichheit der Verteilung der Lasten noch drastischer. In solchen Fällen pflegt dann auch der Protest der Betroffenen sich nicht mit dem Hinweis auf ein mit der betreffenden Erlaubnis verbundenes insgesamt höheres Nutzenniveau beruhigen zu lassen. Die bekann testen Beispiele sind die sogenannten Anwohnerproteste im Falle von Erlaubnissen zur Errichtung von Atomkraftwerken, Müllver brennungsanlagen und ähnlichen besonders riskanten oder als be sonders riskant empfundenen Einrichtungen. Tatsächlich ist man hier und dort - sei es wegen faktischer Akzeptanzprobleme oder kraft Anerkennung der problematischen Legitimität obrigkeitli cher Verfügung von ungleich verteilten Risiken - dazu übergegan gen, die einschlägigen Standortentscheidungen zu vermarktlichen. D.h., die Risikoakzeptanz wird durch Kompensierung des ent gangenen Sicherheitsnutzens durch einen anderweitigen Nutzen von einer daran interessierten Gemeinde gekauft311. Es zeigt sich, daß auch auf der politischen Ebene die problemati sche Legitimität einer auf die Maximierung von Gesamtnutzenni veaus gerichteten Entscheidungspraxis sich deutlich bemerkbar macht. Dasselbe gilt nun auch für die anderen Argumente, die wir gegen die Vorstellung, die Legitimität von Handlungen sei an konsequentialistischen Maßstäben zu messen, ins Feld geführt hatten: Die kognitiven und evaluativen Schwierigkeiten, die Private an der Verfügbarkeit von Schemata legitimen Handelns interessiert sein lassen, machen sich im Bereich des politischen Handelns nicht we niger bemerkbar. Bezüglich der hier in Frage stehenden Risikoent scheidungen kommentiert Günther Jakobs die Lage so: „Bei der überwiegenden Zahl heute allgemein als erlaubt anerkannter Risi ken kann eine solche Kosten-Nutzen-Saldierung ... nicht geleistet werden“312. Die Erklärung, die Jakobs dafür gibt, lautet nicht - wie meist, und meist ist auch diese Erklärung richtig -, es seien keine 311 Siehe Seiler (1995), Die Standortsuche für Endlager und andere unbeliebte Anlagen: Kompensationszahlungen zwischen Marktwirtschaft und Demokratie. An eine durch gängige Anwendung dieses Modells ist freilich nicht zu denken, zumal es nicht als legitim gilt, sich die nötigen finanziellen Mittel von der oft ebenfalls vorhandenen und erkennbaren Gruppe derjenigen zu holen, die von der betreffenden Maßnahme überdurchschnittlich begünstigt werden. Ein Beispiel: Im Zuge von offiziellen, Ausund Einfuhrverbote einschließenden Vorsichtsmaßnahmen der Europäischen Union anläßlich der Rinderseuche in Großbritannien haben Rindfleischproduzenten der ent gangenen Gewinne wegen um Kompensationszahlungen angesucht. Von einem Ver such der Gemeinschaft, zu diesem Zweck die im Zuge derselben Maßnahmen gestie genen Gewinne der Schweinefleischproduzenten zu akquirieren, ist nichts bekannt. 312 Jakobs (1993), S. 201.
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genauen Risikoprognosen verfügbar. Sie lautet: „Die Saldierung ist ausgeschlossen, weil ein hinreichend konkretes und zugleich ver bindliches Gesellschaftsmodell fehlt, an dem Abweichungen nach Art und Maß bestimmt werden könnten. Was z. B. der Nutzen des nicht-gewerblichen Anteils am Straßenverkehr ist, kann nicht durch Vergleich mit einer fiktiven Gesellschaft ohne nicht-gewerblichen Straßenverkehr ermittelt werden, da es an der erforderlichen Vorab-Bestimmung von legitimen Gesellschaftsgestalten fehlt, an de nen die Differenz erst als positiv oder negativ bestimmt werden könnte“313. Diese Argumentation geht in dieselbe Richtung, die innerhalb der nichtjuristischen Risikodiskussion Kritiker der legitimatorischen Leistungsfähigkeit von risk/benefit-Analysen eingeschlagen haben314. Um in eigenen Worten zu erläutern, worum es geht: Kosten-Nutzen-Analysen können vielleicht eine Frage der Art beant worten, ob es in einem gegebenen Land zu einer gegebenen Zeit besser ist, den Warenverkehr auf der Schiene oder auf der Straße abzuwickeln. Nicht gesagt ist damit, ob die resultierende Hand lungsempfehlung dieselbe bleibt, wenn man berücksichtigt, daß die Alternative statt a) Schiene und b) Straße zum Beispiel auch so lau ten kann: a) Schiene, b) Straße, und c) Reduktion des Warenver kehrs. Zum Beispiel könnte sich die Schweiz auf den Standpunkt stellen, es sei nicht hinreichend wichtig, daß die Deutschen, Hollän der usw. im März Erdbeeren essen, nämlich aus Italien. Daher könnte sie die Durchfahrt der entsprechenden Transporte ganz ver bieten. Der Phantasie bezüglich weiterer Alternativen ist im Prin zip keine Grenze gesetzt. Denn es spricht nichts für die These, daß die am weitesten hergeholten, d. h. änderungsfreudigsten Alternati ven sub specie Interessenabwägung die schlechtesten sind. Gerade hier liegt aber auch der Grund, warum das Geschäft der Interessenabwägung auf der Ebene der Entscheidung über Struktu ren ungleich schwieriger ist als bei Entscheidungen über Alternati ven, die hinsichtlich ihres strukturellen Rahmens schon festgelegt sind. Im Falle des zigarettenholenden Möbelhändlers zum Beispiel ist die Situation zu stark definiert, um Anlaß zum gedanklichen Wandern in weit entfernte mögliche Welten zu geben. Natürlich kann sich der Möbelhändler überlegen, es sei in Anbetracht aller 313 Ebd. 314 Vgl. Hansson (1993), The False Promises of Risk Analysis, bes. S. 18 f.; auch Hansson (1994), Decision Making linder Great Uncertainty.
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betroffenen Interessen am günstigsten, wenn er den Wagen stehen ließe und zugleich zur regelmäßigen Befriedigung der verbreiteten Nikotinsucht ein wirklich flächendeckendes Netz von Zigaretten automaten installiert würde. Da Letzteres aber für ihn in der gege benen Handlungssituation nicht disponibel ist, scheidet es aus sei nen Überlegungen aus. Sehr viel mehr kann derjenige sinnvoll als disponibel betrachten, der zu Handlungsalternativen in Rechtsset zungsfragen Stellung zu nehmen hat. Um ein Beispiel aus der straf rechtspolitischen Diskussion zu nehmen: Wer unter sorgfältigen rechtsdogmatischen Analysen begründet hat, daß auch abstrakte Gefährdungen ,,sub specie Rechtsgüterschutz legitimerweise ver boten werden“ können315, muß mit dem Einwand rechnen, es sei möglicherweise angezeigt, das Strafrecht mangels spezifischer Prä ventionswirkung des Strafens weitgehend abzuschaffen und seine Regelungsmaterie in zivilrechtliche Formen zu gießen. Diese Mög lichkeit kann der Theoretiker der abstrakten Gefährdungsdelikte nicht in allen Details gleich mitdiskutieren. Daher bleibt seine Be fürwortung dieses Strafrechtsinstituts relativ auf die Frage, wie man zu der genannten grundsätzlicheren Alternative steht. Bei deren Beurteilung treten dann analoge Probleme auf. Alles in allem hat man keine Chance, Fragen dieser Art zu einer Entscheidungsreife zu bringen, die auf wirklich vollständiger Diskussion aller Optio nen, d. h. aller möglichen sozialen Welten beruht. In den wirklich stattfindenden Entscheidungsprozessen wird da her die Fülle der in die Abwägung einbezogenen Alternativen dra stisch reduziert. Das Wandern in sehr weit entfernte soziale Welten bleibt auch im Bereich politischen Handelns nur eine theoretische Möglichkeit. Eine halbwegs kontrollierte Vorstellung von den Fol gen der Implementierung einer ins Auge gefaßten Maßnahme kann man sich ja nur bilden, wenn die soziale Realität, in die man mit der Maßnahme hineinwirken will, auch in denjenigen Hinsichten zu nächst einmal als gegeben hingenommen wird, die ihrerseits mit guten Gründen in ihrer Änderungsbedürftigkeit thematisiert wer den könnten. Der Bonus des status quo, der sich daraus zweifellos ergibt, ist kein traditionalistischer. Was gilt, gilt nicht fort, weil man annähme, daß das, was lange schon passend war, auch in Zukunft passend sein wird. Es gilt vielmehr fort, weil und solange man noch nicht dazu gekommen ist, es zu ändern. Die Faktoren, die auf die Auswahl des je als änderungsbedürftig 315 Kindhäuser (1989), Gefährdung als Straftat, Zitat aus dem Klappentext.
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Thematisierten Einfluß nehmen, sind Gegenstand politologischer Forschungen und insoweit nicht unbekannt316. Bekannt ist insbeson dere, daß zahlreiche Faktoren nicht nur nicht der langfristigen Ma ximierung des Gemeinwohls dienen, sondern zu systematischen Abweichungen von diesem Ziel führen. Das prominenteste Beispiel ist die Kurzfristigkeit des politischen Planungshorizonts, die durch die begrenzte Dauer der Legislaturperiode bedingt ist. Reformpro gramme, deren erst langfristig sich bemerkbar machende Erfolge das kurze Gedächtnis des Wählers nicht mehr der verantwortlich gewesenen Partei zurechnet, kommen nicht nach Maßgabe ihrer objektiven Dringlichkeit zum Zuge. Auch der Neuigkeitswert eines Themas, der besonders für die Medien und ihre Konsumenten ein aufmerksamkeitsbindender Faktor ist, korrespondiert nicht mit Ge sichtspunkten der Dringlichkeit. Nicht viel besser steht es mit der Rationalität der schließlichen Entscheidung, wenn ein begrenzter Ausschnitt von Themen und diskutierten Alternativen einmal fest gelegt ist: Selbst das Bemühen, die Objektivität einer Entscheidung zwischen zwei Alternativen unter Beiziehung von Risikoexperten durch Quantifizierung zu sichern, führt, wie Sven Ove Hansson er läutert, zu systematischen Verzerrungen: „Almost all social decisions are concerned with the avoidance of undesirable consequences. Some of these consequences can be quantified in a meaningful way, notably health effects and economic effects. Others are virtually impossible to quantify, such as cultural impoverishment, social isolation, and increased tensions between social strata. The quanti tative model of risk in risk analysis leads to the exclusion of these
316 Als frühe einschlägige Fallstudie vgl. Crenson (1971), The Un-Politics of Air Pollu tion. A Study of Non-Decisionmaking in the Cities; siehe ebd. S. VII: „Today environ mental pollution has become one of the nation’s chief worries. Unfortunately, although pollution itself has been with us for many years, the worrying has begun only recently. ... The decisions that we fail to make often seem to be more critical for the life of the nation than the ones that we do make. Most empirical political research, like the political system, has overlooked these non-issues and non-decisions, and the oversight is understandable. Where there are no political issues or decisions, there are no political events to investigate - or so it would seem.“ Dies scheint mir (wie dem Autor selbst) letztlich nicht das Problem. Erheblicher ist, daß auch politologische Studien, die non-issues thematisieren, erst Anlaß finden, dies zu tun, wenn das Thema schließ lich doch Bestandteil von „the nation’s chief worries“ geworden ist. Das zeigt, daß das Aufmerksamkeitsspektrum des Faches allenfalls ex post über die Grenzen der Auf merksamkeit der untersuchten Akteure hinausreicht.
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more elusive - but not necessarily less important - factors“317. Unter anderem aus diesem Grunde ist die oft gehörte Forderung, nur die empirisch-analytische Basis von Risikoentscheidungen den Exper ten zu überlassen und die evaluativen Elemente dem demokrati schen Prozeß zu überantworten, praktisch kaum durchführbar: Zu viele evaluative Elemente stecken bereits in der Stellungnahme der Experten selbst318. Denn die Form der Fragestellung und die Wahl der Analysemethode begrenzen den Bereich der Folgenaspekte, die sich im Ergebnis bemerkbar machen können. Die genannten prinzipiellen Schwierigkeiten rationaler Risiko abwägung im politischen System haben natürlich Konsequenzen für die Zurechenbarkeit der Folgen politischer Entscheidungen. Die Bedingungen sowohl ihres Mißlungenseins als auch der Schuld haftigkeit ihres Mißlungenseins sind praktisch nicht ohne Hinein geraten in politische Kontroversen feststellbar. Die sogenannte politische Verantwortung gehorcht daher auch anderen Regeln als juristische und moralische Verantwortung. Im Falle eines überwie gend als solches empfundenen Mißlingens der politischen Bemü hungen einer Person oder Partei werden diese abgewählt. Wäre es möglich, hier stets die in Moral und Strafrecht jedenfalls zu beach tende Frage zu stellen, ob das Mißlingen mit hinreichender kogniti ver und evaluativer Eindeutigkeit als solches ex ante erkennbar war, dann wäre es auch möglich, den Vorwurf des politischen Miß lingens nach Art des moralischen oder strafrechtlichen Schuldvor wurfs auszugestalten319. Aber eben dies ist in Handlungsbereichen, in denen die Zuständigkeit für die Folgen nicht durch ex ante for mulierte Standards legitimen Verhaltens begrenzt wurde, nicht möglich320. 317 Hansson (1993), The False Promises of Risk Analysis, S. 25; vgl. Shrader-Frechette (1982), Das Quantifizierungsproblem bei der Technikbewertung. 318 Ausführlicher dazu W. Lübbe (1997), Der Gutachterstreit - ein wissenschaftsethi sches Problem? 319 Wo die genannte Frage bejaht werden kann, ist eine entsprechende Erweiterung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Politikern und sonstigen Trägern öffent licher Ämter, etwa durch Formulierung neuer Amtsdelikte, natürlich auch nicht aus geschlossen; vgl. dazu das in Anm. 273 Gesagte. 320 Die fehlende Trennbarkeit von (ex post) als mißlungen ersichtlichem und (ex ante) als fehlerhaft ersichtlichem Verhalten bei einer nur durch Zielvorgaben vorstruktu rierten Steuerung komplexer Systeme habe ich andernorts anhand einer Auseinander setzung mit Dörner (1989), Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in kom plexen Situationen, herauszuarbeiten versucht; siehe W. Lübbe (1994a), Handeln und Verursachen, S. 234-242.
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Schlußwort
In Situationen, in denen nicht in Orientierung an Schemata legiti men Handelns, sondern vielmehr über diese entschieden wird, ist die Bestimmung „richtiger“ und „falscher“ Optionen der Vielfalt der Möglichkeiten und der Unübersichtlichkeit der Gesamtfolgen wegen erheblich unsicherer und bleibt erheblich umstrittener als etwa die Beurteilung des Verhaltens eines Eisenbahners, der eine gebotene Weichenstellung versäumt hat. Entsprechend häufig ist der Fall, daß die gemeinwohlsteigernden Effekte belastender poli tischer Maßnahmen nicht für jedermann offensichtlich sind. Der Protest der von den Lasten einer Maßnahme disproportional Be troffenen begünstigt dann das politische Unterlassen, das meist we niger unmittelbar auf Widerstand stößt. Das gilt nicht nur für Müll verbrennungsanlagen, sondern für alle Eingriffe in das bislang Gewohnte. Insbesondere gilt es für grundlegende Reformen - von der Steuerreform über verkehrspolitische Reformen bis hin zu Re formen des Umweltrechts. Es gibt eben kaum eine „im Interesse der Allgemeinheit“ ins Auge gefaßte Änderung der bestehenden Verhältnisse, die nicht einige Gruppen auf ex ante erkennbare Wei se besonders belastet. Daß auch das Unterlassen der Reformen ei nige Gruppen stärker belastet als andere, pflegt demgegenüber deutlich weniger aufzufallen. Nach wie vor gilt also, daß von den Bürgern selbst schädigende Folgen unterlassener gesetzgeberischer Eingriffe in die bestehenden Verhältnisse nicht im gleichen Maße mit Legitimitätsentzug quittiert werden wie schädigende Folgen von Eingriffen in diese. Insoweit werden eben - wie zu Adam Smiths Zeiten, dem freilich die wohltätigen und nicht die schädigenden Folgen des Gewährenlassens des „natürlichen Laufs“ der gesellschaftlichen Dinge vor Augen standen - auch heute noch Folgen aus der gesellschaftlichen Entwicklung wie Folgen aus einem subjektlosen Prozeß akzeptiert. Aber in dem Maße, in dem die Risiken auffälliger werden und im Rahmen der Repolitisierung der Zurechnungsstrukturen ihre Ent scheidungsbedingtheit deutlicher ans Licht tritt, nimmt die Bereit schaft dazu ab - ohne daß in hinreichendem Ausmaß eine komple 201 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
mentär erforderliche Bereitschaft stiege: Das ist die Bereitschaft, die Kosten zu zahlen, die die Verschärfung der Legitimationsanfor derungen an das politische Unterlassen bei faktisch begrenzten Dis positionsspielräumen hat - nämlich durch Akzeptanz drastischer staatlicher Eingriffe. Die Bereitschaft zu dieser Akzeptanz und zur Akzeptanz der mit solchen Eingriffen unvermeidlich verbundenen Ungleichheiten in der Verteilung der Lasten - das ist vielleicht die wichtigste universale, also von jedermann zu erbringende morali sche Leistung, um die es sich konkret handelt, wenn die Bürger ab strakt aufgefordert werden, sich um die Bewahrung der Schöpfung verdient zu machen. Eine gewisse Einseitigkeit in der Option für eine Verantwor tungsbegrenzung, die erste Leser dieser Arbeit bemerkt haben, sei nicht bestritten. Sie verdankt sich dem Bemühen, gegen komple mentäre Einseitigkeiten der bisherigen verantwortungsethischen Literatur ein stärker an der begrenzten Verarbeitungsfähigkeit in dividueller Vernunft orientiertes Gegengewicht zu setzen. Der praktischen Philosophie sowie denen, die von dieser Disziplin Orientierung erwarten, wird stattdessen die in komplexen Lagen gebotene Schätzung der in den Institutionen angesammelten Ver nunft anempfohlen - einschließlich der Schätzung der Institutionen, die ausgebildet wurden, um den stets nötigen Wandel der Institutio nen einen geordneten sein zu lassen, obgleich es sich um einen niemals allseits konsentierten Wandel handelt. Das Hineinwirken vieler - und sei es permanent gemeinwohlorientierter - Steuerungs subjekte in eine sich beständig rasch verändernde soziale Wirklich keit zeitigt ja große Reibungsverluste. Angesichts dessen hat die Idee der Einrichtung eines über den Institutionen schwebenden Entscheidungspunktes, von dem aus sich durch ein vernünftiges Subjekt restriktionsfrei, also mit unbegrenzter Zuständigkeit ent scheiden ließe, immer eine gewisse Attraktivität gehabt. Tatsächlich hebt die Aufhebung begrenzter Zuständigkeiten nicht auch die Be grenztheit der Kenntnisse und der Aufmerksamkeit der gemein wohlorientierten Subjekte auf. Wo Verantwortung organisiert, also für begrenzt fähige Subjekte geeignete, d.h. begrenzte Zuständig keiten geschaffen werden, wird unvermeidlich Unzuständigkeit mitorganisiert. Organisierte Unverantwortlichkeit ist die Kehrseite der Organisation von Verantwortung. Der zivilisatorische Prozeß als ganzer ist insoweit, wenn nicht geradezu ein Naturschauspiel, so doch ein Prozeß, zu dessen Steuerungssubjekt sich die Mensch heit letztlich vergeblich zu erheben sucht. 202 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
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Namensregister
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Gilbert, M. 23, 131 Glaser, J. 137 Glover, J. 97, 108 Green, O. H. 79f.,85 Günther, H.-L. 171 Günther, K. 26,195f.
Bahro, R. 31 Bar, L. v. 137,184 Beck, U. 12-14, 26-28, 34, 43f.,122f.,176,182f. Behrens III, W. W. 11 Benda, B. 173 Bennett, J. 96 f. Bernsmann, K. 66,108 Birnbacher, D. 14, 16, 24, 77,97,104 f., 108 f., 115 Brüggemeier, G. 143,166 Buchanan, A. 69 Buri, M. v. 137 Canaris, C.-W. 143 Crenson, M. A. 199 Danwitz, H. C. v. 153 Derksen, R. 153 Dinello, D. 99, 103 Dörner, D. 200 Ehrhardt, A. 22 Elliott, E. D. 124 Engel, R. 173 Feinberg, J. 69, 88,141 Feuerbach, A. v. 177 Fincke, M. 166 Foot, P. 69 French, P. 23, 123, 131 Frisch, W. 138, 164, 173 Gallas, W. 92, 94f.
Habenicht, U.-F. 183 Hansson, S. 0.197,199f. Harris, J. 103, 106, 109-118 Hart, H. L. A. 138 Hegel, G. F. W. 19f. Heine, G. 162 Held, V. 23 Herzog, F. 22 Hilgendorf, E. 21, 27 Hobbes, T. 67,189 Hoffman, S. 23,123 Hohmann, O. 21 Honig, R. 69 Honore, T. 138 Hoyningen-Huene, P. 126 Jäger, H. 24 Jakobs, G. 37, 42, 46, 63, 65-67,78,82f.,86,90f., 93-96,105,108 f., 152154,163,166f., 184 f., 187f., 190,192,195 Joerden, J. 63 Jonas, H. 12, 14, 17, 21, 45f.,122f. Kant, I. 187 Kindhäuser, U. 21 f., 48, 184, 192, 198 Klee, K. 164 Koch, J. 124 Köck, W. 21 Kramer, H. G. 164
Kries, J. v. 137 Küpper, G. 81,153 Kuhlen, L. 21 f., 27,161 f., 174 Kuhse, H. 24, 74, 80, 98 Lamb, D. 98 Larenz, K. 143 Leist, A. 130, 140, 170 Lenk, H. 12,14, 32f., 143 Lesch, H. 153 Locke, J. 69f., 175-183 Lübbe, H 14f., 37, 43,122 Lübbe, W. 21, 126, 138, 184, 200 Luhmann, N. 15,187 Mackie, J. L. 138 Maiwald, M. 78 Mandelbaum, M. 132 Marxen, K. 24 May, L. 23f., 123 McMahan, J. 83 Meadows, D. H. 11 Meadows, D. L. 11 Meier, C. 18 Mellema, G. 23,123,141 f. Milgram, S. 160 Mill, J. S. 126f., 135 f. Mittelstraß, J. 183 Morillo, C. 99 f. Murmann, U. 166 Nida-Rümelin, J. 60, 63, 117 Nisbet, E. G. 11 Norcross, A. 24, 79, 97 Ostermeyer, H. 26 Otto, H. 173
211 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
Pfeifer, K. 78 Philipps, L. 87 Preuß, W. 184 Prittwitz, C. 22, 27,184 Puppe, I. 81 Rachels, J. 98-100 Radbruch, G. 137 Randers, J. 11 Ratcliffe, J. M. 89 Rengier, R. 21 Rogall, K. 174 Ropohl, G. 34 Roxin, C. 22, 42,67,143f., 146-151,163,184 Rudolphi, H.-J. 145,150 Russell, B. 69
Scheffler, S. 60 Schmidhäuser, E. 144 Schmidt-Salzer, J. 161 Schünemann, B. 90,161 f. Schulz, L. 21,138 Seebaß, G. 21,70-74,76f., 115,128f., 135 Seelmann, K. 21, 69, 94, 161 f. Seiler, H. 196 Shrader-Frechette, K. 200 Singer, P. 104, 109, 117 Smith, A. 201 Sophokles 12 Spaemann, R. 19, 51 Sparwasser, R. 173 Steinbock, B. 24, 79, 97
Stieglitz, S. 45 Stratenwerth, G. 22, 33, 90f. Taurek, J. M. 66 Teubner, G. 21, 23 Thomas von Aquin 51, 61 Tooley, M. 98 Tuomela, R. 128-135 Volk, K. 26,136,162 Ware, R. 23, 128 Weizsäcker, C. F. v. 33 Welp, J. 87 Yamanaka, K. 21
212 https://doi.org/10.5771/9783495997406 .
Stichwortregister
Abwägung/Interessenab wägung 51, 63,183-185, 192-198 ÄquivalenztheseZ-theorie 75-80,97-106,110f., 115-117 Aktivität, aktuelle 86f. Aktivität/Passivität 81, 114 f. s.a. Handeln (Tun)ZUnterlassen Alltäterschaft 122 f. Alltagshandlungen 164f., 183,195 Alternativenblindheit 55 f. Amtsträgerstrafbarkeit 21, 174, 200 Angemessenheitsklausel (§34 StGB) 63,67 Anstifter 144, 149, 161 Anti-Dilutionismus 140 143 Arbeitsteilung 147-150, 154f. Ausführung (eigenhändi ge) 144 f., 149-152,160 f. Ausführungsstadium/Vor bereitungsstadium 147 150 Basishandlung 46 f., 135 Beweisprobleme 27 f. Differenz(enlösung)/differenzentheoretisch 55-61, 65, 68, 72, 116 Disposition(sspielraum)/ Disponibles 43, 53, 56 s. a. Vermeidbarkeit Duldungspflicht 67,108 f.
Eigentum 177-181 Einzelhandlung/Einzel täter 121-123,128-131, 147 Erwartungsenttäuschung 187-189 Euthanasie, aktive/passi ve 97f., 110 Experten(wissen) 48, 199 f. Fahrlässigkeit 48,104 Freiheit 74,183,186f., 189 Freiwilligkeit/Unfreiwil ligkeit 49-53 Garantenstellung/Garan tenpflicht 91-96, 113, 118 Gefährdungsdelikte 22 Gehilfe 142-144 Gentechnik 16, 43 f. Gesundheit/körperliche Unversehrtheit 176 179, 182-184 Gruppe (soziale) 23 f., 125,131 Handeln (Tun)/Unterlassen 70-87, 96f., 103 105,109-111,119 f. Handlung 46, 53-57, 87, 135, 137 s. a. Tat Handlung mehrerer/many person action 128-130, 137 Handlungsbegriffe, Strekkung der 31, 87,151-153 Handlungs-(Verhaltens)einheit 78-82, 87
Handlungssubjekt, fikti ves (Quasi-Subjekt) 18, 31 Hilfeleistung in Notfällen 88-90 Historizität der Interes senwahrnehmung 191 Individualismus, hand lungstheoretischer/me thodologischer 123f., 127-132, 151 Ingerenz 91-93 Intentionsbegriff 164 f. kausale Rolle 79 f., 85 f. Kausalität 21 f., 135-138 Kausalitätsverständnis, nicht-reduktionistisches 135 f. kollektives Handeln/kol lektiver Akteur 18, 23f., 123,131 s.aHandlung mehrerer kollektive Verantwor tung/Haftung 23, 123 125, 135, 139 kollektive Verursachung 17,126f. Kollektivschuld 24 Kollektiv(subjekt) 123 127, s. a. Gruppe (sozia le) Konsequentialismus 59 61,101-104,117 Koordinierungsbedürftig keit des Tuns 111, 113 Legitimation, historische 190f., 194
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libertas exercitii, libertas specificationis 51, 61, 64 market share liability 124 Mißbrauchsmöglichkeit 109 f. Mißlingen 200 Mittäterschaft 143-154 mittelbare Täterschaft 144, 146, 163
Präventionseffizienz 157, 168 f. Protest(bereitschaft), protestfrei 12f., 25 f., 196 Prozeß, naturaler 16, 41 45, 73 Prozeß, subjektloser 15 19, 29,55,68f.,201f. Rechtfertigung(sgrund) 53, 67, 180-182 Repolitisierung der Zu rechnungsstrukturen 182, 201 Risiko, erlaubtes 184-196 Risikostrafrecht 22 risk/benefit-Analyse 197
naturalistische Begriffe/ Entnaturalisierung 81, 87,184,195 Naturkatastrophe 45,182 Nebentäterschaft 166-171 Nebenwirkung, kumulati ve 164f. Nebenwirkungskontrolle 159f., 194 Nichtschädigungsgebot/ pflicht 69,75, 82-86, 92-96, 111, 175-180 non-descisions 199 Normallage/Ausnahme lage 156, 158 Notstand, entschuldigen der 66f. Notstand, rechtfertigen der 51,63,66f., 184 186, 192f. Notstand, übergesetzli cher 67 Notwehr 67, 180 Ordnungswidrigkeit 22, 171 Organisation von Verant wortung 33, 35, 172 174, 202 Organisationen, deliktische 145 Organisationszuständig keit/Organisator 86-88, 93 f. organisierte Unverant wortlichkeit 26-28, 161 f., 174, 202
Schadensersatz 42,143 Schädigung 84-86,175 184, 191 Schädigung, erlaubte 179 f. Schemata legitimen Han delns 102,193, 200f. Schicksal 25f.,71f. Schuldiger 112-119 Schwellenwert 170 Selbstschädigung/Selbst verschulden 112-117 Selbstverteidigung/Selbst erhaltung 66f., 108 Sicherheitsrhetorik 183 Solidarität(spflicht) 64 f., 69,75,82-86,95f. Sonderpflichten 90, 111 f. s. a. Garantenstellung Sozialadäquanz 153 f., 186, 190 Status quo (Bonus des) 61, 194, 198 survival lottery/Organlotterie 103,106-111,116f. Täter/Täterschaft 120, 144, s. a. Tat, Mittäter schaft Täterschaft, multiple 128,
142, 145 s. a. Handlung mehrerer Täterschaft/Teilnahme 143 Tat 16f., 25,56,73f.,151f., s. a. Handlung Tatbestand(sebene) 52, 148, 150, 180, 184f. Tatentschluß 147-149 Tatentschluß, gemeinsa mer 153 f. Tatherrschaft 146f. Tatnächster 157, 161, 163 Tatprinzip 147 f. Teilhandlungen (individu ell zurechenbare) 129, 131-135,139f., 144 Teilursache 136, 138 Töten/Sterbenlassen (killing/letting die) 79 f., 97-100 Übernahme (freiwillige) 91-95 Unglück 56, 182 s. a. Schicksal unsichtbare Hand 19 Unterlassen s. Handeln/ Unterlassen Unterlassen, politisches 201 f. Unterlassen von Informa tionsbeschaffung 48f., 158 f. unterlassene Hilfelei stung 88f., 160 Unterlassungsdelikte, unechte 90 Unternehmensstrafe 21 f., 161 f. Verantwortung, morali sche 33, 155, 160 Verantwortung, politische 200 Verantwortung, rechtli che 32-34 Verantwortungs(ver)teilung 139-144, 151
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Verflechtung von Kausal ketten 126f.,139f. Vermeidbarkeit/Unver meidbarkeit 26, 29-31, 46-57 Vermeidefähiger, erster/ späterer/letzter 114 120,157 Vermeidepflicht(-iger) 73f., 118,168-170,181 Verteilungsgerechtigkeit 107,169-171,195 f., 202
Verwaltungsakzessorietät 163, 166, 173 vorangegangenes Tun/ Vorhandeln 85 s. a. Ingerenz Vorhersehbarkeit/Unvor hersehbarkeit 46-49 Wehrpflicht 108 Weichensteller 54, 57f., 65f.,71f., 121 f.
Zumutbarkeit/Unzumut barkeit 47-49 Zurechnung, objektive 137 f., 153 Zurechnungsexpansion 20-24 Zuständigkeit 158-162, 173f., 202 Zwang(slage) 50f., 60f.
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„Praktische Philosophie“. Eine Reihe bei Alber Herausgegeben von Günther Bien, Karl-Heinz Nusser und Annemarie Pieper Unter Mitarbeit (ab Band 49) von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf
Die Reihe versteht sich als Plattform für die wissenschaftliche Erörte rung moralischer und ethischer Fragen sowohl des individuellen als auch des öffentlichen und sozialen Lebens. Spezifische Probleme der Ethik als solcher sollen ebenso zur Sprache kommen wie ethische Themen aus den übrigen philosophischen Disziplinen, z. B. aus der Rechtsphiloso phie, der Sozialphilosophie, der politischen Philosophie, der Anthropo logie und der Pädagogik. Die Reihe möchte Vertreter unterschiedlicher philosophischer Positionen, Richtungen und Schulen zusammenführen, ohne dabei die geschichtliche Dimension der praktischen Philosophie aus den Augen zu verlieren. Die Inhalte sind - systematisch betrachtet - axiologischer, normativer, metaethischer, materialer oder praxisbezogener Natur; diskutiert wer den also z. B.: die Begründung von Normen und moralischen Institutio nen, das Verhältnis von Seins- und Sollenssätzen, Fragen der Handlungs- und Planungstheorie oder die anthropologischen, speziell evolutionären Voraussetzungen von Moral und Ethik. Methodisch betrachtet sollen die vielfältigen philosophischen Verfah rensweisen und Argumentationsformen erprobt werden: sprachanalytische, dialektische, hermeneutische, phänomenologische, tran szendentalphilosophische. Die Reihe bezieht ihre Stoffe und Anstöße aus allen Lebensbereichen und auch aus den Humanwissenschaften, etwa der Medizin (z.B. Organtransplantation), den Biowissenschaften (z.B. Genmanipulation), aus dem Überschneidungsbereich von Tech nik, Wirtschaft und Ökologie (z.B. Technikfolgenabschätzung, Ver drängung des Menschen durch die Elektronik), aus der Sozialarbeit (z.B. multikulturelles Zusammenleben) oder aus der philosophischen Beratungspraxis. Die Reihe Praktische Philosophie hat den Anspruch, eine gewichtige Stimme in der ethischen Debatte zu sein, deren Fragestellungen jeden an Philosophie auf wissenschaftlicher Grundlage Interessierten an gehen.
Verlag Karl Alber Freiburg/München https://doi.org/10.5771/9783495997406 .